Wie viel Tod verträgt das Team?: Belastungs- und Schutzfaktoren in Hospizarbeit und Palliativmedizin 9783666403415, 9783525403419, 9783647403410


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Wie viel Tod verträgt das Team?: Belastungs- und Schutzfaktoren in Hospizarbeit und Palliativmedizin
 9783666403415, 9783525403419, 9783647403410

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There were many teachers. There was only one who made me understand, »the game of life and death«. Dedicated to most honorable Guruji Mohan. Monika Müller

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Monika Müller / David Pfister (Hg.)

Wie viel Tod verträgt das Team? Belastungs- und Schutzfaktoren in Hospizarbeit und Palliativmedizin

Mit 6 Abbildungen und 3 Tabellen 3., unveränderte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403419 ISBN E-Book:— 9783647403410 ISBN E-Book: 9783647403410

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40341-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: rogerkautz / photocase.com © 2014, 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorbemerkungen Monika Müller und David Pfister So viel Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Monika Müller und David Pfister Die verwundbaren Helfer. Warum die Studie und dieses Buch? . . . . . . . . . . . . .

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Saskia Jünger Belastung des Teams in der Versorgung am Lebensende. Empirie, Konzepte, Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Veronika Bracks Burnout – ein Thema auf Palliativstationen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Karin Dlubis-Mertens und Benno Bolze Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland. Was kann die Charta zur Entlastung der in der Hospiz- und Palliativversorgung Tätigen beitragen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Was auf uns lastet David Pfister Belastungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Susanne Hirsmüller und Margit Schröer »Meistens schaff ich das ja gut, aber manchmal …«. Die Beziehung zum Patienten als ein Hauptbelastungsfaktor der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lukas Radbruch und Roman Rolke Eine anspruchsvolle Tätigkeit. Hauptbelastungsfaktor der Mitarbeiter . . . . . . .

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Inhalt

Andreas Heller Das perimortale Omnikompetenzsyndrom. Anspruch als Belastungsfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

Birgit Jaspers Palliatiff Kehr – wenn die Fehlersuche so einfach wäre! Vermeintliche oder wirkliche Fehler als Belastungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . .

80

Thomas Montag und Martina Kern »Irgendwann haben wir nicht mehr gezählt«. Häufung von Todesfällen – Perspektive Palliativstation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andrea Gasper-Paetz »Es sind ja nicht nur die Patienten …«. Besondere Beziehung zu den Zugehörigen als Belastungsfaktor . . . . . . . . . . . . 101 Friedemann Nauck Plötzlich und unerwartet. Nicht erwartetes Sterben als Belastungsfaktor . . . . . 112 Astrid Conrad »Ich bin des Sterbens so müde«. Kurze Begleitungsdauer als Belastungsfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Traugott Roser und Margit Gratz Und dann traf es mich selbst … Todesfälle im eigenen Umfeld als Belastungsfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Zeichen der Erschöpfung David Pfister Belastungssymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Sylvia Brathuhn und Eduard Zwierlein Über die Zweideutigkeit des Todes oder: der zweideutige Tod. Die Unausdeutbarkeit des Todes als Moment humaner Sterbebegleitung . . . . . 142 Jörg Fengler »Immer wenn du da bist, herrscht hier das Chaos«. Vorwürfe und Beschuldigungsmuster als Belastungssymptome . . . . . . . . . . . . 154

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Inhalt

Martina Kern und Birgit Pauler Überredseligkeit und Sprachlosigkeit. Zwei Seiten einer (Belastungs-)Medaille? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Martina Kern und Cornelia Jakob-Krieger »Immer wieder knallt es bei uns …«. Spannungen (Reizbarkeit, Streitigkeiten) zwischen den Berufsgruppen als Belastungssymptome . . . . . . . 172 Was uns schützt David Pfister Schutzfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Petra Rechenberg-Winter Der entlastende Blick. Supervision als Schutzfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Andreas Stähli Rituale – Schutzfaktor der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Dorothea Becker und Johannes Schlachter Ein persönlicher Blick. Teamarbeit in einem sensiblen Arbeitsfeld . . . . . . . . . . . 207 Monika Müller und Martina Kern Sage mir, wie sie sprechen … Schutzfaktor gelingende Kommunikation . . . . . . 219 Ellen Üblagger Wirkungen und Nebenwirkungen. Hospizliche Arbeit und Familie . . . . . . . . . . . 232 Heiner Melching Zwischen dem Sterbe-Leben und dem Lebe-Leben. Persönliche Einschätzungen zum Schutzfaktor Privatleben . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Christof Müller-Busch Mitgefühl als Schutz- und Entlastungsfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Martina Kern Die Tiefe des Leids findet keinen Gegenpol. Vom Wesen der Ablenkung als Schutzfaktor in der Begleitung . . . . . . . . . . . . . 260

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Susanne Hirsmüller und Margit Schröer »Wer’s mit Humor trägt, macht’s sich leichter!«. Humor – ein wichtiger Schutzfaktor in der Arbeit mit Sterbenden . . . . . . . . . . . 268 Klaus Aurnhammer »Mit meinem Glauben kann ich vieles tragen«. Glaube und Religion als Schutzfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Vom (V)Ertragen zum Ertrag Monika Müller Vorbemerkung Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Monika Müller Was bewirken Hospizarbeit und Palliativmedizin? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Ein Kurzinterview mit Birgit Weihrauch Gibt es einen Ertrag von so viel Todesberührung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Ein Rundgespräch im Team, moderiert von Martina Kern Hilft die Palliativarbeit bei eigenen Lebenskrisen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Matthias Schnegg Die Zeit ist ein Erinnerer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

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So viel Tod Monika Müller und David Pfister

Seit den 1980er Jahren haben sich in Deutschland Hospizidee und Palliativmedizin etabliert. In den letzten Jahren ist die Zahl der stationären Hospize und der Einrichtungen palliativer Versorgung weiter gestiegen. Einschließlich der Kinderhospize gab es im Jahr 2011 179 stationäre Hospize in Deutschland.1 Aus einer Erhebung des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes zu einem anderen Thema (Bolze, 2011) lässt sich errechnen, dass im Jahr 2011 rund 21.500 Menschen in einem Hospiz für Erwachsene aufgenommen wurden. Einige dieser Menschen wurden aus dem Hospiz wieder nach Hause entlassen. Nach Aussagen des Verbandes sind im Jahr 2010 rund 20.800 Menschen in stationären Hospizen für Erwachsene verstorben. Nicht zu reden von der Zahl derer, die in ambulanter hospizlicher und/oder palliativer Betreuung versterben. Auch in den 247 deutschen Palliativstationen hat sich das Bild verändert. Starben noch in den 1990er Jahren nur ungefähr 20 % der aufgenommenen Patienten auf Station, erlebten die Mitarbeiter in den letzten Jahren schon bei 50 % der ebenfalls weit über 20.000 Kranken das Sterben mit. Auch in anderen Einrichtungen findet viel Sterben statt, man nenne da nur beispielhaft die Intensiv- und Notfallstationen, die Onkologien und vor allem auch die Altenpflegeheime, in denen 30 % der Bewohner noch im ersten Vierteljahr ihres Aufenthalts versterben (Gronemeyer und Heller, 2008). Doch die Ausschließlichkeit der Fokussierung auf das Lebensende ist nur im oben genannten Feld zu finden. Hier werden ohne Ausnahme Patienten behandelt und begleitet, deren schwere Erkrankung weit fortgeschritten ist, weiter fortschreitet und deren Lebenserwartung absehbar begrenzt ist. Die Ziele palliativer Versorgung – so werden wir in Folge die Maßnahmen hospizlichen und palliativen Handelns nennen – sind die Linderung aller Leiden und Sorgen und die (Wieder)Herstellung von Lebensqualität. Im gesamten Tun ist das nahende Sterben ständiges Thema, um das sich – ausgesprochen oder nicht – alles dreht. Der Tod geht immer mit, muss bearbeitet und ausgehalten werden. In den USA tauchte jüngst der Begriff »death manager« für Hospizmitarbeiter auf, Dissertationen beschäftigen 1

Schaubild zur Entwicklung dazu auf der Internetseite des DHPV (http://www.dhpv.de/service_ zahlen-fakten.html).

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sich mit dem »ansteckenden Tod« (Salis-Gross, 2005) und haupt- und ehrenamtlich Tätige in diesem Feld sind sich bewusst, dass, wer hier arbeitet, sich in einem vom Tod kontaminierten sozialen Raum bewegt. Wir teilen mit zahlreichen Kollegen2 die Frage, wie viel Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Trauer (v)erträglich ist. Es geht sicher nicht darum, ob das Thema bekömmlich ist, sondern darum, wie man, ohne Schaden zu nehmen, tagtäglich in diesem Bereich arbeitet. Im September 2006 entspann sich nach einem anstrengenden Kongresstag am Lido in Venedig unter befreundeten Kollegen ein Gespräch darüber, wie lange man es denn wohl in diesem »ganzen Sterben« noch aushalten könne. Es wurden Zahlen gehandelt, Zeiträume hochgerechnet und Witze erzählt; es schien, dass es kein besseres Szenario für solche Gesprächsthemen geben könne als den Sternenhimmel über dieser vom Verfall bedrohten und gleichzeitig oder gerade deshalb atemberaubend schönen Stadt. Die Erinnerung an Patientenschicksale3 und bedrückende Krankheitsbilder machten einer entspannten, wohligen, dem Leben zugewandten Stimmung Platz. Das Gespräch plätscherte dahin wie das Wasser vor uns, wir spürten und äußerten unsere Dankbarkeit, am Leben zu sein und Lebensfreude zu spüren, und brachten dieses Hochgefühl in Verbindung zu unserer oft schweren und harten Arbeit. Wir waren im Einvernehmen mit Leben und Tod und allem dazwischen. Ähnliches wünschen wir Ihnen beim Lesen des Buches: dass Sie sich in manchen Darstellungen wiedererkennen und in dem Kreis der berichtenden Kollegen aufgehoben fühlen, möglicherweise Bestätigung erfahren für eigene Empfindungen und bisherige Einschätzungen und gleichzeitig auch Denkangebote entnehmen, mit den besonderen Belastungen vielleicht neu und anders umzugehen. Es geht bei diesen Angeboten manchmal nur um ein Umdenken, ein Umbenennen, um das Einnehmen einer anderen Perspektive oder auch um konkrete Handlungsoptionen. Und dass Sie sich des Reichtums unseres Arbeitsfeldes und der Kostbarkeit so mancher Begegnung und Erfahrung darin vergewissern mögen. Monika Müller und David Pfister

Literatur Bolze, B. (2011). Interview am 31. 8. 2011. Unveröffentlicht. Gronemeyer, R., Heller, A. (2008). Sterben und Tod in Europa. Momentaufnahmen eines kulturellen Wandels. In A. Heller, M. Knop (Hrsg.), Die Kunst des Sterbens. Todesbilder im Film – Todesbilder heute (S. 110–125). Filmmuseum Düsseldorf in Kooperation mit IFF Wien Universität Klagenfurt. Salis-Gross, C. (2005). Der ansteckende Tod. Frankfurt a. M.: Campus.

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In die maskuline Form, die wir aus Gründen der Lesbarkeit im Buch verwenden, sind selbstverständlich auch alle Kolleginnen und Patientinnen eingeschlossen. Alle Patientennamen wurden geändert und die Krankengeschichten verfremdet.

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Die verwundbaren Helfer Warum die Studie und dieses Buch? Monika Müller und David Pfister

1 Motivation für die Arbeit im Feld Menschen, die sich für die Arbeit im hospizlichen und palliativen Feld entscheiden, kommen in der Regel nicht von ungefähr und zufällig zu dieser Arbeit (Müller, 1997). Sie kennen oft aus lebensbiografischen Zusammenhängen den Wunsch, sich in diesem Grenzbereich aufzuhalten und zu helfen, und/oder möchten in besonderer Weise für andere da sein und ihrem Leben mehr Tiefe und Sinn geben. »Sowohl meine Mutter als auch meine Schwester sind gestorben, als niemand bei ihnen war. Dieses Wissen fand ich fast schlimmer als die Todesnachricht selbst. Ich habe mir damals geschworen, dazu beizutragen, dass der einsame Tod nicht mehr so oft stattfindet. Wenn jemand auf unserer Allgemeinstation im Sterben lag, fühlte ich einen besonderen Drang, mich um ihn zu kümmern und ihn nicht alleine gehen zu lassen. Bei den Kolleginnen war das eher umgekehrt, die gingen am liebsten nicht mehr ins Zimmer Sterbender. Die waren froh, wenn ich das für sie machte. Aber wenn ich dann hinterher Gefühle zeigte, hieß es sofort, ich hätte zu viele Gefühle. Mir wurde immer klarer, dass ich aus dem normalen Alltag im Krankenhaus heraus musste« (vgl. Pfeffer, 2005). So eine Krankenschwester auf einer Palliativstation. Die tägliche Arbeit mit sterbenden Menschen, der Umgang mit Leid und unausweichlicher Endlichkeit stellt ebenfalls besondere Anforderungen an die in diesem Bereich Tätigen. Mitarbeiter in diesem Feld gehen immer wieder neu mittel- und kurzfristige mitleidenschaftliche1 Behandlungs- und Begleitungsbeziehungen ein, die durch die Erwartungshaltung des nahenden Todes geprägt sind. Diese wiederholte und Alltag gewordene Begegnung mit Tod, der oft mit großem Leiden verbunden ist und keinerlei Sinn zu machen scheint, löst bei den Beteiligten eine existenzielle Betroffenheit aus, die sich höchst unterschiedlich äußert und die einen besonderen Rahmen und Umgang braucht.

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Eine interessante Neuwortschöpfung von Andreas Heller und Cornelia Knipping (2007). Dieser starke Begriff weist sowohl auf die Notwendigkeit von persönlichem Engagement als auch auf die möglichen Gefahren und Folgen, die ein Überengagement in sich birgt, hin.

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2 Reaktionen auf »so viel« Tod 2.1 Wenig hilfreiche Reaktionen

Als Reaktionen der Begleiter auf so viel Tod oder so viel als unpassend, ungerecht, unzeitgemäß empfundenen Tod zeigen sich manchmal: – Abwehrstrategien in Form kühl-professioneller Zugewandtheit, d. h. sich nicht einzulassen auf eine Beziehung, aber das Notwendige an Pflege, Behandlung und Beratung zu leisten, – Schuldgefühle wegen emotionaler Distanz, – Ideologisierung der Hospiz- und Palliativarbeit, – Verspiritualisierung der Erlebnisse (krampfhafte Überhöhung von Sterbeerfahrungen in einen übergeordneten Kontext), – Versicherung der eigenen Lebendigkeit als Gegenbewegung (Sexualisierung des Privatlebens, Suchtverhalten, Gewalt), – Überschutzreaktionen gegenüber eigenen Familienmitgliedern, – Liebäugeln mit Erlösungs- und Euthanasiegedanken, – Ohnmacht und Überforderung, – schwärzester Humor, – besondere Fürsorge, – Verlassen des Arbeitsplatzes, – und anderes mehr. 2.2 Für-Sorge im Übermaß

Menschen, die beruflich mit Schwerstkranken und Sterbenden zu tun haben, weisen gerade zu Beginn ihrer Tätigkeit in diesem Feld häufig Zeichen von besonderer Hinwendung und Fürsorge auf (Beelterung, Verbrüderung und Verschwesterung, Verpartnerung mit Patienten). Sie möchten alles für sie tun und immer für sie da sein. Dieses Grundverständnis durchzieht ihre Arbeit und kann zu erheblichen Belastungen führen. Ein junges Team bat um Supervision. Es war über eine Grundsatzfrage entzweit, zu der es mittlerweile zwei starre Meinungen und zwei unbewegliche Blöcke gab: Ein 17-jähriger Patient mit Ewing-Sarkom, der bereits Metastasen im Beckenbereich hatte, wünschte sich nichts sehnlicher als eine erste romantische sexuelle Erfahrung, »bevor es nicht mehr geht«. Eine Mitarbeiterin (und mit ihr vier der insgesamt sieben Kolleginnen) fand es – da es keine Freundin gab – selbstverständlich, den Part zu übernehmen und dem Jungen diesen Wunsch persönlich zu erfüllen. Schließlich sterbe er in Kürze, und sie, die das unverdiente Geschenk des Weiterlebens habe, empfinde es als ihre Pflicht und Schuldigkeit, ihm eine schöne Stunde zu bereiten. Die anderen Teammitglieder gaben zu bedenken, dass ihm mit dieser Art Opfer nicht gedient sei, weil er zwar eine Erfahrung mache, diese aber dem dahinter liegenden Wunsch nach Normalität, Liebe und Lebensmöglichkeit keine Erfüllung bringe. Außerdem sei ihrer aller Aufgabe das Erkennen von Bedürfnissen, aber bei Weitem nicht immer das Erfüllen von Bedürf-

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nissen. Und sein Schmerz, das Leben verlassen zu müssen, werde durch diesen Akt keinesfalls verringert. Das Helfer-Dasein in der palliativen und hospizlichen Arbeit erfordert eine besondere Auseinandersetzung mit dem Leid und stellt die Frage an den Helfer: Wie stehst du zum Leiden in der Welt? Wie steht es mit dem eigenen Leid? Besser: mit der eigenen Leidfähigkeit? Am Beispiel bekommt man eine Vorstellung davon, wie viel mehr das noch auf den Kontakt mit sterbenden Kindern und Jugendlichen zutrifft. Zur Geschöpflichkeit des Menschen – und des Arztes, der Pflegekraft, der übrigen Berufsgruppen – gehören auch in der Palliativmedizin – bei allen Fortschritten in Schmerztherapie und Symptomkontrolle  – Enttäuschung, Verzicht, Frustration, Hilflosigkeit, endgültiger Verlust, schmerzlicher Abschied und Angst erzeugender Neuanfang. Sich mit diesen Leidspuren im eigenen Leben auseinanderzusetzen und sich ihnen in Wahrheit zu stellen, muss geleistet werden, damit man sich auch den sterbenden Patienten und ihrer Wirklichkeit in Wahrheit stellen kann und nicht eigenen Projektionen verfällt. Das wird dann im besten Fall mittel- oder längerfristig dazu führen, diese Wirklichkeit mit ihnen zu kommunizieren und vielleicht auch aushalten zu können.

3 Die Idee zur Studie und deren Ergebnisse In den über zwanzig Jahren meiner (Monika Müller) hauptberuflichen Tätigkeit im Feld von Hospizarbeit und Palliativmedizin wurden mir im Rahmen von Supervision, Praxisbegleitung und Krisenberatung viele Fragen gestellt und viele Copingstrategien mitgeteilt. Beim Nachfragen stellte sich meist heraus, dass nicht unbedingt das dauernde Sterben und die immer wieder stattfindende Konfrontation mit Trauer Müdigkeit und Gelähmtsein erzeugten, sondern einzelne Faktoren in der Arbeit. Und dass aber auch diese selben Faktoren nicht per se schädigend seien, sondern, in ein Maß, eine Balance oder auch in eine andere Sichtweise gebracht, als weniger erschöpfend erlebt würden, ja manches Mal dann sogar als hilfreich und heilsam. Etliche Male hatten die Besucher um unterstützende Gespräche gebeten, weil sie der Meinung waren, ihre Arbeit in diesem so kräftezehrenden Feld aufgeben zu müssen, und eine Übersicht über andere berufliche Möglichkeiten suchten. Viele dieser Gespräche oder Gesprächsserien endeten damit, dass die Gesprächsteilnehmer allein durch das Benennen und Beleuchten von Belastungsfaktoren, Belastungssymptomen und Schutzfaktoren einen anderen Zugang zu der grundsätzlich geachteten Arbeit herstellen konnten und neuen Mutes zu ihr zurückkehrten. Diese sich immer wiederholenden Erfahrungen brachten uns auf die Idee, eine Studie in Deutschland durchzuführen, die sich mit diesen Faktoren beschäftigt. In der bisherigen Forschung zu Belastungen der Mitarbeiter standen meist organisatorische Faktoren im Vordergrund (Vachon, 1995). Auch wenn diese Ergebnisse zeigen, dass Mitarbeiter im palliativen Kontext eher geringer belastet zu sein scheinen als in anderen

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Bereichen der Krankenversorgung (Bram und Katz, 1989; Mallett, Price, Jurs und Slenker, 1991), so wird dies den speziellen Anforderungen der Arbeit mit Sterbenden möglicherweise nicht gerecht. In der Studie »Wie viel Tod verträgt das Team?« (Müller, Pfister, Markett und Jaspers, 2009) wurde ein besonderes Augenmerk auf spezifische Belastungsfaktoren des Palliativbereichs gelegt: Hierzu gehören vor allem der Anspruch der Palliativmedizin (z. B. in Bezug auf medizinische, pflegerische, psychosoziale und spirituelle Aspekte) und die Beziehung zu Patienten und Angehörigen. Außerdem wurden die Art und Weise, wie ein Team auf den Tod reagiert, und mögliche Schutzfaktoren untersucht. Bislang nicht erforscht war, welche Anzahl von Patiententoden in einem Zeitraum von einer Woche eine kritische Überlastung des Teams zur Folge hat. Es stellte sich die Frage, ob diese Zahl ein Maß für die generelle Belastung des Teams darstellen kann. Zusätzlich sollte geprüft werden, ob die Abfolge der Todesfälle die Belastung beeinflusst. In einer weiteren Fragestellung wurde die Situation in Hospizen und Palliativstationen verglichen. Wo gibt es Gemeinsamkeiten oder Unterschiede bei Belastungen, Belastungssymptomen und Schutzfaktoren? Welche Ursachen kann es dafür in den Einrichtungen geben? Und wie kann eine spezielle Burnout-Prophylaxe aussehen? Ein in einer kleinen Vorstudie geprüfter Fragebogen lieferte das Grundgerüst für den zweiseitigen Fragebogen mit insgesamt 33 Items. Wichtig für die Konstruktion war vor allem die kurze Bearbeitungszeit, um eine möglichst hohe Rücklaufrate zu erzielen. Alle 158 im »Wegweiser Hospiz und Palliativmedizin Deutschland« (Sabatowski, Radbruch, Nauck, Roß und Zernikow, 2006) genannten Palliativstationen erhielten den Fragebogen im Dezember 2007 per Post. Aus 95 Einrichtungen (60 %) sendeten 873 Personen einen Bogen zurück. Die 58 im »Wegweiser« aufgelisteten Hospize in Nordrhein-Westfalen erhielten den Fragebogen im Januar 2009 per Post. Der Fragebogen wurde von 214 Personen aus 31 Hospizen (53 % der kontaktierten Einrichtungen) ausgefüllt. Die Palliativstationen und Hospize, die sich nicht an der Studie beteiligt haben, nannten zumeist eine hohe Arbeitsbelastung als Grund für die Nichtteilnahme. Im Vergleich zu bisherigen Forschungsarbeiten (Schröder, Bänsch und Schröder, 2004; Vachon, 1987, 1995) zeigte sich der Aspekt der Beziehung als am stärksten belastender Bereich. Zuvor wurde eher angenommen, dass die Hauptbelastungen aus dem Bereich des Arbeitsumfelds herrühren. Ein weiterer Aspekt war die Frage nach den Belastungssymptomen (Wie reagiert das Team, wenn es belastet ist?). Die Bedeutsamkeit des Symptoms Überredseligkeit (zu viel reden, psychologisieren) stellte auch ein interessantes Ergebnis dar. Das Team war der wichtigste Schutzfaktor für die Helfenden, jedoch war es zugleich auch ein Belastungsfaktor, wenn es zu Konflikten kam. Die Anzahl ertragbarer Todesfälle pro Woche lag in Palliativstationen bei 4,4 und in Hospizen bei 4,2. Aufeinanderfolgende Todesfälle wurden in Palliativstationen als signifikant belastender empfunden, in Hospizen gab es keinen Unterschied. Es wurden zahlreiche negative Zusammenhänge der kritischen Todeszahl mit Belastungssymptomen gefunden, d. h., wenn viele Belastungssymptome auftraten, gaben

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die Mitarbeiter an, weniger Todesfälle in der Woche aushalten zu können. Die Belastung durch einen nicht erfüllten Anspruch der Palliativmedizin korrelierte in beiden Einrichtungen signifikant negativ mit der Einschätzung der Zukunftsaussicht, was heißt, dass Teammitglieder, die sich durch einen nicht erfüllten Anspruch der Palliativmedizin belastet fühlten, die Zukunft des Teams als schlechter einschätzten. In Hospizen waren die Mitarbeiter insgesamt weniger stark belastetet als in Palliativstationen. Außerdem wurden die Belastungssymptome als geringer und die Schutzsymptome als wichtiger eingeschätzt. Genauere Darstellungen der Ergebnisse und deren Diskussion werden den Beiträgen dieses Buches vorangestellt.

4 Anspruch und Hilflosigkeit sind Zwillinge Das Gefühl des Ungenügens, der Hilflosigkeit und des Ausgelaugtseins auf Seiten der sogenannten Helfenden ist – wie die Studie zeigt – häufig gespeist aus einem übergroßen Anspruch an sich selbst, die Probleme der sterbenden und trauernden Menschen lösen zu müssen. Ganz abgesehen davon, dass dieser überhöhte Anspruch ein hohes Maß an Frustration bringt für die, die sich ihm unterwerfen, trägt er auch das Zeichen von Überheblichkeit. Wer glauben wir zu sein, dass wir – und sei es auch nur stellvertretend für den daran Leidenden – seine Probleme lösen dürfen und gar können? Von seiner Bedeutungsgeschichte her entlarvt das Wort »lösen« seinen enteignenden Charakter: Von einem Baum wurde früher die zum Gerben verwendbare Rinde – die Lohe – abgerissen, daraus entstand das Verb »losen«. Für einen Menschen ein Problem lösen zu wollen, heißt, ihn von seiner Aufgabe, seinem Zweifel, seiner Fragestellung und seiner Anforderung, ja von seiner Biografie abzuschneiden, abzutrennen. Damit wird ihm häufig das Zutrauen verweigert, dass er seinen Umgang damit finden kann. Anhaftung beginnt, wo ein Ziel ins Auge gefasst und darum gekämpft wird, dass sich die Umstände den Wünschen der Helfer beugen. Diese verbringen dann viel Zeit und Kraft genau damit, was sie oft davon abhält, die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was wirklich – unabhängig von ihren eigenen Wünschen und Zielen – da ist, vor allem was an Ressourcen, Kraft und Möglichkeiten vorhanden ist. Nicht anhaften heißt nicht kein Interesse zu haben oder vom Hilfebedürftigen wegzurücken, sondern nicht an Erwartungen gebunden zu sein, wie sich Dinge entwickeln müssten, um gut, sinnvoll, hilfreich zu sein. Um nicht falsch verstanden zu werden: Hier ist natürlich nicht der Verzicht auf Möglichkeiten der Schmerztherapie, auf Vorschläge zur Symptomkontrolle oder die Unterbreitung von pflegerischen Hilfsangeboten gemeint. Gemeint sind hier die Ratschläge zur Lebens- und Sterbebewältigung an die Patienten und ihre Familien. Der Glaube an die Würde der Patienten, an ihre Lebenskraft selbst im Sterben, an die Existenz von Hoffnung und Kraft in aller Lebensbrüchigkeit kann Helfer befähigen, sich den ihnen anvertrauten Menschen in Achtung zu nähern, ihre Person mit ihrer besonderen Geschichte zu respektieren und – trotz und entgegen aller äußerlichen Schwäche – Vertrauen in die ihnen innewohnende Stärke und Fähigkeit aufbringen

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zu können und sie darin zu unterstützen. Berufliche Helfer leben oftmals von der altruistisch wirkenden Aussage: »Ich kann dir helfen.« Die, denen dies angeboten wird, brauchen viel häufiger ein »du kannst«. Im angelsächsischen Sprachraum heißt das Wort für das soziale Helfen »support« und die Helfer »caregivers«, also die, die die Sorge und den Raum bereitstellen, innerhalb dessen die Hilfsbedürftigen sich zu helfen lernen und sich zu helfen wissen, weil es ihnen zugemutet und zugetraut wird. Mit der Support-Funktion erfährt das Unterstützungsmanagement seine spezielle Ausprägung: Die bezieht sich auf die Unterstützung bei der inneren bzw. intrapersonalen Situationsklärung, auf die Arbeit mit (vielleicht verborgenen, verschütteten oder neuen) Ressourcen der Patienten und ihres Umfeldes. Ferner auf die Unterstützung und möglicherweise die Aktivierung des familiären und nahen sozialen Umfeldes, wenn dies von den Patienten gewünscht wird. Diese Funktion befasst sich mit Prinzipien und Verfahren des Empowerments und des Enablings und sorgt dafür, dass alle am Begleitungs- und Versorgungsprozess Beteiligten optimal dazu befähigt werden, ihre jeweiligen Stärken und Ressourcen einbringen zu können – unter sorgfältiger Achtung und Wahrung der jeweils gewünschten Begrenzungen. Es ist gerade eine wesentliche Voraussetzung für die eigene Erlaubnis zum Mitfühlen, dass auch und besonders Helfer ihre grundsätzliche Hilflosigkeit gegenüber dem Phänomen Leid anerkennen und sich bereit zeigen, damit zu leben. Gleichzeitig – so seltsam es sich anhören mag – ist die Akzeptanz dieser Hilflosigkeit, Leid nicht in Glück, Schmerz nicht in Seligkeit verwandeln zu können, ein Element, das berufliche Helfer in diesem Feld vor dem Ausbrennen bewahrt. Wenn Helfer verstanden haben, dass der Trost, der für ihr Gegenüber im Dabeibleiben und Mitleiden liegt, nicht zwangsläufig die Beseitigung2 des Leidens meint, sondern ihr Teilen und Aushalten, werden sie sich leichter und befreiter darin üben können und sich darin sogar in gewisser Weise wohlfühlen können. Es geht nicht darum, das Leiden zu beseitigen, sondern dem Leiden, wie Balfour Mount in einem Vortrag in Wien (1998) sagte, einen sicheren Platz zu geben.

5 Die Sorge um sich selbst 5.1 Selbstmitgefühl üben

Mit Selbstmitgefühl ist hier nicht die Nabelschau gemeint und die übermäßige Konzentration auf eigene Empfindungen, vielmehr die Erkenntnis, auch ein Leidender zu sein und sich dafür Unterstützung bereitzustellen. Sich selbst Wärme zu schenken und Nachsicht gegenüber den eigenen Schmerzen und unbeantworteten Fragen zu üben, ist ein Merkmal heilsamen Selbstmitgefühls. Der früh verstorbene Heinrich Pera (2004) erzählt in seinem letzten Buch die Geschichte eines Mannes, dem vor lauter Herzlichkeit 2

Dies bezieht sich auf das ontologische Gesamtphänomen einer unabweisbaren Wirklichkeit und Urerfahrung menschlicher Existenz, nicht auf das Leid, das man mit Schmerztherapie und Symptomkontrolle so erfolg- und hilfreich bekämpfen und verringern kann.

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anderen gegenüber das Herz abhanden gekommen ist. Sich der eigenen Festigkeit und auch Gebrochenheit, dem eigenen Vermögen sowie Unvermögen herzlich zuzuwenden und Respekt aufzubringen für die große Lebensleistung, ist die mitfühlende Haltung, aus der heraus auch das Mitgefühl zu anderen Leidenden Nahrung erhält. 5.2 Das Erleben des Lebens

In all den Toden, die erlebt werden, hat das eigene Leben hohen Wert – nicht nur als »Platzhalter« für vergangenes Leben. Auch wenn – oder gerade weil – Begleiter sich in einem Raum befinden, in dem gehäuft Tod erlebt wird und in dem das sichere Wissen, das Schicksal des Sterbens mit den Vorausgehenden teilen zu müssen, spürbar erfahrbar ist, ist es von großer Bedeutung, sich dem Leben zugehörig zu fühlen. Aus der Burnout-Forschung ist bekannt, wie wichtig und wirksam der Freundeskreis, die Familie, die Nachbarschaft, andere als berufliche Interessen, Urlaub, Körperbewusstsein, Kunstgenuss, Flow-Erlebnisse, Stille, Naturbegegnung und Bewegung als Salutogenesefaktoren sind (Fengler, 2008). »Entscheidend wichtig ist es, ein Leben außerhalb des Todes führen zu können« (Fengler, 2000, S. 11). Es geht keinem Patienten besser und kein Sterben ist leichter, wenn sich Begleiter aus falsch verstandener Solidarität das Leben versagen. Die Umsetzung der in sozialen Berufen fatalerweise manchmal geforderten Selbstlosigkeit führt, wie das Wort schon sagt, zu innerer Leere und erschreckender beruflicher Deformation. 5.3 Sich von außen sehen

Indem sich der professionelle Helfer durch Balintgruppen, Fallbesprechungen und Supervision seiner selbst bewusst wird, ist es ihm möglich, eine Position außerhalb seiner selbst einzunehmen und von dort aus zu reflektieren. Sich von außen zu sehen heißt: sich mit den Reaktionen anderer auf einen selbst und den eigenen Reaktionen auf andere zu beschäftigen. Auf diese Weise kommt der professionelle Helfer zu einer Selbstdefinition oder zu einem Selbstverständnis, an dem er seine Handlungen und Kommunikation mit Patienten und deren Umfeld orientiert. Dieses Selbst- und Rollenverständnis ist nicht als einmal gefundene, statische Größe zu verstehen. Hier sind der Kollegenkreis und das Team von großer Bedeutung. Die interpretierenden Kommunikationen anderer bleiben nicht ohne Einfluss auf die innerlich eingenommene Haltung des Helfers, auf sein Verständnis von sich selbst, sein Tun und Handeln. In der Kommunikation wird nicht nur Selbstverständliches befolgt, sondern es werden auch Meinungen und Erwartungen von anderen einbezogen, die für das Selbstverständnis relevant sind. 5.4 Identität der Helfenden

Im Prinzip sind es die gleichen Copingstrategien (Rüger, Blomert und Förster, 1990), die sowohl die Patienten im Umgang mit ihrem eigenen Sterben als auch ihre Begleiter im Umgang mit dem fremden Sterben für sich finden und gestalten müssen. Die Säulen

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der Identität (Petzold, 1992) sind für beide Gruppen tragend und sinnstiftend. Für die Professionellen sind hier besonders bedeutsam die Säule des sozialen Netzwerks, die von Arbeit und Leistung und die der Werte. Die identitätsstiftende Funktion gerade dieser anspruchsvollen Arbeit mit schwerstkranken, sterbenden und trauernden Menschen, und hier vor allem das Mitgestalten von Sterbeumständen durch intensives Wissen und besondere, flexible und schöpferische Fähigkeiten, kann sogar zu einer Kraftquelle in der hohen Belastung werden. Die Aktualisierung und Bestärkung der vorhandenen Wertewelt und/oder das Erschließen neuer Werte, z. B. auch durch die Begegnung mit den Kranken, gehören zu den wichtigsten Aufgaben eines Mitarbeitenden in diesem Berufsfeld. Und doch: Sinn macht Leid und Sterben erträglich, doch nicht ungeschehen. Und der Tod beendet tatsächlich immer ein Leben, das einzigartig war. 5.5 Die Identität des Trägers

Entscheidend ist natürlich auch, dass diese Arbeit an Umgangsstilen mit Verlusten nicht der Beliebigkeit, der Bedürftigkeit oder auch einzig dem Eigenengagement der Mitarbeitenden überlassen wird, sondern dass die Träger Verantwortung für ihre Mitarbeiter empfinden und deutlich zeigen. Es ist nicht damit getan, Geld und Strukturen bereitzustellen, um ein Hospiz oder eine Palliativstation zu gründen oder einzurichten. Da beginnt die Arbeit erst. Es gilt, personalpflegerische Maßnahmen auf der institutionellen und der personellen Ebene zu entwickeln und umzusetzen (Brinkmann, 1993). Der Geist eines Hauses, der Geist von Palliative Care bewährt sich nicht nur am Patientenbett, im Umgang mit Leiden, Schmerzen und Symptomen, sondern erfährt seinen Beweis nicht zuletzt in der Summe der Sorgemaßnahmen, der Care, um das Wohlbefinden der verwundbaren haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden. Dazu mehr im folgenden Übersichtsartikel zu anderen Studien.

Literatur Bram, P. J., Katz, L. F. (1989). Study of burnout in nurses working in hospice and hospital oncology settings. Oncology Nursing Forum, 16, 550–560. Brinkmann, R. D. (1993). Personalpflege: Gesundheit, Wohlbefinden und Arbeitszufriedenheit als strategische Größen im Personalmanagement. Heidelberg: Sauer. Fengler, J. (2000). Interview. Die Hospiz-Zeitschrift, 2 (4), 10–11. Fengler, J. (2008). Helfen macht müde. Zur Analyse von Burnout und beruflicher Deformation (7. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Heller, A., Knipping, C. (2007). Palliative Care – Haltungen und Orientierungen. In C. Knipping (Hrsg.), Lehrbuch Palliative Care (2. Aufl.) (S. 39 f.). Bern: Verlag Hans Huber. Mallett, K., Price, J. H., Jurs, S. G., Slenker, S. (1991). Relationships among burnout, death anxiety and social support in hospice and critical care nurses. Psychological Report, 68, 1347–1359. Mount, B. (1998). Vortrag in Wien. Unveröffentlicht. Müller, M. (1997). Motivation, Helferpersönlichkeit … In E. Aulbert, D. Zech (Hrsg.), Ausbildung für Ehrenamtliche. Lehrbuch für Palliativmedizin. Stuttgart: Schattauer. Müller, M., Pfister, D., Markett, S., Jaspers, B. (2009). Wie viel Tod verträgt das Team? Eine bundesweite Befragung der Palliativstationen in Deutschland. Schmerz, 23 (6), 600–608.

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Pera, H. (2004). Dasein bis zuletzt. Erfahrungen am Ende des Lebens. Freiburg: Herder. Petzold, H. G. (1992). Integrative Therapie  – der Gestaltansatz in der Begleitung und psychotherapeutischen Betreuung sterbender Menschen. In I. Rösing, H. Petzold (Hrsg.), Die Begleitung Sterbender. Theorie und Praxis der Thanatotherapie. Paderborn: Jungfermann. Pfeffer, C. (2005). »Hier wird immer noch besser gestorben als woanders«. Eine Ethnographie stationärer Hospizarbeit. Bern: Verlag Hans Huber. Rüger, U., Blomert, A. F., Förster, W. (1990). Coping. Theoretische Konzepte, Forschungsansätze, Messinstrumente zur Krankheitsbewältigung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Sabatowski, R., Radbruch, L., Nauck, F., Roß, J., Zernikow, B. (Hrsg.) (2006). Wegweiser Hospiz und Palliativmedizin Deutschland 2006/2007. Schröder, C., Bänsch, A., Schröder, H. (2004). Work and health conditions of nursing staff in palliative care and hospices in Germany. Psycho-Social-Medicine, 1, 1–13. Vachon, M. L. S. (1987). Occupational stress in the care of the critically ill, the dying and bereaved. New York: Hemisphere. Vachon, M. L. S. (1995). Staff stress in hospice/palliative care: a review. Palliative Medicine, 9, 91–121.

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Publikationen zur Palliativversorgung und der Versorgung am Lebensende (End-ofLife Care) finden sich ab den frühen 1960er Jahren, aber nur vereinzelt sind darunter Artikel zur Belastung der Behandler und Begleiter (Gibson, 1964; McQuillan, 1968; Quint, 1968a, 1968b, 1969; Vachon, 1995). Erst seit den 1980er Jahren gibt es eine steigende Anzahl an Veröffentlichungen, die sich speziell dieser Thematik widmen. Dies ist zugleich die Zeit, in der die Gesundheit und das Belastungsniveau im Arbeitsumfeld generell stärker in den Fokus der Wissenschaft rückten. Beispielsweise wurde im Jahr 1979 das Anforderungs-Kontroll-Modell (Job Demand-Control Model) zur Beschreibung von Stress am Arbeitsplatz von Robert Karasek entwickelt, im Jahr 1981 das Maslach Burnout Inventory zur Erfassung der Belastung von Menschen in Gesundheitsberufen von Christine Maslach (Maslach und Jackson, 1981).

1 Empirie Die wohl umfänglichste Übersichtsarbeit zum Stand der Forschung bezüglich der Belastungsfaktoren für Behandler und Begleiter im Bereich Hospiz- und Palliativversorgung ist eine systematische Literaturanalyse von Mary Vachon (1995). Sie bietet eine umfassende und gut strukturierte wissenschaftliche und historische Übersicht über die Forschungsparadigmata und Studienergebnisse zur Belastung in der Arbeit mit schwerkranken und sterbenden Menschen. Wenngleich es auch in jüngerer Zeit eine Vielzahl von Publikationen zu dieser Thematik gibt, ist die Mehrheit nicht auf empirischen Studien begründet. Eine systematische Literaturanalyse von Pereira und Kollegen (Pereira, Fonseca und Carvalho, 2011) über einen Zehnjahreszeitraum von 1999 bis 2009 zeigt, dass von 174 identifizierten Artikeln zu Belastung und Burnout in der Versorgung am Lebensende nur 15 auf empirischen Untersuchungen basieren. Der Großteil der jüngeren Veröffentlichungen stammt aus den USA (Cashavelly et al., 2008; Hilliard, 2006; Keidel, 2002; Meadors und Lamson, 2008; Redinbaugh, Sullivan und Block, 2003) und aus England (Ablett und Jones, 2007; Hawkins, Howard und Oyebode, 2007; Payne, 2001; Payne, Dean und Kalus,1998; Ramirez et al., 1995). Daneben gibt es Studien aus einer Reihe anderer Länder wie z. B. Deutschland (Jünger, Pestinger, Elsner, Krumm und Radbruch,

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2007; Schröder, Bänsch und Schröder, 2004), den Niederlanden (Van Staa, Visser und Van der Zouwe, 2000), Frankreich (Poncet et al., 2007), Schweden (Blomberg und Sahlberg-Blom, 2007), Dänemark (Vejlgaard und Addington-Hall, 2005) oder Japan (Morita, Miyashita, Kimura, Adachi und Shima, 2004). Bezüglich des geografischen Ursprungs ist anzumerken, dass Studien, die nicht in englischer Sprache veröffentlicht bzw. in einer Literaturdatenbank gelistet sind, deutlich schwerer zugänglich sind und dadurch möglicherweise nicht angemessen berücksichtigt werden. Es gibt eine Vielzahl von Studien, die im Bereich der Onkologie, Hospiz- und Palliativversorgung durchgeführt wurden (Dougherty et al., 2009; Morita et al., 2004; Pereira et al., 2011; Ramirez et al., 1995) oder zwischen Settings vergleichen wie z. B. Hospizversorgung und Notfallmedizin (Payne et al., 1998). Belastung im Team wurde anhand unterschiedlicher Konzepte und Messgrößen operationalisiert  – von der einfachen Frage, ob jemand darüber nachdenkt, seinen Job zu wechseln, bis hin zu komplexeren Konzepten wie dem des Burnouts oder dem Maß an psychiatrischer Morbidität (Pereira et al., 2011; Vachon, 1995). Dementsprechend wurden das Ausmaß und die Auswirkungen der Belastung anhand einer Bandbreite methodischer Konzepte untersucht, bei denen unterschiedliche Erhebungsinstrumente zum Einsatz kamen. Die Methodik der jüngeren Veröffentlichungen wird von quantitativen Querschnittstudien sowie von qualitativen Studien mit phänomenologischem Forschungsparadigma dominiert. In den quantitativen Studien wurde neben für die jeweilige Fragestellung eigens entwickelten Fragebögen häufig eine Batterie verschiedener Instrumente verwendet, die zumeist das Maslach Burnout Inventory (MBI) und den General Health Questionnaire (GHQ) beinhaltet und daneben Fragebögen zur Erfassung des individuellen Copingstils, zu Strategien der Selbstfürsorge sowie Fragen zur Arbeitszufriedenheit und Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz umfasst. In den qualitativen Untersuchungen wurden meist semistrukturierte Interviews oder Fokusgruppen eingesetzt (Aase, Nordrehaug und Malterud, 2008; Ablett und Jones, 2007; Redinbaugh et al., 2003). Vereinzelt finden sich Studien mit Mixed-Method-Design (Cashavelly et al., 2008; Payne et al., 1998; Van Staa et al., 2000), Interventionsstudien mit PräPost-Evaluation (Hilliard, 2006) oder Action-Research-Ansätze zur Evaluation von Teamprozessen (Jünger et al., 2007; Van Staa et al., 2000).

2 Konzepte Während die frühesten Untersuchungen noch nicht in einen theoretischen Rahmen eingebettet waren, verwenden spätere Studien verschiedene theoretische Konzepte (Vachon, 1995). Entsprechend finden sich in der Literatur zu Belastungsfaktoren in der Palliativversorgung unterschiedliche Modelle psychologischer Dynamiken oder Entstehungszusammenhänge akuter und chronischer Belastung (Pereira et al., 2011). Demnach kann Stress als Oberbegriff für eine Bandbreite negativer Gefühle und Reaktionen in bedrohlichen oder herausfordernden Situationen verstanden werden.

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Das Phänomen des stellvertretenden Traumas (»Vicarious Trauma«) kann vor allem in der professionellen Betreuung von Menschen mit einem traumatischen Erlebnis auftreten, wobei die psychologische Intensität des Traumas zu Symptomen einer sekundären Traumatisierung bei Behandlern und Begleitern selbst führen kann. Eng damit verwandt ist der Begriff der »Compassion Fatigue«, die auch als sekundäre traumatische Belastungsstörung bezeichnet wird. Diese kann durch die Notwendigkeit stetigen Mitgefühls für Menschen mit lang anhaltendem und unlösbarem Leiden hervorgerufen werden. Das in jüngerer Zeit zunehmend bekannte und erforschte Konzept des Burnouts ist durch die Multidimensionalität von emotionaler Erschöpfung, Depersonalisierung und fehlender Leistungsfähigkeit gekennzeichnet. Die genannten Konzepte werden bisweilen synonym genutzt, während manche Autoren betonen, dass sie voneinander abgegrenzt werden sollten (Hilliard, 2006; Keidel, 2002; Vachon, 1995, 2006).

3 Quellen der Belastung Hinsichtlich der Risikofaktoren und Stressoren für die in der Palliativversorgung Tätigen ist die zentrale Frage, ob die Belastung vornehmlich vom Tod und Sterben selbst herrührt oder (auch) anderen Faktoren geschuldet ist – und wie genau diese Aspekte zueinander in Beziehung stehen. 3.1 Spezifische Belastung im Umgang mit Tod und Sterben

Entgegen der intuitiven Annahme, dass die Arbeit mit schwerkranken und sterbenden Menschen verglichen mit anderen Professionen zu einem höheren beruflichen Belastungsniveau führt, wurde ein direkter Einfluss der Konfrontation mit Tod und Sterben auf die seelische oder körperliche Gesundheit von Mitarbeitern im Hospiz- und Palliativbereich in wissenschaftlichen Untersuchungen nicht nachgewiesen. Dahingegen konnte eine Reihe von indirekten Faktoren identifiziert werden, die das empfundene Ausmaß der Belastung in der Arbeit mit schwerkranken und sterbenden Menschen mittelbar beeinflussen. Ein mangelndes Einverständnis zwischen Ärzten, Pflegenden und Angehörigen anderer Berufsgruppen bezüglich der Entscheidungsfindung oder auch widerstreitende Wünsche zwischen dem Patienten und seinen Angehörigen können sich belastend auf das Team auswirken. Das Erleben eines unklaren Patientenwunsches, Unsicherheiten hinsichtlich der Prognose und der zuverlässigen Diagnose refraktärer Symptome sowie Unklarheit bezüglich der Versorgungsziele können das Ausmaß der Belastung noch verstärken (Meier, Back und Morrison, 2001; Morita et al., 2004). In der Beziehung zum Patienten kann es für den Behandler/Begleiter eine Herausforderung oder Erschwernis darstellen, wenn er sich mit dem Patienten identifiziert oder dieser einer wichtigen Person im Leben des Helfers ähnlich ist. Der Tod bei Kindern und Jugendlichen sowie ein plötzlicher, dramatischer oder unerwarteter Tod wurden eher als inakzeptabel, sinnlos und schwer auf Distanz zu halten beschrieben (Aase et al.,

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2008). Aber auch eigene Verluste oder Trauer ebenso wie die Angst vor Krankheit oder Tod können sich belastend auf die Beziehung zum Patienten auswirken. Zudem kann ein Gefühl der professionellen Unzulänglichkeit oder des Versagens in Anbetracht der hohen professionellen Verantwortung im Umgang mit einem sterbenden Menschen eine Quelle von Belastung sein (Aase et al., 2008; Meier et al., 2001). Faktoren auf Seiten des Patienten wie Wut, Depression in Anbetracht des nahenden Todes oder eine komplexe oder dysfunktionale familiäre Dynamik, welche die Kommunikation über die Versorgungsziele negativ beeinträchtigt, können sich ebenfalls erschwerend auf die Beziehung auswirken (Meier et al., 2001). Mehrere Untersuchungen unterstreichen die Relevanz einer guten Ausbildung sowie regelmäßiger Supervision für die Selbstfürsorge im Umgang mit Tod und Sterben. Fehlende eigene Sicherheit in der Kommunikation mit Patienten, die Wahrnehmung unzureichender zwischenmenschlicher Kompetenzen und das Gefühl, nicht angemessen auf den Umgang mit den emotionalen Bedürfnissen der Patienten und ihrer Angehörigen vorbereitet zu sein, wurden als Hauptstressoren von Ärzten und Pflegenden in der Versorgung schwerkranker und sterbender Patienten beschrieben (Hawkins et al., 2007; Morita et al., 2004; Ramirez et al., 1995). Aber auch die Wahrnehmung unzureichender Kenntnis und Fertigkeiten bezüglich der therapeutischen Interventionen in der Palliativversorgung wirkt sich negativ auf das empfundene Ausmaß der Belastung aus (Morita et al., 2004). Daneben wurden unterschiedliche persönliche Eigenschaften identifiziert, die die wahrgenommene Belastung in der Versorgung von schwerkranken und sterbenden Menschen verstärken können. Beispielsweise werden ein junges Alter sowie wenig klinische Erfahrung als Risikofaktoren benannt (Morita et al,, 2004; Ramirez et al., 1995). Auch biografische Faktoren können sich auf die empfundene Belastung auswirken – beispielsweise fanden Hawkins et al. heraus, dass Pflegende mit einem ängstlichen oder vermeidenden Bindungsstil in belastenden Situationen signifikant seltener emotionale Unterstützung suchten (Hawkins et al., 2007). 3.2 Belastung durch Faktoren des Arbeitsumfelds

Aufgrund ihrer systematischen Literaturanalyse kam Vachon im Jahr 1995 zu dem Schluss, dass die vorhandene Belastung im Bereich der Palliativversorgung größtenteils auf organisationsbedingte Faktoren zurückzuführen sei und dass Hauptprobleme des Arbeitsfelds eher mit Aspekten der Kostenerstattung, ökonomischen Zwängen sowie gesellschaftlichen und politischen Aspekten hinsichtlich der Rolle und der Verfügbarkeit von Palliativversorgung zusammenhingen (Vachon, 1995). Bereits zum damaligen Zeitpunkt prophezeite die Autorin, dass diese Aspekte im nächsten Jahrhundert eine zunehmende Relevanz haben würden. Die jüngere systematische Literaturanalyse von Pereira et al. aus dem Jahr 2011 untermauert die Schlussfolgerung Vachons, dass das Ausmaß von Burnout in der Hospiz- und Palliativversorgung nicht höher ist als in anderen Kontexten. Vielmehr

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lassen sich die Belastungsfaktoren in der Versorgung schwerkranker und sterbender Menschen aufgrund der bisherigen Erkenntnisse offenbar sehr gut anhand allgemeingültiger Kernbereiche der Arbeitszufriedenheit systematisieren (Maslach und Leiter, 2008): Arbeitspensum, Kontrolle, Anerkennung, Gemeinschaft, Fairness und Werte. In vielen Studien war die Arbeitsüberlastung durch ein zu hohes Arbeitspensum – gepaart mit einem Mangel an Ressourcen – der stärkste Einflussfaktor auf das insgesamt empfundene Stresslevel (Dougherty et al., 2009; Hawkins et al., 2007; Ramirez et al., 1995). Wenn Behandler und Begleiter in der Versorgung am Lebensende aufgrund äußerer Zwänge nicht die Chance haben, ihre Arbeit in Übereinstimmung mit ihren Werten auszuüben, kann dies zu ethischer oder moralischer Bedrängnis führen, beispielsweise durch unzureichende Zeit für die Versorgung des Patienten oder die angemessene Trauer über den Tod eines Patienten (Dougherty et al., 2009; Morita et al., 2004; Pereira et al., 2011). Dieses Spannungsfeld kann durch den hohen Anspruch in der Palliativmedizin verstärkt werden – die Diskrepanz zwischen Ideal und Realität der Pflege in der Palliativversorgung wurde als bedeutsamer Belastungsfaktor in der Literatur identifiziert (Hopkinson, Hallett und Luker, 2005; McWilliam, Burdock und Wamsley, 1993; Munley, 1985). Die Anforderungs-Kontroll-Theorie der Arbeitsbelastung von Karasek (1979) beschreibt die Relevanz von erlebter Kontrolle über die eigene Arbeit für die Energie und die Gesundheit des Personals. Studien im Bereich der Onkologie/Palliativversorgung zeigen, dass ein wahrgenommener Mangel an Kontrolle über die Wahl des Arbeitsplatzes einer der Hauptbelastungsfaktoren ist (Dougherty et al., 2009), während ein hohes Level an Verantwortung und Autonomie und das Gefühl, positive Veränderungen in der eigenen Abteilung/Institution bewirken zu können, wichtige Quellen von Arbeitszufriedenheit sind (Ramirez et al., 1995). Gemeinschaft und die Qualität der sozialen Interaktion am Arbeitsplatz sind zentrale Ressourcen der Arbeitszufriedenheit, z. B. das Gespräch mit anderen Teammitgliedern und das Gefühl, von den Kollegen als jemand wahrgenommen zu werden, der seine Arbeit gut macht (Aase et al., 2008; Ramirez et al., 1995). Zugleich kann das Erleben von Konkurrenz, Prestige und Stolz in der medizinischen Sozialisation zu Einsamkeit führen (Aase et al., 2008), und ein unausgesprochenes Stillschweigen über Emotionen kann zur Folge haben, dass junge Helfer inadäquate Bewältigungsmuster entwickeln, die zu Burnout oder anderen Formen emotionaler Belastung führen (Redinbaugh et al., 2003).

4 Balance Die aktuellen Erkenntnisse aus den Studien zur Belastung am Arbeitsplatz im Allgemeinen – und in der Versorgung von schwerkranken und sterbenden Menschen im Besonderen – legen nahe, dass nicht allein das Ausmaß der objektiven Belastung entscheidend für die Arbeitszufriedenheit ist, sondern die Balance zwischen Engagement und Erfüllung. Die gleiche Tätigkeit kann eine Quelle der Genugtuung sein, wenn man

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die Chance hat, sie gut zu machen, und die entsprechenden persönlichen, zeitlichen und institutionellen Ressourcen dazu zur Verfügung stehen hat – oder eine Quelle der Belastung, wenn eben diese Ressourcen fehlen und man in Konflikt mit den eigenen Werten und Ansprüchen gerät. Nahezu alle Veröffentlichungen berichten, dass die Versorgung der Patienten an ihrem Lebensende zugleich belastend, aber auch sehr erfüllend ist. Eine gute Beziehung zu Patienten und Angehörigen und das Gefühl, ihnen angemessen helfen zu können, waren in vielen Studien wichtige Ressourcen für die Arbeitszufriedenheit (Aase et al., 2008; Dougherty et al., 2009; Ramirez et al., 1995; Redinbaugh et al., 2003). Diese Befunde passen zu dem Kontinuum, das Maslach und Leiter (2008) hinsichtlich der Balance zwischen Engagement und Burnout beschreiben. Zur Prävention von chronischer Überlastung ist es notwendig, das Gleichgewicht zwischen Erschöpfung und Energie, zwischen Zynismus und sich Einlassen, zwischen Effektivität und Ineffektivität zu finden. Hinsichtlich der Bewältigung der kontinuierlichen Konfrontation mit Tod und Verlust wurde ein Muster beschrieben, bei dem die Helfer wechseln zwischen einerseits emotionsfokussierten Bewältigungsstrategien wie »positive Umdeutung und Wachstum« oder »versuchen, den Tod in einem anderen Licht zu sehen und ihn positiver erscheinen zu lassen«, und andererseits handlungsfokussierten Bewältigungsstrategien wie »planvolle Problemlösung« oder »sich anderen Aktivitäten widmen, um die Aufmerksamkeit vom Tod abzulenken« (Hawkins et al., 2007; Payne, 2001; Redinbaugh et al., 2003). Ausschlaggebend für die Balance ist auch die Kongruenz zwischen den Anforderungen der Tätigkeit und den persönlichen Stärken. So finden sich in pflegenden und helfenden Berufen häufig Menschen mit einem hohen Niveau an Empathie und persönlichem Engagement; dies kann einerseits ein Vorteil für eine patientennahe Versorgung sein, welche den Behandler und Begleiter seinerseits erfüllt, andererseits jedoch auch die Verwundbarkeit durch Belastung fördern. Die Resilienz im Sinne der persönlichen Widerstandsfähigkeit gegenüber den Belastungen und als Fähigkeit, aktiv einen Rahmen von Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit herzustellen, wird hier als entscheidend für das Wohlbefinden der palliativ Tätigen gesehen (Ablett und Jones, 2007).

5 Fragen und Forderungen Anhand ihrer systematischen Analyse der Forschungsarbeiten von 1976 bis 1993 formulierte Mary Vachon im Jahr 1995 Fragestellungen und Schwerpunkte für zukünftige Forschungsaktivitäten (Vachon, 1995), die bis heute an Aktualität nichts eingebüßt haben: – Welche Strategien und Organisationsformen helfen am effektivsten, das Ausmaß der Belastung für unterschiedliche Helfer in unterschiedlichen Einrichtungen der Hospiz- und Palliativversorgung abzumildern? – Welche Bedeutung wird die sich verändernde Hospiz- und Palliativlandschaft für die Belastung der Mitarbeiter haben und wie können diese in Anbetracht ihrer

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Tendenz zu intensivem Engagement den Anforderungen dieser sich verändernden Landschaft begegnen? – Inwieweit würde eine spezielle Unterstützung für neue Mitarbeiter in der Palliativversorgung deren Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum hinweg effektiv in diesem Bereich zu arbeiten, positiv beeinflussen? Auf der Grundlage bisheriger Erkenntnisse internationaler Studien zur Belastung von Helfern und Teams im Bereich der Palliativversorgung kann gefolgert werden, dass nicht die Konfrontation mit Tod und Sterben selbst die größte Quelle der Belastung ist. Vielmehr sind Faktoren, welche die Arbeit mit schwerkranken und sterbenden Menschen mittelbar negativ beeinflussen – wie zu wenig Zeit, Konflikte oder mangelnde Autonomie –, belastend im Umgang mit Tod und Sterben. Als hauptsächliche Quelle von Stress wird durchgängig Überlastung durch ein zu hohes Arbeitspensum genannt, verbunden mit unzureichender Zeit, die Arbeit nach eigenem Dafürhalten gut und in Übereinstimmung mit den eigenen professionellen Ansprüchen zu tun. Häufig werden in diesem Zusammenhang die Kosten oder negativen Auswirkungen der Belastung benannt, insbesondere die langfristige Beeinträchtigung des Gesundheitszustands der Behandler und Begleiter oder eine schlechte Versorgungsqualität für die Patienten und ihre Angehörigen (Dougherty et al., 2009; Meier et al., 2001; Pereira et al., 2011). Zugleich zeigt sich aufgrund der Studienergebnisse die zentrale Rolle des Gleichgewichts zwischen den belastenden Momenten in der Arbeit mit schwerkranken und sterbenden Menschen und dem großen Ausmaß an Zufriedenheit und Erfüllung, das die Mitarbeiter in ihrer Tätigkeit erleben. Hieraus resultiert die Forderung, in der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Bereich der Palliativversorgung gezielt Kompetenzen der Selbstfürsorge zu vermitteln, um die Resilienz der Behandler zu fördern (Ablett und Jones, 2007).

Literatur Aase, M., Nordrehaug J. E., Malterud, K. (2008). »If you cannot tolerate that risk, you should never become a physician«: a qualitative study about existential experiences among physicians. J. Med. Ethics, 34 (11), 767–771. Ablett, J. R., Jones, R. S. (2007). Resilience and well-being in palliative care staff: a qualitative study of hospice nurses’ experience of work. Psychooncology, 16 (8), 733–740. Blomberg, K., Sahlberg-Blom, E. (2007). Closeness and distance: a way of handling difficult situations in daily care. J. Clin. Nurs., 16 (2), 244–254. Cashavelly, B. J., Donelan, K., Binda, K. D., Mailhot, J. R., Clair-Hayes, K. A., Maramaldi, P. (2008). The forgotten team member: meeting the needs of oncology support staff. Oncologist, 13 (5), 530–538. Dougherty, E., Pierce, B., Ma, C., Panzarella, T., Rodin, G., Zimmermann, C. (2009). Factors associated with work stress and professional satisfaction in oncology staff. Am. J. Hosp. Palliat. Care, 26 (2), 105–111. Gibson, R. (1964). Impact of malignant diseases on the general practitioner. Br. Med. J., 2 (5415), 965–969. Hawkins, A. C., Howard, R. A., Oyebode, J. R. (2007). Stress and coping in hospice nursing staff. The impact of attachment styles. Psychooncology, 16 (6), 563–572.

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1 Das Phänomen Burnout Der Terminus »Burnout« wurde von Herbert Freudenberger, einem New Yorker Psychoanalytiker deutscher Herkunft, geprägt und in die Forschung eingeführt. Ihm fielen bei Personen mit helfenden Berufen häufige Krankschreibungen, Arbeitsunfähigkeit oder Frühverrentung auf und er berichtete über deren physischen und emotionalen Abbau sowie Motivations- und Commitmentverlust (Freudenberger, 1974). Maslach und Jackson (1986) geben wohl die bisher gängigste, empirisch abgesicherte Burnout-Definition. Sie greift viele Elemente aus bestehenden Definitionen auf, indem sie Burnout als Triplett von drei Phänomenen versteht: 1. emotionale Erschöpfung, 2. Depersonalisierung bzw. Dehumanisierung (beschreibt eine negative und zynische Einstellung gegenüber den Hilfesuchenden) und 3. reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit (kennzeichnet die negative Bewertung der eigenen beruflichen Leistung). Maslach und Jackson (1986) begreifen den Burnout-Begriff nicht als dichotomes Merkmal (krank vs. gesund), sondern als kontinuierliche Variable, die auf den Werten der drei genannten Dimensionen basiert. Zur Erhebung dieser Dimensionen wurde das »Maslach Burnout Inventory« (MBI; Maslach und Jackson, 1986) entwickelt, wobei mit 22 Aussagen sowohl die Ausprägung innerhalb der drei Skalen als auch der GesamtBurnout-Wert ermittelt wird. Über den Verlauf von Burnout gibt es zahlreiche Phasentheorien (Burisch, 2006; Cherniss, 1980; Edelwich und Brodsky, 1984; Freudenberger und Richelson, 1983; Lauderdale, 1981; Maslach und Leiter, 1995; Pines und Maslach, 1978). Beispielsweise sehen Edelwich und Brodsky (1984) den Burnout-Prozess als fünfgliedrig an. In der ersten Phase, der Phase der idealistischen Begeisterung, machen sich Selbstüberschätzung, hochgesteckte Ziele, Omnipotenzfantasien, Optimismus, hoher Energieeinsatz und eine allgemeine Überidentifikation mit Klienten und mit der Arbeit bemerkbar. In der zweiten Phase kommt es jedoch zum Stillstand. Erste Enttäuschungen werden erlebt, Bedürfnisse nach Komfort und Karriereaussichten werden wichtiger und Kontakte werden auf Arbeitskollegen beschränkt. Das Leben wird auf die Arbeit

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reduziert, worunter das Familienleben leidet. Letztendlich ziehen sich Betroffene von ihren Klienten bzw. Patienten zurück. Mit Frustration geht die dritte Phase einher, da Erfahrungen der Erfolglosigkeit und der Machtlosigkeit gemacht werden. Es kommt zu Problemen mit der Bürokratie und es wird ein fühlbarer Mangel an Anerkennung von den Klienten und Vorgesetzten erfahren. Betroffene fühlen sich inkompetent und stehen in der Gefahr, Psychosomatosen zu entwickeln. In einigen Fällen kann es auch zu Überernährung oder gar Drogengebrauch kommen. Der vierten Phase geben Edelwich und Brodsky (1984) den Titel »Apathie«. Sie ist durch völlige Desillusionierung, Verzweiflung wegen schwindender beruflicher Alternativen, Resignation und Gleichgültigkeit charakterisiert. Die Autoren sehen die fünfte Phase nicht mehr symptomspezifisch. Sie gehen davon aus, dass in diesem letzten Stadium – wenn auch nicht in jedem Fall – eine Intervention (z. B. Psychotherapie) stattfindet. Das Interesse für das Phänomen »Burnout« im deutschsprachigen Raum ist Wolfgang Schmidbauer (1977) zu verdanken. Der Psychoanalytiker und Schriftsteller beschrieb in seinem Bestseller »Die hilflosen Helfer« (1977) die Burnout-Symptomatik bei Helfern und popularisierte damit diesen Terminus.

2 Die Studie Burnout und dessen drei Dimensionen emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung und reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit wurden anhand des Maslach Burnout Inventory (MBI) bei 138 Mitarbeitern (26 akademische Mitarbeiter und 112 Pflegekräfte) verteilt auf 12 Palliativstationen und einen ambulanten Palliativdienst in Bayern erhoben (Bracks, 2010). Es wurden zudem unterschiedliche Schutz- und Risikofaktoren (»Erleben gegenüber Sterben und Tod«, »Arbeitszufriedenheit«, »subjektiv wahrgenommene somatische Beschwerden«, »Kompetenz- und Kontrollüberzeugung« sowie »Stressverarbeitungsstrategien«) für die Genese von Burnout untersucht. Als Ergebnis zeigte sich ein positiver Zusammenhang zwischen den subjektiv wahrgenommenen Beschwerden und der Burnout-Ausprägung der MBI-Skala. Auch die Einstellung und das Erleben gegenüber Tod und Sterben stellten einen wichtigen Einflussfaktor für die Burnout-Entstehung dar. Hierzu ergaben sich in meiner Befragung signifikant positive Korrelationen u. a. zwischen der Komponente »Angst vor dem Sterben wichtiger Bezugspersonen« und dem MBI-Gesamtwert. Außerdem stellte sich eine internale Kontrollüberzeugung (z. B. Erfolge und Misserfolge werden sich selbst zugeschrieben) in der Studie als Schutzfaktor bei der Burnout-Genese bei Personal auf Palliativstationen dar. Kontrollverlust (externale Kontrollüberzeugung) wurde bereits in der Literatur mit Burnout und anderen berufsbezogenen Stressreaktionen in Beziehung gesetzt (McDermott, 1984; Landsbergis, 1988; Ganster, 1989; Jackson, 1989; alle zit. nach Glass und McKnight, 1996, S. 25). Adäquate Stressbewältigungsmechanismen (Coping) stehen mit Burnout häufig in einem negativen Zusammenhang (Leiter, 1989; Mallett, Price, Jurs und Slenker, 1991;

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Enzmann, 1996), während ungeeignete Copingstrategien eher mit hohen BurnoutWerten in Verbindung gebracht werden (Leiter, 1989). So stellte sich in meiner Untersuchung die Stressbewältigungsstrategie »Situationskontrolle« als Schutzfaktor heraus. Das heißt, die Situation wird analysiert und Handlungen werden zur Kontrolle bzw. Problemlösung geplant bzw. ausgeführt (Janke, Erdmann, Kallus und Boucsein, 1976). Dagegen stellte der Copingmechanismus »Aggression« einen Risikofaktor bei der Entstehung von Burnout auf Palliativstationen dar. Mit der MBI-Gesamtskala konnten des Weiteren zwei bedeutsame Zusammenhänge festgestellt werden: Die Arbeitszeit (Stunden pro Woche) und auch die Berufserfahrung korrelieren hochsignifikant positiv mit Burnout. Hinsichtlich der Burnout-Dimension »emotionale Erschöpfung« ließen sich hochsignifikante positive Korrelationen bei »Arbeitszeit« und »Berufserfahrung« und ein signifikant positiver Zusammenhang bei der Variable »Überstunden« beobachten. Die Depersonalisierungsskala korreliert hochsignifikant positiv mit »Überstunden« und signifikant positiv mit »Arbeitszeit«. Somit kann angenommen werden, dass viele Überstunden und eine höhere Arbeitszeit zu Gefühlen der Depersonalisierung, d. h. zu einer negativen und zynischen Einstellung gegenüber den Hilfesuchenden (Maslach und Jackson, 1986), führen kann. Die Frage, ob Burnout ein Thema auf Palliativstationen ist, ob dort also ein höheres »Berufsrisiko« dafür besteht, kann jedoch nur im Vergleich zur allgemeinen BurnoutBetroffenheit in anderen Arbeitsbereichen beantwortet werden. Bei Rettungsdienstpersonal beträgt die Burnout-Rate 9 % (Hering und Beerlage, 2003), bei therapeutischem Personal in psychiatrischen Fachkliniken 12,5 % (Messenzehl, 2006), bei Hauptschullehrkräften sogar 41 % (Hedderich, 1997, zit. nach Schmid, 2002). In meiner Studie fiel der Anteil der Burnout-Betroffenen sehr gering aus. Er betrug 0,7 %! Auch viele andere Studien beweisen, dass Tätige auf Palliativstationen weniger Burnout aufweisen als andere Berufsgruppen (Vachon, 1995). Jedoch liegen die Anteile höher als in meiner Untersuchung. Dies kann möglicherweise an einem Selektionseffekt liegen, der aufgrund der relativ viel Zeit beanspruchenden Testbatterie sehr wahrscheinlich ist. Das heißt, dass tendenziell eher Daten von Mitarbeitern vorliegen, die geringer belastet sind, da diese die Zeit für die Bearbeitung der Fragebögen entbehren konnten bzw. wollten. Die geringe Burnout-Betroffenheit lässt vermuten, dass beim Personal auf Palliativstationen ausreichende Schutzfaktoren vorhanden sind. Doch wie kommt es, dass das Personal auf Palliativstationen auf Schutzfaktoren zurückgreifen kann und ein erheblich geringeres Risiko hat, an Burnout zu erkranken? Es mag wohl durchaus an dem Konzept der Salutogenese von Aaron Antonovsky (1997) liegen, welches innerhalb der Palliativmedizin verinnerlicht ist und gelebt wird. So wird das Leben als »berechenbar, handhabbar und sinnvoll« (Wydler, Kolip und Abel, 2000, S. 200) betrachtet und es werden Ressourcen und Potenziale zur Gesundheitsförderung – nicht nur am Arbeitsplatz – aktiviert. Diese Kategorien scheinen in ihrer qualitativen Ausprägung für das Personal auf Palliativstationen als Schutzfaktoren zu wirken. Zudem kann man davon ausgehen, dass man sich auf den Palliativstationen mit dem Thema Burnout intensiv aus-

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einandersetzt und dass man sowohl Präventivmaßnahmen auf der individuellen als auch auf der organisatorischen Ebene anwendet, ganz nach dem Konzept der Salutogenese.

Literatur Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag. Bracks, V. (2010). Psychische Belastung am Arbeitsplatz: Schutz- und Risikofaktoren von Personal auf Palliativstationen. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Regensburg. Burisch, M. (2006). Das Burnout-Syndrom: Theorie der inneren Erschöpfung (3. Aufl.). Heidelberg: Springer. Cherniss, C. (1980). Professional burnout in human service organizations. New York: Praeger. Edelwich, J., Brodsky, A. (1984). Ausgebrannt. Das Burn-out-Syndrom in den Sozialberufen. Salzburg: AVM-Verlag. Enzmann, D. (1996). Gestresst, erschöpft oder ausgebrannt? Einflüsse von Arbeitssituation, Empathie und Coping auf den Burnoutprozess. München: Profil. Freudenberger, H. J. (1974). Staff burn-out. Journal of Social Issues, 30 (1), 159–165. Freudenberger, H. J., Richelson, G. (1983). Mit dem Erfolg leben. München: Heyne. Glass, D. C., McKnight, J. D. (1996). Perceived control, depressive symptomatology, and professional burnout: a review of the evidence. Psychology and Health, 11, 23–48. Hering, T., Beerlage, I. (2003). Merkmale der Arbeit im Rettungsdienst und ihre Auswirkungen auf Burnout sowie Wohlbefinden bei Einsatzkräften im Rettungsdienst unter besonderer Berücksichtigung personaler und sozialer Ressourcen: Kurzvorstellung der Ergebnisse. Zugriff am 23. 8. 2010 unter http://www.sgw.hs-magdeburg.de/psnv/DOKUMENTE/DOWNLOADS/031007_MARAM.pdf Janke, W., Erdmann, G., Kallus, K. W., Boucsein, W. (1976). Stressverarbeitungsfragebogen (SVF 120). In W. Janke, G. Erdmann (Hrsg.), Stressverarbeitungsfragebogen (SVF 120). Kurzbeschreibung und grundlegende Kennwerte. Göttingen: Hogrefe. Lauderdale, M. (1981). Burnout. Austin, Texas: Learning Concepts. Leiter, M. P. (1989). Coping patterns as predictors of burnout: The function of control and escapist coping patterns. Journal of Organizational Behavior, 12 (2), 123–144. Mallett, K., Price, J. H., Jurs, S. G., Slenker, S. (1991). Relationships among burnout, death anxiety, and social support in hospice and critical care nurses. Psychological Reports, 68, 1347–1359. Maslach, C., Jackson, S. E. (1986). Maslach Burnout Inventory, Manual. Palo Alto, Kalifornien: Consulting Psychologists Press. Maslach, C., Leiter, M. P. (1995). Teacher burnout: a research agenda. Unpublished paper developed at the Johann Jacobs conference on Teacher Burnout, November 1995, Marbach Castle, Germany. Messenzehl, M. (2006). Burnout bei therapeutischem Personal in psychiatrischen Fachkliniken: Schutzund Risikofaktoren. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Regensburg. Pines, A., Maslach, C. (1978). Characteristics of staff burnout in mental health settings. Hospital and Community Psychiatry, 29, 233–237. Schmid, A. C. (2002). Stress, Burnout und Coping: Eine empirische Studie an Schulen zur Erziehungshilfe. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Schmidbauer, W. (1977). Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe. Reinbek: Rowohlt. Vachon, M. L. S. (1995). Staff stress in hospice/palliative care: a review. Palliative Medicine, 9, 91–121. Wydler, H., Kolip, P., Abel, T. (2000). Sense of coherence und Salutogense. Ein Essay zur Kritik und Weiterentwicklung einer aktuellen Perspektive in der Gesundheitsforschung. In H. Wydler, P. Kolip, T. Abel (Hrsg.), Salutogenese und Kohärenzgefühl – Grundlagen, Empirie und Praxis eines gesundheitswissenschaftlichen Konzeptes (4. Aufl.). Weinheim u. München: Juventa.

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Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland Was kann die Charta zur Entlastung der in der Hospizund Palliativversorgung Tätigen beitragen? Karin Dlubis-Mertens und Benno Bolze

1 Entstehung Die »Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland« wurde im Konsens von über fünfzig am runden Tisch beteiligten Institutionen im Sommer 2010 verabschiedet und der Öffentlichkeit am 8. September 2010 in Berlin präsentiert. Die Bedürfnisse und Rechte schwerstkranker und sterbender Menschen standen im Mittelpunkt dieses intensiven Arbeitsprozesses, den die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband (DHPV) und die Bundesärztekammer (BÄK) gemeinschaftlich im September 2008 in Gang gesetzt haben und – auch dank der Förderung der Robert Bosch Stiftung und der Deutschen Krebshilfe – im Zeitraum von zwei Jahren zum Konsens führen konnten. In fünf Leitsätzen und deren Erläuterungen zeigt die Charta gesellschaftspolitische Herausforderungen auf, benennt Anforderungen an die Versorgungsstrukturen und die Aus-, Weiter- und Fortbildung, skizziert Entwicklungsperspektiven für die Forschung und misst den Stand der Betreuung schwerstkranker Menschen in Deutschland an europäischen Maßstäben. Die Bestandsaufnahme in allen fünf Bereichen wurde verknüpft mit der Definition der jeweiligen mittel- und langfristigen Ziele. Die Charta stellt den deutschen Beitrag zu den beim Kongress der European Association for Palliative Care (EAPC) 2007 international vereinbarten Budapest Commitments (2007) dar, an denen sich Anfang 2011 bereits 21 Länder beteiligten.

2 Orientierung und Maßstab für die Hospiz- und Palliativversorgung Die Charta gibt vor dem Hintergrund der nunmehr 25-jährigen Geschichte der Hospizbewegung und Palliativmedizin einen Überblick über die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland. Neben der Bestandsaufnahme entlang von fünf Leitthemen werden mittel- bzw. langfristige Perspektiven aufgezeigt – verbunden mit dem Wunsch nach einer breiten institutionellen Selbstverpflichtung zur Umsetzung der beschriebenen Rechte Schwerstkranker. Dennoch: Jeder Sterbeprozess ist individuell. Ein fachlich kompetenter und reflektierter Umgang aller Beteiligten mit Problemen und Dilemmata in sterbenahen Situationen kann nur

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gewährleistet werden, wenn »die Grundlagen dafür […] schon in der Ausbildung der verschiedenen beteiligten Berufsgruppen einschließlich des Ehrenamtes« gelegt sowie in die Fort- und Weiterbildung aufgenommen werden (Leitsatz 1). Die Anforderungen an die Aus-, Weiter- und Fortbildung werden im dritten Charta-Leitsatz ausgeführt. Insbesondere aus diesem Kapitel könnte sich bei weiterer Umsetzung der Charta eine deutliche Entlastung der Mitarbeiter ergeben. Qualifizierung vermittelt Sicherheit, Kompetenz erhöht den Umgang mit Anspruch und Ohnmachtsgefühlen.

3 Sterben als Teil des Lebens: Für die Begleitung Schwerstkranker sind nicht allein Fachkräfte verantwortlich Der zweite Leitsatz der Charta und die Erläuterungen dazu gehen auf die Bedürfnisse der Betroffenen und ihre Rechte sowie die daraus resultierenden Anforderungen an die Versorgungsstrukturen ein. »Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht auf eine umfassende […] Betreuung und Begleitung.« Damit jeder schwerstkranke und sterbende Mensch dieses Recht in Anspruch nehmen kann, bedarf es eines umfassenden wohnortnahen und vernetzten Versorgungsangebotes, das aus medizinischen, pflegerischen, psychosozialen und spirituellen Angeboten besteht. Je besser diese Strukturen bedarfsgerecht ausgebaut sind, desto besser wird eine Begleitung und Versorgung der Betroffenen gelingen, wodurch gleichzeitig eine Entlastung des Teams erreicht werden kann. Um ein Sterben in Würde zu ermöglichen, sind gesicherte Rahmenbedingungen für die ambulanten und stationären Hospiz- und Palliativdienste bzw. -einrichtungen notwendig. Belastende Situationen in der Hospizarbeit und Palliativversorgung können auch darauf zurückzuführen sein, dass die notwendigen Rahmenbedingungen für die hauptund ehrenamtlichen Mitarbeiter/-innen nicht ausreichend gesichert sind. Dazu zählt auch die Frage der Finanzierung der Teams bzw. Dienste und Einrichtungen. Häufig muss ein großer Teil der zeitlichen Ressourcen für diesen Bereich zur Verfügung gestellt werden. Die Charta sagt dazu ganz deutlich, dass »die Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen […] auch der notwendigen finanziellen Voraussetzungen« (Präambel) bedarf, und möchte dadurch den Weg zu sicheren Rahmenbedingungen eröffnen. Das Sterben geschah früher viel häufiger in der Familie und war damit viel mehr Teil des Lebens in der Familie und darüber hinaus auch Teil des Lebens der Nachbarn und der Freunde, des sozialen Umfelds. Heute findet das Sterben häufig in stationären Einrichtungen statt und wird damit Aufgabe einer kleineren Zahl von Fachkräften. Über 200 Aufnahmen pro Jahr in einem stationären Hospiz mit 16 Betten sind nicht selten. Nach Erhebungen des DHPV starben im Jahr 2010 rund 99 % der im Hospiz aufgenommenen schwerstkranken Menschen nach einer oftmals kurzen Verweildauer (im Jahr 2009 im Bundesdurchschnitt 20 Tage/Median neun Tage). Die Konsequenz daraus kann aber nicht eine Abkehr von der Versorgung in spezialisierten Einrichtungen der Hospiz- und Palliativversorgung bei gleichzeitiger Idealisierung früherer Gegebenheiten sein.

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Die Charta zeigt hier einen Weg auf, indem beschrieben wird, dass das Sterben Teil des Lebens ist. »Der sterbende Mensch ist und bleibt Teil der Familie und des sozialen Umfeldes: Krank werden, älter werden und Abschied nehmen gehören zum Leben« (Leitsatz 1). Sterben geht also alle an und die Begleitung von Sterbenden ist nicht nur die Aufgabe von Palliative-Care-Fachkräften. Weiterhin wird in der Charta aber auch die Notwendigkeit spezialisierter Einrichtungen beschrieben. »Palliativstationen und stationäre Hospize sind für die Versorgung sterbender Menschen und ihnen Nahestehenden bedeutsame Einrichtungen« (Leitsatz 2). So verstanden, kann gegenseitige Entlastung ermöglicht werden, sowohl bei den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern als auch bei den Betroffenen.

4 »Sowohl … als auch«: Grundidee ist Verknüpfung und Dialog Der Entwicklung des Charta-Textes ging eine inhaltliche Annäherung und Diskussion voraus, die sich insbesondere durch das Bemühen auszeichnete, Sichtweisen und Aspekte von Palliative Care miteinander zu verknüpfen, die trotz des zugrunde liegenden gemeinsamen Gedankens und der verbindenden Haltung immer noch allzu leicht in Gefahr geraten, getrennt voneinander betrachtet zu werden: hier die Palliativmedizin, dort die Hospizbewegung, hier die Forschung, dort die Praxis, hier die hochbetagten Menschen, dort die Kinder und Jugendlichen, hier die allgemeine ambulante Palliativversorgung, dort die spezialisierte, hier die hauptamtlichen, dort die ehrenamtlichen Mitarbeiter/-innen, ganz abgesehen von den diversen beteiligten Berufsgruppen. Wie ernst es den Charta-Autoren mit dem Dialog und dem Austausch im multiprofessionellen Team ist, zeigt allein die gemeinsame Betrachtung aller in der Palliativversorgung Tätigen im Kapitel »Anforderungen an die Aus-, Weiter- und Fortbildung«. Dort heißt es: »Die Begleitung von schwerstkranken und sterbenden Menschen spielt in vielen Bereichen der Gesellschaft eine Rolle. Daraus ergeben sich unterschiedliche Anforderungen an die Qualifizierung aller Beteiligten« (Leitsatz 3). So ist wesentliches Element der Hospizarbeit der Dienst ehrenamtlicher Mitarbeiter, die auf ihren Dienst vorbereitet sind (BAG Hospiz, 2006). Die Ehrenamtlichen tragen durch ihre Begleitung oftmals zur Entlastung in für den schwerstkranken und sterbenden Menschen und seine Angehörigen schwierigen Situationen bei, was bei einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen auch eine Entlastung für alle im Team bedeuten kann. Außerdem zeigt sich die Multiprofessionalität in der Praxis als Strukturprämisse, die immer wieder neu eingeklagt oder unter Beweis gestellt werden muss. Multiprofessionelle Aus- und Fortbildungen, gemeinsame Praxisbegleitungen und Supervisionen werden mittelfristig die verschiedenen Sichtweisen und Sprachregelungen der Professionen transparent machen und einander angleichen. Weniger Spannungen in den Teams werden die Folge sein.

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5 Kaleidoskop Charta: Perspektiven im Wechselspiel Dass diese »Sowohl-als-auch«-Betrachtungsweise der Charta auch für die Qualifikation im alltäglichen Umgang mit Patienten wesentlich sein kann, sei exemplarisch verdeutlicht: »Auf deutschen Palliativstationen werden vor allem Patienten mit Tumorerkrankungen (90 Prozent) palliativmedizinisch betreut. Bedarfsschätzungen gehen davon aus, dass auch Schwerstkranke mit anderen Erkrankungen einen hohen Bedarf an Palliativversorgung haben und künftig bis zu 40 Prozent der Betten auf Palliativstationen benötigen könnten. Sie brauchen ebenfalls einen besseren Zugang zur Palliativversorgung« (Leitsatz 5). Sofern es gelingt, die gesellschaftlich verankerte Gleichsetzung von »unheilbar krank« und »Krebs im Endstadium« zu erweitern und den Blick zusätzlich auf Patienten mit nicht tumorbedingten, z. B. neurologischen Erkrankungen zu lenken, ist es auch im Team viel eher möglich, auf den Palliativbedarf nicht krebserkrankter Patienten in fortgeschrittenen Krankheitsstadien in adäquater Weise einzugehen. Die parallele Betrachtung erleichtert eine Verständigung und einen Austausch darüber, wie ein demenzerkrankter Patient seine Bedürfnisse deutlich macht oder wie bei einem Patienten mit ALS Schmerzen und Luftnot im Vergleich zu tumorbedingter Symptomatik behandelt werden können.

6 Der Anfang ist gemacht: Eine Gesellschaft verpflichtet sich Dass es gelungen ist, die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den drängenden Fragen der Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland auf breiter Basis zumindest anzustoßen, lässt sich ein Jahr nach Verabschiedung der Charta, im Sommer 2011, an verschiedenen Indizien ablesen: Weit mehr als 350 Institutionen und Einrichtungen sowie zahlreiche Privatpersonen haben unterzeichnet und sich damit verpflichtet, dass sie die Ziele und Inhalte der Charta mittragen und für die Rechte schwerstkranker und sterbender Menschen eintreten werden. Bereits mehr als 25.000 Druckexemplare der Charta sind zur Auslage in Einrichtungen und bei Veranstaltungen, als Unterrichtsmaterial in Kursen und an Schulen, als Grundlage für konzeptionelle Überlegungen und regionale Aktivitäten angefordert worden. Zehntklässler beschäftigen sich in der Ethik-Stunde mit der Charta, Hospizvereine sammeln Unterschriften, Kommunal-, Landes- und Bundespolitiker machen die Charta zum Thema, bei Ausstellungen liegen Unterschriftenlisten aus. Das Echo in den Medien, der Zugriff auf die Charta-Website (www.charta-zur-betreuung-sterbender. de) und die Verlinkungsrate lassen breiten Zuspruch erkennen. Diverse Institutionen bauen das Logo »Wir unterstützen die Charta« in ihre Internetauftritte ein. Von einem beachtlichen gesellschaftlichen Engagement zeugen ebenso einige Wegmarken der Kommunikation in und mit der Öffentlichkeit: Der Charta-Prozess wird seitens der Gesundheitsministerkonferenz (2010) begrüßt, die Charta wird im

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Rahmen von Fachveranstaltungen vorgestellt und nachfolgend zum Gegenstand einer Reihe von Veröffentlichungen (Nauck und Dlubis-Mertens, 2011). Auch in den Entschließungen des 114. Deutschen Ärztetages zur palliativmedizinischen Versorgung wird die gesellschaftliche Bedeutung der Erarbeitung und Verabschiedung der Charta betont (Deutscher Ärztetag, 2011).

7 Die Charta: Jeder Satz ein eigenes Projekt Die Charta ist verabschiedet, die Charta wird verbreitet, die Charta wird unterstützt, d. h., nun muss sie »nur noch« umgesetzt werden. Nach den Phasen der Erarbeitung und des Transfers in die Öffentlichkeit sollte es jetzt mit der Realisierung der Charta in kleineren und größeren Einzelprojekten weitergehen. Dies lässt vielleicht zunächst ein wenig zurückschrecken vor einem umfassenden, möglicherweise langwierigen und mühsam zu handhabenden nationalen Prozess, doch bei der Lektüre der Charta wird deutlich, wie naheliegend einzelne sehr konkrete und zukunftsweisende Projekte für ein Team, eine Einrichtung, einen Träger, einen Förderer oder eine Kommune sein können, wenn man Sätze liest wie diese: »Menschen in hohem Lebensalter benötigen geeignete Versorgungsangebote, die auch palliative Gesichtspunkte ausreichend berücksichtigen. Besonders in stationären Pflegeeinrichtungen bedarf es der systematischen Weiterentwicklung von Palliativkompetenz und Hospizkultur« (Leitsatz 2). Ausgangspunkt für ein Praxis- oder Forschungsteam könnte ebenso folgende nur auf den ersten Blick karg anmutende Überschrift sein: »Die Begleitung im Sterben umfasst mehr als eine optimierte Versorgung.« Die nachfolgende Erläuterung verdeutlicht die Notwendigkeit des interdisziplinären und multiprofessionellen »Networkings«: »Die Forschung dient in erster Linie der Verbesserung der Palliativversorgung, sollte sich aber auch sozialen, kulturellen, religiösen und ethnischen Lebensumständen schwerstkranker und sterbender Menschen widmen« (Leitsatz 4). Die Rechte schwerstkranker und sterbender Menschen und der ihnen Nahestehenden einzufordern, diese Aufgabe stellt sich Institutionen, Organisationen, der Politik sowie der Gesellschaft insgesamt. Außerdem drängt sie sich insbesondere denjenigen auf, die in ihrem beruflichen Umfeld mit den Bedürfnissen, Nöten, Wünschen und Ängsten sterbender Menschen und ihrer Familien und Freunde sehr vertraut sind und umso deutlicher die Grenzen und Hürden in der Betreuung und Begleitung eines Menschen am Ende seines Lebens spüren. Mit der Hoffnung, dass die Charta dazu dienen kann, Unterzeichner und Unterstützer in vielfältiger Weise beim Wort zu nehmen und sichtbare Veränderungen in der Betreuung und Versorgung sterbender Menschen in die Wege zu leiten, sei der Wunsch verbunden, dass die Verankerung der Charta im deutschen Gesundheitssystem auch zur weiteren Entlastung der im Feld Tätigen beitragen wird.

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Literatur Budapest Commitments (2007). Setting the goals: a joint initiative by the European Association for Palliative Care, the International Association for Hospice and Palliative Care & Help the Hospices. Editorial. Palliative Medicine, 21, 269–271. Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz (BAG Hospiz) (2006). Qualitätsanforderung zur Vorbereitung Ehrenamtlicher in der Hospizarbeit. Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e. V. (DGP), Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e. V. (DHPV), Bundesärztekammer (BÄK) (Hrsg.) (2010). Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland. Berlin. Deutscher Ärztetag (2011). Entschließungen zum Tagesordnungspunkt II: Palliativmedizinische Versorgung in Deutschland – ein zukunftweisendes Konzept. Dtsch. Arztebl., 108 (23), A–1313. Dlubis-Mertens, K., Müller-Busch, H. C. (2010). Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen. Zeitschrift für Palliativmedizin, (11) 6, 268 ff. Gesundheitsministerkonferenz der Länder (2010). TOP 10.2, Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen. Zugriff am 4. 8. 2011 unter http://www.gmkonline.de/?&nav=beschlu esse_83&id=83_10.02 Nauck, F., Dlubis-Mertens, K. (2011). Germany has adopted a charter for the care of the critically ill and the dying. European Journal of Palliative Care, 18 (4), 176–178.

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Was auf uns lastet

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Belastungsfaktoren David Pfister

In der wissenschaftlichen Studie »Wie viel Tod verträgt das Team?« (Müller, Pfister, Markett und Jaspers, 2009) lag ein Schwerpunkt auf den spezifischen Belastungsfaktoren im Umgang mit sterbenden Menschen. Mit Hilfe von Faktorenanalysen konnten aus der Gesamtanzahl der Items drei zugrunde liegende Faktoren gefunden werden: ein Beziehungs-, Verantwortungs- und Stressfaktor. Diese können als Grundthemen der Belastung bezeichnet werden. Die Auswertung dieser Bereiche machte deutlich, dass die Mitarbeiter in beiden Einrichtungen die Belastungen, die durch Beziehungen (zu Patienten und Angehörigen) entstehen, größer einschätzten als organisationale Belastungen (Stressfaktor). Das steht im Gegensatz zu den bisherigen Annahmen (Schröder, Bänsch und Schröder, 2004; Vachon, 1987; 1995). In der Studie von Vachon und in ihrer Metaanalyse zeigten sich vorwiegend Faktoren auf der organisationalen Ebene als belastend für die Arbeit in Palliativstationen und Hospizen. Schröder und Kollegen untersuchten ebenfalls in ihrer Studie vor allem die organisationalen Bedingungen in Palliativstationen und Hospizen in Deutschland. Palliativspezifische Faktoren der Belastung wurden vernachlässigt. In Abbildung 1 sind die Belastungsfaktoren in Hospizen und Palliativstationen dargestellt.

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Abbildung 1: Belastungsfaktoren (signifikante Unterschiede zwischen Hospizen und Palliativstationen sind mit * gekennzeichnet)

Bei einer Betrachtung der einzelnen Items zeigten sich die Häufung von Todesfällen (Hospize) und die Beziehung zu Patienten (Palliativstationen) als am stärksten belastende Faktoren. Aber auch der Anspruch der Palliativmedizin stellt eine der größten Belastungen dar. Anspruch und Beziehung scheinen in ihrer Wichtigkeit durch die bisherige Forschung (Vachon, 1995) unterschätzt worden zu sein. Die ausschließliche Fokussierung auf organisationale Belastungen zeigt sicherlich ein zu stark vereinfachtes Bild der Arbeit im Palliativbereich. Die Belastung durch einen nicht erfüllten Anspruch der Palliativmedizin korrelierte in beiden Einrichtungen signifikant negativ mit der Einschätzung der Zukunftsaussicht, was heißt, dass Teammitglieder, die sich durch einen nicht erfüllten Anspruch der Palliativmedizin belastet fühlten, die Zukunft des Teams als schlechter einschätzten. In der Hospizbewegung stellte sich der Anspruch häufig in Formulierungen wie z. B. »geborgen an der Hand eines anderen Menschen sterben« oder anderen oftmals euphemistischen Beschreibungen dar. Aus seiner Geschichte heraus ist dieser Anspruch

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durchaus verständlich, jedoch, wie durch die Studie belegt, auch sehr belastend. Eine Reduktion der Belastung sollte allerdings nicht einfach durch eine Senkung des Anspruchs erfolgen, da dieser auch ein wichtiger Motor für die Umsetzung guter Palliativpflege ist. Dieses Dilemma sollte den Mitarbeitern bewusst gemacht werden, gleichzeitig sollten Arbeitsziele stärker operationalisiert werden. Dadurch haben die Mitarbeiter klare, erreichbare und auch überprüfbare Ziele. So definierte Ziele stellen den Kern einer nachhaltigen Motivation dar, wie sich in der Motivationspsychologie zeigte (z. B. Heckhausen und Heckhausen, 2006). Betrachtet man das Ziel eines schönen oder angstfreien Tods aus der Sicht der Motivationspsychologie, so handelt es sich dabei um einen Prototypen eines schwer, wenn überhaupt zu erreichenden und auch nicht objektiv überprüfbaren Ziels. Eine genaue Definition der Arbeitsziele erscheint für die pflegerische Arbeit noch vergleichsweise einfach, aber wie sollten psychosoziale Aspekte definiert werden? Wie kann die psychosoziale Betreuung gemessen werden? Ein aus der Psychotherapie bekanntes Zielsetzungsverfahren könnte hier Abhilfe schaffen. Die Goal Attainment Scale (Kiresuk und Sherman, 1968) stellt ein bewährtes Verfahren dar, mit dessen Hilfe psychologische Ziele operationalisiert werden. Aus dem Wunsch eines Patienten, wieder glücklich zu sein, wird im Laufe des Prozesses dann das Ziel »regelmäßig mit Freunden auszugehen«, welches erreichbar und in seiner Quantität überprüfbar ist. In Bezug auf die Palliativversorgung ist ein häufig internalisiertes Ziel »ein angstfreier Tod« des Patienten. Eine mögliche Operationalisierung könnten regelmäßige Gesprächsangebote sein, die dem Patienten gemacht werden. Dieses Ziel ist erreichbar – im Gegensatz zu dem oftmals impliziten Ziel der Pflegenden, den Patienten die Angst vor dem Tod zu nehmen. Das gesamte Team sollte an der Definition der Ziele beteiligt werden, da so deren Akzeptanz am größten ist. Auch wenn die Operationalisierung psychosozialer Ziele einen aufwendigen Prozess darstellt, so kann sie sicher viele Frustrationen und Versagensgefühle verhindern, die aus zu hochgesteckten Zielen resultieren. In beiden Einrichtungen hing der nicht erfüllte Anspruch der Palliativmedizin signifikant mit der Einschätzung von schlechteren Zukunftsaussichten für das Team zusammen. Je länger die Befragten im Palliativbereich arbeiteten, desto mehr fühlten sich die Mitarbeiter in Palliativstationen durch den nicht erfüllten Anspruch der Palliativmedizin belastet. Bram und Katz (1989) beobachteten ebenfalls bei älteren Pflegenden eine höhere Belastung durch eine Diskrepanz zwischen Ideal und Realität der Pflegesituation. Eine mögliche Erklärung liefern Farber und Kollegen (Farber, Egnew, Herman-Bertsch, Taylor und Guldin, 2003). Sie berichten in einer qualitativen Studie, dass jüngere Mitarbeiter eher auf technische Aspekte der Arbeit Wert legten, wohingegen ältere Mitarbeiter ehrliche und offene therapeutische Beziehungen zu den Patienten anstrebten, was den hohen Anspruch an die Pflege widerspiegelt. In den Hospizen wurde dieser Zusammenhang jedoch nicht bestätigt. Die Beziehung zu Patienten beurteilten die Befragten vor allem als Belastungsfaktor, wenn sie durch besondere Nähe geprägt war. Diese Ergebnisse nennen auch Alexander

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und Ritchie (1990). Pflegende haben ihre eigenen Trauergefühle, entweder im direkten Bezug zum Sterbenden oder erst später durch den Kontakt zu Angehörigen. Papadatou (2000) unterstreicht ebenfalls den Aspekt der Trauer der Pflegenden. Der Umgang mit Trauer im professionellen Setting ist nicht geregelt – auch dies erschwert die Interaktion mit Sterbenden in der täglichen Arbeit (Kaplan, 2000). Oftmals wird im Rahmen der Professionalisierung angenommen, dass eigene Gefühle nicht erwünscht sind und nicht kommuniziert werden sollen. Bevor die Bearbeitung solcher Trauerreaktionen in der Supervision möglich ist, sollte eine Anerkennung des Bedürfnisses nach Trauer der Mitarbeiter im Team stattfinden. Smith (1998) betont ebenfalls, dass Pflegende ihr Bedürfnis, um sterbende Patienten zu trauern, akzeptieren sollten und ermutigt werden sollten, Abschiedsrituale zu entwickeln bzw. Beerdigungen zu besuchen. Blanche (1997) beschreibt Vorgehensweisen für gesamte Teams, wie mit Trauer umgegangen werden kann, und erhalten auch empirische Bestätigung. Die Entwicklung und Etablierung von Ritualen, die den Trauerprozess der Pflegenden unterstützen, ist eine Maßnahme, die sich in der Praxis vor allem in Hospizen über Jahre bewährt hat (Müller, 2011). Es ist auch nicht ungewöhnlich für Pflegende, sich mit Patienten zu identifizieren, die Ähnlichkeiten (Alter, Familienstand, Interessen) mit ihnen haben (vgl. Keidel, 2002; Meier et al., 2001), weil sie viel intime Zeit mit den Patienten verbringen und sie im Gegensatz zu Angehörigen nicht die Möglichkeit zum Rückzug haben. Auch Graham et al. (1996) heben hervor, dass das Versterben von jungen Patienten und jenes von Patienten, mit denen sich die Pflegenden identifizieren, als besonders schwierig angesehen wird. Keidel (2002) warnt davor, dass eine Identifikation mit Patienten zu Schuld- und Ohnmachtsgefühlen sowie Burnout führen kann. Besonders starke Identifikationen von Mitarbeitern mit Patienten sollten in der Supervision oder in Fortbildungen zum Thema gemacht werden, weil hier nicht selten auch Projektionen der eigenen Geschichte in die des Patienten vorliegen können und eine Bearbeitung der Thematik erforderlich ist. Möglicherweise werden bei den Mitarbeitern durch den Patienten eigene Erfahrungen getriggert (z. B. Tod der Eltern etc.), die ein erhöhtes Ausmaß der Trauerreaktion zur Folge haben. In solchen Fällen ist eine Rückbesinnung auf die Rolle des Pflegenden und ein Bewusstmachen der Projektionen hilfreich. Die Regulation von Nähe und Distanz ist erlernbar und stellt eine wichtige Eigenschaft im Umgang mit Sterben und Tod – und überhaupt im Umgang mit leidenden Menschen – dar. In den freien Äußerungen beider Einrichtungen wurde häufig erwähnt, dass die Beziehung zum Patienten auch eine große Ressource für die Arbeit sei. Die Beziehung kann sowohl Belastungsfaktor als auch Schutzfaktor sein, wie es auch Ramirez und Kollegen (1998) postulieren. Unter welchen Umständen die Beziehung zu den Patienten eher als protektiver Faktor für die Arbeit und wann sie als eher belastend empfunden wird, ist nicht klar. Ein weiteres Ergebnis der Studie zeigte sich im Vergleich der Gesamtbelastung von Hospizen gegenüber Palliativstationen. Insgesamt gaben die Mitarbeiter in Hospizen signifikant geringere Belastungen als diejenigen in Palliativstationen an. Dies zeigt

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sich vor allem bei der geringeren Belastung durch den Anspruch der Palliativmedizin, Beziehung zu Patienten, unerwartetes Versterben, Beziehung zu Angehörigen und Zeitdauer in der Palliativversorgung. Möglicherweise kann im Hospiz eine Kultur des Sterbens vorherrschen, die in großen Institutionen schwieriger umzusetzen ist. Schröder und Kollegen stellten generelle organisationale Unterschiede in den Vordergrund ihrer Arbeit. Die Identifikation des Personals in Hospizen mit ihrer Einrichtung war größer als in Palliativstationen, und sie erlebten auch die betriebliche Fürsorge und die Entlohnung als gerechter und schätzten den Zeitdruck als geringer ein (Schröder et al., 2004). In der Studie von Bram und Katz (1989) waren Hospizmitarbeiter älter und berufserfahrener, was auf eine weitere mögliche Erklärung für eine geringere Belastung hinweist. In der vorliegenden Studie gab es hingegen keine Alters- und Erfahrungsunterschiede. Als alternative Erklärung könnte man annehmen, dass Mitarbeiter in Palliativstationen aufgrund der interdisziplinären Zusammenarbeit und der schwierigeren ethischen Zielsetzungen Arbeitsprozesse selbstkritischer hinterfragen und aufgrund eines größeren Problembewusstseins auch eine höhere Belastung angeben. Der am stärksten belastende Faktor für Mitarbeiter in Hospizen war die Häufung von Todesfällen pro Zeiteinheit. In Palliativstationen lag dieser Belastungsfaktor nur auf Rang drei. Dies liegt sicherlich daran, dass in den Hospizen mehr als 95 % der Patienten sterben, nur 5 % werden nach Hause entlassen (Bolze, 2010); in Palliativstationen können die Patienten nach erfolgreicher Symptomkontrolle die Einrichtungen wieder verlassen. Auch wenn insgesamt aufgrund einer größeren Patientenzahl mehr Menschen in Palliativstationen sterben, liegt die Sterberate hier niedriger. An zweiter Stelle folgte in Hospizen der hohe Anspruch der Palliativmedizin. Für die Teilnehmer aus Palliativstationen stellte das Nichterreichen sogar die wichtigste Belastung dar. Die von Bram und Katz (1989) deskriptiv vorgelegten Ergebnisse, die eine stärkere Belastung der Mitarbeiter in Palliativstationen durch den Anspruch nahelegten, konnten damit bestätigt werden. Whippen und Cancellos (1991) stellen heraus, dass der Konflikt zwischen Ausbildung bzw. Training, wo der Schwerpunkt oftmals auf kurativen Behandlungen liegt, und der Realität, in der häufig Patienten mit fortgeschrittenen, unheilbaren Erkrankungen betreut werden, zu Gefühlen der Hilflosigkeit und Versagen führen kann. Jedoch absolvieren vor allem zahlreiche Mitarbeiter aus Palliativstationen eine Zusatzausbildung oder Weiterbildung für Palliative Care, um genau diesen Konflikt zu lösen. Die Palliativstation unterscheidet sich jedoch in ihrer Zielsetzung von Hospizen, was einen Grund für die stärkere Belastung durch den Anspruch darstellen kann: So ist in den Palliativstationen die weitere Richtung der Versorgung häufig noch offen, was auch den Kontakt mit dem System Familie prägt und insgesamt ganz andere Ansprüche mit sich bringt. Der Prozess der Zielfindung beinhaltet oftmals schwierige ethische Entscheidungen. Vor allem wenn schwierige Entscheidungen in Bezug auf die Patientenzukunft getroffen werden müssen, kann der Anspruch als belastend wahrgenommen werden, weil das eigene Entscheidungsverhalten infrage gestellt werden muss. Solche Entscheidungen sind in Palliativstationen häufiger als in Hospizen.

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In Hospizen werden die Patienten eher später im Krankheitsverlauf aufgenommen, wie der Bericht von Lindena, Woskanjan und Fahland (2010) zur Hospiz- und PalliativErhebung HOPE (Stiel et al., 2011) erkennen lässt. In aller Regel werden sie dort bis zum Tod betreut, d. h., dass trotz der Absicht bester Versorgung die Arbeit möglicherweise mehr von einem Geist des Zulassens geprägt sein kann. Dies ist in einer nicht zum System Krankenhaus gehörenden Einrichtung leichter möglich. Wenn Patienten, die ins Hospiz kommen, dort in aller Regel sterben, kann der Tod des Patienten vielleicht eher akzeptiert werden. Entscheidungen in Bezug auf die weitere Versorgung des Patienten bzw. Verlegungen sind dort nur selten zu treffen. Die Funktion des Hospizes ist den meisten Patienten und Angehörigen klar. Demgegenüber wissen viele Menschen nicht genau, was eine Palliativstation ist, und treten den Mitarbeitern mit unklaren Erwartungen entgegen. In Palliativstationen lag die Beziehung zum Patienten auf Rang zwei, in Hospizen auf Rang drei der Hauptbelastungen. Vielleicht wirken sich die stärkere Professionalisierung und die strukturelle Anbindung an das Krankenhaus auf den Umgang mit Trauer bei Mitarbeitern aus. Möglicherweise ist die Entwicklung von Ritualen in Hospizen, die der Reflexion der Patientenbeziehung dienen, der ausschlaggebende Faktor; genaue Zahlen zur Anwendungshäufigkeit von Ritualen in Hospizen und Palliativstationen sind jedoch nicht bekannt. Dies gilt auch für den als sehr wichtig bewerteten Kontakt zu den Angehörigen. Aufeinanderfolgende Todesfälle wurden in Palliativstationen als signifikant belastender empfunden, in Hospizen gab es keinen Unterschied. Viele Teilnehmer betonten in den freien Äußerungen, dass die Qualität des Sterbens relevanter für die empfundene Belastung sei als die reine Quantität der Todesfälle. Die Gemeinsamkeiten der beiden Einrichtungen in Bezug auf die Belastungsfaktoren stellen jedoch die bedeutsamste Erkenntnis dar, nicht deren Unterschiedlichkeit.

Literatur Alexander, D. A., Ritchie, E. (1990). »Stressors« and difficulties in dealing with the terminal patient. Journal of Palliative Care, 6, 28–33. Blanche, M. (1997). Running a hospice staff support course. European Journal of Palliative Care, 4, 200–202. Bolze, B. (2010). Interview am 11. 08. 2010. Unveröffentlicht. Bram, P. J., Katz, L. F. (1989). Study of burnout in nurses working in hospice and hospital oncology settings. Oncology Nursing Forum, 16, 550–560. Farber, S. J., Egnew, T. R., Herman-Bertsch, J. L., Taylor, T. R., Guldin, G. E. (2003). Issues in end-life care: patient, caregiver, and clinician perceptions. Journal of Palliative Medicine, 6, 19–31. Graham, J., Ramirez, A. J., Cull, A., Finlay, I., Hoy, A., Richards, M. A. (1996). Job stress and satisfaction among palliative care physicians. Palliative Medicine, 10, 185–194. Heckhausen, H., Heckhausen, J. (2006). Motivation und Handeln. Berlin: Springer. Kaplan, L. J. (2000). Towards a model of caregiver grief: Nurses’ experience of treating dying children. Omega: Journal of Death and Dying, 41, 187–206.

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Belastungsfaktoren

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»Meistens schaff ich das ja gut, aber manchmal …« Die Beziehung zum Patienten als ein Hauptbelastungsfaktor der Mitarbeiter Susanne Hirsmüller und Margit Schröer

Federn lassen und dennoch schweben – das ist das Geheimnis des Lebens. (Hilde Domin)

Die Begleitung von sterbenden Menschen und ihren Angehörigen ist für alle professionellen (und ehrenamtlichen) Mitarbeiter in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen mit großen Herausforderungen verbunden. In Einrichtungen, die sich auf die Pflege von Sterbenden spezialisiert haben wie Palliativstationen und Hospize, sind genau diese besonderen Herausforderungen der berufliche Alltag der Mitarbeitenden. Daraus ergeben sich für sie spezielle Belastungsfaktoren in einer von Beginn an auf den endgültigen Abschied durch den Tod des Patienten gerichteten Beziehung.

1 Die Asymmetrie in der Begegnung Diese Diversität (der Patient stirbt, der Begleiter lebt weiter) ist ein (auch durch noch so viel Nähe nicht aufzuhebendes) Faktum in der Beziehung zwischen Sterbenden und Begleitern. Auf dieser Asymmetrie bauen alle Kontakte auf, aber »keiner kann dem Anderen sein Sterben abnehmen« (Heidegger, 1979, S. 240). Obwohl auch die Begleitenden den Keim des Seitenwechsels schon immer in sich tragen, »wäre es ein sehr enttäuschender Trugschluss zu glauben, dass diese unsere grundsätzliche ›Todeszugehörigkeit‹ schon genügt, dem Sterbenden immer nahe sein, ihm überall hin folgen und ihm unsere verlässliche Begleitung angedeihen lassen zu können« (Müller, 2002, S. 10). Auch wenn sich Mitarbeiter von Palliativstationen und Hospizen mit ihrer eigenen Endlichkeit und der Sorge um die Art und Weise des eigenen Sterbens nicht permanent auseinandersetzen können, so ist der Gedanke daran doch immer wieder präsent und nie völlig zu unterdrücken. Die viel beschriebene Balance zwischen Nähe und Distanz kann dieses Faktum nicht unberücksichtigt lassen, vielmehr müssen alle in der Palliativversorgung Tätigen lernen, dieses Gleichgewicht mit jedem zu betreuenden Sterbenden neu zu finden. Nicht das Sterben der anvertrauten Menschen allein stellt die Belastung dar, sondern auch der je eigene und institutionelle Anspruch an die individuelle Gestaltung der Beziehung zwischen Sterbenden und Betreuenden.

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2 Nähe – Die Suche nach Zuwendung »Die Personen, die dem sterbenden Patienten über lange Zeit körperlich und oft auch emotional sehr nahe stehen – und das sind die Pflegenden zweifelsohne –, sind in dem sehr intimen und individuellen Prozess des Sterbens wichtige Vertraute für den Sterbenden. Vertraute, bei denen die Sterbenden Halt und Orientierung suchen, Vertraute, an die sie Fragen haben, und Vertraute, von denen sie sich Trost und Zuspruch erhoffen« (Kaluza und Töpferwein, 2005, S. 362). In der Studie »Wie viel Tod verträgt das Team?« (Müller, Pfister, Markett und Jaspers, 2009) wurde unter der Fragestellung nach der Beziehung zum Patienten sehr häufig die »Nähe« als Belastungsfaktor benannt (von 23,9 % der Mitarbeiter auf Palliativstationen und von 42,0 % der Mitarbeiter in Hospizen). Ein möglicher Erklärungsansatz für die erhebliche Differenz lässt sich aus den Interviewvignetten von Pfeffer (2005) ableiten. Sie hatte in einer teilnehmenden Untersuchung Mitarbeiter in einem Hospiz und auf einer Palliativstation befragt. Folgende Unterschiede zwischen den beiden Arbeitsfeldern wurden aus dieser Befragung und unseren eigenen Erfahrungen deutlich (diese sind zwar oft, jedoch nicht immer zutreffend) (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Nähe in Hospiz und Palliativstation Hospiz

Palliativstation

familiäre Nähe

kontrollierte Nähe

familiäre Atmosphäre, wohnliche Räume; Patienten sind Gäste; Patienten und Angehörige haben zu fast allen Räumen Zutritt; Konstruktion von Sterben und Tod als gemeinschaftlich-soziales Ereignis; bei jedem Gast wird mit dem Versterben gerechnet, nur die allerwenigsten werden noch einmal entlassen

Krankenhausatmosphäre, etwas wohnlich gemacht; Wohnküche oder Wohnzimmer nicht immer vorhanden; Patienten sind Patienten, wie auf jeder anderen Station auch; primäres Behandlungsziel ist die Symptomlinderung, damit Patienten wieder entlassen werden können, nur ein gewisser Anteil verstirbt auf der Station (eine gedankliche Einteilung in die Kategorien: »wird entlassen« und »stirbt wahrscheinlich hier« erfolgt frühzeitig durch die Behandelnden)

kaum Fluktuation der Mitarbeitenden

in manchen Einrichtungen Rotationsregel (Tausch auf andere Stationen innerhalb des Krankenhauses)

Pflegekräfte erste Ansprechpartner, da Hausärzte nur gelegentlich vor Ort sind (gefühlte Verantwortung liegt bei den Pflegekräften); sie sind und fühlen sich rundum verantwortlich für alle Bedürfnisse

typische Krankenhaushierarchie mit Stationsarzt, der die Station leitet (Verantwortung liegt real und gefühlt bei den Ärzten); für nichtkörperliche Bedürfnisse sind andere Professionen zuständig

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Hospiz

Palliativstation

Mitarbeiter verwenden manchmal auch ihre Freizeit, um beim Sterben oder bei der Beerdigung von Patienten dabei sein zu können

normaler Schichtdienst, in der Freizeit wird kein Kontakt zu Patienten und Zugehörigen gesucht

3 Was bedeutet Nähe? – Von wem wird sie aus welchem Grund gewünscht und gegeben? In der Literatur wird die Problematik der Regulierung von Nähe und Distanz in der Beziehung zu Sterbenden und ihren Zugehörigen beschrieben. Die veröffentlichten Befragungen (Garten, 2007; Hopkinson, Hallett und Luker, 2005; Müller et al., 2009; Pecoraro, 2008; Peterson et al., 2010a, 2010b; Pfeffer, 2005) von Mitarbeitern auf Palliativstationen und in Hospizen sowie »Normalstationen« bestätigen die Belastungen durch die erlebte Nähe bzw. Distanz. Aurnhammer (2002) unterscheidet zwischen gewollter Nähe und notwendigem Schutzraum und hinterfragt kritisch: »Hier der Sterbende, der Nähe braucht, dort die Helferin, die Schutz und Distanz braucht […] Ist es bisweilen nicht genau andersherum: Der Sterbende sucht Schutz und Distanz, die Helferin dagegen Nähe?« (Aurnhammer, 2002, S. 22). In der Betreuung Sterbender stehen in der Palliativversorgung die Individualität des Patienten und seine Bedürfnisse im Vordergrund aller Bemühungen. Diese Grundhaltung erfordert eine intensivere Beziehung zum Patienten, als es im nichtpalliativen Bereich üblich und gewünscht ist. »Ich möchte nicht mehr auf einer Normalstation arbeiten. Da hatten wir gar keine Zeit für die Sterbenden, und es wurde oft kritisiert, wenn ich versucht habe, mich mehr auf sie einzulassen« (Pflegekraft im Hospiz). »Gerade im Nachtdienst würde ich gern bei Sterbenden sitzen bleiben, wenn sie unruhig sind oder mit mir reden möchten. Das geht dann aber nicht, weil es immer wieder klingelt« (Pfleger im Krankenhaus).1

4 Nähe – ein Geschehen zwischen Anreiz und Abschreckung Genau diese institutionelle Legitimation der Nähe zu Sterbenden und ihren Zugehörigen (vgl. die Definition von Palliativversorgung der WHO) ist für viele Pflegende und Ärzte der Anreiz, in palliativmedizinischen Arbeitsfeldern tätig zu sein. In Interviews wird immer wieder betont, wie sehr sie eine Beziehung zu Sterbenden, die als besonders 1

Diese und weitere Zitate stammen aus persönlichen mündlichen Befragungen im Vorfeld dieses Beitrags.

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nah und dicht erlebt wird, schätzen, sie als charakteristisches Merkmal ihrer Arbeit definieren und sie sogar als Teil ihrer Motivation benennen. Ein Pfleger im Hospiz beschreibt: »Also grundsätzlich ist es so, dass auch das Belastende auf der anderen Seite was ganz Positives hat, ich denke, einen Patienten zu begleiten, ähm, in einer schwierigen Situation, die Schwierigkeiten, die krieg ich zum Teil natürlich mit ab, die muss ich mittragen, das ist klar, ich denke einfach, dass sich diese positive Atmosphäre, die sich trotz und alledem fast immer einstellt, ist einfach schon ’ne große Motivation, diese Arbeit zu tun« (Pecoraro, 2008, S. 42). Die beschriebene Nähe zum Patienten stellt somit eine wichtige Ressource für die tägliche Arbeit dar (Pfeffer, 2005, S. 201). Dass die Nähe zu den Sterbenden zugleich auch als Hauptbelastungsfaktor von den befragten Mitarbeitern auf Palliativstationen und im Hospiz benannt wurde (Müller et al., 2009), ist dabei nur scheinbar ein Widerspruch. Cooper und Barnett haben dies bereits 2005 folgendermaßen zusammengefasst: »While relationships with their patients are reported to be a very fulfilling aspect of a nursing career, this connection can also cause emotional and psychological distress when a patient dies« (zit. nach Peterson et al., 2010a, S. 432). »Ich fühle mich da so hin- und hergerissen: Auf der einen Seite sind mir die Beziehungen zu unseren Gästen im Hospiz ganz wichtig, und ich kann den meisten viel Nähe geben. Auf der anderen Seite fällt es mir schwer, sie dann nicht mit nach Hause zu nehmen. Wenn da gegenseitig viel Zuneigung ist, kann ich mich schwer rausziehen und abgrenzen. Mein Mann sagt dann oft, dass ich die Gäste nicht aus dem Kopf kriege […] Manchmal habe ich auch nach deren Tod noch eine Zeit lang daran zu knabbern, bis ich sie loslassen kann« (Krankenschwester im Hospiz). Ungefähr die Hälfte der von Garten (2007, S. 180) befragten 55 Pflegekräfte fand es schwierig, das richtige Maß an Nähe und Distanz in der Beziehung zum Patienten zu finden; dies deckt sich mit den Erfahrungen anderer Autoren und zeigt sich z. B. auch in der Titelwahl: »›Gratwanderungen‹: Aushandlung von Nähe und Distanz« von Pfeffer (2005, S. 173). Stellt sich die erwartete (und gewünschte) Nähe jedoch nicht ein, weil Patienten dies nicht zulassen und sich eher abschotten, sind Pflegekräfte manchmal sogar irritiert (Pecoraro, 2008, S. 427), da dies ihrer Idealvorstellung von Palliativversorgung nicht entspricht. Sie fühlen sich durch die Menschen, die Nähe fordern, sogar weniger belastet als durch die sich zurückziehenden und weniger Nähe zulassenden Sterbenden.

5 Das kommende Ende macht Nähe »überschaubar« Gerade durch die zeitliche Begrenztheit dieser Beziehungen ist es Mitarbeitern überhaupt möglich, Sterbenden immer wieder neu eine besondere Nähe anzubieten, aufzubauen und aufrechtzuerhalten: Zu Beginn dieser oft sehr dichten Begleitungen wird das absehbare Ende bereits »mit einkalkuliert«. Durch den begrenzten Zeitraum bleiben die übernommenen Verpflichtungen und die Verantwortung für die Beziehung überschaubar. Auf der anderen Seite bedeutet dies jedoch auch, dass Mitarbeiter durch die entstandene Nähe einen immerwährenden »Abschieds-Auf-

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trag« erfüllen müssen. D. h., sie müssen die Nähe zu Patienten und Zugehörigen kontrollieren, beenden und verarbeiten (Pfeffer, 2005, S. 180). Die Intensität der Nähe kann von Begleitung zu Begleitung erheblich variieren. Im Laufe des Berufslebens durchlaufen Mitarbeiter einen Lern- und Erfahrungsprozess, der sich auf die weitere Gestaltung der Beziehungen auswirkt. »Als ich hier angefangen habe, konnte ich mich oft nicht abgrenzen. Die Lebensgeschichten, die mir die Patienten während unserer Malstunden erzählt haben und wie ich sie dann erlebt habe, haben mich oft sehr berührt. Ich mach das jetzt schon sechs Jahre […] Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, auch durch unsere Supervision, nicht alles so nah an mich herankommen zu lassen« (Kunsttherapeutin auf einer Palliativstation). Die persönliche Nähe in der Beziehung zu sterbenden Patienten wird u. a. auch durch die Aufenthaltsdauer der Gäste beeinflusst. Wenn diese sehr kurz ist, wird die Tiefe der Beziehung meist nicht so groß sein wie bei längeren Begleitungen. Bei Aufnahmen kurz vor dem Tod bzw. bei bereits begonnenem Sterbeprozess ist es den Mitarbeitenden nicht mehr möglich, sich individuell auf den Sterbenden und seine persönlichen Bedürfnisse einzustellen. Dies kann auf der einen Seite entlasten, weil in diesen Fällen ein starkes emotionales Eingebundensein nicht erforderlich und möglich ist, bringt aber durch den sich daraus ergebenden häufigeren Wechsel (Neubelegung) eine andere Art von Belastung mit sich.

6 Alle gleich nett finden – Ideal oder Ideologie? Sympathie und Antipathie sind weitere entscheidende Faktoren, die die Beziehung zum Patienten beeinflussen. Mitarbeiter unterliegen sowohl einem persönlichen als auch institutionellen Anspruch, allen zu Betreuenden gleichermaßen empathisch zu begegnen, weil es sich bei den Betreuten um Sterbende handelt, denen man besonders gerecht werden möchte. In der Realität zeigen sich jedoch Unterschiede in den Beziehungen, die – wie überall – durch individuelle Zu- bzw. Abneigung beeinflusst werden. »Manchmal mache ich mir regelrecht Vorwürfe, wenn ich zu Patienten keinen echten Draht entwickeln kann, schließlich sind sie ja so auf mich angewiesen, besonders wenn sie wenig Besuch bekommen. Ich fühle mich dann verantwortlich, ihnen in den letzten Tagen Gutes zu tun. Aber ich kann einfach nicht alle gleich nett finden. Die Chemie stimmt eben manchmal einfach nicht. Ich bin dann froh, wenn der Patient nicht in meiner Schicht stirbt« (Krankenschwester im Hospiz).

7 Ähnlichkeiten – Dann sind wir schnell beim Du Die Intensität einer Beziehung zwischen Mitarbeitern und den Sterbenden wird wesentlich durch vergleichbare persönliche Merkmale wie gleiches Alter, gleiche Familiensituation, Übereinstimmungen in der jeweiligen Biografie bis hin zu ähnlichen Hobbys bestimmt (oder auch davon, wenn Patienten Mitarbeiter an eigene Angehörige oder

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Bekannte erinnern). In solchen Fällen entsteht schnell Nähe, die dazu führen kann, dass sich die Mitarbeiter in den Sterbenden selbst wiedererkennen: »Der Tod ist in einem persönlichen Sinn nah. Die Identifikation […] zwingt zu der Erkenntnis: ›Ich sehe meine Lage in ihnen, das könnte mir auch passieren!‹ In diesem Moment wird Tod und Sterben des Patienten zur Erfahrung eigener existentieller Bedrohtheit« (Pfeffer, 2005, S. 196 f.). Das folgende Beispiel veranschaulicht dies: Eine Krankenschwester, die nur noch aushilfsweise jeweils eine Schicht im Hospiz arbeitet, hatte vor Jahren eine Mastektomie. Während der Dienstübergabe werden ihr alle Gäste mit Diagnose und sonstigen relevanten Fakten vorgestellt, da sie zuletzt vor einigen Wochen tätig war und daher die Gäste nicht kennt. Darunter ist auch eine Frau, die etwas jünger ist als die Krankenschwester und wegen eines metastasierenden Mammakarzinoms aufgenommen wurde. Während der Übergabe sieht die Krankenschwester noch keine Parallele zu sich, aber in dem Moment, als sie die junge Frau im Bett pflegt und die Mastektomienarbe sieht, die auf der gleichen Seite ist wie bei ihr selbst, trifft sie fast der Schlag. Auf der Stelle sieht sie sich selbst in diesem Bett liegen und muss sich sehr anstrengen, ihre Aufgewühltheit vor der Sterbenden zu verbergen. Nach der Versorgung zieht sie sich ins Dienstzimmer zurück und bespricht sich mit einer Kollegin, was von ihr als sehr entlastend empfunden wird. Bis zum Tod der Frau hatte die Krankenschwester keinen weiteren Dienst. Wenn die Begleiter an ähnlichen emotionalen Problemen bzw. Symptomen wie die Patienten leiden (ähnliche Trennungsgeschichten, vergleichbare Probleme mit den Kindern oder dieselben durchgemachten Erkrankungen usw.), besteht die Gefahr einer zu großen Identifikation mit den Sterbenden, sodass aus Mitgefühl Mitleid wird. Es ist für eine professionelle Haltung jedoch wichtig, nicht mit den Patienten mitzuleiden, sondern Mitgefühl für sie zu entwickeln, da mitleiden bedeutet, dass die Mitarbeiter in den Strudel des Leids mit hineingezogen werden. Die Mitarbeiter sind aber im Gegensatz zu den Zugehörigen nicht nur für diesen einen Menschen zuständig und verantwortlich, sondern für viele Patienten (und nicht zuletzt auch für sich selbst). Anschaulich wird dies am Beispiel eines in einen zugefrorenen See eingebrochenen Schlittschuhläufers – der Helfer sollte nicht (aus Mitleid) mit in das Loch springen, sondern muss, um hilfreich zu sein, auf der Eisdecke liegen bleiben. Zur professionellen Haltung gehört es, sich bewusst zu sein, dass die Gefühle der Patienten ausschließlich deren eigene Gefühle sind und keinesfalls die der Begleiter. Die Aufgabe ist mitzutragen, nicht aber das fremde Leid auf sich zu nehmen. Dieses Tragen entsteht nach Reddemann (2010, S. 123) aber nicht aus Mitleid, sondern aus einer nur vorübergehenden Identifikation mit einer sich daran anschließenden Distanzierung. Dieses passagere »In-die-Schuhe-der-anderen-zu-Schlüpfen« und damit einen bewussten Perspektivwechsel herbeizuführen, gehört mit zum professionellen Umgang mit Patienten. Durch die folgende Reflexion gelingt die bewusste Distanzierung und Rückkehr in die berufliche Rolle. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Begleitung von Sterbenden. Eine zu häufige, zu enge Identifizierung und damit zu viel »Mit-Leiden« führt zum »Mit-Sterben« und letztlich zum Burnout.

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8 Junge Patienten – Der unzeitige Tod In der Palliativversorgung tätige Mitarbeiter akzeptieren den Tod als natürlichen Teil des Lebens, insbesondere bei alten und hochaltrigen Menschen, anders als im restlichen Gesundheitssystem, wo das Sterben oft nicht akzeptiert und zugelassen werden kann. In den Interviewstudien (Garten, 2007; Hopkinson et al., 2005; Müller, 2010; Pecoraro, 2008; Peterson et al., 2010a, 2010b) fällt jedoch die persönliche Betroffenheit auf, wenn es sich um junge Patienten handelt, die begleitet werden. Denn das noch nicht gelebte Leben und die u. U. vorhandenen kleinen Kinder lassen die Begleitenden diesen Tod als »ungerecht«, vorzeitig, manchmal sogar als sinnlos empfinden. Wenn darüber hinaus die betreuenden Mitarbeiter auch noch im selben Alter sind, wird durch die Ähnlichkeit (s. o.) die Belastung weiter verstärkt. »Wir hatten einen 24-Jährigen, der hatte seit seinem zwölften Lebensjahr Krebs – der war von all den Behandlungen so mitgenommen und fertig. Er hätte auch mein Sohn sein können. Und seine Eltern taten mir so leid, die waren echt verzweifelt und konnten ihn gar nicht gehen lassen – für ihn war es, glaube ich, schon eine Erlösung, als er starb. Manchmal hätte ich fast mitheulen können. Und ich habe die ganze Zeit an meine Kinder gedacht und bin dankbar, dass sie gesund sind. Natürlich weiß ich, dass auch junge Menschen und sogar Kinder sterben – aber es so hautnah zu erleben, war eben grad für mich wirklich hart« (Pfleger auf einer Palliativstation). Eine mögliche Folge dieser nicht genügend reflektierten Emotionen kann eine überbehütende Erziehung des Vaters gegenüber seinen eigenen Kindern sein, sie »in Watte zu packen«, damit ihnen und ihm selbst vergleichbares Leid erspart bleibt.

9 Professionelle Nähe statt professioneller Distanz In der Ausbildung für soziale und medizinische Berufe wird »professionelle Distanz« noch immer als ein wichtiger Schutzfaktor vermittelt, um möglichst lange in diesen Bereichen ohne Burnout tätig sein zu können. Kränzle (2009) hinterfragt kritisch, ob professionelle Distanz, »um in der eigenen Betroffenheit nicht unterzugehen«, die adäquate Haltung in Palliative Care sein kann. Sie empfiehlt stattdessen die »professionelle Nähe«, die – weil sie jeweils nur für einen »absehbaren, überschaubaren und aushaltbaren Zeitraum« entstehen muss – die Mitarbeiter/-innen nicht überfordert. Sie kommt daher zu folgendem Schluss: »Wir sollten uns auf die Nähe in unserer Profession besinnen, die gewünscht, effektiv und absolut zielführend ist, die professionelle Nähe.« Aus den Ausführungen geht hervor, dass die Nähe zu den Patienten und ihren Zugehörigen sowohl Ziel und Aufgabe der Mitarbeiter als auch Hauptbelastungsfaktor ihrer Arbeit ist. Es ist daher für sie notwendig, permanent über die Gestaltung der jeweiligen Beziehungen zu reflektieren, die Balance zwischen Nähe und Distanz immer wieder neu auszutarieren und sehr umsichtig mit Nähe umzugehen. In einem Gedicht über Selbstsorge weist Max Frisch (zit. nach Dietrich und Schwerzmann, 2009) darauf

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hin, dass versorgen bedeutet, den anderen von Sorge zu befreien, aber auch den, der versorgt.

10 Nah bei sich sein Für die Selbstsorge der Mitarbeiter in der Begleitung Sterbender sind folgende Punkte wichtig: – Mitarbeiter sollten sich »nähren«. Wenn sie »emotional zu bedürftig« sind, besteht die Gefahr, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse mit/an Patienten oder deren Zugehörigen ausleben. – Private Beziehungen und Hobbys sollten bewusst gesucht und gepflegt werden, um auch außerhalb des Arbeitsfeldes Anerkennung und Wertschätzung erfahren zu können. – Mitarbeiter sollten sich von der »Selbst-Losigkeit« verabschieden. – Spontane Impulse sollten in der Betreuung reflektiert werden (professionelle Achtsamkeit bedeutet zunächst innezuhalten, dann zu [re]agieren). – Mitarbeiter sollten sich aktiv abgrenzen können, dann können sie auch Nähe zulassen und müssen nicht auf künstliche Distanz zu den Sterbenden gehen. – Abschiede sollten früh antizipiert werden. Die Patienten werden bald gehen. – Begleitungen sollten bewusst abgeschlossen werden; von Patienten sollte bewusst Abschied genommen werden. – Eigene Grenzen sollten analysiert werden: Wie können sie adäquat durchgesetzt und aufgezeigt werden? Aber auch: Wie können die Grenzen der Sterbenden erkannt und sensibel berücksichtig werden (Supervision und Fortbildungen über Nähe/ Grenzen mit Rollenspielen). – Patienten sollten mit »Sie« angesprochen werden. – Bei Gefühl der Überlastung in einer Patientenbeziehung sollten, falls möglich, Patienten abgegeben bzw. der Bereich gewechselt werden. – Während der Pausen und in der Freizeit sollte bewusst abgeschaltet werden und über andere Dinge als die Patienten gesprochen werden, auch in kurzen Zigarettenpausen. – Möglichkeiten des Rückzugs sollten geschaffen und genutzt werden. – Die professionelle Rolle sollte stets beachtet werden, dies wird durch Dienstkleidung erleichtert, keine Arbeit in Zivilkleidung (Mitarbeiter sind eben keine Ersatzfamilie für die Sterbenden). – Familiäre Kontakte und Feste sollten eine Besonderheit und Ausnahme sein. – Gemeinsame Mahlzeiten mit Patienten sollten einen Anlass haben. – Man sollte sich – auch in diesem Arbeitsfeld – Humor zugestehen und – wo es angemessen ist – auf eine heitere Atmosphäre achten. – Den Respekt, den Mitarbeiter gegenüber der Autonomie und Individualität von Patienten zeigen, sollten sie auch sich selbst gegenüber aufbringen.

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In Analogie zum psychotherapeutischen Prozess und dessen Ziel, den Klienten darin zu unterstützen, dass er aus seinen eigenen Ressourcen heraus sein Leben weiterleben kann (ohne den Therapeuten), schwebt uns folgende Intention vor: Ziel sollte es sein, die Sterbenden darin zu unterstützen, dass sie aus ihren eigenen Ressourcen und vor allem mit bzw. aus ihren vorbestehenden Beziehungen heraus ihr Sterben sterben können. Die Aufgabe für alle Palliative-Care-Mitarbeiter lautet daher, die Sterbenden so zu begleiten, dass diese sich der (vielleicht größten) Herausforderung ihres Lebens stellen können, ohne ständig von belastenden Symptomen völlig in Beschlag genommen zu sein. Eine exzellente Symptomkontrolle auch im psychischen und sozialen Bereich anzubieten, ohne durch zu viel Nähe »bessere Angehörige« zu werden und dadurch gefühlt immer wieder »eigene Angehörige« zu verlieren, bleibt für alle in der Palliativversorgung Tätigen eine permanente Herausforderung. Nähe zulassen Auch reden über Angst und über Versagen und Fehler machen dürfen und Schwäche zeigen ohne schwach zu sein Auch fragen nach dem Sinn und auch nach Unsinn ohne die Antworten vorwegzunehmen die man sich wünscht und verletzlich sein ohne verletzt zu werden Und auf der Suche nach dem Glück vielleicht die Flucht vor dem Unglück zugeben und verstanden werden und auch lachen ohne auszulachen Dann wird der Fremde zum Freund Vera Ludwig

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Palliativmedizin beinhaltet nicht nur die Gabe von Medikamenten zur Schmerz- und Symptomkontrolle, sondern umfasst weit mehr als das. Die Definition der Palliativversorgung der Weltgesundheitsorganisation (Sepulveda et al., 2002) fordert die aktive und umfassende Betreuung der Patienten ebenso wie die Betreuung der Angehörigen. Der ganzheitliche und patientenzentrierte Anspruch der Palliativversorgung wird auch sichtbar an den Vorgaben zur Aus- und Weiterbildung, wenn in den palliativmedizinischen Curricula nicht nur die Vermittlung von Kenntnissen, sondern auch von Fähigkeiten und von Haltungen gefordert wird. Dabei werden hohe Ansprüche formuliert. Palliativmedizin soll nicht nur die Patienten schmerz- und symptomfrei halten und die Lebensqualität der Patienten verbessern, sondern auch bei der Regelung der letzten Dinge helfen, bei der Suche nach Lebenssinn auch in der letzten Lebensphase unterstützen und Patienten, Angehörigen und Mitarbeitern bei der Entscheidungsfindung bei ethisch schwierigen Fragestellungen helfen. Allerdings dienen diese hohen Ansprüche auch als Motor, um eine hohe Qualität in der Versorgung zu erreichen und die Palliativversorgung kontinuierlich weiter zu verbessern. Die Ansprüche an die eigene Arbeit sind mit einer hohen Motivation verbunden, diese Arbeit mit hoher Qualität umzusetzen. Die Diskussion mit den Kollegen im Team führt dazu, dass die Arbeit im Team immer wieder an den eigenen Ansprüchen gemessen wird und im Fall von Diskrepanzen weiterentwickelt und verbessert wird. Die Palliativmedizin bietet andererseits auch einen sicheren Hafen, in dem die hohen Ansprüche umgesetzt werden können. So gab ein Bewerber um eine Arztstelle auf der Palliativstation an, dass er gern in diesem Bereich arbeiten möchte, weil er dort endlich wieder so arbeiten könne, wie er es sich im Studium idealistisch erhofft habe. In den Hospiz- und Palliativeinrichtungen findet eine positive Selektion statt, da sich viele Mitarbeiter dieses Arbeitsfeld ausgesucht haben, eben weil sie diese hohen Ansprüche annehmen und verwirklichen möchten. Ansprüche können aber zu einem Belastungsfaktor werden, wenn man im Arbeitsalltag immer wieder daran scheitert. Dies kann darin begründet sein, dass die Ansprüche zu idealistisch sind, dass die Arbeitsbedingungen zu schlecht sind oder dass es die falschen Ansprüche sind.

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Palliativmedizinische Einrichtungen wie eine Palliativstation oder ein stationäres Hospiz bieten einen geschützten Raum, in dem eine anspruchsvolle patientenzentrierte Versorgung umgesetzt werden kann. Dennoch schwebt die Palliativversorgung nicht im luftleeren Raum, sondern ist Teil des Gesundheitssystems. Die Rahmenbedingungen der palliativmedizinischen Einrichtungen werden dementsprechend von außen vorgegeben. Dies zeigte sich auch in einer Verhandlung mit dem Verwaltungsdirektor eines Universitätsklinikums mit der Forderung nach mehr Personal gemäß den klaren Vorgaben der Europäischen Fachgesellschaft für Palliativmedizin (als Standard 0,15 Arztstellen und 1,2 Krankenpflegestellen pro Patient), worauf als Antwort kam: »Was irgendeine Fachgesellschaft empfiehlt, danach können wir uns hier nicht richten.« Palliativstationen sind Teil des Krankenhauses und müssen Gewinne erwirtschaften, und die Krankenhausverwaltung wird deshalb immer wieder den hohen Personalaufwand infrage stellen.

1 Verschiedene Aufträge – verschiedene Ansprüche Die Einbindung der Palliativstation in den wirtschaftlichen Rahmen des Krankenhauses kann zu einem Auseinanderdriften der Ansprüche bei den verschiedenen Mitarbeitern führen, und auch dies kann schnell zu einer Belastung werden. Chefarzt, Oberarzt und möglicherweise auch die Pflegeleitung werden für den wirtschaftlichen Erfolg der Abteilung verantwortlich gemacht, sind deshalb an einer Minimierung der Kosten und an einer möglichst hohen Belegung interessiert. Treten z. B. durch Krankheit oder Schwangerschaft Personalengpässe ein, haben sie den Anspruch, dass trotzdem die Bettenbelegung nicht abnimmt. Dies ist natürlich auch darin begründet, dass sie sonst bei ausbleibenden Einnahmen eine Stellenkürzung befürchten müssen. Dem stehen die Ansprüche der Pflegenden und der Stationsärzte gegenüber, die mehr Zeit für die individuelle Betreuung der Patienten und Angehörigengespräche haben möchten und deshalb eher Neuaufnahmen ablehnen möchten. In solchen Krisenzeiten haben wir in den Teambesprechungen der universitären Palliativstation wiederholt und lange diskutieren müssen, welche Kompromisse wir im Arbeitsstil eingehen können und wollen. Können wir z. B. den verstorbenen Patienten noch bis morgen früh im Zimmer lassen, weil ein Verwandter noch Abschied nehmen möchte und heute nur eine Schwester im Spätdienst da ist, obwohl das freie Zimmer für eine Neuaufnahme gebraucht werden würde? In stationären Hospizen ist die Situation vergleichbar; auch dort stehen manchmal die wirtschaftlichen Interessen an einer hohen Belegung und damit ausreichenden Einnahmen dem Anspruch der Mitarbeiter, genügend Zeit für den einzelnen Patienten und seine Angehörigen zu haben, gegenüber. Vielleicht noch mehr als auf den Palliativstationen prallen hier außerdem die Ansprüche zweier unterschiedlicher Kulturen aufeinander.

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2 Hospizkultur – Anspruchskultur Ein Teil der Mitarbeiter kommt aus einem ehrenamtlichen Engagement heraus zur Hospiz- und Palliativversorgung. Sie haben neben der regulären Arbeit zum Teil über lange Jahre hinweg mit Hingabe Palliativpatienten versorgt, ohne dafür irgendwelche Vorteile zu erwarten. Das hohe Engagement wird oft von einer humanistischen oder christlichen Weltanschauung getragen. Mitarbeiter mit diesem Anspruch an die eigene Arbeit, möglichst viel für die kranken Patienten zu tun, ohne einen materiellen Ausgleich zu erwarten, stehen den Diskussionen um wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Notwendigkeiten besonders misstrauisch gegenüber. Sie sind aber auch den Mitarbeitern gegenüber misstrauisch, für die Palliativversorgung und Hospizarbeit der Beruf ist, aber nicht die Berufung. Diese Unterschiede zwischen den Teammitarbeitern werden nicht offen diskutiert, sondern oft an Kleinigkeiten sichtbar, z. B. wenn in den Teambesprechungen über die Arbeitsbedingungen diskutiert wird. Dabei ging es im Team einer Palliativstation z. B. um die Frage, ob im Team die Pflege der Pflanzen auf der Terrasse als zusätzliche Aufgabe übernommen werden könne. Während einige Mitarbeiter gleich mit einem Rotationsplan zum Blumengießen beginnen wollten, protestierten andere, dass dies nicht zu ihren Dienstaufgaben gehöre (»Ich bin Krankenschwester, nicht Gärtnerin«), und wollten eine Bestätigung, dass die Zeit für das Blumengießen zur Arbeitszeit gehöre. An solchen Fragen können sich die Unterschiede in den Ansprüchen an die eigene Arbeit zuspitzen und zu Konfrontationen und Spannungen im Team führen. Ob die Ansprüche an die eigene Arbeit und an das Team zu einer Belastung werden, hängt wesentlich von den äußeren Rahmenbedingungen ab. Wenn immer mehr Patienten betreut werden müssen, ohne dass mehr Personal eingestellt wird, und deshalb für den einzelnen Patienten immer weniger Zeit zur Verfügung steht, wird dies schnell zu einem Belastungsfaktor gegenüber dem häufig geäußerten Anspruch, für jeden Patienten ausreichend Zeit zu haben. Nach einer einwöchigen Kursweiterbildung sagte eine sehr engagierte Hausärztin in der Abschlussrunde, dass sie von dem Kurs sehr profitiert habe, aber sie wolle auf keinen Fall im Team der »Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung« (SAPV) mitarbeiten, da sie die Anforderung in der SAPV nicht mit den Arbeitsbedingungen in ihrer Hausarztpraxis vereinbaren könne.

3 Gut oder möglichst gut Das Ausmaß der Belastung durch die Ansprüche hängt jedoch auch davon ab, ob diese Ansprüche normativ oder aspirational gesetzt werden. Haben wir als Mitarbeiter in der Palliativversorgung den Anspruch, dass jeder Patient perfekt behandelt werden muss, so wie es in der Definition der Weltgesundheitsorganisation zur Palliativmedizin von 2002 vorgegeben wird? Dort wird das untadelige Erkennen und Behandeln von Schmerzen und anderen körperlichen, psychosozialen und spirituellen Problemen gefordert.

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Mit diesem normativen Anspruch wird jede Einschränkung der Arbeitsbedingungen schnell zu einer Bedrohung. Im Gegensatz zu »jeder muss perfekt behandelt werden« ist der aspirationale Ansatz »alle sollen möglichst gut betreut werden« eher bereit, Einschränkungen der Rahmenbedingungen zu akzeptieren oder zumindest Kompromisse einzugehen. Das Ideal der Betreuung kann dabei für die Zukunft erhalten werden, auch wenn es jetzt nicht erreicht werden kann. Während einer Phase mit deutlicher Personalknappheit durch Urlaub, Krankheit und Schwangerschaft kam es im Pflegeteam der Palliativstation zu Spannungen, weil ein Teil der Mitarbeiter die Prioritäten ändern wollte, um mit den verfügbaren Ressourcen alle Patienten zu betreuen (»Dann wasche ich eben mal wie in der Inneren Abteilung«), und andere Mitarbeiter darin eine unerträgliche Kompromittierung ihrer Haltung sahen (»Wenn wir keine Zeit mehr für Gespräche haben, ist das hier auch keine Palliativversorgung mehr«). Mitarbeiter mit normativen Ansprüchen sind sicherlich eher von Burnout gefährdet.

4 (Fremde) Bedürfnisse sehen vs. (eigene) Bedürfnisse erfüllen Mehr noch als die zu idealistischen Ansprüche können Ansprüche mit falschen Grundannahmen belasten. Ein zentraler Fokus der Palliativversorgung ist die Bereitschaft, auf die Bedürfnisse des Patienten einzugehen. Dazu müssen Mitarbeiter aber erst einmal die Bereitschaft haben, diese Bedürfnisse auch wahrzunehmen und dabei ggf. auch von den »Standardeinstellungen« abzuweichen. So ist es eine weitverbreitete Prämisse, dass Patienten ein Bedürfnis haben, über den bevorstehenden Tod und das Sterben zu sprechen. In den Teambesprechungen gewinnen wir manchmal den Eindruck, dass die Mitarbeiter die Qualität ihrer Arbeit vor allem danach bemessen, ob solche Gespräche mit dem Patienten möglich waren, während der Wert der Symptomkontrolle demgegenüber zurücktritt. Die Prämisse ist aber nicht für alle Patienten zutreffend. Es gibt durchaus Patienten, die (mit unterschiedlichen Begründungen) lieber nicht über Tod und Sterben sprechen möchten. Die stete Nachfrage nach solchen Gesprächen von Ärzten, Pflegenden, Sozialarbeitern und Seelsorgern kann für diese Patienten zu einer Belastung werden. Die Mitarbeiter müssen die Balance finden zwischen dem Respekt vor der Entscheidung des Patienten, nicht oder zumindest jetzt nicht über ein solches Thema zu sprechen, und dem Wissen, dass die Gespräche über Tod und Sterben ja doch von vielen Patienten als hilfreich empfunden werden und ihnen auch dabei helfen, die letzten Dinge zu regeln. Diese Balance ist nicht einfach zu finden, vor allem nicht, wenn einem der eigene Anspruch auf empathische Kommunikation mit dem Patienten dabei immer wieder in die Quere kommt. Es kann in den Teambesprechungen zu einem regelrechten Wettstreit kommen, wer den Patienten am besten kennt und wer denn nun den empathischsten Kontakt mit dem Patienten und den Angehörigen hatte. Verschärft wird dies durch die spezifischen Ansprüche der Berufsgruppen, wenn Ärzte (auch in einem Team mit flacher

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Hierarchie) aufgrund ihrer Stellung den Anspruch auf die Entscheidungskompetenz erheben und vom Pflegepersonal der Anspruch dagegen gehalten wird, dass sie aufgrund des häufigeren und intensiveren Kontaktes mehr vom Patienten wüssten und ihn auch besser verstehen könnten.

5 »An der Hand eines anderen sterben« – dürfen oder müssen? Ähnlich potenziell konfliktreich ist die Grundannahme, dass Patienten gern und möglichst kontinuierlich eine Bezugsperson in der Nähe haben möchten. Für uns selbst hatten wir mit der Übernahme der Leitung und der Mitarbeit auf einer universitären Palliativstation den (allerdings nur selten ausgesprochenen) Vorsatz formuliert: »Keiner soll alleine sterben müssen.« Angehörige sollten alle Möglichkeiten erhalten für Rooming-in, die Personalstärke sollte ausreichen, um bei Patienten ohne Angehörige zu ermöglichen, dass Mitarbeiter bei diesen Patienten bleiben können, und studentische Sitzwachen sollten eingestellt und geschult werden, um dies auch bei Personalengpässen umzusetzen. Wenn ein Patient in der Nacht tot im Zimmer aufgefunden wurde, ohne dass eine Bezugsperson beim Sterbenden gewesen war, fühlten wir das als einen besonderen Verlust. Unsere Sichtweise wurde verändert durch eine Übung bei der Leadership Development Initiative, einem Projekt zur Vermittlung von Führungskompetenzen in der Palliativmedizin. Alle Teilnehmer und auch wir Mentoren hatten vorher den MyersBriggs-Persönlichkeitstest ausgefüllt und wurden nun nach dem Persönlichkeitstyp in Gruppen eingeteilt. Als Aufgabe sollten wir nun in den Gruppen diskutieren, wie wir mit Schwierigkeiten in unserem Palliativteam oder in unserem Arbeitsfeld umgehen und welche Unterstützung wir dabei von außen gebrauchen könnten. Erstaunt stellten wir in unserer Gruppe mit Teilnehmern aus Europa, Amerika, Afrika und Asien fest, dass wir alle das gleiche Verhaltensmuster bei Krisen aufwiesen: Wir ziehen uns zurück und wollen für uns alleine sein. Und die wesentliche Unterstützung, die uns bei der Krisenbewältigung helfen würde, wäre, dass Freunde und Kollegen uns diesen Rückzug ermöglichen. Man soll uns in Ruhe lassen! In der Diskussion in unserer Gruppe kamen wir nun schnell dazu, die Parallelen zu unseren Patienten zu ziehen. Patienten mit einem ähnlichen Persönlichkeitstyp würden ja vielleicht auch auf die Krise der lebensbedrohlichen Erkrankung oder das Sterben gern mit einem Rückzug reagieren, und vielleicht wäre unsere wesentliche Unterstützung für diese Patienten, ihnen dies zu ermöglichen und sie in Ruhe zu lassen. Kann dies nicht durchaus so weit gehen, dass manche Menschen vielleicht gern beim Sterben allein sein möchten? Jeder in unserer Gruppe hatte plötzlich eine Geschichte von einem Patienten, bei dem dies anscheinend genau so war.

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6 Fremdbestimmung – ein übergriffiger Anspruch Die Bereitschaft, die eigenen Grundsätze und Einstellungen zu überprüfen und – wenn nötig – zu ändern, schützt vor einer übermäßigen Belastung durch Ansprüche, die für alle oder zumindest einige Patienten und ihre Familien falsch sind. Besteht diese Bereitschaft nicht, wird die Betreuung dieser Patienten zunehmend zu einem Konflikt auflaufen, bei dem die Betreuer mit Patienten und Angehörigen kämpfen statt zu kooperieren. Ärzte werden ohnehin im Rahmen ihrer Sozialisation als Arzt darauf getrimmt, dass ihr Behandlungsauftrag nicht nur ein Symptom oder eine Krankheit umfasst, sondern dass ihre Zuständigkeit viel umfassender ist. Dabei können ihre Ansprüche leicht übergriffig werden. In den Arztkursen sind wir immer wieder überrascht, wie schnell Ärzte bereit sind, bei ethischen Konflikten Grenzen zu überschreiten und dabei auch z. B. das gesetzlich festgelegte Recht auf Selbstbestimmung des Patienten außer Acht zu lassen. So ist seit vielen Jahren schon vom Bundesgerichtshof bestätigt worden, dass Zeugen Jehovas das Recht haben, Bluttransfusionen abzulehnen, auch wenn sie dann z. B. nach einem Unfall verbluten und sterben können. Dennoch berichten Ärzte in den Kursen, dass sie in solchen Situationen gewartet hätten, bis der Patient bewusstlos war, und dann die Transfusionen vorgenommen hätten. Nach der Rechtsprechung stellt dies eine Körperverletzung dar. Dies nehmen die Ärzte in Kauf, um dem Anspruch »Ich muss doch helfen!« gerecht werden zu können. Sie erlebten dies laut ihrer Aussage durchaus als belastenden Konflikt. Ähnliche Übergriffe mit dem Anspruch des »Helfenmüssens« erleben wir in der Palliativmedizin z. B. in der Teambesprechung, wenn die Versorgung von kleinen Kindern einer jungen Patientin diskutiert wird und von den Stationsärzten schnell vorgeschlagen wird, doch das Jugendamt einzuschalten, obwohl einige Ressourcen in der Familie zur Kinderbetreuung zur Verfügung stehen.

7 Pionier-Ansprüche Eine besondere Form des Festhaltens an den eigenen Ansprüchen ohne die Bereitschaft zur Anpassung ist nicht selten bei den Pionieren der Palliativversorgung zu erleben. Die hohen Ansprüche – z. B. an das eigene Engagement, die Qualität der eigenen Arbeit, die Kooperationsbereitschaft aller Mitarbeiter –, ohne die die Gründung des Dienstes oder der Einrichtung nicht möglich gewesen wäre, werden von den Pionieren weiter normativ aufrechterhalten, auch wenn die Situation sich geändert hat oder die aktuellen Entwicklungen schon ganz woanders sind. Das Problem der Pioniere, die neue Entwicklungen nicht akzeptieren können, keine Kompromisse eingehen können, keine neuen Mitarbeiter akzeptieren und letztendlich alle Fäden selbst in der Hand behalten wollen, wird im englischen Sprachgebrauch als »Founder’s syndrome« (GründerSyndrom) bezeichnet. Das Founder’s syndrome belastet nicht nur die neu hinzukommenden Mitarbeiter und die Teamleiter, die als Nachfolger der Pioniere antreten,

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sondern auch die Pioniere selbst, die ihren Anspruch im Lauf der Zeit immer weniger durchsetzen können. Die Belastung durch die eigenen Ansprüche an sich selbst und an die anderen Mitarbeiter im Team, wie auch die Konflikte durch andere Prioritäten und Präferenzen von Mitarbeitern, Patienten oder Angehörigen können nicht verhindert werden. Es gibt aber durchaus Maßnahmen, die diese Belastung verringern können. Es ist sicher hilfreich, sich von Zeit zu Zeit die eigenen Ansprüche bewusst zu machen und sie kritisch und selbstkritisch infrage zu stellen. Randell und Downie (2006) haben vor wenigen Jahren einige Grundannahmen der Palliativmedizin kritisch herausgefordert. Diese Art der Auseinandersetzung ist produktiv und erlaubt ein spannungsfreies Herangehen an alte und neue Anforderungen in der Arbeit. Für ebenso wichtig halten wir eine regelmäßige Reflexion über die Ansprüche an die eigene Rolle in der Arbeit. Wir sollten nicht versuchen, der beste Freund des Patienten zu sein oder die engste Bezugsperson. Diese Rolle sollen Familienangehörige oder Freunde übernehmen, und diese Personen sollten wir nicht von ihrem Platz verdrängen. Unser Anteil an der Betreuung der Patienten ist unser Beruf, den wir nach Feierabend auch mit gutem Gewissen in der Klinik lassen dürfen. Auf der anderen Seite ist es aber sicher mehr als ein Job, und wir sollten uns nicht schämen (oder unprofessionell fühlen), wenn wir uns engagieren oder wenn uns das Schicksal einzelner Patienten zu Herzen geht. Die Palliativversorgung wird zunehmend in das Gesundheitssystems integriert, und mit dieser Entwicklung müssen wir mit Konkurrenzdruck durch andere Dienstleister in der Hospiz- und Palliativbetreuung und mit dem Wettbewerb um Ressourcen mit anderen Bereichen des Gesundheitssystems rechnen. Konflikte entstehen durch den Zusammenprall zwischen den Enthusiasten in der Palliativversorgung und den politischen Entscheidungsträgern und Verwaltungskräften. Dabei hilft es, wenn wir auch andere Perspektiven sehen und akzeptieren können, dass bei den Entscheidungsträgern eventuell andere Wirklichkeiten bestehen.

8 Teamgenuss und Erfolge feiern Vor allem sollten wir daran denken, das Team um uns herum zu genießen, die Vielfalt der Standpunkte, Erfahrungen und auch der Ansprüche als Bereicherung zu empfinden und nicht als Bedrohung. Für alle Mitarbeiter im Team ist es wichtig, nicht nur auf Konflikte und Probleme zu sehen, sondern auch die Erfolge in der Betreuung der Patienten zu feiern. Dann können die Ansprüche an die eigene Arbeit von einem Belastungsfaktor wieder zu einem Motor der Weiterentwicklung werden.

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Das perimortale Omnikompetenzsyndrom Anspruch als Belastungsfaktor Andreas Heller

1 Das »perimortale Omnikompetenzsyndrom« Dieses Syndrom – in der üblichen miniaturisierten medizinischen Semantik könnte man es kurz POS nennen – ist keine neue Krankheit, wohl aber ein heuristischer Begriff, ein Analysekonstrukt (Müller, 2004), das vielleicht hilfreich sein kann, um Entwicklungen in der Hospiz- und Palliativarbeit zu verstehen. Weil es keine Krankheit ist, wie auch das Sterben bekanntlich keine Krankheit ist, kann man mit dem POS auch nicht medikamentös oder operativ-chirurgisch respektive invasiv umgehen. Es gibt sozusagen keine schnelle Lösung, weil es in gewisser Weise die Chronifizierung eines Phänomens, einer Dynamik ist, die sich wie ein Virus in die professionellen Beziehungen und individuellen Handlungen und Haltungen einnistet. Besonders beobachtbar ist POS nicht nur bei Personen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Sterbende zu behandeln, zu begleiten und zu betreuen. Es tritt also auf im Umgang mit dem Sterben in unserer Gesellschaft und den Sterbenden, aber auch in den Organisationen dieser Organisationsgesellschaft. Kurz gesagt, der im Sterben radikal sichtbar werdende unauflösbare Widerspruch von Leben und Tod führt immer wieder dazu, omnikompetente Dynamiken von Personen und sozialen Systemen freizusetzen.

2 Kultur des Sterbens als Organisationskultur: Bedingungen des Sterbens Wenn ich den Begriff historisch verorte, dann hatten wir an unserer IFF-Fakultät vor rund zwanzig Jahren, ausgelöst durch die sogenannten »Vorkommnisse im Krankenhaus Lainz« (1988) – das war die euphemistische Verschleierungssprache einer überforderten Politik, um 39 aktenkundig gewordene Morde an Patienten durch pflegerische Hilfskräfte im Krankenhaus Lainz zu benennen –, ein interdisziplinäres Forschungsprojekt aufgesetzt. Es ging um die Frage, warum das gut gemeinte Engagement, die Hilfebereitschaft und die Professionalität von einzelnen Personen im Krankenhaus oft nicht dazu führen, dass ein »gutes Sterben« gelingt. Dieses transdisziplinär angelegte Forschungsprojekt in interprofessionellen Fokusgruppen aus unterschiedlichen Organisationen hatte einige Einsichten generiert, die bis heute einen wichtigen epistemologischen Rahmen unseres Arbeitens an der IFF-Fakultät darstellen (Heller, 1996).

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1. Im Sterben werden sozusagen wie unter einem Vergrößerungsglas wichtige Fragen menschlicher Existenz und des Krankenhauses als komplexe Expertenorganisation sichtbar. 2. Die Zentrierung auf die interpersonalen Beziehungen im Paradigma der Sterbebegleitung scheitert oft deshalb, weil die Handelnden in einer Art hilfebereiter Hilflosigkeit, in Selbst- und Fremd-Aufladung alles tun wollen, was denkbar und möglich ist, sehr personenzentriert sind und nicht die Bedingungen des Sterbens im Blick haben. 3. In der Folge kommt es zu einer in der Dynamik liegenden Blindheit für die Möglichkeiten des Interventionsrepertoires anderer Berufsgruppen oder erst recht ehrenamtlich Helfender. Man versucht eben, omnikompetent zu handeln, es selbst zu machen, und wird durch die Intimität des Sterbens, die psychosoziale Emotionalisierung in eine Alleinzuständigkeit hineingezwungen. 4. Folgerichtig wurde als eine Einsicht formuliert: Menschliches, d. h. menschenwürdiges Sterben ist wesentlich von den organisationalen Bedingungen abhängig, d. h. anders: Jede Kultur des Sterbens ist eine Organisationskultur und insofern auf Kommunikation und Kooperation mit anderen verwiesen und angewiesen.

3 Den an der Klinik angestellten Tod sterben Die Krankenhäuser haben sich in den letzten Jahren zu dem entwickelt, was Rainer Maria Rilke hellsichtig 1910 in seinen »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« vorwegnimmt. Dort heißt es in den Aufzeichnungen eines fiktiven jungen Mannes aus Dänemark, der das Paris der Jahrhundertwende beobachtet, von dem großen Krankenhaus: »Dieses ausgezeichnete Hotel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktivität ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer gibt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. Gott, ist das alles. Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen. Man will gehen oder man ist dazu gezwungen: Nun, keine Anstrengung: Voilà votre mort, monsieur. Man stirbt wie es gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der Krankheit gehört, die man hat (denn seit man alle Krankheiten kennt, weiß man auch, daß die verschiedenen letalen Abschlüsse zu den Krankheiten gehören und nicht zu den Menschen; und der Kranke hat sozusagen nichts zu tun).

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In den Sanatorien, wo ja so gern und mit so viel Dankbarkeit gegen Ärzte und Schwestern gestorben wird, stirbt man einen von den an der Anstalt angestellten Toden; das wird gerne gesehen« (Rilke, 1910/1980, S. 115). Es kann kein Zweifel sein, dass hier der »gut ausgearbeitete Tod« nicht von einem Verständnis der Arbeit als Entfremdung (K. Marx) bestimmt ist. Arbeit meint ganz im Gegenteil das Nicht-Serielle, Herstellbare, das je Individuelle, fast möchte man sagen die handwerkliche Lebenskleinkunst, der subjektiv gute Tod als Unikat aus der Werkstatt der eigenen Lebensgestaltung. Ein gut ausgearbeiteter Tod entspricht nicht dem Bild von Maschine, formt sich nicht mechanistisch und stanzt sich nicht schematisch aus. Im Tod sind zwar alle Menschen gleich, im Sterben sind alle Menschen verschieden. Es gibt keine Normen, keine Schemata, keine Standards und Qualitätskennzeichen. In hohem Maße ist das Sterben hier individuell, einzigartig gedacht, verbunden mit einem biografisch je unterschiedlich gefärbten Leben, einem Leben in individueller Authentizität, mit unverwechselbarem Charakter, sozusagen mit der eigenen Handschrift, eigensinnig, eigenzeitlich, eigenräumlich (Gronemeyer, 1996). Wir stehen heute vor der Frage, wie etwa in unseren Krankenhäusern die Einzigartigkeit des menschlichen Lebens vor der bürokratisierten Einfallslosigkeit und Funktionslogik ihrer standardisierten Organisierbarkeit gerettet, geschützt werden kann, vor einer Bürokratisierung, die ja nach Max Weber gerade dadurch gekennzeichnet ist, vom Ansehen der einzelnen Person zu abstrahieren. Man könnte die Situation nach Einführung der DRGs in deutschen Krankenhäusern auch so pointieren, dass hier die Personen als Patienten zum Mittel der Ertragsteigerung geworden sind, auf die so lange zugegriffen wird, wie sie der ökonomischen Rationalisierung dienlich sind (Kühn, 2003).

4 Das Sterben »herstellen« In der Auseinandersetzung mit den Folgen des Einsatzes von Hiroshima hatte der Wiener Philosoph Günther Anders, alias Günther Stern (1979), zur Antiquiertheit des Sterbens geschrieben und in dem Text den Modus der Herstellbarkeit, der Machbarkeit des Sterbens herausgearbeitet. Mittlerweile ist im Jargon eines verbetriebswirtschaftlichten Krankenhauses die Managementsprache eingezogen und Kontroll- und ManagementVokabeln dominieren (Schmerzmanagement, total pain control, symptom control, Sterbemanagement). Im Zeitalter des Machens darf es eigentlich keine ungemachten Geschehnisse geben, mindestens keine, die unverwertbar oder nicht mindestens in ein Produktionsgeschehnis integriert wären. Die Tatsache, daß es noch immer Geschehnisse gibt, die einfach physisch da-sind und noch nicht einmal als Material oder Energiequelle dienen (z. B. Sonnenhitze, die sich ›nichtsnutzig‹ ins All verstrahlt), ist für uns Heutige skandalöseste

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Verschwendung. In Molussien hat kurz vor dem Untergang der Stadt ein Forscherteam an der Aufgabe gearbeitet, herauszufinden, ob nicht das unprofitable Fortsterben der Bürger irgendwie in Energie umgesetzt werden könnte. So weit sind wir zwar noch nicht. Aber keine Übertreibung ist es zu behaupten, daß immer weniger von uns einfach an Lebensmüdigkeit oder Altersschwäche sterben. Einfache Sterbefälle sind bereits altertümliche Raritäten. Zumeist wird der Tod hergestellt. Gestorben wird. Nicht Sterbliche sind wir Heutigen, primäre vielmehr Ermordbare. Sofern wir nicht durch Napal, Radioaktivität oder Gas umgebracht werden – die Vergasten sind ja in der Tat schon nicht mehr vergeudet gewesen, ihre Leichname sind ja nicht mehr ›nichts-nutzig‹ gewesen –, werden wir in verchromte Sterbefabriken verlagert. In diesen werden wir zwar nicht umgebracht (umgekehrt wird ja unser Sterben durch bewundernswerte Manipulation hinausgezögert); aber während dieser Verzögerungszeit werden wir doch so fest in den Apparat eingeschaltet, daß wir zu dessen Teil, unser Sterben zum Teil der Apparatefunktionen und unser Tod zum momentanen Binnenereignis innerhalb des Apparates wird. In der Intensivstation der molussischen Stadt Vaslegas sind diese Apparate an sound tapes angeschlossen, die – man klage nicht über Gemüts- oder Kulturlosigkeit unseres Zeitalters – im Augenblick des eintretenden Todes automatisch die ersten fünf Takte des Chopinschen Trauermarsches auftönen lassen« (Anders,1979, S. 247). In dieser Beobachtung wird eine Sorge aufgenommen, die sich in ein breites Interesse an Patientenverfügungen und der Vorstellung übersetzt, sein eigenes Sterben selbst in die Hand nehmen zu müssen, um nicht Teil einer kalten, rücksichtslosen und unmenschlichen Apparatemechanik zu werden. Menschenwürdiges Sterben wird reduziert auf einen schmerzlosen, zertifizierten, musikalisch unterlegten apparateimmanenten Entsorgungsvorgang. Das, was bei Rilke noch in personaler Qualität gedacht wird, ist bei Günther Anders sozusagen systemisiert, einer gnadenlosen Nutzenmaximierung unterworfen. Die unerträglich anmutende Vorstellung beider Autoren wird durch die ironischen Schwingungen Distanz schaffen, um die Demütigungen abzufedern.

5 Das hospizliche Gegenprogramm Hospizarbeit und Palliativversorgung sind sozusagen die Gegenhaltungen, das Gegenprogramm dieses organisierten Würdeverlustes. Konzeptionell geht es doch darum, eine Gesellschaft zu bauen, die Menschen würdigt und nicht demütigt. Das Innovative an dieser Entwicklung liegt in verschiedenen Dimensionen, der eben eine omnikompetente, an Herstellbarkeit des Lebens und Sterbens orientierte Entwicklung entgegentritt. In dieser Multidimensionalität liegt sozusagen begründet, warum Palliativversorgung, wie übrigens alle Bemühungen um den kranken und sterbenden Menschen, eine interdisziplinäre und interprofessionelle Anstrengung und Herausforderung ist, oder

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wie es Balfour Mount einmal salopp in einem Vortrag in Wien formulierte: »Dafür bräuchte man eigentlich ein Universalgenie. Solange wir es nicht gefunden haben, behelfen wir uns mit einem Team.« Sterben ist Teil unseres menschlichen Lebens und gehört zu jedem menschlichen Leben. Das Sterben der Menschen, mit denen wir uns verbunden fühlen, kann tiefe Erschütterungen und fassungslose Betroffenheit auslösen, es ist oft genug einfach nicht auszuhalten. Die Betreuenden stehen in der Spannung, mit den Betroffenen und dem eigenen Betroffensein rational und emotional und sozial und fachlich umzugehen. Hier sind verschiedene Modi denkbar: Der bürokratische Rationalisierungsmodus ist der, der sich verbreitet. Die Wucht der Emotionen, die Erschütterung des Sterbens einzelner Menschen wird versachlicht, verobjektiviert, in fragmentierten Forschungsminiaturen eingehegt. Distanzierung ist der Modus des Überlebens der Helfenden. Die internationale Hospizbewegung vertritt die Idee der asymmetrischen Gastfreundschaft. Ein jeder Mensch hat das Recht auf Asyl am Lebensende, ohne Gegenleistung und ohne die Angst haben zu müssen, umgebracht zu werden. In der lateinischen Etymologie des Wortes hospes = Gast steckt auch hostis = der Feind. Es enthält das Wissen, dass jede Begegnung eine Beziehung von Gegnern, von Fremden, von Feinden sein kann. Am Lebensende heißt Gastfreundschaft im Palliativ-Kontext: das Sterben weder zu beschleunigen noch zu verlangsamen (WHO-Definition), da sein und da bleiben, in Interaktionen die Würde und die Individualität des Sterbens zu unterstützen, einen guten Tod auszuarbeiten helfen und Organisationsformen der Behandlung, Betreuung und Begleitung zu entwickeln, durch die Menschen nicht gedemütigt werden. Gesellschaftlich wird die Sorgekultur am Lebensende an die Hospizarbeit, Palliativmedizin, an Palliativversorgung delegiert. Alle haben fröhlich und aufgewertet zugegriffen. Doch: Wird diese Delegation einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe so omnikompetent angenommen und wahrgenommen, ist der Keim zum Scheitern angelegt. Was alle angeht, müssen alle angehen. Das gelingt immer wieder, weil die Debatte, die aus der palliativ-hospizlichen Sorge kommt, immer Impulse für die Gesamtgesellschaft setzt. Man muss daran scheitern, wenn man keine Aushandlungsprozesse in Gang setzt, um eine vermittelte Rückdelegation im Sinne einer gerechten und geteilten Verantwortung in der Gesamtgesellschaft zu befördern. Die zivilgesellschaftliche Verantwortung (Ehrenamtlichkeit) wird durch Professionalisierung, also bezahlte Arbeit, ausgedünnt. Man darf nicht vergessen, was Martha Nussbaum in ihrem Buch »Die Grenzen der Gerechtigkeit« schreibt: »Die Sorge um schwerkranke alte Menschen, aber auch um Kinder und Behinderte ist eine Aufgabe der gesamten Welt-Gemeinschaft und eine Frage der Gerechtigkeit. Staat, Arbeitsplatz und Familie müssen umgestaltet werden, damit der Bedarf an Pflege gedeckt werden kann, ohne dass das Wohlergehen und die Ansprüche von Frauen eingeschränkt werden« (Nussbaum, 2010, S. 438).

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6 »Total pain« als umfassendes Leiden, ein Beispiel für das Omnikompetenzsyndrom Die Auseinandersetzung mit dem Schmerz bestimmt wie kein anderes Thema bzw. Symptom die palliative Diskussion nicht erst seit den 1990er Jahren. Es ist vor allem das immer noch nicht entfaltete Konzept des umfassenden Schmerzes (»total pain«, siehe dazu: Heller, 2010; oder auch die Vielschichtigkeit dieses Ansatzes am Beispiel der Trauer: Müller, 2007). Vor allem infolge der fachlich und historisch erklärbaren Konzentration der Palliativversorgung auf tumorerkrankte Menschen – die WHODefinition zur Palliativversorgung entstand im Kontext der Onkologie – standen und stehen körperliche Schmerzerfahrungen bei Krebserkrankungen und deren Behandlung im Vordergrund. Da Krebserkrankungen zu den häufigsten Todesursachen gehören – etwa 25 % der Verstorbenen –, wird verständlich, warum der Zusammenhang Krebs– Schmerz–Sterben so evident zu sein scheint. Hand in Hand mit dem »Engagement« vieler Schmerzpräparate produzierender Pharmafirmen institutionalisierte und akademisierte sich die Palliativmedizin etwa in Deutschland im Kampf gegen die Schmerzen. Die ersten Professuren wurden von Pharmafirmen gestiftet, alle Präsidenten der Gesellschaft für Palliativmedizin sind gelernte Anästhesisten. So entstand das verzerrte Bild, die größte Herausforderung des Sterbens bestehe in der Schmerzbekämpfung, wohlgemerkt des physiologischen Schmerzes. Das neue Leitbild eines selbstbestimmten und vor allem schmerzfreien Sterbens war geboren. Ein kleiner Schritt nur zum Programmausruf eines »schmerzfreien Krankenhauses«. Innerhalb von zwanzig Jahren hat sich damit im deutschsprachigen Raum ein medikalisierter Paradigmenwechsel vollzogen. Denn die englische Hospizbewegung formulierte als Ziel der interprofessionellen Aufmerksamkeit am Lebensende, ein Sterben in Würde und der individuellen Geschichte der Betroffenen entsprechend (»to die in dignity and character«) zu ermöglichen. Allerdings könnte das Schmerzthema konzeptionell die gesamte Philosophie der modernen Hospiz- und Palliativarbeit entfalten helfen. Denn jedes Symptom stellt eine umfassende Herausforderung dar. Immer geht es darum, die Betroffenen in ihren sozialen Bezügen und in der Gesamtheit ihrer menschlichen Existenz wahrzunehmen. Von dieser biopsychosozialen und spirituellen Komplexität her ist Versorgung zu entwickeln. Literarisch ist das Phänomen des »umfassenden Schmerzes« im Sterben vielfach verdichtet. Eine der eindrucksvollsten Erzählungen der Weltliteratur stammt vom russischen Dichter Leo Tolstoi (1828–1910). »Der Tod des Iwan Iljitsch« beschreibt das langsame Sterben des Gerichtsbeamten Iwan Iljitsch Golovin: »Der Doktor sprach von den körperlichen Schmerzen und hatte recht. Aber noch furchtbarer waren die seelischen, und in ihnen lag für Iwan Iljitsch die große Qual. Die seelischen Leiden bestanden darin, dass ihm in dieser Nacht […] plötzlich der Gedanke gekommen war: Und wenn wirklich mein ganzes Leben, mein bewusstes Leben nicht das richtige gewesen ist?« (Tolstoi, 1886/2002, S. 129).

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Diese seelisch existenziell bedrückende Frage quält ihn bis zu seinem Tod. Die mögliche Einsicht darin, sein Leben faktisch nicht wirklich gelebt, also »verfehlt« zu haben, lässt ihn nicht mehr los. Dieses zutiefst spirituelle Leiden lässt sich nicht sauber abtrennen nach dem Motto, das Leiden beginnt, wenn der Schmerz aufhört. Es steigert und entlädt sich in der Erfahrung völliger Ungeborgenheit und abgrundtiefer Einsamkeit, eines existenziellen Ausgesetztseins, einer tiefen Gottverlassenheit. »Er wartete nur, bis Gerasim hinausgegangen war, dann konnte er sich nicht mehr halten und begann zu schluchzen wie ein Kind. Er weinte über seine Hilflosigkeit, er weinte über seine schreckliche Einsamkeit, er weinte über die Grausamkeit des Menschen, die Grausamkeit Gottes, er weinte darüber, dass es keinen Gott gebe. ›Warum hast du das alles gemacht? Warum hast du mich bis dahin gebracht? Warum, warum quälst du mich so furchtbar?‹ Und er wartete auf keine Antwort und weinte darüber, dass es keine Antwort gebe, keine Antwort geben könne. Der Schmerz brach wieder aus. Aber er regte sich nicht und rief nicht« (Tolstoi, 1886/2002, S. 118). Der Kranke schreit mit seinen allerletzten Kräften: »›Geht hinaus! Geht hinaus! Lasst mich in Ruh!‹ Von diesem Augenblick an begann jenes drei Tage lang ohne Unterbrechung währende Schreien, das so furchtbar war, dass man es hinter zwei Türen nicht ohne Entsetzen hören konnte […] ›Uh!Uh!Uh!‹ schrie er in den verschiedensten Tonarten. Er hatte angefangen: ›Lasst mich in Ruh!‹, und zog diesen einen Laut in die Länge« (Tolstoi, 1886/2002, S. 133). Wie sieht hier eine passende, nennen wir es palliative Schmerztherapie aus, könnte man postmodern fragen. Was lässt sich palliativmedizinisch empfehlen, verordnen oder gar medikamentieren? Würde man geneigt sein, hier eine Anpassungsstörung entsprechend medikamentös wieder in Ordnung zu bringen, durch eine kleine Beruhigungsspritze vielleicht? In einem führenden Lehrbuch der Palliativmedizin ist nachzulesen, wie mit unruhigen, akut erregten Patienten im Sterben standardmäßig zu verfahren sei: »also wird man notfallmäßig 25 bis 50 mg Levomepromazin plus 5 mg Haloperidol jeweils i. m. notfalls unter Anwendung von Gewalt und durch die Kleidung applizieren« (Vogel, 2007, S. 673). Das ist nun denn nicht nur eine Körper und Menschen verletzende Aufforderung zur Gewaltanwendung, sondern geradezu ein Musterbeispiel für das, wohin ein Omnikompetenzsyndrom führen kann. Der Facettenreichtum des Schmerzes wird in der gängigen palliativmedizinischen Wahrnehmung (Klaschik, 2003) immer noch auf den organischen Schmerz reduziert. Entsprechend dem vorherrschenden naturwissenschaftlichen Paradigma entsteht folgerichtig das Bild, Schmerzen seien mehr oder weniger ein nozizeptiv oder neuropathisch zu erklärender Betriebsschaden in der Funktionsfähigkeit der »Maschine Mensch«. Durch entsprechende pharmakologische Interventionen und Applikationen muss daher ein reibungsloses Funktionieren wiederhergestellt werden. Es geht also um Dosierungen, Kombinationspräparate, um stufenschematisch sich aufbauende Schmerztherapeutik mit dem Ziel, den Schmerz unter Kontrolle (»pain control«, »pain killer«) zu bringen. Das »Schmerzmanagement« setzt ein und suggeriert, man müsse

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das Übel Schmerz und damit jeden Schmerz wie einen Eindringling identifizieren, bekämpfen und eliminieren. Damit kein Missverständnis entsteht: Schmerzen können entsetzlich sein, die ganze Energie und die letzte Kraft rauben und die Bereitschaft des Menschen steigern, alles in Kauf zu nehmen, ja sich selbst lieber umzubringen, um nur keine Schmerzen zu haben. Schmerztherapie ist eine hospizlich-palliative Wohltat. Schmerzlinderung steht nicht zufällig ganz oben auf der Agenda der Palliativversorgung. Die adäquate fachlich-organisatorische Reaktion auf »total pain« erfordert aber einen empathischen (einfühlenden) interdisziplinären und interprofessionellen Zugang zu Frauen, Männern, Kindern und Jugendlichen, ihren Ausgangssituationen, ihrem Gewordensein, ihrem Leiden. Die Komplexität dieser Sichtweise impliziert entsprechende Wahrnehmungs-, Arbeits-, Kommunikations- und Kooperationsstrukturen. Über diese verfügen wir im klinischen Bereich unseres Gesundheitssystems noch zu wenig. Das führt nun dazu, bestimmte Dimensionen des Menschen omnikompetent bestimmten Professionen zuzuordnen. Vergessen wird dabei eine wichtige Einsicht aus der Geschichte im Umgang mit Schmerz: »Wir müssen den Sinn für die Wichtigkeit des Verstandes und der Kulturen bei der Entstehung von Schmerz wiederentdecken, und wir müssen beginnen, die Bedeutungen von Schmerz zu verbreiten, um menschliches Leiden nicht auf der Stufe eines lediglich physischen Problems zu reduzieren, für das es immer eine medizinische Lösung gibt, vorausgesetzt man findet die richtige Pille« (Morris, 1996, S. 400). Und wir müssen lernen und anerkennen, dass Leiden zum menschlichen Leben gehört und solange Menschen leben, werden wir das Leiden nicht aus der Welt schaffen, nur um den fürchterlichen Preis, die Menschen selbst zu eliminieren. Denn wer das Leiden abschaffen will, erspart sich auch die Bereitschaft, selber mitzuleiden. Jahrhunderte lang haben Menschen unerträgliches Leiden und unerträglich erscheinende Schmerzen miteinander ertragen, stumm und klagend, solidarisch und in der Haltung der Mitleidenschaft (Compathie), der »Fürklage«.

7 Spiritualität am Lebensende im Omnikompetenzmodus Seitdem zahlreiche Studien positive Auswirkungen von Religion und Spiritualität auf die mentale Verfassung kranker Menschen, auf ihre Anpassungsfähigkeit und den Bedarf an Schmerzmitteln usw. vermelden, interessieren sich sogar die Krankenkassen dafür. Das ist natürlich verdächtig. Spirituelle Menschen verursachen weniger Kosten. Das medizinische Interesse an Religion und Spiritualität kann durchaus in dem Bemühen wurzeln, den Patienten als ganzen Menschen wahrnehmen zu wollen. Manchmal entsteht jedoch der Verdacht, dass die zu erwartende Entlastungsfunktion im Vordergrund steht, gelten doch religiöse Menschen als therapeutisch belastbarer, konsensbereiter und zufriedener. Sie scheinen einfach pflegeleichter zu sein, weniger Ressourcen zu beanspruchen und zu verbrauchen, weil unterstellt wird, dass sie besser, gefasster, sinnbezogen mit Krankheit und Sterben zurechtkommen. Professionelle

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Sinnvermittlung wird zur Karikatur spiritueller Begleitung, wenn Sinn und Hoffnung wie Schmerzmittel verfügbar gemacht werden sollen. Bemühungen um Spiritual Care müssen sich kritisch befragen lassen, ob sie nicht zum Instrument werden, Menschen in eine letzte Anpassungs- und Unterwerfungsbereitschaft an Therapie und Organisation zu bringen. Es ist modern geworden, das Streben nach Weisheit mit Spiritualität zu verzahnen. Weder das eine noch das andere kann jedoch an das Lebensende oder an das Alter delegiert werden. Spiritualität ist Weg und Ergebnis eines lebenslangen Prozesses, die nicht erst in der Phase der Krankheit oder des Sterbens beginnen. In den religiösen Traditionen wird das ganze Leben als ein spiritueller Weg gesehen. Es gibt keine Abkürzungen. Der Vorgang des Alterns hat wohl ebenso viel mit dem vorangegangenen Leben zu tun, wie es vom Sterben behauptet wird. Die beliebten Stufenschemata einer spirituellen Entwicklung – etwa in der neueren Gerontologie – führen zu normativen Idealbildungen und moralischen Bewertungen. Menschen, die auf den unteren Stufen einer so gedachten Entwicklung stehen bleiben, sind zu bedauern oder zu erziehen. Stufen suggerieren eine kontinuierliche Aufwärts- bzw. Abwärtsbewegung, die stark von einem linearen naturwissenschaftlichen Modell fortschreitender evolutiver Entwicklung geprägt ist. Menschliches Leben bleibt immer ein Fragment, der Traum von der Ganzheit kann für die meisten Menschen eher als ein Lichtstreifen am Horizont erkannt werden. Für individuelle Integrität und Stabilität gibt es im menschlichen Leben keine Garantie. Gutes Sterben ist nicht machbar, nicht manipulierbar, nicht herstellbar. Wir Menschen leben nicht nach Schema und wir sterben nicht nach Schema. Hoffentlich sterben wir nicht den Tod, der an der Klinik oder im Hospiz angestellt ist (Rilke, 1910). Das friedliche, versöhnte, integrierte Sterben kann zum Maßstab eines alle überfordernden Sinnfindungsterrorismus werden, einer Zwangsvorstellung von Spiritual Care, die alle beschädigt. Es muss Platz sein für menschliche Not und abgrundtiefe Verzweiflung, für die Widersprüche des Lebens, die nicht lösbar sind, für die laute Klage und die Trostlosigkeit der Tränen und all das, was unvollendet bleibt, das sich nicht sedieren lassen sollte, ohne dass Menschlichkeit verloren geht. Wie viel in unserem Leben bleibt angesichts des Todes unvollendet, ungelebt, offen und sehnsuchtsvoll-leer und lässt sich im Sterben nicht mehr entwickeln? Man wird sehen lernen, wie in den Fragmenten eines scheinbar gebrochenen Lebens der Glanz einer spirituellen Dimension aufleuchten kann. Auch hier lässt sich eine Tendenz beobachten, dass die Spiritualität – einmal entdeckt als ein Vademecum, ein Pharmakon – in den Händen naturwissenschaftlicher Forschung dazu führt, es einzusetzen wie Valium, um Compliance, Kooperationsbereitschaft, möglicherweise Unterwerfungsbereitschaft unter das »Behandlungsregiment« zu ermöglichen. Vergessen wird die tiefe Einsicht, dass Spiritualität nicht als Import in ein Leben eingeführt werden kann, dass es die Personen selbst sind, die ihre Spiritualität in ihren Formen leben, sich um sie sorgen.

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8 Organisationsethik als Modus des Widerspruchs gegen die Omnikompetenzdynamik In den letzten Jahren hat sich eine erfreuliche Sensibilität und Kompetenz im Umgang mit ethischen Fragen am Lebensende herausgebildet. Die Einsamkeit des monologischen Gewissensentscheids, der Modus der individuellen Letztverantwortung ist relativiert oder aufgehoben in Prozessen kollektiver Entscheidungsfindung. Wolfgang Heinemann und Giovanni Maio nennen diese Entwicklung folgerichtig »Ethik in Strukturen bringen« (Heinemann und Maio, 2010). Organisationsethik praktiziert Ethik als Differenzsetzung, wobei die reflexive Differenz in Organisationen nur wirksam werden kann, wenn sie als strukturelle Differenz sozialer Gruppen und kommunikativer Prozesse organisiert wird: Wollen wir alles so, wie es ist und wie es sich weiterentwickelt? Der Beschleunigung, der Machbarkeitsdynamik wird eine ethische Intervention entgegengehalten: Innehalten, Unterbrechen. Organisationsethik ist ein Versuch, Innehalten als Systemdifferenz zu organisieren (Krobath und Heller, 2010). Es braucht Orte, Zeiten, Strukturen und Ressourcen. Reflexion braucht Zeit. Soziale Vernetzung braucht Zeit. Sorgfältiges Entscheiden braucht Zeit. Zeit gibt es im Regelfall unserer Organisationskontexte heute vor allem als Zeitdruck, d. h. als sich ständig verknappende Ressource. Und damit wird die Qualität des Lebens und des Sterbens und die der Entscheidungen knapper. Wenn wir von der konstruktivistischen Annahme ausgehen, dass nur Unentscheidbares entschieden werden muss, und wir uns von der Fantasie der Planungssicherheit verabschieden, wird deutlich, dass jede Entscheidung Wagnis und Risiko angesichts von weitreichenden Unklarheiten ist. Traditionelle Entlastungsinstanzen für zuverlässige Orientierungen haben sich, sofern sie nicht rein machtbasiert waren oder noch Bestandteil kultureller Gewohnheiten sind, reflexiv verflüssigt und bedürfen der Anstrengung kritischer Neuaneignung. Zu dieser Situationseinschätzung führt der Soziologe Zygmunt Bauman aus: »Man muss sich auf die Möglichkeit falscher Entscheidungen gefasst machen, wenn man die Suche nach der richtigen Entscheidung fortsetzen will. Unsicherheit ist alles andere als eine Bedrohung für die Moral […], Unsicherheit ist die Grundlage moralischen Handelns und der einzige Boden, auf dem dieses gedeihen kann« (Bauman, 2007, S. 46 f.). Grundsätzliche Unsicherheit macht ethische Reflexion und Diskurs erst notwendig. Entgegen der gerade im Management gefragten Haltung der Stärke, Sicherheit und Entschlossenheit führt ethisches Nachdenken zur Destruktion der Machbarkeitsfantasien einer technisch-rationalen Zivilisation, auch der einer ungebrochenen Fortschrittsgläubigkeit im Bereich von Organisationsentwicklung und ihren Beratungsansätzen. »Ethik braucht die Kompetenz geteilter Inkompetenz« (Heller, 2008, S. 4). Geteilte Ohnmacht angesichts unentscheidbarer Anforderungen führt zum (Mit-)Teilen unterschiedlicher Sichtweisen und damit heraus aus der individuellen Überforderung, ange-

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sichts gesteigerter Komplexitäten alleine Entscheidungen treffen zu müssen, wie es das heroische Bild von Leitung und Management vorsieht. Geteilte Unsicherheit verstärkt also die prozessethische Grundannahme der Notwendigkeit kollektiver Entscheidung. Sie macht auch deutlich, dass die Verantwortung für das Entscheiden grundsätzlich nicht delegiert werden kann. In einer Entscheidungsgesellschaft lautet die Herausforderung angesichts offener Fragen und Problementwicklungen: gemeinsame Entscheidungen und Kommunikationen gerade wegen und angesichts des Bewusstseins von Unsicherheit, als Absage an den Omnikompetenzmodus. Sollen Entscheidungen zunächst Sicherheit geben, so können sie doch Unsicherheit nicht ausschließen. Hier führen auch die Anstrengungen, über Kennzahlen und vermehrte Durchrechnung Entscheidungssicherheit zu steigern, zu keinem Ergebnis im Sinne des Ausschaltens von Unsicherheit. Kollektive Entscheidung vermag die Unsicherheitsschwankung zwar tendenziell zu verringern. Entscheidung ist und bleibt ein Prozess des unauflöslichen Widerspruchs zwischen Sicherheit und Unsicherheit (Krainer und Heintel, 2010). Existenzielle und systembedingte Widersprüche sind grundsätzlich unausweichlich und unlösbar. Wir können diese Art Widersprüche nicht aus der Welt schaffen, wie wir auch die Differenz der Geschlechter oder Alter und Tod nicht abschaffen können. Wir können nicht einen Widerspruchspol gänzlich ausschalten. Die Aufgabe menschlichen und organisationalen Handelns besteht in der immer neuen Suche nach jeweils passenden Konfliktlösungen, also nach guten Lösungen und Regelungen. Die Architektur von Palliativversorgung ist meines Erachtens beispiellos in der Wissenschaftslandschaft und deutet eine neue Kultur an. Es ist eine Kultur des Umgangs miteinander, die als Kultur der Komplementarität, der Kompetenz geteilter Inkompetenz gesehen werden kann. In den Widersprüchen von Leben und Tod erinnert sie daran, dass es keine Sicherheiten gibt: Angewiesensein aufeinander und Verwiesensein aneinander sind die Grunddynamiken. In der Interdisziplinarität ist die in Deutschland gängige Beschreibung als Palliativmedizin immer ein Trojanisches Pferd in den Hallen der medizinischen Fakultät, weil hier versucht wird, eine neue Wissenschaftskultur im Medizinsystem zu etablieren, die an der Schnittstelle von Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften inter- und transdisziplinär, also in Kommunikation und Kooperation mit gesellschaftlichen Akteuren relevantes Wissen generiert. Das ist eine wirkliche paradigmatische Innovation, die weit über ein fachlich gebundenes Interesse hinausgeht, die sichtbar macht, dass die Komplexität der Problemlagen und Aufschichtungen beispielsweise am Ende des menschlichen Lebens nicht im Omnikompetenzmodus eines Faches oder gar von Personen allein aufgenommen werden kann, sondern qualitative netzwerkförmige inter- und transdisziplinäre Inszenierungen braucht. Das ist eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe, die in gewisser Weise die Selbstund Systemtranszendenz als ständige Bedingung ihrer Möglichkeit hat.

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Oder anders: Wie das Sterben von Menschen ausgehalten werden kann, ist mit einer alteuropäischen Vokabel Richtung-andeutend beantwort. Mit den spätmittelalterlichen Blockbüchern (Gutenberg-Gesellschaft und Gutenberg Museum, 1991) wurden die Menschen in der Ars-Moriendi-Kultur vorbereitet auf ihr Sterben. »Sis humilis« weht auf den Fahnen: Sei demütig! Bleib am Boden (humus)! Sei fruchtbar, indem du allein von dir nicht alles erwartest. Sorge dich um andere, indem du für dich selber sorgst und dich eingibst in eine geteilte Sorgekultur!

Literatur Anders, G. (1979). Zur Antiquiertheit des Sterbens. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution (Bd. 2). München: Beck. Bauman, Z. (2007). Leben in der Flüchtigen Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gronemeyer, M. (1996). Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit (2. Aufl.). Darmstadt: WBG. Gutenberg-Gesellschaft, Gutenberg Museum (Hrsg.) (1991). Blockbücher des Mittelalters. Bilderfolgen als Lektüre. Mainz: von Zabern. Heinemann, W., Maio, G. (2010). Denkanstöße zur Ethikberatung im Gesundheitswesen. Freiburg: Herder. Heller, A. (1996). Sterben in Organisationen. Menschenwürdig sterben als Herausforderung der Organisationsentwicklung. In R. Grossmann (Hrsg.), Gesundheitsförderung und Public Health. Öffentliche Gesundheit durch Organisation entwickeln (S. 214–229). Wien: Facultas. Heller, A. (2008). Orientierungen für eine Ethik in der Altenhilfe. Praxis Palliative Care, 1, 4–7. Heller, A. (Hrsg.) (2010). Der Schmerz hat viele Gesichter. Praxis Palliative Care, 8. Klaschik, E. (2003). Schmerztherapie und Symptomkontrolle in der Palliativmedizin. In S. Husebø, E. Klaschik (Hrsg.), Palliativmedizin (3. Aufl.) (S. 256–259). Berlin u. Heidelberg: Springer. Krainer, L., Heintel, P. (2010). Prozessethik. Zur Organisation ethischer Entscheidungsprozesse. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Krobath, T, Heller, A. (Hrsg.) (2010). Ethik organisieren. Handbuch der Organisationsethik. Freiburg: Lambertus. Kühn, H. (2003). Ethische Probleme der Ökonomisierung von Krankenhausarbeit. In A. Büssing, J. Glaser (Hrsg.), Dienstleistungsqualität und Qualität des Arbeitslebens im Krankenhaus (S. 77–98). Göttingen u. a.: Hogrefe. Morris, D. (1996). Die Geschichte des Schmerzes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Müller, M. (2004). Dem Sterben Leben geben. Die Begleitung sterbender und trauernder Menschen als spiritueller Weg. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Müller, M. (2007). Total Pain. In C. Knipping (Hrsg.), Lehrbuch Palliative Care (2. Aufl.) (S. 386–393). Bern: Verlag Hans Huber. Nussbaum, M. (2010). Die Grenzen der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rilke, R. M. (1910/1980). Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In Werke Bd. III, 1: Prosa. Frankfurt a. M.: Insel Verlag. Tolstoi, L. N. (1886/2002). Der Tod des Iwan Iljitsch. Frankfurt u. Leipzig: Insel Verlag. Vogel, H.-P. (2007). Symptomatische Behandlung neuropsychiatrischer Symptome. In E. Aulbert, F. Nauck, L. Radbruch (Hrsg.), Lehrbuch der Palliativmedizin (2. Aufl.) (S. 888–905). Stuttgart: Schattauer.

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Palliatiff Kehr – wenn die Fehlersuche so einfach wäre! Vermeintliche oder wirkliche Fehler als Belastungsfaktoren Birgit Jaspers

Nach den Ergebnissen des ersten Teils der Studie »Wie viel Tod verträgt das Team?« (Müller, Pfister, Markett und Jaspers, 2009), bei der die Teams auf deutschen Palliativstationen befragt worden waren, war der am stärksten belastende Faktor in der Palliativversorgung die Nichterfüllung des Anspruchs der Palliativmedizin bei einer Patientenbzw. Sterbebegleitung. Interessant war, dass trotz dieses nicht erfüllten Anspruchs das Item »Schuldgefühle« als die geringste Belastung genannt wurde. Dies führte bei der Interpretation der Daten zu der Frage, ob überhaupt ein festgelegter Anspruch der Palliativmedizin existiert und ob ein Nichterfüllen dieses Anspruchs von den Teilnehmern nicht nur als belastend, sondern auch als Fehler in der Palliativversorgung empfunden wurde. Wäre die Nichterfüllung von den Palliativ-Teams als vermeidbarer Fehler gesehen worden, hätten sie sich schuldig fühlen müssen. Eine Korrelation zwischen nicht erfülltem Anspruch und Schuldgefühlen zeigte sich aber nur bei der Berufsgruppe der Ärzte, nicht bei den anderen Befragten. Könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass in dieser Berufsgruppe ein Konzept von vermeidbaren Fehlern eher wahrscheinlich ist als in den anderen? Oder liegt hier nur eine berufs- und rollenbedingte andere Beurteilung der eigenen Verantwortung vor? Gehören potenzielle Fehler anderer Berufsgruppen eher in den Bereich der unvermeidbaren Fehler? Antworten auf diese Fragen lässt das Design der Studie nicht zu. Aber die Frage nach einer für die Palliativversorgung tauglichen Fehlerdefinition, die über das Nichteinhalten von Rechtschreibregeln hinausgeht, war nun einmal aufgeworfen worden.

1 Fehlerdefinitionen im medizinischen und pflegerischen Bereich Es besteht keine allgemein anerkannte bereichsspezifische Fehlerdefinition für den Fachbereich Palliativmedizin bzw. die Palliativversorgung. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Teilnehmer an der Studie keine Vorstellungen davon haben, was sie als Fehler bezeichnen würden. Es kann gemutmaßt werden, dass diese Vorstellungen je nach Berufsgruppe oder sogar individuell unterschiedlich sind. Für den vornehmlich ärztlichen Bereich liegt zum Terminus medizinischer Fehler (Medical Error) eine Definition vor. Im Internetglossar des Ärztlichen Zentrums für

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Qualität in der Medizin (ÄZQ) wird er definiert »als jede geplante Vorgehensweise, die nicht plangemäß ausgeführt wurde (d. h. Ausführungsfehler) oder das Anwenden einer Vorgehensweise, die zum Erreichen eines Ziels ungeeignet ist (Planungsfehler)« (ÄZQ, 2011). Ein Behandlungsfehler liegt vor bei einem diagnostischen oder medizinischen Eingriff, – der medizinisch nicht indiziert war – oder bei dem die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft und der ärztlichen Praxis unter den jeweiligen Umständen erforderliche Sorgfalt objektiv außer Acht gelassen wurde – sowie beim Unterlassen eines nach diesem Maßstab medizinisch gebotenen Eingriffs. Ein Behandlungsfehler ist als grob zu beurteilen, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Handlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiv ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Während Fehler mit dem Adjektiv »vermeidbar« versehen werden, findet sich das Adjektiv »nicht vermeidbar« nur für »so genannte behandlungsimmanente Wirkungen« (ÄZQ, 2011). Zu den genannten Beispielen hierfür gehören Gewebeschädigung durch Bestrahlung, Schaden durch ärztlichen Behandlungs- oder Diagnosefehler oder mangelnde Hygiene. Obwohl einige Aspekte der Fehlerdefinition weiterer Klärungen bedürfen – Wird bei Unterlassen eines nach diesem Maßstab medizinisch gebotenen Eingriffs die Patientenwilligung vorausgesetzt oder nicht? –, ist das Konzept der Nicht-Vermeidbarkeit interessant. Die Folgen einer Handlung, deren Ergreifen als vermeidbarer Fehler klassifiziert wird, werden nicht ebenfalls als Fehler bezeichnet, sondern als unvermeidbare (be-)handlungsimmanente Wirkungen dieser fehlerhaften Handlung. Damit müssen sie dem Entscheidungsträger zugerechnet werden. In einer Arbeit aus dem Jahre 2010, die die in Pubmed gelistete Fachliteratur zum Thema medizinische Fehler und Patientensicherheit in der Palliativmedizin analysierte und diese Begriffe für die Schlagwortsuche nutzte, wird im Rahmen der Textanalysen folgende Fehlerdefinition vorgeschlagen: »An error in Palliative Care is the failure of a planned action to be completed as intended or the use of a wrong plan for achieving the aims of preventing and relieving suffering from pain and other physical, psychosocial, and spiritual problems. The error may be categorized according to the domains of symptom control, diagnosis, prognosis, communication, psychosocial, and spiritual assistance as well as advance care planning and end-of-life decision-making. It may affect an action toward the patient, the relatives, or the health care professionals« (Dietz et al., 2010, S. 1471). Der Gebrauch des Adjektivs »wrong« (»use of a wrong plan«) widerspricht dem Anspruch der Zirkelfreiheit einer Definition. Nach diesem darf »das zu Definierende […] nicht wieder in der Definition vorkommen (terminus definitus non debet ingredi

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definitionem), denn wäre Diess, so erführe man ja nicht, Was das zu Definirende ist, es würde Dasselbe durch Dasselbe erklärt, idem per idem. wie man sagt« (Krause, 1836, S. 502). Isabel Dietz initiierte ein Forschungsprojekt mit dem Titel »Fehler in der Palliative Care«, in dem sie mit Hilfe eines Fragebogens zunächst in Bayern epidemiologische Daten zu Fehlern sammelt (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin Landesvertretung Bayern, 2010). Dafür nutzt sie die o. g. Fehlerdefinition in der folgenden abgewandelten Übertragung: »Ein Fehler in Palliative Care ist das Misslingen einer Handlung, die nicht wie geplant zu Ende geführt wird, oder die Verwendung eines Planes, der das Ziel der Prävention und Linderung von Schmerzen und anderen physischen, psychosozialen und spirituellen Problemen verfehlt. Ein Fehler kann den Bereichen Symptomkontrolle, Kommunikation, Vorsorgeplanung, Diagnose und Prognose zugeordnet werden und kann den Patienten selbst, die Angehörigen oder die Mitarbeiter des Palliative-Care-Teams betreffen« (Dietz, 2010, S. 1). Weiterhin wird dort erläutert: »Entsprechend des durch sie entstehenden Schadens können Fehler unterschiedlicher Schwere unterschieden werden, z. B. Tod des Patienten durch die Gabe eines falschen Medikamentes, die Kommunikation einer überschätzt langen Prognose des Überlebens, die dazu führt, dass der Patient bestimmte Dinge nicht mehr erledigen kann, oder die zu hohe Dosierung eines Opioids, welches die Kontaktfähigkeit des Patienten zeitweise einschränkt. Der vorliegende Fragebogen bezieht sich auf Fehler im Allgemeinen und berücksichtigt nicht die Unterscheidung in Fehler unterschiedlicher Schwere. Wichtig: Für die […] Fragen ist es unerheblich, ob der Fehler tatsächlich zu einem Schaden geführt hat oder ob ein Schaden durch rechtzeitiges Erkennen des Fehlers gerade noch vermieden werden konnte« (Dietz, 2010, S. 1). Diese Fehlerdefinition ergänzt die des (medizinischen) Behandlungsfehlers des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin nur um Weniges und lässt im Rahmen des multiprofessionellen Ansatzes der Palliativversorgung viele Aspekte unberührt. Zudem wird auch hier das Abweichen vom begonnenen Handlungsplan oder das sich Nichteinstellen eines angestrebten Outcomes als Fehler bezeichnet. Beides sind diskussionswürdige Kriterien für eine Fehlerdefinition. Für das Tätigkeitsfeld der Pflegenden wird in der Literatur häufig (mit kleineren Abwandlungen) die Definition zitiert, die sich bei Wikipedia (2011) findet: »Ein Pflegefehler ist ein Tun oder Unterlassen einer Pflegeperson im Rahmen professioneller Pflege, das nicht dem Pflegestandard nach dem aktuellen Erkenntnisstand der Pflegewissenschaft entspricht. Ein Pflegefehler kann zu einer Schädigung (Körperverletzung, Tod) bei der gepflegten Person führen, z. B. Dekubitus (Wundliegen) oder Exsikkose (Austrocknen). Pflegefehler können strukturelle Ursachen, wie Personalmangel, Mangel an qualifizierten Pflegerinnen und Pflegern, haben oder auf individuelle Unachtsamkeit oder Leistungsmängel des Pflegepersonals zurückgehen.« Bei dieser Definition zeigt schon der Einschluss eines Dekubitus, wie schwierig die Abgrenzung zum Nicht-Vorliegen eines Fehlers in der Palliativversorgung sein kann,

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da die Inkaufnahme einer Dekubitus-Entwicklung nicht unbedingt im Widerspruch zu den angesprochenen Standards stehen muss. Die Pflegeleitlinie »Lagerung in der letzten Lebensphase« von der Sektion Pflege der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (2004) erläutert hierzu: »Bedingungsloses Festhalten an regelmäßiger (2-stündlicher) Lagerung kann zwar das ›pflegerische Gewissen‹ entlasten und durch entsprechende Dokumentation ist die zu erbringende Leistung nachvollziehbar transparent, doch entspricht dies nicht immer dem palliativ-pflegerischen Anspruch nach bedürfnisorientierter, individueller Pflege.« Und: »Es erfordert eine genaue Krankenbeobachtung, in welcher Phase der Erkrankung der Patient sich befindet, das Ausschöpfen der für den Patienten tolerablen Möglichkeiten und den Mut, ggf. die Bedürfnisse des Patienten über die pflegerischen Ziele zu stellen.« Auch das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (2011) betont in seinem »Expertenstandard Dekubitusprophylaxe in der Pflege« die Wichtigkeit der Beachtung der individuellen Bedürfnisse der Patienten, wenngleich die grundsätzliche Tendenz des Standards auf eine Dekubitus-Prophylaxe zielt.

2 Weitere Fehlerdefinitionen Die Palliativversorgung umfasst medizinische, pflegerische, psychosoziale und spirituelle Aspekte der Behandlung und Begleitung. Multiprofessionelles Arbeiten unter Einbeziehung von Ehrenamt ist eine wesentliche Besonderheit der Palliativversorgung. Selbst wenn für alle Professionen und für das Ehrenamt Fehlerdefinitionen gefunden oder erarbeitet werden könnten, ist der Sinn eines solchen Vorgehens fraglich. Soll die Verantwortung für Fehler beim Einzelnen, bei Vertretern bestimmter Berufe oder Ehrenamtlern bleiben oder muss sie auch den Teamgedanken aufgreifen? Daher sollen berufs- und ehrenamtunabhängige Fehlerdefinitionen auf ihre Nutzbarkeit für den Fehlerbegriff in der Palliativversorgung untersucht werden. Lange Zeit galt: Fehler ist gleich Abweichung von einer Norm. Bei dieser Definition wird  – durch den Fehler sichtbar  – eine Norm vorausgesetzt, angenommen oder hypostasiert, deren Nichterfüllung auffällt (Spörl, 2011). In der Palliativversorgung ist Fehler als Abweichung von einer Norm wohl kaum eine sinnvolle Definition, denn in einem Arbeitsfeld, wo der Patient und seine Angehörigen mit ihren individuellen Bedürfnissen und Problemen im Mittelpunkt stehen sollen, mutet der Begriff der Norm eher kontraproduktiv an. Zwar mögen bestimmte Standards vorliegen, wie beim Dekubitus-Beispiel diskutiert, oder auch in den verschiedenen Settings bestimmte Assessments unter Nutzung bestimmter Instrumente als angestrebte Norm für klinische oder sonstige Praxis im Umgang mit Patienten konsentiert sein. Lässt die Situation ein bestimmtes normiertes Vorgehen aber nicht zu, wird das Abweichen von der Norm wohl eher als das Richtige denn als Fehler zu beurteilen sein. So wird man etwa mit einem Patienten, der bei Aufnahme über stärkste Schmerzen klagt, nur

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das für eine Schmerzkontrolle Wichtigste eruieren, sofern dies mit ihm selbst überhaupt möglich ist, weitere zum in der jeweiligen Einrichtung normierten Aufnahmeverfahren gehörende Assessments aber zurückstellen. Das Deutsche Institut für Normung (2011, S. 1) z. B. definiert Fehler bei sächlichen Merkmalswerten als »Nichterfüllung einer festgelegten Forderung«. Übertragen auf die Palliativversorgung besteht kein vollständiger, akzeptierter Katalog von Forderungen. Basierend auf den drei curricularen Lernzielen des Erwerbs von Kenntnissen, Haltung und Fähigkeiten lassen sich drei Forderungsbereiche formulieren: instrumentelle, ethische und intrasubjektive. Dies sind Forderungen an das, was der in der Palliativversorgung arbeitende Mensch können soll, was er darf und was in seiner Haltung widergespiegelt sein sollte. Zusammengenommen müssten diese Forderungen unter dem Anspruch von Palliativversorgung subsumiert werden können und den dort Tätigen zugänglich und transparent sein. Mit Blick auf die genannten Teilbereiche bestünde vielleicht Einigkeit darin, das Verwechseln von Medikamenten als instrumentellen Fehler zu bezeichnen. Off-LabelUse eines Medikaments ist sehr verbreitet in der Palliativmedizin, gilt aber im Prinzip als instrumenteller Fehler mit komplexen Bedingungen für Duldung, Gebotenheit und Haftung. Als Fehler würde man vielleicht das Vernachlässigen der Dokumentation bezeichnen. Aber wäre das nur dann ein instrumenteller Fehler, wenn sich Umstände ergeben, in denen dem Patienten oder dem Team Nachteile aus einer fehlerhaften Dokumentation erwachsen? Oder gehört die sorgfältige Dokumentation auch in den ethischen Bereich? Konsens besteht darüber, dass in der Palliativmedizin das Verabreichen eines Placebos obsolet ist. Würden die in der Palliativversorgung Tätigen eine Placebogabe auch als Fehler bezeichnen? Und wenn ja, beruhte dies auf einem ethischen Standard oder beträfe es nur den instrumentellen Bereich, der sich damit deutlich von dem in anderen medizinischen Bereichen und damit auch deren Fehlerbegriff abgrenzen würde? Je nach Situation mag auch ein Dekubitus, wie oben schon erwähnt, ein instrumenteller Fehler sein. Bei der Abwägung instrumenteller Forderungen gegenüber ethischen, z. B. der Berücksichtigung des Willens eines schwerkranken Patienten, kann sich ein Konflikt, ja eigentlich ein Paradox ergeben. Wird die Erfüllung einer ethischen Forderung als prioritär gesehen, z. B. wenn ein Patient sich nicht lagern lassen will, muss der instrumentelle Fehler in Kauf genommen werden. Oder, und das wäre das Paradox, dann ist der instrumentelle Fehler gar kein Fehler mehr, sondern das erwartete Merkmal von Handlungen oder Unterlassungen, die sich an einer ethischen Forderung ausrichten. Beispiele für Fehler im Bereich der intrasubjektiven Forderungen könnten sein: bestimmte Fähigkeiten – wie Empathie – nicht zu haben, obwohl man sich aufgrund guter Schulung vielleicht so verhalten kann, als hätte man sie; bestimmte Fähigkeiten nicht zu zeigen oder sie in bestimmten Situationen nicht zu nutzen. Bei näherer Betrachtung ist es noch nicht einmal leicht, den Merkmalsrahmen für fehlerhaftes Handeln im Bereich instrumenteller Forderungen festzulegen. Das mag zum

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Teil daran liegen, dass bestimmte potenzielle Fehler ein Nichterfüllen von Ansprüchen aus verschiedenen Forderungsbereichen sein können. Zum Teil liegen für bestimmte Vorgehensweisen aber auch keine klaren, normierten instrumentellen oder ethischen Handlungsrichtlinien vor.

3 Beurteilung nach Verletzung einer Regel, nach Outcome, vereinbarten Zielen oder Erwartungen Nicht zuletzt gehört zur Beurteilung dessen, was man als Fehler versteht, auch eine Verständigung darüber, inwiefern der Erfolg einer Handlung eine Rolle spielt. Ist das Verabreichen eines falschen Medikaments oder einer falschen Dosierung grundsätzlich ein Fehler, wie es die Definition des Behandlungsfehlers nahelegt, oder nur dann, wenn sich daraus negative Folgen für den Patienten ergeben? Muss die Regel gut sein, nach der man sich richtet, oder der Outcome? Hierüber bedarf es einer Konsensbildung. In einem eher technischen Werk findet sich folgende Definition eines menschlichen Fehlers: »Ein menschlicher Fehler ist die Abweichung der Ergebnisse zielgerichteter menschlicher Handlungen von den Zielen der Handlung« (König, 1986, S. 7). Weder die Handlung selbst noch die Regel, nach der sie sich richtet, wird als Fehler bezeichnet, sondern der Outcome. Es wäre demnach z. B. ein menschlicher Fehler, dass ein Patient trotz auf Symptomlinderung gerichteter Handlung keine Linderung des Symptoms erfährt. Wem oder was kann dieser Fehler zugerechnet werden? Auch wenn hier der menschliche in Abgrenzung zum technischen oder Materialfehler genannt wird, bleibt dies unklar, zumindest im Brückenbau. Nach der Definition des medizinischen Fehlers würde ein solcher Outcome dem Behandler zugeschrieben. Für eine umfassender nutzbare Fehlerdefinition bietet der transdisziplinäre Ansatz von Martin Weingardt weitere Aspekte: »Als Fehler bezeichnet ein Subjekt angesichts einer Alternative jene Variante, die von ihm – bezogen auf einen damit korrelierenden Kontext und ein spezifisches Interesse  – als so ungünstig beurteilt wird, dass sie unerwünscht erscheint« (Weingardt, 2004, S. 292). Hier hängt die Entscheidung darüber, ob etwas als Fehler gewertet wird, u. a. vom Interesse des Menschen in einer bestimmten Situation ab, wobei das Interesse ein außermoralisches, d. h. ein auf persönliche Präferenzen bezogenes Interesse ist (Huber, 2011). Allerdings muss er auch tatsächlich mindestens eine Alternative zur Auswahl haben, wie etwa beim Lagern oder Nicht-Lagern im Dekubitus-Beispiel. Und der Gebrauch des Präsens in dieser Definition kann vermuten lassen, dass sie nur im Vorhinein einer Handlung anwendbar ist. Bei prospektivem Einsatz kann die Fehlerdefinition für Patienten und behandelnde Teams in der Palliativversorgung eine Bedeutung haben, etwa bei Gesprächen über eine Therapiezieländerung. Je nach Interesse und auch Interessenkonflikten der verschiedenen Akteure gilt zwar dem Einen das Ergreifen einer Handlungsoption als Fehler und dem Anderen als wünschenswert. Jedoch können auf dieser Basis die Prioritäten

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benannt und vor dem Hintergrund der Vereinbarkeit des Willens des Patienten, des Trägers, des Teammitglieds etc. mit den Anforderungsbereichen in der Palliativversorgung diskutiert werden. Im Bereich »Wissen und Lernen«, etwa dem Erlernen einer Fremdsprache, werden im Rahmen verschiedener Fehlerdefinitionen Begriffe wie Abweichung von Erwartungen, Normen oder vereinbarten Zielen diskutiert (Bohnensteffen, 2010, S. 18–26). Im Bereich Wissen kann eine Abweichung von Erwartungen auch eine große Chance sein. Was sich z. B. im Versuch scheinbar als Fehler entpuppt hat, mit dem etwas Bekanntes verifiziert werden sollte, kann letztlich zu einer Falsifizierung des bekannten Wissens führen. Auch im Bereich der Palliativmedizin hat es Falsifizierungen gegeben, z. B. durch evidenzbasierte Erkenntnisse. Im Umgang mit einem individuellen Patienten kann das zusammengetragene Wissen über diese Person auch zu Schlüssen führen, die in einer bestimmten Situation den Sachverhalt verfehlen. Schreit etwa eine achtzigjährige, demente Patientin immer dann, wenn ein Pfleger sie im Intimbereich wäscht, wird das Team vielleicht zu organisieren versuchen, dass nur noch weibliche Pflegepersonen diese Aufgabe übernehmen. Dies mag vor allem dann eine angestrebte Änderungsmaßnahme sein, wenn Angehörige berichten, die Patientin habe in der Kriegszeit sexuelle Gewalt erfahren. Durch »trial and error« kann sich aber ergeben, dass der Pfleger ein Aftershave benutzt, welches bei der Patientin Übelkeit verursacht, oder dass er vorher immer eine Lampe anschaltet, die einen sehr großen Schatten seiner Silhouette an die Zimmerdecke wirft, was die Patientin ängstigt. Die Abweichung von Zielen kann im Kleinen, im Einzelfall oder im Einzelschritt in der Palliativversorgung meist klar benannt werden, etwa wenn bestimmte Hilfsmittel vor Ablauf einer Woche besorgt oder die opioidinduzierte Obstipation beseitigt werden sollte. Aus den Ergebnissen der Studie »Wie viel Tod verträgt das Team?« ist nicht ersichtlich, ob die Befragten zudem die Vorstellung hatten, dass außer fragmentarischen, auf bestimmte Einzelaspekte bezogene Ziele auch ein übergeordnetes Ziel von Behandlungen oder Begleitungen, vor allem bei sterbenden Patienten, existiert. Hierzu bedürfte es einer qualitativen Untersuchung. Sollte sich dabei das Konzept eines solchen übergeordneten Ziels zeigen, wäre es spannend zu untersuchen, ob die Befragten es genau beschreiben könnten oder ob es sich dabei eher um einen schwammigen, nirgendwo explizit stehenden und doch tief empfundenen Überbau von Qualitätskriterien, von Handlungszielen oder von Outcome-Aspekten handelt. Dies könnte etwa mit der Vorstellung verbunden sein, dass das Ganze der Begleitung mehr ist als die Summe ihrer Teile oder die Summe ihrer Teile nicht das Ganze ergibt.

4 Umbewertung, Berechenbarkeit und Handlungsoptionen Wichtige Aspekte in Bezug auf das Konstrukt eines Fehlers sind: – Umbewertung von Tun und Unterlassen vor einer konjunktivistischen Bilanz des Handelns (retrospektiv),

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– die Annahme der Berechenbarkeit von Folgen und – die Erkennbarkeit von Handlungsoptionen. Nicht selten werten Menschen erst retrospektiv ein ursprünglich als gut oder richtig erachtetes Tun oder Unterlassen als Fehler: »Als die Patientin zur Aufnahme kam, war sie wach, orientiert und im Großen und Ganzen gut symptomkontrolliert«, erzählte eine ärztliche Kollegin. »Der Aufnahmegrund war uns zunächst mit Überforderung der Angehörigen angegeben worden. Ich hatte Zeit und habe mich zu ihr gesetzt. Weil sie in so guter Verfassung und so guter Stimmung war, führten wir ein Aufnahmegespräch von fast zwei Stunden. Dabei waren die Patientin und ich allein. Ihre Angehörigen saßen in der Küche und lasen. Nur etwa zwanzig Minuten nach dem Abschluss unserer Unterhaltung – ich hatte das Zimmer verlassen – verstarb die Patientin ganz plötzlich. Ich habe keinerlei Anzeichen bemerkt, und auch die Pflegekraft, die direkt nach mir einige Minuten im Zimmer zubrachte, war vom Tod der Patientin völlig überrascht. Jetzt fühle ich mich schuldig und schlecht. Hätte ich doch bloß genauer hingesehen, sie nicht so lange aufgehalten und ihr doch nicht diese wichtige Zeit geraubt!« Bei der Umbewertung des Tuns wird häufig übersehen, dass nicht steuerbare Variablen in der Bewertung als steuerbar vorausgesetzt werden. Hätte irgendeine Form des Assessments der Kollegin zuverlässig über den Todeszeitpunkt der Patientin Auskunft geben können? Wenngleich es einige Prädiktoren für die Einschätzung einer Prognose gibt, so ist in der Literatur durchgängig eine zu optimistische Einschätzung von Behandlern und den Patienten selbst beschrieben, selbst bei Patienten mit äußerst kurzer Lebenserwartung (Glare et al., 2003; Chow et al., 2001; Fried, Bradley und O’Leary, 2006; Finlay und Casarett, 2009). Zum subjektiven Fehlerverständnis gehört auch die Vorstellung, dass man in einer bestimmten Situation seines Lebens ohne weitergehende Informationen oder andere Umstände nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch das Eine genauso hätte tun können wie das Andere – ein Medikament nicht verwechseln, schneller zum Gesprächsabschluss kommen oder als Angehöriger nicht in der Küche lesen. Der Autor des Romans »Nachtzug nach Lissabon« (2006), Pascal Mercier, lässt den Arzt Prado über dieses Thema reflektieren: »Geht es um den Wunsch, den traumgleichen, pathetischen Wunsch«, fragt Prado sich selbst, »noch einmal an jenem Punkt meines Lebens zu stehen und eine ganz andere Richtung einschlagen zu können […]? Es ist etwas Sonderbares um diesen Wunsch, er schmeckt nach Paradoxie und logischer Absonderlichkeit« (Mercier, 2006, S. 176).

5 Error oder Failure Cicely Saunders (2001), die Grande Dame der Palliativbewegung, hat sich nur wenige Jahre vor ihrem Tod zu Fehlern geäußert: »On the minus-side, over-enthusiastic lec-

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turers tended to arouse not only enduring commitments but also a tendency to perfectionism and elitism. Failures teach us more than successes and were not always faced in the early days« (Saunders, 2001, S. 432). Zu Deutsch etwa: Ein Nachteil ist, dass die überenthusiastischen Dozenten nicht nur zu lang anhaltendem Engagement aufrufen wollten, sondern auch eine Tendenz zu Perfektionismus und elitärem Denken hervorgerufen haben. Fehler lehren uns mehr als Erfolge – und in den Anfängen haben wir darauf nicht immer geachtet. Sie benutzte nicht den Begriff »error«, wie sonst zumeist in der medizinischen Fehlerdiskussion verwendet, sondern »failure«, der auch Misserfolg, Versagen, Scheitern und vieles mehr bedeuten kann. Für eine fruchtbare Diskussion zum Fehlerverständnis in der Palliativversorgung ist neben einer Anspruchsklärung vielleicht auch die Einbeziehung der Deutungsmöglichkeiten von failure interessant, da error eher ein dem gegenüberstehendes Konzept des (in gewisser Weise objektivierbaren) Richtigen impliziert. Alle vorgestellten Fehlerdefinitionen sind letztlich unzulänglich für den Bereich der Palliativversorgung, insofern ist ein Fehlermeldesystem für die Palliativversorgung, wie es bereits diskutiert wird, verfrüht. Die verschiedenen Definitionen und auch die Rückmeldungen aus den Fragebögen zu Fehlern aus dem Forschungsprojekt von Dietz (2010) können zu einem Diskurs mit dem Ziel einer zureichenden und konsentierten Definition beitragen, der nicht unabhängig von einem Diskurs zur Anspruchsdefinition geführt werden sollte.

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»Irgendwann haben wir nicht mehr gezählt« Häufung von Todesfällen – Perspektive Palliativstation Thomas Montag und Martina Kern

1 Montagmorgen auf der Palliativstation in Köln Am Wochenende waren sieben Patienten verstorben. Sieben Patienten von zwölf, die am Freitagabend noch da waren. Mehr als die Hälfte der Patienten an einem Wochenende. Es fiel der Kollegin schwer, alle Namen zu nennen, über jedes einzelne Sterben zu sprechen. Auf meine Nachfrage, wie das zu schaffen gewesen sei, sagte sie: »Irgendwann habe ich nicht mehr gezählt, nur noch abgearbeitet.« Erst langsam wird im Nachhinein aus der Häufung von Todesfällen, einem dichten, nahen und nicht abreißen wollenden Geschehen von Sterben und Tod, ein Erleben und Erinnern: ein Nebeneinander einzelner Patienten, einzelner Leben, die zu Ende gegangen sind. Erinnerungsstücke finden sich wieder mit Namen zusammen, mit Gesichtern, mit Gerüchen, Worten, Gedanken und Gefühlen. Es braucht Zeit, bis sich das alles sortiert hat, und noch eine Woche später berichtete eine andere Kollegin über eine eigentümliche Leere, eine bedrückende Atmosphäre, die sich auf der Station breitgemacht hatte. Diese hielt eine Weile an, auch als die leeren Betten wieder belegt waren, als neue Patienten aufgenommen waren, als das normale Alltagsleben der Station wieder begonnen hatte. Am darauffolgenden Donnerstag bei der wöchentlichen Teambesprechung trafen sich manche von denen, die an diesem Wochenende Dienst hatten. 15 von den 45 Minuten, die die Besprechung dauerte, waren vorgesehen, über das Sterben in der letzten Woche zu sprechen. 15 Minuten, in denen alle Verstorbenen der vergangenen Woche noch einmal benannt wurden. Eine Kerze brannte auf dem Tisch, und jeder erzählte, wenn ihm etwas zu den genannten Patienten erwähnenswert erschien. Die Liste war lang. Neun Namen in sieben Tagen, davon sieben an zwei Tagen. Es reichte kaum die Zeit, was waren 15 Minuten für das Erinnern an neun Verstorbene. Manchmal ist es zu viel, dachte ich … und wandte mich am Ende der Besprechung meinen nächsten Aufgaben zu.

2 »Wir sind keine Sterbestation« – Anspruch und Wirklichkeit In den Jahren der Arbeit auf Palliativstationen war in unterschiedlicher Intensität dieser Satz immer wieder von Kollegen aus der Pflege, aber auch von anderen Mitarbeitern zu hören: »Wir sind eine Palliativstation und keine Sterbestation.« Immer wieder ist

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mir dieses selbst gegebene Grundprinzip im Selbstverständnis einer Palliativstation begegnet: »Wir nehmen keine sterbenden Patienten auf, weil es nicht primärer Auftrag der Palliativstation ist, Sterbende bis zum Lebensende zu betreuen, sondern Palliativpatienten so zu stabilisieren, damit sie wieder nach Hause entlassen werden können. Darin unterscheiden wir uns von einem Hospiz.« Ein wesentliches Merkmal für die Palliativversorgung ist, dass medizinische Krankheitsdiagnose und Krankheitsphase keine alleinigen Anlässe für die Versorgung darstellen. Diagnoseunabhängig und bedürfnisorientiert soll die Betreuung sein und insbesondere auf einer Palliativstation auf die aktuellen Symptome und individuellen Bedürfnisse des Patienten konzentriert. Dazu gehört dann aber auch die Betreuung in der Sterbephase. Merkwürdig abweichend von diesem Grundprinzip kann es auf Palliativstationen immer wieder vorkommen, dass dieses Prinzip infrage gestellt wird, z. B. wenn sterbende Patienten zur Aufnahme angemeldet werden. Dann wird der offensichtliche Beginn der Sterbephase als Grund gesehen, die Aufnahme kritisch zu hinterfragen, den Patienten eher nicht (mehr) aufzunehmen, auch wenn durchaus behandlungsbedürftige Symptome vorliegen. In der Diskussion um die Notwendigkeit der Aufnahme werden im Team häufig drei wesentliche Aspekte genannt, die in diesem Zusammenhang als problematisch für die Umsetzung des spezifischen Behandlungsauftrages einer Palliativstation gesehen werden. 2.1 Die Gefährdung des palliativ-hospizlichen Begleitungsanspruches

Die Zeit, um eine tragfähige Beziehung zum Patienten und seinen Angehörigen aufzubauen, sei zu kurz und der Zustand des Patienten erlaube das für die Begleitung notwendige Kennenlernen nicht. 2.2 Die Gefährdung der Versorgungsstruktur Palliativstation, vor allem in ihrer Außenwahrnehmung

Die Palliativstation wird im Krankenhaus leicht zur Abschiebestation für sterbende Patienten anderer Abteilungen. Mitarbeiter haben Sorge, »missbraucht« zu werden für Arbeiten, Situationen und Krankheitsbilder, die anderen zu schwer und zu belastend sind. Das Team leidet unter diesem Stempel und unter der Missachtung ihrer eigenen begrenzten Belastbarkeit. Sie wollen nicht nur noch Sterbende versorgen müssen. Dem Ziel, Patienten auch wieder zu entlassen, könne nicht ausreichend entsprochen werden – die Palliativstation bekommt den Geruch der Todesstation. Zu fürchten, ein solcher Ort zu sein, damit geht wohl auch die Angst einher, als Team zu stark mit dem Thema Sterben, Tod, Trauer, Siechtum und Leid in Verbindung gebracht zu werden und dafür eine bleibende Zuständigkeit zugeschrieben zu bekommen. 2.3 Die Belastung des Teams durch ein Zuviel an Sterben und Tod

Die Befürchtung, es könne »zu viel werden mit dem Sterben«, macht deutlich, dass es wohl für die Begegnung mit Tod und Sterben eine quantitative und qualitative Belastungsgrenze gibt. Sowohl das Team als kollektive Struktur als auch jeder Einzelne

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können ein Mehr jenseits einer solchen Grenze nicht (er)tragen. Das so befürchtete Zuviel von Sterben und Tod hat zweierlei Dimensionen. So ist es kaum vorstellbar, dass die Zahl der Todesfälle in einem bestimmten Zeitrahmen (z. B. in einer Woche) eine bestimmte Obergrenze übersteigt, ohne dass die Versorgung und Begleitung als besonders belastend empfunden wird oder ihre Qualität leidet. Belastend wird aber auch erlebt, »wenn es zu viel auf einmal ist«. Sowohl das konkrete Erleben solcher Häufungen als auch allein die Vorstellung davon, begründet auf konkreten Erfahrungen und Erinnerungen und führt zu Belastungserleben. Das Erinnern an einzelne Situationen, die intensiv, schwierig, belastend oder komplex waren, die emotional berührt haben und sehr von der besonderen oder nahen Beziehung zum Patienten geprägt waren, lässt es kaum vorstellbar erscheinen, dass dies bei mehreren Patienten gleichzeitig möglich sein könnte. Die Vorstellung, den eigenen Anspruch einer umfänglichen, ganzheitlichen Begleitung nicht ausreichend erfüllen zu können, dürfte sich also bei einer Häufung der Todesfälle noch verstärken. Die Einmaligkeit ist gefährdet und damit die Qualität der Arbeit.

3 Rahmenbedingungen verändern sich – die besondere Situation Palliativstation Palliativstationen sind Orte des Lebens mit dem Sterben und mit dem Tod im Krankenhaus. Orte, an denen es darum geht, Patienten im Krankenhaus angesichts des absehbaren und mehr oder weniger nah bevorstehenden Todes zu begleiten, medizinisch zu behandeln, pflegerisch zu versorgen, sich ihnen angemessen und ihren Bedürfnissen entsprechend zuzuwenden. Es geht darum, das Sterben zuzulassen, es als Teil der Krankheit zu betrachten, es weder zu beschleunigen noch zu verlängern. Dies impliziert, das Sterben in seiner eigenen Dynamik, seinem eigenen Verlauf und als individuellen Prozess zu akzeptieren und zu ermöglichen. »Aber auch das Engagement und die Beanspruchung der Mitarbeiter, zusammen mit all den Leiden, die daraus erwachsen können, sind in dieses Konzept mit einzubeziehen« (West, 1993, S. 17). Den Versorgungsauftrag in Balance zu bringen mit den Belastungsgrenzen jedes einzelnen Teammitglieds, ist ein wichtiger Aspekt bei der Entwicklung von Versorgungsstrukturen in der Hospiz- und Palliativarbeit. Diese Belastungsgrenzen ergeben sich einerseits fachunabhängig aus den berufs- und strukturspezifischen Besonderheiten wie z. B. körperlicher Beanspruchung und Schichtarbeit, hoher individueller Verantwortung und Haftbarkeit, Strukturdefiziten im Gesundheitswesen (z. B. zu geringe Personalausstattung), geringer gesellschaftlicher Wertschätzung von Gesundheitsberufen wie Gesundheits-, Kranken- und Altenpflege u. v. a. m. Gleichzeitig aber sind emotionales Engagement und das zutiefst empfundene Berührtsein in der Begleitung und Versorgung sterbender Menschen unvermeidbar und notwendig. Es besteht auch die Möglichkeit, durch das gleichzeitige Konfrontiertwerden mit der eigenen Endlichkeit, dem eigenen Tod, dem möglichen eigenen Leid des Begleiters auch die eigenen Belastungsgrenzen

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besonders intensiv zu spüren. In einer Häufung der Sterbefälle stellt dieses Erleben dann eine überproportionale Belastung dar. Neben der Tatsache, dass es auf einer Palliativstation qua Auftrag schon eine Häufung von Todesfällen gibt – verglichen mit der diesbezüglichen Dichte der Allgemeinstationen im Krankenhaus –, stellt die Häufung des Sterbens innerhalb eines kurzen Zeitraumes dennoch ein besonderes Problem dar. Dies muss beim Aufbau und der Begleitung der Teams sowie bei der Gestaltung von Rahmenbedingungen und Strukturmerkmalen in besonderer Weise berücksichtigt werden. Eine Häufung von Todesfällen, wie im Eingangsbeispiel beschrieben, ist so sicher außergewöhnlich, dennoch aber ein Indiz dafür, wie sich die Aufgabe von Palliativstationen in den letzten Monaten und Jahren verändert hat und immer noch verändert. Auf unserer Palliativstation an der Universitätsklinik in Köln hat sich die Zahl der Patienten mit einer Aufenthaltsdauer von zwei bis fünf Tagen im Jahr 2010 um ca. 200 % erhöht, der Anteil der verstorbenen Patienten ist weiter gestiegen, und immer häufiger kommt es vor, dass Patienten mit sehr weit fortgeschrittener Erkrankung, vielfältigen und komplexen Symptomen, hoher Belastung der Angehörigen und absehbar sterbend aufgenommen werden. 1994 sprachen Mitglieder des damaligen Kölner Teams nach einem Vortrag mit Frau Dr. Field, Leiterin eines Hospizes in England. Stolz hatten sie von der hohen Zahl von 70 % an entlassenen Patienten berichtet. Sie antwortete darauf: »Seid vorsichtig, wenn ihr den Erfolg der Arbeit an der Anzahl der entlassenen Patienten messt. Irgendwann werdet ihr ein Umkippen der Statistik erleben. Dann werden mehr Patienten auf der Palliativstation versterben als entlassen werden. Das ist auch unsere Erfahrung in England seit ein paar Jahren. Dann seid ihr aber auf dem richtigen Weg. Wenn die ambulanten palliativen und hospizlichen Strukturen gut aufgebaut sind, werden die Patienten ihrem Wunsch entsprechend länger zu Hause versorgt, auch wenn zwischendurch Krisensituationen auftauchen. Dann werden nur noch die Patienten aufgenommen, bei denen es am Lebensende zu Hause wirklich nicht mehr geht.« Diese Aussage wurde damals sehr skeptisch aufgenommen. Es stellt sich zunehmend häufiger nicht mehr zuerst die Frage, ob und wie die weitere Versorgung nach der stationären Aufnahme organisiert und gestaltet und die individuelle Begleitung konzeptionell entwickelt werden kann, sondern es geht darum, das Sterben auf der Palliativstation innerhalb eines kürzesten Zeitraums irgendwie zu organisieren und zu gestalten oder auch überhaupt zu ermöglichen. Viele Anfragen an unseren palliativmedizinischen Konsiliardienst beziehen sich darauf, dass Patienten mit hoher Symptomlast und gleichzeitig weit fortgeschrittener Erkrankung in der Sterbephase auf die Palliativstation aufgenommen werden sollen. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden die Patienten auf »ihrer« Station betreut, nicht selten schon längere Zeit mit Unterstützung des Konsiliardienstes. Die Beratung der Teams vor Ort, die frühe palliativmedizinische Mitbehandlung, manchmal auch die Wünsche der Patienten, führen dazu, dass, wenn überhaupt, erst spät eine stationäre, spezialisierte Palliativversorgung notwendig wird oder für notwendig gehalten wird. Eine wichtige Aufgabe von

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spezialisierten Einrichtungen wie einer Palliativstation ist es, die Fachkompetenz von Ärzten, Pflegenden und den anderen an der Versorgung beteiligten Berufen in Fragen der Palliativversorgung außerhalb der Palliativstation zu erhöhen. Dies führt vermutlich dazu, dass sich das Aufgabenprofil der Palliativstationen selbst verändert und es vermehrt zu extrem späten, dann notfallartigen Einweisungen kommt. Die Etablierung von palliativmedizinischen Versorgungsstrukturen in der ambulanten und häuslichen Versorgung sowie die Arbeit des multiprofessionellen Konsiliardienstes entfalten auch auf diese Weise ihre Wirkung. Es geht in vielen Fällen nicht mehr darum, die Patienten und ihre Familien auf einen länger dauernden Krankheitsverlauf vorzubereiten und mit einem umfassenden, ganzheitlichen Konzept, das darauf ausgelegt ist, über eine längere Zeit wirksam zu sein, die Versorgung und Begleitung unter diesem Aspekt zu sichern. In den Mittelpunkt der Arbeit von Palliativstationen rücken immer mehr kurzfristige medizinische, pflegerische oder psychologische Kriseninterventionen. Die stationäre, spezialisierte palliativmedizinische Behandlung wird in ihrer Dauer kürzer und gleichzeitig komplexer und intensiver. Angesichts solcher hochanspruchsvollen, vielschichtigen und manchmal auch akuten Versorgungssituationen nah am Lebensende verändern sich der Handlungsauftrag für das Team und die für den Patienten zu definierenden Betreuungsziele. Patienten werden tatsächlich häufiger zum Sterben aufgenommen. Diese Tatsache wird von vielen Teammitgliedern als Paradigmenwechsel erlebt, von einem beziehungsbasierten, auf der umfassenden Kenntnis des Patienten und seiner Familie beruhenden individuellen Gesamtkonzept hin zu einer kurzfristigen, meist (nur) medizinischpflegerisch ausgerichteten Symptombehandlung in der Sterbephase. Belastungserleben beruht also nicht nur auf einer quantitativen Häufung von Sterbefällen allein, sondern auch darauf, dass mit dieser Häufung für sicher und unumstößlich gehaltene Grundsätze der Palliativversorgung punktuell und zeitweise verlassen werden müssen. Häufung bedeutet nicht nur die Zunahme der Gesamtzahl der verstorbenen Patienten in Verteilung über einen längeren Zeitverlauf (z. B. Anstieg der absoluten Zahl der Verstorbenen pro Jahr), sondern auch die Häufung von kürzeren Zeiträumen, in denen mehrere Patienten parallel versterben. Die in der Studie (Müller, Pfister, Markett und Jaspers, 2009) genannte kritische Anzahl von 4,4 Todesfällen pro Woche ist vom Belastungserleben insofern unterschiedlich zu bewerten, je nachdem, ob die vier Patienten verteilt über die Woche oder an einem oder zwei Tagen versterben. Waren Zeitfenster, in denen das vorkam, in den vergangenen Jahren eher selten, wird deren Häufung von Mitarbeitern immer öfter beklagt. Hinzu kommt die unterschiedliche Qualität der einzelnen Sterbesituationen.

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4 »Am Wochenende ist es besonders schlimm« – Belastung ist vorhersehbar Zeiten, in denen die personelle Besetzung der Station geplant und vorhersehbar geringer ist (z. B. an Wochenenden, nachts oder an Feiertagen), stellen Umstände dar, unter denen das Belastungserleben des Teams besonders stark ist. Diese zusätzliche Belastung entsteht vor allem dann, wenn arbeitsorganisatorische Grundannahmen gelten, die den Gegebenheiten entsprechen, welche typisch für klinische Abläufe und Arbeitsspitzen im Akutkrankenhaus und in der kurativen Medizin sind. Dieses Modell kann nicht ohne Weiteres auf die Arbeit von Palliativstationen übertragen werden. Das Sterben entzieht sich der gewohnten und gewünschten Planbarkeit von Arbeitsabläufen, und so erfordert die Betreuung sterbender Menschen eine möglichst hohe Kontinuität in der personellen Besetzung, unabhängig von Tageszeit und Wochentag. Im Erleben vieler Teams sind es gerade die nach herkömmlichem Verständnis sogenannten ruhigen Zeiten, in denen besonders viele Patienten versterben, nachts, am Wochenende, an Feiertagen. Auch wenn das quantitativ vielleicht nicht unbedingt belegbar ist, wird deutlich, dass mit den ruhigen Zeiten meist die Perioden mit einer geringeren Personalausstattung gemeint sind. Zusätzlich zu den durch weniger Personal mit gleichem Versorgungsaufwand zu betreuenden Patienten kommt eine zu diesen Zeiten durchaus übliche höhere Angehörigenpräsenz hinzu (naturgemäß das arbeitsfreie Wochenende für die Angehörigen), insbesondere dann, wenn es sich um sterbende Patienten handelt. Dass hier ein höheres Belastungserleben bei einer Häufung von Sterbefällen gewissermaßen vorprogrammiert und absehbar ist, muss bei der Personal- und Dienstplanung auf Palliativstationen Berücksichtigung finden.

5 Krasse Realitätswechsel »Die Sterbephase und insbesondere der Moment des Todes sind und bleiben etwas sehr Besonderes. Daran gewöhnt man sich nie«, sagte mir eine Kollegin auf der Palliativstation. Auf die Frage, was dieses Besondere kennzeichnet, antwortete sie: »Es ist der Übergang der Welt der Lebenden zu der Welt des Todes. Der Grenzpunkt, an dem der Sterbende allein weitergeht. Dieser Moment gebietet eine hohe Präsenz und Ruhe. Ich bin dann ganz beim Sterbenden oder bei dem Verstorbenen. Wenn die Ruhe fehlt, wenn zu viele Menschen in kurzer Zeit sterben, ich nicht verweilen kann, dann wird es schwer. Dann sind die Realitätswechsel zwischen den Welten zu häufig und krass. Dann spüre ich nichts mehr. Noch bin ich intensiv beim Verstorbenen, da klingelt schon der (noch lebende) nächste Patient oder das Telefon, und ich hüpfe zwischen den Welten, pflege hier, berate dort, betrete dann wieder in Stille und Andacht das Zimmer des Verstorbenen. Das ist eine große Anstrengung für mich. Bei einer Häufung von Todesfällen verdichtet sich dieses Gefühl der Überforderung durch diese Koinzidenz. Es entsteht ein Spagat zwischen der Würdigung des einzigartigen Geschehens in der

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Begleitung einerseits und der Versorgung der anderen symptombelasteten Patienten andererseits.« Besonders ist auch der Umgang mit dem Toten. Noch soeben haben wir ihn als Lebenden begleitet, da ist er nach dem letzten Atemzug ein Verstorbener. Kurze Zeit danach wird er von uns versorgt, so wie es seinem (mutmaßlichen) Willen entsprochen hätte. In der Zeit verändert sich der Körper, formt sich das Gesicht des Toten. Einige Stunden später wird der Verstorbene in die Prosektur gebracht, im Krankenhaus häufig kein schöner Ort. Der Verstorbene wird dann aus dem Bett auf eine schmale Trage gebettet und dann in eine Kühlbox geschoben, bis der Bestatter ihn abholt. Der Mensch, den man einmal gekannt hat, ist nun zum Leichnam geworden, nur noch die körperliche Hülle wird versorgt, der tote Körper wird zu einer Art Sache, zu der sich die Beziehung distanziert. Dieser innere Prozess und das dazugehörige Gefühl der Distanzierung ermöglichen es uns, den Verstorbenen aus der Geborgenheit der Station abzugeben. Diese Distanzierung vollzieht sich auch, wenn der Bestatter auf die Station kommt, um den Verstorbenen mitzunehmen. Auch dieser Prozess, wenn er als einmalig und einzigartig wahrgenommen, begleitet und gewürdigt werden soll und will, braucht Zeit und eine Pause. Sterben zu viele Patienten in kurzer Zeit und fehlt anschließend die Zeit zur Reflexion und einer Würdigung der Situation und damit des Verstorbenen, geht der Beziehungszugang zum Patienten verloren, und es droht ein formales Abarbeiten mit ausschließlich emotionaler Distanz. Die Häufung an Todesfällen wird sich nicht verhindern lassen, deshalb ist ein sorgsamer Umgang mit den eigenen Ressourcen im Team wichtig. Alle Teammitglieder sollten für sich eine persönliche Form des Abschieds finden, denn auch sie dürfen sich von dem Tod eines Menschen berühren lassen und ihren Gefühlen Ausdruck verleihen.

6 Die Gefühlsflut der Zugehörigen begleiten Nach dem Versterben eines nahestehenden Menschen befinden sich die Zugehörigen in einer Ausnahmesituation. Selbst die, die sich schon länger mit dem nahenden Versterben auseinandergesetzt haben, erleben im Moment des Todes einen abrupten, oft unerwarteten Trennungsschmerz, der sich in vielfältigen Gefühlen äußern kann. Vielen fällt es schwer, ihre Unsicherheit und Ängste, ihre Wünsche und Impulse im Umgang mit dem Verstorbenen zum Ausdruck zu bringen. Für die Zugehörigen ist dies eine fremde und ebenfalls einzigartige Situation, die von großer Bedeutung ist. Gerade in dieser Situation bedürfen sie des Schutzes, der Unterstützung und der Begleitung. Der Anblick des Verstorbenen und die Atmosphäre im Raum prägen sich vielen Zugehörigen tief ein. Viele Fragen tauchen auf, manchmal ist da auch nur große Stille, Fassungslosigkeit oder starre Erschütterung. Hier ist ein wichtiger Auftrag des Palliativteams. Gelingt es, eine Situation zu gestalten, die es den Zugehörigen ermöglicht, bewusst und individuell Abschied zu nehmen, so ist ein wichtiger Zugang zur Trauerarbeit erfolgt. Ziel ist dabei,

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die Spannung zwischen der leibhaftigen Wirklichkeit des Todes und dem gefühlsmäßigen Nicht-wahrhaben-Wollen dieses Ereignisses nicht aufzulösen, sondern durch den Begleiter erfahrbar und aushaltbar zu machen. Wegen der im letzten Jahrhundert seltener gewordenen Todeserfahrung innerhalb der Familien bestehen oftmals große Unsicherheiten im Umgang mit Toten. Unwissenheit, Unsicherheit, Tabus, Mythen und die Angst davor, etwas falsch zu machen, prägen die Situation. Erschwerend kommt hinzu, dass manche Menschen ihren eigenen Gefühlen nicht mehr vertrauen und sich daher nicht von ihnen im Umgang mit dem Verstorbenen leiten lassen. Diese Situation erfordert eine hohe Sensibilität auf Seiten der Begleiter. Aufgabe ist es nun, die Zugehörigen zu ermutigen, ihre eigenen Impulse zu erspüren und ihre individuellen Rituale zu gestalten. Bedürfnisse der Hinterbliebenen sollten sensibel erforscht werden (»Wollen Sie alleine sein? Wünschen Sie jemanden an Ihrer Seite? Möchten Sie bei der Versorgung des Verstorbenen anwesend sein und mithelfen?«). Die Körperpflege des Verstorbenen spielt in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. Sie dient nicht ausschließlich der Hygiene, sondern der würdevollen Gestaltung des Abschieds. Über das taktile Erleben wird der Tod des Patienten begreifbar. In den Pflegeleitlinien der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (Kern, 2010) ist deshalb formuliert, dass Angehörige ermutigt werden sollen, bei der Versorgung des Toten mitzuwirken. Dabei sollten alle Maßnahmen, die getroffen werden, überlegt und bewusst erfolgen, nicht hilfreich ist das mechanische Abarbeiten einer standardisierten Maßnahmenliste. Dies ist für Mitarbeiter des Palliativteams eine hohe Anforderung. Oftmals gibt es den Impuls, den Verstorbenen allein zu versorgen und die Zugehörigen danach in das Zimmer zu bitten, um den Verstorbenen anzuschauen. Grund ist hierfür möglicherweise die Vorstellung, dass alle Nahestehenden mit der Situation überfordert sein könnten. Darüber hinaus beschreiben viele Mitarbeiter, dass sie für sich auch die Zeit brauchen, mit dem Verstorbenen allein zu sein. Eine Kollegin beschrieb es so: »Ich versorge die Verstorbenen lieber allein oder mit einer Kollegin zusammen. In dieser Zeit versuche ich jedes Mal neu, die Gewalt und die Unverstehbarkeit des Todes zu realisieren, mich dann zu sammeln. Erst danach bin ich wirklich bereit, die Familie und Freunde zu integrieren. Fehlt mir diese Möglichkeit, ist meine Sensibilität direkt bei den Zugehörigen, die die ganze Aufmerksamkeit benötigen. Dann erlebe ich den Moment erst später, wenn die Gefühlsflut abgeebbt ist und wir alle miteinander meist stumm verweilend noch einen Moment am Sterbebett sitzen, oder auch gar nicht mehr.« Versterben viele Patienten, verdichtet sich das Erleben, die Gefühle können nicht abgebaut werden und kumulieren bei den Mitarbeitern. Es ist so etwas wie eine Überdosierung, und es gibt, ähnlich wie bei den Medikamenten, einen Überhang, eine anschließende Ermüdung, die man nicht kontrollieren kann, sondern nur aushalten. Das ist unendlich kraftraubend und nicht zu kontrollieren. Aufgabe eines Teams ist es, eine Atmosphäre und einen Raum zu schaffen, in dem diese Über-Forderung thematisiert werden kann. Darüber hinaus ist es wichtig, dass jedes Teammitglied in Eigenverantwortung die eigene Belastung erkennt und selbstständig Strategien und Ruhephasen organisiert.

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7 Unterschiedliche Erfahrungshintergründe werden zur Belastung Ein weiterer Aspekt des Belastungserlebens bei vielen Todesfällen scheint auch die Berufsgruppenzugehörigkeit zu sein. Während sich bei der Häufung gleichzeitig sterbender Patienten die Belastung im Pflegeteam zumindest quantitativ auf mehrere Schultern verteilt, liegt die Verantwortung bei anderen Berufen oft nur bei einzelnen Personen. Insbesondere für die medizinische Behandlung und ärztliche Betreuung ist meist ein Arzt für die gesamte Station zuständig. Die oben genannte Verdichtung von Gefühlen und Anforderungen ist insbesondere für neue Mitarbeiter fremd und ungewohnt. Die ärztliche Behandlung in der Sterbephase als alleiniger Behandlungsauftrag, so berichten z. B. besonders junge Ärzte, die zu Ausbildungszwecken für eine begrenzte Zeit auf der Palliativstation hospitieren, ist ungewohnt und stellt besonders angesichts anstehender Therapieentscheidungen, vor allem auch im Sinne einer Therapiebegrenzung, eine besondere Herausforderung dar. »Selbst wenn es Unterstützung durch erfahrene Ärzte gibt, so steht man letztlich allein und schutzlos am Sterbebett oder muss Angehörigen den Tod ihres geliebten Menschen mitteilen. Daran gewöhne ich mich nie«, klagte eine ärztliche Kollegin. »Und wenn ich es oft machen muss, wird das Gefühl, mit allem allein dazustehen, immer größer, auch wenn ich weiß, dass dies eigentlich unfair ist, denn alle bieten Unterstützung an. Aber in der jeweiligen Situation bin ich es ja ganz alleine, die die Todesnachricht überbringt.« Angehörige weiterer Berufe wie Sozialarbeiter, Psychologen, Physiotherapeuten und Seelsorger oder in bestimmten Funktionen Tätige, wie z. B. Case Manager, erleben einen fehlenden Anschluss an das Team, fühlen sich einsam, vermissen den Austausch in der eigenen Berufs-/Funktionsgruppe oder erleben ihn eher als belastend, da niemand die Situation versteht, der sie nicht selber einmal erlebt hat. Sie sind somit in besonderer Weise auf die Einbindung in das multiprofessionelle Team angewiesen.

8 Was ist zu tun? – Belastung hat ihre Grenzen Inwieweit die in der Studie von Müller, Pfister, Markett und Jaspers (2009) herausgearbeiteten Schutzfaktoren und Strategien des Umgangs mit den entstehenden Belastungen auch in Situationen wirksam sind, in denen sich die Todesfälle häufen, kann nicht genau abgeleitet werden. Aufgrund der Tatsache, dass die kritische Todeszahl bei unterschiedlichen Einflüssen sinkt (z. B. bei Spannungen im Team), muss aber davon ausgegangen werden, dass besonders dann eine hohe Belastung entsteht, wenn sich Todesfälle summieren und das Team seiner in sich selbst angelegten eigentlichen Schutzfunktion füreinander z. B. aufgrund der vorhandenen Spannungen nicht mehr nachkommen kann. Neben der Entwicklung einer besonderen Kultur der Kommunikation und des Miteinanders im multiprofessionellen Team sowie dem Zulassen und gezielten Fördern von wichtigen Entlastungsstrategien wie Ritualen, Humor, Teamarbeit und Ähnliches sind erfahrungsgemäß für den Umgang mit der besonderen Häufung von Todesfällen weitere Aspekte wie z. B. Rahmenbedingungen zu berücksichtigen.

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8.1 Sich ändernde Rahmenbedingungen akzeptieren lernen

Viele Mitarbeiter auf Palliativstationen und Hospizen arbeiten dort schon seit Jahren und haben vielfach in ihren Einrichtungen als Pioniere die Hospiz- und Palliativarbeit vorangebracht. Eines ihrer wichtigsten Anliegen, neben der Verbesserung der Versorgung sterbender Menschen in ihrem Krankenhaus in ihrer Region, war und ist es, entsprechende Versorgungsstrukturen auch außerhalb der Palliativstation zu entwickeln und das notwendige Wissen überall dorthin weiterzugeben, wo Palliativpatienten auch noch behandelt werden. Nun erleben sie mit den Früchten ihrer Arbeit und mit den sich ändernden gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen (z. B. die Etablierung von Palliativversorgung in Form der »Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung« [SAPV] in der Sozialgesetzgebung und damit im Leistungsrecht) auch die damit einhergehenden strukturellen Veränderungen für ihr eigenes Tun. Sie müssen sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass sich die Palliativversorgung insgesamt weiterentwickelt und sich damit auch die Rahmenbedingungen für ihre unmittelbare Arbeit ändern. Palliativstationen sind nun nicht mehr der einzige Ort, an dem professionelle Palliativversorgung stattfindet. Längst haben viele andere medizinische Fachgebiete und Versorgungsbereiche im Gesundheitswesen diesen Auftrag erkannt und begonnen, entsprechende Versorgungsstrukturen zu etablieren. Dies hat Wirkung und ist bis hin zum alltäglichen Ablauf einer Palliativstation spürbar. Mit der Aufnahme von Patienten, die schwerer betroffen sind und deren Krankheit weiter fortgeschritten ist bis hin zum Eintritt in die Sterbephase, erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, mehr sterbende Menschen auf der Palliativstation behandeln zu müssen. Dass die Zahl der Todesfälle auf der Station steigt, ist anzuerkennen. Dass sich der Kontakt zu Leid, Tod, Sterben und Trauer noch weiter intensiviert und auch bei einem Zuviel zur Belastung werden kann, mag auch für erfahrene Mitarbeiter eine neue, bisher so nicht bekannte Erfahrung sein. Trägereinrichtungen von Palliativstationen und Hospizen sind aufgefordert, durch transparente Darstellung ihrer Strategien für die Entwicklung der Palliativversorgung den etablierten Teams deutlich zu machen, welche veränderten Aufgaben auf sie zukommen werden und wie diesen Veränderungen begegnet werden soll. Beispielweise wird die Einrichtung eines palliativmedizinischen Konsiliardienstes oder eines ambulanten Palliativteams im Versorgungsgebiet einer Palliativstation dazu führen, dass nicht nur die Versorgungsmöglichkeiten erweitert und verbessert werden, sondern dass sich vorhandene Behandlungskonzepte auf der Palliativstation selbst verändern müssen und werden. Solche Entwicklungen zu antizipieren und die Mitarbeiter auf den Stationen darauf vorzubereiten, muss Bestandteil von Organisationsentwicklung im Palliativbereich sein. 8.2 Dem Belastungserleben Raum und Zeit geben

Neben der Beteiligung und Information der Teams über sich ändernde Rahmenbedingungen müssen die Arbeitsbedingungen auf den Palliativstationen so gestaltet

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sein, dass sie dem erhöhten Belastungserleben entsprechen. Dazu gehören neben einer ausreichenden Personalausstattung und einer hohen Qualifikation der Mitarbeiter auch Entlastungsangebote. So muss strukturell ausreichend Raum und Zeit bereitgestellt sein, das Erlebte zu reflektieren und miteinander im Team zu teilen. Supervisionsangebote können ein wichtiger Beitrag sein, ersetzen aber nicht den alltäglichen Austausch. Es sind begrenzte Zeitfenster für Besprechungen und Austausch von Gefühlen genau für diesen Zweck vorzusehen. In der wöchentlichen Teambesprechung, wenn ein vielleicht auch kurzes gemeinsames Zurückdenken alle miteinander innehalten lässt, kann ein Gefühl des gemeinsamen (Er)Tragens entstehen, das es möglich macht, weiterzugehen. Ein besonderes Problem kann darstellen, wenn die durch das Versterben von Patienten frei gewordenen Betten so schnell wie möglich wieder belegt werden müssen. Wirtschaftliche Zwänge, aber auch vorhandene Wartelisten können dazu führen, dass ein hoher Belegungsdruck entsteht, der das Belastungserleben noch verstärkt. Hier gehört es zur Aufgabe der Leitung, die nächsten weiteren Schritte gemeinsam im Team zu planen, die vorhandenen Notwendigkeiten für Neuaufnahmen transparent zu machen und dafür zu sorgen, dass besonders belastete Mitarbeiter durch eine flexible Dienstplangestaltung entlastet werden können.

Literatur Kern, M. (2010). Palliativpflege Richtlinien und Pflegestandards (6. Aufl.). Bonn: Pallia Med Verlag. Müller, M., Pfister, D., Markett, S., Jaspers, B. (2009). Wie viel Tod verträgt das Team? Eine bundesweite Befragung der Palliativstationen in Deutschland. Schmerz, 23 (6), 600–608. West, T. (1993). Wie ein interdisziplinäres Team funktioniert. In C. Saunders (Hrsg.), Hospiz und Begleitung im Schmerz. Freiburg i. B.: Herder.

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»Es sind ja nicht nur die Patienten …« Besondere Beziehung zu den Zugehörigen als Belastungsfaktor Andrea Gasper-Paetz

1 Vom Selbstverständnis der Zugehörigenbegleitung in der Palliative Care In der Hospiz- und Palliativbetreuung werden Patienten in ihrer letzten Lebensphase zu einem Drittel von ihren Ehepartnern allein, zu zwei Drittel von mehreren Zugehörigen betreut, und zwar häufig in der Kombination von Ehepartnern und erwachsenen Kindern (Ramirez, Addington-Hall und Richards, 1998). Die moderne Hospizbewegung hat frühzeitig die Bedeutung der Familie und des sozialen Umfeldes bei schwerstkranken Patienten erkannt und betrachtet diese in Anlehnung an Cicely Saunders als »unit of care«. Sie fordert »die Bereitstellung eines Unterstützungssystems für die Bezugspersonen der Patienten und Patientinnen, das auch den Angehörigen Hilfestellung bei der Bewältigung der vielfältigen mit dem Krankheitsprozess verbundenen Belastungen und der Trauerarbeit bietet« (zitiert nach Borasio und Volkenandt, 2006). »Grundlage von Palliative Care ist die Suche nach einer Möglichkeit, mit dem Patienten und der Bezugsperson in Beziehung zu treten« (Davy und Ellis, 2003, S. 28). »Bleiben die Angehörigen im Prozess der Pflege unberücksichtigt, ist diese oft wenig effizient und effektiv« (Steudter, 2004, S. 27). Angehörigenbegleitung ist somit professionelle Beziehungsarbeit, die einerseits dem übergeordneten Ziel der Realisierung von Patientenwünschen dient, andererseits auch den Angehörigen eine eigene wesentliche/gleichwertige/gleichrangige Rolle im Begleitungskontext erschließt.

2 Wer sind die Angehörigen? Die Definitionen zum Begriff der Angehörigen sind vielfältig: »Als Angehörige werden all diejenigen Personen bezeichnet, die sich in einer vertrauten, häufig auch verpflichtenden Nähe zum Patienten befinden und somit neben Familie, Familienangehörigen auch Freunde oder Lebensgefährten sein können« (Kathriner, 2007, S. 4). M. Gaspar behauptet: »›Die‹ Angehörigen gibt es nicht mehr. Je nach ihrer Stellung im Familiensystem sind sie Partner, Eltern, Kinder oder Geschwister« (Gaspar, 2009, S. 16). Kerstin Lammer spricht von »Zugehörigen« (Lammer, 2004, S. 14). Der von ihr gewählte Terminus umfasst sowohl die Angehörigen als auch alle diejenigen, die dem Sterbenden nahestehen, also Verwandte, Freunde, Kollegen, Nachbarn und ehrenamt-

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liche Begleiter. Der Begriff Zugehörige drückt stärker die Teilhabe aus. Sie sind Teil vom Bezugssystem und nehmen am Patientenschicksal in besonderer Weise Anteil. Sie stehen in direkter Nähe und Beziehung. Die Bezeichnung Angehörige läuft Gefahr, im Verständnis von »Anhängsel des Patienten« verstanden zu werden, und ist in diesem Sinne keine adäquate Bezeichnung für die wichtige Rolle innerhalb der Betreuungseinheit (»unit of care«).

3 Was macht die Beziehung zu Zugehörigen in der Palliative Care besonders? Hier erinnere ich mich spontan an den Beginn meiner Arbeit in der Palliative Care. Ich erlebte die Integration von Zugehörigen als besonders. Das Wort »besonders« charakterisiert einen Zustand außerhalb der Norm und ist oft mit bewertenden Aussagen verknüpft. Das Besondere meines Erlebens bezog sich darauf, dass die Integration der Zugehörigen besser und geplanter war, als ich es je zuvor in meiner Arbeitswirklichkeit erlebt hatte. Da sie im Konzept palliativer Versorgung vorgesehen ist, ja gewünscht und sogar gefordert wird, sehe ich sie im Rückblick und in diesem (Wort-)Sinne heute nicht mehr als etwas Besonderes oder Ungewöhnliches. Die Besonderheit scheint vielmehr in der Art der Beziehung zu liegen, die über das normale, bisher im Arbeitskontext erlebte Maß hinausgeht. Angesichts der existenziellen Lebensbedrohung und des daraus resultierenden Anteilnehmens ist durchaus eine andere Art von Nähe zu Zugehörigen als im Rahmen von Akutversorgung zu erwarten. Gedanken wie »Das könnte auch genauso gut mein Mann, meine Mutter sein« oder »Das würde ich kaum aushalten, wenn es mich beträfe!« überbrücken recht schnell die Kluft zwischen der beruflichen Pflege und der persönlichen Betroffenheit. Die besorgniserregende Vorstellungskraft von der im Zugehörigen vorherrschenden Angst und Trauer schafft Kontakt und möglicherweise auch Identifikation. Dieser Kontakt kann eine Bereicherung für beide Seiten sein, vermag aber auch Spannung und Anstrengung auszulösen. So kann die Beziehung zu den Zugehörigen besonders gut, besonders schlecht, besonders belastend oder besonders bereichernd sein. Immer jedoch ist es eine Beziehung.

4 Zugehörige als Bündnispartner – gemeinsam können wir es schaffen Die nahestehenden Zugehörigen sind unter Wahrung der Selbstbestimmung des Patienten bei der Planung von Behandlung, Pflege und Begleitung nicht nur als Partner der Betroffenen, sondern auch als Partner der Betreuenden zu betrachten. Somit entsteht in gemeinsamer Sorge um den Patienten ein Bündnis zwischen Pflegenden und Zugehörigen. Der Zugehörige wird gewissermaßen zum »Halbprofi«, wenngleich er ebenso »Selbst-Betroffener« ist. Dieser Rollenwandel kann bewusst gewählt oder aber wie in einer Veröffentlichung von Addington-Hall und McCarthy aus dem Jahr 1995

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(zit. nach Hasemann, 2007, S. 373) beschrieben, wie folgt sein: »Menschen, welche mit einem unheilbar und pflegebedürftigen kranken Menschen zusammenleben, gleiten unabhängig von ihrer Eignung oder ihrem Wunsch automatisch in die Rolle der pflegenden Angehörigen.« Demzufolge rutschen Angehörige unfreiwillig freiwillig in die Rolle des Halbprofis und werden auch von uns Professionellen vielfach als solche eingesetzt. Herr S. war an einem weit fortgeschrittenen Dickdarm-Karzinom mit Lebermetastasierung erkrankt. Nach einer notfallmäßigen palliativen abdominellen Operation, bei der man ausschließlich einen Anus praeter als Entlastungsmaßnahme anlegen konnte, wollte er so schnell wie möglich nach Hause entlassen werden. Der aus Afghanistan stammende, vor dreißig Jahren nach Deutschland geflüchtete Patient lebte mit seiner Ehefrau in Bonn. Eine Tochter und ein Sohn waren zu diesem Zeitpunkt unverheiratet und in Düsseldorf wohnhaft. Die älteste Tochter lebte mit ihrem Ehemann und zwei kleinen Kindern in der Nähe. Die jüngste Tochter war alleinerziehende Mutter. Laut Frau S. sei sie psychisch erkrankt und nicht belastbar. Gleich bei meinem ersten Kontakt zu Frau S. erzählte sie mir, dass sie ihren Mann auf jeden Fall zu Hause pflegen möchte, das habe sie ihm versprochen, aber es sei sehr schwer für sie. Die Kinder wolle sie schonen, die hätten ihren Beruf und ihre eigene Familie. Von Beginn der Begleitung an hatte der Patient starke abdominelle Schmerzen, eine ausgeprägte Schwäche und rezidivierende Diarrhoen. Das alles machte eine Einbeziehung der Ehefrau und die Übertragung von Maßnahmen zur Symptomkontrolle und Pflege der AP-Anlage auf sie notwendig. Die ersten Wochen zu Hause, in denen Frau S. ihren Mann täglich zur ambulanten Radiotherapie begleitete, standen im Wechsel von hoffnungsvollem Aushalten hinsichtlich einer positiven Wirkung der Therapie auf der einen Seite und von starker körperlicher und psychischer Belastung der Ehefrau durch wechselhaftes Symptomgeschehen und klinischer Verschlechterung des Allgemeinzustandes des Herrn S. auf der anderen Seite. Trotz allem betonte sie, jedoch mit vernehmbar leiserer Stimme als zu Anfang, dass sie alles für ihren Mann tun werde, es aber sehr schwer für sie sei. Eine Aufgabe im Team bestand darin, die Ehefrau anzuleiten, sie im Verstehen der Symptome und im Verständnis für die Gesamtsituation zu unterstützen. »Danke, dass ich Sie habe«, sagte sie häufiger und »gemeinsam schaffen wir das schon, oder?« In dieser Gemeinsamkeit mit Frau S. versuchten wir, alles möglich zu machen, um dem Wunsch des Patienten – zu Hause gepflegt zu werden und dort sterben zu können – zu entsprechen. Nach Aaron Antonovsky (zit. nach Bengel, Strittmatter und Willmann, 2001) ist Kohärenz einer der wesentlichen Widerstandsfaktoren gegen Stress. Das von ihm beschriebene Kohärenzgefühl entwickelt sich u. a. in der Fähigkeit, Umstände zu beeinflussen, Schwierigkeiten aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer zu bewältigen. Durch das erworbene Fachwissen, wurde Frau S. sozusagen zur Expertin der Krankheitssituation ihres Mannes. Das Wir-Gefühl verbindet. Eine solche Konstellation birgt sowohl Chancen als auch Gefahren in sich. Die Chance ist: Frau S. erfuhr Kraft

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und Zuversicht aus dieser Situation. Sie erlebte das Einbeziehen und verantwortliche pflegerische Handeln für ihren Mann nicht nur als notwendige Voraussetzung zur Sicherung der häuslichen Versorgung, sondern auch als persönliche Aufwertung. Ihre gekonnte Form der Zuwendung wurde als wertvoll und tröstlich wahrgenommen. Das ermöglichte ihr selbst einen angstfreieren Umgang mit der Erkrankung und dem Sterben. Hinzu kam, dass ihr von außen, vom Freundes- und Bekanntenkreis, auch Bewunderung und Respekt vor der mit großem Kraftaufwand erbrachten Leistung gezollt wurde. Frau S. fühlte sich zugehörig zum Team, war Bündnispartner geworden. Sie hatte einen neuen Status, der sie bestärkt hat. Die Gefahr, welche lauert: Nach dem Tod fühlte sich Frau S. dem Team sehr verbunden. Das Empfinden einer großen Nähe, der regelmäßige Austausch, der erlebte Erfolg im Erreichen des gemeinsam gesteckten Zieles, Herrn S. zu Hause sterben zu lassen, das gemeinsame Durchleiden der gesamten Situation führte dazu, dass Frau S. sich in besonderer Innigkeit als Teil des Teams erlebte. Frau S. wollte diese Beziehung und den neu erworbenen Status – am liebsten auf freundschaftlich-kollegialer Ebene – weiter leben. Legen wir einmal die Lupe auf dieses Erleben, wird schnell deutlich, dass es sich nicht auf einer Ebene der gleichen Ausgangslage vollzieht. Wir als Profis sind zwar situativ nah, haben aber in aller Regel Abstand zum Geschehen und damit die Möglichkeit der perspektivischen »Draufsicht« und »Wieder-weg-Sicht«. Der Zugehörige hingegen ist zwar auch situativ nah, hat aber meistens keinen Abstand zur Situation, sondern bleibt mittendrin, und somit fehlt ihm die Möglichkeit der Übersicht und der sich distanzierenden Reflexion. Ist nun das gemeinsame Ziel erreicht, d. h. in diesem Fall der Patient dem Bedürfnis entsprechend zu Hause verstorben, ist für uns der Versorgungsvorgang abgeschlossen und somit auch unsere Beziehung zum Zugehörigen beendet. Für die Zugehörigen jedoch stellt sich dieses Gefüge anders dar. Gerade das Erreichen des gemeinsamen Zieles lässt die Beziehung für sie oftmals noch enger werden. Zugehörigen fällt es häufig schwer, die gewonnene Beziehung zu beenden, da dies gewissermaßen eine zweifache Vereinsamung bedeuten würde: Der Tod nimmt sie aus der Gemeinschaft mit dem Menschen, den sie liebten, und nimmt sie aus der Gemeinschaft mit dem Team, bei dem sie sich geborgen und gestützt fühlten. Sie fallen nach ihrem Empfinden zweimal aus der Gemeinsamkeit in die Einsamkeit. Hinzu kommt, dass das Team oftmals die letzte lebende Verbindung zum Patienten darstellt und das Zerreißen dieses Bandes als erneutes oder nun erst als endgültig verstandenes Sterben ihres verstorbenen Menschen erlebt werden kann. Im Erleben der hauptamtlichen Mitarbeiter werden der Zugehörigkeitswunsch und das Bindungsbedürfnis der Zugehörigen oftmals als Klammern erfahren, als anstrengend empfunden und vor allem als zu viel bewertet. Um diesen Belastungsfaktor zu senken, ist es wichtig, ein reflektiertes, wissendes Verstehen um die sehr unterschiedlichen Bindungsbedürfnisse zu haben. Hieraus resultierend wird deutlich, dass nicht nur der Abschied vom Verstorbenen gestaltet werden muss, sondern auch der Abschied von

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den Zugehörigen einer aktiven Gestaltung (vielleicht in Form eines Rituals) bedarf, damit diese sich aus der vorher notwendig gewesenen Bindung lösen können und wir als Professionelle nicht das erschöpfende Gefühl des »Zu-viel-tragen-Müssens« erleben.

5 Zugehörige als Widersacher – gemeinsam sollen wir es schaffen Während im oben genannten Abschnitt letztlich die gute Zusammenarbeit zum Belastungsfaktor wurde, können auch Situationen als belastend erlebt werden, in denen die Zusammenarbeit mit Zugehörigen nicht gelingt. Auf der Palliativstation wird Frau M. behandelt, gepflegt und umsorgt. Die Symptombehandlung ist herausfordernd, alle Beteiligten strengen sich über ihre Berufsgruppengrenzen hinweg an, der Erfolg der Maßnahmen aber bleibt marginal. Nachmittags kommt Herr M. und überschüttet die Sozialarbeiterin mit Vorwürfen: »Ist das alles, was Sie können, nur reden?« Die Stimmung im Team ist mehrschichtig erschüttert: Die erste Kränkung geschieht auf einer eher unbewussten Ebene, es ist die Kränkung, die der Tod selbst dem Leben zufügt. Menschen sind sterblich, und Menschen wollen leben. Den Teammitgliedern wird mit jedem sterbenden Patienten ein symbolischer Spiegel vorgehalten: »Auch du wirst sterben.« Zudem können die Teammitglieder dem eigenen Anspruch, nämlich Leiden zu lindern und dem betroffenen Patienten eine höchstmögliche Lebensqualität zu ermöglichen, nicht im gewünschten Maße nachkommen. Dies zu erleben, lässt sie ihre eigene Hilflosigkeit und Machtlosigkeit spüren, was für die sogenannten helfenden Berufsgruppen eine wirkliche Herausforderung und besonders schwer auszuhalten ist. Der Vorwurf von Herrn M. trifft daher auf ohnehin schon belastete und in ihrer fachlichen Kompetenz »gekränkte« Teammitglieder. Zweitens werden ihre Bemühungen und Anstrengungen, das Leiden von Frau M. zu mindern und zu mildern, vom Ehemann weder gesehen noch gewürdigt. Durch den Angriff von Herrn M. findet eine weitere Kränkung statt, die dazu führt, dass sie den Ehemann als undankbar und unkooperativ empfinden und abstempeln, weil er mit der Leistung des Teams nicht zufrieden ist. Sie schreiben ihn innerlich ab und strafen ihn möglicherweise mit trotziger Nichtbeachtung: »Dann eben nicht.« Die Situation des Ehemanns ist nachvollziehbar: Herr M. ist mit der Tatsache konfrontiert, dass seine Frau sterben wird und dabei Leid ertragen muss. Dies führt dazu, dass er, der in der Beziehung der Sorgende und Kümmerer war, nun tatenlos zusehen muss. Er muss einsehen, genau dieses Sorgen und Kümmern in der ihm vertrauten Form nicht mehr leisten zu können. Kein noch so großer Einsatz von ihm kann das Leid seiner Frau auflösen. Hinzu kommt, dass die trotz intensiver palliativer Therapie noch vorhandenen und belastenden Symptome bei Frau M. eine Kommunikation und damit eine Verbindung zwischen ihnen verhindern. Herr M. fühlt sich in dieser Situation überfordert, einsam und verlassen. Er weiß seine verzweifelten Gefühle nicht anders auszudrücken als im Vorwurf gegen das Team.

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Für das Team ist er jemand, der in dieser Aggressivität – und sei sie noch so nachvollziehbar in ihrer emotionalen Grundaussage (»Wie kann solches unstillbares Leiden zugelassen werden?« und »Wie unfähig bin ich, hier nicht helfen zu können!«) – ein zusätzlicher Belastungsfaktor geworden ist. Kommunikation und mitfühlende Verbindung finden nun genauso wenig statt wie zwischen den Eheleuten. Herr M. behindert den Ablauf und die Arbeit und ist mit dieser Ausgrenzung als ungeliebter Störfaktor sozusagen einer Verdoppelung seiner Einsamkeit ausgesetzt, die gepaart ist mit dem Gefühl: »Keiner versteht mich.«

6 Zugehörige als Betroffene – »Sieht mich denn hier keiner?« Die im ersten Patientenbeispiel beschriebene Lebenssituation des Herrn S. wurde durch den rasanten Progress der Erkrankung bestimmt, dem der Patient in seiner emotionalen Auseinandersetzung nicht folgen konnte. Er haderte und zweifelte, stellte Therapie und Medikation immer wieder infrage, rang uns Professionellen und seiner Ehefrau in Gesprächen kleinste Zugeständnisse der Medikamentenreduktion ab, bei gleichzeitig wachsender Symptomlast. Die Ehefrau begleitete diesen Prozess ruhig, geduldig und in achtender Haltung ihrem Ehemann gegenüber. Zunehmend klagte Frau S. jedoch über Schmerzen beim Schluckvorgang und ein Druckgefühl im Magen. Die vielfältig wechselnden Symptome des Patienten machten eine hohe Besuchsintensität nötig und zunehmend rückten die körperlichen Symptome von Frau S. in den Blickpunkt. Sie formulierte den Verdacht, dass sie ernsthaft erkrankt sein könnte, und klagte über zunehmende Schwäche und mentale Erschöpfung. Sie beschrieb ihren Zustand unemotional nüchtern, jedoch nachdrücklich. Dies wirkte sich beunruhigend auf Herrn S. aus, da er sich um seine Ehefrau sorgte und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit einer ernsteren Erkrankung seiner ihn pflegenden Ehefrau Gestalt annahm. Er war nicht bereit, über alternative außerhäusliche Versorgungsformen nachzudenken. Frau S. lehnte die Einbindung der Kinder in die Betreuung ab. Sie wollte die Versorgung ihres Mannes gewährleisten, beklagte aber gleichzeitig, den zunehmenden Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein, da sie ja nun selbst erkrankt sei. Eine erste ambulante diagnostische Untersuchung bei Frau S. blieb ohne manifesten Befund bei anhaltenden Beschwerden. Sie war mit diesem Ergebnis nicht zufrieden. Sie erwirkte durch den Hausarzt eine stationäre Einweisung ins Krankenhaus zur weiteren Diagnostik bei ungeklärter häuslicher Versorgungssituation ihres Ehemannes. In dieser Begleitung war zu Beginn der Fokus auf die bedürfnisorientierte Begleitung des Herrn S. mit Befähigung und Stärkung der Zugehörigen gelegt. Zunehmend erweiterte sich der Begleitungsauftrag und die Zugehörige rutschte mit eigenen Bedürfnissen und Problemen in den Vordergrund.

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Die gleichberechtigte Achtung der Belange der Zugehörigen kann unter Umständen das am Anfang der Begleitung formulierte Ziel, das Sterben im häuslichen Bereich zu ermöglichen, beeinflussen oder sogar behindern. Ein anspruchsvolles Arbeitsfeld entsteht, wenn Zugehörigenbedürfnisse oder Wünsche konträr zu dem der Patienten sind, wenn Zugehörige tatsächlich als »Eigene« in den Blickpunkt rücken und ein vom Patientenbedürfnis unabhängiges Anrecht auf Achtung und Wahrung ihrer Anliegen einfordern.

7 Das Teammitglied als Betroffener – »Das kann doch keiner aushalten!« Ein weiterer Belastungsfaktor, der in der Beziehung zu Zugehörigen auftreten kann, ist die ungewöhnlich starke Identifikation. Mascha Kaléko hat in ihrem Gedicht »Memento« geschrieben: »Den eigenen Tod, den stirbt man nur, mit dem Tod der anderen muss man leben.« In unserem Team begleiteten wir einen 27-jährigen Patienten. Mit großer Reife sah er seinem Lebensende entgegen. Es gab viele intensive Kontakte mit ihm, die bereichernd für alle Beteiligten waren. »Im Kontakt mit den Eltern müssen wir aber professionell sein«, sagte eine Kollegin nach einem Hausbesuch. Im Teamgespräch wurde deutlich, dass professionell für sie hieß: unemotional, distanziert. Es wurde verständlich, dass dieses Verhalten ein Selbstschutz für sie war. Sie war im gleichen Alter wie die Eltern, und die Vorstellung, selber ein Kind zu verlieren, war unerträglich für sie. Intuitiv grenzte sie sich besonders stark ab, aus Angst, sich mit dem Schicksal zu identifizieren. Manchmal geht mit solchen Ängsten der magische Glaube einher, dass ein zu intensives Hineingehen in ein fremdes Leid eine Art ansteckende oder anlockende Wirkung haben und ein solches Geschehen auch sie, ihr Kind dadurch unmittelbar treffen könne. Die radikale Abwendung der Kollegin, zumal noch unerklärt, wirkte auf die Zugehörigen wie emotionale Kälte und war für beide Parteien letztlich nicht hilfreich. Identifikation kann es auch mit Gefühlen geben wie Mitleid, Ohnmacht oder Hilflosigkeit. In der Identifikation übernehmen wir die Gefühle der anderen, machen sie zu unseren. Und weil dann häufig etwas im eigenen Gefühlshaushalt in Schieflage kommt und Betreuende versuchen, durch heftiges Gegensteuern diesen wieder ins Lot zu bekommen, sind manche äußerlichen Verhaltensweisen nicht mehr nachvollziehbar in ihrer Abfolge und führen zu Fehleinschätzungen der Handlungen, der Kompetenz und/oder der Beziehung zueinander.

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8 Fragestellungen im Kontakt mit Zugehörigen Auch die folgenden Fragestellungen sollten wir im Kontakt mit Zugehörigen bedenken. 8.1 Sprechen wir die gleiche Sprache?

Begegnung gestaltet sich vielfach über die Sprache. Sie ermöglicht die Weitergabe von notwendigen Informationen, übermittelt tröstende, wertschätzende und stärkende Worte und ist ein elementares Bindungsglied zwischen Patient, Zugehörigen und Helfenden. Unsere Botschaften erreichen jedoch nur dann die erhoffte Wirkung, wenn sie von Zugehörigen auch als solche gehört und verstanden werden. Bedeutsam für die Begleitung kann sein, den Stellenwert von Sprache für den Patienten und seine Zugehörigen zu erkennen, sich darauf einzulassen und Zugang in deren Sprachwelt und Kommunikationsmuster zu erhalten. Auf der Sprachwelle mitschwingen oder nur den richtigen Ton treffen, ist für den Aufbau und die Gestaltung einer Zugehörigenbeziehung wichtig. Zugehörige möchten verstanden werden, damit sie verstehen können. 8.2 Gehen wir im gleichen Tempo?

Wir alle kennen die Aussage von Zugehörigen: »Lassen Sie uns abwarten, wir sehen mal, was das Morgen bringt.« Mit diesen Aussagen verschaffen sich Zugehörige Zeitpuffer, die ihnen ermöglichen, sich kurzweilig den ständigen Veränderungen zu entziehen. Die vermeintlich notwendige Entscheidung wird auf morgen verschoben, nicht selten gepaart mit der unrealistischen Hoffnung, dass eine solche morgen nicht mehr notwendig ist. Oftmals werden durch vorausschauende Pflegeplanung zur Vermeidung von Krisensituationen, z. B. in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, Zugehörige mit richtungsweisenden oder folgeschweren Fragestellungen konfrontiert und zu Entscheidungen aufgefordert. An dieser Stelle ist die professionelle Voraussicht zwar notwendig, sie benötigt jedoch dringend die Rücksichtnahme auf den emotionalen Verarbeitungsprozess und die Achtung des individuellen Tempos jedes einzelnen Zugehörigen. 8.3 Haben wir Bedürfnisse und Erwartungen wirklich geklärt?

Bedürfnisse, Erwartungen und Wünsche sind in der Palliative Care gestaltende und richtungsweisende Bestandteile der Beziehung zwischen Patient, Zugehörigen und professionellen Helfern. Anhand dieser werden Begleitungsziele erarbeitet. Sie haben somit eine hohe Bedeutung, und bei Nichtachtung und Nichtberücksichtigung kann keine tragfähige Beziehung wachsen. Die Bedeutsamkeit der Wünsche und Bedürfnisse ist unbestritten, die radikale Ausrichtung unseres palliativmedizinischen und palliativpflegerischen Handelns an ihnen ist ebenfalls klar, das konkrete Ermitteln und Erfassen dieser Bedürfnisse und Wünsche wird jedoch häufig vernachlässigt oder aber in Form

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von intuitivem Erahnen oder Erspüren erfasst. Dies ist eine große Gefahrenquelle und kann Auslöser für Störungen in der Begleitung sein. 8.4 Sind wir ein Team? – Vom Nebeneinander zum Miteinander

Ein Team besteht aus Menschen, die gemeinsam Verantwortung für bestimmte Aufgaben tragen. Dabei erfüllt das Team meistens eine komplexe oder schwierige Aufgabe, die eine oder verschiedene Einzelpersonen nicht erfüllen können. In diesem Selbstverständnis ist die Kooperation und Wertschätzung jedes Einzelnen mit seinen speziellen Fähigkeiten von großer Wichtigkeit. Aus der bereits am Anfang beschriebenen Bündnispartnerschaft zwischen Zugehörigen und Pflegenden sollte ein Team wachsen, indem Team als tuendes, einfühlsames, achtendes Miteinander verstanden wird. 8.5 Ziele in der Arbeit mit Zugehörigen

Die Arbeit mit Zugehörigen innerhalb der Versorgungseinheit wird geregelter, einfacher und überprüfbarer in ihren Ergebnissen, wenn sie nicht intuitiv abläuft, sondern mit Zielen versehen und an diesen gemessen wird. Das oben beschriebene Team hatte sich entschlossen, sich nach einem Rahmenkonzept zur Gesundheitserhaltung auszurichten. Die Zugehörigen sollten dabei unterstützt werden, in ihrem seelischen und körperlichen Stress einen Halt zu erfahren, der ihnen Ressourcen verfügbar macht, um den Anforderungen gerecht zu werden. Dies sollte sie im Leben halten und ihre Gesundheit nicht beeinträchtigen, vielmehr stabilisieren. Nach dem Konzept der Salutogenese von Aaron Antonovsky wird körperliche und seelische Gesundheit stark vom sogenannten Kohärenzgefühl (Sense of Coherence) beeinflusst und entsteht durch das Zusammenwirken von drei Faktoren: dem Gefühl von Verstehbarkeit, dem Gefühl von Handhabbarkeit und dem Gefühl von Bedeutsamkeit. Büssers (2009, S. 13) beschreibt diese wie folgt: »Verstehbarkeit bezeichnet das Können, auf äußere und innere Einflüsse zu reagieren, diese sinnvoll wahrzunehmen und strukturiert ordnen zu können. Sie meint die Fähigkeit, aus den zunächst chaotisch erscheinenden Stimuli und Informationen des inneren und äußeren Umfelds einen verstehbaren Zusammenhang herzustellen. Dass gerade diese Komponente bei der Abwehr von Stress besondere Bedeutung hat, ist offensichtlich.« Handhabbarkeit bezeichnet die Überzeugung eines Menschen, mit Schwierigkeiten fertig zu werden, und den Glauben an seine Selbstwirksamkeit. Entscheidend ist bei diesem Merkmal, dass man nicht das Gefühl hat, Opfer zu sein: Was auch immer im Leben geschieht, man wird es bewältigen und nicht endlos darunter leiden. Bedeutsamkeit/Sinnhaftigkeit bezeichnet das Ausmaß eines Gefühls, einen Sinn im Leben zu sehen, dass es sich lohnt, Energie in die gestellte Anforderung zu investieren. Was als sinnvoll interpretiert wird, entwickelt sich gar nicht erst zum Disstress, ja im Gegenteil: Es kann sogar als Herausforderung empfunden werden. Es handelt sich um eine emotionale oder motivationale Komponente des menschlichen Erlebens, die sich in der Fähigkeit ausdrückt, Belastungen sowie die zahllosen großen und kleinen

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Anforderungen des Lebens als sinnhaft zu erfahren. Ein wichtiger Aspekt der Sinnhaftigkeit ist der emotionale Gesichtspunkt der Bedeutsamkeit. Personen mit einer starken Fähigkeit, das Leben als sinnhaft zu erfahren, betrachten vieles in ihrem Alltag als wichtig und bedeutsam, wert sich dafür zu engagieren. Sie sind daher am ehesten in der Lage, belastende Vorfälle und Ereignisse als Herausforderung zu betrachten und Stress überhaupt nicht aufkommen zu lassen. In einer empirischen Studie des Universitätskollegs Graz (Durec, 2010) wird die Hypothese formuliert, dass Experteninterventionen, welche auf diese drei Aspekte nicht eingehen, von Patienten und Zugehörigen nicht als hilfreich erlebt werden. Ressourcenorientiertes, salutogenetisches Vorgehen stärkt und unterstützt die Betroffenen und entlastet auch die Pflegenden. Zu den zentralen Aufgaben von Palliative Care gehört es deshalb, Informationen verstehbar zu machen, Situationen handhabbar zu gestalten und den Raum und die Möglichkeit zu geben, sich, seine Rolle und das Leben als wichtig und sinnvoll zu erkennen und emotional zu erleben. Krisenhafte Momente für Patienten entstehen häufig gerade dann, wenn pflegende Zugehörige Betreuungssituationen als nicht mehr handhabbar und verstehbar erleben und die Bedeutsamkeit ihres ganzen Tuns infrage stellen. Nicht selten erfolgt hieraus z. B. eine Krankenhauseinweisung. Das Gefühl der Verstehbarkeit kann bei Zugehörigen durch verständliche, auf Bedürfnis und Problemlage ausgerichtete passgenaue Informationen durch uns Pflegende verstärkt werden. Die Handhabbarkeit erfordert von Zugehörigen eine offene, annehmende Haltung, damit die Anleitung und Befähigung in notwendige Maßnahmen, z. B. der Schmerztherapie und Symptomkontrolle, als hilfreich und entlastend erlebt werden kann. Das Gefühl zu verstehen und handlungsfähig zu sein, erlebe ich in meiner täglichen Arbeit mit Zugehörigen als elementare Voraussetzung, ihnen Sicherheit und stärkendes Vertrauen in eigene Fähigkeiten zu vermitteln. Das Gefühl der Bedeutsamkeit bezeichnet das Ausmaß, in dem man es als emotional sinnvoll erlebt, Energie in die Begleitung seiner erkrankten Familienmitglieder, Partner und Freunde zu investieren. Zur Unterstützung dieser Dimension benötigt es die emotionale Stärkung durch empathische Begegnung, wertfreien Umgang mit Zweifel und Verzweiflung und die Akzeptanz von »Nicht-mehr-Können« durch uns professionelle Helfer. Inwieweit Zugehörige ihr Tun als sinnvoll erleben, bestimmt entscheidend deren Ressourcenraum, was letztlich auch wieder den Kranken zugutekommt. Ohne die Erfahrung von Sinnhaftigkeit ergibt sich trotz einer hohen Ausprägung der anderen beiden Komponenten kein starkes Kohärenzgefühl. Die Ausgeprägtheit einzelner Dimensionen ist individuell lebensgeschichtlich verankert und wird in die Begleitung mit eingebracht. Aufgabe von uns professionellen Helfern sollte sein, sie im palliativen Verständnis ressourcenorientiert zu verstärken und im Sinne von Empowerment zu nutzen.

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Wie die Frage gestellt wird, ist entscheidend für die Richtung, die man einschlägt, um die Antwort zu finden. Aaron Antonovsky (1979, S. 12, zit. nach Bengel et al., 2001, S. 27)

Literatur Bengel, J., Strittmatter, R., Willmann, H. (2001). Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung. Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert. Bd. 6 (erweit. Neuaufl.). Köln: BZgA. Borasio, G. D., Volkenandt, M. (2006). Palliativmedizin – weit mehr als nur Schmerztherapie. Zschr. für Mediz. Ethik, 52. Büssers, P. (2009). Das Konzept der Salutogenese nach Aaron Antonovsky. Eine Perspektive für die Gesundheitsbildung. Zugriff am 15. 8. 2001 unter http://www.peterbuessers.de/studium/ salutogenese.pdf Davy, J., Ellis, S. (2003). Palliativ pflegen – Sterbende verstehen, beraten und begleiten. Bern: Verlag Hans Huber. Durec, E. (2010). Sterben und Sterbebegleitung als Aufgabe. Ressourcen und Unterstützung für Palliativpatienten und ihre Angehörigen. Eine qualitative Studie unter den Gesichtspunkten der Salutogenese. Zugriff am 5. 9. 2011 unter http://www.bug-nrw.de/cms/upload/pdf/entwicklung/ Antonowski.pdf Gaspar, M. (2009). Angehörige als Patienten zweiter Ordnung. Zeitschrift Palliative Care, 3, 15–17. Hasemann, W. (2007). Unterstützung (pflegender) Angehöriger in der Palliative Care. In C. Knipping (Hrsg.), Lehrbuch Palliative Care (S. 372–377). Bern: Verlag Hans Huber. Kathriner, S. (2007). Herausforderung Angehörige. Zugriff am 16. 8. 2011 unter http://www.google.de/ url?sa=t&source=web&cd=1&ved=0CBkQFjAA&url=http%3A%2F%2Fstatic.twoday.net%2Fpalli ativpflege%2Ffiles%2Fpflegeforum_herausforderung_angehoerige.pps&ei=YQ5dTojOPInoOYTJeUC&usg=AFQjCNE977VwBhDknrTcqz7ld-zvfPoPjA Lammer, K. (2004). Den Tod begreifen. Neue Wege in der Trauerbegleitung (3. Aufl.). NeukirchenVluyn: Neukirchener Verlagshaus. Ramirez, A., Addington-Hall, J., Richards, M. (1998). ABC of palliative care: the carers. British Medical Journal, 316, 208–211. Steudter, E. (2004). Angehörigenintegration in der Pflege. Krankenpflege, 8, 27.

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Plötzlich und unerwartet Nicht erwartetes Sterben als Belastungsfaktor Friedemann Nauck

Dass wir erschraken, da du starbst, nein, dass dein starker Tod uns dunkel unterbrach, das Bisdahin abreißend vom Seither: das geht uns an; das einzuordnen wird die Arbeit sein, die wir mit allem tun. (aus: Rainer Maria Rilke, Requiem, 1908)

Die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben führt unweigerlich zu der Frage, wie man sich selber sein Sterben vorstellt. Auch diejenigen, die im Rahmen ihrer täglichen Arbeit mit Tod und Sterben wiederholt und unmittelbar konfrontiert sind und sich sicher mit der eigenen Sterblichkeit auseinandergesetzt haben, verdrängen die eigene Sterblichkeit. Solange es einem gut geht, beschäftigt man sich nicht mit dem Thema. Warum auch? Jeder weiß, dass der Tod unausweichlich ist, jeder Mensch dieser Erde muss und wird irgendwann sterben. In der Gesellschaft werden Tod und Sterben verdrängt, die meisten der heute Vierzigjährigen haben bisher noch keinen Toten gesehen (Jähde, 2011), geschweige denn einen Menschen im Sterben begleitet. Das Sterben und der Tod wurden institutionalisiert und in die Krankenhäuser verlagert, dorthin, wo er nicht so präsent ist wie in den eigenen vier Wänden. Die Entwicklung der modernen Medizin im letzten Jahrhundert hat dazu beigetragen zu glauben, dass es immer noch eine Lösung gibt. »Wenn man doch Herzen transplantieren kann, wird man mir auch helfen können zu überleben«, sagte eine schwerkranke Patientin mit unheilbarer Erkrankung. Gleichzeitig hat die zunehmende Technisierung der Medizin dazu geführt, dass sich die Hospizarbeit und Palliativmedizin in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland rasant entwickelt hat. Es zeigten sich erstmals die Defizite der modernen Medizin, die Sprachlosigkeit zwischen Patienten und Ärzten und die zunehmende Angst vor einer Übertherapie am Lebensende mit Schmerz und Leid. Dass man sich jedoch auch in der Bevölkerung Gedanken um das Lebensende macht, zeigt sich in der intensiven Diskussion um die Gesetzgebung zur Patientenverfügung. Menschen verfassen eine Patientenverfügung, um vom Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen zu können, wenn sie selber nicht mehr in der Lage sind, ihre

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Behandlungswünsche mitzuteilen. Trotz des großen grundsätzlichen Interesses am Thema Patientenverfügung hat jedoch nur jeder zehnte Erwachsene in Deutschland tatsächlich ein solches Dokument verfasst (Lang und Wagner, 2007). Ist das ein Hinweis auf die anhaltende Verdrängung, sich mit Tod und Sterben auseinanderzusetzen? In einer Studie von Morrison und Kollegen in den USA wurde als Grund dafür, dass Menschen keine Patientenverfügung haben, angegeben, sie warteten auf ein entsprechendes Zeichen ihres Arztes – er solle den ersten Schritt tun und ein Gespräch darüber initiieren, das am Ende zu einer Abfassung einer Vorausverfügung führt (Morrison, Morrison und Glickman, 1994). Hinweise für das Verdrängen zeigen sich in einer anderen Studie, in der gezeigt werden konnte, dass es Befragten zu schwerfiel, über Krankheit, Sterben oder Zustände zu sprechen, in denen sie nicht mehr für sich selbst sprechen könnten, obwohl ihnen die Wichtigkeit einer Vorsorge für unklare Situationen durchaus bewusst war (Seymour, Gott, Bellamy, Ahmedzai und Clark, 2004). Die am häufigsten in der Literatur genannten Gründe für das Nichterstellen einer Patientenverfügung sind Mangel an Information, Bildung, Kraft und Möglichkeiten, ein solches Vorhaben zu Ende zu bringen (Cugliari, Miller und Sobal, 1995; Volk-Craft, 2005).

1 Auseinandersetzung mit »unerwartetem« Versterben Wenn Menschen sich zu Lebzeiten nicht oder nur ungern mit dem eigenen Tod und Sterben auseinandersetzen (können), so fragt man sich, wann und wie man denn mit einem unerwarteten Versterben überhaupt in Berührung kommt. Was verbinden wir mit den Begriffen »plötzlich und unerwartet« oder nur dem Begriff »unerwartet«? Jedes Jahr sterben in Deutschland ca. 855.000 Menschen. Wenn man unterstellt, dass jeder Verstorbene fünf Menschen hat, die von seinem Sterben unmittelbar als Angehörige, gute Freunde oder Kollegen betroffen sind, so werden ca. 4,3 Millionen Menschen jährlich in Deutschland sehr intensiv mit Tod und Sterben konfrontiert. Aber auch diejenigen, die keinen geliebten Menschen verloren haben und im persönlichen Umfeld von dem Verlust eines Menschen berührt sind oder waren, kommen immer wieder mit dem Thema in Kontakt; das geschieht in besonderer Weise über die Medien. Schon der Blick in die Tageszeitung kann dazu führen, sich mehr oder weniger mit dem unerwarteten Versterben auseinanderzusetzen. Auf der Seite der Todesanzeigen lesen wir häufig: »Meine geliebte Frau verstarb nach langer mit Geduld ertragener Krankheit plötzlich und unerwartet.« Oder: »Unser Sohn wurde plötzlich und unfassbar für uns alle aus dem Leben gerissen.« Welche Gedanken kommen einem spontan beim Lesen des Wortes »unerwartet«? Das berührt den Leser besonders in dem Moment, in dem man die Todesanzeige einer 38-jährigen Mutter liest, die, so verrät die Anzeige, einen Ehemann, zwei Kinder, Eltern und Geschwister hinterlässt. Nahezu der gleiche Text mit den gleichen Worten in einer anderen Anzeige bei dem das Versterben eines 89-jährigen Herrn angezeigt wird, kann dazu führen zu denken, ist doch gut, wie gnädig, so »unerwartet« möchte auch ich einmal aus dem Leben gehen.

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2 Erwartetes Versterben Das »erwartete« Versterben ist ein aus meiner Sicht nicht so häufig verwendeter Begriff und wird eher im medizinischen Kontext benutzt. Dennoch finden sich auch hierzu Hinweise in den Todesanzeigen: »Nach langer schwerer Krankheit wurde unsere Mutter von ihrem Leiden erlöst.« Das zu lesen, führt unweigerlich zu Assoziationen von schweren Zeiten, vielleicht schlechter Lebensqualität während der Phase der Erkrankung, Ungerechtigkeit, Leid für die gesamte Familie etc. Erwartetes Versterben steht in engem Zusammenhang mit chronischer, zum Tode führender Erkrankung oder aber auch mit hohem Alter und zunehmendem körperlichen Verfall. Laut Statistischem Bundesamt vom 18. 10. 2010 verstarben im Jahr 2009 in Deutschland insgesamt 854.544 Menschen, davon 404.969 Männer und 449.575 Frauen. Die häufigste Todesursache war wie in den Vorjahren eine Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems mit knapp 42 % aller Todesfälle. An einem Herzinfarkt, der zu dieser Krankheitsgruppe gehört, verstarben insgesamt 60.153 Menschen. Über ein Viertel aller Verstorbenen (116.711 Männer und 99.417 Frauen) erlag einem Krebsleiden, der zweithäufigsten Todesursache. 3,7 % aller Todesfälle waren auf eine nichtnatürliche Todesursache wie z. B. auf Verletzungen und Vergiftungen zurückzuführen (31.832 Sterbefälle). 9.571 Personen schieden im Jahr 2009 freiwillig aus dem Leben (Statistisches Bundesamt, 2010). Todesursachen wie Herzinfarkt, aber auch Lungenembolie, Unfall oder Selbsttötung (Suizid) sind plötzliche und unerwartete Todesursachen, die in der Regel nicht vorhersehbar sind und damit für die Betroffenen als ein schockierendes, wenn nicht traumatisches Erlebnis lange in Erinnerung verbleiben. Solch unerwartetes Versterben kann auch bei chronischer Erkrankung eintreten und ebenso schockierend für die Hinterbliebenen sein. Während ich diesen Beitrag schrieb, erfuhr ich von einer Freundin, dass sie jetzt verstehe, was ein markerschütternder Schrei sei. Ihre Vermieterin, die im gleichen Haus wohnt, weit über achtzig Jahre, erfuhr am Telefon vom Versterben ihres Sohnes. Obwohl sie wusste, dass ihr Sohn seit Jahren nierenkrank war, kam die Mitteilung des Todes ihres Sohnes für sie völlig unerwartet und traf die alte Dame ins Mark. Die nach wie vor häufig zum Tode führenden Krebserkrankungen werden noch immer mit Schmerzen, Sterben, Tod und Leid assoziiert. Insofern müsste man davon ausgehen, dass eine Krebserkrankung in der Regel nicht mit einem unerwarteten Versterben assoziiert wird oder einhergeht. Andere chronische Erkrankungen wie chronische Lungenerkrankungen, Herzerkrankungen oder Nierenerkrankungen, die auch tödlich enden, führen häufig nicht zu der unmittelbaren Assoziation, daran mit hoher Wahrscheinlichkeit versterben zu müssen. Die an diesen Krankheiten Leidenden und ihr Umfeld werden in der Regel eine Gewöhnung erleben und nicht unbedingt mit einem baldigen, dann plötzlichen Sterben rechnen.

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3 Unerwartetes Sterben im Kontext hospizlicher und palliativer Betreuung Optimale Symptomkontrolle physischer Beschwerden und Unterstützung bei psychosozialen Problemen, Kommunikation über Bedürfnisse und Lebenssinn, Auseinandersetzung mit der Erkrankung und Begleitung des Sterbenden und seiner Zugehörigen sind wesentliche Merkmale der Palliativversorgung. In der palliativmedizinischen Betreuung geht es um die Lebensqualität bei einer unheilbaren, fortgeschrittenen und fortschreitenden Erkrankung. Die Akzeptanz des Sterbens und somit eine Änderung des Therapieziels von einer Behandlung der Grunderkrankung hin zu einer umfassenden Linderung von Leiden ist ein wesentliches Charakteristikum der Palliativmedizin. Das beinhaltet auch und in besonderer Weise die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben. Insofern fragt man sich, ob es in der palliativmedizinischen Betreuung überhaupt das »unerwartete Versterben« geben kann. Hier stellt sich auch die Frage, für wen das Versterben unerwartet ist. Für den Patienten? Die Zugehörigen? Oder die betreuenden und behandelnden Teammitglieder? 3.1 Für die Betroffenen

Kann denn das plötzliche und unerwartete Versterben überhaupt von den betroffenen Patienten selber so erlebt werden? Widerspricht sich das nicht? Natürlich wissen wir nicht, was Patienten in einer akuten Situation eines Herzinfarktes oder Unfalls, an dem sie versterben, wirklich noch realisieren. Hierzu gibt es Berichte von Menschen mit sogenannten Nahtoderfahrungen. Studien darüber haben gezeigt, dass 10–20 % der Menschen, die einen Herzstillstand und klinischen Tod erleben, von klaren, wohlstrukturierten Gedankengängen, logischen Schlussfolgerungen, Erinnerungen und manchmal detailliertem Wiedererleben von Ereignissen während ihrer Begegnung mit dem Tod berichten (Parnia, Spearpoint und Fenwick, 2007). Unerwartet bedeutet für den Patienten, dass er so schnell nicht damit gerechnet hat zu versterben. Ich erinnere einen jüngeren Patienten, der seine unheilbare Krebserkrankung sehr bewusst wahrgenommen hat, versucht hat, damit zu leben, und mit der Ehefrau und seinen Kindern vieles geregelt und besprochen hat. Er hat sogar für die noch kleinen Kinder eine Videokassette mit sehr schönen Geschichten von sich, seinen Hoffnungen und Wünschen für die Kinder und die Familie für die Zeit nach seinem Versterben erstellt. Insofern war er sicher nicht unvorbereitet. Dennoch kam das Versterben im Rahmen einer komplizierenden Infektion für ihn unerwartet. Ich erinnere mich bis heute an seine weit geöffneten, fragenden, ängstlichen Augen in dem bereits schmalen und von Kachexie gezeichneten Gesicht, als er mich mit leiser Stimme fragte, ob er jetzt tatsächlich sterben müsse. Als ich seine Frage mit »Ja, ich denke schon« beantwortete, spürte ich, dass der Tod für ihn trotz aller Vorbereitung nun unerwartet eintrat. Es war nicht das Wie und das »Überhaupt-sterben-Müssen«,

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sondern der Zeitpunkt, mit dem er so dann doch nicht gerechnet hatte, der für ihn einfach unpassend und zu früh war. Andere Patienten warten geradezu auf das Sterben und ihren Tod. Sie berichten davon, dass sie vor dem Tod keine Angst hätten, sich damit auseinandergesetzt haben, lange genug Zeit dazu gehabt hätten. Sie beschäftigt eher die Frage: »Wie werde ich sterben? Werde ich Schmerzen haben, werde ich vielleicht unruhig und desorientiert sein, bevor ich sterbe?« »Das ist es, was mich quält, dass dieser letzte Weg so ungewiss ist.« Hier ist es eher das Wie des Versterbens als das Wann. Und um diese Ungewissheit nicht länger erdulden oder ertragen zu müssen, wünschen sich diese Schwerstkranken den Tod; dann hat die Bangigkeit der Fragen ein Ende. So sagte mir eine Patientin: »Es ist alles gut, ich konnte alles regeln. Mit meiner Tochter, mit der ich zwanzig Jahre keinen Kontakt hatte, habe ich mich ausgesöhnt, das war für mich das Wichtigste, jetzt darf der Tod kommen, wie lange dauert es wohl noch?« 3.2 Für die Zugehörigen und das persönliche Umfeld

Auch die Zugehörigen und Freunde müssen sich mit dem nahenden Versterben ihrer Kranken auseinandersetzen. Das ist verständlicherweise nicht immer einfach. Viele haben die magische Vorstellung, dass, wenn sie sich diese »Erwartung« erlauben und dem Warten öffnen, der Kampf aufgegeben wird und der Tod schneller eintritt. Nach vielen Jahren der Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen und ihrer Familien und Freunde wird einem oft deutlich, dass es manchmal für die Zugehörigen schwerer ist, das alles zu begreifen, als für die Betroffenen selbst. Oft ist dann Verdrängung eine Möglichkeit, damit umzugehen. Wissen, dass der Tod unausweichlich ist, aber nicht immer daran zu denken, Hoffnung haben oder auch nur zeigen, bis zuletzt, ist manchmal das Einzige, was den Zugehörigen bleibt. Dann kann der Tod von ihnen als unerwartet erlebt werden, obwohl sie im Nachhinein, wenn man darüber mit einem gewissen Abstand spricht, sagen: »Ja, ich habe es gesehen, wie mein Mann immer schwächer wurde, ich immer mehr für ihn übernehmen musste, aber ich wollte oder konnte es nicht sehen. Er durfte doch noch nicht sterben.« Sie haben gedacht, dass Erwartung eine Art Zustimmung in sich trägt. Aber auch von den Zugehörigen, die sich mit der Erkrankung auseinandergesetzt haben und – wie wir es erlebt haben – gut vorbereitet waren, kann dieser entscheidende Moment des Versterbens trotz aller Auseinandersetzung als unerwartet erlebt werden. Unerwartet wird dann vielleicht als »nicht fassbar« empfunden. Der Anblick eines geliebten Toten ist so unendlich anders als der Blick in sein lebendes Antlitz oder auf seinen von der Krankheit geschwächten Körper, das Verstehen der Unwiederbringlichkeit des Miteinanders ist so frappierend, dass unerwartet eher unvorstellbar heißt. Andererseits kann aber für Zugehörige auch der erwartete Tod so belastend sein, dass der Wunsch nach der Erlösung, dem Endlich-sterben-Können als starker Wunsch vorhanden ist. Eine Ehefrau sagte zu mir: »Ich fühle mich so schlecht, wenn ich mich dabei ertappe, dass ich denke oder sogar ganz fest wünsche: oh, wenn doch alles vorbei

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wäre und er erlöst wäre.« Nicht jeder Zugehörige aber kann diese Gedanken und tief empfundenen Gefühle anderen oder gar den Teammitgliedern mitteilen. Sie haben ein schlechtes Gewissen, so zu denken. Dieses schlechte Gewissen und ihre tiefe Betroffenheit wirken auf Außenstehende dann manchmal so, als hätten sie mit dem Sterben überhaupt noch nicht gerechnet. Tod und Sterben stellen für das Umfeld eine enorme Belastung dar und sind für viele Nahestehende eine Situation, die sie so noch nie erleben mussten. So die Situation eines betagten Herrn, dessen Ehefrau kürzlich auf der Palliativstation verstorben ist, nach über sechzig Jahren Ehe. Er war mit der Situation nach dem Versterben völlig überfordert, wirkte nahezu »verwirrt«, wusste nicht, was er jetzt tun sollte, nicht einmal ein Beerdigungsinstitut kannte er, das er hätte anrufen können. Diese Situation wurde von ihm, aber auch vom Team als extrem belastend empfunden. Es gab in dieser Zeit keinen Raum für seine tiefe Trauer um seine liebe Frau. War das Behandlerteam aufmerksam genug? Hätte man im Vorfeld schon die Zeit nach dem Tod ansprechen müssen? Hier kam der erwartete Tod dann »unerwartet«, da der Ehemann in seiner akuten Überforderung alles als überraschend, ja verwirrend und aus der Bahn werfend erlebte. 3.3 Für betreuende und behandelnde Teammitglieder

In der Untersuchung (Müller, Pfister, Markett und Jaspers, 2009) zeigte sich, dass das unerwartete Versterben als signifikanter Faktor bei den Belastungsfaktoren im Hinblick auf die Frage »Wie viel Tod verträgt das Team?« für die Teammitglieder genannt wurde. Wie passt das zusammen? Kann es denn im Kontext von Palliativmedizin und hospizlicher Arbeit überhaupt das »unerwartete Versterben« geben? Ist es nicht eine Conditio sine qua non, dass Patienten, die eine Palliativversorgung erhalten, sterben werden und sich damit auch in irgendeiner Form auseinandergesetzt haben und dass dies auch für die Teammitglieder Gültigkeit hat? Wie kann dann »unerwartetes« Versterben in diesem Feld interpretiert werden? Die Begleitung Schwerkranker und Sterbender ist und bleibt glücklicherweise auch nach vielen Jahren der Arbeit in diesem Feld eine Herausforderung. Tod und Sterben werden nicht zur Routine. (Ein) jeder Patient und jeder Zugehörige ist in dieser letzten Lebensphase einzigartig. Mitglieder des Behandlerteams setzen sich mit der Erkrankung, die der Patient hat, in der Regel intensiv auseinander. Nur dadurch lässt sich das Ziel einer bestmöglichen Symptomkontrolle der physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Probleme erreichen. Zielgerichtete Betreuung schwerkranker und sterbender Menschen benötigt aber auch Zeit. Wohl wissend, dass viele der betreuten Patienten nur noch wenig Zeit haben, versucht das Team dann unter einem gewissen Zeitdruck, auf allen Ebenen der Behandlung und Begleitung Lebensqualität (wieder)herzustellen und möglichst langfristig zu stabilisieren. Manchmal stehen dafür nur Stunden oder Tage, seltener Wochen oder gar Monate zur Verfügung. In ausführlichen Teambesprechungen werden die Probleme erörtert und Ziele festgelegt. Besonders belastend ist es für das Team, wenn durch rasches, in diesem Zeitrahmen dann »unerwartetes« Versterben das

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Ziel der Behandlung und Begleitung nicht mehr erreicht werden konnte, der Patient sich vielleicht nicht mehr mit seiner Familie hat aussprechen oder letzte Dinge hat regeln können, obwohl er dazu jetzt bereit war. Für die Behandler kann es schwer sein, wenn dann für alle eine Situation eintritt, in welcher man das Gefühl des maximalen Kontrollverlustes hat. »Je länger ich im Arbeitsfeld der Palliativversorgung arbeite, desto weniger traue ich mir zu, eine Aussage zur verbleibenden Lebenszeit zu machen«, sagte mir unlängst eine Kollegin. Und dennoch: Es gibt sie, eine zeitliche Einordnung, z. B. in die Phase der zeitbegrenzten Rehabilitation und die Finalphase. Dies ist auch erforderlich, um mit dem Patienten realistische Ziele zu vereinbaren, die erreicht werden sollen. Steht in der Rehabilitationsphase stärker die Aktivierung vorhandener Ressourcen im Vordergrund, so ist in der Sterbephase ein symptomarmes Sterben das Ziel. Ein 52 Jahre alter Patient wurde mit hoher Symptomlast auf die Palliativstation aufgenommen. Er war an einem Pankreaskopf-Karzinom erkrankt, war verzweifelt, litt unter starken Schmerzen, Übelkeit und Erbrechen. Seine Erwartungen an uns waren eine gute Symptomkontrolle und eine Stabilisierung seines Zustandes. Sein großer Wunsch war es zu heiraten und mit seiner Frau eine Hochzeitsreise in die Karibik zu machen. Letzteres erschien uns aufgrund seines Krankheitszustandes kein realistisches Ziel, sodass wir neben der Symptombehandlung mit ihm daran arbeiteten, das große Ziel herunterzubrechen und einem erreichbaren anzupassen. Heiraten wollte er nun festlich auf der Palliativstation, im Anschluss daran sollten einige romantische Tage an die Nordsee folgen. Die palliative Versorgung dort wurde durch ein uns bekanntes Team vor Ort sichergestellt, die Übernahme der Kosten des Transportes durch die Krankenkasse hatten wir vorbereitet. Wir alle freuten uns mit ihm auf die bevorstehende Feier. Am Vortag der Hochzeit reduzierte sich der Zustand des Patienten, und er verstarb innerhalb einiger Stunden. Wir waren enttäuscht und entsetzt. Hatten wir die Situation so falsch eingeschätzt? Hätten wir schneller sein und handeln müssen? Hatten wir es nicht unter Kontrolle? Es war ein Schlag in die gemeinsamen Pläne, ein Dämpfer unserer stolzen Mitfreude, und es erschien uns so unfair. Eine weitere belastende Situation besteht auch dann, wenn durch plötzliches Versterben niemand aus der Familie beim Sterben anwesend sein konnte. Unerwartetes Versterben stellt dann nicht nur für Teammitglieder eine Belastung dar, wenn Patient und Zugehörige vielleicht gerade aus der Sprachlosigkeit in eine intensive Kommunikation eingetreten waren und erstmals seit langer Zeit intensive Gespräche angesichts des nahenden Todes geführt werden konnten. Mit dem Sterben von einer uns lieb gewonnenen Patientin hatten wir gerechnet. Seit Tagen wurde sie immer weniger. Oft gingen Teammitglieder in ihr Zimmer, um nach ihr zu schauen. Nach der Übergabe wollte ich noch einen kurzen Besuch machen, um mich von ihr zu verabschieden. Ich ahnte, dass ich sie am nächsten Tag nicht mehr sehen würde. Als ich in ihr Zimmer trat, lag sie tot im Bett. Sie war während

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der Übergabe ohne vorherige Anzeichen, wie nebenbei gestorben. Wir hatten in der Besprechung über ihr absehbares Versterben gesprochen und waren dennoch betroffen, ja irgendwie entsetzt. Damit hatten wir nicht gerechnet. Allein war sie gestorben. Wie es wohl gewesen war? Hatte sie gelitten? Niemand war bei ihr gewesen. Unseren Anspruch, auf dem allerletzten Weg bei ihr zu sein, hatten wir nicht erfüllt. Der Tod hatte uns einen Strich durch die Rechnung gemacht und uns nicht dabei sein lassen. Hier wird deutlich, dass der Begriff »unerwartet« manchmal für eine Fokussierung auf den letzten Augenblick steht. Wir geben diesem Moment eine so große Bedeutung, dass wir alle vorherigen Begegnungen, alle tiefen und echten Momente der Kommunikation, alle Bemühungen und Erfolge für gering erachten oder sie vielleicht sogar in Abrede stellen, wenn wir ganz am Schluss nicht vorbereitet oder sogar in der Nähe und dabei sind. Es ist ein viel berichtetes Phänomen, dass Patienten häufig dann ihren letzten Atemzug tun, wenn niemand da ist. Das grundsätzliche Wissen, dass der Tod sich nicht in die Karten schauen lässt, und unser Bemühen, jede Begegnung zu einer vielleicht letzten zu gestalten und die Begleitung abzurunden, mag Vertrauen schaffen dahinein, dass jeder seine eigene Zeit »zum Gehen« hat, die nicht von uns Behandlern und Begleitern gesteuert sein kann und will.

Literatur Cugliari, A. M., Miller, T., Sobal, J. (1995). Factors promoting completion of advance directives in the hospitals. Arch. Intern. Med., 155, 1893–1898. Jähde, P.-M. (2011). Wer Tod und Trauer verdrängt, wird krank in seiner Seele. Zugriff am 23. 8. 2011 unter www.pmjaehde.de/todundtrauer Lang, F. R., Wagner, G. G. (2007). Patientenverfügungen in Deutschland: Empirische Evidenz für die Jahre 2005 bis 2007. SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Research 71. Berlin: DIW. Morrison, R. S., Morrison, E. W., Glickman, D. F. (1994). Physician reluctance to discuss advance directives. An empiric investigation of potential barriers. Arch. Intern. Med., 154, 2311–2318. Müller, M., Pfister, D., Markett, S., Jaspers, B. (2009). Wie viel Tod verträgt das Team? Eine bundesweite Befragung der Palliativstationen in Deutschland. Schmerz, 23 (6), 600–608. Parnia, S., Spearpoint, K., Fenwick, P. B. (2007). Near death experiences, cognitive function and psychological outcomes of surviving cardiac arrest. Resuscitation Aug, 74(2), 215–221. Seymour, J., Gott, M., Bellamy, G., Ahmedzai, S. H., Clark, D. (2004). Planning for the end of life: the views of older people about advance care statements. Soc. Sci. Med., 59, 57–68. Statistisches Bundesamt Deutschland (Hrsg.) (2010). Pressemitteilung Nr. 371 vom 18. 10. 2010. Herz-/ Kreislauferkrankungen nach wie vor häufigste Todesursache. Zugriff am 16. 7. 2011 unter http:// www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/2010/10/PD10__371 __232,templateId=renderPrint.psml Volk-Craft, B. E. (2005). Advance directives: overcoming reluctance and getting them done. Case Manager, 16 (7), 72–75.

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»Ich bin des Sterbens so müde« Kurze Begleitungsdauer als Belastungsfaktor Astrid Conrad

»Ich bin des dauernden Sterbens so müde«, so fühlte ich vor einigen Monaten. Damals habe ich mich gefragt, welchen Sinn meine Arbeit überhaupt (noch) hat. Bis es aber soweit war, dass ich diesen Satz aussprechen konnte, waren angesichts aufgetretener kurzer Begleitungsdauern und damit verbundener Häufung von Todesfällen auf unserer Palliativstation Sprachlosigkeit und Ohnmachtsgefühle vorausgegangen. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem zwei Zimmer mit verstorbenen Patienten (Frau Schäfer und Herr Weber) belegt waren. Ein weiterer Patient (Herr Meier) starb noch an diesem Vormittag, eine andere Patientin (Frau Krause) lag im Sterben. Aufgrund dieser Situation hatten wir Frau Borngrede in ein anderes Zimmer verlegen müssen, hatten ihre Angehörigen darüber aber nicht rechtzeitig informieren können. Als ihre Tochter zu Besuch kam, erkundigte sie sich mit einem Ausdruck aus Irritation und Angst bei mir, ob wir ihre Mutter verlegt hätten. Obwohl ich ihre Angst wahrnahm, konnte (und wollte) ich nicht auf sie eingehen. Ich antwortete in einem fast schroffen Ton: »Ja! Ihre Mutter liegt jetzt in Zimmer 3!« Und in meinem Inneren schnauzte eine Stimme: »Und sie ist nicht tot! Wir haben sie nur verlegt!« Noch in dem Moment, als die Tochter sich umdrehte und den Flur hinunter ging, tat es mir unendlich leid. Ich war erschrocken über meine Reaktion, schämte mich und hatte das Gefühl, schuldig geworden zu sein. Wo war denn der Anspruch an mich selbst geblieben? Was war aus meinem Auftrag, eine einfühlende und bestmögliche Angehörigenbegleitung leisten zu wollen, nur geworden? Nach dieser Situation war meine Sprachlosigkeit gebrochen, und ich nahm den kleinen Vorgang zum Anlass, mich an eine Kollegin zu wenden. Ich erzählte ihr, was geschehen war. Im Aussprechen wurde mir deutlich, wie stark ich unter den Eindrücken der letzten Wochen stand. Durch die Begleitung der Sterbenden und die Versorgung der Toten war es zu einer permanenten Konfrontation und Berührung mit dem Tod gekommen. Ich konnte mir eingestehen, dass ich zuweilen sogar Ekelgefühle und Abscheu verspürt hatte. Außerdem nahm ich eine unbestimmte Gereiztheit an mir, aber auch in unserem Team wahr. Als ich diese Gefühle auch im Rahmen unserer Supervision aussprach, stellte sich heraus, dass es vielen meiner Kolleginnen gerade sehr ähn-

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lich ging. Diese Belastung durch die schnelle Aufeinanderfolge von Sterbesituationen und Toden endlich auch einmal in Worte fassen zu dürfen, war allein schon eine große Erleichterung. Darüber hinaus ermöglichte uns die Auseinandersetzung eine Konkretisierung unserer Belastungsmomente und damit verbunden die Möglichkeit, gemeinsam Formen der gegenseitigen Unterstützung zu erarbeiten. Interessant ist es, dass ich einige Zeit später angesprochen wurde, ob ich mir vorstellen könnte, einen Buchbeitrag zu eben diesem Thema zu schreiben. In einem ersten Schritt begann ich, meine und unsere Teamerfahrungen gedanklich zu ordnen und zu formulieren. Spannend dabei war für mich, dass ich mich beim Denken und Schreiben zumindest phasenweise in fast gleichen emotionalen Gemütszuständen wiederfand wie in den real erlebten Situationen vor einigen Monaten. Dazu gehörten Niedergeschlagenheit, Lustlosigkeit und Mutlosigkeit.

1 Meine Seele ist gesättigt vom Leid Ein Satz aus der Bibel kam mir in diesem Zusammenhang immer wieder in den Sinn: »Denn meine Seele ist gesättigt mit Leid« (Ps 88,4). Für mich als Pflegende, aber auch als Privatperson hatte er jedoch eine besondere, vielleicht ganz andere als die vom Autor gemeinte Bedeutung. Ich war gefangen in der Emotion, dem Tod zu nahe gekommen zu sein. Die unsichtbare Trennungslinie zwischen mir und den Sterbenden schien aufgehoben. Daraus resultierten Gedanken, wie z. B. »Das Leben besteht nur aus Leid«, »Welchen Sinn hat das Leben überhaupt?«, und auch eine fassbar gewordene Angst, dass das allseits vorhanden scheinende, so überbordende Leid bald mich und meine Familie treffen würde. So begann ich, meine Arbeit auf der Palliativstation zu hinterfragen. Hat es überhaupt Sinn, sich anzustrengen, wenn doch immer der Tod meinen Bemühungen um Lebensqualität und Leidensminderung zuvorkommt und schnell und vermeintlich wahllos zugreift? Das Infragestellen war eine neue, erschreckende Erfahrung nach den vielen Jahren meines Tätigseins. Jeder, der sich schon einmal bei ähnlichen Gedanken ertappt hat, wird sich vielleicht mehr oder weniger zaghaft gefragt haben: Ist meine Zeit in der Palliativpflege vorbei? Sind die zunehmenden kurzen Begleitungen zu viel? Schadet mir die damit verbundene häufige Begegnung mit dem Tod, der sich zu einem ungeliebten, aufdringlichen Dauerbekannten entwickelt hat? Die vielen Erkenntnisse und Sichtweisen, die ich sowohl über mich als auch über das Leben der Begegnung mit Schwerstkranken und ihren Zugehörigen zu verdanken habe, stehen sie nicht mehr in einem ausgeglichenen Verhältnis zur laufenden Erschütterung durch Todberührung? Bin ich auf dem Weg in die Depression oder ins Burnout? Im Zusammenhang mit kurzen Begleitungszeiten sind es aus meiner Erfahrung zwei Hauptaspekte, die dafür verantwortlich sein können, dass es zu solchen (Selbst-) Zweifeln oder zu Reaktionen wie oben im Beispiel kommt: eine Reizüberflutung auf allen Sinneskanälen und der drohende Verlust des Anspruchs an die eigene Arbeit.

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2 Der Tod klebt an mir – von der Sinnes- und Gefühlsüberflutung Insbesondere bei uns Pflegenden werden durch die manuellen Aufgaben und Tätigkeiten – im Vergleich zu den anderen Berufsgruppen in der Palliativarbeit – in stärkerem Maße alle Sinneskanäle zugleich angesprochen. Durch die zunehmend kurze Verweildauer der Patienten, die oft mit einem schnellen Sterben endete, erlebte ich so etwas wie eine Überreizung sämtlicher Sinne. Meine Augen sahen auch außerhalb des Dienstes immer wieder das erlebte Leid, meine Ohren glaubten auch beim Musikgenuss das rasselnde oder das sich sonst wie verändernde Atemgeräusch des Sterbenden wahrzunehmen, meiner Nase begegneten auch während des Kochens oder der Gartenarbeit die besonderen Gerüche des (nahenden) Todes und meine Hände erinnerten in allem anderen Tun die Berührung der abgemagerten Körper Sterbender und die Kühle von Toten und trugen sie mit in allen Handlungen des Alltags. Diese andauernde Sinnesüberflutung führte in eine regelrechte Überlastung und drückte sich zunächst in körperlichen Reaktionen aus, z. B. in der Veränderung von Atemrhythmus und Atemtiefe. So manches Mal ertappte ich mich dabei, dass ich den Atem anhielt, um mich dem Eigenleben meiner Sinne nicht auszusetzen. Folgen waren körperliche (muskuläre) und seelische Anspannung. Der Geruch schien an mir zu kleben, die Geräusche verfolgten mich bis in den Schlaf, das Wechseln der Kleidung und ausgiebiges Duschen reichten nicht mehr aus, um die klare Trennung zwischen Beruf und Freizeit wiederherzustellen. Die Anspannung drohte so groß zu werden, dass sie sich (aus)schließlich in Gefühlen wie Wut, Ekel und Abscheu entladen würde. Das Verhalten und die Haltung ändern sich, wenn es zu viel wird. Das lässt sich immer wieder in besonderen Belastungsphasen durch zu viele und zu schnell aufeinander folgende Tode beobachten. In unserem Team lassen sich diese Phasen unterschiedlich ablesen: durch ein höheres Arbeitstempo, durch nach außen dokumentierte Gleichgültigkeit, durch zu viel oder zu wenig Reden, durch den Versuch, schwierigen Situationen oder Gesprächen aus dem Weg zu gehen, durch Ungerechtigkeit anderen gegenüber und durch einen schematisch werdenden Umgang mit Patienten und Angehörigen. Auch die Sprache verändert sich. Ich bemerkte, dass ich in Gesprächen zum Teil immer wiederkehrende, gleiche Redewendungen verwendete. Auch eine vorübergehende Verrohung von Sprache lässt sich dann beobachten: Der Stationsarzt kam aus einem Patientenzimmer in unser Dienstzimmer und erkundigte sich, wann die sterbende Frau Borngrede zuletzt eine Medikation erhalten habe. Meine Kollegin, die ich sonst für ihren behutsamen Umgang mit Sprache wertschätzte, gab zurück: »Ich habe ihr die komplette Ladung gerade erst vor fünf Minuten gegeben.« Im ersten Moment war ich entsetzt über ihre Ausdrucksweise. Dann spürte ich in der Formulierung meiner Kollegin so etwas wie ein Nicht-mehr-aushalten-Können, da wieder eine Patientin, die erst kurz bei uns war, im Sterben lag. Ich hatte aber nicht den Mut, sie unmittelbar darauf anzusprechen, da ich sie in dieser Überforderung nicht maßregeln und die ihr einzig zur Verfügung stehende Möglichkeit, ihr Berührtsein auszudrücken, berücksichtigen wollte.

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Eine weitere Beobachtung ist, dass sich Zynismus einschleicht: Herr Ludwig war in der Nacht verstorben. Als ich meine Kollegin vom Nachtdienst ablöste, sagte sie: »Dies ist nun der dritte Patient, der in den letzten Nächten bei mir verstorben ist. Ich hoffe, es kommt niemand auf den Gedanken, dass ich nachgeholfen habe!« In der Analyse der Situationen wird deutlich, dass solche Aussagen Abwehrmechanismen sind. Die Grenze des Verträglichen ist überschritten, und die Seele droht vom Tod wie von einer ansteckenden Krankheit infiziert zu werden. Dagegen wehrt sie sich und signalisiert nach außen sehr vereinfacht ein Zuviel des Innen. Sie hält quasi eine Art Stoppschild hoch, um vor Grenzüberschreitungen zu schützen. Wir versuchen im Team immer wieder, uns dieser Stoppschilder bewusst zu werden, uns mit unseren unterschiedlichen Wahrnehmungen und Umgangsformen zu respektieren, sie als Abwehrreaktionen und nicht als Lieblosigkeiten oder professionale Depersonalisierung einzuordnen, um dann zu prüfen, ob wir wirksamere Regulationsmöglichkeiten erarbeiten können. Die Beziehung endet, bevor wir sie aufbauen konnten – der drohende Verlust des Anspruchs an die eigene Arbeit. In der Palliative Care haben wir bestimmte Ansprüche an unsere Arbeit. Dies bedeutet, eine gute und umfassende Symptombehandlung durchzuführen und die Umsetzung speziellen Fachwissens, eine gute Beobachtungsgabe und Teamarbeit. Der Anspruch ist gleichzeitig Ansporn und fördert das persönliche Engagement und die Motivation für die Arbeit mit den schwerstkranken Patienten und ihren Zugehörigen. Durch zunehmende Erfahrung, Ausweitung und Vertiefung des Fachwissens und der kommunikativen Kompetenz kommt es zu einer wachsenden Identifikation mit den Aufgaben in der Palliative Care. Das persönliche und berufliche Selbstbewusstsein wächst, häufig verbunden mit einer hohen Anerkennung der Tätigkeit bei allen Beteiligten. In längeren Phasen, in denen die Begleitungszeiten extrem kurz sind (wenige Stunden bis Tage), und der Pflege von ausschließlich Sterbenden sowie der Versorgung von Verstorbenen, bleibt diese Kompetenz ungenutzt, kommt nahezu zum Erliegen, und es droht eine gewisse Engführung in der Arbeit. Diese führt auch zur Eintönigkeit und Gleichförmigkeit in den Gedanken und Ideen. Die Folgen sind Unzufriedenheit und Unausgeglichenheit. Die gewünschte Beziehung, von der die Palliativversorgung und der Hospizgedanke vielfach leben, kann nicht in gewohnter Weise umfassend aufgebaut werden. Kaum ist sie mühevoll entstanden, geht sie durch den Tod bereits wieder verloren. Die Beziehung ist aber eine wichtige Funktion, die es ermöglicht, in schwierigen Situationen stärkere Kompensationsmechanismen entwickeln zu können (Ich tue es gern für Sie) und handlungsfähig zu bleiben (Ich habe eine Ahnung, was Sie brauchen). Gibt es aber kaum oder keine Möglichkeit, zumindest ein wenig über die Persönlichkeit des Patienten zu erfahren, wiegt unter Umständen der Belastungsmoment schwerer als der Eindruck, geholfen zu haben. So kann ich mich z. B. oft nur wenige Tage, nachdem der Patient bei uns gewesen ist, nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern.

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3 Handeln im Krisenraum Kurze Begleitungszeiten bedeuten immer auch eine hohe Fluktuation von Patienten in einem bestimmten Zeitraum. Die Mitarbeiter sind gefordert, sich in allerkürzester Zeit einen Überblick und einen Eindruck über die körperliche, soziale, psychische und spirituelle Situation, in der sich der Patient und seine Zugehörigen befinden, zu verschaffen. Bei vielen aufeinanderfolgenden Begleitungen leistet nicht nur der Körper, sondern auch die eigene Seele und Psyche eine Art Akkordarbeit. Es wird nicht mehr in gewohnter Weise begleitet: Der eigene Anspruch, den Patienten/Zugehörigen nah sein zu wollen, leidet, und seine Nichterfüllung wird von manchem Mitarbeiter als Schuldgefühl wahrgenommen. Vielleicht kommt auch die Frage auf, ob man ein schlechter Mensch oder Christ sei, wenn kein Mitgefühl gespürt wird. Hilfreich kann auch hier die Analyse der Ursache solcher Gedanken und Gefühle sein. Durch die Identifizierung der Aufgaben, die wir uns in den zum Teil sehr kurzen Begleitungszeiten gestellt hatten, kamen wir rasch zu der Erkenntnis, dass es sich hier um die Notwendigkeit eines anderen Handlungsansatzes handelte, nämlich um eine Krisenintervention. Unser Anspruch aber war auf eine Begleitung gerichtet, die von einer gewissen zeitlichen Dauer ausgeht. Um zufriedener zu werden mit dem, was möglich war, mussten wir bei diesen (Kurzzeit-)Patienten unsere Ziel und Handlungsoptionen anpassen und ändern. Was ist aber nun das primäre Ziel einer Krisenintervention? Van Riet und Wouters (2008) beschreiben dies wie folgt: »eine Krisenintervention bedeutet das Einschreiten während einer Krise; dies in der Absicht, das frühere Gleichgewicht wiederherzustellen und ein Abrutschen auf eine tiefere Stufe zu verhindern.« Daraus folge, dass »während einer Krise keine Bedürfnisklärung vorgenommen werden« könne. Was zähle, sei die Krisenintervention. Dies zu wissen, schafft die Möglichkeit, die jeweilige Begleitung in einen anderen Blick zu nehmen und sie mit anderen Maßstäben/Ansprüchen bewerten zu können. Darüber hinaus wird eine weitere Kompetenz in der Palliativversorgung angesprochen, nämlich die Fähigkeit, eine Krise als solche zu erkennen, und die Fähigkeit, im Krisenraum angemessen handeln zu können. Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Belastungsfaktor ist, dass durch die hohe Fluktuation von Patienten ein größerer Aufwand an Organisation und Administration betrieben werden muss. Es beginnt bei der Informationssammlung und Dokumentation, die auch auf einer Palliativstation inzwischen recht umfangreich geworden ist, bis hin zur Wiederaufbereitung des Patientenzimmers nach dem Tod. Dies muss alles sehr schnell erfolgen und ist zum Teil recht zeitintensiv. Insgesamt kann man sagen, dass kurze Begleitungszeiten und die damit oftmals einhergehende Häufung von Todesfällen immer eine große Belastung für das gesamte Team darstellen. Ein viel gebrauchter Ausdruck in der Palliativ- und Hospizarbeit ist der Wert des

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»Lebens bis zuletzt«. Das bedeutet, sich gemeinsam dafür einzusetzen und alles zu tun, damit die letzte Lebenszeit eines schwerstkranken Menschen lebenswert sein kann. Es zeigt sich darin aber im Grunde genommen auch sehr deutlich unsere eigene Sehnsucht nach Leben. Wir akzeptieren es, und es ist uns in jedem Moment bewusst, dass wir Menschen bis zu ihrem Tod begleiten. Doch würde uns diese Arbeit niemals gelingen, wenn wir nicht Ja sagen würden zum Leben. Diese Lebensbejahung in Zeiten des Erlebens von rasch aufeinander folgenden Toden fliegt uns nicht zu. Sie ist ein sehr bewusster und auch kraftraubender Prozess, der immer wieder des Abstands, des Eintauchens in das Leben und gezielt gesetzter Erholungszeiten bedarf.

Literatur Riet, van N., Wouters, H. (2008). Case Management. Ein Lehr- und Arbeitsbuch über die Organisation und Koordination von Leistungen im Sozial- und Gesundheitswesen (2. Aufl.). Luzern: interact Verlag.

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Und dann traf es mich selbst … Todesfälle im eigenen Umfeld als Belastungsfaktor1 Traugott Roser und Margit Gratz

1 Der Kollege als Trauererfahrener Mein Mann Jürgen ist gestorben. Im November 2007 erlag er einem Darmtumor und einer Infiltration seines Bauchfells mit Krebsgewebe. Zwei Jahre Krankheitsgeschichte lagen hinter ihm, hinter uns beiden. Wöchentlich war Jürgen zur Chemotherapie und Untersuchungen in das Klinikum gekommen, in dem ich als Seelsorger auf der Palliativstation arbeitete. In den letzten vier bis fünf Wochen vor Jürgens Tod hörte ich mit Seelsorgebesuchen bei Patienten auf; einige Tage vor seinem Tod ließ ich auch die anderen Tätigkeiten ruhen und konzentrierte mich ganz auf meine Rolle als Angehöriger. Die letzten 13 Tage seines Lebens verbrachte mein Mann auf der Palliativstation, zu deren Team ich gehörte. Nun war er da angekommen, wo ich arbeitete. Alle, das Palliativteam und mein Seelsorgeteam, machten sich Sorgen, ob das für mich und das Palliativteam in Ordnung wäre und ob ich mit der Doppelrolle als Angehöriger und als Mitarbeiter zurechtkommen würde. Aber für mich stellte sich die Frage nicht mehr, denn ich war jetzt nur noch Angehöriger. Ich ging nicht mehr in mein Büro, um mal eben schnell E-Mails nachzusehen oder mit den Kollegen zu reden, selbst wenn es nur einen Flur weit entfernt war. Ich wusste, dass es jetzt keinen besseren Ort für Jürgen gab. Um seine Bedürfnisse ging es. Die liebevolle Pflege durch das Personal der Station, die Unterbrechungen durch verschiedene Anwendungen und der freundliche Rahmen erfüllten unsere Tage auf der Station mit Lebensqualität. Hier ging es ihm gut. Jürgen war auch zufrieden. Schwester R. legte eine Magensonde; zum ersten Mal seit Wochen musste Jürgen keine Angst mehr haben, sich zu erbrechen. Die Ärzte reduzierten seine Medikamente; er war schmerzfrei. Er genoss die Atemtherapie, die Physiotherapie und die Besuche der ehrenamtlichen Seelsorgerin, die ihn schon die gesamte Krankheit über begleitet hatte. Die Matratze war perfekt. Es war schon am nächsten Morgen, dass 1

Der Text stellt eine Kombination dreier Perspektiven dar. Die Erfahrung als Betroffener entstammt einem Trauertagebuch, das Traugott Roser in der Rolle des trauernden Betroffenen und zugleich als Mitarbeiter eines Palliativteams zeitnah nach dem Tod seines Lebenspartners verfasst hat (kursive Textabschnitte). Die Erfahrung aus der Perspektive der Leitung eines ambulanten Hospizdienstes trägt Margit Gratz bei. Die dritte, eher theoretische Perspektive stellen die Reflexionen dar, die aus dem Gespräch beider Autoren erwachsen sind.

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Jürgen sagte, dass er sich hier sehr wohl fühlte und dass er sich vorstellen könne, hier zu sterben. Hier befanden wir uns in einer Zeit außerhalb der Zeit, einem gleichsam schwebenden Zustand, der keineswegs qualvoll oder schwer zu ertragen war. Wie es dem Team ging, wusste ich nicht – und wollte es auch gar nicht wissen. Ich verzichtete sogar darauf, die Patientenakte meines Partners einzusehen, weil ich fürchtete, eine Einschätzung unseres Verhaltens und unserer Beziehung darin zu lesen. Das war ihre Sache. Ich war jetzt nur Angehöriger. Trauerarbeit ist ein selbstverständlicher Bestandteil von Hospizarbeit und Palliativversorgung. Gemeint ist Trauer während eines Krankheitsverlaufes – Trauer des Kranken über alles, was wichtig ist und nicht mehr sein wird bis hin zum Verlust des Lebens, sowie Trauer des Angehörigen über das bevorstehende Leben ohne den Anderen. Gemeint ist auch die Begleitung von Menschen, die jemand Liebes verloren haben. Was, wenn ein Mitarbeiter eines Hospiz- oder Palliative-Care-Teams sich in einer Situation der Trauer befindet und doch weiter im Team seinen oder ihren Aufgaben nachgehen will und soll? Wo haben die Trauererfahrungen im persönlichen Umfeld von Mitarbeitenden Platz? Es geht dabei sowohl um längst vergangene Trauererlebnisse als auch gegenwärtige, wenn z. B. zu Hause neben der hauptberuflichen Hospiz- und Palliativarbeit gerade ein schwerkrankes oder sterbendes Familienmitglied gepflegt wird oder der Tod eines Angehörigen nicht lange zurückliegt. Es gibt viele Bücher und Berichte von Betroffenen, die von ihrer Trauererfahrung erzählen. Es sind Menschen, die um einen lieben Angehörigen oder Freund trauern, egal ob erst seit Kurzem oder schon sehr lange. Die professionelle (ehren- oder hauptamtliche) Arbeit im palliativen Umfeld schützt nicht davor, selbst schwer zu erkranken oder selbst von Trauer betroffen zu sein. Betroffene sind auch Mitarbeiter im Team, Kollegen im eigenen Hospiz/ Palliativteam!

2 Der trauererfahrene Mitarbeiter in der Begegnung mit dem Sterbenden Personalverantwortliche in Hospiz- und Palliativeinrichtungen haben es also nicht nur mit sterbenden und trauernden Menschen zu tun, sie haben es auch mit Mitarbeitern zu tun, die – zumindest potenziell – auch selbst Trauernde sind, weil sie Trauererlebnisse haben oder hatten. Parallelen und Übertragungen zwischen Mitarbeitern und Patienten bzw. Angehörigen sind nicht auszuschließen. Mitarbeitende begegnen einem kranken oder sterbenden Menschen, der im Leben vielleicht das hatte, was für einen selbst unerfüllt blieb: eine Familie, schöne Reisen, ein Haus im Grünen. Die Erinnerung an das, was man selbst auch gern gemacht oder gehabt hätte, ist da. Oder es findet eine Begegnung statt mit einem Sterbenden, der ebenfalls nicht erreicht hat, was dem eigenen Wunsch entsprach, als Kind die Mutter verlor, den Mann an der gleichen Krankheit sterben sah, auf den Traumberuf verzichten musste. Viele Unterschiede und Parallelen

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sind möglich, die bewusst oder unbewusst wahrgenommen werden, an eigene Trauererfahrungen erinnern und eine unausgesprochene Verbundenheit schaffen. Ob eigene Trauererfahrungen als ein Beziehung stiftendes Element eine Rolle im Arbeitsalltag spielen, ist von jedem Mitarbeiter zu reflektieren, zumal die Beziehung zum Patienten als zweithäufigster Belastungsfaktor in der Studie »Wie viel Tod verträgt das Team?« (Müller, Pfister, Markett und Jaspers, 2009) genannt wurde. Wenige Jahre später lag ein Mann in meinem Alter auf unserer Palliativstation, der in einer schwulen Beziehung lebte. Anders als Jürgen und ich waren der Patient und sein Mann aber nicht »verpartnert«. Die Lebensumstände waren – ohne ins Detail zu gehen – reichlich komplex. Kein Wunder, dass mich Pflegedienstleitung und Ärzte gezielt auf den Patienten ansetzten. Kein Wunder? Genau das wurde zum Problem. Das Team wünschte sich von mir, dass ich mit dem Patienten ein paar heikle Themen angehen würde, die für ihn, sein Umfeld und das Betreuungsteam belastend waren. Aber der Patient hatte das Gespräch darüber schon abgelehnt. Die Hoffnung, dass ich wegen einer ähnlichen Lebenssituation – um nicht zu sagen: als Schwuler – einen anderen Zugang finden würde, lag ja nahe. Auch für mich, weil ich hoffte, meine eigene Erfahrung für den Patienten und seinen Mann fruchtbar zu machen, in ganz pragmatischen und in emotionalen Dingen. Dass ich in dieser Situation längst nicht mehr frei war für eine ergebnisoffene Begleitung, bei der der Patient über Seelsorgliches oder anderes bestimmt, wurde mir sehr schnell klar. Der Auftrag des Teams und meine Übertragungen von eigenen Vorstellungen auf den Patienten waren konträr zu dem, was sonst das Tun von Seelsorgern bestimmt. Der Patient hatte seine Gründe für seine Verhaltensweisen. Es war klar, dass ich dies gegenüber dem Team zum Ausdruck bringen musste, was zu einem regelrechten Konflikt in der Festlegung der Betreuungsstrategie führte. In einer bald folgenden Teamsupervision wurde deutlich, dass meine Doppelrolle als Teammitglied und als schwuler Witwer auf beiden Seiten (im Team und für mich selbst) gefährlich war. Ich sah mich zunehmend einer heterosexuellen Diskriminierung ausgesetzt: Warum wissen Heterosexuelle eigentlich immer genau, wie offen oder nicht offen wir Schwulen (und Lesben) mit unserer Sexualität umzugehen haben und ob wir einen HIV-Test machen sollen oder nicht? Und warum wurde ich eigentlich eingesetzt, um diese Ratschläge dem Patienten zu verklickern? Nur, weil ich – vermeintlich – seine Situation besser kannte?

3 Der pflegende oder trauernde Kollege im Blickfeld von Team und Leitung 3.1 Spannungsfeld: Trauer zwischen Privat- und Teamangelegenheit

In einer Tageszeitung wurden im Teil »Beruf & Erfolg« (Hamburger Abendblatt, 2011) von Kommunikationstrainern Empfehlungen zum Umgang mit einem z. B. durch einen Todesfall belasteten Kollegen gegeben: Einblicke ins Privatleben am Arbeitsplatz seien

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grundsätzlich dosiert denkbar bis hin zu einer gezielten Information, um für Klarheit zu sorgen und die weitere Zusammenarbeit nicht zu belasten. Wer merke, dass mit dem Kollegen etwas sei, könne mal ehrlich gemeint nachfragen. Auch die Führungskräfte sollten nachfragen, wenn sie es denn mitbekämen, denn ein Ausdruck des Mitgefühls und ein Gespräch seien angebracht. Ein Gespräch sei aber spätestens dann erforderlich, wenn sich das private Problem auf die Arbeit auswirke. Der Coach empfiehlt Einstiegsfragen wie »Schaffst du es? Wie fühlst du dich?«, um dann »einfach nur aktiv zuzuhören« und das Gesagte dann evtl. zusammenzufassen und mit einem Kopfnicken oder einem »Hm« zu unterstreichen (Hamburger Abendblatt, 2011, S. 60). Mehr solle es am Arbeitsplatz nicht sein – diese Empfehlungen mögen für viele Branchen richtig sein. Der Trauerliteratur zufolge verlieren Verwitwete instrumentelle, validierende und emotionale Unterstützung sowie soziale Identität. Der Verlust sozialer Identität meint, dass man als Trauernder in der Gefahr steht, das bisherige eigene Selbstverständnis zu verlieren wie auch das, was einem andere als Rolle und Identität zuschreiben. »Die soziale Identität bestimmt auch unseren Sozialstatus und macht einen Teil unseres Selbstbewusstseins aus« (Lammer, 2010, S. 86). In meinem Fall gestaltete sich das richtig schwierig. Gegenüber meinem Arbeitgeber Kirche war es durchaus erklärungsbedürftig, dass ich nicht nur schwul, sondern auch Witwer war und wie »normale Witwer« auch Klärungsbedarf sozialrechtlicher Fragen hatte (z. B. bezüglich der Ansprüche von Hinterbliebenenversorgung). Die neue soziale Identität im Palliativteam war vor allem im Rahmen der Wiedereingliederung nach einer angemessenen Auszeit klärungsbedürftig. Ich galt noch lange als der Angehörige eines Verstorbenen und wurde entsprechend vorsichtig und empathisch behandelt – was mir guttat. Doch zugleich wollte und sollte ich ja auch wieder der professionelle Seelsorger sein, der physisch und psychisch belastbar ist. Ich wollte nicht immer »geschont« werden, insbesondere nicht, wenn die »Schonung« hinter meinem Rücken vereinbart wurde (»Zu dieser Patientin können wir den Traugott nicht schicken, das überfordert ihn.«). Wir haben es nie geschafft, darüber in einer offenen Weise zu sprechen. Ich selbst hielt mich zurück aus Angst, meine eigenen Probleme auf das Team zu übertragen. Stattdessen suchte ich mir einen Psychotherapeuten, den ich bewusst während der Arbeitszeit aufsuchte, mit Einverständnis meines (kirchlichen) Arbeitgebers übrigens. Bei einem Team, das beruflich mit Sterben und Tod arbeitet, wird der vom Kommunikationstrainer empfohlene Umgang mit einer privaten Belastung nicht ausreichen. Es ist der Anspruch der Hospiz- und Palliativmitarbeitenden, Patienten und Angehörige mit all ihren Bedürfnissen wahrzunehmen. Auch Mitarbeiter sind Angehörige. Ihnen einfühlsam zu begegnen und Raum zu geben, wenn sie zu Hause ein unheilbar erkranktes Familienmitglied pflegen oder wenn sie in Trauer sind, ist für Hospiz- und Palliativmitarbeiter selbstverständlich. Wenn die Empfehlung des Kommunikationstrainers hier zu kurz greift, stellt sich die Frage, wie viel Raum für die

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private Not im Arbeitsumfeld möglich ist. Für die Leitung ergeben sich drei Fragenkomplexe: 1. Wie viel »Arbeit am Limit« ist einem selbst betroffenen Mitarbeiter zumutbar und wie viel möchte er sich selbst zumuten? 2. Wie viele Änderungen im Dienstplan der Ärzte und Pflegenden, wie viel Mehrbelastung verträgt das hauptamtliche Team? Wie viele pflegende bzw. trauernde und deshalb nicht einsatzbereite ehrenamtliche Hospizbegleiter verträgt ein Hospizdienst? 3. Unter welchen Umständen ist die Arbeit eines betroffenen Mitarbeiters aus der Sicht des Sterbenden in einer ambulanten oder stationären Hospiz-/Palliativeinrichtung nicht mehr sinnvoll? Sinnvoll erscheint es, eine Vereinbarung zu treffen zwischen der Leitung und dem betroffenen Mitarbeiter. Diese Vereinbarung umfasst konkret die offene Kommunikation darüber, dass der Mitarbeiter selbst beschreibt, was er sich zumutet und Grenzen benennt, aber auch darüber, dass Leitung und Kollegen äußern dürfen, wenn sie die Situation als bedenklich einschätzen. Dies setzt eine gewisse Kritikfähigkeit des Mitarbeiters voraus, wobei der Kritik selbstverständlich das Motiv der Fürsorge zugrunde liegt. Die Vereinbarung kann des Weiteren Rahmenbedingungen zur Inanspruchnahme von Einzelsupervision beinhalten. Von Hospiz- und Palliativmitarbeitenden wird die Bereitschaft erwartet, sich mit dem eigenen Erlebten auseinanderzusetzen. Diese persönliche Auseinandersetzung wird in den Palliative-Care-Kursen für Mediziner, Pflegende, Seelsorgende, psychosoziale Berufsgruppen wie auch in den Schulungen für ehrenamtliche Hospizbegleiter mit unterschiedlichem Umfang aufgegriffen. Darüber hinaus wird erwartet, dass eine Wahrnehmung und Professionalität in der Trennung der Rolle als selbst von Trauer Betroffener und als Mitarbeiter entwickelt wird, d. h. die eigene Trauererfahrung im Berufsalltag als solche erkannt und diese nicht in die konkrete Begegnung mit dem Palliativpatienten unreflektiert mit hineingenommen wird. Im Umfeld von Sterben und Trauer kommt es notgedrungen immer wieder zu Übertragung: »Ein vergangenes Beziehungsmuster wird als unbewusste Phantasie in der Gegenwart wiederholt und verzerrt damit unvermeidlich die gegenwärtige Beziehung« (Klessmann, 2004). In der therapeutischen Beziehung hat man die Bedeutung von Übertragung und Gegenübertragung erkannt und als bewusst einzusetzendes Instrument positiv gewürdigt. In der hospizlichen und palliativen multiprofessionellen Betreuung erfordert dies aber die Möglichkeit, Gegenübertragungen (vom Begleiter auf den Patienten oder Angehörigen) zu erkennen und zu thematisieren. Teambesprechung, Supervision, interne Fortbildung sind Angebote am (haupt- oder ehrenamtlichen) Arbeitsplatz, die dieses fördern. Gerade dadurch muss die Frage der Gratwanderung zwischen Privatsphäre und Öffentlichmachung eigener Trauererfahrungen im beruflichen Hospiz- bzw. Palliativumfeld neu gestellt werden.

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3.2 Spannungsfeld Rolle: ein der Fürsorge bedürfender Kollege mit Entlastungsfunktion für die anderen

Für Personalverantwortliche öffnet sich ein Spannungsbogen, der »spannender« nicht sein könnte, denn aus der Sicht des betroffenen Mitarbeiters stellen sich Fragen aus drei Perspektiven:

Interessen- wie auch emotionale Konflikte sind denkbar. Für eine überschaubare Zeit kann ein Team einen veränderten Dienstplan mittragen, der Entlastungen für einen belasteten Kollegen vorsieht, aber dadurch Mehrbelastungen für alle anderen Mitarbeitenden mit sich bringt. Ein paar Monate, nachdem ein Kollege einen Todesfall erleben musste, kehrt für das Team der Alltag zurück und damit auch die Erwartung, dass der Kollege seine Aufgaben wie gewohnt übernimmt. Schnell geht im Arbeitsalltag unter, dass Trauer keinen zeitlichen Abschlusspunkt hat und die schlimmste Zeit für einen Trauernden erst noch kommt. Wie lange kann und möchte ein Team, eine Leitung besondere Rücksicht nehmen?

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In der Trauerliteratur konzentriert man sich häufig auf die kurze Phase vor und direkt nach dem Tod, in der Annahme, dass es für Trauernde vielleicht die entscheidende Zeit ist, die über erschwerte oder »normale« Trauerverläufe entscheiden wird. Und auf der Palliativstation ist das die Zeit, in der wir Kontakt zu den Angehörigen haben. Meine eigene Trauererfahrung hat mich Neues gelehrt. Die Zeiträume, die ich als besonders dramatisch empfand, waren mehrere Monate nach Jürgens Tod. Und wenn ich heute mit befreundeten Witwern spreche, erzählen sie das Gleiche. In der Phase direkt nach Jürgens Tod gewährte die gesamte Umgebung Unterstützung. Jede und jeder nahm Rücksicht auf die Bedürftigkeit innerhalb der ersten Tage bis zur Beerdigung. Viel Kraft wünschten sie, denn »Jetzt kommt sicher ein tiefes Loch. Vor allem, wenn du wieder in eure Wohnung kommst.« Aber für ein tiefes Loch war vorerst gar keine Zeit. Denn die Behördengänge, die zwingende Vermeldung des Todesfalls bei sämtlichen Geschäftskontakten Jürgens verschlang Stunden, Tage, ja ganze vier Wochen. Es ist unglaublich, wer alles meint, die Zusendung einer Sterbeurkunde (großzügigerweise: »Kopie genügt!«) verlangen zu können. Selbst die Gebührenzentrale des öffentlichen Rundfunks GEZ bestand auf der Sterbeurkunde, obwohl der Haushalt ja weiter bestand. Ich kam mir vor wie ein Kleinkrimineller, der die Rundfunkanstalten durch einen fingierten Todesfall um ihre Zwangsgebühren bringen will. Die Beantwortung der Trauerpost nahm viel Zeit in Anspruch, war aber zugleich auch ein Teil von Trauerarbeit, den ich gern und bereitwillig übernahm. Gut sechs bis acht Wochen nach Jürgens Tod war das erledigt. Die Zeit, die jetzt kam, war schwerer als alles vorher. Statt spürbarer Anteilnahme durch Briefe, Anrufe und Besuche kam nun die Zeit, in der ich mich meiner Trauer allein stellen musste. Klar: Alle Freunde und Kollegen kehren in ihren Alltag zurück. Mir freilich blieb der verwehrt, denn es gab keinen Alltag mehr, in den ich hätte zurückkehren können. Ich musste erst langsam einen neuen Alltag schaffen. Nun empfand ich erstmals das körperliche und kommunikative Schweigen um mich, wenn ich daheim in »unserer« Wohnung war. Nun begann er, mir wirklich zu fehlen als mein Partner fürs Leben. Erst jetzt stellten sich mir die Fragen, ob und wie ich überhaupt weiterleben wollte. Sollte ich weiter Schwarz tragen? Was sollte ich mit seiner Kleidung, mit unserer Wohnung machen? Jetzt waren die schwierigen Aufgaben in der Suche nach einer neuen Identität zu leisten. Und bei all den Herausforderungen spürte ich erst jetzt und langsam, wie alt mich all das gemacht hatte, wie müde und kraftlos ich mich fühlte. Dass die Trauertheorie so wenig über diese Phase schreibt, so wenig hilfreiche und kreative Unterstützung anbietet für diese Zeit, ist mir ein Rätsel. Was ist denn schon erfolgreiche Trauerarbeit? Und wann geschieht die? Gerade in dieser Zeit habe ich sensibler reagiert als sonst, ob meine Gesprächspartner Jürgen in Ehren hielten, ob sie sich einließen auf Gespräche über Trauer und über die verzweifelten Versuche, sich neu auf das Leben einzustellen. Es war mir wichtig, mit denen in Kontakt zu bleiben, die für Jürgen von Bedeutung waren, denn sie hielten ihn in gewisser Weise präsent in der Welt.

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Aber gerade jetzt hörten im beruflichen Umfeld – verständlicher Weise! – die Nachfragen auf. Gerade jetzt war mir ungewiss geworden, ob ich meinen Beruf im Palliativbereich überhaupt fortsetzen wollte und konnte. Ich brauchte eine Auszeit und eine intensive therapeutische Begleitung, um mich neu zu orientieren. Da war Jürgen schon bald ein halbes Jahr tot. Den Kollegen meines Seelsorgeteams gegenüber empfand ich dabei ein schlechtes Gewissen, weil ich immer noch nicht funktionierte. Der Kollege durchlebt als Trauernder die gleichen Phasen wie jeder andere Trauernde auch, nur eben mit dem Unterschied, dass Trauer nun sowohl das private als auch das berufliche Umfeld beherrscht. Es ist laut der Studie von Müller und Kollegen (Müller, Pfister, Markett und Jaspers, 2009) bekannt, dass der wichtigste Schutzfaktor bei Überlastung und Burnout das Team selbst ist. Wie kann das also gehen, wenn man einerseits einem Kollegen die so wichtige Zuwendung geben möchte, andererseits das Team als Schutzraum braucht, in dem man eben nicht die ganze Kunst des aktiven Zuhörens anwenden muss, sondern in allem Reden und Tun einmal das eigene Befinden Vorrang haben darf? Ist ein Team nicht gerade deshalb auch entlastend? Das System Team kommt durch den Tod eines nahen Angehörigen im übertragenen Sinne genauso in ein Ungleichgewicht wie das »System Familie«, weil der Kollege üblicherweise eine Stütze ist und gleichzeitig der Fürsorge bedarf. Deshalb sind hausinterne Angebote wie z. B. Einzelsupervision für den betroffenen Kollegen wichtig, um das Team neben der Mehrarbeit bei der Aufgabe emotionaler Unterstützung zu entlasten und ein Ungleichgewicht in Balance zu bringen. 3.3 Spannungsfeld: hoher Anspruch – Mehrbelastung – Selbstpflege und Burnout-Prophylaxe

Hospiz- und Palliativteams arbeiten mit einem hohen Anspruch am Patientenbett, der durch die Betroffenheit eines Kollegen eine Steigerung erfährt. Laut Studie (Müller, Pfister, Markett und Jaspers, 2009) ist der eigene Anspruch an sich selbst ein hoher Belastungsfaktor. Deshalb kann eine besondere Belastung entstehen, wenn ein Kollege plötzlich selbst betroffen ist. Einem trauernden Kollegen fürsorglich Raum zu geben, ist eine Herausforderung für ein Team, das selbst und ständig mit Sterben, Tod und Trauer konfrontiert ist, das gefordert ist, professionell damit umzugehen, und das selbst das Team braucht, in dem eben nicht gestorben und nicht getrauert wird. Das »Mehr« an Leistung jedes Einzelnen, das nötig und meistens selbstverständlich ist, wird bis über die Grenzen geleistet – vor dem Hintergrund, dass Selbstpflege und Burnout-Prophylaxe Themen in den Palliative-Care-Kursen und Hospizbegleiterschulungen sind. Mitarbeiter entwickeln ein Bewusstsein dafür, wo die eigenen Grenzen des Leistbaren sind, bzw. sie kommen gerade im Bewusstsein ihrer Grenzen in Konflikt, weil sie diese Grenzen massiv und vielleicht über längere Zeit zugunsten des betroffenen Kollegen überschreiten (wollen und müssen). Der innere Zwiespalt, dem Kollegen Raum zu geben und gleichzeitig einen vernünftigen und über die lange Sicht tragfähigen Arbeitsrahmen

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einzufordern, um persönliche Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zu erhalten, bleibt. Dafür ist Teamsupervision ein geeigneter Ort, um mit Blick auf sich selbst, den betroffenen Kollegen sowie das ganze Team persönliche Zufriedenheit wie auch Arbeitsfähigkeit zu erhalten bzw. wiederherzustellen.

4 Verschiedene Arten von Trauererlebnissen und -anlässen 4.1 Der Verlust eines lieben Menschen

Aus der Lebensgeschichte der Kollegen sind die Trauererfahrungen oft nicht bekannt, weil sie sie im Bereich des Privaten belassen. Die Textteile von Traugott Roser zeigen, dass die Trauererfahrung in diesem Fall bekannt war: Es schreibt ein Seelsorger, der selbst Mitarbeiter einer Palliativstation ist, aber das erlebte Sterben am eigenen Arbeitsplatz als »ganz normaler« trauernder Angehöriger schildert, der einen geliebten Menschen verloren hat. Schon diese Situation erweist sich für die Leitung eines Teams als schwierig.

4.2 Tabuisierte Traueranlässe

Aber es gibt auch andere Trauererfahrungen, die wenig Beachtung finden oder unter Umständen erfolgen, die mit gesellschaftlichen Tabus belegt sind, und deshalb das Verhältnis im Team auf besondere Weise herausfordern, weil sie den Konventionen – auch den Konventionen im Kosmos der Hospiz- und Palliativbewegung – nicht entsprechen oder gar zuwiderlaufen. Im Folgenden sind nur ein paar Beispielsituationen genannt, die für die Leitung eines Teams Anlass zu besonderer Achtsamkeit sein sollten. 4.2.1 Suizid Einer hohen Sensibilität bedarf es im Team, wenn ein Kollege einen nahen Angehörigen durch Suizid verliert. Nicht nur, dass es sich um einen plötzlichen Tod handelt. Suizid bringt Schuld- und Warum-Fragen in besonderer Weise mit sich. Sich selbst das Leben zu nehmen, wird kontrovers diskutiert. Ebenso kontrovers sind auch die Ansichten der Kollegen dazu. Als von Suizid betroffener Mitarbeiter im Team stellen sich Unsicherheit und Zweifel ein, wie die einzelnen Kollegen reagieren werden und ob nicht ein Schweigen darüber die Mitarbeit im Team sogar erleichtern würde. 4.2.2 Tod eines ungeliebten Menschen Es gibt Menschen, die einem alles andere als lieb waren. Sie gehörten zur Familie, aber die Erinnerung an sie ist keine gute. Ihr Tod war vielleicht kein trauriges Ereignis; im Abschied gab es keine Versöhnung. Darf man – als im hospizlichen Umfeld Tätiger – sich über den Tod eines Menschen auch freuen? Darf man die verspürte Erleichterung aussprechen? Wie denken die Kollegen darüber, und wie ist das, wenn im beruflichen Kontext ein Palliativpatient stirbt, der diesem unliebsamen Menschen, dessen Tod,

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Und dann traf es mich selbst …

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vielleicht vor vielen Jahren, so ein erleichterndes Ereignis war, so ähnlich ist im Aussehen, in der Sprache, in den Vorlieben, in der Mimik oder Gestik? 4.2.3 Der »nichtpalliative« Tod Mitarbeitende in Hospiz- und Palliativeinrichtungen »gewöhnen« sich an das »gute« Sterben, das sie in ihrem Arbeitsumfeld erleben bzw. selber gestalten können. Aber der Großteil stirbt in Krankenhäusern oder Pflegeheimen und unter Umständen, die nicht dem Ideal der Hospiz- und Palliativarbeit entsprechen. So kann es auch dem Angehörigen eines Kollegen gehen, wenn z. B. als Lösung nur ein Pflegeheim infrage kommt (in dieser Situation vielleicht sogar gut ist) oder die letzte Lebensphase sich in einer Intensiveinheit eines Krankenhauses abspielt. Die Rahmenbedingungen für die Gestaltung der letzten Lebensphase sind gänzlich andere, als es vom Berufsalltag her gewohnt erscheint. Mit dem Fachwissen über palliative Versorgungsmöglichkeiten treten Schuldgefühle und Ärger vermehrt auf. Es entsteht das Gefühl, nicht alles Denkbare getan zu haben und dass die tatsächliche Versorgung deshalb weit hinter den Möglichkeiten zurückbleibt. Der persönliche Anspruch, das Beste erreichen zu wollen, scheitert an den Umständen, weil die Gestaltungsmöglichkeiten beschränkt sind. Sie sind beschränkt, weil es sich zum einen um Abläufe in einem »fremden« Haus handelt und zum anderen, weil die Rolle nicht mehr die des Hospiz- bzw. Palliativmitarbeiters ist, sondern die eines betroffenen Angehörigen. Als solcher muss der Kollege plötzlich selbst Entscheidungen treffen über z. B. den Einsatz von hochtechnisierten medizinischen Möglichkeiten, die im palliativen Kontext nicht üblich sind. 4.2.4 Homosexualität Man mag glauben, die gesellschaftliche Tabuisierung von Homosexualität sei überwunden. Sie ist es nicht, und sie ist es ganz besonders nicht, wenn der homosexuell lebende Kollege im Hospiz/Palliativteam den Lebensgefährten verliert. Die eigene Positionierung eines jeden Teammitglieds zur Homosexualität ist unausweichlich angesprochen. Für Kollegen mit einer ablehnenden Haltung mag sich eine Spannung bilden zwischen Ablehnung dieser Lebensform und Zuwendung zum trauernden Kollegen, mit der es einen Umgang zu finden gilt. Eines ist wichtig, im Blick zu haben: Nicht selten sind Mitarbeiter auch »mit Trauer Erfahrene«. Und gelegentlich haben die Kollegen Erfahrung mit Lebens- und Todesumständen, die nicht »gängig« und deshalb ein Tabu sind. Es öffnet sich ein Spannungsfeld, das zu einer Herausforderung für Team und Leitung, aber auch für den Betroffenen selbst werden kann. Dann braucht es eine besondere Sensibilität, einem betroffenen Kollegen im Team den für alle Beteiligten passenden Raum zu geben – vielleicht mehr Sensibilität, als es Hospiz- und Palliativmitarbeitende im Umgang mit den ihnen (ambulant und stationär) anvertrauten Menschen gewohnt sind.

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Traugott Roser und Margit Gratz

Literatur Hamburger Abendblatt (2011). 21./22. 5. 2011, 60. Klessmann, M. (2004). Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagshaus. Lammer, K. (2010). Trauer verstehen. Formen – Erklärungen – Hilfen. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagshaus. Müller, M., Pfister, D., Markett, S., Jaspers, B. (2009). Wie viel Tod verträgt das Team? Eine bundesweite Befragung der Palliativstationen in Deutschland. Schmerz, 23 (6), 600–608.

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Zeichen der Erschöpfung

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Belastungssymptome David Pfister

Ein wichtiger Aspekt der Studie von Müller, Pfister, Markett und Jaspers (2009) sind die Belastungssymptome. Diese umfassen die Art und Weise, wie ein Team auf den Tod reagiert, also wie sich die Belastungen äußern. Wie wir aus persönlichen Erfahrungen wissen, gibt es ganz unterschiedliche Arten, mit alltäglichen Belastungen umzugehen. Der Eine zieht sich eher zurück, der Andere reagiert möglicherweise mit Wut oder offener Verzweiflung. In der Studie stellten sich drei grundlegende Typen der Reaktion heraus: Streit, Ablehnung und Rückzug.

Abbildung 1: Belastungssymptome in Hospizen und Palliativstationen (signifikante Unterschiede sind mit * gekennzeichnet)

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David Pfister

Am häufigsten nannten die Befragten in beiden Einrichtungen das Symptom Überredseligkeit als Reaktion ihres Teams auf den Tod (siehe Abbildung 1). Dies entspricht den Angaben von Ärzten in der Palliativversorgung in Großbritannien (Moores, Castle, Shaw, Stockton und Bennet, 2007). Die Teilnehmer beschrieben Überredseligkeit in den Vorbefragungen zu unserer Studie als Psychologisieren, Analysieren und das Ausplaudern von intimen Details des Patienten im Team. Man kann diese Phänomene mit dem Begriff der »dysfunktionalen Kommunikation« zusammenfassen. Das Miteinander-Sprechen hat somit keine entlastende Funktion mehr, sondern wird selbst Teil der Belastung, weil es einen Verarbeitungsprozess durch die ständige Wiederholung und Verflachung verhindert. Weil keine Gefühle mehr miteinbezogen werden, findet keine emotionale Verarbeitung mehr statt. Danach folgten Reizbarkeit, Spannungen zwischen den Berufsgruppen und Zynismus als angegebene Belastungssymptome. Die Spannung zwischen Berufsgruppen nannte bereits Vachon (1988) als bedeutendes Belastungssymptom in Palliativstationen. In einem mit Streit und Vorwürfen auf den Tod reagierenden Team schätzten seine Mitglieder die Zukunft des Teams auch als schlechter ein. Es wird deutlich, wie stark sich Kommunikation auf die Stimmung in Bezug auf das Team auswirkt. Die Mitarbeiter in Palliativstationen und Hospizen gaben fast genau die gleiche Reihenfolge der Belastungssymptome an. Die Reaktionsweisen, die ein Team zeigt, wenn es belastet ist, scheinen damit unabhängig von der Einrichtung zu sein. Jedoch schätzten Mitarbeiter in Palliativstationen das Auftreten von Belastungssymptomen insgesamt als häufiger ein. Der Unterschied kam vor allem durch mehr Spannungen zwischen den Berufsgruppen, Rückzug sowie Verweigerung von Neuaufnahmen in Palliativstationen zustande. In Palliativstationen sind mehr Berufsgruppen an den Teams beteiligt, was Gruppenkonflikte begünstigen kann. In Hospizen sind selbst Ärzte kaum in das Team eingebunden, sodass das Team vor allem aus den Pflegekräften besteht. Auch externe Hausärzte sind nur von Zeit zu Zeit anwesend. Jedoch stellen die Spannungen zwischen den Berufsgruppen auch einen Motor dar, der die multiprofessionelle Teamarbeit antreibt und befruchtend ist, solange sie konstruktiv ausgetragen werden. Spannungen können also nicht generell als dysfunktional dargestellt werden. Das Belastungssymptom Überredseligkeit trat in Hospizen häufiger auf. Dies kann mit dem hohen Wert, der in Hospizen auf Kommunikation gelegt wird, zusammenhängen, sodass dort eine Haltung entwickelt wird, dass alle Probleme ausführlich besprochen werden müssen. In diesem Punkt könnte eine Professionalisierung Verbesserungen mit sich bringen.

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Belastungssymptome

Literatur Moores, T. S., Castle, K. L., Shaw, K. L., Stockton, M. R., Bennet, M. I. (2007). »Memorable patient deaths«: reactions of hospital doctors and their need for support. Medical Education, 41, 942–946. Müller, M., Pfister, D., Markett, S., Jaspers, B. (2009). Wie viel Tod verträgt das Team? Eine bundesweite Befragung der Palliativstationen in Deutschland. Schmerz, 23 (6), 600–608. Vachon, M. L. S. (1988). Battle fatigue in hospice/palliative care. In A. Gilmore, S. Gilmore (Eds.), A safer death. New York: Plenum.

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Über die Zweideutigkeit des Todes oder: der zweideutige Tod Die Unausdeutbarkeit des Todes als Moment humaner Sterbebegleitung Sylvia Brathuhn und Eduard Zwierlein

Im palliativen und hospizlichen Feld zu arbeiten, bedeutet, dem Sterben, dem Tod und der damit einhergehenden Trauer zumindest quantitativ wesentlich öfter zu begegnen als im Leben außerhalb dieses Feldes. Die Menschen, die betreut und begleitet werden, sind im schulmedizinischen Sinne nicht mehr heilbar und werden in absehbarer Zeit sterben. Was bedeutet dies für ein Team, das Sterbende begleitet? Professionalisiert sich dabei der Blick auf das Sterben? Und hat dies mit der Frage nach Quantität zu tun, wie der Titel des vorliegenden Buches nahelegen könnte? Entwickelt sich daraus vielleicht so etwas wie eine Sterbeverträglichkeit oder eine Todesunverträglichkeit? Und wäre irgendetwas davon überhaupt wünschens- oder erstrebenswert? Wer in diesem palliativ-hospizlichen Arbeitsfeld tätig ist, bewegt sich gewissermaßen in zwei Welten gleichzeitig. Dabei ist die eine Welt die des medizinischen Alltags. In ihr erscheint alles mehr oder weniger klar, durchsichtig und transparent. Fragen, die auftauchen, finden Antworten. Die Körperlichkeit des Menschen ist bekannt, Organe können transplantiert oder durch künstliche ersetzt werden, der Mensch wird durchleuchtet, gescannt, geschallt, tomografiert und operativ auch von innen sichtbar gemacht. In dieser entzauberten Welt wird für nahezu alles eine Lösung gefunden, ist nahezu alles handhabbar, erlebt sich der Mensch auf vielerlei Gebieten als omnipotent. Der Tod passt nicht in diese rationale Welt der medizintechnischen Machbarkeit … und doch sterben in dieser Welt Menschen. Die andere Welt ist die des Geheimnisses, aber auch der Ohnmacht, eine Welt, in der spürbar ist, dass sich alles Lebendige unserer Verfügbarkeit letztlich entzieht. Es ist eine Welt, in der wir – vielleicht widerstrebend – doch anerkennen müssen, dass viele Fragen keine Antwort finden. Alle Versuche, Transparenz herzustellen, scheitern immer wieder, so scheint es, an einer grundsätzlichen Intransparenz des Menschen. Alle Versuche, über den Tod verfügen und ihn beherrschen zu wollen, lassen uns zuletzt mit leeren Händen zurück. Am Ende haben wir uns in keiner Weise in der Hand, sodass wir aufgerufen sind, uns mit der zwiespältigen Endlichkeit des eigenen Lebens zwischen Macht und Ohnmacht auseinandersetzen zu müssen.

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1 Mensch und Sterblichkeit – zur Zweideutigkeit der Todeserfahrung Will man sagen, wer oder was der Mensch ist, bedient man sich häufig eines Vergleichs. Im Vergleich mit den Tieren wird man vielleicht das selbstreflexive Denken, im Vergleich mit Maschinen sein Gewissen, seine Freiheit oder sein mit Leben und Gefühl verbundenes Erkennen als das entscheidende Merkmal des Menschseins herausheben. Die griechische Antike verglich die Menschen gern mit den ewig und glückselig lebenden Göttern und nannte sie im Unterschied zu ihnen die Sterblichen. Wir sind nur ein flüchtiger Stoff aus Zeit: Gerade geboren, sind wir dem Tode schon geweiht. Die nicht nur in irgendeinem äußeren Vergleich gewonnene Einsicht in die eigene Sterblichkeit, sondern ihre innere und intime Erfahrung, vor allem dort, wo ein geliebter Mensch stirbt, ist in der Tat eine maßgebliche Signatur des Menschen. Das Bewusstsein, sterblich und ein Mensch zu sein, erläutert sich wechselseitig. Der Mensch ist ein animal rationale mortale, ein vernünftiges und sterbliches Lebewesen, d. h. ein über sein eigenes Ende und seine Sterblichkeit nachsinnendes Lebewesen. In der Konfrontation mit der Erfahrung des Todes zeigt sich das ganze Drama der menschlichen Existenz, seine Angst und seine Hoffnung genauso wie das Gewicht der Liebe, die Bedrohung des Personalen genauso wie das Ineinander von Freiheit und Schicksal. Deswegen auch fühlt der Mensch in sich sowohl die Aufgabe, sich mit der Todesfrage auseinanderzusetzen, als auch den Wunsch, sich ihr zu entziehen, und zwar beides aus demselben Grund: weil nämlich in ihr alles auf dem Spiel steht und weil es in ihr um alles geht. Wenn auch die Menschen je nach Persönlichkeit diese ihnen universal zugehörige Ambivalenz unterschiedlich auffällig erleben, so ist doch das Abenteuer der Menschwerdung unlösbar mit der zunehmenden Entfaltung der Todeserfahrung verknüpft. Die Zweideutigkeit des Todes für die menschliche Existenz zeigt sich dabei in vielen Aspekten des Lebens. Einerseits erscheint der Tod als notwendig und sinnvoll, andererseits als grauenvoll und sinnzerstörend. Einerseits weist er uns auf die Kostbarkeit und Knappheit der Zeit hin, andererseits ängstigt er uns als das, was die uns kostbare Zeit endgültig verschlingen will. Einerseits ist er alltäglich und physisch klar vor Augen, andererseits bleibt er geheimnisvoll und fragwürdig. So gewinnt der Tod im Leben der Menschen eine janusköpfige Gestalt und zeigt auf einer Medaille zwei einander entgegengesetzte Gesichter, die wir nicht in ein Bild bringen können. Die Menschen aber streben genau so auf ihn zu, wie sie vor ihm flüchten. Ihre Stellungnahme zum Tod scheint weder ein reines »Ja! Ja!« noch ein reines »Nein! Nein!« zu sein, sondern zwischen beiden schwankend in alle möglichen Richtungen zu gehen. Unser Verhältnis zum Tod ist also kompliziert. Das lateinische Wort »complicatio« bedeutet hier so viel wie verwickelt, hin und her, sowohl als auch. Wir haben keinen unkomplizierten, einfachen Standpunkt, von dem aus wir unseren Tod oder den eines geliebten Menschen betrachten oder auf ihn reagieren können. Aus der Vielfalt der möglichen Reaktionen kristallisieren sich allerdings einige grundsätzliche Stellungnahmen heraus.

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2 Reaktionen auf die Zweideutigkeit der Todeserfahrung Nach dem Tod ihres Mannes sagte eine 59-jährige Hospizhelferin: »Obwohl mein Mann älter war als ich und die Statistik einem Überleben seinerseits widersprach, haben wir gelebt, als hätte uns die Ewigkeit geküsst.« Nach einem kurzen Zögern fügte sie leise hinzu: »Und das, obwohl ich seit Jahren sterbende Menschen im Hospiz begleite.« Niemand ist jemals erfahren genug im Blick auf den Tod. Stets ist er eine »radikale Neuigkeit« für uns (Benjamin, Das Passagen-Werk), der unsere Gewohnheiten und unser Bescheidwissen zerbricht. Vor allem dann, wenn ein geliebter Mensch stirbt. So werden wir immer wieder aufs Neue dazu gedrängt, zwischen Lebensliebe und Todesscheu die »große Frage« (Augustinus, Confessiones IV) zu beantworten, zu der wir durch den Tod geformt werden. Dabei neigen wir in Praxis und Theorie dazu, entweder der Ambivalenz des Todes zu entgehen oder sie zu harmonisieren. 2.1 Praktische Reaktionen

Zwei Hinweise zum praktischen Umgang mit der Todeserfahrung beleuchten kurz die Eingangsbemerkung. Zum einen kennen wir alle aus der alltäglichen Erfahrung den Wunsch der Menschen, dem Thema des Todes auszuweichen. Auch wenn man nüchtern-wissenschaftlich (theoretisch) um das eigene Sterbenmüssen weiß, kann sich der Mensch offensichtlich nicht als gestorben denken und fühlen (nur der Andere kann sterben – ich nicht). Entsprechend verhält sich der Mensch lebenspraktisch auch in der Regel nicht so, als ob ihn ein definitives Ende erwarten würde. Er vertraut sich der Zeit und dem Leben an, gleich so, als ob es für ihn nie etwas anderes gäbe, als sei er unsterblich. In dieser, wie man mit Sigmund Freud sagen könnte, Unsterblichkeitsillusion spiegeln sich das Nichtwissen und die übergroße Fremdheit, die der Tod für den Menschen mit sich bringt. Neben die lebenspraktische Unsterblichkeitsillusion tritt der Unsterblichkeitswunsch, beispielsweise in der Form, in der er in einigen Religionen zu Hause ist. Denn eine Sehnsucht und Hoffnung regt sich in den Menschen, nicht nur, dass etwas von ihnen selbst bliebe, sondern auch von den anderen und gerade von denen, die sie lieben. Denn jemanden lieben heißt nach Gabriel Marcel (1952, S. 472), ihm zu sagen: »Du wirst nicht sterben.« So wäre also die Liebe, die den Menschen gegen das Nein des Todes unendlich bejaht, der unsterbliche Sinn des sterblichen Lebens. Prometheus hat uns, wie Aischylos erzählt, nicht nur die Gabe der Wissenschaft und des Feuers gebracht, sondern er hat uns auch etwas genommen, nämlich die Kenntnis unseres Todesdatums. Indirekt hat er uns damit Hoffnung auf Zukunft, auf einen weiteren Morgen geschenkt, darauf, immer wieder weiterleben zu dürfen. Die Rückseite dieser Hoffnung ist allerdings eine neue Ungewissheit, wann der Tod kommen wird, und eine existenzielle Zeitnot oder Zeitunsicherheit. »Mors certa, hora incerta«, das bedeutet, der Tod ist gewiss und sicher und unvermeidlich, die Stunde aber, in der er kommt, bleibt ungewiss. Dies bringt das »media vita in morte« ins Spiel, dass wir

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also mitten im Leben vom Tod umfangen sind, auch wenn wir ihn gern, wie Kant es ausdrückt, in einer »dunkelen Ferne« (Kant, AA II, 41) glauben möchten. Es sieht so aus, als ob der Tod erst am Ende des Lebens käme, aber das Ende ist jederzeit da. Die anwesende Abwesenheit des Todes durchzieht unser ganzes Leben. Diese allzeitige Zwillingsgestalt von Tod und Leben findet sich in dem klassischen Bild wieder, das das Grimm’sche Märchen vom »Gevatter Tod« in den Lebenslichtern aller Menschen ausdrückt, die in der unterirdischen Höhle des Todes brennen. Die herabbrennende Kerze, die unser Leben und seine unbekannte Spanne symbolisiert, muss nicht bis zum Ende brennen, sondern kann jederzeit ausgehaucht werden und verlöschen. Im Alltag ist der Tod daher zwar stets ein interessantes Gesprächsthema, jedenfalls so lange er andere betrifft oder in medialer Weise konsumiert wird. Aber als fordernder Gegenstand eines ernsthaften Gesprächs oder einer persönlichen Besinnung ist er doch eher die Ausnahme als die Regel. Blaise Pascals (Zwierlein, 1997) Gedanke, dass die Menschen, um sich glücklich zu machen, und da sie Tod, Elend und Unwissenheit nicht heilen konnten, auf den Einfall gekommen sind, nicht daran zu denken, trifft den Sachverhalt sehr gut. Die Menschen versuchen, sich von ihrer wahren Lage abzulenken, indem sie sich zerstreuen. Zerstreuung aber kann uns alles werden, wenn sie dabei nur die Funktion der Geschäftigkeit einnimmt, uns von uns selbst und einer ernsthaften Beschäftigung mit unserer Lage zu trennen. Während die Zerstreuungen Fluchtbewegungen weg von der Todeserfahrung sind, sehen andere Versuche wie eine mutige Bewegung zu ihr hin aus. So schließen wir Menschen im normalen Alltag Lebensversicherungen ab, versichern uns gegen Unfall mit Todesfolge, unterzeichnen Reiserücktrittsversicherungen mit der Zusicherung, dass der Leichnam im Fall eines Todes rücktransportiert wird, wählen eine Grabstelle aus, bezahlen sie schon zu Lebzeiten, verfassen ein Testament und signieren unter Beistand eines rechtskräftigen Zeugen unsere Patientenverfügung. Oder wir ertappen uns bei dem Versuch, durch allerlei Interventionen einem anderen das Sterben so schön wie irgendwie möglich zu machen. Doch fällt uns vielleicht bei genauerer Prüfung auf, dass wir uns hierbei gar nicht wirklich auf Sterblichkeit oder Tod anschaulich einlassen, sondern uns ihnen durch eine übermäßige Vielfalt von vernünftig erscheinenden Aktivitäten, die wir geschäftig zwischen uns und sie stellen, eher entziehen als zuwenden. Was wie eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Tod und Sterblichkeit aussehen mag, verrät sich in seiner Tiefe als ohnmächtiger Versuch, sich vor der Macht des Todes zu schützen und zu beruhigen. Was wie eine vernünftige Zuwendung zu Tod und Sterblichkeit wirkt, entpuppt sich allzu leicht als eine sich selbst nicht durchsichtige Abwendung von ihnen. Einen weiteren »mutigen« Versuch stellt die Kyronik dar, in der man nach einem technischen Verfahren sucht, ganze Körper oder einzelne Organe, insbesondere das Gehirn, durch Kälte so zu konservieren, dass sie in Zukunft wieder aufgetaut und wieder belebt werden können. Denn der Tod gilt hier nicht als etwas Natürliches, sondern eher als eine Art schrecklicher Krankheit. Sehen wir von allen technischen, rechtlichen oder ethischen Details ab, so haben wir eine Form der Auseinandersetzung mit der

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Sterblichkeit des Menschen vor uns, die den Tod durch den Trost einer wissenschaftlich-technischen Hoffnung besiegen möchte. Postmortale Garantien werden durch ein spezifisches Herrschaftswissen der Wissenschaften angestrebt. Theologische Hoffnungen auf Auferstehung und Ewigkeit werden zu Projekten technischer Könnerschaft. Auch wenn wir nicht glauben, dass der Tod sich technisch-wissenschaftlich überwinden lassen und man sich an ihm die Zähne ausbeißen wird, so reflektiert dieses Ansinnen doch anschaulich, wie sehr der Tod dem menschlichen Wesen ein Dorn im Auge ist und welche Kräfte er aufbieten möchte, um seine Sehnsucht nach einer Todesüberwindung zur realisieren. Die Toten sollen leben. Eines Tages mögen sie wie Schneewittchen erwachen oder wie Phönix aus der Asche steigen. Der Tod soll in tiefsten Schlaf verwandelt werden, aus dem der Mensch errettet werden kann. Die Sterblichen träumen von Unsterblichkeit. Ein Ende des Endes als technische Vision – wenn auch nur mit Hilfe von Frostschutzmitteln. Ist auch alle menschliche Macht im Blick auf den Tod Ohnmacht, so sehnt sich der Mensch, wenn eben auch ohnmächtig, hinüber in einen todesfreien Raum. Der angestrengte Versuch der Kyronik, so viel er uns über das menschliche Wesen verrät, ist schließlich auch nur eine Zerstreuung höherer Ordnung. Sie suggeriert dem Menschen die angenehme Hoffnung, dem bösen Feind alsbald die Waffen aus der Hand zu schlagen. Wie viel Angst ein Wesen haben muss, das sich solche Wege aussinnt, und was dies über uns sagt, das gerade kommt genauso wenig in den Blick wie die sich ins Unermessliche steigernde Angst vor der eigenen Sterblichkeit, die eintreten würde, falls das Projekt der Kyronik Erfolg hätte. Bei allem, wodurch Menschen von nun an sterben könnten, würde die sie dann begleitende und wachsende Sorge das Leben völlig neu formen, da sie sich für alle Eventualitäten eines Ablebens in geeigneter Nähe zu einem kyronischen Notfalldienst befinden müssten … Kein Wegbegleiter, der Sterbenden zur Seite steht, kann und soll stets praktisch in Konfrontation mit Tod und Sterben bleiben, als sei dies der einzige maßgebliche Sinnschlüssel zu seinen Aufgaben. Denn man muss auch seine Aufgaben aufgeben können, um ihnen gerecht zu werden. Alle Zerstreuungen, denen wir uns hingeben, zeugen von unserer Unmöglichkeit, stets auf Augenhöhe mit dem Tod zu bleiben. Unsere Kräfte sind zu schwach. Darum erholen und regenerieren wir uns in den Zerstreuungen. Wir vergessen und sammeln neue Kräfte. Vor einiger Zeit schickte uns eine Seminarteilnehmerin eine Ansichtskarte aus Verona mit dem witzigen Aufdruck: »Ich will keine Sehenswürdigkeiten sehen, ich will shoppen.« Auf der Rückseite schrieb sie dazu: »Es tut gut, eine Auszeit von ›Sterben, Tod und Trauer‹ zu haben. Ich weiß, es ist gut hinzusehen, es ist kostbar, das Leben und den Tod in seinem wiederkehrenden Rhythmus wahrzunehmen, die Würde des Augenblicks zu erfassen, all das weiß ich. Doch im Moment will ich diese ›Sehens-Würdigkeiten‹ einfach nicht sehen, ich will nur ›shoppen‹, das Leben spüren, das ganze ›dolce vita‹ genießen. Das tut sooo gut …« Dazu ein kleiner, gelber Smiley mit der Bitte, ihr diese »temporäre Verweigerung« nachzusehen. Wir brauchen das »Leicht-sinnige«, das »Unbe-kümmerte«, das »Schwere-lose«

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und das »Sorg-lose« als Gegenpol zum Tiefsinnigen, zum Kummer, zum Schweren und zum Sorgenvollen, das mit der Todesthematik einhergeht. Dabei ist es wichtig, dass wir weder nur auf der Seite des Schweren noch ausschließlich auf der Seite des Leichten bleiben können. Wollen wir wirklich lebendig sein, d. h. in Kontakt mit uns selbst, mit dem Gegenüber, mit Leben und Tod, dann ist es eine fortwährende Lebensaufgabe, zwischen diesen beiden Polen eine Art Balance zu schaffen. Dienen Zerstreuungen also nicht nur dazu, systematisch unserer eigenen Lage oder einer ehrlichen Begegnung mit der Sterblichkeit anderer auszuweichen, so sind sie nichts anderes als Medizin für Sterbliche, um sich von ihrer Sterblichkeit vorübergehend auszuruhen. 2.2 Theoretische Reaktionen

Auch wenn wir uns theoretisch mit der Todeserfahrung auseinandersetzen und über sie nachdenken, werden wir mit ihrer ambivalenten Struktur konfrontiert. Dabei kommt es zu einigen Reaktionen auf die Ambivalenz, die eher problematisch als hilfreich wirken. 2.2.1 Ja zum Tod Das Ja zum Tod ist eine erste Übertreibung. Es wird nur eine Seite der Ambivalenz, die vermeintlich positive, sinnvolle oder notwendige Seite des Todes in den Blick genommen, die andere aber reduziert. Medizin und Naturwissenschaften wollen uns beispielsweise einen nüchternen und rationalen Blick lehren, der mit unserem religiösen und metaphysischen Sinnverlangen nicht in Einklang zu bringen sei. Der Tod ist etwas Natürliches, unser Schicksal und also hinzunehmen. Wir sind ausgestattet mit einer lächerlich begrenzten, atemberaubend kurzen Lebenszeit, kontingente Wesen, also zufällig, nicht notwendig, dem Zerfall und der Zerbrechlichkeit preisgegeben, unser Leben nur ein Schatten, konfrontiert und bedroht vom Faktum des Todes, der uns alsbald ereilen wird, um jene minimalen Spuren, die wir vielleicht in unseren Erdentagen hinterlassen haben, rasch dem Vergessen auszusetzen. Der Tod ist mit Kants Worten ein »Riese, vor dem die Natur schaudert« und der mit »eisernen Armen« alles Lebendige einschließt (Kant, AA II, 40). Im Sinne Albert Camus’ können wir sagen, dass unser Schrei nach Sinn im eiskalten Universum der Sinnlosigkeit unbeantwortet und absurd verklingt. Der Tod ist der wahre Nihilismus. Er zeigt, dass wir nichts sind und zu nichts werden, indem er uns vernichtet. Der Schmerz dieses Missverhältnisses scheint umso größer, wenn wir an Pascals Wort (Zwierlein, 1997) denken, dass sich nicht einmal das ganze Weltall anstrengen muss, um uns zu töten; es genügt ja nur ein Wassertropfen. Doch der Mensch ist viel edler als das Weltall, das ihn zermalmt, denn er weiß ja, dass er stirbt und was ihn tötet, das Universum weiß von all dem nichts. Aber unbeirrt von Pascals Reflexionen verrichtet der Tod weiter sein Werk. Weil wir uns jedoch mit der Todesdemütigung, dem geringen Wert unserer Existenz und dem Bedeutungsverlust durch diese Sicht nicht abfinden wollen, erfinden wir uns einige illusionäre Tröstungen, metaphysische Sinnfeuer, an denen wir uns wärmen. Warum allerdings natürliche Lebewesen den natürlichen Tod

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nicht so natürlich nehmen, wie die Naturwissenschaftler es gern hätten, bleibt natürlich eine spannende Frage. Viktor Frankl (1987) macht uns auf dem psychologischen Feld sehr eindrucksvoll darauf aufmerksam, dass der alte Traum von der (innerweltlichen) Unsterblichkeit, den Tod zu überlisten, uns in eine trostlose, sinnlose Lage bringen könnte. Die unendlich ausgedehnte, klebrige Zeit endloser Stunden wäre schrecklich. Denn es wäre ganz gleichgültig, ob und wann man irgendetwas verrichten würde. Alles könnte verschoben werden. In der Unsterblichkeit gibt es keine Dringlichkeit und Knappheit oder Kostbarkeit mehr. Darum ist der Tod (als Zerstörung, Untergang, Verlust, aber auch als Metamorphose, Neuanfang) in diesem Verständnis etwas Wichtiges und Produktives. Er ist der höchste Ausdruck knapper, verrinnender Zeit endlicher Lebewesen. Und gerade dadurch ist der Tod ein Sinnmotor. Das, was knapp ist, ist kostbar. Knappe Zeit ist kostbar. Es gilt, sie auszukaufen. Wenn wir nicht unendlich viel Zeit haben, wird das, was wir tun, bedeutsam, einmalig und unwiederbringlich. Wir wissen, dass wir nicht Herren und Besitzer der Zeit sind, sondern dass wir in der Zeit abschiedlich und befristet unterwegs sind – für eine gewisse Zeit, die wir nicht kennen. Und wir wissen, dass alles seine Zeit hat. Wir wissen um die Kostbarkeit eines gezeitigten, endlichen Lebens und darum, dass wir die uns gewährte Zeit nutzen sollen. Die Wegbegleiter der Sterbenden werden sich wohl besonders vor dieser Einseitigkeit hüten müssen, Tod und Sterben als vor allem gut und schön oder wertvoll und bereichernd zu bejahen, ohne das Nein der Sterbenden mit zu hören. Wird die Kostbarkeit der Todeserfahrung überbetont, dann versucht der Mensch, den Tod anzunehmen und sich mit dem Wissen um die Endlichkeit anzufreunden, ohne den Schmerz, die Destruktion und das Grauen zu würdigen, die gleichfalls im Tod mitgegeben sind. Der Tod wird vor allem als Sinnmotor gesehen. Aber die Tragik des Sterbens und die Ambivalenz der Todeserfahrung auszuhalten, ist der einzige Weg, im Humanum zu bleiben und sich vor Todesheroismus und einer besonderen Art von Verklärung oder Glorifizierung des Sterbens und des Todes zu schützen. Eine Mitarbeiterin, die seit acht Jahren auf einer Palliativstation tätig ist, spürt die Spannung sehr genau, wenn sie sagt: »Ich durfte schon viele endgültige Abschiede miterleben und habe viel dabei gelernt. Dieser Moment, wenn sich das Leben vom letzten Atemzug in den Tod hineinhaucht, das ist etwas Geheimnisvolles, etwas das ich nicht beschreiben kann … es ist ein kostbares Erleben … und doch, es macht mir auch Angst. Wie wird es bei mir sein? Manchmal will ich gar nicht drüber nachdenken. In einem Moment, denke ich, dass es mir keine Angst bereitet, und im nächsten Moment ängstigt mich die Größe und Unvorstellbarkeit dieses Geschehens, dass ich irgendwas machen muss, irgendwas, nur um mich in meiner ganzen Lebendigkeit zu spüren.« Jeder Wegbegleiter braucht also den ganzen Blick auf den Tod, das Ja und das Nein.

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2.2.2 Nein zum Tod Umkränzen wir den Tod nicht mit einem Heiligenschein, der uns zu einer besonderen Form von Lüge oder Unaufrichtigkeit verführen kann, sondern blicken wir auf seine schmerzliche Seite, die uns mit Entsetzen, Angst und Grauen füllt, entdecken wir die andere Seite der Medaille, die wir nicht in angenehmen und trostreichen Formulierungen beruhigen können. So müssen wir zu Frankls (1987) Sinnreflexion sofort wieder hinzufügen, dass der Tod für den Menschen etwas Paradoxes und Janusköpfiges ist. Er ist nicht nur Sinnmotor, der uns bewegt, antreibt und die Kostbarkeit des Lebens bewusst macht, sondern er ist zugleich auch Sinnzerstörer, der bedroht, vernichtet und wegnimmt, was wir schaffen, lieben und halten wollen. Das Christentum beispielsweise hat diese Ambivalenz sehr gut verstanden, wenn es den Tod einerseits als der Sünde Sold, als konzentrierte Negativität, und andererseits als Mittel der Erlösung begreift. Doch auch hier gilt es ebenso, uns vor einer Übertreibung zu hüten und nunmehr nicht die schwarze Seite der Todeserfahrung zur Vorherrschaft gelangen zu lassen. Wird der Blick auf diese Weise reduktiv, so kann das Gefühl des Absurden oder der Gedanke des Sinnlosen Oberhand gewinnen. Nun kommt kein Morgen mehr. Oder aber, wenn dieser Gedanke des Beängstigenden zu sehr erschreckt, mag der Versuch aufkommen, sich dem Tod bzw. dem Gedanken an den Tod zu entziehen, indem der Mensch wie in einer optischen Kippfigur in die erste Übertreibung zurückfällt oder aber in die praktische Zerstreuung flüchtet. Der Wegbegleiter der Sterbenden wird auch hier also eine Teilwahrheit bewahren und sich zugleich davor hüten müssen, dass sie ihm andere Teilwahrheiten verdunkelt. So wie die praktische Zerstreuung, die aus der Flucht geboren wird, die Angst vor dem, wovor man flieht, nur größer macht, so vergrößert auch der reduktive oder einseitig übertreibende Blick die Angst. Der ausgeblendete Teilaspekt bleibt im Rücken, es muss sich immer wieder umgeschaut werden. Dies ist ein kräfteraubendes Unterfangen. Die Zerstreuung aus Flucht unterscheidet sich von der Zerstreuung, die aus Verantwortung gewählt wird. Diese ist zwar auch eine Bewegung »weg von«. Jedoch hat sie ihren Ursprung darin, dass der Wegbegleiter spürt, dass seine Kräfte schwinden. Die »weg von«-Bewegung wendet sich nun den inneren Ressourcen zu und versucht, wieder Kräfte zu sammeln. Diese zweite Bewegung ist also gerichtet auf ein Sich-Sammeln, um sich wieder der Anstrengung der palliativen oder hospizlichen Tätigkeit widmen zu können. Vor diesem Hintergrund können wir auch jede Art der theoretischen Reduktion durchaus als eine psychohygienische Auszeit betrachten. Damit daraus kein fehlgeschlagener Selbstheilungsversuch wird, kann diese Auszeit nur gelingen, wenn sie sich bewusst gestattet wird als das vorübergehende Hervorheben eines Aspektes in einem größeren Bild. Dann wird auch eine solchermaßen begrenzte Reduktion eine unterstützende Form der Selbstfürsorge und Achtsamkeit gegenüber den eigenen Kräften.

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2.2.3 Ja und Nein zum Tod »Memento mori« – bedenke, dass du sterblich bist, »respice finem« – bedenke das Ende. Dies sind Beispiele für die Imperative, die uns auffordern, uns dem Tod zuzuwenden. Dagegen könnte man das »Carpe diem«, das Pflücken des Tages, oder den biblischen Satz »Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot« (1. Kor. 15, 32) als Aufforderung verstehen, uns vom Blick auf den Tod zu verabschieden. Wäre es aber nun nicht auch möglich, das eine mit dem anderen zu verbinden? Die Reduktionen in der Todeserfahrung und im Todesbewusstsein betonen jeweils nur oder vorrangig eine Seite: entweder die des Seins des Todes oder die des Sinns des Todes. Wie Robert Spaemann (1996) an anderer Stelle zum Zusammenhang von Sinn und Sein ausgeführt hat, neigt der, der Sein ohne Sinn präferiert, zum Zynismus, während der, der Sinn ohne Sein präferiert, zum Fanatismus tendiert. Wir könnten in entfernter Analogie hier sagen: Wer eher zur sinnlosen Seite der Faktizität des Todes neigt, tendiert leichter zu einer melancholischen Sicht, wer eher die sinnvolle Kostbarkeit des Todes betont, neigt leichter zu Heroismus und Überhöhung. Statt nun aber zwischen den beiden Seiten des Jas und Neins im Blick auf die ambivalente Todeserfahrung zu schwanken, könnte man auf die Idee kommen, Sinn und Unsinn des Todes in einer höheren Synthese aufzuheben und zu versöhnen. Eine solche denkerische Bewältigung wäre der Versuch, beide Momente irreduzibel zusammen zu denken und ggf. in einen dritten Gedanken einzufügen. In den Bereich der theoretischen Auseinandersetzung gehört daher der Versuch der Synthesis, der Versöhnung beider Ambivalenzpole. Aber ist uns Sterblichen dies möglich? Der Tod widersetzt sich, so scheint es, allen unseren Bemühungen, ihn in unserem Denken zu beruhigen oder zu beherrschen. Man könnte hier geradewegs von einer dialektischen Bosheit des Todes im Denken der Menschen sprechen, indem er sowohl den Eindruck erweckt, dass es gut ist, dass er da ist, als auch, dass es schlecht ist, dass er da ist, indem er das, was er gewährt, am Ende doch bedroht und zerstört. Der Tod bleibt also stets zweideutig. Es gibt keine vollständige Humanisierung des Todes. Wir können uns mit dem Tod nicht versöhnen, auch wenn er uns vielleicht mit allem versöhnt. Wie eine geheilte Ambivalenz im Todesproblem aussehen könnte, weiß kein Mensch. Wie eine Vermittlung des Jas und Neins aussehen könnte, ist uns unbekannt. Der Tod hat, wie der Volksmund sagt, harte Kinnbacken, d. h., er gibt seine Geheimnisse nicht preis. Der kluge Wegbegleiter der Sterbenden sieht beide Seiten im Todesproblem. Er weiß sowohl um die Kostbarkeit als auch um das Zerstörerische im Tod. Auch im Versuch, beide Pole miteinander zu vereinen und zu einer Einheit zusammenzufügen, leuchtet noch ein schöner Gedanke auf. Dieser Versuch ist in vielerlei Hinsicht wertvoll und lebensdienlich. Etwa werden wir das Leben in seiner Kostbarkeit wirklich mehr schätzen und unsere bewusste Lebensführung steigern können, wenn wir beide Seiten in der Todesambivalenz auf uns wirken lassen. So kommt etwa eine junge Assistenzärztin nach ihrem ersten Monat auf der Palliativstation zu folgendem Fazit:

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»Mit jedem Tod, den ich erlebe, sehe ich auch mein eigenes Schicksal vor Augen geführt. Ich schaue morgens in den Spiegel und sehe meine pure Lebendigkeit. Bisher habe ich nicht bewusst darüber nachgedacht, dass sie vergänglich ist. Letzte Woche starb eine junge Frau in meinem Alter, sie hatte mir kurz vorher noch Bilder von sich gezeigt, als sie noch gesund war. Sie war schön, sie war strahlend, sie war lebenshungrig: Sie ist tot. Jetzt schaue ich morgens in den Spiegel und denke: Wie lange noch? Ich weiß, dass auch ich diesen Weg gehen muss. Hoffentlich nicht bald, aber gehen muss ich ihn, und das ist ein weher und schmerzhafter Gedanke. Eigentlich will ich ihn nicht denken, doch er drängt sich mir immer wieder auf, als hätte ich keine Macht über ihn. Im Moment versuche ich, sehr, sehr bewusst mein Leben zu leben.« Doch auch wenn wir beide Seiten auf uns wirken lassen, hat der Tod ein Maß, mit dem wir nicht messen können. Alle unsere Maßstäbe erweisen sich als für ihn ungeeignet. Wir sind nicht Herren des Todes, weder praktisch noch theoretisch. Für unser Denken und Handeln ist er eine radikale Herrschaftsgrenze. Der Tod bleibt uns fremd und ist, wie auch Gott, für uns der ganz Andere. Der Tod ist nämlich nur ein anderer Name für Nichtwissen, ein definitives existenzielles Nichtwissen. Wir wissen schließlich nicht, was er ist, wie er ist und was er uns bedeutet. Er entdogmatisiert unsere überheblichen Gewissheiten von ihm und wirft sie alle am Ende ins Grab. »Ich weiß nicht« bedeutet so viel wie »Ich bin ein Endlicher, ein Sterblicher und kein Gott.« Der Tod ist eine Wurzel unserer eigenen Fraglichkeit, unseres Frage-Seins. Er ist das völlige Dunkel, in dem alle unsere Lampen verlöschen und keine Aufklärung mehr möglich ist, der dunkle Kontinent, das Fremde schlechthin, der große Herr, in dem wir alle unsere Herrschaft, all unsere Selbstbestimmung und Selbstkontrolle aufgeben und absolute Ge-Lassenheit lernen müssen, in dem wir völlig unsere Fassung verlieren und ins Unfassbare stürzen, ein Abgrund für alle Reflexion.

3 Humane Wegbegleitung Dem Wegbegleiter der Sterbenden zwingt sich hier also eine unvermeidliche Einsicht in die unaufhebbare Ambivalenz des Todes auf. Die Täuschungen der einseitigen Reduktionen und das Misslingen der Dialektik zeigen, dass der Mensch weder praktisch noch theoretisch Herr des Todes werden kann. Keine unserer Reaktionen auf den Tod gewährt uns irgendeine Todesmeisterschaft. Es ist der überwältigende Schmerz der Sterblichkeit zwischen Hoffen und Bangen, der all diese Irrlichter aufsteckt. Hierfür sind letztlich zwei Gründe verantwortlich, in denen das Phänomen des Todes und des Menschseins sich wechselseitig erhellen. Zum einen ist der Tod definitives Nichtwissen. Ihn als Sterbliche erkennen zu wollen, ist uns prinzipiell versagt. Denn unser sterbliches Erkennen ist an zwei Bedingungen geknüpft, die der Tod stets zu beenden scheint: an unser Lebendigsein und an den Gebrauch von Erkenntnisvokabular, das sich aus Lebenserfahrung her nimmt. Dem ist

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der Tod offensichtlich prinzipiell fremd und darin eine unüberwindbare Grenze. Das Wenige, das wir zum anderen über den Tod zu wissen meinen, vor allem aber das Wenige, das wir vom Tod um den Tod dort wissen, wo das Fortsterben eines geliebten Menschen uns auf eine tiefe Weise mit einer von uns im Mitlieben »gefühlten Bedeutung« (Landsberg zit. nach Zwierlein, 2009, S. 38 ff.) des Todes konfrontiert, dieses Wenige entfacht in uns das besondere Drama der Menschwerdung und all unserer Reaktionen auf die erfahrene Ambivalenz im Todesproblem. Wir sehen uns auf besondere und problematische Weise exponiert. Wir Menschen sind Sterbliche, die sich nach Unsterblichkeit sehnen, wir sind Zeitliche, die von der Ewigkeit träumen, Unvollkommene, die das Vollkommene bewundern und unvollkommen nach Vollkommenheit streben. All dies bezeichnet die problematische Verfassung der Conditio humana, in der sich der Mensch vorfindet, wenn er zu sich erwacht. Wesen und Dasein, Essenz und Existenz, Wesen und Sein des Menschen fallen nicht einfach harmonisch zusammen, befinden sich nicht im Einklang. Nie kommt der Mensch völlig beruhigt bei sich selbst an, stets ist er in der Fremde, nie ist er ganz zu Hause. Die Ambivalenz, die wir im Tod reflektieren, sind wir selbst, insofern der Tod in uns ist. Ambivalenz ist die anthropologische Struktur unserer eigenen Uneinholbarkeit. Der Mensch bleibt sterblich und in seiner Sterblichkeit ein problematisches Zwei-Sein. Der Mensch ist der ver-zweifelte Versuch, aus der Zwei in die Eins zu finden. Kluge Wegbegleiter der Sterbenden werden die Ambivalenz des Todes und des Menschseins sehen, stehen lassen und so beschützen, wie es sich uns gibt. Sie werden sich und ihre palliativen und hospizlichen Konzepte von dieser Einsicht aus bedenken, um sich auf eine angemessene Weise von Einseitigkeiten oder Überforderungen zu entlasten. Zum Stress des wirklichen Sterbens braucht es nicht noch einen Sterbestress aus problematischen Überzeugungen. Niemand muss ein Todesheld sein oder seine Angst verbergen. Auch sein Hoffen nicht.1 In der Arbeit mit sterbenden Menschen gilt es, ganz in der Menschlichkeit des Sterbens zu bleiben. Ob es hier einen letzten tragenden Trost gibt, wissen wir nicht. Er ist darum auch nicht irgendwie lehrbar. Wir können nur hoffen, dass er, wenn es ihn gibt, als unaussprechlicher Trost aus der in Wahrheit ausgehaltenen Erfahrung der Ambivalenz hervorbricht, wenn wir seiner am meisten bedürfen. Halten wir uns dabei an Hölderlins hilfreiches Wort: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« (1980, S. 346).

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Alles Leben sehnt sich danach, sich im Leben zu halten und sein Leben zu steigern. In Lebenserhaltung und Lebenssteigerung drückt sich die elementare Hoffnung des sinnvertrauenden Lebens danach aus, ewig in einem besten Leben zu leben. Jede Hoffnung verneint auf gewisse Weise den Tod und stellt sich gegen ihn. In diesem Sinne äußert sich eine 63-jährige Witwe, die ihren Mann, der an einem Hirntumor erkrankt war, 17 Jahre begleitet und die letzten beiden Lebensjahre gepflegt hat: »Ich habe versucht, mir ihn tot vorzustellen, nicht nur, dass ich mich dabei schlecht und schuldig fühlte, ich konnte es auch nicht. Es erschienen weder Bilder noch Worte dazu, außer eins und das war ein großes NEIN.«

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Literatur Augustinus, A. (1980). Confessiones (Bekenntnisse) (4. Aufl.). München. Benjamin, W. (1928–1929, 1934–1940/1998). Das Passagen-Werk. In: Gesammelte Schriften (Bd. V/1). Hrsg. von R. Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Frankl, V. E. (1987). Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse (4. Aufl.). Hrsg. von R. Tiedemann. Frankfurt a. M.: Fischer. Hölderlin, F. (1826/1987). Patmos. In L. Uhland, G. Schwab (Hrsg.), Gedichte. Frankfurt a. M.: Insel Verlag. Kant, I.: Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben des Herrn Johann Friedrich von Funk. In: Kant’s gesammelte Schriften, II. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1902 ff. (S. 37–44). Marcel, G. (1952). Geheimnis des Seins. Übers. von H. von Winter. Wien: Herold. Spaemann, R. (1996). Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹ (2. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Zwierlein, E. (Hrsg.) (1996). Pascal. Ausgewählt und vorgestellt von E. Zwierlein. München: Diederichs. Zwierlein, E. (2009). Einleitung und Nachwort zu: Paul Ludwig Landsberg. Die Erfahrung des Todes. Berlin: Matthes & Seitz.

Literaturempfehlungen Brathuhn, S. (2006). Trauer und Selbstwerdung. Eine philosophisch-pädagogische Grundlegung des Phänomens Trauer. Würzburg: Königshausen und Neumann. Zwierlein, E. (Hrsg.) (2009). Paul Ludwig Landsberg. Die Erfahrung des Todes. Berlin: Matthes & Seitz. Zwierlein, E. (2012). Magna quaestio – Der Mensch als große Frage. Essay zur Grundlegung der Philosophie. Berlin: Matthes & Seitz. Zwierlein, E., Lilie, U. (Hrsg.) (2004). Handbuch Integrierte Sterbebegleitung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

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»Immer wenn du da bist, herrscht hier das Chaos« Vorwürfe und Beschuldigungsmuster als Belastungssymptome Jörg Fengler

1 Vorwürfe In Teams von Palliativstationen ist, wenn die Belastung unerträglich zunimmt, damit zu rechnen, dass sich die Spannung Kanäle sucht, in die sie abgeführt werden kann. Es liegt dabei nahe, dass es zwischen den Teammitgliedern zu Vorwürfen kommt, welche die gegenwärtige missliche Lage zum Gegenstand haben. Aber auch kleinere Pannen und Fehler werden immer wieder aufgewärmt. In solchen Teams fällt oft auf, dass für die ganze Teammisere nach einem Schuldigen gefahndet wird. Dafür kommen Einzelpersonen, andere Teams, die Institution oder auch gesellschaftliche Bedingungen infrage. Es können mangelnde Motivation, Nachlässigkeit, aber auch Illoyalität, Destruktivität und verdeckte Motive unterstellt werden, die mit dem Teamgeist von Palliativversorgung und Hospizidee nicht vereinbar sind. Mitarbeiter scheinen oft ganz genau zu wissen, auf welchen punktuellen Umstand ihr ganzes Unglück zurückzuführen ist, linear und kausal, vereinfachend. Diese Ursachenzuschreibung ist nach außen gewendet; man selbst ist Opfer unbeeinflussbarer Umstände; aber zugleich wird die Option, die Dinge durch eigenes Handeln zum Besseren zu wenden, nahezu vollständig ausgeblendet. Manche Teams in der Palliativarbeit verfallen auch in Selbstvorwürfe. In Zeiten großer Belastung überkommt sie eine Reue über Fehlentscheidungen und Fehlhandlungen, die sie in der Vergangenheit vorgenommen haben und die sie nun kausal für die gegenwärtige Misslichkeit verantwortlich machen. Eine derartige Argumentation ist faktisch so wenig sinnvoll wie bei den oben erwähnten Vorwürfen untereinander. Denn es handelt sich ja um einen Einzelfall, dessen Ursache-Wirkungs-Rekonstruktion sehr vereinfachend ist. Selbstvorwürfe können sich auf übernommene Aufgaben richten, auf Personalentscheidungen wie auch auf vermeintliche oder tatsächliche Fehler in der Behandlung und Begleitung und das leichtsinnige Vertrauen Beratern und Beratungen gegenüber. Frau Bauer leidet an einem ausgedehnten Lymphödem in beiden Beinen. Sie wird vom ambulanten Palliativteam zu Hause begleitet. Sie möchte einerseits Hilfe annehmen, andererseits aber ihre Ruhe haben. Und auf gar keinen Fall möchte sie ins Krankenhaus. Im Verlauf der Erkrankung nimmt das Lymphödem zu, außerdem entsteht eine

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Infektion im Bereich des Ödems. Im Rahmen einer Teamsitzung werden die Möglichkeiten der Behandlung diskutiert. Gemeinsam kommt man zur Entscheidung, dass die begleitende Krankenschwester Frau Weber die Patientin zu einer Aufnahme auf die Palliativstation beraten solle. Eine kurzfristige Behandlung der Infektion und regelmäßige Lymphdrainage versprechen eine rasche Symptombesserung mit dem Ziel der Rückkehr nach Hause. Frau Bauer zögert, möchte eigentlich nicht ins Krankenhaus. »Ich habe so ein Gefühl, dass ich danach nicht mehr nach Hause komme«, sagt sie ahnungsvoll, beugt sich aber letztlich dem Rat der Kollegin. Die Symptombehandlung auf der Station ist erfolgreich, die Entzündung und damit verbundene Schmerzen können rasch behandelt werden. Dann verschlechtert sich der Zustand von Frau Bauer unerwartet und ihr ursprüngliches Ziel, die Entlassung nach Hause, kann nicht mehr umgesetzt werden. Frau Bauer verstirbt auf der Palliativstation. Das Team ist verzweifelt. »Warum haben wir nicht ihrem Wunsch entsprochen, nicht auf ihr Gefühl gehört, nicht auf ihr intuitives Wissen vertraut? Wer hat die Entscheidung forciert? Wir haben hier falsch gehandelt und können es nicht wieder gutmachen«, lauten die quälenden Selbstanklagen. Wenn keine einzelnen Personen als Adressaten der Teamreue zur Verfügung stehen, so ist es immer noch möglich, kollektiv mit dem Teamschicksal zu hadern. Manchmal hilft in der Supervision hier die Darstellung der sogenannten VW-Regel. Damit ist der Vorschlag gemeint, in der Teamkommunikation grundsätzlich Vorwürfe in Wünsche zu verwandeln. In der Reflexion des Beispiels im Rahmen einer nachgehenden Teambesprechung wurde deutlich, dass die als Fehlentscheidung erlebte Situation viele Facetten hatte. Das Team hatte im Schuldgefühl, hier einen unwiederbringlichen Fehler gemacht zu haben, nur noch diese Situation im Fokus. Es wurde deutlich, dass Frau Bauer einer Aufnahme auf die Palliativstation eigenverantwortlich zugestimmt hatte und sie sich letztlich auf der Station auch wohlgefühlt hatte. Möglicherweise war ihr Wunsch, zu Hause zu sein, im Verlauf der Erkrankung in den Hintergrund getreten. Das Team machte sich zur Aufgabe, die Kriterien für Dilemmasituationen wie die oben beschriebene frühzeitig wahrzunehmen und zu besprechen, um mögliche Handlungsalternativen und Strategien für den Umgang mit vermeintlichen Fehlern zu erarbeiten. »Wir gehen mit Fehlern wertschätzend um und sehen sie als Entwicklungsmöglichkeit des Lernens«, steht auf einer Karte, welche, die Teamregeln beschreibend, am Schwarzen Brett des Stationszimmers hängt.

2 Rückzug Palliativteams, die der dauernden existenziellen Berührung mit dem Tod ausgesetzt sind, praktizieren in manchen Fällen ein auffallendes Rückzugsverhalten. Dies wird auf verschiedenen Ebenen sichtbar. Mitglieder des Teams ziehen sich von den Patienten und

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ihren Angehörigen zurück, werden im Gespräch als kurz angebunden wahrgenommen oder versuchen sogar, Gesprächen mit Patienten und Angehörigen aus dem Weg zu gehen. Sie beginnen, untereinander die Frage zu erörtern, ob nicht manche ihrer Aufgaben aus der Palliativversorgung ausgelagert werden könnten oder ob es nicht möglich sei, gleich ganz auf sie zu verzichten. In einem Palliativteam ist ein ganzheitlicher Begleitungsansatz gefordert. Die kommunikative Kompetenz z. B. ist ein Anspruch, den jede Berufsgruppe für sich definiert: Vertrauen sei eben nicht delegierbar, fasst es eine Krankenschwester zusammen. Im Rahmen der Pflege erfahre sie so viel auch über die psychischen Probleme von Patienten, dass sie zuhören und angemessen reagieren möchte. Das sei doch ihre Aufgabe. Bei hohem Druck ändern sich diese Wahrnehmung und Einschätzung der Aufgabe jedoch, und es wird in berufsgruppenspezifische Tätigkeiten aufgeteilt und delegiert. »Wir brauchen die Sozialarbeiterin für die Entlassung und eine Psychologin für die Gespräche. Wir können das alles gar nicht mehr schaffen«, sagt dann dieselbe Kollegin. In manchen dieser erschöpften Teams kommt der kollegiale Fachdiskurs fast vollständig zum Erliegen. In einem Team erlebte ich einmal Folgendes mit: Die wissenschaftliche Mitarbeiterin des an der Klinik angesiedelten Lehrstuhls für Palliativmedizin kannte die praktischen Schwerpunkte und die Spezialisierungen der einzelnen Mitarbeiter in der Behandlung wie auch deren fachliche Interessen und Forschungsthemen recht gut. Wenn nun neue Artikel und Bücher zu diesen Themen erschienen, wies sie die Mitarbeiter unaufgefordert darauf hin und nahm dabei an, diese würden mit Freude und Dankbarkeit reagieren. Aber das Gegenteil war der Fall. In einer Konferenz drückten mehrere der Adressaten dieser kostenlosen Serviceleistung ihr Befremden und ihren Ärger über die Initiative der Kollegin aus. Es wurde sogar die Frage diskutiert, ob sie unterbeschäftigt sei und ob nicht eine Halbtagsstelle für diese Arbeit am Lehrstuhl völlig ausreiche. In einigen Teams wird auch ein Rückzug zwischen den Kollegen erkennbar. Jeder sitzt mittags in der Kantine an einem anderen Tisch, auf den Fluren geht man grußlos aneinander vorbei. Das Stationszimmer wird nur ganz kurz als Aufenthaltsort genutzt; Terminabsprachen erfolgen nicht mehr, indem man telefoniert oder gar den Kollegen aufsucht, sondern trotz der räumlichen Nähe per handschriftlichem Zettel oder einer E-Mail. Es scheint, als sei jede persönliche Begegnung mit den Kollegen eine zusätzliche Belastung, die es zu vermeiden gilt. Wenn in einem Palliativteam Supervision angeboten wird, so können auch Supervisoren Adressaten des Rückzugs werden. Die Supervision wird also manchmal nicht als Hilfestellung wahrgenommen, sondern als zusätzliche Zeitbelastung gegenüber den unerledigten Aufgaben und als Zumutung. Ansprüche, die der Supervisor dann stellt, können in einem solchen Team wie eine Bedrohung und jedenfalls als Überforderung wahrgenommen werden. Solche Teams erscheinen also oft wie gelähmt. In scherzhafter Form sagen wir manchmal, wenn jemand seine Aufgaben in keiner Weise mit eigenem Nachdruck

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erledigt: »Wir müssen den Hund zum Jagen tragen!« Das gilt dann auch für einige sehr erschöpfte Teams. In solchen Fällen empfiehlt es sich, dass die Teammitglieder sich einmal wieder darauf besinnen, mit welchen Motiven sie seinerzeit diesen Arbeitsplatz gewählt haben, verbunden mit der Prüfung der Frage, ob der damalige Sinn heute in der gegenwärtigen Arbeit noch erlebbar ist oder zu neuem Leben erweckt werden kann.

3 Ablehnung von Ritualen Unser Leben wird u. a. durch Rituale strukturiert, die im günstigsten Fall Kraft, Ordnung, Sinn und Gemeinschaftserleben vermitteln. In der Arbeit des Palliativteams kann es dazu kommen, dass die Teammitglieder Rituale von Freundschaft, Zusammenarbeit, aber auch Grenzerfahrung und Sinnbindung, wenn denn die Arbeit sehr belastend ist, nicht mehr genießen und würdigen können, sondern als fremd, leer und nichtssagend erleben und bestenfalls abspulen. Offenbar ist in solchen Fällen die Macht des Rituals verloren gegangen; es kann die wenigen, die es noch halbherzig ausüben, nicht mehr emotional erreichen. Es gibt dann oft nur einzelne, die sich für Rituale stark machen, sie ersinnen, planen und durchführen, die anderen lassen sie über sich ergehen oder nehmen gar nicht mehr daran teil. Das grundlegende Potenzial des Rituals, das Gemeinschaftserleben und die Gemeinschaftsbindung zu erhalten und zu intensivieren, ist dahin und damit auch die Stärkungskraft, die dem Ritual früher einmal innegewohnt hat. Auch die individuelle Möglichkeit, sich durch das Ritual berühren, bewegen und stärken zu lassen, besteht nicht mehr. Das Ritual wird rasch und flüchtig durchgezogen, vielleicht sogar mit dem ganz pragmatischen Zweck, einige Minuten Zeit einzusparen. Oder es wird in Routine heruntergeleiert, ohne dass es noch gespürt wird oder seelisch bereichert. Manchmal wird es sogar von den Personen, die sich daran mehr oder vor allem weniger beteiligen, entwertet, als Hokuspokus bezeichnet und lächerlich gemacht. Wenn die Anwesenden es zunehmend als sinnentleert erleben, muss damit gerechnet werden, dass es irgendwann durch Fernbleiben der Teammitglieder seine Bedeutung vollständig verliert. Das ruhige Ankommen und das gelassene sich Verabschieden, das zweckfreie, kleine Gespräch im Team und die Teilnahme an Trauerfeiern werden dann nicht mehr als Zeiten von Ruhe, Innehalten und Besinnung wahrgenommen, sondern nur noch als unvertretbarer Luxus und als Zeitvergeudung. Manchmal gelingt es in der Supervision oder auch in kollegialer Intervision, Rituale, die an Attraktivität verloren haben, umzugestalten, und zwar an erster Stelle gemäß den Wünschen und Einfällen derer, die sich nicht mehr gut mit ihnen identifizieren können.

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4 Kein Einlassen In manchen Palliativteams fällt auf, dass sich eine gefühlsabweisende und gefühlsferne Form der Kommunikation entwickelt. Die Mitglieder des Teams lassen sich nur noch ungern oder unwillig oder ungeduldig auf Ambivalenzen in der individuellen Argumentation ein. Die Erörterung eines Themas aus unterschiedlichen Perspektiven erscheint ihnen wie Zeitvergeudung und wird gelegentlich als »Luxus-Diskussion« bezeichnet. Erschütternde Berichte von Kollegen über Vorfälle aus ihrer Arbeit mit Patienten und Angehörigen werden mit Kommentaren wie »zu empfindlich« oder »Anfängerfehler« kommentiert. Die Gefühle der Patienten, die kurz vor dem Tod extreme Ausschläge aufweisen können, werden spöttisch oder sarkastisch kommentiert und allein mit der Todesnähe oder ihrer seltsamen Biografie erklärt. Das Recht auf ein Sterben in Würde und das Recht der Angehörigen, in Ruhe zu trauern, wird zwar nicht infrage gestellt, aber auch nicht nachdrücklich verfochten. Ergänzt wird diese Abneigung, sich auf Gefühle einzulassen, durch Reminiszenzen an frühere Zeiten, in denen die Patientenbesprechung »kurz, sachlich und effektiv« gestalten worden sei. Angemeldete Zweifel und Ratlosigkeit werden mit kurzen, raschen Antworten abgeschmettert. Killerphrasen wie »Das haben wir schon immer so gemacht«, »Das haben wir noch nie so gemacht«, »Das macht man so«, »Das haben wir doch schon hundertmal diskutiert« dominieren das Gespräch. Deutlich ist eine Abneigung gegen Ungewissheit, Provisorien, Ratlosigkeit und Zweifel zu spüren. Oder es wird, nachdem die Aussprache gerade erst begonnen hat, schon förmlich die Schlussdebatte beantragt. Auch auf Vereinbarungen, die im Team getroffen worden sind, lassen sich die Teammitglieder nicht wirklich ein. In einem Palliativteam behandelte ich auf Wunsch der Teammitglieder das Thema Pünktlichkeit. Alle waren sich rasch einig: Unpünktlichkeit ist eine Rücksichtslosigkeit; sie behindert den gemeinsamen Beginn von Besprechungen; sie verbreitet sich schneeballartig, weil jeder, der Unpünktlichkeit erfahren hat, daraus den Schluss zieht, er selbst könne auch ein paar Minuten später kommen, weil ja doch immer etwas später angefangen wird. Die Unpünktlichkeit eines Chefarztes zum Besprechungsbeginn einer Teamsitzung, weil er noch Wichtigeres zu erledigen hatte, führte prompt zur zeitlichen Nachlässigkeit der Mitarbeiter. Unpünktlich beginnende Teamsitzungen stellen einen Stressor für Helfer dar, die sich auch auf die Patientenversorgung niederschlagen können, z. B. unpünktliche Medikamentengabe. Alle Supervisanden beschlossen, ab heute pünktlich zu sein. Ich fragte mit möglichst dummem Gesicht: »Wer von Ihnen wird die allgemeine Pünktlichkeit kontrollieren und Verstöße der Kollegen gegen sie benennen wie auch ahnden?« Da stutzten sie alle ein wenig, und einer sagte vorsichtig: »Das klappt schon!« Alle nickten zustimmend. In der nächsten Sitzung fragte ich nach dem Erfolg der Maßnahme. Betretenes Schweigen folgte. Ein Kollege sagte halb lachend: »Wir arbeiten daran!« Befreiendes Gelächter folgte. Damit ist zugleich klar: Die wohl-

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wollende Selbsteinschätzung des Teams hat sich nicht bewahrheitet. Stattdessen zeigte sich eine kollusive Vermeidungsstrategie, nämlich in Form der endlosen Vertagung zur folgenlosen Wiedervorlage. »Wie viel Tod verträgt der Mensch?«. Auf das hier behandelte Thema des Sich-Einlassens enthält diese provozierende Frage schon die halbe Antwort. Das Sich-Einlassen wird oft besser gelingen, wenn die Zahl der Überbeanspruchungen auf allen Gebieten zurückgefahren werden kann: Arbeitsstunden, zusätzliche Angehörigenkontakte, Sitzungen, Konferenzen, Berichte usw., sodass mehr Zeit für die Selbstbesinnung übrig bleibt. Dies wird aber nicht immer möglich sein, ohne dass sich für die Patienten der Palliativstation Nachteile ergeben.

5 Dienst nach Vorschrift In Palliativteams, die stark belastet sind, ist eine Veränderung in Arbeitsverhalten und Kommunikation zu erkennen. Pünktliches Kommen und pünktliches Gehen sind im Interesse der Burnout-Prophylaxe natürlich wünschenswert, jedoch oft nicht einhaltbar. Der folgende Beamtenwitz karikiert diesen Wunsch, indem er ihn ins Absurde steigert: »Die Behördenleitung erteilt dem Hausmeister den Auftrag, in allen Fluren einen durchgezogenen weißen Mittelstreifen anzubringen, damit diejenigen Beamten, die zu spät zum Dienst kommen, nicht mit denen zusammenstoßen, die den Dienst vorzeitig verlassen. Nach einer Woche antwortet der Hausmeister: ›Diese Maßnahme ist überflüssig: Diejenigen Beamten, die zu spät kommen, sind die gleichen, die zu früh wieder gehen.‹« Erschöpfte Mitarbeiter in der Palliativversorgung erweisen sich – tatsächlich oder eingebildet – als uninformiert über wichtige Vorgänge, unterlassen es, Beschlüsse und Unterweisungen in die Tat umzusetzen, und entwickeln der ganzen Abteilung gegenüber eine gewisse Gleichgültigkeit, die zu tatsächlichen Minderleistungen führt. Zu dem geforderten Multitasking sind tatsächlich nur wenige Menschen fähig. Bei den meisten Mitarbeitern führt es zu einer deutlichen Erhöhung der Fehlerzahl. Übermäßig belastete Teams in der Palliativarbeit igeln sich ein, tun nur noch das Nötigste, um nicht peinlich aufzufallen, und rechtfertigen es mit tatsächlichen oder nur behaupteten Belastungen. Von den vielfältigen Anforderungen des Dienstes wird am Ende nur noch das erledigt, was gänzlich unerlässlich ist, um den Dienst aufrechtzuerhalten, aber auch nicht mehr als das. Gespräche am Krankenbett werden nur noch im Türrahmen stehend durchgeführt und manches Mal mit einem mühsam gespielten Interesse am Patienten. Auskünfte an Angehörige erfolgen im Telegrammstil oder im Dauerlauf auf dem Flur. Wenn sich die Identifikation mit der Arbeit weitgehend verflüchtigt hat, kann dem Betreffenden ein Life-Planning empfohlen werden, d. h. die grundlegende Überprüfung und ggf. die Neuausrichtung der bisherigen Lebensplanung. Stellenwechsel, Ortswechsel,

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Neuausrichtung von Zielen, Besinnung auf eigene Werte sowie Neugestaltung von Tag, Woche, Monat und Jahr sind oft Mittel, der eingetretenen Entfremdung entgegenzuwirken.

6 Keine wechselseitige Unterstützung Eine vertikale und horizontale Unterstützung wird in manchen Palliativteams weder geliefert noch erbeten und auch den Patienten und den Angehörigen weitgehend vorenthalten. Die Arbeit mit Sterbenden und deren Angehörigen erscheint den Teams dann wie eine Fließbandarbeit, besonders in Zeiten gehäuften Sterbens. Schreckensmeldungen über die Zahl der Neuaufnahmen werden vorgetragen wie Aktienkurse von DAX-notierten Unternehmen. In vielen Teams wird über Erschöpfung aus Scham nicht gesprochen, weil keiner der Erste sein will, der sich outet und dabei fürchten müsste, damit vielleicht auf Spott im Kollegenkreis zu stoßen. Stattdessen herrscht dann manchmal ein kollektives Imponiergehabe: »Ich bin tüchtig. Ich stecke das weg.« Supervision als Unterstützungsangebot wird in solchen Teams manchmal rundweg abgelehnt (»Das haben wir nicht nötig! Zeitvergeudung! Firlefanz! Davon wird es auch nicht besser.«). Wird doch Supervision durchgeführt, so werden der Personalabteilung verdeckte Motive unterstellt (»Das schlagen die uns doch nur vor, damit sie uns hinterher doppelt so skrupellos ausbeuten können!«). Auch für kollegiale Intervention findet sich kein Interesse. Stattdessen wird der Druck vertikal und horizontal weitergegeben. Jeder arbeitet als Einzelkämpfer weiter vor sich hin und lässt sich nicht in die Karten schauen. Das Ergebnis kann sein, dass es zu einen Team-Burnout mit den Merkmalen Erschöpfung, Leistungsminderung, Entfremdung und Verlust der Team-Kohäsion kommt. In manchen Palliativteams kann eine wechselseitige Unterstützung auch deshalb nicht funktionieren, weil das Team sich immer wieder auf Nebenkriegsschauplätzen in endlose Streitereien verwickelt: Die Farbe der Wände, die Praxis der Müllentsorgung, die ungewaschenen Tassen in der Teeküche, der unterlassene Gruß auf dem Flur, die aus dem Kühlschrank verschwundene Sahneschnitte usw. – aus allem kann ein Streitpunkt gemacht werden, der das Palliativteam wochenlang in Atem hält. Verloren gegangene Unterstützung im Team muss nicht als Schicksal betrachtet werden, sondern kann ohne oder mit externer Supervision wieder neu etabliert werden. Das beginnt bei der Bildung von kollegialer Unterstützung zu zweit und kann sich später zu einer dichten Vernetzung zwischen allen Teammitgliedern erweitern.

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7 Verweigerung von Neuaufnahmen Wenn mehrere dieser Belastungen zusammenkommen, so mag sich eine innere Streikbereitschaft entwickeln, die mit einer latenten Bereitschaft zum teaminternen Boykott einhergeht. Neuaufnahmen werden verschleppt oder mit fadenscheinigen Gründen verweigert. Das Erlebnis, es seien zu viele Sterbende in zu rascher Folge zu betreuen, kann zu einer inneren Leere und zu einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden und Sterben führen. Hilfestellungen können hier auf mehreren Ebenen gegeben werden: – Personalaufstockung, – Supervision, – Beschränkung auf die Kernaufgaben der Palliativstation, – bei konstantem Personalschlüssel eine geringere Zahl von Patienten, – eine Durchforstung der Besprechungen und Konferenzen auf ihre Funktionalität, – Förderung der kollegialen teaminternen Unterstützung. Problematische Entwicklungen in Palliativteams werden nicht immer rasch erkannt. Auch wenn die Unzufriedenheit im Team seit längerer Zeit zunimmt, steht einer raschen Diagnose und Korrektur doch oft eine hohe Leidensfähigkeit gegenüber, die dem entschlossenen Handeln entgegensteht. Umso wichtiger ist es, dass im Team Sorgen, Klagen und Unzufriedenheitsäußerungen einzelner Teammitglieder früh wahrgenommen und ernst genommen werden, in Einzelgesprächen und Teamsitzungen Berücksichtigung finden und rasch Belastungsrisiken und Ursachen sowie Abhilfe durch interne Maßnahmen oder professionelle Supervision erörtert werden.

Literaturempfehlungen Anderssen-Reuster, U. (2007). Achtsamkeit in Psychotherapie und Psychosomatik. Stuttgart: Schattauer. Fengler, J. (2006). Teamberatung. In C. Steinebach (Hrsg.), Handbuch Psychologische Beratung. Stuttgart: Klett-Cotta. Fengler, J. (2011). Ausgebrannte Teams. Burnout-Prävention und Salutogenese. Stuttgart: Klett-Cotta.

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1 Von der Seligkeit, reden zu dürfen Für viele Mitarbeiter war und ist eine der Motivationen für den Einstieg in die Hospizarbeit und Palliativmedizin, endlich über das reden zu dürfen, was so lange tabuisiert war. Der Anreiz ist, statt nur Besprechungen nun auch viele Gespräche führen zu dürfen. In unseren Leitbildern und Anforderungen spiegelt sich diese Möglichkeit und Notwendigkeit wider. Da ist von der eigenen Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Trauer die Rede, von Offenheit und Ehrlichkeit den Patienten und Zugehörigen gegenüber und im Team. All dies erfordert Kommunikation auf vielen Ebenen. Ich erinnere mich noch genau, wie wir am Anfang unserer Arbeit auf der Palliativstation fasziniert waren von der Möglichkeit, uns diesen Aufgaben zu stellen. Die Gespräche mit Patienten und Zugehörigen benötigten viel Zeit und hatten ihren Raum. Wir durften die Erfahrung machen, dass Patienten sich uns gegenüber öffneten, uns ihr Leid anvertrauten, wir in einer suchenden Haltung gemeinsam mit ihnen geeignete Möglichkeiten der Umsetzung ihrer Ziele oder auch nur des Aushaltens einübten. Da mischten sich Dankbarkeit und manchmal auch Zweifel, da wollten Hürden genommen sein. So war in Bonn die Palliativstation ursprünglich räumlich an die Geriatrie angebunden. Während die Kollegen um 6.30 Uhr mit der Pflege der geriatrischen Patienten begannen, sozusagen leibhaftig handelten, zeigte sich unser Handeln anders: Wir sprachen ausführlicher von den Patienten und ihren Zugehörigen, ihren Bedürfnissen und Befindlichkeiten, wie sich Schmerzen oder andere Symptome verändert hatten, wie sich die Gesamtsituation darstellte und welche Handlungen daraus angemessen und passend waren. Auch über die eigenen Gefühle – z. B. die Widersprüche, die sich aus erlernten Pflegemustern und dem neuen Anspruch ganzheitlicher Begleitung angesichts des nahenden Sterbens ergaben – wurde geredet: »Ich fühle mich so hilflos, denkst du, das ist normal und richtig?«, war eine häufig gestellte Frage. Die palliative Arbeit änderte unsere Prioritäten. »Wann fangt ihr morgens eigentlich an zu arbeiten?«, wurden wir häufig von den Kollegen der benachbarten Station gefragt. Dort waren die Patienten um 8.00 Uhr bereits gepflegt, warteten auf das Frühstück. Und bei uns? Zunächst waren wir verschämt, verteidigten uns. Nach und nach kristallisierte sich unsere Haltung heraus: Redehandlungen sind auch Handlungen, die gleichwertig und gleich wichtig sind.

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2 Zu viel des Redens Der Grad, den wir in der Begleitung immer wieder sorgfältig ausloten müssen, ist: Wie viele Gespräche mit Patienten und Zugehörigen sind förderlich, sodass sie in ihrem eigenen Tempo ihren Prozess der Auseinandersetzung mit der Krankheit gehen können? Kann es womöglich auch ein Zuviel geben? Eine Zugehörige sagte uns nach einer Begleitung: »Es war sehr hilfreich, ausreichend Zeit zu haben, alle Fragen stellen zu dürfen, die uns bewegten. Aber das mit dem Sterben, das hätten Sie nicht so oft sagen müssen. Das hat uns überfordert. Wir haben es doch gewusst. Wir konnten das Hier und Jetzt gar nicht mehr genießen, weil Sie uns mit Ihren Hinweisen auf den nahen Tod immer wieder aus dem ›Noch-hier-Sein‹ rissen.« Diese Aussage war uns ein wichtiger Hinweis darauf, dass man es mit den Gesprächsangeboten auch übertreiben kann: Aus der Förderung des Anpassungsprozesses an die Krankheit durch Gesprächsangebote kann leicht eine Forderung werden, der sich Patienten und Zugehörige nur schwer entziehen können. Ergebnis ist dann unter Umständen eine Überforderung. Das Zuviel des Redens findet sich manchmal auch innerhalb der Teamkommunikation. Ein Ort, an dem dies immer wieder deutlich wird, ist die Dienstübergabe. Man trifft sich, setzt sich zusammen, tauscht sich aus. Dieses simple Unterfangen ist bei genauer Betrachtung oft ein hochkomplexes Kommunikationsszenario mit vielfältigen Redebeiträgen: »›Der Dienst heute, ach, es war viel zu viel.‹ ›Also, der Frau Meier, der geht’s heut nicht so gut, die gefällt mir gar nicht. Mit den Schmerzen war’s besser, aber ansonsten ist sie ganz schön depressiv und unruhig.‹ ›Ja, und der Mann ist auch so komisch. Ich war gestern mit ihr im Bad, sie wollte unbedingt noch die Haare gewaschen haben – und die hat ja eigentlich so schönes Haar, ist euch das schon mal aufgefallen, und überhaupt nicht gefärbt, hat sie erzählt. Jedenfalls hat er dann mit ihr rumgeschimpft, sie soll sich nicht so überanstrengen und so. Da war richtig was los zwischen den beiden.‹ ›Ja, ich find auch, die haben eine schwierige Beziehung, die zwei. Das klappt doch zu Hause nie und nimmer. Und er guckt mich irgendwie immer so merkwürdig an.‹ ›Jedenfalls ist das mit den Schmerzen besser, das hat sie mir heute gesagt. Und deswegen kam sie ja. Wir gucken uns das noch ein, zwei Tage an, und dann entlassen wir sie.‹ ›Also, ich habe gestern ein langes Gespräch mit ihr geführt, da ging es vor allem um ihre Angst, die sie so lähmt und hilflos macht. Ja, das war schon sehr intensiv. Ihr Mann war auch Thema. Wie der damit umgeht, beschäftigt Frau Meier ziemlich. Sie hat dann auf ihm rumgehackt, das fand ich daneben.‹ ›Ach, bevor ich’s vergesse: Sie hat ordentlich abgeführt.‹ ›Das wurde aber auch Zeit. O.K., dann haben wir’s doch. Gibt’s noch was Besonderes? Sonst kommen wir doch zum Herrn Schulze‹« (Kern und Aurnhammer, 2009).

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In dieser beschriebenen Übergabesequenz sind viele Mitarbeiter und Berufsgruppen beteiligt, es wird viel geredet, über den Patienten gesprochen, nicht von ihm, schon gar nicht mit ihm, auch nicht so, als wäre er dabei. Es wird bewertet, gemutmaßt, spekuliert, getratscht, da mischen sich Wichtiges und Nichtiges, Geschichten werden erzählt, Druck abgelassen und dazwischen wichtige Informationen ausgetauscht. Die Ziele sind unklar, es gibt oftmals kein Ergebnis. In diesem Beispiel fehlt die Konzentration, die sich als zielloses, unachtsames Erzählen, dem sogenannten »Rumgerede«, niederschlägt. Diese Übergabe zu Frau Meier hat viel Zeit gebunden und wenig Hilfestellung gegeben. Sie hat weder einen gerechten Blick auf die Situation der Familie geliefert, noch sind weitere Ziele in den Blick genommen und konkretisiert worden. Aber auch der vielleicht gewünschten Entlastung, einmal den Druck des »Zuviel« ablassen zu können, wurde letztlich kein Raum gegeben, sondern durch ein anderes Zuviel erschlagen. Ergebnis einer solchen Übergabe kann sein, dass nun überlegt wird, wer der Verursacher der nicht gelungenen Übergabe ist. Ein Verantwortlicher wird gesucht. Nun wird statt über die Patienten über die Kollegen geredet. Die Seligkeit zu reden, wird nun zum unseligen Lästern über Kollegen und zur Last in der Arbeit.

3 Von der Unwilligkeit zu reden Wenn Gespräche nicht mehr maßvoll sind, d. h., wenn die Redezeit und das Ergebnis nicht mehr zur Arbeitsanforderung passen, wird die anfängliche Freude, reden zu dürfen, zur freudlosen Last. »Lass uns doch endlich arbeiten, nicht immer nur reden«, sagte eine Kollegin nach einer Übergabe. Diese Aussage weist auf ein situatives Ungleichgewicht zwischen dem, was zu erledigen ist, und dem Nutzen der Gespräche hin. Es ist aber auch ein Hinweis darauf, dass das Reden nicht mehr als zum Arbeitsprozess gehörig erlebt wird. Reden und arbeiten sind aufgrund des Zuviels und des zu Ungenau wieder zweierlei geworden. Die Gründe für diesen kommunikativen Rückschritt – Behandeln und Sprechen seien zweierlei, Sprechen sei unnötiger Luxus oder Zeitverlust – liegen möglicherweise in den veränderten Strukturen und Rahmenbedingungen von Hospizarbeit und Palliativmedizin. Strukturen z. B. im ambulanten Bereich haben einen Einfluss auf die stationäre Versorgung: Zunehmend werden Patienten aufgenommen, wenn die Situation zu Hause nicht mehr zu stabilisieren ist und sie bereits sterbend sind. Ein Kennenlernen, ein Beziehungsaufbau, der dem Anspruch von Hospizarbeit und Palliativmedizin genügen will, ist nicht möglich. Vielleicht ist die Überredseligkeit hier ein Kompensationsversuch, den Patienten über ausführlichstes Reden komplexer zu erfassen. Oder die Situation des Patienten und seines Umfeldes ist so herausfordernd, die Probleme scheinen unlösbar, die Symptomlinderung ist nicht zufriedenstellend, sodass keine großen Erfolge sichtbar sind. Dann ist oft das Reden ein Ersatz für das unzureichende oder gar nicht mögliche Handeln. Überredseligkeit von Mitarbeitern

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kann hier darauf hindeuten, dass das Fass voll ist und überläuft, die Fassungslosigkeit auch in der Fülle der Worte überläuft.

4 Von der Überredseligkeit zur Sprachlosigkeit Wenn die Ursachen der Überredseligkeit nicht erkannt werden, führt dies nicht selten zur Sprachlosigkeit. Sie zeigt sich als Sprachunfähigkeit oder -unwilligkeit, sich darüber zu äußern, was aus der Arbeit und aus mir und uns in der Arbeit geworden ist. Damit ist nicht die achtsame oder angemessene Sprachlosigkeit gemeint, das schweigende Innehalten, das seinen Wert da hat, wo Worte nicht reichen oder unnötig sind. Es ist auch nicht das wortlose Dasein und Staunen vor der Größe des Sterbens. Die Sprachlosigkeit, von der im Zusammenhang mit dem Zuviel die Rede ist, ist eine resignative Haltung: »Das ganze Reden hat doch keinen Sinn mehr. Das bringt uns auch nicht weiter.« Die Sprachlosigkeit kann dann Ausdruck einer Sinnlosigkeit sein, die den Charakter des Aufgebens und Verstummens hat.

5 Der supervisorische Blick auf ein Phänomen Beratung, Gesprächsführung und Beistand für Patienten, Zugehörige und Kollegen bilden einen Schwerpunkt im Arbeitsalltag der Palliativversorgung. Hinzu kommen Teambesprechungen und Dienstübergaben. Somit nimmt das aktive Zuhören, das Führen und Strukturieren von Gesprächen einen großen Teil der Arbeitszeit ein. Diese Arbeitsleistung kostet Kraft, Anstrengung und Zeit, die in Berufen, die vom Ursprung eher handlungsorientiert sind, vielleicht unterschätzt wird. 5.1 Vom guten Sinn des Vielredens und des dahinter stehenden Anliegens

In der Supervision ist es wichtig, das Handeln von Menschen, und folglich auch das des Zu-viel-Redens, zu würdigen. Das jetzt als Belastungsfaktor beschriebene Verhalten der Überredseligkeit hatte in seinem Ursprung einen guten Sinn. Im Vorgesagten wurde deutlich, dass das Über-alles-reden-Dürfen, besonders über Tabus und schwierige Themen sowie endlich über Gefühle reden zu können, Einstiegsmotivationen für viele Begleiter und Pflegefachkräfte waren. Hinzu kommt die Idee, dass das Sich-alles-von-der-Seele-Reden dem Redner nützt. Die gegenseitige psychosoziale Entlastung der Mitarbeiter gehört in der Palliativversorgung zu den Grundzügen der Teamkultur. Im Übergabebeispiel konnten die dort angeführten Kollegen aber nicht wirklich Druck ablassen und sich nach der Dienstübergabe entlastet fühlen. Denn hierfür bedarf es in der Regel des Dialogs, des wohlwollenden und wertschätzenden Zuhörens, der Rückkopplung durch die Zuhörenden sowie eines ersten Schrittes auf der Handlungsebene. Unsere Hypothese ist, dass die Mitarbeiter durch die Vielfalt der Wahrnehmungen, der geführten Gespräche mit der Patientin und den Beobachtungen der Eheleute in ihren

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Gefühlen berührt und in ihren Bewertungen durcheinandergewirbelt wurden. Ich vermute hohe Ambivalenzen zwischen liebevollem Mitgefühl für die Patientin und gleichzeitigem Ärger über die Patientin und deren Ehemann. Das Bedürfnis der Mitarbeiter, wirksam zu sein, wurde eventuell nicht mehr erfüllt. Das liebevolle Mitgefühl kann sich dann auf der Handlungsebene an erlebte Hilflosigkeit oder Ohnmacht ankoppeln. Intensive Gespräche über Angst, Lähmung und Hilflosigkeit sowie die Unveränderbarkeit der Situation können leicht dazu führen, dass die Begleiter nach dem Gespräch die gleichen Gefühle haben wie die Patientin. Der erste Satz »Es war zu viel« lässt darauf schließen, dass dies so oder so ähnlich geschehen ist. Somit handelt es sich vielleicht bei diesem sogenannten »Rumgerede« um den Versuch der Kollegin, sich selbst zu helfen. Das Springen in den Themen und Kommunikationsebenen von Selbstoffenbarung, Beziehungsebene und Sachebene ist ein Versuch, das Gewesene zu ordnen, und als ein mögliches Symptom dafür zu werten, dass in der Person etwas durcheinandergeraten ist. Individuell geht es vielleicht um die Stabilisierung von Ich-Grenzen, strukturell um Vereinbarungen zu Themen, Zeit und Zielen. 5.2 Vom Nutzen der Struktur

Beispielhaft an der oben geschilderten Übergabesituation wird der Wert von Struktur deutlich. Gespräche an Arbeitsplätzen brauchen Struktur, Rahmung, Vereinbarungen und Moderation. Die Dienstübergabe ist aus Beratungssicht ein Teil der formalen Kommunikationsstruktur. Hierzu gehören dann auch Ziele, Zeit und die Themen. Was wird hier besprochen, was hat hier seinen guten Platz und wie sprechen wir hier miteinander? Was wird aufgeschrieben, dokumentiert und festgehalten? Werden Entscheidungen nur andiskutiert oder auch getroffen? Geht es darum, nur Information weiterzugeben? Wer darf ein Thema stoppen und auf das wesentliche Anliegen zurückführen? Hierüber kann das Team gemeinsam Vereinbarungen treffen. Dann kann es durchaus auch dazu gehören, dass Kollegen ein kurzes Feedback zu erlebten Belastungen geben und geklärt wird, was mit den Belastungsthemen weiter geschieht. Soll das Belastungserleben noch einmal Thema im Team oder in der Supervision sein? Nimmt sich eine Kollegin zu einer anderen Zeit für ein Vieraugengespräch Zeit? Werden Seelsorger oder Psychologe hinzugezogen? 5.3 Von der Kraft und der Anstrengung zuzuhören

Aktives Zuhören in Teamsitzungen, Zugehörigen- und Patientengesprächen kostet Kraft und bisweilen auch Anstrengung. Zuhören heißt nachvollziehen, erfassen und mitschwingen, mitfühlend verstehen. Aktives Zuhören ist eine echte Aktivität. Ich höre eine Aussage, ich höre jedoch auch eine Stimmlage und ein Sprechtempo. Ich sehe eine affektarme oder eine besonders affektreiche Gestik und Mimik. Ich spüre die körperliche Anspannung oder auch Erschöpfung meines Gegenübers, ich nehme

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Angst, Wut oder auch Freude wahr. Ich höre z. B. Appelle an mich, etwas zu tun, zu helfen. Ich höre Klagen oder Vorwürfe als allgemeine Grundhaltung oder auch konkret gegen Dritte gerichtet. Ich nehme Anliegen und Bedürfnisse wahr. All das muss ich dann auch noch verarbeiten, sortieren, bewerten und beantworten. Hierbei ist es vollkommen normal, dass in mir als dem Zuhörenden Gefühle, Haltungen und Einstellungen berührt werden. Dabei heißt zuhören auch noch, sich selbst wahrzunehmen, zu reflektieren und zu distanzieren, damit die Gefühle des Kollegen oder des Patienten nicht zu den eigenen werden. Aktives Zuhören ist eine komplexe Arbeitsleistung, die in der Palliativ- und in der Hospizarbeit täglich mehrfach geleistet wird. Insofern ist es nur verständlich und sinnvoll, dass es eine Grenze in der Bereitschaft und in der Fähigkeit gibt, zuzuhören. Jeder Mensch hat seine Grenze im Aufnehmen und Verarbeiten von Wahrnehmungen. Auch der Wunsch, lieber praktisch handeln und arbeiten zu wollen, ist nachvollziehbar und passend, da unser Gehirn diesen Ausgleich und die Balance braucht und z. B. der sichtbare Verband manchmal mehr als ein Gespräch das Gefühl gibt, etwas Richtiges getan und etwas bewirkt zu haben. Sowohl für die Gesprächsführung mit als auch für die Beziehungsgestaltung zu dem jeweiligen Gegenüber ist es wichtig, dass ich meine Grenze wahrnehme und auch benenne, z. B.: »Ich habe jetzt ganz viel gehört von dem, was dich alles bewegt und beschäftigt. Kannst du mir/uns noch einmal in ein oder zwei Sätzen sagen, was davon für dich im Moment das Wichtigste ist?« Oder: »Was steht an, was brauchst du als Nächstes? Was braucht die Patientin im Moment oder als Nächstes?« Überredseligkeit als Symptom wahrzunehmen, ist eine besondere Anstrengung, denn eigentlich finden keine Gespräche und kein Austausch, sondern ein Monolog statt. Eine Person redet, vielleicht mit hohem Sprechtempo, und wechselt schnell die Themen und Aussagen. Selbstaussagen, das Sprechen über eigene Gefühle, z. B. »Der Dienst heute war zu viel«, wechseln zu Diagnosen, Hypothesen wie Depression und Unruhe der Patientin, hin zur plakativen Schilderung eines beobachteten aggressiven Gesprächs zwischen Eheleuten, weiter zu Gefühlsschilderungen der Patientin wie Angst, Lähmung und Hilflosigkeit. Wobei den zuhörenden Personen vermutlich nicht mehr ganz klar ist, ob der Pflegende oder die Patientin diese Gefühle hat. Weiter geht es dann zu einer negativen Einschätzung der Entlassungsprognose im psychosozialen Bereich und einer Abschlussaussage zum Stuhlgang der Patientin. Es kommt zu einer Vermischung von Sachbotschaften und Gefühlsbotschaften. Die Zuhörenden sind mit dem jeweils Sprechenden ohne Gewichtung durch alle Themen gejagt und bleiben irritiert hinter den Inhalten des Gesprochenen zurück. Niemand sorgt für einen Abschluss des Gesprächsthemas. Die Zuhörenden verstummen bereits während des Erzählens und stellen keine Zwischen- oder Genauigkeitsfragen. Der Eine schaltet vielleicht schon ab, der Andere versucht noch, das Gehörte zu ordnen und zu verstehen. Der Dritte fühlt sich einfach nur überanstrengt vom Zuhören, sieht keinen Sinn mehr im Reden und

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will nur noch raus aus dem Besprechungsraum und endlich richtig arbeiten. Der Vierte versucht vielleicht, sich mit einem eigenen Kurzmonolog einzubringen, um auch im Gespräch vorzukommen. Der Fünfte ist nur noch verärgert. Findet diese Art von Gesprächen oft statt, entwickelt sich Frustration. Das Team sieht berechtigterweise keinen Sinn und keinen Nutzen in dieser Form der Übergabe. Die zuhörenden Kollegen konnten nichts bewirken. Die Redenden hatten vielleicht keine oder nur eine kurzfristige Entlastung. Es kommt dann leicht zu der Verallgemeinerung, dass das Reden keinen Sinn macht. Einen Stopp zu setzen und das Ordnen von Themen und Inhalten vorzunehmen, kann sowohl für die Sprechenden als auch für die Zuhörenden hilfreich sein. Mitarbeiter erleben Fachgespräche als sinnvoll, wenn diese zu einem nächsten Handlungsschritt führen oder wenn die erzählenden Mitarbeiter eine tatsächliche psychosoziale Entlastung erleben. Grundsätzlich ist es passend und zielführend, zum Abschluss die Frage zu stellen, was das Gespräch für das weitere Vorgehen bedeutet. Eine Strukturhilfe können Regeln oder Standards darstellen; im Folgenden z. B. die erarbeitete Struktur einer Dienstübergabe. 5.4 Vorschlag für die Struktur einer Dienstübergabe 5.4.1 Vorbemerkungen Die tägliche, multidisziplinäre Dienstübergabe im Hospiz- und Palliativkontext dient der Informationsweitergabe, der Reflexion aktueller Behandlungs- und Pflegemaßnahmen, der Definition und Überprüfung von Begleitungszielen und der Reflexion der Erwartungen von Patienten und deren Angehörigen an die Behandlung und Begleitung. Gemeinsam beschlossene Veränderungen bezüglich der Begleitungsziele und Behandlungsmaßnahmen werden dabei in der Dokumentation festgehalten. Ziel dieses zeitlich begrenzten Austausch- und Informationsgesprächs ist es, eine kontinuierliche, fachgerechte Behandlung und Begleitung des Patienten und seines Umfelds sicherzustellen. Wertende Informationen sind möglichst zu vermeiden. Darüber hinaus wird dem Team Raum gegeben, aktuelle Belastungen und Konflikte zu äußern und zu besprechen. Wichtig für eine gelingende Dienstübergabe ist es, den roten Faden nicht zu verlieren und eine prägnante, auf die wesentlichen Aspekte fokussierte Berichterstattung seitens der Mitarbeiter einzufordern. Es sollte allen an der Dienstübergabe Beteiligten bewusst sein, dass die Übergabe nicht das Lesen des Pflegeberichts und der Pflegeplanung ersetzen kann und soll. Berechenbare Störfaktoren (Telefon, Besuchereintritt) sollten möglichst vermieden werden. 5.4.2 Inhaltliche Grundstruktur der Übergabe A) Allgemeine Informationen: – Name, Vorname, Alter des Patienten – Aufnahmedatum, Einweisungsdiagnose, Nebendiagnose

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B) Folgende Themen werden bezogen auf den Patienten und seine Angehörigen nacheinander im Hinblick auf Problemlagen und Ressourcen reflektiert: – medizinische Aspekte: z. B. belastende körperliche Symptome, deren Verlauf und Behandlung, – pflegerische Aspekte: z. B. Pflegebedarf des Patienten, besondere Pflegeprobleme, – soziale Aspekte: z. B. Familienkonstellation und -dynamik, sozialrechtliche Fragen, – psychische Aspekte: Besonderheiten in der Krankheitsbearbeitung seitens des Patienten und seiner Familie, – spirituelle Aspekte: Bedürfnisse und Fragestellungen des Patienten und Umgang damit. C) Aufnahme- und Entlassungsplanung D) Anschließend werden bei Bedarf aktuelle Belastungs- und Konfliktsituationen des Teams reflektiert. Die Berichterstattung zu einem jeweiligen Patienten übernimmt die Pflegekraft, die den Patienten in der vorausgehenden Schicht primär betreut hat. Dabei wird dem Bericht die oben beschriebene inhaltliche Struktur zugrunde gelegt. Danach folgt die Ergänzung durch den Arzt und andere Teammitglieder mit Diskussion. Ergeben sich bei einem Patienten und/oder seinen Angehörigen besondere Fragestellungen, die einer ausführlicheren Diskussion bedürfen, so wird dies zu Beginn der Übergabe angemeldet. Diese Situation wird dann am Ende der Übergabe besprochen. Hintergrund: Dieses Vorgehen ist hilfreich, da sonst die Gefahr besteht, den Zeitrahmen zu überziehen und die anderen Patienten nicht ausreichend zu betrachten (Kern, 2006). 5.5 Vom Sinn, ein Gespräch zu führen

Zu sprechen oder ein Gespräch zu führen, sind keine identischen Vorgänge. Berufliche Gespräche benötigen professionelle Gesprächsführung, d. h., auch hier geht es nicht ohne Rahmen und Struktur. Es braucht einen Anfang und ein Ende sowie Regeln und Vereinbarungen. Ich kann anderen helfen und sie unterstützen, indem ich nicht nur höre, sondern sie durch gezielte Fragen und Antworten unterstütze. Es gibt Methoden und Frageformen, die hierbei hilfreich sind. Dies gilt in besonderer Weise für Belastungs- und Krisengespräche. Gezielte, gute Fragen zu stellen, ist eine aktive Handlung und führt dazu, dass der Gesprächsführende etwas bewirkt. Sprachhandlungen sind Handlungen. Es ist sinnvoll, zum Abschluss eines Gespräches zu fragen, was gut oder hilfreich war. Eine weitere wichtige Kategorie professioneller Gesprächsführung ist die Haltung des Nichtwissens und das Stellen von Fragen. Als geübter, langjähriger Mitarbeiter in diesem Feld kann es selbstverständlich geworden sein, über alles, was zum Sterben gehört, zu sprechen. Im vorgenannten Beispiel mit den Zugehörigen wurde nicht gesagt, dass das Reden selbst zu viel war, sondern dass das (Sterbe-)Thema als Hauptgesprächspunkt zu

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viel war. Auch in der Begleitung von Zugehörigen dürfen Pflegende und andere Mitarbeiter mit »Neugierhaltung« fragen, was diese brauchen und worüber sie sprechen wollen. Es sollte weder Gesprächszwang noch Themendruck geben. Zur Gesprächsführung gehört auch eine gute Selbstreflexion. Es ist für Menschen, die regelmäßig helfende Gespräche führen, wichtig zu wissen, was genau sie in besonderer Weise emotional berührt und wo ihre Grenze liegt. Ein Merkmal hilfreicher Gespräche ist es, authentisch zu sein und die eigene Befindlichkeit und Grenze zu wahren und zu achten. Der Gesprächsführende darf die eigene Verfasstheit genauso wahrnehmen und respektieren wie die des Patienten. Gezielte Gesprächsführung schafft eine genügende Distanz, um nicht vom hilfreichen Mitgefühl in das ausufernde Mitleiden oder die Überforderung zu geraten. Die Grundlagen von professioneller, hilfreicher Gesprächsführung können durchaus erlernt und geübt werden. 5.6 Sprachlosigkeit

Ein altes Sprichwort sagt: »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.« Es kann sehr bedeutsam sein, nach dem Grund und vielleicht guten Sinn des Nichtredens zu fragen. In der Regel gibt es auch hier Gründe für dieses Verhalten: – »Ich schütze mich und meine Kollegen vor einem Wutausbruch, indem ich lieber nichts sage.« – »Es ist es mir nicht Wert, an dieser Stelle Kritik zu üben. Der vermutete Preis dafür erscheint zu hoch.« – »Ich habe noch keine Idee, wie ich es gut sagen könnte.« – »Ich habe heute keine Kraft dazu, ich bin zu dünnhäutig.« – »Es ist nicht der rechte Ort, die rechte Zeit, oder die richtigen Beteiligten sind nicht anwesend.« Diese Beispiele zeigen mögliche, gut gemeinte Anliegen auf, die in Richtung Schutz oder Sorge für etwas gehen. Nach der Anerkennung, dass das Nichtreden sinnvoll sein kann, stellt sich die Frage, ob alle im Team diesen Sinn, diese Haltung teilen und was sich ändern oder hinzukommen muss, damit wieder gesprochen werden kann oder aber auch damit das Schweigen bewusst gemeinsam getragen, nicht nur ertragen werden kann. Sollte die Sprachlosigkeit tatsächlich der Erschöpfung oder der Resignation entspringen, dann stehen folgende Fragen im Vordergrund: Wie kann das Team oder der Einzelne wieder kraftvoll werden? Wer oder was hat in ähnlichen Situationen schon geholfen? Gibt es auch jetzt schon Ausnahmen oder Unterschiede? Was wäre für wen ein erster Schritt zu einer Veränderung oder Verbesserung? Woran genau wäre eine Verbesserung bemerkbar? Der supervisorische Blick auf das Phänomen Sprachlosigkeit würde bedeuten, an den Themen hinter der Sprachlosigkeit zu arbeiten.

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Organisationen, Abteilungen, Teams sollten tatsächlich regelmäßig überprüfen, ob das, was zu Beginn oder früher helfen konnte oder sollte, noch sinnvoll ist. Wenn sich Rahmenbedingungen verändern, ist zu schauen, ob das bisherige Vorgehen noch passt. Sind das ursprüngliche Ziel und die Haltung des Über-alles-sprechen-Könnens noch sinnvoll? Wenn ja, dann stellt sich die Frage: Wie, wodurch und in welchem Umfang sollen das Ziel und die Haltung entweder neu gefasst und belebt oder stabilisiert werden? Es darf auch durchaus mal die Frage gestellt werden, welches Weniger nützlich sein könnte. Wo und wie wollen wir unsere Prioritäten setzen, damit sich wieder ein guter Sinn in unserem Tun und Sprechen entwickelt? Der Nutzen des Redens und die Art des Redens dürfen selbstverständlich auf dem Prüfstand stehen.

Literatur Kern, M. (2006). Palliativpflege. Richtlinien und Pflegestandards (2. Aufl.). Bonn: Pallia Med. Kern, M., Aurnhammer, K. (2009). »Das müssen wir noch besprechen« – Die Übergabe in der Palliativversorgung. Zeitschrift für Palliativmedizin, 14.

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»Immer wieder knallt es bei uns …« Spannungen (Reizbarkeit, Streitigkeiten) zwischen den Berufsgruppen als Belastungssymptome Martina Kern und Cornelia Jakob-Krieger

Spannung wird in der Physik als Beziehung zwischen zwei unterschiedlichen Polen definiert. Die daraus entstehende Energie wird als Spannung bezeichnet. Das Ausmaß des Spannungsfeldes wird durch die einwirkende Energie, die Intensität und die Dauer (Zeit) beeinflusst. Dies könnte ein hilfreiches Bild zur Beschreibung zwischenmenschlicher Dynamik in einem Team sein.

1 Das Spannungsfeld der Ideologie – wir gegen die Anderen Hospizidee und Palliativmedizin haben sich als Gegenbewegung zu einem als inhuman und unwürdig erlebten Sterben entwickelt und sind für eine bessere Versorgung schwerstkranker und sterbender Menschen angetreten. Aus diesem Selbstverständnis heraus haben sich palliative und hospizliche Teams mit einer hohen Identifikation mit der Idee und einem starken Wir-Gefühl entwickelt. Das Spannungsfeld zeigt sich hier zwischen den hospizlich Denkenden und Handelnden und denen, die von der Idee überzeugt werden sollten. Unter dem Aspekt der ausschließlichen Konzentration auf die Lebensqualität der uns anvertrauten Patienten war die ideelle Erwartungshaltung, dass die Begleitungsziele sowie deren Umsetzung innerhalb eines Teams endlich einmal kongruent seien und dass man ausschließlich an den Patientenbedürfnissen orientiert arbeite. Der einzelne Mitarbeiter stellte sich vor, hier dürfe er endlich seine berufliche Vision leben, brauche die langen, vielfach unerquicklichen Diskussionen über Therapieoptionen zwischen z. B. Ärzten und Pflegenden nicht mehr zu führen. Hier sei ein Ort, an dem Hierarchie keine Rolle spiele und jeder in Ruhe, friedvoll und in großer Einmütigkeit mit den Kollegen arbeiten dürfe. »Das ist ein ganz neues und sehr spannendes Arbeitsfeld für mich«, berichtete eine Kollegin von ihrer soeben begonnenen Tätigkeit im Hospiz, »wir ziehen alle an einem Strang.« In dieser Aussage zeigt sich eine frohe, erwartungsvolle, ausgewogene Spannung, ein Sich-getragen-Fühlen im Wir des Teams.

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2 Die eigene Rolle im Wir des Teams Die Wirklichkeit oder die einwirkende Energie sieht in diesem ethisch und fachlich so anspruchsvollen Arbeitsfeld aber komplexer und »menschlich-unzulänglicher« aus. Wenn hierarchische Strukturen negiert werden und Teammitglieder Gefahr laufen, inmitten eines großen ideologisierten »Wir« zu verschwimmen, treten leicht Spannungen auf. Dann wird der Patient manchmal zum Medium der Klärung der Rollen und Hierarchien im Team. Jeder wird versuchen, die eigene Wichtigkeit und das eigene Anliegen – gerade weil es ein so hehres und altruistisches ist – in den Vordergrund zu stellen, vielleicht aber auch, um dadurch Anerkennung zu bekommen und sich zu behaupten. Das kann im Extremfall so viel Kräfte und Energie binden, dass kaum Platz für die Belange bleibt, für die eigentlich alle angetreten sind, nämlich Patienten und Zugehörige mit ihren Symptomen und Nöten wirklich in den Mittelpunkt der Bemühungen zu stellen. So begegnet man in der Arbeit mit Teams, die in der Palliativversorgung arbeiten, immer wieder den Phänomenen erhöhter Reizbarkeit und daraus erwachsender Streitigkeiten, die dann auch zu Spannungen zwischen den an der multiprofessionellen Arbeit beteiligten Berufsgruppen führen – Letzteres ein häufig anzutreffender Abwehrmechanismus: das Verschieben der Verantwortlichkeiten von sich selbst bzw. der eigenen Berufsgruppe auf den Anderen bzw. die andere Berufsgruppe. Reizbarkeit an sich ist ja erst einmal eine Fähigkeit lebender Organismen, auf Zustandsänderungen (Reize) zu antworten, also durchaus sinnvoll und positiv zu bewerten. Die erhöhte Reizbarkeit zeigt jedoch an, dass der betreffende Organismus – hier der Mitarbeiter, das Team, die Berufsgruppe – sich schon in einer Art Alarmbereitschaft und damit einer erhöhten Grundspannung befindet und die Antwort auf den Reiz entsprechend deutlicher, heftiger bis hin zu unangemessen ausfallen kann und eine Abwehrqualität aufweist. Abwehrverhalten des einen Menschen, der einen Gruppe wird vom Gegenüber oft als Angriff erlebt und löst wiederum Abwehrverhalten aus. Die Kommunikation ist gestört, das sich einander Mitteilen, miteinander für das gleiche Ziel Arbeiten, ist nur noch mehr oder weniger eingeschränkt möglich. Dieser Zustand wiederum verschärft Unzufriedenheiten, das Erleben von Überlastung und Überforderung, und die Reizbarkeit und Spannung nehmen weiter zu – ein Circulus vitiosus. Im Bereich der Palliativversorgung wird diese allzu menschliche Situation oftmals als besonders schwerwiegend/negativ bewertet und damit auch als besonders belastend erlebt, weil es ja diesen hohen ideologischen Anspruch gibt. Die geforderte Empathie dem Patienten gegenüber soll auch im Binnenverhältnis der Kollegen untereinander herrschen – nicht nur in Bezug auf die Erfüllung der Arbeit, nämlich schwerstkranken und sterbenden Menschen eine humane und würdige Versorgung bereitzustellen, zu gewährleisten, sich ausschließlich an den Bedürfnissen der Patienten zu orientieren, sondern auch an sich selbst, an das Team, an alle beteiligten Berufsgruppen: Wir alle

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arbeiten gemeinsam für dieses hohe Ziel, auch wir erkennen (und erfüllen) unsere Bedürfnisse, wir haben uns gern. Die nicht ausbleibende Konfrontation mit den mannigfaltigen Wirklichkeiten des Arbeitsalltages führt zu Enttäuschungen und Verletzungen, die häufig schwer bzw. nicht kommunizierbar sind und damit die oben beschriebenen Verhaltensweisen auslösen können. Der mehrperspektivische Blick von außen, besonders effektiv in der Supervision (Jakob-Krieger, Dreger, Schay und Petzold, 2004; Petzold, 2007), kann hier hilfreich sein für – das Auflösen blockierter Kommunikation, z. B. durch  aufmerksames Zu- und Hinhören,  Respekt vor dem Anderssein des Anderen (Wertschätzung),  Selbstwahrnehmung,  Spannungsregulation (über Atem- und Bewegungsangebote),  Spannungsregulation (Überprüfung der eigenen Kontrollüberzeugungen und Bewertungsmuster),  das Anstreben einer Kultur der Offenheit und des Aushandelns,  das Anbieten/Erarbeiten von Um- bzw. Neubewertungen,  das wieder Einladen in die kommunikativen Zusammenhänge Einzelner nach einem Rückzug bzw. einzelner Berufsgruppen nach einem Abschotten; – das Aufzeigen der Komplexität der beteiligten Themen, z. B. durch  Stresstheorie,  Systemdynamik,  ideologische Fallen (z. B. der hohe Anspruch),  strukturelle Gegebenheiten,  Übertragungsphänomene vom familiären auf den beruflichen Kontext, begünstigt durch das übliche Duzen; – das Ermöglichen einer Realitätsanbindung, – Unterstützung bei der Entideologisierung, – die Erkenntnis »wir sind alle Menschen und keine Heiligen«, – das Benennen des Sinns von Hierarchie, – die Berechtigung, individuelle Sichtweisen und Bedürfnisse aus dem ideologisch verschwommenen »Wir« herauszuarbeiten; – das klare Benennen und Respektieren der Unterschiede/Merkmale der Rollen, Funktionen, Aufgaben, z. B. durch  Rolleneinnahme,  Annehmen der der Rolle entsprechenden Verantwortlichkeiten,  Rollendistanz, Selbstreflexion,  Rollenflexibilität,  Identität,  Rollenerwartungen, -zuschreibungen der Kollegen,  die Rollenerwartung seitens des Arbeitgebers.

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3 »Seht mich« Eine Sozialarbeiterin aus Bayern war neu in einem ambulanten Palliativteam. Während der wöchentlichen Teamsitzung war sie angespannt, nahm sich viel Raum, indem sie wiederholt von mehreren langen und intensiven Gesprächen mit einem Patienten berichtete, der extrem niedergeschlagen sei und sie in seine großen Probleme mit Krankheit und Familie eingeweiht habe. Im Team herrschten Unverständnis, Ratlosigkeit, auch Genervtsein und Ärger, da alle den Patienten völlig anders erlebten und die Darstellung der neuen Kollegin nicht nachvollziehen konnten. Es folgte eine lange Diskussion über den »wahren« Zustand des Patienten, die zu keinem einvernehmlichen Schluss gebracht werden konnte. In der darauffolgenden Supervisionssitzung wurde diese Situation vom Team vorgestellt, da bei allen Mitarbeitern Irritationen zurückgeblieben waren. Es war zu Unsicherheiten im Umgang miteinander durch Bewertungen der neuen Kollegin gekommen – »Wie sollen wir sie nach dieser Darstellung in ihrer professionellen Kompetenz einschätzen? Und überhaupt, wie viel Raum sie sich rücksichtslos, bezogen auf die anderen Teambelange, genommen hat!« – bei gleichzeitigem Unwohlsein über das eigene Verhalten. Denn alle hatten den Anspruch: »Wir sind doch wertneutral und wollen der neuen Kollegin erst mal eine Chance geben!« Die neue Kollegin hatte ihrerseits die von ihr nicht einschätzbaren Verhaltensweisen des Teams mit Rückzug beantwortet. Der Wunsch des Teams an die Supervision war, die aus dieser Situation entstandene hohe Spannung, die sich in zunehmender Reizbarkeit ausdrückte, aufzulösen. Eine kleine Theorieeinheit über Kommunikation, Selbst- und Fremdempathie, die erst einmal losgelöst von den beteiligten Personen war, schaffte soweit Entspannung, dass ein gemeinsames Gespräch, ein gegenseitiges Fragen nach den Beweggründen, Hintergründen des Verhaltens des anderen und damit Verstehen möglich wurde. Es stellte sich heraus, dass die neue Kollegin sich noch sehr fremd und orientierungslos in der Stadt fühlte, sich für ihre bayerische Mundart schämte und sie diese sie beherrschende Unsicherheit auch an ihrem Arbeitsplatz nicht regulieren konnte. Sie fühlte sich der Kompetenz des Teams gegenüber klein und unbedeutend, nicht zugehörig. Das hatte dazu geführt, dass sie, ihrem Bedürfnis folgend, endlich einmal ihre Kompetenz zu zeigen, in der besagten Teamsitzung so raumgreifend diesen Patienten in Verbindung mit ihren Leistungen dargestellt hatte. Und das so überzogen, dass der Patient den Kollegen so ganz anders erschienen war, als sie selbst ihn erlebten. Dem Team wurde klar, dass es einen unrealistischen Anspruch an sich hatte, den der Wertneutralität. Die Information, dass menschliche Wahrnehmungsverarbeitung immer mit kognitiver Einschätzung und emotionaler Bewertung einhergeht (Gibson, 1979; Petzold, van Beek und van der Hoek, 1994), war dabei sicherlich hilfreich gewesen. So konnte eine auf gegenseitigem Verständnis beruhende Annäherung und Auseinandersetzung darüber in Gang kommen, welche Erwartungen die verschiedenen Berufsgruppen an die neue Kollegin hatten. Das erleichterte ihr die Orientierung und sie konnte ihren Platz im Team einnehmen.

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Bei zunehmendem gesunden Bewusstsein und Wert der eigenen Person und Profession musste dieser Beweis nicht mehr vor den anderen erfolgen. Entspannt kannte jeder seinen Platz im Team, die Hierarchien waren geklärt und jeder konnte sich (gespannt) darauf konzentrieren, ob die eigene Einbindung für den Austauschprozess hilfreich war oder nicht, und sich dann auch einmal bescheiden zurückziehen. Eine ausgeglichene Spannung war erreicht.

4 Erhöhte Spannung im Team Das Ausmaß des Spannungsfeldes hängt von unterschiedlichen Faktoren ab und potenziert sich. Folgende Spannungsformel kann dies verdeutlichen: Einwirkende Energie x Intensität x Dauer (Zeit) = Ausmaß des Spannungsfeldes Vergrößert sich die einwirkende Energie, z. B. durch einen erhöhten Druck von außen, steigt die Spannung im Team. Sinken beispielsweise die Liegezeiten im stationären Palliativ- und Hospizbereich, d. h., mehr Patienten sterben in kurzer Zeit, steigt damit gleichzeitig der Belegungsdruck, Patienten mit Schmerzen oder anderen Symptomen warten auf eine Aufnahme. Die erforderliche durchschnittliche Belegung eines Hospizes liegt z. B. bei 90 %, sonst drohen Betten- oder Stellenstreichungen. Obwohl jedem Teammitglied diese Zusammenhänge klar und nachvollziehbar sind, so ist damit die eigene, aus dem Zuviel an Tod resultierende Überforderung nicht gelöst. Es kommt zu einer erhöhten Spannung, die sich nun oft an einer Profession oder Berufsrolle festmacht. »Hier wird kein Bett mehr kalt, die Ärzte belegen sofort wieder«, berichtete neulich eine Krankenschwester im Rahmen einer Übergabe an die Kollegin. »auf uns nimmt hier niemand mehr Rücksicht.« Aus dem Wir-Gefühl eines Teams und des gemeinsamen Tragens entwickeln sich Spannungen innerhalb der Berufsgruppen. »Ich kann doch auch nichts dafür«, beklagte sich der Arzt bei seinem Kollegen. »Die Schwestern machen nur noch Druck.« In Zeiten besonders hoch einwirkender Energie findet dann die Identifikation mit und das Verständnis innerhalb der eigenen Berufsgruppe statt. Hier fühlt man sich verstanden und solidarisch getragen.

5 Intensität Auch eine hohe Intensität in der Begleitung kann zu Spannungen innerhalb der Berufsgruppen führen. Ein 38-jähriger Patient, der zu Hause von einem ambulanten Palliativteam betreut wurde, kam aufgrund starker, ambulant nicht zu beherrschender Schmerzen auf die Palliativstation. Ziel der Behandlung waren Schmerzfreiheit und die baldige Entlassung nach Hause. Die Schmerzeinstellung war innerhalb der ersten Tage zufriedenstellend, auch die anderen Symptome waren gut zu behandeln. Kurz vor der geplanten Entlassung traten häufige Schmerzeinbrüche auf. Die Entlassung wurde wieder verscho-

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ben, diagnostische Maßnahmen mit der Fragestellung eines Tumorprogresses wurden eingeleitet und eine Anpassung der Schmerztherapie wurde vorgenommen. Danach entspannte sich die Situation wieder, der Patient schien zufriedener. Die Entlassung wurde erneut geplant, und die Problematik wiederholte sich. Der Patient war zeitweise verzweifelt; bei den täglichen Übergaben wurden im Team neue Therapiestrategien diskutiert, z. B. die Implantation einer Schmerzpumpe, aber auch die eigene Frustration wurde besprochen, letztlich war keine erfolgreiche Symptombehandlung zu erreichen. Die Pflegenden bedrängten den Stationsarzt, mit dem Patienten doch nun endlich die Entlassung zu besprechen. Die Sozialarbeiterin übte Druck auf den Arzt aus, denn sie kam mit der Organisation der Entlassung nicht weiter. Der Arzt konnte das Thema aber bei dem oftmals schmerzgequält wirkenden Patienten nur mit großer Mühe ansprechen. Als die Psychologin die hoch angespannte Atmosphäre im Team nicht mehr aushielt und versuchte, zwischen den Berufsgruppen zu vermitteln, platzte der Arzt mit dem Vorwurf gegen sie heraus: »Ihr Psychologen könnt außer Reden ja auch nichts. Du stehst nicht jeden Tag hier vor dem Patienten und probierst, was du gegen seine Schmerzen machen kannst. Ich kann das auch nicht mehr aushalten.« Von diesem Gefühlsausbruch waren alle erschüttert, zum Teil kamen Schuldgefühle auf. Der hohen Anspannung folgte eine Art Lähmung. In der Supervision wurde dem Team bewusst, wie sehr alle im Erleben der eigenen Hilflosigkeit (alle Versuche, dem Patienten zu helfen, blieben ja erfolglos) den Arzt kollektiv unter Druck gesetzt hatten, endlich eine Entscheidung zu treffen. Sie hatten immer wieder darauf beharrt, dass die Entlassung des Patienten doch das angestrebte Ziel sei. Gleichzeitig sollte die Entscheidung natürlich optimal sowohl für den Patienten wie auch für das Team sein. Dem Arzt wurde bewusst, dass er immer mehr in die Rolle des Anwaltes des Patienten geraten war, immer häufiger den Patienten, sich und seine Entscheidungen dem Team gegenüber hatte verteidigen müssen, sich vom Team verlassen und auch noch allein mit der Verantwortung für die Entscheidung gefühlt hatte, die das Team von ihm gefordert hatte. Die Pflegenden und die Sozialarbeiterin waren im übertragenen Sinne für ihn zu Angreifern geworden. Ausgelöst durch die extrem hohe Anspannung hatte jede Berufsgruppe nur noch die eigenen Belange im Blick gehabt und war in ihrem jeweiligen Standpunkt festgefahren gewesen. Hilflosigkeit und Angst, etwas Falsches, professionell Inkompetentes zu tun, hatten die jeweilig starre Haltung noch verstärkt. Durch das gemeinsame Hinschauen, Erkennen und Benennen des Geschehens löste sich die Erstarrung und die darauffolgende Lähmung, es entstand wieder ein Miteinander, ein sich Austauschen, das Bewusstsein, als Team über die Kompetenz zu verfügen, zu einer Entscheidung kommen zu können, die von allen getragen werden konnte. Eine Konzentration auf den Patienten war wieder möglich. In dieser wiedergewonnenen Offenheit konnte der Seelsorger die Frage stellen: »Welchen Nutzen hat der Patient von seinen Schmerzen?« Es lag auf der Hand: Nur mit den Schmerzen glaubte er, die Berechtigung zu haben, die schützende und bergende Sicherheit der Station erfahren zu dürfen.

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Die Auseinandersetzung im Team über diese Erkenntnis führte dazu, dass der Patient die Möglichkeit erhielt, seine tief sitzenden Ängste zu erkennen und ihm darüber hinaus – trotz unzureichender Schmerzbehandlung – die ursprünglich auch von ihm gewünschte Entlassung zugemutet wurde. Unter diesen Bedingungen war die Entscheidung nicht leicht. Doch durch den erarbeiteten Prozess des Wieder-Zusammenfindens der Berufsgruppen im Team und das Formulieren eines gemeinsamen Zieles mit dem Patienten konnte sowohl im Team untereinander wie auch dem Patienten gegenüber wieder offene Begegnung stattfinden. Jeder konnte wieder seine Fragen und Unsicherheiten äußern. Der Arzt stand nicht mehr unter dem Stress, die Kollegen permanent von der Richtigkeit seiner Ansicht überzeugen zu müssen, die Pflegenden und die Sozialarbeiterin litten nicht mehr darunter, auf der Entlassung zu beharren mit dem gleichzeitig nagenden Gefühl von Schuld, dass der Entlassungswunsch auf mangelnder fachlicher Kompetenz beruhen könnte.

6 Zeit Der Faktor Zeit hat einen weiteren Einfluss auf das Thema Spannungen. Sind die einwirkende Energie und die Intensität von kurzer Dauer, treten zwischenzeitlich Ruhephasen auf, stellen sich oft Zuversicht und das Vertrauen ein, dass die Arbeit zu bewältigen ist. Dies gilt auch, wenn Spannungsentladungen z. B. wie bei einem Gewitter stattfinden. Danach ist die Luft wieder rein, neue Energie wird frei. Die Spannungsthemen, die sich oft an den Unterschiedlichkeiten der Handlungsfelder der Berufsgruppen festmachen, können besprochen, im besten Fall verstanden und ausgeglichen werden. Je länger die einwirkende Energie des Zuviels und die Intensität anhalten, ohne dass es zu einer Spannungsentladung oder zum Ausgleich kommt (z. B. bei Teams, die konfliktscheu oder wenig selbstbewusst sind), desto dicker wird die Luft bzw. umso unerträglicher wird die Spannung zwischen den Berufsgruppen. Das Erkennen und Verstehen von Zusammenhängen kann Teams dabei unterstützen, die Spannungsfelder zu reduzieren und Ausgleiche zu finden.

Literatur Gibson, J. (1979). Senses considered as perceptual systems. Boston: Houghton Mifflin. Jakob-Krieger, C., Dreger, B., Schay, P., Petzold, H. G. (2004). Mehrperspektivität – ein Metakonzept der Integrativen Supervision. Supervision, 3. Zugriff am 5. 8. 2011 unter http://www. fpi-publikation.de/supervision/alle-ausgaben/03–2004-jakob-krieger-c-dreger-b-schay-p-petzoldh-g-mehrperspektivitaet.html Petzold, H. G. (2007). Integrative Supervision, Meta-Consulting, Organisationsentwicklung. Ein Handbuch für Modelle und Methoden reflexiver Praxis. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Petzold, H. G., Beek, Y. van, Hoek, A.-M. van der (1994). Grundlagen und Grundmuster »intuitiver Kommunikation und Interaktion« – »Intuitive Parenting« und »Sensitive Caregiving« von der Säuglingszeit über die Lebensspanne. In H. G. Petzold (Hrsg.), Die Kraft liebevoller Blicke. Psychotherapie und Babyforschung (Bd. 2) (S. 491–646). Paderborn: Junfermann.

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Was uns schützt

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Schutzfaktoren David Pfister

Eine Faktorenanalyse der Studie von Müller, Pfister, Markett und Jaspers (2009) ergab drei grundlegende Schutzfaktoren: einen Verarbeitungsfaktor, einen emotionalen Faktor und einen Privatfaktor. Als bedeutendster Schutzfaktor auf Itemebene wurde das Team genannt (siehe Abbildung 1). Danach folgten Humor und Privatleben. Das Team kann also einen wichtigen Schutzfaktor ebenso wie einen überaus starken Belastungsfaktor darstellen. Belastungen durch Kollegen waren auf Rang vier (Hospize) und fünf (Palliativstationen) der Belastungsfaktoren.

Abbildung 1: Schutzfaktoren in Hospizen und Palliativstationen (signifikante Unterschiede sind mit * gekennzeichnet)

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David Pfister

Auch eine Studie von Yancick (1984) zeigte, dass eine mangelnde Unterstützung des Teams einen maßgeblichen Belastungsfaktor im Hospiz darstellen kann. Das Team ist wahrscheinlich bedeutender als die Unterstützung durch Angehörige, da es berufsspezifische Probleme besser verstehen kann (Alexander und Ritchie, 1990). Ein stabiles Team mit guter Kommunikation sollte ein hochrangiges Ziel sein, weil seine Qualität massive Auswirkungen auf das Wohlergehen der Mitarbeiter hat, im positiven und im negativen Sinne. Ausreichende Möglichkeiten für Austausch und Diskussion, die auch über technische Aspekte hinausgehen, sind wichtig für die Teamarbeit. Denn nur so kann das Team auch als Ressource genutzt werden. Es darf und soll auch gelacht werden; darin können die Mitarbeiter auch ausdrücklich unterstützt werden, indem eine den Humor fördernde Atmosphäre geschaffen wird – immerhin handelt es sich bei Humor um den zweitwichtigsten Schutzfaktor im Umgang mit den Belastungen bei der Pflege Sterbender und sicherlich auch in anderen Bereichen! Neben der Teamkommunikation sollte auch der Teamphilosophie und dem Arbeitsklima Bedeutung beigemessen werden (Jünger, Pestinger, Elsner, Krumm und Radbruch, 2007). Autonomie und Rollenklarheit stellen weitere wichtige Eigenschaften eines gut kooperierenden Teams dar. Jedes Teammitglied braucht das subjektive Gefühl, seine Aufgaben nach eigenem Ermessen erledigen zu können. Es sollte klar sein, wer welche Tätigkeiten übernimmt, und jedem Einzelnen in der multiprofessionellen Zusammenarbeit Respekt und Wertschätzung entgegengebracht werden. Es sollte jedoch auch eine Streitkultur entwickelt werden, die das konstruktive Austragen von Konflikten ermöglicht. Häufig existiert die Einstellung, dass Konflikte im Team angesichts der täglichen Arbeit mit den Sterbenden lieber unterbunden werden sollten. Es muss auch in der Arbeit mit dem Tod eine konstruktive Auseinandersetzung stattfinden können. Nur so können Interessenkonflikte eine Lösung finden – die Vermeidung eines Konflikts macht einen Konsens unmöglich. Dass Supervision nicht als wichtiger eingestuft wird, kann an der nicht verpflichtenden Teilnahme oder auch an einer mangelhaften Qualität (z. B. interne Supervision) liegen. Ein gewichtiger Grund kann jedoch auch das häufige Auftreten des Symptoms Überredseligkeit sein. Wenn die Teilnehmer das Gefühl haben, dass ständig zu viel geredet wird, kann die Erwartung an eine Supervision folglich nicht sonderlich hoch sein. Vor allem, wenn Supervision lediglich als eine Ausweitung des dysfunktionalen Redens gesehen wird. Supervision sollte jedoch den Teilnehmern einen Raum bieten, der konstruktiv unter Anwendung spezifischer Supervisionsmethoden (Boeckh, 2008) genutzt werden sollte, die sich deutlich vom alltäglichen Psychologisieren unterscheiden. Eine Korrektur der Vorstellung von Supervision, sicherlich auch durch Verbesserungen der Supervision selbst, ist dringend nötig zur Aufwertung der Wirksamkeit dieses protektiven Faktors. Ärzte empfanden Supervision hilfreicher als Pflegende. Dies stimmt mit einer Studie aus japanischen Palliativstationen überein (Maeyama et al., 2003). Die in den freien Äußerungen der Studie oftmals erwähnte Zufriedenheit mit der

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Schutzfaktoren

Arbeit in der Palliativversorgung ist ein Ergebnis, das häufig in Forschungsarbeiten genannt wird (Ramirez, Addington-Hall und Richards, 1998; Vachon, 1995). Vergleicht man die Belastung mit anderen Bereichen im Gesundheitswesen, so fällt sie grundsätzlich niedriger aus, was sicher auch an der starken Unterstützung liegt, die den Mitarbeitern in Hospizen und Palliativstationen zur Verfügung steht. So ist in diesen Einrichtungen der Personalschlüssel deutlich höher. Aber auch das Konzept der Palliativversorgung stellt eine wichtige Ressource dar. Es betont die multiprofessionelle Zusammenarbeit und erkennt die individuellen Bedürfnisse von Patienten auch auf psychosozialer und spiritueller Ebene an. Diese Bedingungen sind auch für andere Pflegebereiche wünschenswert und notwendig. Die Schutzfaktoren scheinen unabhängig von den hier erfassten Einrichtungen zu sein, da die Rangreihenfolge der Belastung nahezu identisch ist. Umso stärker sollten diese Faktoren in den Mittelpunkt der Bemühungen rücken. Die Stärkung von Ressourcen ist ein von der Reduktion der Belastungen unabhängiger Zugang zur Verbesserung des Wohlergehens der Mitarbeiter.

Literatur Alexander, D. A., Ritchie, E. (1990). »Stressors« and difficulties in dealing with the terminal patient. Journal of Palliative Care, 6, 28–33. Boeckh, A. (2008). Methodenintegrative Supervision – ein Leitfaden für Ausbildung und Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta. Jünger, S., Pestinger, M., Elsner, F., Krumm, N., Radbruch, L. (2007). Criteria for successful multiprofessional cooperation in palliative care teams. Palliative Medicine, 21, 347–354. Maeyama, E., Kawa, M., Miyashita, M., Ozawa, T., Futami, N., Nakagami, Y., Sugishita, C., Kazuma, K. (2003). Multiprofessional team approach in palliative care units in Japan. Supportive Care Cancer, 11, 509–515. Müller, M., Pfister, D., Markett, S., Jaspers, B. (2009). Wie viel Tod verträgt das Team? Eine bundesweite Befragung der Palliativstationen in Deutschland. Schmerz, 23 (6), 600–608. Ramirez, A., Addington-Hall, J., Richards, M. (1998). ABC of palliative care: the carers. British Medical Journal, 316, 208–211. Vachon, M. L. S. (1995). Staff stress in hospice/palliative care: a review. Palliative Medicine, 9, 91–121. Yancick, R. (1984). Sources of work stress for hospice staff. Journal of Psychosocial Oncology, 2, 21–31.

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1 Supervision ist eine Profession Supervision ist als Beratungsinstrument in vielen beruflichen Handlungsfeldern eingeführt. Stammt sie ursprünglich aus der Tradition Sozialer Arbeit, so wird sie zunehmend auch in Bereichen des Gesundheitswesens, der Pädagogik, Wirtschaft und Verwaltung, von Dienstleistungsunternehmen und in der Politik nachgefragt. Supervision versteht sich als eine arbeits- und berufsbezogene Beratungsform, die zur Sicherung und Verbesserung der Qualität beruflicher Arbeit eingesetzt wird. Die Erweiterung von Kompetenzen der teilnehmenden Personen, der sogenannten Supervisanden, und ihre Unterstützung bei der Gestaltung ihres beruflichen Alltages und Entwicklungsweges sind ebenso Ziele wie auch ein vertieftes Verstehen des beruflichen Handelns. Daneben unterstützt Supervision Organisationen bei der Gestaltung von Führung, Kooperation und Kommunikation. Damit betrachtet Supervision die Schnittstelle der drei Bereiche Individuum, sprich Mitarbeiter, Arbeit als berufliche Tätigkeit und Organisation mit ihren strukturellen Gegebenheiten. Sie bearbeitet nur dieses definierte Feld. Für eine weiterführende Vertiefung in den einzelnen Bereichen wären auf der Organisationsebene eine Organisationsberatung, Change Management oder Teamentwicklung geeignet, auf der Arbeitsebene eine Fort- oder Weiterbildung und auf der persönlichen Ebene eine Beratung oder Psychotherapie. Die zu bearbeitenden Themen dieser Schnittstelle werden zu Beginn im Rahmen der Auftragsklärung und des Kontraktes zwischen Auftraggeber und Supervisor festgelegt und bilden eine Art Wegweiser durch den gesamten zeitlich befristeten Supervisionsprozess. Für die Bearbeitung vereinbarter Themenfelder stehen dem Supervisor vielfältige methodische Ansätze zu Verfügung, die interdisziplinär und andere Beratungsangebote ergänzend oder integrierend ausgerichtet sind. Supervision versteht sich als wertegeleitete Beratung mit spezifischen Wahrnehmungsperspektiven und einer entsprechenden Haltung, die dem humanistischen Menschenbild verbunden sind. Dies versteht den einzelnen Menschen sowohl als Individuum als auch als soziales Wesen, das sich entsprechend seiner Lebenskontexte, seiner Biografie, seiner spirituellen Weltanschauung, seiner Haltung und den gesellschaft-

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lichen Bedingungen in persönlicher Verantwortung als Gestalter der Verhältnisse sieht. So wird Supervision nicht selten zum Ort der Auseinandersetzung zwischen Widersprüchen, Spannungen und Orientierungen, die sich für den einzelnen Menschen im Arbeitsbereich ergeben. Beispielsweise kann es vorkommen, dass Themen wie Selbstverantwortung bei stark einschränkenden strukturellen Bedingungen, Interessenkonflikte zwischen persönlichen Vorstellungen, unvereinbar erscheinende Erwartungen der Klientel oder das mühsame Aushalten von Ambivalenz und Nichtwissen in der Supervisionssitzung bearbeitet werden. Mit dieser Ausrichtung ist Supervision immer gebunden an gesellschaftliche Verantwortung für Bildung, Gesundheit, Grundrechte, Demokratie sowie für eine humane Arbeitswelt und nachhaltige Entwicklung. Sie ist einer entsprechenden Ethik verpflichtet, die den Zielen entspricht, die von den einzelnen Fachgesellschaften1 formuliert sind. Dort werden sie kontinuierlich diskutiert, denn in ihren ethischen Leitlinien drücken die Supervisoren ihr hohes Verantwortungs- und Qualitätsbewusstsein aus und setzen sich kontinuierlich selbstreflexiv mit ihren Aufgaben und Rollen auseinander.

2 Supervision unterstützt Qualität und Effizienz beruflichen Handelns Supervisoren werden als externe Profis von Organisationen und Einrichtungen hinzugezogen, wenn es im Hinblick auf Qualität und Effizienz beruflichen Handelns besonders auf funktionierende Kommunikation und Kooperation zwischen den Mitarbeitenden ankommt, auch über die verschiedenen Hierarchieebenen hinweg. Dann unterstützen sie diese Prozesse abgestimmten Handelns zwischen Einzelnen, in Arbeitsteams, bei (Projekt-)Gruppen, in einzelnen Arbeitsbereichen und zwischen Abteilungen. Je nach Auftrag und Fragestellung arbeiten sie in Form von Einzel-, Gruppen- und Teamsupervision, Leitungsberatung oder Coaching. Folgendes Grundverständnis leitet all diese Prozesse: Supervision betrachtet Arbeitszusammenhänge in ihrer jeweiligen Berufsfeldsituation, die damit verbundenen belastenden Probleme und Herausforderungen, Konflikte und Entwicklungen. Dabei können berufliche Aufgabenstellungen analysiert sowie Positionen, Teamstrukturen und Organisationsbedingungen geklärt werden, ohne dass Supervision instruiert oder schult. Vielmehr orientiert sich Supervision an einem lösungs- und ressourcenorientierten Ansatz, der die Aufmerksamkeit auf Wissen und Erfahrungen, auf Kompetenzen und Haltung legt, und dies sowohl bei den einzelnen Mitarbeitern als auch dem gesamten System. Supervision bietet dafür einen geschützten Raum, in dem alle Teilnehmenden der Schweigepflicht und dem Schweigerecht unterliegen. Verlässlich findet keine Kontrolle 1

Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), Deutsche Gesellschaft für Supervision (DGSv), Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF), Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) u. a.

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der Mitarbeiter statt, sondern Supervision lädt ein, die persönlichen Erfahrungen im Tätigkeitsfeld zu reflektieren oder sich beispielsweise rückzubesinnen auf eine zentrale Frage, z. B.: »Wo nehme ich die Kraft für die (belastende) Arbeit her?« Supervision unterstützt auf diese Weise die Supervisanden in ihrer individuellen und institutionellen Auseinandersetzung mit beruflichen Herausforderungen bei mitunter vielfältigen Arbeitsschwerpunkten. Dabei kann es um Fragen zur Berufsrolle, zur Berufswegfindung, Karriereberatung, Persönlichkeitsentwicklung oder Stressbewältigung ebenso gehen wie um Fragen zu kollegialen Beziehungen, zu Krisenintervention, Konfliktberatung, zu Burnout oder Mobbing. Mitunter treten eher institutionelle Aspekte in den Vordergrund wie Corporate Identity, Genderthemen, Betriebsklima, Teamentwicklung oder Fragen zu Konzeptentwicklung, Führungsverhalten und Veränderungen in der Organisationsstruktur. Supervision fördert die berufliche Entlastung und die Verbesserung der Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit. Sie schult die Wahrnehmungsfähigkeit und Verhandlungskompetenz und ist ein wirksamer Beitrag zur Personalentwicklung. Doch sie ist kein Allheilmittel, denn sie ersetzt weder fachliche Qualifikation noch unangemessene Strukturen oder fehlende Führungsprofile in einer Organisation. Letztlich trägt sie dazu bei, dass Einzelne, Arbeitsteams oder Organisationen und Betriebe ihre Aufgaben besser und mit größerer Zufriedenheit erfüllen können.

3 Supervisionsanliegen in den Tätigkeitsfeldern Hospiz und palliative Versorgung In vielen palliativmedizinischen und Hospizeinrichtungen ist Supervision für hauptund ehrenamtlich Mitarbeitende verpflichtend oder zumindest dringend empfohlen. Bei einer 2005 in diesen Einrichtungen bundesweit durchgeführten Befragung durch die Deutsche Gesellschaft für Supervision (DGSv, 2007) wurden folgende Themenwünsche vonseiten der Organisationen an die Supervision deutlich: Entlastung von problematisch erlebten Arbeitserfahrungen, fachliche und persönliche Stärkung der Mitarbeiter, deren Kompetenzerweiterung, ihre persönliche Bildung und ihre Motivationssteigerung. Die Einrichtungen gaben darüber hinaus an, dass sie Supervision zum Bereich ihrer Fürsorgepflicht als Arbeitgeber zählen. Ihren ehrenamtlich Beschäftigten gegenüber sahen viele darin einen Ersatz für fehlende Entlohnung. Die Einrichtungen erwarteten im Rahmen von Supervision für ihre Mitarbeiter Fallarbeit, Reflexion der eigenen Rolle, Umgang mit Betroffenheit, Konfliktbearbeitung, Stärkung von Selbstwert und Burnout-Prophylaxe. Diese Supervisionsaufträge deckten sich mit denen der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter, die darüber hinaus noch spezielle Themenwünsche formulierten. Sie erhofften sich einen Bearbeitungsraum für existenzielle Grenzerfahrungen wie Sterben, Tod und Trauer, wünschten sich Unterstützung in ihrer Auseinandersetzung mit Sinn und mit belastenden Gefühlen wie Scham und Schuld.

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4 Spannungsfeld Scham und Schuld In belastenden Betreuungssituationen stellt sich den Professionellen mitunter quälend die Frage: Wie gehe ich mit dem nicht veränderbaren, umfassenden Schmerz, der totalen Dunkelheit meines Patienten um, wie mit heftigen Angehörigenreaktionen und meiner eigenen Hilflosigkeit? Dann stehen wie selbstverständlich auch Schamgefühle und Schuldfragen im Raum. Vielleicht fragen sich Patienten: »Warum ich?«, »Was habe ich falsch gemacht?«, »Habe ich denn etwas falsch gemacht? Und ist diese Erkrankung nun die Strafe?« Patienten erleben Unbehagen, diese leise Stimme des Gewissens, die in Gefühlen spricht, und sie spüren die erschreckende Angst: »Habe ich genug gelebt?« Möglicherweise erleben Patienten auch Kompetenzscham angesichts ihrer Vergänglichkeit, »früher konnte ich …«, und bemühen sich, sie zu verbergen. Sie sehen ihre zunehmenden körperlichen Defizite in der unbarmherzigen Betrachtung durch die anderen und erleben im deutlichen Verfall eine Abhängigkeitsscham des auf andere angewiesenen Menschen. Vielleicht leiden sie auch unter narzisstischer Scham, wenn sie eine bisher tragende (Größen-)Idee oder bedeutsame Aspekte des Selbstbildes unwiederbringlich opfern müssen. Angehörige mögen fragen: »Warum?«, »Hätte ich diesen Krankenhausaufenthalt verhindern können?«, »Hätte ich auf einer jährlichen Vorsorge bestehen müssen?«, »Was habe ich ihr/ihm gegenüber versäumt?«, »Was sind wir uns schuldig geblieben?« Dann begegnen sie vielleicht ihrem Gewissen, das ihnen die Frage stellt, welche Lebenskonsequenz aus all den Erfahrungen zu ziehen sei. Manche Angehörige erleben sich in ihrer Hilflosigkeit als Opfer dem Schicksal gegenüber. Andere empfinden Schuld, dem Patienten nicht gerecht geworden zu sein, von ihm viel zu lange negativ gedacht zu haben, anstatt dessen Liebe zu sehen. Oder sie sagen im Gegenteil: »Ich habe viel zu lange mit der Abrechnung gewartet, jetzt ist es zu spät, jetzt ist er viel zu krank dafür.« Behandelnde, Begleitende ertappen sich gelegentlich bei Schuldabwehr wie »selber schuld« oder »Ich hab’s doch gleich gewusst«. Immer wieder einmal erleben sie sich als wenig hilfreich, kaum noch wirkungsvoll in ihrem professionellen Tun und stellen sich selbst oder die Kompetenz ihrer Kollegen infrage. Möglicherweise sind da auch Schuldgefühle über unterlassenes oder schuldhaftes Verhalten, und sie meinen zu spüren, nicht mehr so zum Kollegenkreis zu gehören wie noch vor kurzer Zeit. Sie fühlen sich zunehmend aus der kollegialen Anerkennung ausgeschlossen und spüren die innere Qual mit dem Entfremdungsgefühl der Scham. In jeder dieser exemplarisch angedeuteten, willkürlich zugeordneten Schuld-SchamDynamiken werden neben den ausgesprochenen Konfliktthemen gleichzeitig Identitätsfragen verhandelt. Es geht um nichts Geringeres als um Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeit und Selbstachtung. »Du hast …« klagt die Schuldzuschreibung an und versucht, Schuldgefühle zu delegieren, und schon spürt der Adressat die Scham, seine Schamangst.

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Im Duett bewegen sie sich miteinander in einer Macht-Ohnmacht-Dynamik und alle Beteiligte sind in diesen Zirkel in irgendeiner Form eingebunden. Der zugrunde liegende menschliche Basiskonflikt von Autonomie (Selbst) und Bindung (andere) ist aktiviert. Zwischen diesen Polaritäten pendelt innerpsychisch im einzelnen Individuum wie auf den Beziehungsebenen existenzielles Bemühen um Balance, um ein Gleichgewicht des Selbst und um Bewahrung spannungsgefährdeter Beziehungen. Diese Schuldgefühle sind äußerst unangenehm und wir alle kennen sie in der einen oder anderen Erscheinungsweise. Wir beschuldigen uns und zerfallen dabei in uns selbst. Wir erleben uns in verschiedene Persönlichkeitsanteile gespalten, die miteinander einen Streitdialog führen. Da droht die Bestrafungsangst, heftige Wut antwortet mit feindseligen Gefühlen, ein anderer Teil kann kaum glauben, was getan bzw. nicht getan wurde, und eine mahnende Stimme fragt: »Was für ein Mensch bin ich eigentlich, dass ich …?« In uns wird eine Auseinandersetzung zwischen Angststimmen und Ärgerstimmen geführt, bestenfalls so lange, bis sich eine neue Aktionsstimme bildet, um aktiv eine Ordnung (wieder)herzustellen, für Ausgleich zu sorgen oder für Wiedergutmachung. Dann ist die Entwicklungschance der Schuldgefühle genutzt und wir sind ein wenig an ihnen reifer geworden. Wenn wir dagegen aggressiv unsere Schuldgefühle niederhalten, weil wir gelernt haben, dass Angriff die beste Verteidigung sei, und auf diese Weise den inneren Druck in beschämende Vorwürfe lenken, ist keine Veränderung im Selbstbild möglich und das Schuldgefühl auslösende Problem kann nicht bearbeitet werden. Zu ähnlicher Unlebendigkeit führt auch ein depressiver Umgang mit Schuldgefühlen, der die Schuld ganz und gar auf sich nimmt und sich im Versuch, weitere Scham zu vermeiden, tief in die Opferposition und damit aus dem Kontakt zurückzieht. Auch Schamerleben ist wie Schuldgefühle sowohl ein psychologisches als auch ein soziales Gefühl. Und wie die Schuld ist sie lebensimmanent, wir entkommen beiden nicht. Wir alle haben erfahren, wie bei uns Scham entsteht und wie wir mit ihr umgehen können, um sie zu ertragen. Es sind ja Beziehungserfahrungen, Urteile wichtiger Bezugspersonen über uns selbst, die wir von klein auf übernehmen. »Ich schäme mich meiner, wie ich anderen erscheine«, schrieb Sartre. Im Schämen erkennen wir das Urteil der anderen über uns an und entfremden uns von uns selbst. Alle Lebensübergänge halten im Dienst der Identitätsbildung neue Formen von Scham bereit und damit einen veränderten Blick auf sich selbst. So bleibt bis zum Lebensende unser Selbstwert ein dynamischer Prozess. Wenn es jedoch gelingt, der Scham nachzuspüren, sich mit den Zusammenhängen bewusst auseinanderzusetzen und die Chance der Selbsterkenntnis, die darin liegt, anzunehmen, dann verlassen wir die Opferrolle und durchbrechen das Faktische der Scham. Jetzt können wir entscheiden, auf wen oder was wir uns beziehen wollen und ob wir uns auf anderes hin entwickeln möchten. Wenn uns diese Wahlmöglichkeit (wieder) bewusst wird, eröffnen sich Räume, in denen wir uns auf unsere Lebensmöglichkeiten

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hin entwerfen, mögen sie auch noch so reduziert sein. Wir übernehmen für uns die Verantwortung. Werden Schuldfragen oder Schamgefühle in die Supervision eingebracht, dann macht sich meist schnell eine besondere Konfliktdynamik bemerkbar, so als würde sich die Auseinandersetzung der Patienten und/oder ihrer Angehörigen in der Supervisionsgruppe fortsetzen. Das sind oft besonders lebhafte Sitzungen, in denen Meinungen polarisieren, Beobachtungen unterschiedlicher und widersprüchlicher sind als in anderen Treffen. Mit aggressiven Äußerungen ist ebenso zu rechnen wie mit gekränkten, depressiven Reaktionen. Dann kann die Stimmung schnell in Anklage an den Supervisor umschlagen, jetzt sei er aber mal dran mit seiner Professionalität, schließlich habe man ihn ja gerade deshalb engagiert. Immer schneller dreht sich das Macht-OhnmachtKarussell, und die Supervisanden ringen darum, Verantwortung zu delegieren und die Kontrolle über ihr Selbst- und Fremdbild zu behalten. Das Thema, das hinter diesen Auseinandersetzungen um Schuld und Scham steht, heißt Identität und Selbstwirksamkeit im Spannungsfeld von Autonomie und Bindung. Die gemeinsame Supervisionserfahrung lässt sich als Lehrstück nutzen, Hypothesen über mögliche Identitätsnöte der Professionellen, der Patienten und ihrer Zugehörigen zu bilden, daraus wirksame Ansatzpunkte zu entwickeln und sich wieder handlungskompetent zu erleben. Das Team eines stationären Hospizes beschloss, die Supervisionssitzung dafür zu nutzen, einen ihnen allen mehr oder weniger peinlichen Vorfall zu besprechen. Ein Bewohner, der seit knapp einem Vierteljahr im Hospiz lebte, habe sich schnell in der neuen Umgebung eingelebt. In seiner sympathischen, aufgeschlossenen und dankbaren Art sei er mit allen Mitarbeitern gut ausgekommen, einige hätten ihn besonders gern gehabt. Gewundert habe man sich, dass von den beiden Töchtern nur eine selten und dann auch nur kurz zu Besuch komme. Eine für den alten Herrn zuständige Hospizhelferin habe die Tochter darauf angesprochen und nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass ihrem Vater mehr Besuch guttäte. Die zurückhaltende Reaktion der Tochter habe die Hospizhelferin veranlasst, ihre Meinung noch etwas nachdrücklicher zu wiederholen. Daraufhin habe sie erfahren, dass die Beziehung zwischen Vater und Töchtern seit Jahrzehnten hoch belastet sei. Grund seien seine erotischen Übergriffe bei den Töchtern, als sie noch Kinder waren. Am Ende des Gesprächs habe sich die Tochter erregt weitere Einmischungen verbeten. Damit sei die »Büchse der Pandora« geöffnet gewesen. Die Hospizhelferin informierte ihre Einsatzleitung und eine Schwester ihres Vertrauens, die es in die nächste Teambesprechung einbrachte. Einige Mitarbeiterinnen wollten es nicht glauben, andere hatten Aha-Erlebnisse. Die Stimmung entwickelte sich angespannt-konflikthaft und besonders drei Hospizschwestern war es anschließend kaum noch möglich, den Bewohner angemessen zu versorgen. Eine berichtete von Übelkeit, eine andere von Hassgefühlen. Das Team fühlte sich stark belastet und ratlos, als eine der Mitarbeiterinnen weinend gestand, den alten Herrn grob angefasst zu

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haben, und eine andere daraufhin mitteilte, dass sie es einfach nicht verhindern könne, ihn deutlich unsanfter zu waschen als früher. Besonders ein Kollege war empört über diese Reaktionen und rief damit heftige, eskalierende Mann-Frau-Debatten hervor. Im Schutz des verschwiegenen Settings der Supervision und in der entschleunigenden Bearbeitung des Erlebten wurde die Situation erfasst, zumindest wurden von den Supervisanden wesentliche Aspekte angesprochen. Der Blickwinkel weitete sich, eine differenziertere Betrachtung war möglich. Manche persönliche Not trat klarer zum Vorschein. Als dann einige andere Kolleginnen ähnliche Erfahrungen andeuteten, waren die belastenden Erfahrungen entlastend auf dem Tisch. Die eigenen erschreckenden Impulse waren hin-aus-gesprochen und die als irrational erlebten eigenen Verhaltensweisen verständlicher. Der Kollege fühlte sich wieder ins Team eingebunden. Schamerleben, Schuldzuweisungen und Schuldgefühle wurden besprochen, soweit sie die Betreuungssituation betrafen. Die persönlich-biografischen Reaktionen wurden wertschätzend gewürdigt und es wurde miteinander über einen guten Platz »außerhalb« nachgedacht. Dann war der Blick für den Bewohner in seiner aktuellen Lebenssituation wieder frei, und das Team fand zu einer tragenden Arbeitshaltung zurück, bis auf zwei Kolleginnen, die nicht mehr in die weitere Versorgung dieses Bewohners einbezogen werden wollten. Einige der eigenen Schattenseiten zu erkennen, sie zu benennen und damit der reflektierenden Bearbeitung zugänglich zu machen, bedeutet, sie (wieder) in die eigene Verantwortung zu nehmen und sich handlungsfähig zu erleben. Der wertschätzende, liebevolle Blick in der Supervision gleicht den abwertenden, beschämenden Blick des anderen aus oder stellt sich ihm zumindest zur Seite, um die innere Balance zu befördern. Schuldanteile dürfen reflektiert und Schuldzuschreibungen erkannt werden. So lassen sich Verantwortung klären und Ansatzpunkte für das weitere Vorgehen erarbeiten. Ausgangspunkt war das schlechte Gewissen einiger Mitarbeiterinnen. Dieser Stachel provoziert uns Menschen zur Selbstkritik, steht unser Gewissen doch im Dienst des wahren Selbst (Fromm, zit. nach Levy, 2002). Seine nagenden Fragen rufen uns auf, die Beweggründe unseres eigenen Verhaltens zu verstehen, damit sie nicht in destruktive Dynamiken einschwenken. Die Frage »Kann ich das vertreten?« erweist sich als notwendiger, korrigierender Wegweiser. Und es sind dann die Schuldgefühle, die Gefühle für diese Schuld, die Trauer und Schmerz bewirken, Reue und das Bedürfnis hervorrufen, es wieder gutzumachen. Sie tragen zur ausgleichenden Lebendigkeit bei.

5 Spannungsfeld Abschiedlichkeit Jedes Tätigkeitsfeld stellt spezifische Herausforderungen an die in ihm Tätigen, doch ist keines in dem Maße mit tod-ernsten Themen befasst wie der Kontext von Hospiz und Palliative Care. Tod, Sterben, Abschied und Trauer zeigen hier ihren ganz eigenen

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Ernst, konfrontieren erbarmungslos mit Endlichkeit, Vergänglichkeiten und den nicht beeinflussbaren Lebensgesetzmäßigkeiten von Werden, Vergehen (und Neuwerden). In diesen existenziellen Dimensionen muten sie nicht nur den Patienten und ihren Zugehörigen, sondern auch den Behandelnden und Begleitenden urtiefe Erfahrungen zu, berühren sie doch die zentralen Bereiche des Menschseins. Viele Professionelle wie ehrenamtlich Tätige erleben gerade darin für sich eine ganz besondere, sinnstiftende und beglückende Motivation. Doch bewegen sie sich damit auch in einem Arbeitsbereich mit existenziell-dynamischen Spannungsfeldern, wie folgender Auszug aus einem Supervisionsprozess illustriert. Im Team einer multiprofessionell besetzten Palliativstationssupervision entstanden anlässlich einer »fernen« Patientin beispielsweise folgende Themenschwerpunkte: unwiederbringliche Einschränkungen, schwere körperliche Erkrankungen, erschütternde Beziehungserfahrungen. Auch schmerzliche Verluste und andere Grenzsituationen wurden als Belastungsfaktoren benannt und charakterisierten den derzeitigen Berufsalltag. Gerade wurden sie dadurch belastend erlebt, dass sie in den sterbenden Menschen – so auch in dieser Patientin – das Gefühl auslösten, auf sich selbst zurückgeworfen und durch individuelles Leid von der Umwelt abgeschnitten zu sein. Diese Patienten wirkten dann auch für die Behandelnden und Begleitenden, deren ganzes professionelles Know-how abzuprallen schien, unerreichbar: »Gerade bei dieser Patientin setzen wir uns dermaßen ein, sämtliche Berufsgruppen sind durch ihr Zimmer gezogen, ohne dass irgendjemand von uns je den Eindruck bekommen hat, wir könnten sie wirklich erreichen. Eigentlich laufen wir, seit sie bei uns liegt, ins Leere, obwohl wir so um sie kämpfen.« Das Team auf der Palliativstation erlebte, dass ihm von dieser Patientin ein extrem hohes Maß an Kränkungstoleranz abverlangt wurde. Sie brachten ihre Erfahrung in die Supervision ein mit der Frage, was denn nun noch versucht werden könne. Einer der Aspekte, den wir ausführlicher besprachen, betraf die Tatsache, dass die Patientin das Stationsteam in besonderem Maße mit dem Erleben konfrontierte, nichts richtig zu machen, sich inkompetent zu fühlen und infrage zu stellen, kurz, nicht die Richtigen zu sein. Wir arbeiteten heraus, dass sie ja tatsächlich nicht die Richtigen waren, der Patientin das zutiefst Gewünschte zu geben. Weder konnten sie ihr Gesundheit noch einen unbeschädigten Lebensentwurf mit stabilem sozialen Umfeld bieten. Vielmehr erlebten sie sich als Repräsentanten der Bedürftigkeit, die für die Erkrankte den stationären Aufenthalt nötig machte, als »Projektionsfigur für Endlichkeit und abgrundtiefe Trauer«, wie eine Pflegekraft ihren Eindruck beschrieb. Roland Kachler weist darauf hin, dass trauernde Menschen sich in ihrem Erleben zunächst gerade nicht auf ihre verbleibenden Bezugssysteme beziehen, sondern vielmehr ihre Energie und Orientierung auf die innere Verbindung zu dem Verlorengegangenen bzw. Verlorengehenden richten, um diese bedrohten Verbindungen und Bindungen zu

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retten (Kachler, 2010). Die Brüchigkeit rund um das zu Verabschiedende wird bedrohlich erlebt. Folglich werden Kraft und Aufmerksamkeit vorrangig auf all das ausgerichtet, was an innerer Beziehungsrealität gehalten oder in Erinnerung behalten werden soll, denn das erhält erste Priorität. Die anderen Bezugssysteme sind dagegen bestenfalls die zweit- oder auch nur zehntbesten. Das Stationsteam erkannte seine Chance darin, den so wenig wie möglich gewünschten Kontakt zu würdigen, ihn als autonome Leistung der Patientin zu respektieren und nicht als gegen ihre Personen gerichtet zu interpretieren. Sie vereinbarten, in einer achtsamen Distanz mehr dem Verhalten der Patientin standzuhalten, als sich weiter drängend und kämpferisch zu verhalten.

6 Supervision als Schutzfaktor bei zu viel Tod? In der oben genannten Befragung (DGSv, 2007) formulierten die im Feld Tätigen deutlich, dass sie in der Supervision einen geschützten Reflexionsraum erwarten, der ihre Anliegen und Bedürftigkeiten bejaht. Doch mit welchen Schutzfaktoren können sie rechnen? Betrachten und Bearbeiten schützt. Die Fallbeispiele weisen darauf hin, wie in einer vorwurfsfreien und solidarischen Atmosphäre komplexe Erfahrungen mit zeitlichem Abstand nochmals betrachtet werden können. Eine gemeinsam eingenommene Vogelperspektive ermöglicht es, wie auf einer Landkarte die Einflussfaktoren, Bedingungen und Möglichkeiten, den Verlauf, erreichte Ergebnisse, Risiken und Chancen des Behandlungs-/Begleitprozesses achtsam zu erkennen. Sie regt an, sich im Zusammenhang einer größeren Ordnung zu erleben, sich zu sehen, zu verorten und miteinander einen orientierenden Gesamtrahmen zu entdecken. Bei einer solchen Fallbearbeitung treten verschiedenste Gesichtspunkte zutage, die Supervisanden sind sich zunächst uneinig, und da es um viel geht, wird sich mitunter leidenschaftlich auseinandergesetzt. Hier bietet Supervision ein Modell, über Konflikthaftes konstruktiv und zielführend zu sprechen. Der Supervisor moderiert, strukturiert und steuert den Prozess, um eine wertschätzende Kommunikation untereinander auch dahingehend zu befördern, dass sie anschließend als Lernerfahrung von den Supervisanden in ihren Arbeitsalltag übertragen werden kann. Scheinbar Unaussprechliches und tabuisierte Themen wie Ekel, Suizidalität oder Sexualität finden in der Supervision eine klärende Sprache und existenzielle Erschütterungen wie Sinnund Hoffnungssuche, scham- und schuldbesetzte Themen oder Verzweiflung einen angemessenen Raum. In der rückblickenden supervisorischen Betrachtung ist es möglich, alltäglich hingenommene Belastungen (wieder) zu erkennen, ihre Auswirkungen auf die eigene Person, das Team, die Einrichtung und nicht zuletzt auf Patienten und Zugehörige zu bedenken. Ein solches Innehalten erweitert ein wenig die Wahrnehmungsfähigkeit und erhöht die

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Verstehenskompetenz. Ulrich Miller (2005) spricht diesem aufrichtigen Betrachtungsbemühen eine spirituelle Tendenz zu. Zumindest gilt es, einen erreichten Zustand zu transzendieren. Verstehen ist an seelische Kräfte wie Neugierde, Toleranz, Belastbarkeit und Aushalten gebunden. »Verstehen gründet in Weitsicht, in der Suche nach Dahinterliegendem, in der Offenheit für ›Lösungen zweiter Ordnung‹, und es braucht Offenheit ›für Erlebnisse des blitzartigen Heraustretens aus dem alltäglichen Erlebnisrahmen in eine neue Sicht der Wirklichkeit, die uns niemals mehr vergessen lässt, dass die Wirklichkeit irgendwie auch anders sein kann.‹ (Watzlawick)« (Miller, 2005, S. 8). Eine solche Betrachtung der berufsalltäglichen Herausforderungen von Fremdheit und Brüchigkeit, von grenzüberschreitender Erfahrung, irritierenden Gedanken und verwirrenden Perspektiven kann anregen, eine humorvolle Distanz einzunehmen, aus der weiterführende Handlungsmöglichkeiten erkennbar sind. Doch vielleicht gestaltet sich diese Be-Sinn-ung auch als aufrüttelnde Selbstbefragung und Erkenntnis, dass der persönliche Sinn der Arbeit versandet ist, das Energiekonto überzogen wurde oder das Zutrauen in sich selbst infrage gestellt ist. Dann unterstützt Supervision die Suche nach persönlichen und organisationalen Schutzfaktoren. Sie hilft, biografische, soziale und fachliche Ressourcen zu erkennen, die Fürsorgepflicht der Arbeitgeber und deren bereitgestellte Angebote herauszuarbeiten. Sie bietet an, mit den Supervisanden zielführende Strategien zu entwickeln, diese einzufordern und anzunehmen. Argumentationshilfen bieten einige Studien, die den beruflichen, persönlichen, team- und patientenbezogenen Nutzen von Teamsupervision im Hinblick auf Qualitätssicherung wie auch auf psychosoziale Entlastung belegen (Carrier, 1994; Knaus, Petzold und Müller, 2005; Lechner, 1999; alle zit. nach DGSv, 2008). In diesen Untersuchungen konnte herausgearbeitet werden, dass sich die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung deutlich verbesserte (Lechner, 1999) und aktuelle Probleme erheblich befriedigender bearbeitet werden konnten (Carrier, 1994). Die Fähigkeit zur professionellen Distanz wurde gefördert, die fachliche Wahrnehmung geschärft und die Motivation der Mitarbeiter für eine jeweils angemessene Pflege signifikant erhöht (Knaus, Petzold und Müller, 2005). Daneben zeigte sich, dass Supervision die Konfliktfähigkeit erhöhte und die Zahl der Überforderungssituationen deutlich abnahm (Lechner, 1999). Erklärtes Ziel von Supervision ist es, kontinuierlich an der professionellen Distanz zu arbeiten. Das heißt keinesfalls, dass Mitarbeiter sich unempfindlich machen gegen all die menschlichen Schicksale, die ihnen begegnen. Als Menschen, die mit Menschen arbeiten, zählt vielmehr gerade ihre authentische, empathische Schwingungsfähigkeit zum wertvollen Betriebskapital. Professionalität bedeutet dann, sensibel wahrzunehmen, wenn persönliche Seiten zu stark mitschwingen und die professionelle Rolle nicht mehr ausreichend aufrechterhalten werden kann. Professionalität heißt weiter, individuell passende Wege zu kennen, um zur geforderten Distanz zurückzufinden und Gestaltungsräume (wieder-)herzustellen.

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In dieser Form schützt Supervision vor chronischer Überforderung, Burnout oder tödlichem Mitleid (Müller, 2004), diesem Selbstleid am zu groß gewordenen fremden Leid. Nicht selten äußern sich Überforderungssituationen als Widerstand in heftigen Ausrufen wie: »Nicht auch noch Supervision! Leid erlebe ich schon den ganzen Tag, das muss ich mir nicht noch zusätzlich wieder ranholen.« Oder: »Wir reden eh schon viel zu viel. Das ganze Gerede bringt uns auch nicht weiter!« Möglicherweise sind dies Hinweise darauf, dass die Arbeit bereits als verschleißend erlebt wird, vielleicht erhöht der zusätzliche Supervisionstermin einen übergroßen alltäglichen Arbeitsdruck. Gegensätzlich kommt die Überredseligkeit daher, ein nicht minderes und sich zunehmend ausbreitendes Belastungssymptom. Gerade hochengagierte Mitarbeiter, die kaum auf die Uhr schauen, weil sie wissen, wie notwendig ihr Einsatz ist, und die dies über viele Jahre hinweg ohne nennenswerte Krankentage durchhalten, sind, wenn sie in der Supervision an der Reihe sind, fast nicht zu stoppen. Ein Beispiel nach dem anderen reiht sich in einen Strom aus schicksalsreichen Geschichten, dramatischen Erfahrungen und festen Meinungen ein, bis einige Zuhörer bestürzte Bewunderung zeigen und andere resigniert schweigen. In all diesen Fällen ist es Aufgabe der Supervision, mit den Widerständen dahingehend zu arbeiten, dass die Mitarbeiter wieder in die achtsame Empathie für sich selbst und für die anderen zurückfinden, um sich aus ihr heraus wieder motiviert für die Arbeit zu interessieren. Diese Auseinandersetzungen sind ein (arbeits-)lebenslanger Prozess. Die im Hospizund Palliative-Care-Bereich Tätigen haben in ihren Ausbildungen neben ihrer fachlichen Handlungskompetenz auch Kommunikationskenntnisse erworben und sie sind geübt in Empathie und sensibilisiert in ihrer Wahrnehmung. Doch ist dieses Wissen mit seinen differenzierten Fähigkeiten oft als Einbahnstraße in Richtung Patienten und Zugehörige hin angelegt und weniger als strömender Verkehr in beide Richtungen, der den aufmerksamen Blick gleichermaßen auf sich selbst legt.

7 Was kann Supervision in diesem Feld leisten und was nicht? Die Belastungen der einzelnen Mitarbeiter sind selten ausschließlich ein individuelles Thema. Meist korrespondieren sie mit Spannungen oder Konflikten im Team und bedingen sich dann gegenseitig in ihrer Ausprägung und Eskalation. Folglich sind sie nicht individuell zu lösen, sondern brauchen den Rahmen einer Teamsupervision. Hier ist Raum für umfassenden Erfahrungsaustausch, der in der straff organisierten und getakteten Alltagsroutine nicht vorgesehen ist. Die Kollegen bearbeiten anstehende Herausforderungen und erkennen strukturelle Defizite in ihrer politischen Dimension. Entsprechend entwickeln sie weiterführende Handlungsoptionen und üben sich im gegenseitigen »Aufeinander-Achten«. Im multiprofessionellen Team sollen die unterschiedlichen Fachkompetenzen

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ergänzend zum Wohle der Behandelnden und Betreuten eingesetzt werden. Die auf verschiedene Berufsgruppen verteilte Verantwortung wird von den Mitarbeitern zum einen entlastend und bereichernd erlebt, zum anderen verlangt eine solche fachkulturübergreifende Zusammenarbeit sehr viel mehr Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme. Keine dieser Gruppen hat einen so weiten Blick über den eigenen Tellerrand während der Ausbildung geübt oder Jägerlatein-übergreifende Verständigung gelernt. Es ist für alle ein neues Entwicklungsfeld, in das sie als Pioniere mit ihrer fachspezifischen Denke eintreten. Manche erleben sich hilflos, andere erleben gespannt, wie die vertretenen Kulturen hart aufeinanderprallen. Für manch engagierte Mitarbeiter liegt gerade in diesem interdisziplinären Ringen ein besonderer Reiz, ein umfangreiches Lernen bietet es allemal. Bei jedem Supervisionsauftrag stellt sich die Frage »Wer nimmt teil?«, die entsprechend des jeweiligen Arbeitskontextes und im Zusammenhang mit dem Supervisionsanliegen zu prüfen ist. Sucht beispielsweise ein kleiner und junger Hospizverein für seine haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter eine Supervision, dann kann das gemeinsame Setting für all die Belange hilfreich sein, die Informationen von und Absprachen mit der Koordinationskraft betreffen. Doch darüber hinaus ist zu überlegen, inwieweit sich die Ehrenamtlichen dabei von ihrer Einsatzleitung kontrolliert und begutachtet fühlen. Zu beachten ist weiterhin das spezifische Kompetenzprofil ehrenamtlich Tätiger. Es verlangt von der Supervision, dass sie einerseits retrospektiv die gesammelten Praxiserfahrungen reflektiert, um gute Begleitung zu verstehen und zu erhalten (Blömeke et al., 2011). Andererseits hat sie prospektiv evtl. anstehende Veränderungen, Entscheidungen und Planungen mit ihren Befürchtungen und Risiken bei den Ehrenamtlichen abzufedern. Gemeinsame Supervision bedeutet auf der anderen Seite für die Koordinationskräfte, dass sie diese nicht für ihre ureigenen Themen nutzen können. Führungsfragen und Leitungserfahrungen lassen sich nur in einem eigenen Coaching bearbeiten oder in einer überregionalen Supervisionsgruppe für Koordinatoren. Das ist dann der Raum, die eigene Position als bezahlter Mitarbeiter in einem ehrenamtlichen Kontext zu reflektieren und Fragen zur beruflichen Rolle mit deren verbundenen Funktionen ebenso zu bearbeiten wie auftretende Spannungen im Zusammenhang mit persönlichen, zeitlichen oder strukturellen Grenzen. Diese Überlegungen zu einem ausgesuchten Arbeitsbereich mögen beispielhaft verdeutlichen, dass eine gemeinsame hierarchieübergreifende Supervision immer dann sinnvoll ist, wenn Themen behandelt werden, in denen Entscheidungsträger eingebunden sind. Ansonsten sind berufsspezifische Zusammensetzungen ebenso sinnvoll wie berufsgruppenübergreifende. Entscheidend ist das jeweilige Supervisionsanliegen. Gilt es Führungskräfte in ihrer meist einsamen Position und ihren spezifischen Funktionen zu stützen, bietet Coaching eher das passende Beratungsformat.

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Literatur Deutsche Gesellschaft für Supervision e. V. DGSv (2007). Supervision in den Arbeitsfeldern Hospiz und Palliative Care. Projektbericht. Zugriff am 15. 8. 2011 unter www.dgsv.de Deutsche Gesellschaft für Supervision e. V. DGSv (2008). Der Nutzen von Supervision. Verzeichnis von Evaluationen und wissenschaftlichen Arbeiten. Bereich Pflege und Altenhilfe (S. 62–68). Kassel: university press. Kachler, R. (2010). Hypnosystemische Trauerbegleitung. Ein Leitfaden für die Praxis. Heidelberg: Auer. Levy, A. (2002). Erich Fromm: Humanist zwischen Tradition und Utopie. Würzburg: Königshausen & Neumann. Miller, U. (2005). Supervision und Spiritualität. Supervision. Mensch Arbeit Organisation, 4, 6–10. Müller, M. (2004). Dem Sterben Leben geben. Die Begleitung sterbender und trauernder Menschen als spiritueller Weg. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Sartre, J.-P. (1991). Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften 3. Hrsg. und übers. von Traugott König. Reinbek: Rowohlt.

Literaturempfehlungen

Allgemein Blömeke, B. D., Cattelaens, K., Damm, T., Hoffmann, S., Hörtling, H., Hügen, G., Pfeffer, C. (2011). Positionspapier Supervision und Ehrenamt. Reihe 5 – Dokumente zu Supervision und Beratung Heft 2. Kassel: university press. Zugriff am 5. 3. 2012 unter http://www.uni-kassel.de/hrz/db4/extern/ dbupress/publik/abstract.php?978–3-86219–058–4 Buer, F., Schmidt-Lellek, C. (2008). Life-Coaching. Über Sinn, Glück und Verantwortung in der Arbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. DGSv – Deutsche Gesellschaft für Supervision e. V. (2009). Die Praxis von Supervision, Coaching und Teamentwicklung in Organisationen und Unternehmen. Eine Befragung von 1.000 Organisationen und Unternehmen im bayerischen Regierungsbezirk Unterfranken. Köln: DGSv (Broschüre über DGSv, Lütticher Straße 1–3, 50674 Köln). Gast, U., Markert, E. C., Onnasch, K., Schollas, T. (2009). Trauma und Trauer. Impulse aus christlicher Spiritualität und Neurobiologie. Stuttgart: Klett-Cotta. Hallier, H. (2009). Achtsamkeit in der Supervision. In H. Pühl (Hrsg.), Handbuch der Supervision 3. Berlin: Leutner. Heintel, P. (2005). Spiritualität als »Selbst- und Systemtransparenz« – am Beispiel der Supervision. Supervision. Mensch Arbeit Organisation, 4, 38–50. Königswieser, R, Hillebrand, M. (2006). Einführung in die systemische Organisationsberatung. Heidelberg: Auer. Lauterbach, M. (2008). Einführung in das systemische Gesundheitscoaching. Heidelberg: Auer. Paul, C. (2010). Schuld – Macht – Sinn. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Potreck-Rose, F., Jacob, G. (2007). Selbstzuwendung, Selbstakzeptanz, Selbstvertrauen. Psychotherapeutische Interventionen zum Aufbau von Selbstwertgefühl. Stuttgart: Klett-Cotta. Pühl, H. (Hrsg.) (2009). Handbuch der Supervision 3. Grundlagen – Praxis – Perspektiven. Berlin: Leutner. Rauchfleisch, U. (2004). Wer sorgt für die Seele? Grenzgänge zwischen Psychotherapie und Seelsorge. Stuttgart: Klett-Cotta. Rechenberg-Winter, P., Fischinger, E. (2009). Kursbuch systemische Trauerbegleitung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Watzlawick, P., Weakland, J. H., Fisch, R. (1974). Lösungen. Lösungen zweiter Ordnung. Bern u. a.: Verlag Hans Huber.

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Spannungsfeld Schuld Erikson, E. H. (1973). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hirsch, M. (2007). Scham und Schuld – Sein und Tun. Plenarvortrag am 17. April 2007 im Rahmen der 57. Lindauer Psychotherapiewochen 2007. Zugriff am 5. 3. 2012 unter http://www.lptw.de/archiv/ vortrag/2007/hirsch_mathias.pdf Hirsch, M. (2007).Schuld und Schuldgefühl: zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kast, V. (2007). Über Scham und Schuld. Auditorium Netzwerk. Zugriff am 5. 3. 2012 unter http:// www.auditorium-netzwerk.de/AutorInnen/J-K-L/Kast-Verena/Kast-Verena-Ueber-Scham-undSchuld::1467.html Paul, C. (2010). Schuld – Macht – Sinn. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Fachgesellschaften Bundesverband Trauerbegleitung e. V. (BVT) – www.bag-trauerbegleitung.de Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie e. V. (DGfP) – www.pastoralpsychologie.de Deutsche Gesellschaft für Supervision e. V. (DGSv) – www.dgsv.de Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e. V. (DGSF) – www. dgsf.org Systemische Gesellschaft. Deutscher Verband für systemische Forschung, Therapie, Supervision und Beratung e. V. (SG) – www.systemische-gesellschaft.de

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Wir sollten den Menschen nicht als »animal rationale«, sondern als »animal symbolicum« bestimmen, schreibt Cassirer in seinem Essay »Versuch über den Menschen« (Cassirer, zit. nach Schmidinger, 2007). Wenn diese Zuschreibung zutrifft, dann sagt dies aus: Symbol und Menschsein sind wesensmäßig miteinander verbunden. Aus eben dieser inneren Zugehörigkeit schöpft, wie zu vermuten ist, das Ritual einen Teil seiner Kraft. Der Raum, der sich dabei mit ihm eröffnet, wird durch das Potenzial der Symbole weniger einen logisch-argumentativen als vielmehr einen geformten emotional-kreativen Ausdruck ermöglichen (Cassirer, zit. nach Schmidinger, 2007). Dieser Ausdruck bettet sich in eine formulierte Struktur und Verbindlichkeit, die Gefühlen von Überlastung, Trauer und Schwere einen sicheren Ort in einer Ritualgemeinschaft gibt. Darin liegt Schutz. Dem gegebenen Thema versuche ich in zwei Teilen gerecht zu werden. In einem ersten nehme ich zunächst Bezug zu Ergebnissen der Studie »Wie viel Tod verträgt das Team?« (Müller, Pfister, Markett und Jaspers, 2009) und stelle Überlegungen zur Theorie von Ritualen an. Diesem ersten Teil folgt ein zweiter, der ausgewählte Möglichkeiten konkreter Ritualpraxis im Bereich von palliativer Versorgung darstellt. Den Abschluss bildet ein fokussierter Blick auf eine innere Verbindung von Mensch, Ritual und Gestalt.

1 Theorie der Rituale und palliative Versorgung 1.1 Ergebnis der Studie

Kurz zusammengefasst gibt das Ergebnis der Studie (Müller, Pfister, Markett und Jaspers, 2009) hinsichtlich der Rituale folgendes Bild: Ex negativo gehört die Ablehnung von Ritualen zu einem markierten, wenn auch am geringsten angeführten Belastungssymptom. Umgekehrt gehört ihre gelebte Praxis zu dem, was Mitarbeiter als Schutzfaktor erfahren. Hervorzuheben ist, dass Rituale in der Hierarchie der Bewertung vor den Kategorien Glaube, Supervision und Ablenkung stehen, jedoch beispielsweise hinter Humor oder Mitgefühl. Hospizarbeit und Palliativmedizin sind mit einer Vielzahl von Belastungen gezeichnet, wie die Studie zeigt. Der Bogen, der dabei gespannt wird, reicht vom Anspruch der Palliativmedizin bis hin zu Schuldgefühlen. Es gibt in ihm möglicherweise einen Umschlagpunkt, an dem Überforderung sich in Ablehnung gegenüber Ritualen

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zeigt. Ein den Ritualen innewohnender Auftrag ist, dass es dazu nicht kommt, dass das, was mit ihnen hilfreich wird und ist, sich im Druck der Arbeit verliert und gegen sie wendet. Dies muss eines ihrer basalen Ziele sein. Dazu müssen sie ein Gegenspiel gegen Faktoren der Belastung bilden. Rituale sind nur ein Segment von anderen Hilfen. Dennoch liegt in ihnen ein besonderer Pfad zu einem Raum, der in den Abstand führt und der versammelt, der offen ist für Abschied und Lösung und der verwandelt. Gerade das stärkste »Symptom« von Belastung, die »Überredseligkeit«, können Rituale aufnehmen. In ihr, wie zu deuten ist, wird offensichtlich eine als sinnvoll erlebte Mitte überschritten, verliert sich das, was als Auftrag von Sprache gesehen wird. Rituale aber geben Sprache wieder eine Form. 1.2 Theorie des Rituals

Der Begriff des Rituals enthält den des Symbols. Rituale können verstanden werden als wiederholbare »Handlungsform von Symbolen« (Uhl, 2007, S. 328), die nicht beliebig, sondern in einem geordneten Prozess abfolgen. Dabei kann sich »bei den Teilnehmern eine Veränderung ihrer Sicht der Welt [einstellen,] von der in eins mit den durch das Erlebte ausgelösten affektiven Reaktionen Handlungsimpulse für die Gestaltung des Lebens außerhalb des rituellen Kontextes« (Uhl, 2007, S. 330) auszugehen vermögen. Das Merkmal des Übergangs (transitus) wird oftmals als zentrales Charakteristikum von Ritualen beschrieben. Das Transitorische von Ritualen kommt beispielhaft in den sogenannten Übergangsriten zum Ausdruck. Van Gennep (1999) hat diese besonders herausgearbeitet und dabei noch einmal untergliedert in Trennungsriten (»rites de séparation«), Schwellen- bzw. Umwandlungsriten (»rites de marge«) und Angliederungsriten (»rites d’agrégation«). Wir haben also eine Dreischrittigkeit in Ablösung, Übergang und neuer Zuordnung. Es ist wenig überraschend, dass in Büchern zu Ritualen im Kontext von Sterben, Tod und Trauer die Ergebnisse Van Genneps vorrangig genannt werden, denn der Tod selbst ist ein Paradigma des Zwischen. Tod und Ritual eint in diesem Sinne ein tiefes Band. Das Konzept der Übergangsriten ist durchaus als zu dehnbar kritisiert worden. Dennoch bleibt es »gerade seiner erstaunlichen Anwendbarkeit« wegen einflussreich (Uhl, 2007, S. 333). Diese Chance des Einflusses gilt auch für die Belange von Palliativarbeit als einem Feld, in dem sich die Mitarbeiter stets an einer Grenze und damit an Schwellen und Übergängen bewegen. Die permanente Begegnung der Dialektik von Leben und Tod, von Schmerz und Glück, von Angst und Hoffnung disponiert ein Team geradezu für die Praxis von Ritualen. Sie sind in intensiver Weise dem nahe, was ohnehin das Gesetz menschlichen Lebens ist: »Für Gruppen wie für Individuen bedeutet leben unaufhörlich sich trennen und wieder vereinigen, Zustand und Form verändern, sterben und wiedergeboren werden. Es bedeutet handeln und innehalten, warten und sich ausruhen, um dann erneut, aber anders zu handeln« (Van Gennep, 1999, S. 182). Was sind Merkmale eines Rituals in Abgrenzung zu ritualisierter Gewohnheit? Uhl

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nennt fünf Kriterien (Uhl, 2007, S. 334 f.). Dabei orientiert er sich an Überlegungen des Indologen und Religionswissenschaftlers A. Michaels: »(i) Der Kausalzusammenhang: eine Veränderung, ein Wechsel, eine Grenzüberschreitung, Krankheit oder Gefahr bilden […] das Motiv für den Vollzug von […] Ritualen. (ii) Ein formaler Beschluss und die feierliche Intention, die mittels Einladung oder nonverbal […] gegeben sein kann. Nur wer um die Intentionen weiß, wer die symbolischen Relationen kennt oder in sie ›eingebettet‹ ist, der erkennt in ihren Ausführungen ihren besonderen, ritualhaften Charakter. (iii) Die formale Komponente von Ritualen umfasst deren Förmlichkeit, Stereotypie und Repetivität (sie müssen wiederholbar, nachahmbar sein), Öffentlichkeit […], Unwiderruflichkeit und ›Liminalität‹ von [›limen‹ – Grenze, die Schwellenphase bei Van Gennep; A. S.]. (iv) Als modale [motivbezogene; A. S.] Komponente definiert societas ein Ritual. Unter dem Aspekt der Gemeinschaftlichkeit erfüllen Rituale eine solidarisierende, hierarchisierende, kontrollierende und normierende Funktion, […], grenzen nach ›Außen‹ ab. (v) Das transitorische Moment als Konstitutivum für rituelles Handeln mit seinen identitätsverändernden Implikationen […]« (Uhl, 2007, S. 334 f.). Diese Merkmalsbestimmung macht deutlich, dass der Begriff »Ritual« eine Fülle gewichtiger Kriterien mit sich führt. In Texten, die Ideen zu Ritualen im Alltag für ein bewussteres Leben an die Hand geben, werden diese (strengen) Voraussetzungen kaum erfüllt sein. Es geht ja nicht nur, wie meist angeführt, um die Unterscheidung zur bloßen Gewohnheit, sondern beispielsweise auch um die Notwendigkeit des Öffentlichen und der Gemeinschaft. In unserer pluralen Gesellschaft ist das Bedürfnis nach rituellem Ausdruck ungebrochen gegenwärtig. Es ist kein Zufall, dass palliative Arbeit längst deren Bedeutung erkannt hat. Allerdings findet dieser Ausdruck eben zumeist in einem geschützten, nichtöffentlichen Raum unter Verzicht auf Hierarchisierung statt. Ohne die genannten Merkmale in einer rigiden Weise normativ sehen zu wollen, erscheint es mir dennoch wichtig, um diesen anspruchsvollen Begriff von »Ritual« zu wissen; beispielsweise von einem Räucherritual zu sprechen, das allein durchzuführen ist, ist streng genommen nicht korrekt. Stichwortartig zusammengefasst kann mit obiger Kriterienfolge dann von einem Ritual gesprochen werden, wenn es Anlass, Intention und Beschluss, Form, Motiv und Übergang (Wandel) ausweist. Es schließt den Gebrauch von Symbolen ein, ebenso die hohe Gesinnung (Aufmerksamkeit), die Verortung von Emotionen im Beziehungskontext und die Bedeutsamkeit des Tuns. Dies ist hervorzuheben, da sie im Feld konkreter Ritualbeschreibung häufig akzentuiert erscheinen.

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1.3 Funktionen von Ritualen

Das Thema des Beitrages benennt eine Funktion. Rituale geben Schutz. Dabei ermöglichen sie, Gefühlen Ausdruck zu geben. Vandermeersch schreibt auf dem Hintergrund des transitorischen Charakters von Ritualen: »Was Therapeuten am meisten beeindruckt, ist die Tatsache, dass diese Rituale Gefühle beeinflussen. In einem Übergangsritus erlebt das Individuum eine ÜbergangsPhase oder eine Krise. Das Ritual zielt darauf, das Individuum zu einer neuen Integration zu führen. Um dies zu erreichen, beziehen solche Rituale den Ausdruck von Emotionen mit ein, Gefühle werden sogar oft gesteigert. Rituale haben auch die Wirkung, Gefühle zu kanalisieren oder zu schwächen […] Indem das Ritual Emotionen Ausdruck verleiht, hat es […] zugleich eine stabilisierende und tröstende Funktion« (Vandermeersch, 2001, S. 440). Indem Emotionen ein gestalteter Raum gegeben wird, erhält ihr Ausdruck gleichsam eine äußere Passform, die sie willkommen heißt. Zugleich stützt diese Einbettung, indem sie Grenzen gibt. Schutz bedeutet damit Stabilisierung und Trost in der Erfahrung von Halt in der Gemeinschaft. Aus den theoretischen Bestimmungen mag deutlich geworden sein, dass eine zentrale Funktion von Ritualen in Identitäts- und Gemeinschaftsbildung bzw. Gemeinschaftsstärkung liegt. »Persönliche, soziale und kulturelle Identität, d. h. die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einer Gesellschaft, wird durch Handeln in Form von Ritualen zugleich ausgedrückt und verwirklicht« (Belliger und Krieger, 2001, S. 31). Diese Tatsache kann für die Bereiche von Hospizarbeit und palliativer Versorgung, in denen individuelle und gemeinschaftliche Entwicklung Schlüsselelemente sind, nicht genug betont werden. Palliative Care kann ja als ein Lernweg aus der Begegnung mit Sterbenden verstanden werden: Lernen für die eigene Lebensführung. Aus der Sterbebegleitung entspringt, wie wir sagen können, eine »Ars vivendi«, eine Lebenskunst. Sie ist nur möglich durch Prozesse von Aufbruch und Verwandlung im Gesamt eines zur Veränderung bereiten Teams. Diese inneren Prozesse vollziehen sich in kommunikativen Strukturen. Wer im Ritual lebt, kann aus ihnen nicht herausfallen. Aber es ist eine Kommunikation, die nicht beliebig ist. Das Ritual kann als eine spezifische »Ebene kommunikativen Handelns mit eigenen pragmatischen Bedingungen« (Belliger und Krieger, 2001, S. 30) betrachtet werden. Rituale haben die Stärke, in »anthropologischen Grenzsituationen« beginnen zu können. Das sind Situationen, so Uhl (2007), in denen der Mensch an die Grenzen des sprachlich-argumentativen Ausdrucks stößt oder aber, so ist zu ergänzen, dem Wort keinen Halt mehr geben kann. »Rituale erfüllen damit eine ›Überbrückungsfunktion‹ – wie es schon der Ausdruck rites de passage nahelegt. Sie können Distanz schaffen, den ›leeren‹ Raum überbrücken« (Uhl, 2007, S. 336), wie sie anders auch der sprachlichen Überfülle auf gute, weil kanalisierende Weise Antwort geben.

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2 Praxis der Rituale in der Palliative Care Ich werde nun einige ausgewählte Rituale für das Arbeitsfeld der Palliative Care beschreiben. Dabei werde ich keinen Nachweis entlang der im ersten Teil angegebenen Kriterienfolge führen. Mir scheint es angemessen, bei den von mir gewählten von einer schwachen Form von Ritualen zu sprechen oder aber vereinfacht von symbolhaften Handlungen. Zunächst aber sei auf Symbole und ihre Konkretion eingegangen. 2.1 Symbole

Wenn wir durch Räume einer Palliativ- oder Hospizeinrichtung gehen, werden wir einer Vielzahl verschiedener Symbole begegnen können: vielleicht einer Kerze im Eingangsbereich, einem Kreuz an der Wand, einer Engelsgestalt, Rosenblättern, vielleicht auch einer Klangschale und anderem. Sie alle verweisen auf etwas, ohne deshalb eindeutig zu sein. Eine Tonscherbe als Teil einer gestalteten Mitte mag für den einen für das Fragmentarische allen Lebens stehen, für den anderen Ausdruck verlorener Antike sein. Welche Bedeutung haben Symbole? Symbole tragen Sinnzusammenhänge, sie fügen Welten zusammen. Sie können etwas aufnehmen, was sich dem Begriff entzieht. Sie können Erschütterung, Verzweiflung und Trauer in eine Distanz bringen und ihnen doch zugleich bildhaft Ausdruck geben. »Wenn unser Symbol eine Atmosphäre schafft, in der wir uns geborgen fühlen und in der wir auch das Schreckliche gelten lassen können, dann hat es seine Wirkung entfaltet« (Daiker und Seeberger, 2008, S. 16 f.). Symbole werden Teil eines Rituals sein, sind dieses aber nicht selbst schon. Symbole können die gesamte Wegstrecke des Aufenthaltes des Erkrankten und seiner Familie begleiten. Dies kann mit der Begrüßung beginnen, wenn wir eine Rose überreichen, kann sich fortsetzen in der bewussten Hinwendung bei einer Einreibung zur inneren Stärkung mit Öl, mag in einem Kreuzzeichen auf die Stirn ausgedrückt werden, dann mit einer Blume an der Schwelle seines Zimmers, und, wenn der Mensch verstorben ist, mit einer Kerze, die am Eingang für ihn entzündet wird. Als Elemente von Ritualen können sie mit durch das christliche Zeitenjahr gehen: so etwa an Weihnachten, an den Passionstagen, an Ostern und Pfingsten bis hin zu den Tagen im November. Je näher wir ihnen stehen, umso mehr werden wir uns in ihnen getragen fühlen. Verschiedene Anlässe zeitigen verschiedene Rituale. Nicht nur der Abschied kann sie markieren. Eine Taufe oder Hochzeit zu erleben an einem Ort, der von Verlust geprägt ist, wirkt tief zurück auf alle. 2.2 Ausgewählte Rituale: Möglichkeiten ihrer Durchführung 2.2.1 Abschiedsfeier am Totenbett Es ergeht eine Einladung an die Familie, an Freunde, an Ehren- und Hauptamtliche. Die Übernahme des Rituals erfolgt in der Regel durch einen Mitarbeiter. Die Zeit ist festgelegt als vor der Mittagsübergabe. Am Beginn treffen sich die Menschen im Andachtsraum. Es erfolgt eine kurze Begrüßung und eine Ankündigung über das, was vollzogen

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wird. Die Gruppe geht dann gemeinsam in das Zimmer des Verstorbenen. Der Raum ist vorbereitet mit einem Glasbecken, in dem sich Sand befindet. Teelichter stehen bereit und Taschentücher, Blumen schmücken das Nachtkästchen, vielleicht auch ein Kreuz, ein Foto. An der Schwelle zum Eingang befindet sich eine Blume. Am Eingang brennt eine Kerze. Der Mitarbeiter beginnt mit einem Musikstück auf CD, das er ausgewählt hat oder das die Angehörigen mitgebracht haben, oder mit einem Gedicht oder einem anderen (kreativen) Element. Danach spricht er darüber, wie er den Verstorbenen erlebt hat. Eine kurze Rückschau erfolgt. Er bittet dann die Anwesenden, eine Kerze zu entzünden und in das bereite Sandbecken zu stellen, wer dies möchte mit einem Wort, einem Dank oder einem Wunsch an den Verstorbenen. Danach wird ein kurzer Text vorgelesen. Zum Abschluss wird dann, wenn dies willkommen ist, ein Vaterunser gebetet. Dazu wird zumeist ein geschlossener Kreis gebildet, indem sich die Anwesenden an die Hand nehmen, den Verstorbenen in ihrer Mitte. Damit ist der Kern des Rituals beendet. Im Zimmer wird sich oftmals ein Gespräch anschließen, Erinnertes kommt zum Ausdruck. In der Küche steht zum Abschluss Kaffee bereit. Es erfolgt die Verabschiedung der Familie. 2.2.2 Räuchern Das Räuchern erfolgt im Zimmer bei dem Verstorbenen oder nach einer Begleitung, wenn der Verstorbene von den Bestattern abgeholt worden ist und das Zimmer zwar »leer« ist, aber doch voller Geschichte und der Persönlichkeit des Toten. Die Durchführung erfolgt zu zweit oder dritt. Auf einer Räucherschale wird im Zimmer Weihrauch oder Salbei entzündet. Verbunden mit Bitten um Reinigung, Klärung und Verwandlung werden alle wichtigen »Plätze« in diesem Zimmer geräuchert. Danach wird in Stille innegehalten bis zum Erlöschen des Räucherwerks. Das Fenster wird geöffnet. Das Gefäß wird dann in den Garten getragen, die Kohle dort entsorgt. 2.2.3 Totengedenken Das Totengedenken innerhalb des Teams kann beispielsweise einmal wöchentlich vor der Mittagsübergabe stattfinden. Es wird vorher vereinbart, wer das Ritual durchführt. Der zeitliche Rahmen beträgt 15 Minuten. Innerhalb dieses Rahmens gibt es verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten. Folgender Ablauf ist möglich: Der Verantwortliche hat den Tisch, an dem das Ritual durchgeführt wird, nach seinen Ideen gestaltet. In der Mitte brennt eine Kerze. Ein Gong wird geschlagen. Dann werden die Namen der Verstorbenen vorgelesen. Nach dem langsamen Vorlesen besteht die Möglichkeit, von den Symbolkarten, die in der Mitte vorbereitet liegen, jene zu wählen, die mit einem Verstorbenen assoziiert werden. Nicht zu jedem Namen müssen Karten gezogen werden. Wer möchte, kann dann über seine Geschichte mit

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dem Verstorbenen erzählen. Das Erlebte wird so erinnert lebendig in gestalteter Zeit. Den Abschluss bildet ein Gong, ein Gedicht oder ein gemeinsames Lied. 2.2.4 Freitagsmeditation Jeden zweiten Freitag im Monat vor der Mittagsübergabe gibt es für das Team die Möglichkeit zu einem zehnminütigen Innehalten, sei es durch eine kurze geführte Meditation, durch Atem- oder Bewegungsübungen, ein Tanzritual oder durch Singen. Die Gestaltung erfolgt durch einen Mitarbeiter.

Beispiel: Herzensritual Der für die Durchführung Verantwortliche spricht vor der Gruppe die Absicht des Rituals aus: Hinlenkung auf das, was schwer ist durch hohe Erwartungen, auf das Gefühl, hinter den (eigenen) Ansprüchen zurückgeblieben zu sein. Sein Ziel ist es, leichter zu werden im Herzen. Die Gruppe sitzt im Kreis, der eine Mitte hat. Eine Kerze brennt. Der Gong wird geschlagen. Wer möchte, kann aussprechen, was schwer war und ist im Blick auf Anspruch und Erwartung. Dann wird um Stille gebeten, die Füße mögen stabil auf dem Boden ruhen, die Gedanken leiser werden, der Atem möge in seinem Kommen und Gehen wahrgenommen werden. Dann soll folgende Übung vollzogen werden: »Ich atme ein und bin mir meines Herzens bewusst. Ich atme aus und lächle meinem Herzen zu« (Hanh, 2005, S. 45 f.). Über die Zeit von etwa zwei Minuten soll in dieser Übung verblieben werden. Dann wird der Gong geschlagen, um dem Klang und dem eigenen Herzen darin nachzuspüren. Zum Abschluss nehmen sich die Teilnehmenden im Kreis an die Hand. 2.2.5 Feste feiern Hier ist an Feiern aller Mitarbeitenden, in denen es einen rituellen Kern gibt, zu denken; so z. B. Jahresfeiern, in denen in bestimmter Form das Vergangene bilanziert wird, die Personen gewürdigt werden, der Übergang in ein neues Arbeitsjahr bedacht und gestaltet wird, etwa in einem großen gemeinsamen Kreistanz. 2.2.6 In der Natur: Feuer-Wasser-Ritual Nach einem bestimmten Zeitraum (beispielsweise nach einem halben Jahr) trifft sich eine kleine Gruppe von Mitarbeitern am Ufer eines Flusses. Dabei werden die Notizhefte mitgebracht, in denen die Eintragungen aus den Übergaben enthalten sind, also die Namen der Menschen, die betreut wurden, Notizen zur Diagnose vielleicht, Medikationen, die Familiensituation, Notizen zu all dem, was für die Betreuung wichtig war. Derjenige, der das Ritual durchführt, entzündet das vorbereitete Holz am Ufer. Er spricht die Absicht des Rituals aus: die Lösung von den Begleitungen der Menschen, deren Spuren fragmenthaft in den Heften notiert wurden und mit denen sich die

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Anwesenden in ihrer Fürsorge verbunden haben. Nach einer gemeinsamen Erinnerung an die Zeit werden die Hefte oder einzelne Blätter dem Feuer übergeben mit der Bitte, dass alles Schwere vom Feuer und seiner Kraft verwandelt werde. Ein Teil der zurückbleibenden Asche wird dann am Ende mit Erde bedeckt. Der kleinere Teil wird dem Bach oder Fluss – Ausdruck des fließenden Lebensstromes – übergeben. Vor der Rückkehr verneigen sich die Teilnehmenden vor diesem Ort.

3 Ordnen und ausrichten Der Dichter Friedrich Hölderlin gibt uns in einem Fragment die Worte: »So weit das Herz/Mir reichet, wird es gehen« (1992, S. 427). Übertragen auf die palliative und hospizliche Arbeit bedeutet das für mich: Ohne die Liebe zu den Menschen und uns selbst wird diese Arbeit nicht möglich sein. Wir vollziehen Rituale, weil wir für die Begleitungen weiterhin ein Herz haben wollen und brauchen. Im Ritual leben heißt Spiritualität leben, nicht erst im beruflichen Alltag. Spiritualität ist nicht etwas, das wir nur professionell anwenden, als ob wir ihrer sonst unbekannt wären. Spiritualität liegt zunächst vor aller Professionalität, was nicht heißt, dass sie nicht mit einer gesicherten Organisationsstruktur in der palliativen Versorgung einherzugehen hat. Rituale tragen eine existenzielle Dimension. Was geschieht, wenn wir unser Leben einschreiben in das Wesen von Ritualen? Es wird eine innere Ordnung und Regel erhalten, wird mit Symbolen sich umgeben, wird eine innere Ausrichtung gewinnen und wird lernen, Gefühle im Schutz freizugeben und Bedeutsamkeit zu empfangen. Es wird eine Gestalt erhalten. Unsere je eigene innere Gestalt zu finden, in dieser Lebensaufgabe begleiten uns Rituale. Sie geleiten uns Menschen zu unserer inneren Form. Rituale schützen, ohne dass sie vor dem Schmerz der Verwandlung schützen. Alles Leben ist Wandlung, indem wir uns immer wieder von Altem loslösen müssen, um uns im Durchgang mit Neuem zu verbinden. »An Stelle von Heimat halte ich die Verwandlungen der Welt«, schreibt Nelly Sachs (1977, S. 7) in ihrem Gedichtband »Flucht und Verwandlung«.

Literatur Belliger, A., Krieger, D. (Hrsg.) (2001). Ritualtheorien (2. Aufl.). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Daiker, A., Seeberger, A. (Hrsg.) (2008). Zum Paradies mögen Engel dich geleiten (2. Aufl.). Ostfildern: Schwabenverlag. Hanh, T. N. (2005). Schritte der Achtsamkeit (9. Aufl.). Freiburg: Herder. Hölderlin, F. (1992). Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Michael Knaupp (Bd. 1). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Müller, M., Pfister, D., Markett, S., Jaspers, B. (2009). Wie viel Tod verträgt das Team? Eine bundesweite Befragung der Palliativstationen in Deutschland. Schmerz, 23 (6), 600–608. Sachs, N. (1977). Gedichte. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Hilde Domin. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Schmidinger, H. (2007). Der Mensch als animal symbolicum. Zur Entstehung einer Definition. In H. Schmidinger, C. Sedmak (Hrsg.), Der Mensch – ein »animal symbolicum«? Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Uhl, F. (2007). Rituale – Symbolische Ausdrucksformen menschlicher Existenz. In H. Schmidinger, C. Sedmak (Hrsg.), Der Mensch – ein »animal symbolicum«? Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Vandermeersch, P. (2001). Psychotherapeutische Rituale. In A. Belliger, D. Krieger (Hrsg.), Ritualtheorien (2. Aufl.). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Van Gennep, A. (1999). Übergangsriten (»Les rites de passage«). Aus dem Französischen von K. Schomburg u. S. Schomburg-Scherff (1999). Frankfurt a. M.: Campus-Verlag.

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Ein persönlicher Blick Teamarbeit in einem sensiblen Arbeitsfeld Dorothea Becker und Johannes Schlachter

Wer täglich mit sterbenskranken Menschen zu tun hat, braucht neben vielen anderen Voraussetzungen ein Team, das Belastungen für den einzelnen Mitarbeiter mindert. Insofern mag unser Blick auf das Team im Berliner Ricam-Hospiz mit 15 Plätzen und ca. 35 Mitarbeitern als Diskussionsgrundlage dienen oder die Erfahrungen anderer bestätigen. Nach einem Bericht über die Entwicklung des Teams, über die Haltung der Leitung und der Mitarbeiter und dem zugrunde liegenden systemischen Modell unserer Arbeit schließen sich Impulse zweier evaluierender Studien an, die im Ricam-Hospiz durchgeführt wurden und die unsere subjektiven Befunde ergänzen. Um das Lesen zu erleichtern, schreiben wir als Leitungsteam im Plural oder als Hospizleitung bzw. Pflegedienstleitung in der ersten Person, ohne das Ich namentlich zuzuordnen.

1 Was uns hilft und was uns schützt 1.1 Die Chance, den Anfang zu gestalten

Die Gründung des Ricam-Hospizes sollte zwei Zielen dienen. Das Wichtigste war, einen guten Lebensort für palliative Patienten zu schaffen, deren Bedürfnisse ich im Krankenhaus als Krankenschwester kennengelernt hatte. Des Weiteren sollte ein guter Arbeitsplatz entstehen, in dem der Wunsch, etwas zu tun, was notwendig ist und Bedeutung hat, im Vordergrund steht. Dass Arbeit auch Lebenszeit ist und Spaß machen kann, war so wichtig, wie diese Arbeit in einem Team gestalten zu wollen. Da ich die destruktive Kraft kannte, die von falsch verstandener Hierarchie ausgeht, konnte ich mir die Arbeit im Hospiz nur arbeitsteilig und kooperativ vorstellen. So trafen sich die potenziellen Mitarbeiter vor der Gründung des Hospizes regelmäßig, um gemeinsam zu planen, zu lernen und miteinander vertraut zu werden. Den Prozess begleiteten zwei Supervisorinnen, deren professionelle Interventionen uns frühzeitig die Differenzierung zwischen Anspruch und Wirklichkeit in Bezug auf das Wir-Gefühl des Gründungsimpulses vor Augen führten. Das spannende Bezogensein und gleichzeitige Gegenübersein von Mitarbeitenden und Leitenden wurde bereits in dieser Zeit spürbar.

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Im Laufe eines Prozesses entstand dann – zum Glück – ein ganz normales Unternehmen mit einem hohen Ethos. Das Team lernte, mit dem beschriebenen Spannungsfeld umzugehen. 1.2 Mitsprache und Führung im Spannungsfeld

Die Bedeutung der Arbeit für jeden Einzelnen im Hospiz liegt im Gelingen guten Lebens für Menschen im Angesicht des Todes. Das Wissen, an dieser Bedeutung in einem Team teilzuhaben, ist die Voraussetzung, die eigenen Grenzen und differenzierte Verantwortung akzeptieren zu können. »Wir sind alle gleichwertig« heißt nicht »Wir sind alle gleich (und machen dasselbe).« Im Folgenden setzen wir uns beispielhaft mit dem Besonderen unserer Führungsaufgabe auseinander, Macht zu haben und gleichzeitig tatsächlich Beteiligung zu ermöglichen. Eine Mitarbeiterin beeindruckte mich mit dem Satz: »Mach uns nicht verantwortlich dafür, dass du Unbeliebtes von uns forderst – tue es, wenn du meinst, es ist richtig, denn das ist deine Aufgabe.« Sie meinte auch damit, dass ich nicht verlangen kann, dass sie das Unbeliebte mit einem Lächeln entgegennimmt. Den Mitarbeitern ist es wichtig, dass wir unsere Gestaltungsmacht so einsetzen, dass sie ihre gewählte Aufgabe sicher ausführen können. Dabei verlassen sie sich darauf, dass ihre Meinung in Entscheidungen einbezogen wird. Diese Form der begrenzten Beteiligung wurde von den Mitarbeitern, die heute im Hospiz arbeiten, ausdrücklich gewünscht. Die Abgabe von Verantwortung befriedigt aber nur solange, wie auch die Grundprämissen stimmen. Eine ist Gleichwertigkeit; die Leitungsaufgabe ist nicht wichtiger als andere Aufgaben. Die andere ist Mitsprache; es gibt ausreichend öffentliche Wege, um sein Anliegen kundzutun, darüber hinaus offene Ohren. Und nicht zuletzt ist es der Respekt vor dem Anderen. In Bezug auf die Einstellung neuer Mitarbeiter scheint das Prinzip von Mitsprache und Entscheidung gut zu funktionieren. Immer arbeiten Bewerber einen Hospitationstag mit einem Teampaten. Auf dem Abschlussgespräch mit Paten, Bewerber und Leitung beruht dann unsere Entscheidung. In einer Teamsitzung sagten jedoch mehrere Teilnehmerinnen: »Die Leitung sucht genau die Mitarbeiterinnen aus, die zu uns passen.« Gleichzeitig wurde betont, wie verschieden die Einzelnen sind, wobei die Unterschiede als Ergänzungen und Horizonterweiterungen positiv beschrieben wurden. Betont wurde auch die Aussage, dass jeder in seiner Individualität wahrgenommen wird, sich zeigen und zu sich stehen kann. Bei einem Teamtag mit Günter Funke, einem Schüler von Viktor E. Frankl, gingen wir davon aus, dass der Sinnbegriff zwei Dimensionen hat: Die eine bezieht sich auf die Person selbst und die andere auf die vorfindlichen Bedingungen. Anzuerkennen ist, dass nur jeder für sich selber finden kann, was er als Sinn erlebt. Gemeinsam darüber nachzudenken, schaffte eine nachhaltige vertrauensvolle Teamatmosphäre, wo jeder die Erfahrung macht, mit seinem Wesen und seinen Begabungen und Grenzen dazuzugehören. So ist eine Aufgabenteilung möglich geworden, in der einerseits aufgefordert

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wird, dass jeder seinen Teil beiträgt, damit die Bedingungen stimmen, andererseits das Ergebnis, z. B. das passende Team aus verschiedenen Individuen, der Leitung und gleichzeitig sich selbst (ich bin ja Teil davon) zugeschrieben wird. Aus diesen beispielhaften Erfahrungen schließen wir, dass der Schutzfaktor des Teams am allermeisten in der gemeinsamen Bedeutung der Tätigkeit, dem Sinn der Arbeit liegt. Sich damit auseinanderzusetzen, können wir sehr empfehlen.

2 Zwischen historischen Wurzeln und neuen Herausforderungen: zum Selbstverständnis eines Teams Identifikation ist immer wieder neu zu erarbeiten. Eine Auseinandersetzung wird z. B. nötig, wenn im Team von den besseren Zeiten gesprochen wird, als noch richtige Hospizarbeit möglich gewesen sei. Tatsächlich hat sich vieles verändert. Das Hospiz als Versorgungseinrichtung ist selbstverständlicher, manche Patienten und Angehörige sind anspruchsvoller geworden. Die Krankheitsbilder und die Behandlungsmethoden sind heutzutage komplexer. Ohne Schläuche sterben, möglichst wenig Technik und Medizin, war der Ausgangspunkt. Heute ist die kontinuierliche Schmerzmittelgabe über eine Pumpe normal und oft nicht der einzige Schlauch am Körper eines Patienten. Intensiv-Palliativmedizin zu leisten und gleichzeitig dem Leben und Sterben genügend Raum zu geben, ist die neue Herausforderung. Der große Anspruch, dem leidenden Menschen Lebensqualität zu geben, macht Mitarbeiter oft zu Mit-Leidenden. Denn was man an Pflege und Begleitung geben könnte, scheint unbegrenzt zu sein, die Zeit ist es aber nicht. Den Anstoß der Leitung zur Selbstreflexion schätzen die Teammitglieder. Das real Mögliche bewusst werden zu lassen und mit der Idealvorstellung von Hospizarbeit auszusöhnen, ist zur Identitätsfindung immer neu zu leisten. 2.1 Kommunikation im Team

»Im Team ist eine schlechte Stimmung« stand zeitweise als Gespenst im Raum. Wir haben gelernt, uns vor solchen Aussagen nicht zu erschrecken, sondern diese möglichst schnell zu analysieren. Zu fragen ist: Wer hat die schlechte Stimmung, warum hat er sie und was kann er mit welcher Hilfe dagegen tun? Manchmal zeigte sich das Retter-Opfer-Täter-Drama. Der Retter will das vermeintliche Opfer verteidigen, das beispielsweise wegen eines ungünstigen Dienstplans jammert. Das Opfer weiß nichts von der vermeintlichen Hilfe. Manchmal findet die Verteidigung anonym, unkonkret und verallgemeinernd statt. Der Retter weiß gar nicht, dass das vermeintliche Opfer durch seine Wünsche selbst zu dem Dienstplan beigetragen hat. Das Opfer weiß nichts von der Aktion »schlechte Stimmung«. Jammern ist menschlich und bedeutet nicht immer eine Aufforderung zur Hilfe. Jeder muss in diesem Drama lernen, eigenverantwortlich zu handeln. Die Fragen lauten: Was löst mein Verhalten aus? Was werden andere verstehen, wenn sie die Zusammenhänge nicht kennen? Welche Atmosphäre

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schaffe ich dadurch, dass ich die schlechte Stimmung der anderen weiter kolportiere? Gibt es einen besseren Weg? 2.2 Der Wert eines Teams

Wertschätzung erlebt nur, wer sich selbst wertschätzt. Es gab eine Zeit, in der die Forderung nach Wertschätzung unentwegt im Raum stand. Wertschätzende Worte oder Gesten, auch Geschenke wurden aber nicht unbedingt als Wertschätzung wahrgenommen. Beeindruckend war eine Übung, bei der jeder jedem sechzig Sekunden lang wertschätzendes Lob geben sollte. Für viele war es schwierig, so viel Lob über sich selbst zu hören. Lobende Worte für den anderen zu finden, war einfacher. Diese Übung half, ein Dauerthema zu beenden und einen neuen Blick zu bekommen. Wenn jetzt jemand von Wertschätzung redet, wird er gleich daran erinnert, bei sich selbst anzufangen. Diese drei Themen, Ideal und Wirklichkeit, Ich und der Andere und die Suche nach Wertschätzung, beschreiben wir hier als Ursache für individuelle Belastungen im Team. Die Kommunikation und Selbstreflexion darüber sind keine Zeitverschwendung. Sie stärken die Kompetenz und Arbeitszufriedenheit des Einzelnen und des Teams. Das Gelernte wirkt sich zusätzlich auf die Qualität der Begleitung der Patienten aus. Denn auch hier gilt Besonnenheit, genaues Hinhören und die richtigen Fragen zu stellen, um die Hilfe geben zu können, die tatsächlich gewünscht ist. Daraus folgt für ein Team, dass es sich als Schutzfaktor oft nur erlebt, wenn es an sich arbeitet. Das Gleichgewicht zu finden zwischen der Gelassenheit, nicht alles zu problematisieren, und dem Entschluss, gezielt die Dauerthemen anzugehen, ist eine Herausforderung. Doch es lohnt sich, denn was schützt mehr vor Belastungen, als mit der Realität, den Stimmungen und mit Lob und Kritik gut umgehen zu können?

3 Teamprozesse aus der Vogelperspektive 3.1 Die Theorie

Unser Pflegekonzept beruht auf der Theorie der familien- und umweltbezogenen Pflege von Marie-Luise Friedemann und Christina Köhlen (2003). Dieses Modell scheint uns ebenfalls geeignet, die Prozesse unseres Teams auf einer Metaebene zu betrachten. Im Folgenden gehen wir kurz auf die theoretischen Prämissen dieses Modells ein, um ein Vokabular einzuführen, mit dem sich Teamprozesse beschreiben lassen. Das menschliche Verhalten (auch das eines Teams), so ist die Annahme, richtet sich auf vier Ziele: Stabilität, Wachstum, Regulation/Kontrolle und Spiritualität. Die Verhaltensweisen, die zu den Zielen führen, können in vier Dimensionen eingeteilt werden: Systemerhaltung, Systemänderung, Kohärenz und Individuation. Dies ist in Abbildung 1 dargestellt.

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Abbildung 1: Modell des systemischen Gleichgewichts (Biegalla, 2005)

Ein systemisches Gleichgewicht entsteht dann, wenn die Ziele in einem für die Person oder das Personengefüge (System bzw. Subsystem) richtigen Ausmaß erreicht werden. Ein ständiger und zum Teil unbewusster Veränderungsprozess innerhalb der einzelnen Dimensionen gestaltet das systemische Gleichgewicht. Das Gleichgewicht zu finden, ist zugleich Ziel und Utopie. Durch dauernde aus dem Inneren und der Umwelt auftretende Änderungen, kommt es fortlaufend zu dynamischen Wechselzuständen, die Anpassung und Wiederanpassung erfordern (Friedemann und Köhlen, 2003). Dieses Wissen gibt dem Team die Gelassenheit, sich auf die Veränderungen und die damit verbundenen Themen einzulassen und aktiv einen Ausgleich zu suchen. Die Bestrebung, Stabilität (z. B. Struktur) zu schaffen, gleichzeitig die Angst z. B. vor Langeweile oder Sinnlosigkeit zu bekämpfen, indem Wachstum angestrebt wird, bedarf der ständigen Gleichgewichtsfindung. Wo Stabilität verloren geht, kann die Bestrebung nach Spiritualität, z. B. die Suche nach dem Gemeinsamen, zu einem neuen Gleichgewicht führen. 3.2 Die Praxis

Supervision, Dienstübergaben und Teamsitzungen sind verbindliche Strukturen, die der Stabilität eines Teams dienen. Wir zeigen anhand weniger Beispiele, wie wir die Dynamik des Gleichgewichts verstehen. Wir schätzen es sehr, dass ein Angebot für Supervision in der Hospizarbeit vorgeschrieben ist. Sie ist eine Möglichkeit, über die vielseitigen individuellen und gemeinsamen Ziele und Belastungen nachzudenken. Als feste Struktur ist sie verlässlich. Doch eine eingewöhnte Form kann nicht auf Dauer erfolgreich sein. Die aus der Umwelt (meint sowohl Forderungen von außen wie auch von innen, z. B. durch Widerstand, Unlust usw.) wahrgenommenen Impulse müssen integriert werden, damit Wachstum entstehen kann. Das Wegbleiben von Mitarbeitern in der Supervision bedroht uns nicht, sondern fordert uns auf, zu schauen, welche Veränderungen jetzt nötig sind, um weiter zu lernen und das Gemeinsame zu stärken. Deswegen haben wir

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ca. in zweijährigem Rhythmus den Supervisor gewechselt und auch mit der Anwesenheitspflicht und der Gruppenzusammensetzung experimentiert. Jede Veränderung rührt an der Stabilität, fördert aber Wachstum. In dem jeweiligen Prozess findet das Team stärker zu seinem Selbstverständnis (Individuation) und verbindet sich neu mit dem gemeinsamen Ziel (Kohärenz). Auch eine Supervisionspause kann regulierend auf das Gleichgewicht wirken. In einer solchen Pause entwickelte sich ein neuer Bedarf, der in einem Aushandlungsprozess konkretisiert wurde. Daraufhin planten wir eine Fortbildungsreihe, die zusätzlich Aspekte der Supervision erfüllen sollte. Dabei konnten wir auf unsere eigenen Ressourcen zurückgreifen. Die Musiktherapeutin konnte für eine Fortbildungsreihe zum Thema Kommunikation gewonnen werden. Das fortlaufende Fortbildungsthema motivierte die Mitarbeiter zur Teilnahme. Die Inhalte der Fortbildung wurden zeitnah mit dem Pflegedienstleiter abgesprochen, um aktuelle Bedürfnisse zu integrieren. Die Sachthemen und Erlebnisse, Fehler und Gefühle wie z. B. Hilflosigkeit wurden in praktischen Übungen aufgearbeitet, im besten Fall, bevor daraus ein Problem entstand. Da Teilnehmer und Dozentin die besprochenen Patienten und Situationen kannten, konnten Handlungsalternativen gemeinsam erarbeitet werden. Im Laufe dieser Fortbildung wuchs das Gemeinsame zwischen Musiktherapie und Pflege, gleichzeitig wurde die individuelle Aufgabe der Therapeutin viel stärker anerkannt. Das Team akzeptierte, dass die Musiktherapeutin, obwohl sie quasi zum Team gehört, mit genügend supervisorischer Distanz eine Atmosphäre schaffen konnte, in der auch Persönliches und Konfliktreiches besprochen werden konnte. Auch als nach der Fortbildungsreihe die klassische Supervision wieder eingeführt wurde, war die gewachsene Beziehung zwischen den Pflegenden und der Musiktherapeutin spürbar. Die Mitarbeiter holen sich seither ihre Unterstützung. Der Dialog bei Patientenübergaben oder Fallbesprechungen ist differenzierter. Die Suche nach dem Gleichgewicht, die Bereitschaft zur Veränderung und die Beteiligung des Einzelnen daran wurden im Team sehr positiv bewertet. Kohärenz, ein stärkeres Wir ist fühlbar geworden. Die Dienstübergabe ist ein weiteres Beispiel für die permanente Annäherung an ein Gleichgewicht. Der vermutlich allen bekannten Überredseligkeit, die sich auch in spekulativen Beschreibungen der Patienten ausdrückt und wo jedes alltägliche Detail berichtenswert erscheint, kann nur begegnet werden, wenn die Bedürfnisse der Beteiligten, die damit zum Ausdruck gebracht werden, ernst genommen werden. Die unbewusste Suche der Pflegenden nach Anerkennung, indem sie die eigenen Tagestätigkeiten beschreiben (»Bei mir hat der Patient …«), ist den Zuhörern lästig und sie distanzieren sich. Darüber hinaus macht dieses Verhalten den Patienten zum Objekt. Eine möglichst strukturierte und patientenbezogene Übergabe wird immer wieder eintrainiert. Damit aber die gewünschte Anerkennung selbst und direkt eingeholt werden kann, ist ausdrücklich erwünscht, sich am Ende der Übergabe z. B. für die gelungene Arbeitsorganisation zu loben. Eigenlob stinkt nicht. Wir loben jeden, der sich selber

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lobt. Damit erkennen wir das Grundbedürfnis nach Individuation an. Die Übergabe mit dem Patienten (am Bett) kann sehr hilfreich sein, um spekulatives Reden über den Patienten zu vermeiden. Nach einer Testphase haben wir keine grundsätzliche Umsetzung angestrebt, da das Bedürfnis eines gemeinsamen, bewussten Beginns einer Schicht, das Einstellen auf die Patienten, Angehörigen und anwesenden Kollegen und das Teilen von Wissen und Emotionen für die Mitarbeiter besonders wichtig war. Schichten, die mit Einzelübergaben beginnen, sind nicht beliebt. Die Kohärenz – »Wir sind das heutige Team« – entwickelt sich besonders in der Übergabe und gibt Kraft für die kommenden Aufgaben. Ein Beispiel besonderer Art sei noch erwähnt. Es erstaunte mich, als ich zum ersten Mal die Ricam-Not-Tropfen angeboten bekam. Nach einer besonders schwierigen Situation in der Versorgung eines Verstorbenen bot mir eine Pflegerin der ersten Stunde einen Schnaps in einem Medikamentenbecher an. Sie können sicher sein, dass der Alkoholkonsum während der Arbeitszeit auch bei uns nicht üblich ist. Aber in diesem Fall bekam ich durch die solidarische Geste bestätigt, eine harte Aufgabe erfolgreich geschafft zu haben. Viel später las ich die Beobachtungen von Dr. Dreßke, auf dessen Forschung und Buch wir im nächsten Abschnitt eingehen, zu einem ähnlichen Ereignis. Er erwähnt die Not-Tropfen, die in einer Not-Situation von einer Not-Gemeinschaft getrunken werden (Dreßke, 2005). Die Anerkenntnis, dass hier etwas auszuhalten ist, das normalerweise den Impuls des Abwendens auslösen würde, und die öffentliche Geste, die bestätigt, dass wir zusammen uns nicht distanzieren, sondern die Anforderung zuwendend bewältigen, beeindruckt Dreßke. Aushalten der schweren körperlichen und emotionalen Leistung wird gewürdigt und macht das Team stolz auf seine Kollegialität. Mit diesen Beispielen wollen wir Mut machen, auch unkonventionelle, nicht genormte Wege zu gehen oder Strategien wohlwollend und neugierig zu betrachten, bei denen eingefahrene Gleise und Konventionen vorübergehend oder für immer verlassen werden. Der Prozess, der notwendig ist, damit sich das Team einem gesunden Gleichgewicht immer neu nähern kann, wird so in Gang gehalten. Das Team wird in seiner Identität gestärkt und kann sich mit dem gemeinsamen Ziel der Hospizbewegung verbinden, ein lebenswertes Leben bis zuletzt zu ermöglichen.

4 Über den Tellerrand geblickt – Impulse aus zwei Studien Das Hospizteam und auch Hospize als Organisation erhalten von Außenstehenden Anerkennung, oft auch Bewunderung. Als Ermutigung ist diese Bestätigung wichtig für das Team. Für die Einschätzung unserer Performance, für die Orientierung und für Veränderungen benötigen wir aber zusätzlich möglichst neutrale und kritische Impulse. Im Folgenden möchten wir mit Bewertungen und Gedanken auf zwei solcher Impulse eingehen. Aussagen des Teams fügen wir als wörtliche Rede ein.

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4.1 Der Weg ins Team

Dr. Stefan Dreßke (Soziologe) beforschte 2003 den Alltag unseres Hospizes für seine Dissertation. Seine Ergebnisse publizierte er in seinem Buch »Sterben im Hospiz – der Alltag einer alternativen Pflegeeinrichtung« (Dreßke, 2005). Dreßke beschreibt das Hospiz als den Teil des Gesundheitswesens, der das gute Sterben zum Ziel hat. Hospize suchen seiner Meinung nach ihren Erfolg im Bereich eines Tabus, genau dort, wo der Medizinbetrieb gemeinhin seinen Misserfolg sieht. Der Erfolg generiere sich aus einer kompromisslosen Patientenorientierung, der sich die Organisationsziele weitgehend unterordnen müssten. Mitarbeiter im Hospiz identifizierten sich mit dieser Haltung, sähen auch – oft aus ihrer beruflichen Erfahrung heraus – genau hier ihre Berufung. Als teilnehmender Beobachter erschloss sich Dreßke sein Forschungsfeld Hospiz. Zur Vorbereitung darauf hatte er einen Pflegehelferkurs besucht und wurde in die Pflegearbeit im Hospiz eingearbeitet wie ein Praktikant oder ein neuer Mitarbeiter. Er konnte auf diese Weise die Integrations-, Arbeits- und Bewältigungsstrategien der Pflegenden selbst erleben. Im Folgenden beziehen wir uns darauf, wie Dreßke Aspekte seiner Einarbeitung in die Teamaufgaben beschreibt. So habe das Team intuitiv versucht, ihn als den Neuen kennenzulernen. Dazu habe auch gehört, dass er auf die Probe gestellt wurde, wie er z. B. auf Ungewöhnliches, auf Ekliges oder Herausforderndes reagieren würde (Dreßke, 2005). Auf die Probe gestellt fühlte sich auch ein Krankenpfleger mit langjähriger Palliativerfahrung. Von seinem ersten Arbeitstag im Hospiz berichtete er, dass er den Eindruck habe, dass ihm seine Einarbeitungspatin gar keine fachliche Basiskompetenz zutraue. Eine Frage war z. B., ob er subkutan spritzen könne oder Anleitung dazu benötige. Ihm erschien diese Art der Anleiterin, detaillierte Fragen zu stellen, die eigentlich nichts infrage stellten, irritierend und unnötig. Die Probe, wie sie auch Dreßke beschreibt, dient also offensichtlich nicht dazu, Fertigkeiten oder Wissen abzufragen, zu bewerten, ob etwas richtig oder falsch ist, nicht einmal, ob jemand geeignet für die Arbeit ist oder nicht. Sie wird intuitiv genutzt, um den Neuen selbst und seine Reaktionsweisen und seine Haltung den Dingen gegenüber kennenzulernen. Zu erfahren, wo seine Grenzen sind und wie es ist, wenn er sie erreicht. Entsprechend gestalten sich dann die weiteren ungeschriebenen Ziele der Einführung in Arbeit und Team. Wie die Integration ins Team funktioniert und immer wieder aktualisiert wird, beschreibt ein Pflegender so »Das Team will besondere Anteilnahme an meiner Belastung haben. Ich werde herausgefordert, darüber zu reden, es wird mir aber auch nachgegangen, wenn ich mich nicht äußere. Immer geht es dabei um das Herstellen von Öffentlichkeit, um schnelles Teilen von Belastendem, von Betroffenheit und Trauer; und um das Einholen und Erhalten von Verständnis.« Im Team gibt es also einen Konsens darüber, dass Gefühle geteilt werden sollen. Das Team mit seinen Mitgliedern bietet idealerweise den dafür notwendigen Schutz. Deshalb

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muss die Regulation und Kontrolle der Gefühle auch in diesem Team geübt werden, um im Angesicht von Wahrnehmungen, die herausfordern und belasten, die Fassung zu wahren. Fassung, sagt auch Dreßke, ist notwendig, um trotzdem handlungsfähig zu sein oder es wieder zu werden. Diese emotionale Arbeit mit und aneinander setzt Vertrauen voraus und ist bedingungsvoll. Zwei Mitarbeiterinnen dazu: »Wir sind ein Team der Unterschiedlichen […] Das Pflegeteam besteht aus 23 Personen. Da gibt es eine hohe Wahrscheinlichkeit, mit dem Richtigen zusammenzuarbeiten.« Und: »Hier ist keiner, der sich nicht reflektiert, keiner, der sich nicht äußert, keiner, der nicht kritisch mit sich und anderen sein kann.« Pflegende, die sich diesem und anderen hier nur angedeuteten Kodizes nicht unterwerfen können, werden in dieser Teamgemeinschaft also kaum Fuß fassen. 4.2 Gesund leben im und mit einem Team – ein Diagnosemodell

2009 beteiligten wir uns an einem Pflegebranchenvergleich, den die AOK Berlin in Kooperation mit der Gesellschaft für Betriebliche Gesundheitsförderung mbH (BGF) durchführte (AOK, 2009). Der Vergleich sollte z. B. auf folgende Fragen Antworten finden: »Wie können Pflegekräfte (erneut) für ihre Arbeit begeistert werden? Welche Faktoren erhalten unter den gegebenen Rahmenbedingungen Pflegekräfte bis ins hohe Alter gesund? Wodurch kann das gesundheitliche Wohlbefinden der Beschäftigten gestärkt werden?« Anhand eines Diagnosemodells zur betrieblichen Gesundheit, das bereits in mehreren anderen Branchen erprobt und dessen Einzelfragen für die Pflegebranche angepasst wurden, wurden 2.773 Mitarbeiter in elf verschiedenen Berliner Pflegeunternehmen befragt. Das Modell geht davon aus, dass es die zwei emotionalen Indikatoren »Arbeitsfreude« und »Selbstvertrauen« sind, die über den Copingerfolg und damit über die Gesundheit der Beschäftigten entscheiden. Wie Arbeitsfreude und Selbstvertrauen entstehen können, wurde in 15 Aspekten mit je zwei bis 13 Einzelfragen untersucht. Zu den 15 Aspekten gehörten Anerkennung, Information und Beteiligung, Entscheidungsspielräume, faire Beurteilung und Mitarbeiterführung. Als Indikatoren, die Gesundheit negativ beeinflussen, standen Gereiztheit, Erschöpfung und körperliche Beeinträchtigung im Fokus der Befragung. Sie wurden durch neun Aspekte mit entsprechenden Einzelfragen hergeleitet. Zu den neun Aspekten gehörten Zeitdruck, Verantwortungsdilemmata, Umgebungsbelastungen, Überforderung, Umgang mit Klienten und Arbeitsplatzunsicherheit. 4.3 Hospiz im Branchenvergleich

Die vergleichende Auswertung der Befragung fand durch die AOK Berlin unter Beteiligung der Unternehmen öffentlich statt. Dabei wurden die Best-Practice-Beispiele diskutiert. Zuvor wurden intern die Ergebnisse in jedem Unternehmen durch Mitarbeiter der BGF mit der Leitung und den Mitarbeitern des Unternehmens ana-

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lysiert. Bestätigung und auch Impulse für notwendige Veränderungen konnten dabei erarbeitet werden. Die Bedingungen für die Teamgesundheit im Ricam-Hospiz wurden im Branchenvergleich bei 18 der 29 Vergleichsthemen als Best-Practice-Beispiel identifiziert. Dazu gehörten die Aussagen zur Arbeitsfreude, Arbeitsorganisation, zu Gereiztheit, Erschöpfung, körperlicher Belastung und zur Identifikation. Zusammenfassend kann man sagen, dass das Modell an sich auch für das Hospiz Relevanz hatte und wir für uns gesundheitsfördernde und -störende Aspekte identifizieren konnten. Für die Wirklichkeit eines Hospizes im Vergleich zu anderen Pflegeunternehmen ist die Aussagekraft wegen der zugrunde liegenden Einzelfragen allerdings begrenzt. Das sahen auch unsere Mitarbeiter so. 4.3.1 Persönliche Entwicklung im Hospiz Ein Ergebnis der Befragung ist, dass die Mitarbeiter der Branche allgemein Aufstiegschancen für sich als wichtiges Gesundheitspotenzial sehen. In unserem Hospiz gibt es Karrierechancen in diesem Sinne kaum. Überraschenderweise sahen die Hospizmitarbeiter das bei der Auswertung aber positiv und akzeptierend. Das lag nicht daran, dass sie keine Ziele für sich haben, sondern dass die Entwicklungschancen, die die Hospizmitarbeiter für sich erkennen, auf einer Ebene liegen, die nicht erfragt wurde. Einer unserer Mitarbeiter sagte dazu: »Unser Arbeitsplatz ist ein besonderes, spirituelles Umfeld. Die Kollegen sind überdurchschnittlich reflektiert zum Thema Tod und Sterben. Austausch im Hospiz ist wertvoller für mich als in anderen Zusammenhängen.« 4.3.2 Selbstvertrauen als Teamleistung Für uns unerwartet durchschnittlich war unser Ergebnis zum Thema Selbstvertrauen. Als Indikatoren für Selbstvertrauen wurden drei Fragen zur Lösung schwieriger Aufgaben gestellt. In den Antworten hat sich die hohe Relevanz von unübersichtlichen und schwierigen Aufgabenstellungen im Hospiz deutlich ausgewirkt. Dabei wurde die Teilfrage nach dem Ergebnis bei der Bewältigung von unerwarteten Problemen sogar überdurchschnittlich hoch positiv beantwortet, die Teilfrage, ob die Mitarbeiter immer selbst wüssten, wie sie sich bei einem Problem verhalten sollten, dafür umso geringer. Neben den eigenen Möglichkeiten scheint also die Möglichkeit zur kollegialen Beratung im Team das Ergebnis der Arbeit stark positiv zu beeinflussen. Unsere Annahme ist, dass sich das gute Ergebnis der Teamarbeit mittelbar auch positiv auf das Selbstvertrauen des Einzelnen auswirkt. 4.3.3 Die schwere Arbeit Obwohl die Frage nach der Freude beim Umgang mit Klienten mit 86 % viel Zustimmung fand, war das Gesamtergebnis Umgang mit Klienten als Gesundheitspotenzial unterhalb des Durchschnittes der Branche. Die Belastung durch Klienten wurde nämlich im

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Ein persönlicher Blick

Hospiz viel größer als beim Durchschnitt aller Befragten eingeschätzt. Dieses Ergebnis jedoch negativ zu interpretieren, wehrte das Team vehement ab. Sie wiesen auf die existenzielle Lebenssituation der Hospizpatienten hin und auf das Glück, sie begleiten zu dürfen, gerade weil es schwer sei. 4.4 Was Einfluss hat

Als Ergebnis der Befragung, bezogen auf die gesamte Branche, benennen die meisten Pflegenden als Haupteinflussfaktoren auf die eigene Gesundheit die Freude am Umgang mit Klienten, eine positive Fehlerkultur sowie die Abwesenheit von fachlicher Überforderung und Zeitdruck. Auch wenn diese Themen im Hospiz nicht unwichtig sind, ergeben sich aus der Befragung hier andere Haupteinflussfaktoren. Auf die Arbeitsfreude der Hospizmitarbeiter wirkt sich am stärksten aus, wenn sie von den Vorgesetzten zeitnah ausreichende Rückmeldungen über ihre Arbeitsergebnisse erhalten. Für uns ist das ein Hinweis darauf, wie wichtig positive Bezogenheit (Kohärenz) zwischen Team und Leitung im Hospiz ist. Auf das Selbstvertrauen wirkt sich am meisten aus, wenn die Mitarbeiter selbstständig planen können, wie sie bei der Erledigung ihrer Aufgaben vorgehen. Positiv auf alle gesundheitsgefährdenden Faktoren wirkt sich aus, wenn die körperlichen Belastungen als gering eingeschätzt werden. Die Mitarbeiter äußerten dazu, dass sie ein hohes Risikobewusstsein haben, schwere Arbeit im Team teilen, geeignete Hilfsmittel vorhanden sind und die Zahl der zu Betreuenden vergleichsweise gering ist.

5 Stolz und Verantwortung Als wir die überragend positiven Ergebnisse auf die Fragen zur Identifikation mit den Unternehmenszielen besprachen, äußerten sich die Mitarbeiter begeistert. Der gute Ruf des Unternehmens, die Arbeit mit Menschen in existenzieller Lage, die interne und externe Anerkennung der guten Leistung und die Mitgestaltungsmöglichkeiten sollen hier nur stellvertretend genannt sein. Ob die Vorgesetzten für ein gutes Klima sorgen, wurde in der Befragung eher durchschnittlich bewertet. Die Mitarbeiter meinten in der Diskussion, dass sie selbst für das Klima Verantwortung tragen, da die Rahmenbedingungen im Vergleich zur allgemeinen Pflegebranche hervorragend sind. Rückblickend hat sich die aufwendige, nichtalltägliche und systematische Beschäftigung mit dem Branchenvergleich gelohnt. Wir nutzten die Befragung und Ergebnisdiskussion, uns als Team und mit unserem Hospiz neu zu verbinden und gemeinsam daran zu freuen, die anerkanntermaßen schwere Arbeit gut zu meistern. Abschließend ist festzuhalten: Auf die Gemeinschaftsbildung im Team des Hospizes wirken sich drei Aspekte besonders aus: – Es gibt Strategien, die im Team erlernt werden können, um den stets veränderlichen Situationen gewachsen zu sein.

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– Große Nähe zwischen den einzelnen Teammitgliedern entsteht, weil Gefühle wie Mitleid, Wut und Freude geteilt werden. – Die Teammitglieder sind stolz auf die besondere Leistung und die Kollegialität untereinander, mit der sie Entsetzliches, Trauriges und Ergreifendes genauso wie Medizin- und Pflegetechnisches oder ganz Banales meistern können. Das Hospizteam ist anspruchsvoll. Es will seine Umwelt gestalten, fordert Respekt, Authentizität und Individualität. Es will Empathie geben und haben. Diese Ansprüche unterstellt es auch den Patienten. Nicht zuletzt darin begründet sich die gemeinsame Möglichkeit zu einem würdevollen Umgang mit den Menschen, die, wie sie Dreßke (2005) beschreibt, durch ihren seelischen, sozialen und körperlichen Verfall zunehmend von ihrer Möglichkeit zur Selbstrepräsentation getrennt sind. Allgemein und abschließend halten wir für möglich, dass jedes Team genügend Kraft entfalten kann, die Belastung zu meistern, die einer Aufgabe innewohnt, wenn seine Mitglieder ein Ziel verfolgen, das sie gemeinsam für sehr wichtig halten und für das sie miteinander kooperieren. Die Bedingung ist, dass der Rahmen für das Team so unterstützend, anerkennend, flexibel und so stabil wie jeweils nötig ist und notwendige Ressourcen nicht unbillig knapp sind.

Literatur AOK Berlin – Die Gesundheitskasse in Kooperation mit der BGF – Gesellschaft für Betriebliche Gesundheitsförderung mbH (2009). Pflegebranche. Demografische Herausforderung gesund meistern. Biegalla, G. (2005). Theorie des systemischen Gleichgewichts. Zugriff am 12. 7. 2011 unter http://www. pflegewiki.de/wiki/Theorie_des_systemischen_Gleichgewichts Dreßke, S. (2005). Sterben im Hospiz – Der Alltag in einer alternativen Pflegeeinrichtung. Frankfurt u. New York: Campus Verlag. Friedemann, M., Köhlen, C. (2003). Familien- und umweltbezogene Pflege. Bern: Verlag Hans Huber.

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Sage mir, wie sie sprechen … Schutzfaktor gelingende Kommunikation Monika Müller und Martina Kern

»Höre den Teammitgliedern zu, beobachte, wie sie miteinander sprechen, und du wirst wissen, wie gut und ehrlich sie in der Patientenbegleitung sind.« Diese Aussage einer inzwischen lange berenteten Unterrichtsschwester spricht von der Kongruenz der inneren und äußeren Haltung. Nur wenn die Haltung in der beruflichen Pflegerolle mit der Rolle als Kollege übereinstimmt, ist diese Haltung glaubwürdig und wirksam. Eine Haltung kann nicht wie ein Kittel in verschiedenen Kontexten an- und abgelegt werden.

1 Die verschiedenen Ebenen von Mitteilungen Eine Teamkollegin erzählt von einer Erfahrung: »›Wie geht es Ihnen?‹, fragte Frau Breuer, die Ehefrau des Patienten. ›Sie kommen nun fast täglich zu uns, fragen immer, wie es uns geht. Nie haben wir uns bei Ihnen erkundigt. Sie wirken heute so anders.‹ Ich sagte nach einiger Überlegung: ›Eigentlich geht es mir gut …‹ Herr Breuer fragte: ›Und uneigentlich?‹ Es entwickelte sich ein interessantes Gespräch über die Bedeutung des Wortes ›eigentlich‹. Wir entdeckten, dass das Füllwörtchen ›eigentlich‹ in der Regel verwendet wird, um eine Ausnahme anzukündigen oder zu erwähnen. Es wird oft eingefügt, wenn man nicht hundertprozentig hinter einer Aussage steht. Daraufhin erzählte ich ein wenig über mich und meine Befindlichkeit. Ein Patient, den ich sehr mochte, war für mich unerwartet einige Stunden zuvor gestorben. Ich spürte im Reden meine Betroffenheit, versuchte, diese zu verbergen. Herr und Frau Breuer als gute Beobachter merkten, dass ich um meine Fassung rang. Wir sprachen über die Beziehung, die man als Begleiter zu Patienten aufbaut, und die oft dadurch entstehende Nähe. ›So würde ich mir das auch für mich wünschen, wenn ich gestorben bin: dass es Ihnen eigentlich gut damit geht und Sie uneigentlich ein kleines bisschen traurig sind, weil ich Ihnen wichtig war‹, sagte Herr Breuer und zwinkerte mir zu. Wir lachten und hatten gleichzeitig Tränen in den Augen. Die Situation war von so viel Offenheit, Vertrauen und Wertschätzung geprägt, dass ich nicht bereute, so Persönliches offenbart zu haben. Es hat uns alle drei im Inneren angerührt. In diesem kurzen Kontakt war viel Wesentliches geschehen. Tief bewegt fuhr ich zum Büro zurück. Bei der nachfolgenden Dienstübergabe mit den Kollegen war es Thema, wie es uns in der Arbeit und grundsätzlich ging. Ich sagte heiter: ›Alles in Ordnung bei mir.

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Bei den Begleitungen läuft derzeit alles rund. Die Ziele, die ich vereinbart habe, sind gut im Blick und konnten zum großen Teil erreicht werden.‹ Ich spürte, dass ich nur einen ganz sachlichen, keinen persönlichen Zugang zum Thema meiner Befindlichkeit kommunizierte, dass ich den für mich eben in der Begleitung empfundenen sehr besonderen, fast heiligen Moment der Nähe nicht teilen wollte. Die Kollegen schauten mich prüfend an, spürten wohl meine innere Abwehr, zu sprechen, und fragten nicht intensiver nach. Ich war dankbar für dieses unausgesprochene Verständnis.« Jede Mitteilung hat ihre Zeit und ihre eigene Ebene. Für gelingende Kommunikation ist es wichtig, als Sprechender die Ebenen nicht beliebig zu tauschen oder als Zuhörender den anderen nicht auf eine Ebene zu zwingen, auf der er sich gerade nicht aufhalten möchte. Die verschiedenen Ebenen zu erkennen und zu respektieren, ist ein schützender Faktor im Miteinander-Sprechen. Es ist ein Faktor, der den Selbstwert des anderen stärken kann. Das oben genannte Beispiel zeigt in der Kommunikation der Kollegin die situativ nachvollziehbare Reduktion auf die Sach- bzw. Aufgabenebene (die vereinbarten Ziele wurden alle erreicht) in der Dienstübergabe. Wenn der Austausch untereinander allerdings ausschließlich auf dieser Ebene laufen und nur diese die Kommunikation der Kollegen im Team kennzeichnen würde, erschwerte dies sicherlich die Zusammenarbeit. Ein Team, das in der Begleitung das gemeinsame Ziel, die Verbesserung der Situation schwerstkranker Menschen und ihrer Angehörigen, erreichen will, lebt auch immer vom persönlichen Austausch untereinander. Dieser sollte immer auf zwei verschiedenen Ebenen, der Aufgaben- und der Beziehungsebene, aktiv sein, um eine erfolgreiche und längere Zusammenarbeit zu ermöglichen. Kommunikation kann sich scheinbar auf der Inhaltsebene (Zustand des Patienten, verabredete Ziele) abspielen und um Fakten drehen (Symptome, Partnerschaftsprobleme), aber gleichzeitig der Definition von Beziehungen dienen. Über Beziehungen wird meistens nicht direkt mit Worten gesprochen. Im oben genannten Beispiel ist zwar alles in Ordnung, alles läuft rund, aber das dahinterliegende dankbare Gefühl des Berührtseins wurde durch Gesten, Gesichtsausdruck und den Klang der Stimme nur angedeutet. Das stellt ein Team vor die schwierige Aufgabe, im komplizierten Geflecht von nonverbalen und verbalen Mitteilungen manchmal auch nach nicht ausgesprochenen Störungen zu suchen. Zu wissen, dass beide Ebenen oft ineinander übergehen oder einander verdecken, kann hilfreich sein und Verständnis für die eigentliche Aussage wecken bzw. den Sprechenden unterstützen, direkter auszudrücken, was er meint und will. Oft ist dies erst in Praxisbegleitung und Supervision zu entdecken und in diesem Raum geschützt zu lernen.

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2 Offenheit und Verschwiegenheit Ein wichtiger Grundsatz im Zusammenhang von Palliative Care ist Offenheit. Für die Kommunikation bedeutet dies den freien und ungezwungenen Austausch von Informationen zwischen den Kommunikationspartnern. Dazu gehört, persönliche Reaktionen, Gefühle, Auffassungen und Erkenntnisse frei zum Ausdruck zu bringen und Informationen rückhaltlos und verständlich weiterzugeben. Sowie die Kommunikationspartner herausfinden, dass sie offen miteinander kommunizieren können, ohne verletzt zu werden, entwickelt sich zwischen ihnen gegenseitiges Vertrauen. Als Minimalforderung ist deshalb die Bereitschaft von adäquaten Kommunikationskanälen in der Gruppe zu sehen. Offenheit in der Gruppe beginnt mit dem guten Beispiel, offene Kommunikation vorleben ist wirksam. Es erfordert eine reife Persönlichkeit, um frei und offen mit anderen zu kommunizieren und sich dabei nicht unterlegen und in der Autonomie bedroht zu fühlen. Offenheit der Kommunikation begünstigt das Zusammenwachsen und die Einheit von Gruppen und fördert die Kreativität. Das heißt nicht, dass nun alles unkontrolliert und schonungslos offengelegt werden muss. Es gibt immer Informationen, die nicht für alle Teammitglieder gleichermaßen oder für die bestehende Aufgabe relevant sind. Vertrauen ist nicht mit Vertraulichkeit zu verwechseln. Offene Kommunikation erfordert auch, die Sicherheitsbedürfnisse der Teammitglieder zu erkennen und zu respektieren. Palliativmedizin und Hospizarbeit waren von Beginn an multiprofessionell angelegt, um einen ganzheitlichen Blick, nämlich den aus unterschiedlichen Perspektiven, zu ermöglichen. Eine einzelne Person kann nicht alle Facetten sehen, die es in der Begleitung zu bedenken gibt. Allerdings liegen auch genau hier die Herausforderungen der Kommunikation. In der Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen erleben Teammitglieder oft in sehr kurzer Zeit einen sehr intensiven und tiefen Einblick in das Leben und die Gedankenwelt eines Patienten und seiner Zugehörigen. Eine Patientin, die zu Hause von einem ambulanten Palliativteam begleitet wurde, sagte: »Ich war so müde geworden vom Erzählen. Ich fühlte mich wie in einem Labyrinth. Habe jeden alles gefragt, keiner war für alles zuständig. Seit Sie da sind, fühle ich mich sicher. Sie tragen Sorge dafür, dass jeder alles weiß, was er wissen muss, alle notwendigen Informationen hat. Ich muss nicht mehr alles immer neu erzählen. Jetzt fühle ich mich aufgehoben und gehalten.« Diese Aussage ist von zentraler Bedeutung, da die Patientin betont, wie wichtig ihr ist, dass jeder an den Informationsfluss über sie angeschlossen wird, d. h. aber auch für die Kommunikation, dass eine Differenzierung in der Binnenkommunikation erfolgen muss. Nicht jeder Mitarbeiter erhält alle Informationen, die der Patient im Gespräch gegeben hat. Dies erfordert, dass der informierende Mitarbeiter ein gutes Gefühl für Vertraulichkeit entwickelt. Wer dies hat, wird mit dem Vertrauen des Patienten gut

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umgehen können. Wenn Unsicherheiten auftauchen, ob eine Information ins Team weitergegeben werden darf, ist es hilfreich, den Patienten zu fragen, ob er damit einverstanden ist. Damit ist eine gelungene Kommunikation gleichzeitig sowohl von Offenheit als auch von Verschwiegenheit geprägt. Alles hat auch hier seine Zeit, seine Funktion und seinen konkreten Sinn. Für eine Differenzierung sind folgende Fragen hilfreich: – Welche Information ist wichtig und warum? – Was ist für wen sinnvoll, relevant und erlaubt oder sogar notwendig zu wissen? – Wo sind Grenzen zu beachten, z. B. wo werden der Schutzraum, die Intimität und die Autonomie des Patienten oder/und auch des Teammitgliedes gefährdet?

3 Mit sich selbst im Austausch sein Kommunikation beginnt im Inneren des Menschen (intraindividuell). Dieser Prozess wird nach außen als soziale Kommunikation oder nach innen fortgesetzt. In der intraindividuellen Kommunikation wird der Mensch sich selbst zum Gesprächspartner, in der interindividuellen Kommunikation bezieht er sich auf andere. Bei beiden Kommunikationsarten wird das Selbstsystem aktiviert. Indem sich der Mensch seiner selbst bewusst wird, ist es ihm möglich, eine Position außerhalb seiner selbst einzunehmen und von dort aus zu reflektieren. Sich von außen zu sehen heißt: sich mit den Reaktionen anderer auf sich selbst und der eigenen Wirkung auf andere zu beschäftigen. Dies führt zu einer Selbstdefinition, an der sich Handlungen und Verhalten orientieren. Das Kommunikationsverhalten eines Menschen wird dementsprechend von seiner Selbstdefinition und seinem Selbstverständnis entscheidend geprägt. Die Kommunikation entspricht der Art, wie er sich selbst versteht. Dies ist kein statischer, nur innerlicher Prozess, sondern er unterliegt auch immer Einflüssen von außen. Die interpretierenden Kommunikationsbeiträge der Teammitglieder haben Einfluss auf die innerlich eingenommene Haltung des Menschen, der kommuniziert, und beeinflussen das Kommunikationsverhalten, wenn sie für das Selbstverständnis des Menschen relevant sind. Eine Voraussetzung für palliative und hospizliche Arbeit ist die eigene Auseinandersetzung mit den Themen Leid, Sterben und Tod. Sich der Wahrheit zum eigenen Leiden und dem eigenen Tod zu stellen, heißt das Hineinnehmen des Todes in das eigene Leben. In eine solche Haltung wird man nicht hineingeboren, man kann in sie nur allmählich hineinwachsen. Es kommt also nicht nur auf das Todesverständnis an, also auf das intellektuelle Akzeptieren einer Lehre vom Tod, sondern auf die eigene Todesaneignung, also das existenzielle Annehmen einer über uns verhängten Bestimmung, dass wir sterbliche Wesen sind, die doch in Freiheit von uns beantwortet werden will.

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In der Wahrheit zum eigenen Leid und Tod stehen bedeutet damit, sich selbst auch als Leidender und Sterbender zu erkennen und daraus die Folge zu ziehen, sein Leben darauf hin zu gestalten. Das heißt für jedes Teammitglied, zu lernen, die vielen kleinen Tode mitten im Leben zu erkennen, zu bestehen und ggf. sogar zu gestalten. Auf dieser Ebene wird Leiden nicht nur als unvermeidlicher Konflikt blind ausgehalten, sondern Leidensfähigkeit in Leistung verwandelt (Gisbertz,1995). Diese nie abgeschlossene innere Kommunikation wird den Umgang mit den Kollegen als Auch-Leidende nachsichtiger und gerechter gestalten.

4 Der Einfluss der Rolle auf die Kommunikation Rollenverhalten resultiert aus den Rollenerwartungen anderer. Wie weit ein Rollenträger seine Rolle persönlich ausgestalten kann, hängt einerseits vom situativen (vom sozialen System zugelassenen) Spielraum, andererseits von Persönlichkeitsfaktoren, vom Selbstverständnis des Rollenträgers ab. Neben dem Rollenübernehmen findet immer auch Rollenmachen statt, denn Rollenerwartungen sind kaum jemals eindeutig und stets in der Interpretation bedürftig und müssen in jeder Kommunikationssituation neu ausformuliert werden (Turner, 1987). Der aktive Umgang mit Rollenerwartungen aus einem bestimmten Selbstverständnis heraus führt zu einer flexiblen Gestaltung der eigenen Rolle. Die Gestaltung des eigenen Rollenverhaltens ist an die Frage gebunden: »Wie finde ich angesichts der Erwartungen von verschiedenen Seiten zu einem bestimmten Selbstverständnis und daraus meine eigene Rolle?« Das Selbstverständnis des Menschen ist seine Einstellung zu sich. Wie eine Person zu sich selber eingestellt ist, sich selber in einer Rolle versteht, bedingt mit, wie die anderen sich zu ihr einstellen und welchen Einfluss die Person gewinnt. Voraussetzung für eine gelingende, vollständige Kommunikation in diesem Zusammenhang ist, dass alle Partner sich über ihre Rollenbeziehungen einig sein müssen – wenn einer der Anbieter einer Leistung ist, muss der andere der Kunde sein, ist der eine ein Professor für die Lehre, dann ist das Gegenüber der Student etc. Gelingende Kommunikation erfordert deshalb eine Einigkeit über die Art der Situation, in der sich die Kommunikationsteilnehmer befinden. Darüber hinaus müssen sie bereit sein, den Erwartungen zu entsprechen, die an eine sozial definierte Rolle gestellt werden. Störungen in der Kommunikation im Team, aber auch mit Patienten resultieren häufig daraus, dass die Rollenerwartung nicht bekannt ist oder nicht erfüllt bzw. verweigert wird. Der psychologische Kontrakt über die Rollenbeziehungen stellt eine Realität mit bedeutenden Konsequenzen dar. Nicht wahrgenommene Erwartungen der Gegenseite oder die Weigerung, Rollenbeziehungen zu akzeptieren, wie es bei Mitgliedern von Teams immer wieder beobachtet wird, führen zu (Rollen-)Konflikten. Wo die

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angebotene Rollenbeziehung missverstanden oder lächerlich gemacht wird, kann keine gültige Kommunikation stattfinden. Ungültige oder unvollständige Kommunikation kann auch aus einer Rollenambiguität entstehen. Der Sender oder der Empfänger erlebt seine oder die Rolle des anderen als mehrdeutig, unklar oder unbestimmt. Es fehlt der klare Konsens bezüglich der Rollenerwartungen; dies stellt eine mögliche Quelle der Unsicherheit dar. Derjenige weiß dann nicht, was er tun soll und wie andere sich ihm gegenüber verhalten werden. Ein Krankenpflegeschüler hat seinen Einsatz auf der Palliativstation. Ihm werden die Grundlagen der Arbeit erklärt, auch die Tatsache, dass es im Palliativteam eine flache Hierarchie gebe. Jeder werde hier gleichermaßen gehört und dürfe sich einbringen. In der Übergabe, die der Pflegeleiter moderiert, mischt sich der Schüler ein, berichtet über den Patienten, prahlt mit seinem guten Kontakt und Wissen über ihn, reißt das Gespräch an sich und versucht, die Übergabe zu übernehmen. Der Pflegeleiter zieht sich irritiert zurück, die anderen Kollegen schweigen; der Schüler erhält keine Rückmeldung, wird im Verlauf des Tages immer stiller und weiß nicht, wie er mit der Situation umgehen soll. Als eine Kollegin ihn später darauf anspricht, erklärt er, dass er geglaubt habe, hier seien alle gleich. Es habe ihn sehr gefreut, dass seine Eindrücke endlich auch einmal einfach so Gehör fänden. Erst durch das Erklären von Übergaberegeln, Rollenverteilung und damit verbundenen Redeaufträgen und Redezeiten kann der Schüler seine Position im Ganzen wieder einordnen. Rollenambiguität lässt sich auch am Beispiel symmetrischer und komplementärer Kommunikation verdeutlichen: Symmetrische Kommunikation liegt vor, wenn beide Partner einander als gleichwertig oder ebenbürtig erachten, sei es nun aufgrund zugeschriebener oder erworbener Fähigkeiten. Die komplementäre Beziehungsform bezeichnet hingegen ein Über- und Unterordnungsverhältnis, wie es zwischen Eltern und Kindern, Arzt und Patient, Lehrer und Schüler besteht. Ein Großteil institutionellen Lernens vollzieht sich komplementär. So sind nach traditioneller Auffassung der Status und die Rolle von Patient, Zugehörigen, Schülern, Pflegenden und Ärzten komplementär ergänzend aufeinander bezogen. Der Patient und seine Zugehörigen erleben den Arzt und die Krankenschwester, den Seelsorger und Sozialarbeiter aus ihrer Sicht als den aktiven, dominierenden Partner. Sie glauben nicht nur, dass der Arzt und die anderen oben Genannten mit ihrem besonderen Wissen und Können Macht über sie haben, sondern erwarten insgeheim diese Macht, wenn nicht manches Mal sogar Allmacht. Das soziale System konditioniert den Menschen dazu, dass er im Titel, im Kittel und in allen anderen vom System getragenen Symbolen den Beweis sieht, dass der Träger oder Besitzer kompetent ist. Rollen und die aus ihnen entstehenden Kommunikationen werden nicht durch persönliche Motive, sondern durch Erwartungen definiert; dazu gehört auch die Erwartung des Patienten.

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Die Rolle, die der Patient einnimmt, bestimmt zu einem Teil – vor allem in den informellen Aspekten, die nicht durch Rechte und Pflichten geregelt sind – die Komplementärrolle des Gegenübers und damit dessen Verhalten auch an anderen Orten und in anderen Kontexten. Dies ist eine Kommunikationsregel von größter praktischer Bedeutung. Die Verführung besteht dann darin, die Komplementärrolle im Patientenkontakt automatisch und unreflektiert in die Teamkommunikation zu übernehmen. Eine Sozialarbeiterin wird zu einem Patienten gerufen, der sehr verzweifelt ist und eine große Verweigerung gegenüber dem Fortschreiten seiner Erkrankung zeigt. Im Gespräch mit ihr äußert er seine Befürchtungen, seiner Frau und seinen Kindern nur Schulden zu hinterlassen, weil er noch nichts geregelt habe. Erst müsse unbedingt noch das Haus fertig gebaut sein, vorher könne er nicht sterben. Nach Klärung der Situation und eingehender Beratung weiß der Patient, was zu tun ist. Ihm wird deutlich, dass seine Befürchtungen im Hinblick auf die Schulden unberechtigt sind. Er beginnt in Folge sehr aktiv, sich mit seiner Situation auseinanderzusetzen, und regelt mit großem Einsatz und mit Umsicht alles, was zu tun ist. Er ist sehr dankbar und sagt, sie sei die wichtigste Person auf der Station für ihn. In der anschließenden Übergabe ist die Sozialarbeiterin ungewöhnlich dominant. Sie schlägt bei allen Patienten neue Behandlungsansätze vor und versucht machtvoll, diese im Team durchzusetzen. Aus einer komplementären Kommunikation heraus sind z. B. Entscheidungsprozesse, die das Ziel haben, von allen mitgetragen zu werden, zum Scheitern verurteilt. In der palliativen und hospizlichen Arbeit spielt die symmetrische Kommunikation eine große Rolle. Bevor die Kommunikationspartner in eine symmetrische Kommunikation wechseln, müssen ihre gegenseitigen Rollenerwartungen definiert und ggf. neu geklärt werden. Erst muss jeder seine Gesamtverantwortlichkeit, d. h. seine Verantwortlichkeit in allen Teilen des beruflichen Feldes, zurückerhalten, bevor alle symmetrisch kommunizieren können. Rollen, Verantwortlichkeit und Delegation müssen klar und verbindlich umrissen sein, bevor Menschen konstruktiv im Team miteinander arbeiten können. Der Anfang dieser Rollenklärung liegt aber weder bei der Institution noch beim Team, sondern zunächst bei jedem selbst. Wenn jedem bewusst wird, wie er sich selbst versteht, dann versteht er auch das Verhalten anderer ihm gegenüber besser; je weniger ihm klar ist, wie er sich versteht und in seiner Rolle definiert, umso häufiger und unverständlicher sind die Überraschungen (z. B. Interessengegensätze, Zielkonflikte, Dysfunktionalitäten, Widerstände), sodass seine Gesprächspartner sich ihm gegenüber nicht so verhalten, wie er es erwartet. Jene Aufforderung, die am Tempel zu Delphi eingemeißelt war: »Erkenne dich selbst!«, gilt für jeden Menschen, innerhalb und außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit. Wenn Menschen immer wieder Schwierigkeiten in kommunikativen Beziehungen erleben, ist es dringend geboten, sich mit den Funktionserwartungen anderer und der eigenen Selbstverständlichkeit auseinanderzusetzen.

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Folgende Fragen sind hilfreich: – Inwiefern erlebe ich immer wieder ähnliche Schwierigkeiten? – Inwiefern erlebe ich in verschiedenen Gruppen verschiedene Schwierigkeiten (bzw. in einer Gruppe Schwierigkeiten, in anderen nicht)? – Was haben diese Schwierigkeiten mit mir und mit der jeweiligen Gruppe zu tun? Die eigenen Rollen erkennen und flexibel gestalten können, persönliche Defizite analysieren, Verhaltensalternativen entwickeln und erproben, Kommunikation verbessern, Konflikte wahrnehmen, analysieren und kreativ nutzen, soziale Situationen unverfälscht wahrnehmen – sich um sachliche Kenntnisse und Fertigkeiten zu bemühen, ist kein überflüssiges oder weltfremdes Anliegen. Der Weg zu diesem Ziel führt notwendigerweise über das eigene Selbstverständnis und vor allem auch das eigene Selbstbewusstsein.

5 Eine gemeinsame Wirklichkeit herstellen Bei Durchsicht einer Dokumentation im ambulanten Hospizdienst fanden sich im Assessment und Begleitungsverlauf eines Patienten verschiedene Einträge, die den Eindruck vermitteln konnten, es handele sich nicht um einen Patienten, sondern um zwei, und man habe versehentlich die Akten verwechselt und die jeweils passende Anmerkung in die unpassende Kladde gesteckt. Es handelte sich um einen 55-jährigen Mann mit einer Kopf-Hals-Geschwulst, der unter Schmerzen und dauernder Übelkeit litt und dessen exulzerierender Tumor große pflegerische Probleme mit sich brachte, die von der betreuenden Sozialstation wahrscheinlich nicht gelöst werden konnten. Hinzu kam eine desolate familiäre Situation, die ihn gelegentlich sehr aggressiv stimmte und die ein Verweilen zu Hause in der letzten Lebensphase unmöglich machte. Weiter unten in der Dokumentation wurde von einem stillen Menschen berichtet, der viel Zeit lesend verbringe, der seinen Krankheitsverlauf und seine Krankheitsbearbeitung Tagebuch schreibend reflektiere und dessen Hauptanliegen es sei, die Erinnerungen an ausgedehnte frühere Reisen mit Fotos und Texten den Enkeln im Nachlass zu dokumentieren. Die verschiedenen Sichtweisen und somit unterschiedliche Wirklichkeit ein und desselben Patienten hatten sich dadurch ergeben, dass im ersten Teil der Hospizarzt die Eintragung getätigt und im zweiten Teil die Sozialarbeiterin ihre Anmerkungen niedergeschrieben hatte. Der gesamte problemrelevante Kontext des Patienten wurde aufgenommen, im ersten Teil waren die Defizite und Probleme betont, im zweiten die Ressourcen. Sowohl medizinisch-pflegerische als auch psychosoziale Diagnosestellungen können nur subjektive Konstrukte und Ausschnitte von Wirklichkeitserfassung sein, die sich auf aus-

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gewählte Theorie-Praxis-Erkenntnisse stützen. Im Gegensatz zum medizinischen Krankheitsmodell, wo Diagnosen eher defektorientiert sind (»Was fehlt Ihnen?«), werden in der sozialen Arbeit Diagnosen eher auf die Untersuchung, Bewertung und Nutzung intakter Gegebenheiten ausgerichtet (»Was haben Sie zur Verfügung?«). Aus den verschiedenen Funktionsbereichen und Sichtweisen im multidisziplinären Team können sich Schwierigkeiten in der Kommunikation ergeben. Zum einen hat der Patient verschiedene Adressaten. Ebenso wie wir in unserem privaten Lebensbereich wissen, mit wem wir welches Problem besprechen und mit wem wir ein Gespräch darüber tunlichst vermeiden, weiß auch der Patient, welche Fragen er bei welchem Teammitglied anklingen lässt. Mit einem Seelsorger wird der Patient wohl kaum Bedürfnisse der Pflege erörtern, ebenso wie er in der Regel gegenüber dem Arzt weniger spirituelle Fragen oder Erlebnisse mit seiner Kirche thematisieren wird. Persönlichkeit und Rolle des jeweiligen Funktionsträgers bieten diese Informationsteilung an. Zum anderen ist es aber umgekehrt genauso: Die Pflegeperson wird im Patienten und in seiner Krankengeschichte – abgestimmt auf ihr berufliches Feld – andere Dinge sehen und bewerten als der Seelsorger, der Arzt wiederum andere als der Sozialarbeiter. Am Beispiel einer Diskussion über den Begriff »Lebensqualität« soll dies stark vereinfacht dargestellt werden: Arzt: »Für mich bedeutet Lebensqualität, wenn der Patient schmerz- und symptomarm ist und damit sein Leben bis zuletzt aktiv gestalten kann.« Seelsorger: »Lebensqualität bedeutet für mich, dass sich das Leben abschließend ordnet und dass der Patient seine letzte Lebensphase innerhalb eines Sinnzusammenhanges sehen kann. Schmerzen in einem gewissen Maß könnten auch da einen Sinn haben.« Sozialarbeiter: »Lebensqualität bedeutet für mich, wenn die Beziehungen geklärt sind und die Stabilität des Gesamtsystems gelingt.« Krankenschwester: »Lebensqualität bedeutet für mich, wenn die Würde des Menschen – vor allem auch körperlich – gewährleistet ist und er damit im wahrsten Sinne des Wortes auch in der letzten Lebensphase ge-pflegt wirkt und ist.« Es geht nicht darum, wer mit seiner Auffassung Recht hat oder nicht. Entscheidend ist, dass aufgrund der Profession ein Betreuungsauftrag besteht, der auch das Handeln bestimmt. So kann jeder, aufgrund seiner beruflichen Sichtweise, zunächst einmal unabhängig von den Wünschen des Patienten und seiner Zugehörigen, einen anderen Zugang zum Thema Lebensqualität haben. Jede Berufsgruppe hat gemäß ihrer Ausbildung eine bestimmte Perspektive, durch die sie den Patienten betrachtet; jeder Einzelne ist sich dabei aber zu selten bewusst, dass seine spezifische Sichtweise nur eine zusammenfassende Verarbeitung seiner ureigenen Erfahrungen sein kann. Diese Einschränkung zu erkennen, anzuerkennen und zu akzeptieren, ist somit ein wesentliches Gebot in der hospizlichen und palliativen Kommunikation. Jede Perspektive vermittelt eine bestimmte Wirklichkeitssicht, die

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durch die eigene nicht unbedingt erfasst werden kann. Die Akzeptanz der unterschiedlichen Wirklichkeiten und das Einfühlen in die jeweils andere führen zu einem vertieften Verständnis der Situation und letztlich zu einer gemeinsamen Wirklichkeit. Gerade diese unterschiedlichen Sichtweisen ergänzen einander immer da, wo andere Teammitglieder bei der Bearbeitung von Problemlagen Sichtweisen gar nicht oder nur verkürzt in den Blick nehmen.

6 Gemeinsame Spielregeln finden Gelingende Teamkommunikation versteht, dass es keine absolute Wirklichkeit, sondern nur eine aus subjektiven, zum Teil widersprüchlichen Wirklichkeitsauffassungen gebaute Arbeitswirklichkeit gibt. Wer die Spielregeln des Schachspiels kennt, kann als Spieler oder Zuschauer an der gemeinsamen Arbeitswirklichkeit »Schachspiel« teilnehmen, weil er Insider ist. Menschen, denen die Regeln unbekannt sind, bleiben Outsider, für die ein Schachspiel eine vollkommen unverständliche Wirklichkeit darstellt. Das Problem der Kommunikation lässt sich also als Suche nach gemeinsamen Spielregeln formulieren. Das Finden einer gemeinsamen Wirklichkeit ist daher die Grundlage der Kommunikation zwischen allen Beteiligten. Erst wenn diese gelungen oder eine Annäherung geschehen ist, können Menschen einander verstehen und richtig miteinander umgehen. Die Aufgabe aller Teammitglieder besteht darin, für die Benennung und das Zusammenfügen der verschiedenen Wirklichkeiten einen gemeinsamen Code, gemeinsame Regeln zu finden. Hat ein Team sich nun mühsam auf eine gemeinsame Wirklichkeit geeinigt, bedeutet dies noch nicht automatisch, die eine gemeinsame Sprache gefunden zu haben. Hier wartet eine weitere kommunikative Anforderung. Häufig ist das Miss-Verständnis der Normalfall von Kommunikation. Man ist irritiert und verärgert über die fehlende Bereitschaft zur Zusammenarbeit, äußert sich abwehrend oder -wertend über die Kollegen. Die Unfähigkeit, gemeinsame Aussagen hervorzubringen, hat seinen Grund in dem Irrtum, dass man glaubt, die gleiche Sprache zu sprechen, wenn man die gleiche Ausbildung absolviert hat oder im gleichen Feld arbeitet. Nicht die gleiche Sprache zu sprechen, selbst wenn das benutzte Sprachsystem das Gleiche ist, bedeutet, dass man einerseits nicht in der Lage ist, sein eigenes Bezugssystem zu verlassen, wenn man mit dem anderen spricht, und dass man andererseits alles, was der andere sagt, vor dem Hintergrund des eigenen Bezugssystems sieht. Dies bewirkt eine regelrechte Verzerrung des Sinnes und ein mangelhaftes Auffassungsvermögen. Es impliziert die automatische Bestätigung dessen, was man schon vorher dachte. Bei den Vorschlägen zur angestrebten Herstellung eines Konsensus bzw. zur Verständigung zwischen den Fachdisziplinen kommt es nicht darauf an, einen weiteren Fachjargon des Sterbens zu finden oder etwa eine neue Art zu reden, sondern eine Anleitung, die inneren Voraussetzungen eines Dialogs zu erweitern. Eine solche Voraussetzung ist z. B. die grundsätzliche Akzeptanz der Person und Rolle des Kollegen.

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In erster Linie ist hier die gegenseitige Wertschätzung zu nennen. Diese erweist ihre Tragfähigkeit weniger in Zeiten von Harmonie und Konsens, sondern besonders in Problemgesprächen, die es in ausreichendem Maße in jedem Teamkontext gibt und geben muss, um eben gemeinsame Wirklichkeit herzustellen und einen sprachlich verständlichen Austausch zu finden. Voraussetzungen für die Möglichkeiten eines hilfreichen Austauschs werden im Folgenden dargestellt. 6.1 Die Sprache der Annahme

Den anderen als Person akzeptieren, dem Gesprächspartner mitteilen: »Ich akzeptiere Sie als Person und respektiere Ihre Ideen, Gedanken, Gefühle und Empfindungen«, ist keine Gesprächstechnik, sondern drückt eine grundlegende Einstellung und Haltung gegenüber dem Gesprächspartner aus. Daher kann die Sprache der Annahme nur unzureichend durch formale Gesprächsmethoden beschrieben werden. 6.2 Verhaltensziel »hilfreich sein«

Im Problemgespräch ist es das Hauptziel, den Gesprächspartner dabei zu unterstützen, das Problem für sich zu klären und zu lösen. Ob das Verhalten hilfreich ist, entscheidet letztlich der Gesprächspartner, er fühlt, ob er das Verhalten als hilfreich empfindet. 6.3 Sich Zeit nehmen für Problemgespräche

Problemgespräche können nicht unter Zeitdruck stattfinden. Sie sind nicht geeignet zum schnellen Lösen kurzfristiger Probleme oder zum Treffen schneller Entscheidungen. Der Hinweis darauf: »Das Problem ist mir so wichtig, das besprechen wir später«, ist eine wesentliche Grundhaltung. 6.4 Einen störfreien Rückzugsort für Problemgespräche

Problemgespräche benötigen einen Raum, in dem keine Störungen von außen stattfinden. Dazu gehören ein Schild an der Tür »Bitte nicht stören« ebenso wie das Ausschalten des Telefons. Es muss sichergestellt werden, dass sich die Gesprächspartner aufeinander konzentrieren können und nicht von außen abgelenkt werden. 6.5 Keine Manipulation

Wesentlich ist der bewusste Verzicht auf Manipulation. Manipulatives Kommunikationsverhalten ist nicht geeignet, um zur Lösung von unterschiedlichen Anschauungen oder Sprachgebräuchen beizutragen. Es handelt sich hierbei um Kommunikationsformen, die an der Beibehaltung des eigenen Standpunktes festhalten. Beispiele solcher am Sieg-/Niederlage-Modell orientierter Kommunikation sind sogenannte Killerphrasen, die darauf abzielen, dem Kontrahenten keine gleichwertige Gegenposition zu belassen, sondern ihn von vornherein in die Rolle des Unterlegenen zu bringen. Verräterische Ansätze für manipulativen Sprachstil sind:

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»Für Sie als Schwester ist es unverständlich, dass Sie …« »Sie werden zugeben, dass …« »Es ist doch faktisch so, dass …« »Auch Sie werden nicht darum herum kommen …« »Durch Ihre Worte geben Sie zu erkennen, dass Sie ein … sind« (zu jemandem, der fachlich-wissenschaftlich nicht über spezielle Kenntnisse verfügt). »Wissenschaftliche Ergebnisse haben gezeigt, dass …« »Wie bei jeder Gruppe können wir auch hier feststellen, dass …« »Wie doch jeder weiß …« »Sie können sich doch nicht der Logik verschließen und deshalb …« »Die jetzige Situation fordert …« »Als fähiger Arzt müssten Sie …« »Das ist nicht machbar!« »Dazu fehlt Ihnen die Erfahrung!« »Das ist grundsätzlich richtig, bitte bedenken Sie jedoch unsere besondere Situation …« »Bekanntlich ist es so, dass …«

7 Wirksame Lösungen Durch die folgende grundlegende Einstellung bei Problemgesprächen können in Teams am ehesten sinnvolle und wirksame Lösungen für die Regelungen von Sach- und Sprachproblemen gefunden werden: – Offenheit und Echtheit statt Verschlossenheit und Fassadenhaftigkeit, – Verständnis und Einfühlungsvermögen statt Verständnislosigkeit und Belehrenwollen, – emotionale Wärme, Akzeptanz und Wertschätzung statt emotionaler Kälte, Ablehnung und Geringschätzung, – Hilfsbereitschaft, Engagement und Interesse am Gesprächspartner statt routinehaftem Verhalten und Desinteresse am Gesprächspartner, – positive Einstellung zum Konflikt (als Lernmöglichkeit sehen) statt Konfliktvermeidung um jeden Preis (»Probleme unter den Teppich kehren«), – Optimismus, Betonung des Positiven, Vertrauen in die Fähigkeiten und die Bereitschaft des Partners, positiven Vorschuss geben statt Pessimismus, Fehlerorientiertheit, Negativismus und Geringschätzung des Partners.

Literatur Gisbertz, V. (1995). Von der unsagbaren Leidlichkeit des Seins. Unveröffentlichtes Manuskript. Bonn. Turner, R. H. (1987). Role-taking, role standpoint, and reference-group behaviour. Amer. J. of Sociology, 61, 316–328.

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Literaturempfehlungen Frankl, V. (1995). Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. Serie Piper 289. München: Piper. Gellert, M., Novack, C. (2002). Teamarbeit – Teamentwicklung – Teamberatung. Ein Praxisbuch für die Arbeit in und mit Teams. Meezen: Limmer-Verlag. MacKey, R. C., Matsuno, K., Mulligan, J. (1991). Communication problems between doctors and nurses. Qual. Assur. Health Care, 3, 11–19. Müller, M. (2004). Dem Sterben Leben geben. Die Begleitung sterbender und trauernder Menschen als spiritueller Weg. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Oehme, C. (1944). Über Altern und Tod. In Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse (S. 3–24). Heidelberg: Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Watzlawick, P., Beavin, J., Jackson, D. (1969). Menschliche Kommunikation. Bern: Verlag Hans Huber. Weisbach, C. R. (2001). Professionelle Gesprächsführung. Ein praxisnahes Lese- und Übungsbuch. München: Deutscher Taschenbuchverlag. Weizsäcker, V. von. (1968). Begegnungen und Entscheidungen. Gesammelte Schriften (Bd. 1). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Wirkungen und Nebenwirkungen Hospizliche Arbeit und Familie Ellen Üblagger

1 Das ganz normale Chaos als Schutz gegen zu viel Tod Eine meiner wesentlichen Kraftquellen in meinem Leben und einen Ausgleich zu meiner beruflichen Tätigkeit im Helga-Treichl-Hospiz in Salzburg stellt meine Familie für mich dar, bestehend aus meinem Mann und den drei Kindern Daniel (23 Jahre), Gunda (14 Jahre) und Bernd (13 Jahre). Die Familie bedeutet für mich Erdung und gibt mir das Gefühl eines sicheren Hafens. Die Partnerschaft, die Erziehung und das Begleiten der Kinder in das Erwachsenwerden sind ein Teil meines Lebens, der mich jeden Tag aufs Neue bereichert, ins Staunen versetzt, allerdings auch fordert. Unser Alltag verläuft teilweise recht hektisch. Flexibilität, Kreativität und gelegentlich auch der Mut zur Lücke sind immer wieder bei der Organisation und Koordination der Familie gefragt. Viele berufliche Termine hindern mich manchmal daran, einen Überblick über die Ereignisse in der Schule der Kinder zu bewahren. Auf diese Weise erfahren sie, dass sie für ihr Verhalten und ihre Versäumnisse selbst verantwortlich sind, und lernen, die Konsequenzen zu tragen. Mir ist dieser Schritt des Loslassens nicht immer leicht gefallen, doch als es mir so nach und nach gelungen ist, spürte ich eine große Erleichterung, zumal mir die Kinder bewiesen, wie gut sie mit dieser Selbstständigkeit zurechtkommen. Den Kindern ist es jedoch manchmal wichtig, dass ich sie Vokabeln oder Testinhalte abfrage. Es ist nicht nur einmal passiert, dass mir während des Abfragens die Augen zugefallen sind. Meine Gelassenheit bezüglich schulischer Misserfolge und Fehlverhalten überrascht mich immer wieder aufs Neue. Gelegentlich frage ich mich, ob diese vielleicht auch mit meiner Arbeit im palliativmedizinischen Bereich zusammenhängt, da sich dadurch Wertigkeiten in meinem Leben verschoben haben. Ich ertappe mich dann dabei, dass ich mich so an der Gesundheit der Kinder freue, dass kleine Fehlschläge oder Misserfolge völlig unwichtig sind. Erlebnisse, Erfahrungen und Situationen, die mir früher nicht so wichtig waren, gewannen an Bedeutung, und andere, die mich früher belastet haben, tangieren mich nicht mehr oder in einem wesentlich geringeren Maße. In der letzten Zeit wird mir zunehmend bewusst, dass es meine Familie ist, durch die ich verwurzelt bin und die mich immer wieder auf den Boden zurückholt. In Zeiten, in denen ich viele Stunden im Hospiz verbringe, habe ich das Gefühl, als wäre meine Familie das Bindeglied zur Außenwelt. In der beruflichen Auseinandersetzung mit der Endlichkeit und den sich daraus ergebenden Sinnfragen, die mich sehr beschäftigen, bin

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ich dankbar für die Erfahrungen, die ich durch meine Tätigkeit in den vergangenen Jahren sammeln durfte. Jedoch besteht auch dadurch die Gefahr, mich allzu sehr in einer geistigen Welt zu verlieren. Der normale Familienalltag, die Orientierung an den Wünschen, Sorgen und Ängsten der Familienmitglieder, schützt mich davor, zu entwurzeln und die Bodenhaftung zu verlieren. 1.1 Familie als Anker zum Leben

Nach anstrengenden Arbeitstagen verspüre ich eine große Müdigkeit und sehne mich nach einem Ort der Ruhe und dem Gefühl, einfach »ich« sein zu dürfen, ohne dass ich Entscheidungen treffen muss, ohne mich auf komplexe Familiensysteme einlassen und mich Befindlichkeiten von Patienten, Zugehörigen und Mitarbeitern annehmen zu müssen. Ich freue mich darauf, das Hospiz zu verlassen, nach Hause zu fahren, einen Rundgang durch den Garten zu unternehmen und den Wandel der Jahreszeiten bewusst wahrzunehmen. Es tut mir gut, mich mit den Kindern zu beschäftigen. Es ist befreiend und entlastend, über ihre Witze, Scherze und kleinen Streiche zu lachen. Das ist ein Stückchen Alltag, den ich oft ganz tief in mich aufsauge. In diesen Situationen genieße ich das Dasein mit der Familie und bin froh, um diese Normalität, die mir das Familienleben gibt. Bedingt durch die zeitintensiven Berufe von meinem Mann und mir, verbringen wir als Familie leider oft zu wenig Zeit miteinander. Darum sind wir bemüht, Freiräume der Ruhe im Alltag zu schaffen, die dem Gedankenaustausch dienen, wie gemeinsame Mahlzeiten, Ausflüge und unsere Urlaube. Und das ist genau das, was ich dann so genieße und schätze: Alltagsgespräche, am Fußballfeld stehen und mit den anderen Müttern unsere Söhne anfeuern, den Kindern beim Musizieren zuhören, unbeschwerte Stunden mit Freundinnen und Zeit in der Natur verbringen. Dies hilft mir beim »Abschalten« und gibt mir viel neue Energie. 1.2 Familie als Trost und Stütze

In diesen miteinander verbrachten Stunden versuchen wir, einander zuzuhören und uns damit Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken. Wir erfahren, was den anderen gerade beschäftigt und was ihm im Moment guttut oder helfen würde. Auch Begegnungen der Stille, des Schweigens und das Spüren von Nähe können sehr tröstlich sein. Lassen wir die Kinder an unseren Zweifeln und Unsicherheiten teilhaben, entstehen oft interessante, lebendige und bereichernde Gespräche. Die Kinder erweisen sich oft als weise Ratgeber, ohne dass es ihnen bewusst ist. Jedoch kenne ich auch die Erfahrung, dass ich gelegentlich eine innere Anspannung spüre, wenn sich zu Hause Probleme und schwierige Situationen ergeben. Hier muss ich achtsam sein, dass ich ihre Besorgnisse nicht unterschätze, bagatellisiere oder als kleinlich abtue. Manchmal ertappe ich mich, dass ich nicht mit meiner ganzen Aufmerksamkeit bei der Situation bin.

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2 Eine fremde Welt Was bedeutet für meinen Mann und die Kinder meine Arbeit im Hospiz und die fast tägliche Beschäftigung mit dem Thema Tod und Sterben? Wie haben sie meine Entwicklung seit meinem Einlassen auf diese Thematik erlebt? Die vielfältigen Erfahrungen in meiner Arbeit brachten in mir einiges in Bewegung. Ich habe das Gefühl, mich auf einen Weg gemacht zu haben, den ich als sehr bereichernd erlebe und der mich immer wieder in Staunen versetzt, auch manchmal verunsichert und verwirrt. Das Thema Trauer und die sich daraus ergebende Suche nach meinem Lebenssinn und den Kraftquellen ließen mich einige Selbsterfahrungsseminare belegen. Meine Familie sorgt sich, dass ich mich in einer ihr fremden Welt »verlaufe«. Sie befürchten, dass meine Lebensanschauung und ihre dann nicht mehr zusammenpassen. Auch jetzt ist mir die Konstellation »ich« auf der einen Seite und »mein Mann und die Kinder« auf der anderen Seite öfter bewusst. Diese Erkenntnis beunruhigt mich und zeigt mir, dass ich vorsichtig sein muss, damit sich dieser Spalt nicht vergrößert. Ich glaube, dass es uns, die wir im palliativmedizinischen Bereich arbeiten, nicht immer bewusst ist, in welchem Ausmaß diese Arbeit und die tägliche Auseinandersetzung mit dem Sterben und dem Tod uns als Menschen beeinflusst und verändert – in unserer Persönlichkeit, unserer Verletzlichkeit, unserem Empfinden, unseren Wertvorstellungen. Jeder von uns entwickelt eine Strategie, um mit diesem so vielschichtigen Thema im Alltag umgehen zu können. Es ist für mich die Frage, ob unser Partner und unsere Kinder diese Veränderungen mitgehen können. Es liegt an uns, immer wieder einmal innezuhalten und zu hinterfragen, wo stehen meine Angehörigen, meine Familie, wie erleben sie meinen beruflichen Alltag und die sich daraus ergebende Entwicklung meiner Person. Eine Kollegin hat mir einmal erzählt, dass ihr Mann eines Abends zu ihr gesagt habe, ob sie sich eigentlich bewusst sei, wie es ihm gehe, wenn sie nach Hause komme und ihm berichte, dass sie soeben einen Verstorbenen gewaschen und angekleidet habe? Immer wieder habe ich mir die Frage gestellt: Wirkt sich meine Arbeit auf die Einstellung meiner Kinder zu dem Thema Sterben und Tod aus? Verändert sich dadurch der Blickwinkel der Kinder und der Umgang mit dieser Thematik? Ich erinnere mich an eine Situation: Ich kam vom Hospiz nach Hause, die Familie saß beim Abendessen und plötzlich fragte mein Sohn so nebenbei: »Wie viele Menschen sind heute im Hospiz gestorben?« Mein Mann war sehr verwundert, auch etwas betroffen, mit welcher Leichtigkeit und Spontaneität diese Frage gestellt worden war. Ich antwortete meinem Sohn kurz und damit war für ihn das Thema erledigt. Nicht jedoch für meinen Mann, den es weiter beschäftigte, wie unsere Kinder mit dieser Thematik umgehen und ob sie sich hierin von anderen Kindern unterscheiden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass auch in anderen Familien über Tod und Sterben bei Tisch gesprochen wird.

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2.1 Studie

Ich habe dann später mittels eines Fragebogens versucht zu erheben, ob sich der Zugang, Umgang und die Gedanken der Kinder von palliativmedizinisch tätigen Eltern unterscheiden von denen, deren Eltern einen anderen Beruf ausüben oder in einem anderen medizinischen Bereich tätig sind. Hier kam mir mein zweiter Aufgabenbereich, nämlich meine schulärztliche Tätigkeit an einer Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik und an einer Volksschule sehr zu Hilfe, da ich an diesen Schulen meine Vergleichskinder fand. Ich entwarf einen Fragebogen, der die Thematik Tod und Sterben in mehreren Fragen (Filme, Bücher über Tod und Sterben, Tod eines Haustieres, eigene Erfahrungen, Gespräche über dieses Thema innerhalb der Familie, Vorstellung über »was nach dem Tod passiert«, Umgang mit Kummer) beinhaltete. Weiter bat ich die Kinder eine Zeichnung anzufertigen, die ihnen spontan zu diesem Thema einfiel. Ich erhielt viele fantasievolle und farbenprächtige Bilder, die mich berührten und zeigten, wie sehr sich die Kinder mit Tod und Sterben auseinandersetzen. Zwei von diesen Zeichnungen habe ich am Ende dieses Beitrags beigefügt. Ich bat die Kinder unserer Mitarbeiter und die Kinder der Teilnehmer eines Palliativkurses in Bonn sowie die Schüler zweier Klassen der Bildungsanstalt und der Volksschule, den Fragebogen auszufüllen. In der Auswertung fand ich ein paar für mich interessante Ergebnisse. Für mich die auffälligsten Erkenntnisse aus dieser Fragebogenerhebung sind, dass auch in Familien, in denen Eltern im palliativmedizinischen Bereich arbeiten, Kinder, vor allem Jungen, angeben, dass zu Hause nicht über das Sterben gesprochen wird. Die häufigste emotionale Reaktion bei den Kindern auf Gespräche über den Tod ist die Trauer, wobei der Prozentsatz in der Gruppe der Eltern, die nicht im palliativmedizinischen Bereich arbeiten, deutlich höher liegt. Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass Eltern, die palliativmedizinisch tätig sind, ihren Kindern eher das Gefühl vermitteln können, dass das Sterben ein Teil des Lebens ist, dass es Möglichkeiten gibt, auch bis zum Lebensende ein positives Lebensgefühl zu erreichen. Es ist anzunehmen, dass die Eltern, die fast täglich mit diesem Thema konfrontiert sind, die Gelassenheit, die Offenheit und auch die Bereitschaft aufbringen, sich den Fragen und Gedanken der Kinder dazu zu stellen. Wenn der Tod einen Platz im Leben bekommt, entwickeln wir eine Achtung gegenüber dem Leben und den Lebewesen und empfinden Dankbarkeit und Wertschätzung für die vielen kleinen Begebenheiten in unserem Alltag. 2.2 Das Thema Tod bei meinen Kindern

Über Tod und Sterben sprechen wir zu Hause eher selten; ich habe durch meine Arbeit erfahren, dass es sehr schwierig ist, Menschen, die nicht in diesem Bereich tätig sind, die Eindrücke und auch die vielen positiven Erlebnisse und Empfindungen wiederzugeben. In Gesellschaft höre ich meistens Sätze wie: »Wie kann man in so einem Bereich arbeiten?«, »Wie hält man das aus, ohne trübsinnig und depressiv zu werden?« In Gesprächen mit meinem Mann, die Wünsche und Erwartungen im Fall einer unheilbaren Erkrankung betreffend, sind wir bis jetzt über die Schmerzfreiheit und Symptom-

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kontrolle nicht hinausgekommen – Bereiche, die gut erfasst werden können, für die es klare Richtlinien gibt. Diese Diskussionen zeigen mir auch, dass wir nur über das sprechen können, was jeder Einzelne von uns im Moment aushält und zulässt. Es steht uns nicht zu, weiter in die Tiefe zu bohren, denn wir alle haben unsere persönlichen Schutzschichten, die wir gegenseitig respektieren sollten. Auch wenn die Auseinandersetzung mit dem Thema nicht alltäglich kommuniziert wird, so findet dennoch eine Auseinandersetzung bei den Kindern statt. Daniel, unser ältester Sohn, wurde 2011 mit dem Thema Krankheit durch die Krebserkrankung eines ehemaligen Mitschülers und mit dem Tod durch den Suizid eines Freundes konfrontiert. Es wurde ihm bewusst, welch einmaliges Geschenk die Gesundheit ist. Diese Ereignisse ließen ihn auf sein bisheriges Leben zurückblicken. Es beruhigte ihn zu wissen, dass er mich und seinen Großvater jeder Zeit anrufen konnte, um zu reden. Ich bat Daniel seine Gedanken über die Bedeutung meiner palliativmedizinischen Tätigkeit für sein Leben niederzuschreiben. Seine Überlegungen hierzu sind: »Ich musste zuerst einmal nachdenken, was sich geändert hat, seitdem meine Mutter im Hospiz zu arbeiten begonnen hat. Im Allgemeinen glaube ich, dass in unserer Familie immer offen mit dem Thema Sterben und Tod umgegangen wurde. Von den Ängsten, die in meiner Kindheit aufgetaucht sind, flößte der Tod mir am meisten Furcht ein. Als meine Mama vor fünf Jahren im Hospiz zu arbeiten anfing, war ich schon 17 Jahre alt und ihre Tätigkeit interessierte mich. Deshalb erkundigte ich mich öfters nach ihrem Aufgabenbereich. Sie erzählte offen und ehrlich darüber. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass sie von sich aus über den Tod bzw. über ihre Tätigkeit zu reden begonnen hätte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ob mich ihre Arbeit beeinflusst hat, kann ich sagen, dass sie mich insofern geprägt hat, dass sie in mir ein gewisses Interesse für diese Thematik geweckt hat. Die Arbeit meiner Mutter übt sicher einen gewissen Einfluss auf meine heutige Einstellung zum Tod aus. Ich würde jetzt lügen, wenn ich sagen würde, dass ich keine Angst vor dem Tod hätte, aber ich habe auch die Notwendigkeit des Todes für unser Leben akzeptiert, denn letztendlich ist er es, der unser Leben zu etwas Besonderem macht.« Ich habe mich immer wieder gefragt, ob ich das Thema Tod und Sterben mit meinen Kindern noch ausführlicher besprechen sollte, habe diese Idee aber wieder verworfen, da sie alle sehr aufgeweckt sind, keine Scheu haben, Fragen zu stellen, und uns mit ihrer Neugierde und Unbefangenheit immer wieder in aller Deutlichkeit einen Spiegel vorhalten. Ich versuche, auf ihre Fragen einzugehen, und vertröste sie nicht, sie erhalten die Informationen, die für sie im Moment wichtig sind. Im Umgang mit meinen Kindern habe ich gelernt, dass es entscheidend ist, wie wir Erwachsene mit dem Thema umgehen, ob wir unsere Betroffenheit und Trauer zeigen und wie ehrlich und offen wir über unsere Ängste und Gefühle sprechen. Durch unser Verständnis fühlen sich die Kinder angenommen und unterstützt in ihrem gedanklichen Suchen. Je unbelasteter ein Kind

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seine ganz persönlichen Erfahrungen sammeln kann, desto mehr Sicherheit und Selbstvertrauen gewinnt es beim Einschätzen von Situationen. Wenn ich mich möglichst angstfrei und aufmerksam ihnen gegenüber verhalte und sie da abhole, wo sie gerade stehen, signalisiere ich ihnen Wertschätzung und Geborgenheit. Ihre Gedanken erfüllen mich oft mit Staunen, Betroffenheit oder lassen mich schmunzeln. Manchmal beneide ich sie um diese bunten Bilder, diese Lebendigkeit und Unbefangenheit, mit der sie an Probleme herangehen, und mir wird schmerzlich bewusst, wie viel wir doch davon im Erwachsenwerden verlieren. Es ist für meinen Mann und mich ein großes Geschenk, unsere Kinder begleiten zu dürfen, wenn sie die Geheimnisse des Lebens erfahren und ihre persönliche Weltanschauung entwickeln. Für diesen Schutzfaktor Familie, die mich unterstützt, hinter mir steht, meinen Alltag bereichert und sehr lebendig hält, jedoch manchmal auch stark fordert, bin ich sehr dankbar.

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Zwischen dem Sterbe-Leben und dem Lebe-Leben Persönliche Einschätzungen zum Schutzfaktor Privatleben Heiner Melching

Meine persönlichen Einschätzungen zur Bedeutung des Privatlebens als Schutzfaktor resultieren vornehmlich aus den Erfahrungen, die ich in drei unterschiedlichen Arbeitsfeldern im Kontext mit Tod und Trauer sammeln konnte. Hierzu gehören fünf Jahre Arbeit als Bestatter (in einem Institut mit ca. 600 Bestattungen jährlich), zehn Jahre Trauerbegleitung für verwaiste Eltern und Geschwister (davon acht Jahre als Leiter einer Beratungsstelle mit einem Betreuungsumfeld von bis zu 500 betroffenen Familien zeitgleich) sowie eine zweijährige Tätigkeit im Bereich der Palliativversorgung (Sozialdienst einer Palliativstation).

1 Fragen Bei der Überlegung, welche Rolle dem Privatleben (oder der Freizeit) als Schutzfaktor zukommt, um belastende Arbeitssituationen besser aushalten oder handhaben zu können, stellen sich zunächst folgende fünf Fragen: 1. Wie kann eine Abgrenzung erfolgen zwischen den verschiedenen Leben wie Arbeitsleben, Familienleben, Freizeitleben, und wie gestalten sich die Übergänge? Ist es tatsächlich so, dass ich mich aus meinem Privatleben verabschiede, sobald ich meine Arbeitsstätte betrete? Verlasse ich dieses Arbeitsleben wieder, sobald ich den Nachhauseweg antrete? Und wie wirken diese Bereiche ineinander hinein? 2. In welcher Abhängigkeit von der Arbeitswelt gestaltet sich das Privatleben? Welche Auswirkungen hat die berufliche Beschäftigung mit dem Thema Tod und Trauer auf den Freundeskreis und die Freizeitgestaltung (z. B. Besuch von Ausstellungen und kulturellen Veranstaltungen zum Arbeitsthema)? 3. Schützt mich mein Privatleben in Bezug auf belastende Arbeitssituationen oder muss ich auch (aktiv?) mein Privatleben vor diesen Belastungsfaktoren schützen? Kann ich beispielsweise meinen Freizeitpartnern meine beruflichen Todesfälle zumuten? Welche Auswirkungen haben die unterschiedlichen Reaktionen – von Bewunderung (»Wie hältst du das nur aus?«) bis zur Ablehnung (»Hast du da etwa mit richtigen Toten zu tun?«) – darauf, in welcher Form ich Arbeitserlebnisse und damit verbundene Stressoren in mein Privatleben transportiere? 4. Was können die unterschiedlichen Arten von Freizeitbeschäftigungen leisten?

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Zwischen dem Sterbe-Leben und dem Lebe-Leben

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Gibt es bestimmte, evtl. sogar kategorisierbare Formen der Freizeitgestaltung, die dazu geeignet sind, Arbeitsbelastungen zu be- oder verarbeiten, für Verdrängung oder Ablenkung zu sorgen oder eine Stärkung zu bewirken, im Sinne eines prophylaktischen Auffüllens des Ressourcentanks? 5. Unterscheidung von Freizeit/Privatleben und Familie: Wie unterscheidet sich die Bedeutung von Familie, als vermutlich stärkste Komponente des Privatlebens, und von außerfamiliärer Freizeitgestaltung in Bezug auf deren Eigenschaft als Schutzfaktor?

2 Antwortsuche 2.1 Zu 1.: Wie kann eine Abgrenzung erfolgen?

Ich kann mich gut an meine erste Begegnung mit einem Toten am zweiten Tag meiner Arbeit als Bestatter erinnern. Diese fand vor der Kühlschranktür in einer nicht gerade akkuraten Pathologie im Krankenhaus statt. Meinem erfahrenen Kollegen, der mich dorthin mitgenommen hatte, war vermutlich daran gelegen, meine Belastbarkeit zu prüfen bzw. seine eigene Unerschrockenheit zu demonstrieren. Im Nebenraum, zu dem ein großer, offener Durchgang bestand, war jemand, mit einer blutigen Gummischürze bekleidet, damit beschäftigt, irgendetwas auszuwaschen. Mein neuer Kollege erzählte mir, dass dort gerade Därme ausgespült werden. Er erklärte den beißenden Geruch (den ich auch nach zwanzig Jahren noch exakt erinnern kann) mit den großen Mengen an Formaldehyd, die dort benötigt werden, um Obduktionsfundstücke und Organe konservieren zu können. Nach dem Öffnen der Kühlboxtür und dem Herausziehen des Bleches, auf dem ein verstorbener Mann mittleren Alters mit starken Hautverfärbungen lag, schossen mir als erstes Gedanken zu meiner Familie durch den Kopf. Was wäre, wenn dort ein mir nahestehender Mensch liegen würde? Wie wird es sein, wen ich selbst einmal so zu liegen komme? Besonders erschreckend und einprägsam für mich war ein Hodenbruch gewaltigen Ausmaßes, den dieser verstobene Mann hatte. So etwas hatte ich noch nie gesehen, und ich wusste sofort, dass ich so etwas niemals haben möchte. Als wir die Pathologie und den unangenehmen Geruch verlassen hatten, waren meine ersten Worte zu meinem Kollegen: »Du glaubst gar nicht, wie ich mich darauf freue, heute nach Feierabend auf meinem Rennrad durch die frische Luft zu rasen, um diesen Geruch wieder loszuwerden.« Somit hat die Ressource Radfahren nicht erst in der Freizeit (Privatleben) ihre Wirkung entfalten können, sondern schon unmittelbar während der Belastungssituation. Und in ähnlicher Weise hat auch das Arbeitsleben in meinen Freizeitbereich hineingewirkt, weil ich mir während der besagten Rennradtour des Öfteren die Frage gestellt habe, ob der Radsport solch ein Symptom begünstige, ob man mit einem Hodenbruch noch auf einen Rennradsattel steigen könne und wie es dem Verstorbenen aus meinem Vormittagserleben vor seinem Tod wohl gegangen sein mag. Somit sind die Lebensbereiche (Freizeit und Beruf) unter der Fragestellung dieses Beitrags nicht strikt getrennt

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voneinander zu betrachten. Beide sind miteinander verwoben und wirken ineinander hinein. So werden natürlich auch Erlebnisse aus dem Privatbereich mit zur Arbeit genommen und dort möglicherweise mit Kollegen besprochen. Entscheidend scheint also zu sein, ob es gelingt, die stärkenden und schützenden Elemente, die als Ressource aus der Freizeit/dem Privatleben generiert werden, im Bedarfsfall zur Stressbewältigung abzurufen und nutzbar zu machen. Dies gilt auch für die in anderen Abschnitten dieses Buches beschriebenen Schutzfaktoren. Aaron Antonovsky beschreibt im Zuge seiner Arbeiten zur Salutogenese diese Fähigkeit eines Menschen, die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen zu nutzen, um sich gesund zu halten, als Kohärenzsinn (Sense of Coherence), den er darüber hinaus auch als eine globale Orientierung beschreibt (Antonovsky, 1997). In meinem Beispiel bedeutet das, den Stressoren »schlechte Luft« und »beengendes Gefühl« dadurch begegnen zu können, dass ein tiefes Erfahrungswissen darüber zur Verfügung steht, durch Radfahren an der frischen Luft diese Belastungsfaktoren als zeitlich begrenzt und kompensierbar betrachten zu können. Dies entspricht auch dem von Lazarus entwickelten Stressmodell, welches davon ausgeht, dass nach einer primären Einschätzung zur Bedrohlichkeit einer Situation eine sekundäre Einschätzung zu den zur Verfügung stehenden Ressourcen folgt (Primary/ Secondary Appraisal) und nur in dem Fall, in dem die Ressourcen nicht ausreichend sind, eine Stressreaktion ausgelöst wird (Lazarus, 1966; Kaluza, 2005). Je länger der Nachhauseweg ist, desto mehr Belastendes kann bereits auf diesem Weg abgeladen werden – je näher sich die Arbeit an der Privatsphäre befindet, desto leichter kann davon etwas in diesen Bereich gelangen. Ein wichtiger Aspekt, der mir in Bezug auf die Vermengung von Privat- und Berufsleben relevant erscheint, ist die räumliche Distanz. Während meiner Arbeit als Bestatter habe ich in unmittelbarer Nähe des Instituts gewohnt. Nach einigen Jahren Arbeit in dieser Stadtrandregion kannte ich in fast jeder Straße ein Haus, das ich aus beruflichen Gründen bereits von innen gesehen hatte. Ich wurde auf der Straße von Angehörigen angesprochen, und wenn mein Sohn einen neuen Freund oder Klassenkameraden vorstellte, kam es häufig vor, dass ich bereits jemanden aus dessen Familie oder Nachbarschaft beerdigt hatte. Dies hat eine Trennung der Bereiche deutlich erschwert. Hingegen hatte ich in anderen Arbeitssituationen teilweise sehr lange Arbeitswege, die mir ein Abschalten auf dem Heimweg sehr erleichtert haben. Somit stellt für mich der Arbeitsweg auch eine Art Übergangspassage dar, in der man sich mit dem Gewesenen und dem Kommenden beschäftigen kann. Je intensiver diese Passage genutzt wird – wenn man z. B. mit dem Rad zur Arbeit fährt –, desto mehr kann ihr eine Membranfunktion zukommen, in der gefiltert werden kann, was von dem einen Bereich (Arbeitswelt) mit in den anderen (Privatleben) transferiert werden soll oder muss.

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2.2 Zu 2.: In welcher Abhängigkeit von der Arbeitswelt gestaltet sich das Privatleben?

Sofern eine berufliche Tätigkeit als sinngebend oder sinnvoll erlebt wird, durchdringt diese das Privatleben sicherlich in höherem Maße, als es der Fall wäre, wenn eine Beschäftigung lediglich zur Geldbeschaffung dienen und über einen geringen Identifikationsfaktor verfügen würde. Ich vermute, dass dieses Überschwappen in die Privatsphäre (natürlich in Abhängigkeit zur Persönlichkeitsstruktur) darüber hinaus am größten ist, wenn die ausgeübte Tätigkeit in einem existenziellen Bereich (z. B. Tod, Sterben, Krisen) angesiedelt oder von starker Verantwortung geprägt ist (z. B. Polizei, Feuerwehr, Ärzte, Lehrer, Piloten usw.). Auch spielen die Dauer einer Tätigkeit und die damit verbundene Routine eine Rolle (neue Erfahrungen beschäftigen uns stärker) sowie die gesellschaftliche Akzeptanz eines Berufes. Ein Metzger oder ein Versicherungsverkäufer stößt in seinem privaten Umfeld sicherlich auf weniger Interesse für seine beruflichen Erlebnisse als ein Arzt, Polizist oder Richter. Es liegt also eine Reihe von unterschiedlichen Determinanten vor, die ein Eindringen der Arbeitswelt in das Privatleben beeinflussen. Dementsprechend unterschiedlich sind auch meine persönlichen Erfahrungen aus den verschiedenen Arbeitsbereichen, in denen ich mit dem Thema Tod und Trauer zu tun hatte. Wobei es natürlich auch Gemeinsamkeiten gab. So habe ich meine Tätigkeit in allen Fällen als sinnvoll empfunden und mich auch in meiner Freizeit sehr mit den jeweiligen Themen auseinandergesetzt. Dies bezog sich vor allem auf die Beschäftigung mit entsprechender Literatur, den Besuch von Ausstellungen, Vorträgen und Kinofilmen zu diesem Themenkomplex. Während sich mein Wissensdurst zunehmend stillte, wuchs allerdings im Familien-, Bekannten- und Freundeskreis mein Status als Fachmann zu den jeweiligen Themen. Da meine teilweise öffentlichen Aktivitäten im Bereich der Trauerbegleitung zunehmend bekannt wurden, kam es nicht selten vor, dass ich auf dem Tennisplatz von jemandem, der mich kaum kannte, gefragt wurde, ob ich nicht einmal mit seiner Schwiegermutter oder mit dem oder jenem ein Gespräch führen könne, da deren/dessen Mann, Partner, Kind, Freund kürzlich gestorben und die/der Betreffende nun nur noch traurig sei. Ich werde in meinem Privatleben auch darüber identifiziert, welcher beruflichen Tätigkeit ich nachgehe. Neben der Tatsache, dass dadurch die Arbeitswelt zusätzlich in mein Privatleben eindrang, hatte diese Erhebung zum Experten aber durchaus auch etwas Schmeichelhaftes. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich daran, dass es auch Situationen gab, in denen ich mich nahezu gekränkt fühlte, weil jemand aus dem Bekanntenkreis einen Verstorbenen nicht durch mein Institut bestatten ließ oder einen Schwerstkranken nicht auf die Palliativstation brachte, auf der ich beschäftigt war; kurzum, wenn jemand auf meinen fachkundigen Rat verzichtet hat. So gesehen habe ich, aufgrund einer hohen Identifikation mit meinen beruflichen Tätigkeiten, nicht das Ziel verfolgt, eine scharfe Abgrenzung von Beruf und Privatleben zu erreichen, die dafür hätte sorgen können, dass ich außerhalb der Arbeit nahezu keinen Gedanken mehr darauf verwende. Dennoch beschleicht mich mitunter immer

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noch eine gelegentliche Sehnsucht danach, eine möglichst stumpfsinnige Tätigkeit (evtl. irgendwo an einem Fließband) auszuüben, bei der ich nach Feierabend meine Arbeitsklamotten ausziehe und völlig frei, ohne jeglichen Gedanken an die Arbeit, in mein Privatleben entschwinde. Ich weiß natürlich auch, dass ich, sofern sich diese Sehnsucht erfüllen würde, ziemlich schnell wieder auf der Suche nach einer Arbeit wäre, die mir sinnvoll und bedeutungsgebend erscheint. Während also meine persönliche Bereitschaft zur Integration meiner Arbeitswelt in das Privatleben vorrangig vom Grad der Identifikation mit derselben abhängig ist, scheint es in Bezug auf die Akzeptanz des sozialen Umfeldes, eine solche Integration mitzutragen, andere Kriterien zu geben. Die gesellschaftliche Akzeptanz und die Angstauslöser eines Arbeitsbereiches habe ich während meiner genannten Tätigkeiten als sehr unterschiedlich erlebt, was wiederum einen erheblichen Einfluss auf das Eindringen der Arbeitswelt in das Privatleben hatte. Aus diesem Grund möchte ich diese Arbeitsfelder unter dem Gesichtspunkt der Akzeptanz und der Reaktionen meines Umfeldes kurz darstellen. 2.2.1 Bestatter Obwohl in Deutschland nahezu jeder Mensch mehr als einmal in seinem Leben Kontakt zu einem Bestatter hat, spielt dieser Beruf in der öffentlichen Wahrnehmung (als Beruf) so gut wie keine Rolle. Dafür wird es viele Gründe geben. In der Liste der angesehensten Berufe, die seit 1966 vom Allensbacher Institut regelmäßig erstellt und seither von den Ärzten angeführt wird, taucht dieser Beruf des Bestatters überhaupt nicht auf (im Jahr 2011 haben dort übrigens die Krankenschwestern den zweiten Platz ergattert). Dementsprechend irritiert hat auch zunächst mein Freundes- und Bekanntenkreis auf die Nachricht reagiert, dass ich eine Stelle in einem Bestattungsinstitut angenommen habe. Was macht man denn als Sozialpädagoge in einem Beerdigungsinstitut? Diese eigentlich naheliegende Kombination erscheint nach wie vor vielen ungewöhnlich. Die hohe psychosoziale, kommunikative und sozialrechtliche Kompetenz, die dem Bestatter zu eigen sein sollte, wird von Außenstehenden in diesem Berufsfeld kaum vermutet. Der Bestatter wird allgemeinhin auch nicht der Reihe der Gutmenschen zugeordnet, sondern mit dem Hauch des Ruchbaren und Dubiosen verbunden. Vermutlich auch, weil dort mit dem Tod Geld verdient wird, was in weiten Kreisen derer, die sich in der Versorgung Schwerstkranker, Sterbender und Trauernder engagieren, immer noch als moralisch bedenklich oder zumindest als problematisch und nicht selbstverständlich angesehen wird. Demzufolge waren die Reaktionen im Freundes- und Bekanntenkreis auch nicht von Bewunderung für das Gute, das ich Menschen durch meine Arbeit zukommen lasse, gekennzeichnet, sondern durch Unsicherheit, Skepsis und Irritation. Die häufigsten Reaktionsmuster meines privaten Umfeldes (die ich alle für normal halte) lassen sich grob in folgende drei Typen einordnen: 1. Die Verdränger: Von dieser Gruppe meiner Mitmenschen erhielt ich überwiegend Reaktionen im Sinne von: »Gut, dass du das machst – irgendjemand muss ja auch diese Arbeit machen –, aber lass uns doch lieber über etwas anderes reden.«

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2. Die locker-lustig Überspielenden: Hier gab es vornehmlich Äußerungen wie: »Na, da hast du ja einen klasse Job mit ruhigem Umfeld, ohne Reklamationen, und für deine Berufskleidung benötigst du nun auch kein Buntwaschmittel mehr.« Wie bei den meisten Menschen wurde auch hier der Beruf des Bestatters zunächst in Verbindung mit den Toten gesehen und nicht mit den Angehörigen, die eben nicht immer ruhig und durchaus zu Reklamationen in der Lage sind. Zur Begrüßung stimmten die Lockerlustigen gern mal das Lied an »here comes the man in black«, und für meine dereinstige Todesanzeige wurde bereits die Überschrift ausgewählt: »Leichen pflasterten seinen Weg.« 3. Die Verängstigten: Sorgenvolle Gesichter begegneten mir dort, und eine für mich neue Form von Berührungsängsten drückte sich in Sätzen aus, wie: »Hast du es da denn auch mit richtigen Toten zu tun? Und musst du sie etwa auch anfassen?« Hier schlummerten vermutlich tiefere Ängste, die sich aus der Befürchtung nährten, dass Menschen durch den Tod mit Gift kontaminiert würden und es nun nicht mehr bedenkenlos möglich wäre, mir die Hand zu geben, weil dort eventuell noch ein Hauch des Todes, in Form von molekularem Leichengift, auf eine Übertragungsmöglichkeit wartete. Natürlich gab es auch in allen Gruppen ein teilweise von morbidem Charme getragenes, Interesse an meiner Arbeit. Dies bezog sich dann allerdings vornehmlich auf spektakuläre Todesfälle oder auf sachliche Informationen zu Bestattungsmöglichkeiten, Pflichten und Kosten. Eine Auseinandersetzung mit psychischen Belastungsfaktoren bei Bestattern findet außerhalb und innerhalb dieses Gewerbes so gut wie nicht statt. Schutzfaktoren wie Supervision oder Ähnliches sind diesem Bereich überwiegend fremd. Somit lässt sich zusammenfassend sagen, dass meine Arbeit zu dieser Zeit sehr wohl spezielle Auswirkungen auf mein Privatleben hatte, sofern dieses sich im Zusammenspiel mit Freunden und Bekannten ereignete, da ich dort natürlich den Status eines beruflichen Sonderlings innehatte. 2.2.2 Trauerbegleiter bei den verwaisten Eltern und Geschwistern In diesem Arbeitsfeld haben mich die Dimension und die Wucht der ausgelösten Ängste bei nichtbetroffenen Menschen zunächst stark überrascht und nachhaltig sehr beeindruckt. Ich habe einige Zeit benötigt, um die Wirkungsweise der zumeist unterbewussten und versteckten Ängste dieser Menschen zu verstehen. Insbesondere das diametrale Verhältnis der Unterstützungsbereitschaft im Bereich der Kinderhospizarbeit oder der Arbeit mit trauernden Kindern gegenüber der Bereitschaft, Gruppen verwaister Eltern zu unterstützen, hat mich lange irritiert. Tatsächlich ist es so, dass durch eine Konfrontation mit verwaisten Eltern immer auch die Botschaft übermittelt wird, dass Kinder (auch die eigenen) sterblich sind, und darüber hinaus wird eine brutale Endgültigkeit dokumentiert, die auf den ersten Blick keinen Strohhalm der Hoffnung anzubieten scheint. Somit löst eine Begegnung mit diesem Thema vor allem

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bei Eltern jüngerer Kinder oftmals enorme Ängste aus. Hinzu kommt häufig noch eine nicht bewusste Form von magischem Denken, dass befürchtet wird, eine zu starke Beschäftigung mit dem Thema bzw. eine Unterstützung verwaister Eltern könne ein eigenes Schicksal heraufbeschwören oder zumindest die entstehenden Ängste zur dauerhaften Belastung anwachsen lassen. Als historisches Vorbild dieser Haltung, die mir vor allem bei den Versuchen, Unterstützung für die verwaisten Eltern zu bekommen, unerwartet oft und deutlich begegnet ist, zeigen sich die Äußerungen von Alma Mahler, die ihrem Mann (Gustav Mahler) nach dem Tod ihrer Kinder regelrecht zum Vorwurf gemacht hat, dass er mit der Komposition der »Kindertotenlieder« das Unglück geradezu heraufbeschworen habe: »Du malst den Teufel an die Wand« (Groben, 2001, S. 298). Und auch mich haben durch diese Arbeit einige zusätzliche Ängste in das Privatleben begleitet. So wurde ich zunehmend ängstlicher, wenn mein Sohn nicht pünktlich zur angekündigten Zeit nach Hause kam. Genau genommen wurde ich bereits zehn Minuten vor diesem Zeitpunkt unruhig und habe in Gedanken regelrecht Filme ablaufen sehen, in denen der (mir bekannte) Notfallseelsorger gemeinsam mit der Polizei vor meiner Tür stand, um die schreckliche Nachricht zu übermitteln. Aufgrund der vielfachen Berichte betroffener Eltern konnte ich mir den Wortlaut und die Atmosphäre recht gut ausmalen. Glücklicherweise konnte ich diese Ängste und deren Ursache offen mit meinem Sohn kommunizieren, was dazu führte, dass wir eine pragmatische Lösung für solche Situationen finden konnten. Da er in der Lage war, SMS, unbemerkt von Freunden, in der Hosentasche zu versenden, erhielt ich nun immer, wenn er sich zu verspäten drohte, frühzeitig eine Beruhigungs-SMS, die ich dann mit zunehmender Zeit immer weniger benötigte. Auch in Bezug auf das magische Denken musste ich meinen Verstand stark bemühen, als ich einen Kollegen kennenlernte, der einige Jahre nachdem er damit begonnen hatte, Verwaiste-Eltern-Gruppen zu begleiten, sein eigenes Kind beerdigen musste. Alles in allem ist es mir aber gut gelungen, diese Arbeit mit meinem Privatleben (im Sinne einer am Ende dieses Beitrags beschriebenen Balance) zu vereinbaren. Deutlich schwieriger war es hier mit den Freunden und Bekannten. Die Lockerlustigen aus der Bestatterzeit gab es bei diesem Thema nicht mehr und auch das teilweise voyeuristische Interesse an spektakulären Todesfällen trat nicht mehr zutage. Einige Freunde, die zum Teil sogar in der Palliativmedizin tätig waren, haben mich ganz offen darum gebeten, nichts von diesem Thema zu erzählen, da sie bei dem Gedanken daran regelrecht eine Gänsehaut bekämen. Auch in Gesprächsrunden mit Bekannten, bei denen ich erstmalig nach meinem Beruf gefragt wurde, war von der (wenn auch gespielten) Lockerheit, mit der dem Bestatterberuf begegnet werden konnte, nichts zu spüren. Insbesondere wenn sich auch noch Kinder in der Runde befanden, wurde von den Erwachsenen diskret versucht, das Thema zu umschiffen. Auf der anderen Seite gab es aber auch ein hohes Maß an Anerkennung und Wertschätzung für diese Arbeit, was auch dazu führte, dass ich oft gefragt wurde, wie ich das nur täglich aushalten könne. Im Gegensatz zur Arbeit als Bestatter wurde hier also eine starke psychische Belastung vermutet. Abgesehen von den Situationen, in denen

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im Bekanntenkreis ein schwerer Verlust zu verarbeiten war oder bevorstand und ich als Fachmann zu Rate gezogen wurde, spielte meine Arbeit zu dieser Zeit im Freundes- und Bekanntenkreis nur unterschwellig und nicht offen kommuniziert eine Rolle. 2.2.3 Palliativstation Hinsichtlich meines Privatlebens, vor allem in Bezug auf soziale Kontakte, war dies sicherlich der einfachste der drei Arbeitsbereiche. Die Arbeit im Krankenhaus ist bekannt und anerkannt, die Tatsache, dass sich diese Arbeit auf einer Palliativstation abspielte, erschreckte eigentlich niemanden. Es gab nach wie vor eine leichte Bewunderung aufgrund des vermeintlich schweren Themas, die noch anstieg, wenn das erschreckend niedrige Krankenhausgehalt bekannt wurde. Somit ergab sich hier die Möglichkeit, im privaten Umfeld auch über das Thema Arbeit ganz normal zu sprechen und Belastendes mit anderen zu teilen – sich mitzuteilen, wodurch eine Entlastung stattfinden und das Privatleben zum Schutzfaktor werden konnte. Einzig die Tatsache, dass in der Anfangszeit unbedeutende körperliche Beschwerden, wie z. B. ein kleines, tastbares Lipom, in Eigendiagnose fälschlicherweise schnell als Metastase diagnostiziert wurden und ein tieferes Verständnis auch für die körperlichen Aspekte schwerer Krankheiten von mir erlangt wurde, sorgte für eine überschaubare Zunahme an neuen kleinen Alltagsängsten. 2.3 Zu 3.: Bedarf es eines Schutzes des Privatlebens vor dem Arbeitsleben?

Ich denke, dass hierzu bereits vieles im vorangegangenen Abschnitt deutlich wurde. Nachdem ich relativ gut einschätzen konnte, wem ich aus meinem Umfeld welche Art von Arbeitserlebnissen zumuten konnte, habe ich entsprechende Informationen achtsam selektiert. Vereinfacht könnte man sagen, je größer das Angstpotenzial einer Arbeitssituation für mein Gegenüber zu sein schien, desto weniger habe ich in diesem Rahmen darüber kommuniziert. In diesen Fällen konnte ich belastende Begebenheiten außerhalb meiner Arbeit also ausschließlich mit meiner Familie (Ehefrau) oder mit mir selbst (im Eigendialog und bei Sport- und Freizeitbeschäftigungen) bearbeiten bzw. entlasten. 2.4 Zu 4.: Was können die unterschiedlichen Arten von Freizeitbeschäftigungen leisten?

Im Bereich der Versorgung oder Begleitung von Schwerstkranken, Sterbenden und Trauernden hat der Begleiter (oder Versorger) auch stets einen kleinen Anteil der situationsbedingten Last mitzutragen. Und zwar ungeachtet dessen, ob dadurch eine reale Entlastung für die begleitete Person entsteht. Mein Bild hierfür einspricht einem Rucksack, den wir tragen und dem durch jede Belastung, mit der wir konfrontiert werden, ein mehr oder weniger großer Belastungsstein zugeführt wird. Die Frage ist also, wie man dafür Sorge tragen kann, dass dieser Rucksack nicht zu schwer wird (ohne dass man selber einfach nur stärker werden muss), und an welcher Stelle und wodurch Ballast abgeladen werden kann. Etliches lässt sich sicherlich bereits im Arbeitsumfeld entladen,

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einiges, wie beschrieben, auf dem Nachhauseweg und manches erst im Privatleben. Dort existieren sicherlich sehr unterschiedliche und individuelle Strategien, um diesen Rucksack möglichst leer zu machen. Ich habe mir so gut wie nie bewusst überlegt, durch welche Freizeitaktivität ich welchen Stein an welcher Stelle und durch welche Strategie aus meinem Rucksack ausladen möchte. Ich habe vornehmlich intuitiv, entsprechend meines jeweiligen Bedürfnisses und im Rahmen der mir zur Verfügung stehenden Freizeitmöglichkeiten Entlastungsversuche unternommen. Dennoch kann ich rückblickend meinen unterschiedlichen Freizeitbeschäftigungen spezifische Wirkmechanismen und Kategorien zuordnen. Ein Hauptmerkmal von Aktivitäten im Privatleben ist für mich, ob ich diese mit Menschen oder ohne Mit-Menschen gestalte und mit ihnen entlastende Gespräche führen kann. Hier zeigen sich unter Umständen natürlich auch die unter 2.2 und 2.3 genannten Probleme, die dazu führen können, dass ein zur Entlastung angedachtes Gespräch im Nachhinein für zusätzliche Belastungen sorgt, da nun der jeweilige Freund/Bekannte mit Ängsten oder Ablehnung reagiert und ich ihn beruhigen oder beschwichtigen muss. Die Beschäftigungen, die ich unabhängig von Freunden und Bekannten in meiner Freizeit zur Entlastung genutzt habe, kann ich in zwei Bereiche einteilen (was grundsätzlich auch für den Bereich der Freizeitgestaltung gemeinsam mit anderen möglich ist). 1. Aktivitäten, die vorrangig zur Be- und Verarbeitung von Belastungen dienen: Um beim Bild des Rucksacks zu bleiben, bedeutet dies für mich, sich die einzelnen Steine darin genau anzuschauen, zu ergründen, was diese so schwer macht, um sie dann am richtigen Platz, außerhalb meines Rucksackes, abzulegen. Neben einer ganz bewussten Auseinandersetzung bieten hier vor allem Ausdauersportarten für mich eine wunderbare Möglichkeit eines solchen Stressabbaus. Insbesondere beim Radfahren kann ich das Erlebte gut Revue passieren lassen – noch einmal darüber nachdenken und den Gedankenfilm sogar bearbeiten und zu anderen Fantasieergebnissen hinführen (ähnlich einem imaginativen Verfahren). 2. Aktivitäten, die vorrangig zur Ablenkung (Weglenkung) dienen: Im Gegensatz zur häufigen Annahme, dass unter Ablenkung etwas Negatives zu verstehen ist, halte ich diese Fähigkeit (sofern sie sinnvoll genutzt wird) für überaus hilfreich und notwendig, um Kräfte sammeln zu können. Im Bild des Rucksacks bedeutet dies, entweder für einen Moment den gesamten Rucksack einmal zu vergessen oder aber einzelne Steine, ohne genauere Betrachtung und Analyse, einfach aus dem Rucksack herauszuschmeißen – auch wenn einige von ihnen sich dann später wieder (wie von selbst) einladen. Hierfür sind alle Beschäftigungen, die einer hohen Konzentration bedürfen (Tennis, Schach, Lesen, Pokern usw.), sowie stark sinnliche Erlebnisse wie sexuelle Begegnung, Musikhören, Tanzen sowie der Besuch von Theatervorstellungen oder Kunstausstellungen besonders hilfreich. Natürlich sind auch die klassischen Ablenkungen wie Fernsehen, Computer, Internet und die Besuche von Sportveranstaltungen diesem Segment zuzurechnen. Es kann auch durchaus hilfreich sein, sich sowohl eine Checkliste der eigenen Ressourcen anzulegen als auch eine Übersicht der Entlastungsmöglichkeiten im Privat-

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leben zu erstellen, um anhand einer solchen, stets zu erweiternden Übersicht den Schutzfaktor Privatleben besser wahrnehmen und darstellen zu können. Ein gutes Resultat aus einer solchen Beschäftigung könnte sein, dass dem Privatleben, auch in Bezug auf die Qualität der Arbeitsfähigkeit, zukünftig eine höhere Priorität beigemessen wird. In Tabelle 1 ist eine solche Checkliste dargestellt. Tabelle 1: Entlastungsstrategien im Privatleben – individuell zu erweiternde/anzupassende Liste Entlastungsstrategien Bearbeitung/Verarbeitung (bewusst und unbewusst)

Ablenkung (Weglenkung), Verdrängung, Ausblendung, Abschalten

mit Freunden, Bekannten, Familie

Entlastungsgespräche, Themendiskussionen, Tipps und Ratschläge, Informationen, erhaltener Zuspruch, Verständnis, Kritik, Lernen usw.

Sport, Spielen, Essen, Reden, Spaß haben, Trinken, Kneipe, Kino, Theater, Tanzen, Massage, Sexualität und Zärtlichkeit usw.

ohne Freunde, Bekannte, Familie

Nachdenken, Lesen, Informieren, Lernen, Fantasiereisen, Meditationen, Entspannungstechniken, Sauna, nicht stark konzentrationsabhängige Sportarten (Ausdauer) usw.

Sport, Kino, Fernsehen, Internet, Musik, Entspannen, Feiern, Spielen, Lesen, Essen, Alkohol, Kneipe, Kino, Theater, Meditationen, Entspannungstechniken, Tanzen, Sex usw.

Zum wirkungsvollen Schutzfaktor wird die Kultivierung eines auf Entlastung angelegten Privatlebens vor allem dadurch, dass die Effizienz der Entlastung erfahren wird und daraus ein Lernprozess entsteht, der es ermöglicht, den Belastungen des Berufslebens gelassener und mit Zuversicht auf die eigenen Ressourcen entgegenzusehen. Mir hat darüber hinaus auch die Erfahrung geholfen, dass ich in der Beschäftigung mit so manchem schweren Stein aus meinem Rucksack dessen großen Wert für mich zu schätzen gelernt habe. So haben die Erlebnisse, die mir insbesondere während der Arbeit bei den verwaisten Eltern und Geschwistern so manche Ängste bereitet haben, mich auch gelehrt, was ich als wirklich wichtig und wesentlich erachten möchte und wie klein manche meiner zunächst als groß empfundenen Probleme doch im Verhältnis hierzu sind. 2.5 Zu 5.: Unterscheidung von Freizeit/Privatleben und Familie

Für mich ist meine Familie (Ehefrau und Sohn) das wesentliche Korrektiv in Bezug auf arbeitsbedingte Verhaltensweisen und Persönlichkeitsentwicklungen. Besonders deutlich wurde dies während meiner Weiterbildung zum Trauerbegleiter, in dessen Folge ich mich etliche Wochenblöcke außerhalb meiner Familie mit intensiven Formen der Selbsterfahrung auseinandergesetzt habe. Wieder zu Hause angekommen, hatte

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insbesondere meine Frau mitunter das Gefühl, ein Außerirdischer wäre gelandet, so verändert wirkte ich in der ersten Zeit. Auch mein teilweise neues Bild von Menschen und Ansichten, die ich zeitweise sehr zu idealisieren geneigt war, konnte durch die Auseinandersetzung mit meiner Frau in ein verhältnismäßiges Licht gerückt werden. Auch mein Sohn trug seinen Teil zur Relativierung neuer Erkenntnisse bei. Wenn ich mal wieder zu emphatisch daher kam, hieß es gelegentlich: »Geh doch und bau dir eine Mitte, aber lass mich in Ruhe.« Neben dieser Korrektivfunktion fordert Familie aber auch bestimmte Dinge ein, wie z. B.: »Erzähl nicht immer nur von der Arbeit, arbeite nicht so viel, komm pünktlich nach Hause!« Oder auch: »Erzähl doch mal, was auf der Arbeit so los ist. Was hast du heute erlebt?« usw. Seit knapp zwei Jahren wohne ich aus beruflichen Gründen getrennt von meiner Familie in Berlin. Das hat für mich zur Folge, dass ich problemlos bis spät abends im Büro sein kann, ohne ein schlechtes Gewissen zu entwickeln, dass ich meine Familie vernachlässige. Hier entsteht für mich zunehmend die Notwendigkeit, durch eine aktivere Freizeitgestaltung dem Privatleben zu mehr Raum zu verhelfen. Im Gegensatz zur Familie muss das außerfamiliäre Privatleben also aktiv organisiert und gestaltet werden. Es bedarf einer gewissen Selbstdisziplin zur »Self Care«. Damit das gelingt, ist es für mich stets hilfreich gewesen, auch im Freizeitbereich einige Selbstverpflichtungen einzugehen, wie z. B. eine nahezu verbindliche, feste Verabredung mit Freunden zu regelmäßigen Radfahrten (jeden Mittwoch 18.00 Uhr). Auch Mitgliedschaften in Vereinen, Fitnessstudios, Theaterabos und Ähnliches können hier eine Hilfe darstellen. Wesentlich erscheint mir aber der erste Schritt, der darin liegt, dem Privatleben neben der Arbeit – und sei sie auch noch so sinnvoll, erfüllend und bedeutungsvoll – eine besondere Priorität zukommen zu lassen. Ich glaube, dass dies insbesondere Menschen aus den medizinischen und pflegerischen Bereichen relativ schwerfällt, da diese Berufsgruppen durch Ausbildung und gesellschaftliche Erwartungshaltung in einem System der Selbstausbeutung sozialisiert wurden, welches bisher den Selbstschutz und eigene Psychohygiene sträflich vernachlässigt hat. In den Arbeitsbereichen, in denen wir mit schweren Situationen konfrontiert werden, fällt häufig der Begriff von der professionellen Distanz, die wir benötigen, um das Erlebte gut bewältigen zu können und dieses nicht zu sehr in den privaten Nahbereich eindringen zu lassen. Dieses Denken, welches von der Distanz als Regulativ ausgeht und diese in den Fokus stellt, birgt aus meiner Sicht die Gefahr, sein Heil in einer kontrollierten Form der Abgrenzung zu suchen. Dies kann dann durchaus in einer extremen Form enden, wie ich sie in Teilen der Rechtsmedizin erlebt habe. Dort wurden Verstorbene des Öfteren als Sachen und nicht als Menschen betrachtet, was in mehreren Fällen z. B. dazu geführt hat, dass Eltern, manchmal mehr als ein Jahr nach dem Tod ihres Kindes, recht sachliche Briefe erhalten haben, in denen sie gefragt wurden, was mit zurückbehaltenen Körperteilen des Kindes (worüber die Betroffenen nicht informiert worden waren!) geschehen soll – »entsorgen« oder »aushändigen«? Oder es kann dazu führen, dass im Fall einer tiefen eigenen Betroffenheit, die weit in

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den privaten Bereich eindringt, das Gefühl entsteht, im Bezug auf eine professionelle Distanz gescheitert zu sein. Dies kann dann wiederum auch zur Folge haben, dass aufgrund einer gefühlten Notwendigkeit von Distanz und Abgrenzung der Versuch unternommen wird, Belastendes mit aller Gewalt zu verdrängen bzw. loszuwerden (z. B. durch Alkohol, Medikamente o. Ä.). Im Gegensatz zu dieser professionellen Distanz würde ich demgegenüber lieber von einer professionellen Nähe sprechen, die ich benötige, um mich der Dramatik einer Katastrophe und den betroffenen Menschen annähern zu können. Erst diese Nähe ermöglicht mir sowohl ein Sich-Einlassen auf die jeweilige Situation und die Bedürfnisse meines Gegenübers als auch ein Distanzieren von dieser Nähe. Professionell wird diese »An-Nähe-rung« dadurch, dass ich mit der entstehenden Nähe umzugehen weiß und mir darüber im Klaren bin, dass auch diese eine Grenze hat. Der Unterschied zum Distanzdenken liegt darin, dass jetzt von der Nähe her gedacht wird, die eben auch ihre Grenzen haben muss. Ich befinde mich somit am anderen Ende dieses Raumkontinuums (Grenze zur größtmöglichen Nähe statt Grenze zur größtmöglichen Distanz). Alles in allem geht es um einen Balanceakt zwischen Nähe und Distanz, zwischen Berührbarkeit und trotzdem abends gut schlafen können. Damit dieses Gleichgewicht gehalten werden kann, nützt es nichts, wenn der Versuch unternommen wird, eine Katastrophe, mit der wir konfrontiert werden, in ihrer Bedeutung zu reduzieren bzw. diese schön oder kleinzureden. Stattdessen müssen entsprechend der Tragweite einer Katastrophe (Belastungssituation) Ressourcen zur Verfügung stehen und genutzt werden, um das nötige Gleichgewicht herstellen zu können. Entscheidend ist also das Verhältnis von Belastung, Ressource (wozu ich auch die personenabhängige Resilienz zähle) und der Fähigkeit, die vorhandenen Ressourcen zu nutzen. Unter diesem Aspekt kann das Privatleben mit seiner Freizeit aus meiner Sicht einen erheblichen Schutzfaktor darstellen, da es sowohl als Regulator (Sind wir noch normal und sozial verträglich? Wie erlebt uns ein privates Gegenüber? usw.) als auch als erhebliche Ressourcenquelle nützlich sein kann. Für mich bedeutet dies, mein Privatleben aktiv zu gestalten, ohne dabei mein berufliches Dasein völlig von mir abzulösen, sondern dieses in einer guten Nähe-Distanz um mich zu wissen und dabei zu versuchen, es vornehmlich zur Bereicherung meines Privatlebens und nicht als weitere Belastung einzusetzen.

Literatur Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag. Groben, J. (2001). Requiem für ein Kind. Berlin: Verlag Dittrich. Kaluza, G. (2005). Stressbewältigung. Trainingsmanual zur psychologischen Gesundheitsförderung. Heidelberg: Springer. Lazarus, R. S. (1966). Psychological stress and the coping process. New York: McGraw-Hill.

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»Wenn es einem wirklich gelingen soll, einen Menschen zu einer bestimmten Stelle zu führen, muss man zuallererst darauf achten, ihn dort zu finden, wo er ist, und dort beginnen […] Das ist das Geheimnis in der Kunst des Helfens. Jeder der dies nicht kann, unterliegt einer Selbsttäuschung, wenn er meint, einem anderen helfen zu können. Um in Wahrheit einem anderen helfen zu können, muss ich mehr verstehen als er – zuallererst aber doch wohl begreifen, was er verstanden hat. Tu ich das nicht, so hilft mein größeres Verstehen ihm gar nichts. Will ich gleichwohl mein größeres Verstehen geltend machen, so ist es deshalb, weil ich eitel bin oder stolz, so dass ich im Grunde anstatt ihm zu nutzen eigentlich von ihm bewundert werden will. Alles wahre Helfen beginnt jedoch mit einer Demütigung; der Helfer muss zuerst knien vor dem, dem er helfen möchte und dann verstehen, dass helfen nicht herrschen heißt, sondern dienen, dass helfen nicht Macht- sondern Geduldausübung ist, dass die Absicht zu helfen, einem Willen gleichkommt, bis auf weiteres zu akzeptieren, im Unrecht zu bleiben und nicht zu begreifen, was der andere verstanden hat« (Kierkegaard, 1859/1964, S. 39).

1 Zum Stellenwert von Mitgefühl in der Sterbebegleitung In diesen gern und häufig bei Palliativfortbildungen zitierten Gedanken Kierkegaards, die zunächst als Anregung für Erzieher gedacht waren und erst 1859 posthum veröffentlicht wurden, wird ein Rollenverständnis für helfende Berufe beschrieben, welches für die in der Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen engagierten Menschen von großer Bedeutung ist: eine verstehende, respektierende, einfühlsame bzw. empathische Beziehung. Sie ist die Grundlage einer dienenden Fürsorge, in der es durchaus auch darum geht, den anderen zu einer bestimmten Stelle hinzuführen – wobei man allerdings immer und in besonderer Weise auch bereit sein sollte, sich selbst zurückzunehmen. Respektvolles Verstehen, empathische Kommunikation und reflektiertes Begleiten des Betroffenen und seiner Angehörigen werden als wesentliche Elemente einer inneren Grundhaltung für in der Palliativmedizin, Hospizarbeit und Sterbebegleitung tätige Menschen angesehen (Hutton, 2005; Simon, Ramsenthaler, Bausewein, Krischke und Geiss, 2009) – allerdings sind diese Fähigkeiten nicht als natürliche Begabung und selbstverständlich vorhanden, sondern müssen häufig selbst erst erlernt werden. Sie sind

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eine unverzichtbare Voraussetzung und gleichzeitig eine notwendige Ergänzung der praktischen Fähigkeiten in der Palliativversorgung zur Verbesserung der Lebensqualität. Dazu gehören die optimale Symptomkontrolle bei Atem-, Schmerz-, Ernährungs- und Angstproblemen ebenso wie der professionelle Umgang mit Inkontinenz, Verwirrtheit und Demenz oder speziellen pflegerischen Problemen, z. B. der Wundversorgung, die ergänzt werden müssen durch eine verständige Begleitung der Trauer, der psychosozialen Beratung in der Sterbesituation und der Bewältigung anderer Aufgaben. Der hohe Anspruch vieler in der Palliative Care tätigen Menschen bei der Wahrnehmung ihrer professionellen Aufgaben und in der Umsetzung des zunehmend wichtiger werdenden umfassenden Versorgungsauftrages kann nur erfüllt werden, wenn nicht nur Wissen, Techniken und Fähigkeiten beim Patienten ein- und umgesetzt werden bzw. zum Tragen kommen, sondern auch im Miteinander und Untereinander des Teams ein Ansatz zum Tragen kommt, in dem die Sorge für die Sorgenden als besondere Haltung gepflegt wird. Dies bedeutet nicht nur, dass care for the carers als wichtige interprofessionelle Aufgabe erkannt, wahrgenommen und gefördert wird, sondern auch, dass Bedingungen geschaffen werden, mit denen den Möglichkeiten, in der Selbstsorge Kraft zu finden, genügend Raum gelassen wird. Es ist nicht verwunderlich, dass Mitgefühl im Team als wichtiger Schutz- und Entlastungsfaktor angesehen wird, wenn in Grenzsituationen Konflikte, Probleme, emotionale Belastungen und Defizite auftreten, die die eigene Gesundheit bedrohen bzw. bedrohen könnten. Mitgefühl bzw. Empathie im Team durch Verstehen, Kommunikation und Respekt zum Schutz bzw. zur Entlastung des Einzelnen bzw. Stärkung eines Palliative-Care-Teams sollte allerdings von der in der Begleitung des Sterbenden geforderten Empathie als palliativ-ummantelnde Beziehungsgestaltung bei Palliativpatienten und deren Angehörigen abgegrenzt werden. Auch wenn wesentliche Elemente der Empathie in beiden Bereichen ähnlich oder gleich sind: In der mitfühlenden Sorge und Fürsorge im Team geht es weniger um eine Beziehung im Abschied, sondern um die solidarische Stabilisierung eines Ich-imAnderen, sodass durch die Beziehungen im Team nicht nur die Kräfte des anderen, sondern auch die eigenen Kräfte für die Bewältigung von gemeinsamen Aufgaben und Belastungen gefördert werden.

2 Die wissenschaftliche Entdeckung von Mitgefühl und Empathie Die im Deutschen und besonders unter helfenden Professionen synonym verwendeten Begriffe Einfühlung, Mitgefühl bzw. Empathie müssen von Mitleid und Sympathie, aber auch der Fähigkeit, sich im Sinne einer solidarischen, seelenverwandten Betroffenheit in einen anderen hineinzuversetzen bzw. mitzuleiden, abgegrenzt werden. Die Begriffe sind eng mit der sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland und den USA entwickelnden psychologisch-experimentellen Emotionsforschung verbunden wie auch mit den Gründungsvätern der wissenschaftlichen Psychologie, z. B. dem amerikanischen Experimentalpsychologen Edward Titchener (1909) und dem deutschen Philosophen

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und Begründer der ästhetischen Psychologie Theodor Lipps (1906). In den USA führte die Übersetzung des deutschen Wortes »Einfühlung« zur Neubildung des Begriffes »empathy«, um damit eine besondere Art bzw. einen Prozess des Einfühlens zu kennzeichnen, mit dem nicht nur die Nachempfindung von Emotionen, Gedanken und Absichten anderer gekennzeichnet wird, sondern der auch kognitive und emotionale Fähigkeiten umfasst, eigene Reaktionen auf die Gefühle anderer in Beziehung zu setzen. Mit Empathie wurde ursprünglich der Affekt bzw. eine »heftige Gemütsbewegung«, eine »Leidenschaft« bezeichnet. Damit war ein starkes gefühlsmäßiges Erleben, zumindest aber der begleitende lebendige Ausdruck eines solchen Erlebens gemeint. Lipps (1913) hat drei Stufen der Empathie unterschieden: zunächst die generelle Empathie, mit der die emotionale Aktivität beschrieben wird, die ein bestimmtes Objekt hervorruft, auf der zweiten Stufe wird diese Aktivität auf einen Kontext bezogen bzw. in einen Zusammenhang eingeordnet – es vollzieht sich eine »menschliche« Begegnung. Auf der dritten, der höchsten Stufe der Empathie erfolgt eine Reaktion mit Gesten, Mimik, Handlungen, Stimmungen und eigenen empathischen Ausdrucksformen. In Deutschland erfuhr zur gleichen Zeit das Wort »Mitgefühl« vor allem in philosophischen Kreisen eine Neubestimmung, um diesen Begriff deutlicher von dem bisher in der Literatur und Philosophie verwendeten Begriff der Sympathie bzw. von Mitleid, Mitempfinden und Trauer abzugrenzen. Erst im Laufe der letzten dreißig Jahre gewannen Empathie, Mitgefühl und Einfühlung als Bestandteil therapeutischer Prozesse größere Bedeutung u. a. in der klientenzentrierten Psychotherapie Carl Rogers’, der Trauerbegleitung, der Balintarbeit und Supervision. Im Lexikon philosophischer Begriffe von 1907 ist Mitgefühl »die Nachempfindung fremder Gefühle, welche aus der lebhaften Vorstellung derselben entspringt. Indem wir uns an Stelle des anderen setzen, empfinden wir dessen Gefühle nach. Die Phantasie ist also der eine, die Gleichheit der Verhältnisse der andere Faktor dabei. Das allseitigste und innigste Mitgefühl empfindet z. B. eine Mutter für ihr hilfloses junges Kind in den ersten Lebensjahren desselben; später, wenn die Vorstellungskreise des Kindes und der Mutter sich sondern, empfindet diese weniger lebhaft mit ihm. Der Kummer weckt leichter unser Mitgefühl als die lebhaft geäußerte Freude. Kinder, Kranke, Mütter sympathisieren lebhaft miteinander. Greise, die sich bei reicher Lebenserfahrung rege Empfänglichkeit bewahrt haben, besitzen viel Mitgefühl. Das monogamische Familienleben entwickelt das Mitgefühl mehr als die Polygamie. Gehen die Vorstellungskreise weit auseinander, so hört das Mitgefühl auf. Der tragische Held muss uns verständlich sein, wenn anders wir mit ihm fühlen sollen. Asketen, Verdüsterte und solche, die durch sehr gute oder sehr schlechte Fügungen isoliert von der übrigen Welt sind, haben selten Mitgefühl. Die kühle Höflichkeit, die nicht auf fremde Vorstellungskreise eingehen will, untergräbt das Mitgefühl. Im Ganzen ist das Mitgefühl durch die moderne Kultur gesteigert und zu einer Bedingung wirklicher Bildung geworden« (Kirchner, 1907). Ob und wie sich Mitgefühl, Empathie und Einfühlung differenzieren lassen bzw. ob sie identisch sind, wird heftig diskutiert. So wird in der Psychoanalyse Mitgefühl im

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Sinne von Gefühlsansteckung sehr viel stärker von Empathie und Einfühlung abgegrenzt als in der Verhaltenstherapie, während in der Sozialpsychologie mit den Begriffen mehr der Aspekt der Perspektivenübernahme verbunden wird. In der Verhaltensforschung, Neurophysiologie und Entwicklungspsychologie werden zwar die Begriffe Mitgefühl und Empathie unterschieden, lassen sich jedoch in experimentellen Situationen nicht immer scharf trennen, sodass angeborene und determinierte Fähigkeiten zur Empathie postuliert werden. So ist für den einflussreichen amerikanischen Anthropologen und Ausdrucksforscher Paul Ekman Empathie weder mit Mitgefühl noch mit Mitleid vergleichbar, da die beiden letzteren rein einseitige Emotionen sind, aber bei der Empathie noch die Reaktion auf die Emotion des anderen im Sinne Lipps hinzukommt. Ferner unterscheidet Ekman zwischen kognitiver und emotionaler Empathie: »Kognitive Empathie lässt uns erkennen, was ein anderer fühlt. Emotionale Empathie lässt uns fühlen, was der andere fühlt, und das Mitleiden bringt uns dazu, dass wir dem anderen helfen wollen« (Ekman, 2007, S. 249). Empathie und Einfühlung beinhalten die Fähigkeiten, sich mit einem anderen zu identifizieren, aber auch die Fähigkeit, sich zu distanzieren bzw. die Identifizierung zurückzunehmen. Hinzu kommt die Fähigkeit, zwischen beiden Bereichen zu oszillieren (Kutter, 1990). Dies unterscheidet Empathie vom intuitiven Verstehen von Emotionen, Handlungen und Absichten anderer, welches für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung, aber auch den Umgang mit sich selbst von großer Bedeutung ist.

3 Spiegelneurone, Emotionen und Empathie Von wichtiger Bedeutung zur neurobiologischen Erklärung von Empathie und Mitgefühl war die Entdeckung der Spiegelneurone in der Großhirnrinde bei zur Gattung der Makaken gehörenden Rhesusaffen durch den italienischen Physiologen Giacomo Rizzolatti Mitte der 1990er Jahre. Diese Spiegelneuronen werden mit einem spezifischen Resonanzsystem verglichen, das die Eigenschaft hat, in gleicher Weise zu reagieren, egal ob der Affe eine Handlung selbst ausführt oder diese bei anderen nur beobachtet. Spiegelneurone werden schon aktiviert, wenn sie Intentionen im situativen Kontext erkennen und dadurch Reaktionen oder Handlungsformen vorhersagbar werden. Auch wenn beim Menschen spezifische Spiegelneurone bisher nicht nachgewiesen werden konnten und über ein solches System beim Menschen wenig bekannt ist – und hier sicherlich noch komplexere Zusammenhänge bestehen –, scheint ähnlichen Mechanismen in bestimmten Hirnarealen bei der Entstehung von Ekel, Wut, Verachtung, Traurigkeit, Freude und anderen Basisemotionen eine Schlüsselrolle zuzufallen, d. h., erst durch die Fähigkeit, den Gefühlen und Absichten eines anderen nachzuspüren, lernen wir Gefühle zu verstehen (Rizzolatti und Sinigaglia, 2008). Die Entdeckung der Spiegelneurone und die durch sie nachgewiesene enge Verbindung von motorischen Handlungen mit visuellen und kognitiven Wahrnehmungsprozessen hat deswegen so viel Aufsehen erregt, weil diskutiert wird, ob mit den Eigen-

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schaften der Spiegelneurone oder ähnlicher Systeme ein biologisches Korrelat bzw. eine neurowissenschaftliche Erklärung für die Entstehung von Empathie, Sprache, Lernen und darüber hinaus für Kultur gefunden wurde. Da Spiegelneurone auch motorische Reaktionen abbilden können, die stark mit Emotionen und Gefühlen verbunden sind, z. B. Lachen oder Gähnen, stellen sie eine wichtige Entdeckung dar, durch die wir verstehen können, warum wir mit anderen Menschen Schmerz, Freude oder Trauer mitempfinden. Wir können dadurch besser verstehen, wie und was andere Menschen fühlen. In der wissenschaftlichen Literatur und in der Umgangssprache wird der Begriff der Empathie oft mit dem Begriff der »Perspektivenübernahme« oder »Mentalizing« gleichgesetzt. Perspektivenübernahme steht in der Psychologie mit einer »Theory of Mind« in Beziehung. Es handelt sich dabei um die Einschätzung der Intentionen und des mentalen Status (Ziele, Überzeugung, Wünsche, Bedürfnisse) des Gegenübers (theory-theory). Der Begriff Empathie bezieht sich mehr auf ein Mitfühlen der Gefühle des Gegenübers (simulation theory) (Blair, 2005). Das Erkennen und Wissen um den emotionalen Zustand des anderen Menschen kann wichtige Hinweise geben, um die Intentionen und die weiteren Handlungen des Gegenübers akkurat vorhersagen zu können; dennoch sind Mentalizing und Empathie unterschiedliche Prozesse, welche mit unterschiedlichen neuronalen Prozessen in Beziehung gebracht werden. Unter wissenschaftlichen Aspekten wird zudem zwischen affektiver und kognitiver Empathie differenziert. Allerdings scheint – und darauf deuten auch Beobachtungen und Untersuchungen beim Menschen hin – die Fähigkeit, die Perspektive anderer Menschen einnehmen zu können und ihre Intentionen vorherzusagen, eng mit der Fähigkeit verbunden zu sein, anderer Menschen Gefühle zu verstehen und damit umzugehen. Wichtig ist allerdings, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass nicht jede Wahrnehmung von Emotionen, z. B. eines schmerzverzerrten Gesichts oder von ekelhaftem Geruch oder von Angst, zu Mitgefühl führt, vielmehr scheinen emotionale Informationen in unterschiedlicher Weise gefiltert zu werden und führen  – wie phänomenologische Experimente zeigen – erst in Abhängigkeit von anderen Faktoren, z. B. Alter, Beziehung, Kultur, eigene Einstellung, zu Mitleid, Empörung, Abwehr oder Mitgefühl.

4 Mitgefühl und Empathie im sozialen Rahmen Empathie vollzieht sich nicht nur im Rahmen einer Zweierbeziehung, sondern im sozialen Rahmen bzw. kann in diesem Rahmen erst ihre Wirkung entfalten. Der Literaturwissenschaftler Fritz Breithaupt hat in seinem 2009 erschienenen Buch darauf hingewiesen, wie stark die Fähigkeit zu menschlicher Empathie durch narratives Denken geprägt ist und Narrationsfähigkeit ein wichtiger Faktor für eine gelingende, im sozialen Rahmen sich entwickelnde empathische Beziehung ist (Breithaupt, 2009). Breithaupts Konzept einer narrativen Empathie wird durch die oft gemachte Erfahrung nachvollziehbar, dass wir uns selbst und andere Menschen besser verstehen, wenn wir

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unsere Empfindungen mit gedanklichen Assoziationen und Erzählungen verbinden. »Wir verstehen, indem wir erzählen« (Breithaupt, 2009, S. 114). Erst dadurch kann sich die natürliche Empathie in der Zweierbeziehung im sozialen bzw. kulturellen Rahmen entfalten. Auch Mitgefühl beinhaltet eine mentale Leistung und eine Verhaltensdimension, die man als einfühlende kommunikative Haltung bezeichnen könnte. Es bedarf dazu einer emotionalen Kompetenz, die über die Wahrnehmung, die Nach- bzw. Mitempfindung fremder und eigener Affekte hinausreicht und auch ein eigenes Wollen und Denken einbezieht. Mitgefühl ist keine passive Leistung, sondern manifestiert sich in besonderer Weise im Sozialverhalten und in der empathischen Kommunikation. Mitgefühl als Schutzfaktor bedeutet deswegen vor allem, einen tragfähigen emotionalen und sozialen Rückhalt zu schaffen, zu gewähren, aber auch für sich selbst zu finden. So konnte mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie durch die Arbeitsgruppe des Neurowissenschaftlers Jean Decety von der Universität Chicago in verschiedenen Untersuchungen gezeigt werden, dass der Anblick von an Schmerzen leidenden Menschen in den für die Wahrnehmung von Schmerz zuständigen Regionen des Gehirns teilweise zu den gleichen Signalaktivierungen führte wie bei den Leidenden selbst (Decety, 2007), aber dass bei Ärzten mit professioneller Erfahrung im Umgang mit Schmerz und Leid solche Signalaktivierungen nicht in den gleichen Regionen nachgewiesen wurden, sondern in anderen Hirnbereichen. Dies sollte nicht als Mangel an Mitgefühl bzw. Empathie gedeutet werden, sondern als Hinweis für einen Kraft- bzw. Schutzmechanismus, der den professionellen Umgang mit Leid und Schmerz im Sinne einer empathischen Sorge erst ermögliche (Cheng et al., 2007). Die teilweise kontroversen Definitionen und Diskussionen zu den Inhalten von Empathie, Einfühlung und Mitgefühl unter Psychologen, Psychotherapeuten, Pädagogen, Seelsorgern, Ärzten, Linguisten, Soziologen und anderen Professionen bzw. Laien können hier nur am Rande gestreift werden. In multiprofessionellen Settings werden die Begriffe ähnlich wie der Begriff Schmerz vor unterschiedlichem persönlichen Erfahrungshorizont verwendet, aber doch mit einem Grundverständnis, dass nicht nur die Wahrnehmung und der gekonnte Umgang mit fremden Emotionen, sondern auch die Wahrnehmung und der gekonnte Umgang mit eigenen Emotionen im Sinne einer Selbstkontrolle. Erst mit diesem Grundverständnis wird Empathie bzw. Mitgefühl als emotionale Intelligenz zu einem Schutzfaktor in Belastungssituationen und für das Wohlergehen des anderen, aber auch für das eigene Wohlergehen im Team bedeutsam. Über den Aspekt, dass eine besondere Art der einfühlenden Beziehung für therapeutisches Handeln im interprofessionellen und interdisziplinären Umgang miteinander, aber auch für die Selbstsorge und eigenes Wohlergehen sinnvoll ist, bestehen kaum Zweifel. Die Interpretationen von Forschungsergebnissen zur Bedeutung dieser Fähigkeiten sind gerade durch die Unschärfe der Definitionen oft schwierig – auch wenn man weiß, was gemeint ist.

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5 Mitgefühl und Empathie – unverzichtbare Elemente in Care und Self Care Empathie und Mitgefühl, welches neben dem Einfühlen noch die Sorge um das Wohl des anderen umfasst sowie Perspektivenübernahme als Fähigkeit, sich in die Situation des anderen zu versetzen, seine Sicht der Dinge zu verstehen und für den weiteren Weg des Sterbenskranken bzw. seiner Angehörigen eine Orientierung zu finden, sind zentrale Elemente einer Kompetenz, die in palliativen Betreuungssituationen notwendig ist und gefordert wird. Eine solche Kompetenz ist nicht nur für die Patienten von Nutzen, sondern auch im Sinne von Self Care für den Helfer selbst. So konnte in einer qualitativen Untersuchung zum Verhalten von zwanzig Ärzten bei 147 Patienten mit Bronchial-Karzinom gezeigt werden, dass nur etwa 10  % der empathischen Angebote seitens der Patienten von den Ärzte aufgenommen wurden und sie meist sehr rasch zu biomedizinischen Krankheitsaspekten wechselten, wenn spirituelle Probleme angesprochen wurden (Morse, Edwardsen und Gordon, 2008). Es konnte zudem gezeigt werden, dass sich nicht nur die Arzt-Patienten-Beziehung verbesserte, wenn die Ärzte empathisches Verhalten in der Patientenbeziehung deutlicher zeigten, sondern die Ärzte auch mit sich selbst zufriedener waren und seltener an Burnout litten. Der Psychiater Hermann Lang hat mit Verweis auf Viktor von Weizsäcker die Allianz aus Empathie, Respekt, Holding und Stabilisierung als grundlegende Heilungsdimension in therapeutischen Beziehungen hervorgehoben (Lang, 2002). Was gehört zur Empathie? Zunächst einmal ein aufmerksames Zuhören, sensibles Beobachten und Wahrnehmen der verbalen und körpersprachlichen Signale und Botschaften. Hinzu kommt ein Grundwissen zu unterschiedlichen Typologien des Menschen, eine menschenkundliche Methodik für ein Verständnis des Allgemeinmenschlichen, für die individuelle biografische Entwicklung und die Lebenssituation des anderen. Dazu gehört auch die Vermeidung von vorschnellen Beurteilungen sowie die Bereitschaft, Wahrnehmungs- und Interpretationsfehler zu korrigieren. Die eigentliche Leistung der Empathie besteht aber darin, Wahrnehmung und Beobachtung in eine Beziehung zum Selbst aufzunehmen (einzufühlen) und in einer authentischen Präsenz als kommunikative Aufgabe anzunehmen. Kommunikation in diesem Zusammenhang bedeutet aber vor allem nonverbales Verhalten. Auch wenn Worte wahrscheinlich nur wenige Prozente der Wirksamkeit von Kommunikation in helfenden Beziehungen ausmachen, kann ein falsches Wort eine von hohen Erwartungen und Sympathie getragene Beziehung sehr schnell infrage stellen. Wichtiger für die Gestaltung einer empathischen Beziehung sind die Art des Sprechens, das Verbalverhalten, sowie das nonverbale Kommunikationsverhalten. Beides zusammen ist für mehr als 90 % der Wirksamkeit in der Kommunikation von Bedeutung. Miteinander reden ist besser als zueinander reden. Schließlich geht es in der Empathie darum, die eigenen Gefühle, das eigene Berührtsein in einer Form widerzuspiegeln, durch die im Mitgefühl auch Perspektive gefunden werden kann. Hier wird in einer authentischen Nähe narrative

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Kompetenz gefordert, die einen anderen, aber auch einen selbst weiterbringt. Gesprächstechniken, z. B. die klientenzentrierte Methodik, sind hier hilfreich – sie gelingen umso besser, wenn eine partnerschaftliche Verbundenheit, die von Respekt und Solidarität geprägt wird, auch spürbar wird. Sympathie und Intuition sind Elemente, die eine solche partnerschaftliche Verbundenheit erleichtern. Vielleicht liegt darin die hohe Kunst der empathischen Kompetenz. Besonders deutlich wird die gesundheitsfördernde und stärkende Kraft der Empathie in dem von dem amerikanischen Soziologen Antonovsky (1997) entwickelten Konzept der Salutogenese. Vor allem die im Laufe der Kindheit und Jugend gesammelten Erfahrungen und Erlebnisse – und damit auch empathische Herausforderungen – bestimmen das sich zunehmend entwickelnde Kohärenzgefühl, eine Haltung, die sich im Laufe des Erwachsenseins noch umfassend verändern kann und z. B. in Situationen der Bedrohung auch immer wieder erschüttert wird. Aber gerade hier zeigt sich, wie Empathie – die ja in einem weiteren Sinne nicht nur eine Haltung gegenüber anderen darstellt, sondern auch zu sich selbst – das Gefühl der Verstehbarkeit, der Handhabbarkeit und der Sinnhaftigkeit als Grundlage der Kohärenz des Gesundseins fördern kann. Auch Antonovsky betont, dass die Förderung des Sense of Coherence durch Beziehung, Erfahrung und Mitgefühl ein wichtiger Baustein für körperliche und seelische Stabilität sowie Widerstandsfähigkeit in Belastungssituationen ist. Ob Empathie und Mitgefühl salutogenetische Elemente sind, die auch Resilienz im Sinne von »aus widrigsten Lebensumständen gestärkt und mit größeren Ressourcen ausgestattet als zuvor herauszukommen« (Walsh, 2007, S. 220) fördert, ist eine interessante wissenschaftliche Frage, die darauf hinweist, dass Resilienz und Salutogenese verwandte Phänomene sind. Manches deutet darauf hin, dass dem so sein kann, z. B. die Beobachtung, dass gerade Menschen, die in besonders empathischer Weise mit schwierigsten Situationen der Sterbebegleitung zurechtkommen, diese Erfahrungen für sich selbst als Bereicherung sehen. In einer im Jahre 2007 erschienenen Dissertation von Gerlinde Geiss aus Oldenburg wird darauf hingewiesen, dass Krisen auch förderlich für Resilienz sein können. In der Begegnung mit Sterben und Tod kommt nicht nur sozialen Ressourcen eine wichtige Risiko- und Schutzfunktion zu, sondern auch der Fähigkeit des »inneren Verbundenseins« – welches hier als »grundlegendes Gefühl des sinnvollen und vertrauensvollen Verbundenseins mit der Welt« (Geiss, 2007, S. 171) definiert wird und dann auch als Sinn und Kraft gebende Empathie bezeichnet werden könnte. Auch wenn in der Logotherapie Viktor Frankls Mitgefühl oder Empathie nicht explizit genannt werden, geht es auch ihm in besonderer Weise um die Auseinandersetzung mit emotionalen Erfahrungen und deren Sinnbegründung. In der Logotherapie kann Empathie sowohl als eigene Einstellung zu Schuld, Leid und Tod, aber auch als liebende Fähigkeit in der sozialen Begegnung und der Beziehung zum anderen entdeckt werden. Auf der Suche nach Sinn kann die Fähigkeit zur Empathie dazu beitragen, im Bemühen durch Erlebniswerte, schöpferische Werte und Einstellungswerte eine Lebenshaltung zu finden, in der Sinnfindung bzw. Sinnverwirklichung in der Beziehung zu

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anderen als eigentliche Lebensaufgabe angenommen wird und existenzielle Bedeutung erlangt.

6 Empathische Kompetenz im Team zur Selbstpflege In der Begegnung mit Sterben und Tod sind Empathie und Mitgefühl wichtige salutogenetische und schützende Elemente, die für die Wahrnehmung professioneller Aufgaben von hohem Wert sind und die Sicherheit im Umgang mit Belastungen in der Sterbe- und Trauerbegleitung erhöhen. Zur Empathie in der Sterbebegleitung gehört nicht nur die Fähigkeit, Gefühle der Trauer und des Abschieds wahrzunehmen und zu verstehen, sondern diese auch – indem man die eigenen Gefühle und Erfahrungen mit anderen teilt – zu verändern. Insofern sind die oft durch meditative Techniken und Rituale gestalteten Gedenksitzungen zum Andenken an und zum Abschied von Verstorbenen nicht nur ein wichtiger Teil der Selbstpflege im Team, sondern auch zum Erlernen von Empathie im Sinne von emotionaler Intelligenz. Empathie lernen bedeutet dabei zunächst, bereit zu sein, sich in einer Situation der Geborgenheit selbst zu beobachten, sich auf sich selbst einzulassen. Diese Geborgenheit kann durch Rituale, aber auch durch empathisch erfahrene Teammitglieder unterstützt werden. Die eigenen Gefühle und Gedanken in der Erinnerung, in ihrer Augenblicklichkeit oder auch in ihrer Dauer bewusster wahrzunehmen, zu benennen und mit den Gefühlen anderer in Bezug zu bringen, vielleicht auch zu hinterfragen, ist ein weiterer wichtiger Schritt im Erlernen empathischer Kompetenz. Manchmal helfen hier narrative Assoziationen, wenn man bei den Schilderungen anderer auf die eigenen Gefühle und Reaktionen achtet und diese verbal zum Ausdruck bringt. Wenn dies im Team gelingt, erleichtert dies den nächsten Schritt, nämlich die Perspektive des anderen für die Kommunikation mit sich selbst, aber auch für die Grundhaltung in der Kommunikation mit anderen zu verinnerlichen. Dann trägt Empathie dazu bei, nicht nur mehr Sicherheit im sozialen Miteinander, sondern auch Vertrauen für das Selbstsein zu finden. Dieses Vertrauen für das Selbstsein kann uns aber nur gegeben werden, wenn Empathie nicht nur für andere da ist, sondern der Spiegel des Mitgefühls von anderen uns auch selbst Kraft gibt.

Literatur Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Hrsg. von A. Franke. Tübingen: dgvt-Verlag. Blair, R. (2005). Responding to the emotions of others: Dissociating forms of empathy through the studies of typical and psychiatric populations. Consciousness and Cognition 14, 698–718. Breithaupt, F. (2009). Kulturen der Empathie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Cheng, Y., Lin, C. P., Hsu, Y. Y., Lim, K. E., Hung, D., Decety, J. (2007). Expertise modulates the perception of pain in others. Curr. Biol., 9, 17(19), 1708–1718. Decety, J. (2007). A social cognitive neuroscience model of human empathy. In E. Harmon-Jones, P. Winkelman (Eds.), Social neuroscience: integrating biological and psychological explanations of social behavior (pp. 246–270). New York: Guilford Publications.

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Die Tiefe des Leids findet keinen Gegenpol Vom Wesen der Ablenkung als Schutzfaktor in der Begleitung Martina Kern

1 Ablenkung als Thema und Prozess Seit Wochen nun beschäftigt mich das Thema Ablenkung als Schutzfaktor in der Begleitung. Begeistert hatte ich zugesagt; ja, das Thema ist etwas für mich: Mit dem Ablenken kenne ich mich aus. Aber was genau kennzeichnet das Wesen der Ablenkung? Je intensiver ich darüber nachdachte, je genauer ich das Phänomen betrachtete, desto verzweifelter wurde ich. Mit welchem flüchtigen Wesen hatte ich es hier zu tun? Je näher ich auf das Thema schaute, desto weiter entfernte ich mich. Immer wenn ich versuchte, mich konzentriert hinzusetzen, starrte ich auf die Tastatur, dachte an dieses und jenes, räumte noch ein wenig auf, tauschte mich dann mit Freunden zum Thema Ablenkung aus. Das Thema wurde immer diffuser und ich auch. War ich nun thematisch dran am Wesen der Ablenkung oder nicht? Ich näherte mich über unterschiedliche Definitionen: Im Schach meint Ablenkung die Lenkung einer gegnerischen Figur, ein taktisches Verhalten zur Täuschung des Gegners. Im Tierreich findet sich der Begriff der Ablenkung als Verleitung im Brutverhalten von Vögeln. Um die Brut zu schützen, zieht der Vogel durch verschiedene Verhaltensweisen die Aufmerksamkeit des Fressfeindes auf sich, lenkt dadurch von der Brut oder den Küken ab und kehrt meist auf Umwegen zu Küken oder Nest zurück. Und der Bereich des Magnetismus beschreibt die Ablenkung als Abweichung eines Kompasses, die mit Störfeldern in der Umgebung des Messpunktes zusammenhängt. Kennzeichen der Ablenkung, die möglicherweise mit der Palliativversorgung zu tun haben, könnten das Störfeld, der Umweg und das taktische Verhalten sein. »Was tun Sie, wenn Ihnen alles zu viel ist mit der Palliativarbeit?« Diese Frage stellte ich neulich in einem Seminar. Die Strategien waren sehr unterschiedlich und reichten von laufen gehen, einkaufen, auf jeden Fall etwas ganz anderes tun, etwas Vordergründiges, Oberflächliches, Banales machen, Gartenarbeit, Musik hören, tanzen, Sex bis hin zum Shoppen – ein Mann sagte auf meinen Hinweis, shoppen zu gehen sei wohl typisch weiblich, nein, er shoppe auch, aber im Baumarkt. Die Teilnehmer waren verwundert über die Vielzahl der Strategien, eine Teilnehmerin fasste erschüttert und ein wenig beschämt zusammen: »Oh, wie oberflächlich, wo diese Arbeit doch so wesentlich und tief ist!« Solch profane Ablenkung, das

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passe doch nicht zusammen. Allen gemeinsam war die Aussage, dass Ablenkung zwar hilfreich, aber dass die Summe der aufgezählten Tätigkeiten angesichts der Themen Sterben, Tod und Trauer keine angemessene Beschäftigung sei. Woher rühren die Scham und die negative Bewertung?

2 Ablenkung als Störung – das Wesentliche liegt im Auge des Betrachters Die Mahnung aus der Kindheit, »Lass dich nicht ablenken«, trägt bei vielen Menschen zur negativen Bewertung von Ablenkung bei. Wer erinnert nicht die Situation bei der Lösung von Schulaufgaben: Plötzlich taucht neben dem Heft eine kleine Fliege auf. Sie landet auf dem Tisch, ihre Flügel glänzen schillernd in der Sonne, nun krabbelt sie über das Heft, putzt sich. Niedlich sieht das aus. Sie fliegt davon. Der Blick des Beobachters hinterher. Folgt ihr zum Fenster. »Ob sie wohl rausfliegen wird? Wohin wohl? …« Und in diese Träumerei kommt dann der Auftrag: »Lass dich doch nicht dauernd ablenken, sonst wirst du nie fertig mit deiner Hausaufgabe.« Aus der Traum und zurück in die Realität, wo die wirklichen Anforderungen und wichtigen Aufgaben warten. Die Ablenkung wird als Zerstreuung vom Wesentlichen eingeordnet und als Gegenteil von Konzentration. Das Wesentliche, auf das es sich z. B. in einer Lernsituation zu konzentrieren gilt, wird definiert. Die Konzentration auf die Rechenaufgabe ist wesentlich, nicht die Fliege, die ist belangloses Beiwerk. Es erfolgt eine Unterscheidung von Wesentlichem und Unbedeutendem. Das Wesentliche gilt, sich darauf zu konzentrieren, ist erstrebenswert; das Unwesentliche ist unerheblich, Zerstreuung und Ablenkung sind abzulehnen. In der Meditation, hier besonders im Zen, ist Ablenkung ein Anfänger- und Kardinalfehler. Ein probates Mittel, sich während der Meditation vor Ablenkungen von außen und vor dem Abschweifen und Überhandnehmen der Gedanken zu schützen, ist das sogenannte Atem-Zählen. Sichtbare Ablenkungen durch Wandern der Augen oder Bewegung des Körpers werden bei strengen Lehrern mit kleinen Stockhieben der Aufsicht geahndet. Diese negative Bewertung wird durch die Vorsilbe »Ab« noch unterstrichen. Worte wie z. B. Abwehr, Abstand, Abgrenzung und so auch Ablenkung sind negativ belegt. Davon möchte man sich gern distanzieren. Gerade in der Hospiz- und Palliativarbeit, in der die Konzentration auf die kurze und kostbare Zeitspanne des Lebensendes gelegt wird, in der das Thema Sterben von der Abwehr und Abgrenzung befreit werden möchte, in der lieber Nähe zugelassen wird, als Abstand und Abgrenzung zu schaffen, hat es die Ablenkung schwer, ihren Stellenwert und ihre Berechtigung zu finden. Ablenkung zeigt sich auf verschiedene Art und Weise. Im Fall des oben genannten Beispiels als Störfaktor geschieht die Ablenkung, ist ein passiver Prozess, der dem Schüler widerfährt und den Fokus vom vermeintlich Wichtigen (Hausaufgabe) auf weniger Wichtiges (Fliege) lenkt.

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Gerade beim Erleben von einem Zuviel ist aber das Sich-weglenken-Lassen ein wesentlicher salutogenetischer Faktor und führt oft zu einer seelischen Neubelebung und Erholung. »Denn ein äußerlich Zerstreuen, das sich in sich selbst zerschellt, fordert inneres Erneuen, das den Sinn zusammen hält«, erläutert schon Johann Wolfgang von Goethe in den Inschriften, Denk- und Sendeblättern der Prinzessin Maria von SachsenWeimar und Eisenach. Ein eigenes Erlebnis bestätigt diesen heilsamen Effekt. Gestern ging es einer Patientin auf der Palliativstation nicht gut. Sie ist in meinem Alter und wird bald sterben. Ich konnte an gar nichts anderes mehr denken. Nach dem Dienst habe ich mich von ihr verabschiedet. Wahrscheinlich werde ich sie übermorgen nicht mehr wiedersehen. Ich bin dann gelaufen und gelaufen, wurde den Gedanken an sie nicht los. Meine Gedanken kreisten um sie. Sie hatte ja nur noch so wenig Zeit. Als ich nicht mehr konnte, setzte ich mich erschöpft auf eine Bank. Neben mir spielten Kinder Nachlaufen und Verstecken, ich nahm es aus dem Augenwinkel wahr. Unmerklich begann ich, ihrem Spiel zuzusehen. Bilder aus meiner eigenen Kindheit stiegen auf, die Abzählreime sprach ich innerlich mit. Plötzlich schreckte ich auf. Ihre Mutter hatte sie gerufen, ihr Spiel zu beenden. Sie entschuldigte sich bei mir, weil ihre Kinder mich in meiner Ruhe gestört hätten. Dabei war ich nur dankbar. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen habe. Sicher länger als eine halbe Stunde. Es war einfach geschehen. Ich war durch die Kinder abgelenkt worden, meine Gedanken hatten sich auf eine andere Spur verlaufen. Etwas Besseres hätte mir nicht passieren können. Erfrischt kehrte ich nach Hause zurück.

3 Ablenkung als Umweg vom Leid 3.1 Ich muss mich ablenken – die Not-Wendigkeit der Ab-Lenkung in der palliativen Arbeit

Sich einfühlen zu können, sich zu konzentrieren auf das Gegenüber sind zentrale Fähigkeiten in der palliativen und hospizlichen Arbeit. Und damit ist in aller Regel die Einfühlung in leidvolle Situationen, in Abschied und Trauer, auf das Lebensende hin gemeint. Bei einem Zuviel des Einfühlens hat die Ablenkung eine die Not wendende Schutzfunktion. Vor einigen Monaten erlebte ich folgende Situation: Ich begleitete eine Bekannte, deren Schwester im Sterben lag. Wir hatten einige intensive Gespräche, in denen sie mir immer wieder versicherte, wie hilfreich die Kontakte für sie seien. Als zu Hause keine Versorgung mehr möglich war, wurde die Schwester auf der Palliativstation aufgenommen, wo sie wenige Tage später verstarb. Als ich von dem Tod hörte, ging ich noch einmal in das Zimmer der Verstorbenen, setzte mich an die Seite meiner Bekannten und betrachtete mit ihr gemeinsam still das Bild der so friedlich daliegenden Toten. Ein häufig von mir gesehenes und oft als tröstlich erlebtes Bild. In der Konzentration

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auf die Trauer der Schwester und im intensiven Mitfühlen erreichte mich plötzlich im tiefsten Inneren eine Eiseskälte. Die Bilder mischten sich. Statt der fremden toten Schwester sah ich plötzlich meine eigene Schwester tot im Bett liegen und ich mich auf der anderen Seite als Trauernde. So tief hatte das Mitfühlen mich erreicht, dass es keine Trennung mehr gab zwischen ihrem Leid und mir. Ich fühlte mich wie porös, immer mehr kaum aushaltbare Gefühle breiteten sich in mir aus. Ich musste mich ablenken, dachte ganz bewusst und gezielt an etwas anderes, verbannte das Bild, riss mich zusammen. Es war wie ein Herumreißen des Steuers bei einem drohenden Unfall, lebensrettend. Ich lenkte mich weg von der Unerträglichkeit des Todes hin zum Leben. Neben dem Phänomen, dass Ablenkung geschieht, kann Ablenkung auch eine aktive Entscheidung sein, von einer zu großen Todesberührung Abstand nehmen zu müssen und zu können, um damit das eigene Ich unmittelbar vor zu großer Verletzung zu schützen. 3.2 Ich will mich ablenken – von der Sehnsucht, einfach mal zu leben

»Immer wieder fragen mich Menschen, wie und ob die Arbeit mich verändert hat«, berichtete eine Kollegin im Rahmen einer Fortbildung und erzählte, wie reich die Arbeit sie mache und wie tief die Erfahrungen seien, die sie anlässlich der Begleitung Sterbender machen dürfe. Auf die Nachfrage, ob sie durch so viel Tod nicht auch Dinge verloren habe, sagte sie nach einiger Überlegung: »Meine Lebenslandschaft ist manchmal von zu viel Tod berührt, damit sind meine Fähigkeit, mich fortzusehnen, und die Leichtigkeit im Leben verloren gegangen. Dann fehlt mir der natürliche Gegenpol zu der Tiefe des Leids. An solchen Tagen springe ich dann auf, inszeniere das Leben, gehe in die Stadt, kaufe mir etwas Schönes, belohne mich, dann bin ich so oberflächlich wie ich nur kann. Mit der gleichen Konzentration, mit der ich sonst auf Symptome achte, schaue ich nun auf Schnäppchen, die ich ergattern könnte. Und letzte Woche habe ich eine ganze Stunde lang einen Nagellack ausgesucht und mich nur darüber unterhalten. Jedes Detail war mir plötzlich wichtig. Es war wie ein Auftauchen ins Leben.« Ablenkung hat hier die Funktion, einen Ausgleich zu schaffen zu der als (zu) tief und schwer erlebten Arbeit. Stück für Stück schafft die Ablenkung die Abkehr von der Tiefe und Schwere der Arbeit und das Auftauchen an die Oberfläche zu Leichtigkeit und Leben. Manchmal entspricht die initiierte Oberflächlichkeit in ihrem Volumen genau der Schwere der Arbeit. Wie bei einem Taucher, der nach einem Ausflug in die Meerestiefe wieder an die Oberfläche kommen muss, um Atem zu schöpfen, kann auch die Ablenkung ein Lebenselixier sein, um wieder Luft zu bekommen. Diese Oberflächlichkeit durch Ablenkung ist hier wesentlich, um den Ausgleich herstellen zu können, nach dem sich viele Menschen sehnen. Nicht nur die Gesunden, sondern gerade schwerkranke Menschen freuen sich häufig an den Menschen, die sie mit einer heiteren, leichten Aura

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umgeben und von den alltäglichen Dingen berichten. Die Ablenkung durch Oberflächlichkeit stabilisiert das durch zu viel Tod bedrohte Ich. Sie schafft einen Gegenpart als Ausgleich zum Leid.

4 Ablenkung als Abwehr Wenn die Ablenkung aber nicht vom Thema weglenkt, sondern nur noch der Weglenkung vom Ich dient, ist es »Zeit, dem eigenen Tod des Begleiterdaseins zuvorzukommen und innezuhalten« (Schnegg, 2000, S. 14). Dann bedeutet Ablenkung nur noch Abwehr. »Mich schockiert nichts mehr, ich habe alles gesehen. Mache einfach immer weiter. Ich lenke mich ab und mir geht es gut dabei. Und ob nun zwei oder drei Patienten sterben, ist mir egal, es ist doch meine Aufgabe, dies hinzunehmen. Und reden möchte ich auch nicht darüber. Lieber gehe ich in die Stadt, treffe mich mit Freunden oder setze mich abends an den Computer und mache ein paar Spielchen. Supervision und das ganze Gerede macht für mich schon lange keinen Sinn mehr. Da trinke ich lieber ein Gläschen Wein oder zwei, dann schlafe ich auch besser.« Diese Aussage machte eine Teilnehmerin in einem Palliative-Care-Kurs, als es um das Thema Burnout-Prophylaxe und Selbstsorge ging. Sie wirkte auf den ersten Blick heiter, alberte herum, machte sich über die Kollegen lustig, die sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigten. Sie lenkte sich selbst in einer Weise ab und von sich fort, dass die Unerträglichkeit des Themas und sie darin nicht mehr vorkamen und keinen Platz hatten. Nur noch Ablenkung. Das Schwere, Unerträgliche wurde überschminkt und maskiert. Es wurde getan, als sei alles in Ordnung. Hier besteht die Gefahr, dass die Ablenkung zu einer Taktik wird, die eigene Belastung nicht wahrzunehmen und nur noch von seinen Empfindungen und Gedanken fortzugehen. Wenige Wochen später rief die Kollegin mich an, teilte mir mit, dass sie nicht mehr könne, nach dem Seminar gemerkt habe, wie schlecht es ihr gehe, sie habe zu diesem Zeitpunkt nur abwehren müssen, sonst wäre sie zusammengebrochen. Dabei habe sie sich aber selbst verloren. Nun habe sie sich Hilfe geholt und sei erst einmal aus der Arbeit ausgestiegen. Während die Ablenkung als Umweg vom Leidthema vorübergehend weglenkt, es aber nicht aus dem Auge lässt, sondern nach der Ablenkung gestärkt zurückkehren lässt, ist die Ablenkung als Täuschung nur noch Ablenkung um der Ablenkung willen. Vom eigenen Ich, das ausbrennt oder sogar leerläuft, wird die Aufmerksamkeit abgezogen. Damit hat die Ablenkung als Schutzfunktion ihren Wert verloren.

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5 Palliativversorgung und Hospizarbeit zwischen Hinlenkung und Ablenkung Eine Studie an der Universität von Illinois hat festgestellt, dass der Wachsamkeitsabfall auf Dauer vermindert und die Konzentration grundsätzlich erhöht wird, wenn bei einer fast einstündigen Arbeit zwischendurch von einer der beiden Kontrollgruppen (der sogenannten Wechselgruppe) bewusst und gezielt die Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt wird. Ariga und Lleras (2011) weisen nach, dass bei dieser Wechselgruppe die Zeit keinen negativen Einfluss auf die Leistung hatte, während sie bei der anderen Gruppe deutlich abnahm. Der Fokus der Wechselgruppe auf die Gesamtarbeit blieb erhalten. Ablenkung taucht also nicht isoliert auf, sondern hat immer ein Gegenüber, von dem weg- oder abgelenkt werden soll. Es gibt also immer eine andere Seite der Medaille. Sie hat eine ausgleichende Funktion, abzubiegen, den Kurs zu ändern, schmerzliche Situationen zu bannen, das Ich zu schützen und zu stabilisieren, ein Gleichgewicht herzustellen. Wie bei einer Waage geschieht dies durch das Ausbalancieren der Kräfte: Bei zu großer Hinlenkung zum Tod oder zu großer Betroffenheit gewinnen die Schwere und der Schrecken des Todes überhand. Das Wechselspiel der Kräfte wird zugunsten der leidvollen Seite aufgehoben, die Waage kippt. Hier schafft die Ablenkung mit der Weglenkung vom Sterben hin zum Leben ein Gegengewicht und die Balance wird wiederhergestellt. Aus dieser ausbalancierten Perspektive kann dann die Todesnähe erneut betrachtet werden. Balance ist ihrem Wesen nach ja keine statische, unbewegliche Größe, sondern ein immerwährendes Austarieren der Kräfte. Wie Seiltänzer bewegen wir uns im Hin und Her, zwischen den beiden Polen von Hin- und Ab- bzw. Weglenken. Ein gesundes Gleichgewicht entsteht. Ein ähnliches Phänomen kennt man aus der Behandlung depressiver Patienten. Während sich der ruminative Reaktionsstil von Patienten als rekursiv wiederholender Denkprozess ausschließlich mit Informationen über Ursache und Behandlung beschäftigt und zu einer Verstärkung des Grübelns führt, kontrastiert ihn der ablenkende Reaktionsstil mit gezieltem Ablenken der Aufmerksamkeit von Symptomen (Nolem-Hoeksema, 1991). Ablenkung umfasst hier weder das Unterdrücken oder Verneinen schmerzlicher Empfindungen noch Aktivitäten, die zwar vermeintlich Ablenkung schaffen, dabei aber schädlicher Natur sind. Ablenkung ist als die Zuwendung zu positiv besetzten Aktivitäten als Erholung gemeint. Sie dient dann der Aktualisierung positiver Selbstkonzepte und ist kurzfristig eine höchst effektive Copingstrategie. Bei langer Dauer und Verfestigung kann sie allerdings ihren ausbalancierenden Charakter verlieren und eine dysfunktionale Wirkung haben. In der Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen sind das Hinlenken und das Weglenken vom Thema Sterben für eine ausgeglichene und stabile Persönlichkeit und Begleitungsdauer deshalb gleichermaßen wichtig (siehe Tabelle 1).

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Tabelle 1: Hinlenkung und Weglenkung in der Palliativversorgung Hinlenken

Weglenken

nah

distanziert

konzentriert

zerstreut

schwer

leicht

tief

oberflächlich

aktiv

kontemplativ

anstrengen

erholen

Im Hinlenken nähert man sich an, ist konzentriert, taucht tief in das Thema und das Gefühlsleben seines Gegenübers ein. Dies ist oft ein aktiver, anstrengender Prozess. Nach oder in diesem Prozess ist das Weglenken durch sich distanzieren, Abstand schaffen, sich zerstreuen, sich erholen, die Rückkehr an die Oberfläche entscheidend für die Gesundheit und die Aushaltbarkeit der Arbeit in diesem existenziellen Feld. Nach Allen und Leary (2010) ist diese Art Ablenkung (distraction) als gegensteuernde und entspannungsfördernde Aktivität eine wichtige, in der Zukunft noch mehr zu beachtende Copingstrategie und hat nichts gemeinsam mit den als nicht hilfreich bewerteten Strategien wie Flucht oder Vermeidung. Durch die Hinlenkung auf das Thema Sterben sind die Palliativ- und Hospizarbeit in den vergangenen Jahren stark in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt. Damit haben die damit verbundenen Tabuthemen die erforderliche Bedeutung erhalten, die auch sozialpolitische und gesetzliche Veränderungen und neue Begleitungsansätze eingeleitet hat. Durch Ablenkung entsteht die notwendige Distanz, die immer wieder einen Perspektivwechsel ermöglicht und dem Leben und der Normalität Raum gibt. Ablenkung kann der Fantasie Flügel verleihen, schafft den Ausstieg aus Routinen und initiiert die so oft erforderliche Kreativität. So sind das Ablenken vom Tod und das Hinlenken zum Tod fest miteinander verbunden. Ablenkung hat damit einen wesentlichen salutogenetischen Effekt in der Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen. Die Aufgabe ist es, die Balance zwischen dem Hinlenken zum und dem Ablenken vom Tod immer wieder neu herzustellen.

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Nolem-Hoeksema, S. (1991). Responses to depression and their effects on the duration of depressive episodes. Journal of Abnormal Psychology, 100 (4), 569–582. Schnegg, M. (2000). Wieviel Tod verträgt der Mensch? Von einem Seelsorger. Die Hospiz-Zeitschrift, 6, 13–15.

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»Wer’s mit Humor trägt, macht’s sich leichter!« Humor – ein wichtiger Schutzfaktor in der Arbeit mit Sterbenden Susanne Hirsmüller und Margit Schröer

»Humor ist ein Attribut der Würde, ein Ausdruck der Überlegenheit des Menschen über das, was ihm zustößt.« (Romain Gary)

Wenn das Leben zu Ende geht, wird die Bandbreite der Gefühle nicht automatisch kleiner – weder bei den Sterbenden und ihren Zugehörigen noch bei den Begleitern. Einzelne Gefühle (z. B. Wut oder Erleichterung) und deren Ausdruck sollten aus diesem Kanon nicht ausgespart werden oder für unangemessen gehalten werden. Die Abschiedlichkeit am Ende des Lebens macht es für alle Beteiligten immer wieder notwendig, ihre je eigenen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dieser Situation zu suchen und zu finden. Auch Humor gehört dazu, denn er ist eine der möglichen Einstellungen zum und im Leben ebenso wie zum und im Sterben. Eine humorvolle Haltung ist auch in dieser Phase eher gekennzeichnet von Gelassenheit als von Verzweiflung, eher von dem Annehmen der menschlichen Begrenztheit als der Trauer um verpasste, nicht gelebte Möglichkeiten. Heiterkeit und Lachen sind daher im Hospiz und auf der Palliativstation nicht nur erlaubt, sondern für alle Beteiligten ein lebensnot-wendendes Elixier, insbesondere für die Mitarbeiter, die tagtäglich mit Schwerstkranken, Sterbenden und ihren Zugehörigen zu tun haben und mit dem Tod konfrontiert sind. Dies wurde durch die Untersuchung bestätigt: Für in der Palliative Care Tätige ist Humor der zweitwichtigste Schutzfaktor in Bezug auf die Belastungen in ihrer Arbeit. 89,9 % der Mitarbeiter auf Palliativstationen und 93,4 % derjenigen im Hospiz gaben Humor als wichtigen bzw. sehr wichtigen Faktor zur eigenen Entlastung an. Einen noch höheren Stellenwert hatte lediglich das Team auf Rang eins (Müller, Pfister, Markett und Jaspers, 2009). Humor ist eine lebensbejahende Haltung, die um die Brüchigkeit der menschlichen Existenz weiß und diese akzeptiert. Dies wird auch in der folgenden Definition deutlich: »Humor ist die Fähigkeit, die Gabe eines Menschen, der Unzulänglichkeit der Welt und der Menschen, den Schwierigkeiten und den Missgeschicken des Alltags mit heiterer Gelassenheit zu begegnen, sie nicht so tragisch zu nehmen und über sie und sich lachen zu können« (Duden, 1982, S. 218).

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»Wer’s mit Humor trägt, macht’s sich leichter!«

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1 Worin liegt die Entlastung durch Humor im Umgang mit Sterben und Tod? Für die Mitarbeiter (sowie natürlich für die betroffenen Patienten und ihre Zugehörigen) erfüllt Humor folgende Funktionen, die von Robinson 1977 beschrieben wurden. 1.1 Psychische Funktionen

»Nichts ist mehr geeignet, Distanz zu schaffen, als der Humor« (Victor Frankl, Ärztliche Seelsorge). In belastenden Situationen können die Mitarbeiter durch Humor Abstand gewinnen: Es ist, als wenn man die Lage durch ein umgedrehtes Fernglas sieht – die Belastung rückt für den Moment weiter weg. Auf diese Weise können eine kurze Ablenkung und Ent-Spannung – sozusagen »Kurzferien vom Sich-Betreffen-Lassen« (Müller, 2004, S. 144) –, ein Durchatmen, besonders nach einem herzhaften Lachen, möglich werden. Schon Heinrich Lützeler betont diese Auswirkung des Humors: »Der Mensch gewinnt Abstand. Er wird innerlich frei, überlegen über die Welt und über sich selbst« (Lützeler, 1954, S. 66). Mitarbeiter, die Humor, Heiterkeit und Lachen nicht an der Tür abgeben, sondern bewusst mit in ihre tägliche Begleitung Schwerstkranker und Sterbender hineinnehmen, eröffnen Betroffenen und sich selbst den Raum, auch am Lebensende diesen elementaren Aspekt des menschlichen Lebens zu erfahren. Sie kapitulieren nicht sprachlos vor dem Tod, dem Ende jeglicher Lebendigkeit, sondern setzen mit Humor ein Gegengewicht. Es gilt gerade an diesen Arbeitsplätzen, für die komischen Dinge offen und sensibel zu werden oder zu bleiben, die täglich im Hospiz und auf einer Palliativstation passieren, sie wahrzunehmen und die Kraft, die in ihnen steckt, als Schutzfaktor zu nutzen. Wie vielen Menschen ist das Lachen am Arbeitsplatz schon vergangen? Untersuchungen der Stanford University haben gezeigt, dass Kinder noch 400-mal, Erwachsene jedoch nur 15- bis 20-mal (am Arbeitsplatz noch deutlich weniger) täglich lachen (zit. nach Karpawitz und Berenbrinker, 2007, S. 87). Man könnte entgegenhalten: »Das Leben hört nicht auf, komisch zu sein, selbst wenn Menschen sterben, ebenso wie es eine ernste Angelegenheit bleibt, selbst wenn Menschen lachen« (Shaw, zit. nach Müller, 2004, S. 128). Eine weitere wichtige psychische Funktion des Humors beruht auf der Fähigkeit, auch in belastenden Situationen komische Elemente erkennen zu können. Dies ermöglicht einen Wechsel der Perspektive und eröffnet damit eventuell neue Sichtweisen und Handlungsoptionen. 1.2 Kommunikative Funktionen

Humor kann helfen, Sprachlosigkeit zu durchbrechen und damit dem zunächst Unaussprechlichen Ausdruck zu verleihen. Gerade in der Versorgung von schwerstkranken und sterbenden Patienten geht es – anders als auf Normalstationen üblich – nicht nur um die Überwindung der Sprachlosigkeit in Bezug auf Intimes, Ausscheidungen, Körperöffnungen etc., sondern noch weit darüber hinaus um Sterben und Tod. In

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Susanne Hirsmüller und Margit Schröer

unserer Gesellschaft ist das Sprechen über diese Ereignisse im persönlichen (nicht wie im medialen) Raum noch immer größtenteils tabuisiert. Wie gut, wenn Pflegekräfte, Ärzte, Therapeuten usw. sensibel für die Nöte der Betroffenen in dieser Beziehung sind, wenn sie dafür ein offenes Ohr haben und – wo erforderlich und angemessen – von sich aus einen humorvollen (leichteren) Einstieg in diese Themen anbieten können. So beispielsweise wenn es einer bettlägerigen Patientin sehr unangenehm ist, dass die Pflegekräfte sie aufgrund einer übelriechenden Diarrhö mehrfach pro Schicht versorgen müssen und sie sich jedes Mal dafür entschuldigt. Die etwas flapsige Erwiderung der Krankenschwester, sie habe in mehr als zwanzig Berufsjahren noch nie jemanden mit »Parfumschiet« versorgt, entlastet die Patientin. Aber nicht nur in der Kommunikation mit den Betroffenen kann Humor eine Unterstützung sein, sondern auch innerhalb eines Teams, wenn es mal »dicke Luft« gibt, wenn die Belastungen spürbarer werden und sich häufen oder unterschiedliche Vorgehensweisen in diesem Augenblick nicht in Einklang zu bringen sind. Adäquat eingesetzter Humor ermöglicht und unterstützt eine angstfreiere, offenere Kommunikation in entspannter Gesprächsatmosphäre im Team (Hirsch, 2007). 1.3 Soziale Funktionen

Das Sprichwort »Lächeln ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Menschen« (V. Borge) macht die soziale Bedeutung von Humor und Heiterkeit deutlich. Zu den wichtigen Faktoren für die Gestaltung von Beziehungen gehört zweifellos der Sinn für Humor, der sehr individuell ausgeprägt ist: Jeder Mensch hat einen anderen Humor und ein anderes Humorverständnis, je nach den Erfahrungen im bisherigen Leben. Ein Klima, in dem Humor zugelassen und gefördert wird, unterstützt den Aufbau sozialer Beziehungen, unterstreicht dessen Wirkung für Kontakt, Nähe und Vertrauen, es fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl (Wir-Gefühl) in einer Gruppe und dient damit nicht unerheblich auch der Psychohygiene der einzelnen Mitglieder. Zusammen über etwas zu lachen (nicht jemanden auszulachen!), fördert den Teamgeist. Der in einer Gruppe gemeinsam gelebte Humor spendet Kraft und Gelassenheit für belastende Situationen und kann zur Entschärfung von Konflikten beitragen. Studien haben gezeigt, dass Menschen mit Sinn für Komisches häufiger über höhere soziale Kompetenzen verfügen und über zufriedenstellendere soziale Beziehungen als humorlose (Martin, 2001). »Kinder und Jugendliche, die humorvoll reagieren, wenn eigene Interessen bedroht sind, sind eher in der Lage, Konflikte auf sozial akzeptable Weise zu lösen. Humor stellt somit bereits während Kindheit und Adoleszenz eine wichtige personale Ressource dar, die später im Erwachsenenalter mit Gewinn weiter entwickelt und gepflegt wird« (Wicki, 2000, S. 173). Um die individuellen Möglichkeiten jedes einzelnen Menschen, Humor zu verstehen und adäquat darauf zu reagieren, erkennen und unterscheiden zu können, helfen die von Hirsch (2001) entwickelten fünf Stufen des Phänomens Lachen:

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1. Nicht lachen können (ein Mensch kann aufgrund seiner individuellen Vorerfahrungen das Erlebte in der aktuellen Situation nicht lustig finden); 2. über andere lachen können (ein Mensch lacht über Missgeschicke anderer); 3. über mich selber lachen können (wichtige Stufe in der Persönlichkeitsentwicklung); 4. andere dürfen über mich lachen (weiterer Reifungsschritt, Vorbild Clown); 5. gemeinsam mit anderen über mich selbst lachen (Hirsch, 2011, zit. nach Bischofberger, 2008).

2 Humor am Arbeitsplatz? – Königsweg zur Arbeitsfreude! (Boothe, 2007) Die aufgeführten Auswirkungen von Humor im kommunikativen wie im sozialen Bereich können mitentscheidend für die Zufriedenheit am Arbeitsplatz sein. Dies verdeutlicht Rolf-Dieter Hirsch (Chefarzt einer gerontopsychiatrischen Abteilung) in einem Buchartikel unter der Überschrift »Gesundheitsfaktor Humor am Arbeitsplatz« (2007), in welchem er die möglichen Verbesserungen durch Humor aufzeigt: Gefördert werden Motivation, Offenheit, Kritikfähigkeit, Kreativität sowie Sachlichkeit. Ängste, Machtmissbrauch und Kränkbarkeit können verringert werden. »Humor in Betrieben heißt, Mitarbeiter ernst zu nehmen, einander mit Respekt zu begegnen und Fehler gemeinsam zu lösen« (Hirsch, 2007, S. 73). In den folgenden Bereichen beschreibt Hirsch u. a. positive Auswirkungen des Humors auf: – Arbeitszufriedenheit (Nichterreichbares/Versagen wird hinnehmbarer), – Atmosphäre (macht gelassener, verbessert Motivation, lässt Raum für Gefühle), – Kommunikation (erleichtert informelle Kommunikation, stabilisiert ein Team, offenes Klima), – Change Management (fördert Kreativität und Mut, nach ungewöhnlichen Lösungen zu suchen), – Konfliktbewältigung (erleichtert Eingestehen von eigenen Schwächen/Fehlern sowie Perspektivwechsel und damit ein Umbewerten der Situation; Perspektivwechsel gilt als eine trainierbare Fähigkeit), – Unternehmensphilosophie (verstärkt die Identifikation mit dem Unternehmen). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass positiv erlebter Humor Arbeitskollegen näher zusammenführt und sie in der Ansicht stärkt, gemeinsam die Probleme am Arbeitsplatz meistern zu können. Der dadurch möglich gewordene versöhnliche Blick führt dazu, dass Missgeschicke und Fehler als Chance begriffen werden können, um zu neuen Lösungen zu gelangen. Dies setzt voraus, dass die (Arbeits-)Welt nicht zu ernst genommen wird und die alltäglichen komischen Begebenheiten auch überhaupt wahrgenommen werden. Denn eine Situation mit Humor zu betrachten, bedeutet nicht, ihren Ernst in Abrede zu stellen. Allerdings kommt es dabei auf die jeweils adäquate (situations- und mitarbeiterspezifische) »Dosis und Applikation« des Humors an.

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3 Humor in der Palliative Care Die Suchanfrage im Internet (Google) am 28. Juni 2011 ergab für »Humor im Hospiz« ungefähr 353.000 und für »Humor auf Palliativstation« ungefähr 110.000 Ergebnisse. Dies zeigt sowohl die Bedeutung von Humor in diesem Arbeitsfeld als auch den Unterschied zwischen den beiden Versorgungsorten (zumindest was die Präsenz im Internet angeht) auf. »Wer Humor hat, muss nicht notwendig optimistisch sein. Er kann einverstanden sein mit Fragilität, Verfall und Tod«, betont die Psychoanalytikerin Brigitte Boothe (2007, S. 35). Dieses Einverständnis entspricht der Grundhaltung der in der Palliative Care Tätigen. Im Gegensatz zu Woody Allens bekanntem Spruch: »Ich habe keine Angst vor dem Tod, ich möchte nur nicht dabei sein, wenn es passiert!«, sind die Mitarbeiter auf Palliativstationen und im Hospiz täglich beim Sterben dabei. Eine wichtige Voraussetzung für deren Tätigkeit ist die unabdingbare Anerkennung, dass Sterben zum Leben gehört und dessen letzte Entwicklungsphase darstellt. Die Mitarbeiter sehen es als ihre Aufgabe an, die Schwerstkranken, Sterbenden und deren Zugehörige in der Gestaltung dieser Phase zu unterstützen und dazu beizutragen, dass für alle Beteiligten die unter diesen Umständen bestmögliche Lebensqualität erreicht wird. Dieser hohe Anspruch an die Begleiter, der sowohl von den Institutionen wie von den Betroffenen und ihren Zugehörigen, aber vor allem auch von den Mitarbeitern selbst erhoben wird und längst nicht immer erfüllt werden kann, ist in der Studie von Müller, Pfister, Markett und Jaspers (2009) als bedeutender Belastungsfaktor erkannt worden. Wie im Abschnitt »Humor am Arbeitsplatz?« erläutert und durch die dort zitierten Arbeiten bestätigt (sowie durch die Ergebnisse der Studie und durch eigene Erfahrungen untermauert), ist Humor genau in dieser Beziehung (Nichterfüllung eigener Ansprüche) eine wirksame Burnout-Prophylaxe. In den Untersuchungen von Dean und Gregory (2004) bzw. Dean und Major (2008) wurden darüber hinaus folgende positive Auswirkungen von Humor und Lachen in der Palliativversorgung gefunden: Sie erleichtern den Aufbau und Erhalt von Beziehungen, helfen dabei, sich mit den jeweiligen Umständen zu arrangieren, und vermitteln Sensibilität und Wertschätzung. Patienten gaben an, dass es ihnen gelang, mit Hilfe von Humor ihre Verlegenheit bei bestimmten Maßnahmen (Intimpflege) zu überwinden, sodass sie sich dadurch in ihrer Würde besser respektiert fühlten. Dean und Major stellen zudem die besondere Bedeutung des Humors für die Aufrechterhaltung von kollegialen Beziehungen heraus, wenn durch gemeinsames Lachen ein Gefühl von Gemeinschaft entsteht. Dieses trägt dazu bei, dass auch die größten Belastungen gemeinsam durchgestanden werden (»If you have those fun moments and that connectedness even the worst hell can happen«; Dean und Major, 2008, S. 1091). In schwierigen Lebenssituationen, insbesondere in existenziellem Leid brauchen Menschen  – gleich ob als Betroffene oder Begleitende  – Möglichkeiten, sich zu

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distanzieren, aus der bedrückenden Realität, wenn auch meist nur für Momente, zu flüchten, sich »wegzudenken«. Diese kurzfristige Entspannung (Pause vom Alltag) kann gelingen, wenn das Komische, das manchen Situationen innewohnt, wahrgenommen und angesprochen oder nonverbal zum Ausdruck gebracht wird. Das Komische und das Lachen können dann ein mögliches Ventil für unsere angestaute Wut, Verzweiflung, Angst und Trauer sein. Es kommt darauf an, Krankheit und Leiden ernst, sich selbst und die belastenden Situationen jedoch nicht zu ernst zu nehmen, sie also mit versöhnlichem, vielleicht sogar augenzwinkerndem Blick zu betrachten. Aus der klinischen Erfahrung ist bekannt, dass die »besten Geschichten« noch lange Zeit ihre Wirkung behalten: »Sehr oft strahlen humorvolle Ereignisse weit über den Moment des Geschehens hinaus und lösen auch Jahre später immer wieder ein heiteres Gefühl aus« (Beck, zit. nach Bischofberger, 2008, S. 66). Das Akzeptieren und aktive Fördern von Humor in der Palliative Care geschieht weder von allein noch ist es einfach, wie Iren Bischofberger unterstreicht: »die aktive Entwicklung einer individuellen Humorkultur im Angesicht widriger oder trauriger Umstände ist ein Kunststück, das Lanfranchi unterstreicht: ›Ich weiß zum Beispiel nicht, ob ich angesichts des Todes noch lachen könnte. Ich glaube, dies kann man auch nicht wissen. Ich müsste einen betroffenen Menschen nach dieser inneren Kraft fragen, die ermöglicht, das Lachen soweit zu treiben. Eigentlich ist dies für mich die größte denkbare Form: noch in Todesnähe lachen zu können‹« (Bischofberger, 2008, S. 61).

4 Eine »humorphile« Atmosphäre schaffen – Wie kann das gelingen? Um Heiterkeit, Humor und Lachen in Hospizen und auf Palliativstationen heimisch zu machen, sind folgende zum Teil bereits erprobte Möglichkeiten nutzbar. 4.1 Geeignete Atmosphäre schaffen

Falls bisher noch nicht geschehen, sollten sich Mitarbeiter und Leitung darüber einig werden, dass Humor und Heiterkeit angesichts von Sterben und Tod nicht nur toleriert, sondern geradezu erwünscht sind und gefördert werden sollten. Dies gilt nicht nur für Kontakte der Mitarbeiter untereinander, sondern ebenso für deren Begegnungen mit den Betroffenen. Hier kommt es – wie immer in der Palliative Care – darauf an, die individuellen Möglichkeiten, Wünsche und Bedürfnisse der Patienten wahrzunehmen und zu respektieren. Der Einsatz von Humor muss immer dem Gegenüber und der jeweiligen Situation angemessen sein, denn jeder Mensch hat seinen eigenen Humor und sein individuelles Verständnis von Humor. Wird er übertrieben oder zur falschen Zeit eingesetzt, kann Humor auch verletzen. Hierzu zählen insbesondere Zynismus, Sarkasmus und Humor auf Kosten des Gegenübers. Die meisten Verletzungen und Kränkungen im Zusammenleben geschehen allerdings eher durch humorloses Verhalten.

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4.2 Anregungen für die einzelnen Mitarbeiter

Damit Mitarbeiter unter Stress zur eigenen Entlastung auf frühere heitere Erlebnisse zurückgreifen können, muss dieses Therapeutikum in der Bedarfsmedikation auch vorhanden sein, d. h., sie müssen jederzeit frei darauf zurückgreifen können. Dazu können eigene lustige Begebenheiten in einer Art persönlichem Humoralbum gesammelt werden. Diese werden entweder tatsächlich niedergeschrieben oder nur im Kopf gespeichert (»meublez votre tête«). Dieses »Buch« wird lebenslang gefüllt, man kann immer darin »blättern« und die guten Gefühle aus der erlebten Situation dann erneut aktivieren. 4.3 Konkrete Anregungen für Hospiz und Palliativstation

Die Mitarbeiter können eine Humorsammlung anlegen. Hierzu zählen Cartoons (auch als Poster) und »heitere Bilder«, humorvolle Sprüche und Postkarten, die sowohl in verschiedenen Räumen der Mitarbeiter (inklusive Toiletten!) als auch – einfühlsam ausgesucht – in gemeinsamen Aufenthaltsräumen oder auf Fluren aufgehängt werden. In die Bibliothek oder – besser noch, wenn Platz vorhanden – in eine Art »Humorzimmer« – in Analogie zum Raucherzimmer (wobei das Humorzimmer wegen der positiven Auswirkungen sicherlich vorrangig einzurichten ist) – gehören lustige Bücher und Comics sowie humorvolle Filme (DVDs) und heitere Musik (CDs). Dieses Zimmer ist die Tankstelle für alle Mitarbeiter, an der die »Heiterkeits-Akkus« aufgeladen werden können. Alle Humor-Hilfsmittel können natürlich auch für und von Patienten und Zugehörige(n) genutzt werden. Die Mitarbeiter können gemeinsam ein Humorbuch gestalten, in das heitere Erlebnisse und Aussprüche von Patienten geschrieben werden, bzw. an einem hospiz-/palliativstationseigenem Witzbuch mitarbeiten, in dem passende/themenbezogene Witze gesammelt werden. Das Herzstück ist ein Humor-ABC (»Allzeit-BereitCästchen«) mit lustigen Artikeln aller Art, angefangen mit roten Nasen, Lachsäcken, verzerrenden Brillen über Masken, Quietschtiere bis hin zu witzigen Handpuppen, Musikinstrumenten (Schellen, Tröten, Ratschen etc.), sowie der regelmäßige Besuch von Palliativclowns (mit entsprechender Schulung) auf der Palliativstation und im Hospiz. 4.4 Mitarbeiter schulen

Ein von Kaye Herth 1984 entwickelter Fragebogen dient dazu, bei Patienten eine Humoranamnese als Teil der Biografiearbeit aufzunehmen. Wir schlagen vor, diesen Fragebogen von allen Mitarbeitern ausfüllen zu lassen. Das Resultat kann anschließend Grundlage für gemeinsame Fortbildungen zum Thema »Umgang mit Humor an unserem Arbeitsplatz« (Palliativstation oder Hospiz) sein. Hier beispielhaft einige Fragen daraus (Herth, zit. nach Titze und Eschenröder, 2003, S. 151; mit Ergänzungen aus unserer Erfahrung): – Bei welcher Gelegenheit haben Sie zum letzten Mal herzhaft gelacht? – Was bringt Sie zum Lachen?

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– Welche Bedeutung hat Humor in Ihrer Familie, welche humorvollen Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit? – Welche lustigen Gedichte, Sprüche oder Lieder kennen Sie? – Welche humorvollen Begebenheiten (mindestens drei) fallen Ihnen auf Anhieb ein? – Welches heitere Buch (auch Kinderbuch), welcher lustige Film ist Ihnen noch lebhaft in Erinnerung? – Wann haben Sie das letzte Mal (was) gespielt? Eine Möglichkeit zur Erweiterung des humorvollen Werkzeugs im Team stellt der Besuch einer (in letzter Zeit immer häufiger angebotenen) Fortbildung zum Thema Humor dar. Diesen Vorschlägen würde sich wohl auch der Philosoph Odo Marquard anschließen, indem er schreibt: »Denn die Heiterkeit wird zu Unrecht das Gegenteil des Lebensernstes genannt, sie ist in Wahrheit die einzig erträgliche Weise, mit dem Ernst des Lebens zu leben« (Marquard, zit. nach Weinrich, 2001, S. 53).

5 »Moral und bürgerliche Nutzanwendung« (Art der Anwendung und Dosis) Palliative-Care-Mitarbeiter glauben gelegentlich noch an die normative Vorstellung, dass man angesichts einer zum Tode führenden Erkrankung nichts mehr zu lachen habe (insbesondere die Sterbenden). Sie sollten sich jedoch vielmehr über ein zu wenig an Humor und einen viel zu ernsthaften Alltag der Betroffenen Gedanken machen. Zahlreiche Untersuchungsergebnisse beweisen, welch hilfreiches Potenzial im Komischen und in der Heiterkeit liegt, sowohl für Patienten und Zugehörige als auch für die Mitarbeiter. Da Palliativpatienten oft über sensible Antennen für Gefühlsschwingungen und die Stimmung im Team verfügen, setzt die Anwendung von Humor bei den Mitarbeitern Folgendes voraus: Zuneigung, Fingerspitzengefühl, Wertschätzung, Vertrauen, Menschenkenntnis, Lebenserfahrung und Mitgefühl. Er muss immer den jeweiligen Patienten und Situationen angepasst werden.

6 Fazit »Humor ist nicht erlernbar. Neben Geist und Witz setzt er vor allem ein großes Maß von Herzensgüte voraus, von Geduld, Nachsicht und Menschenliebe. Deshalb ist er so selten. – Aber man kann darum beten!« (Goetz, 1964, S. 8)

Literatur Bischofberger, I. (Hrsg.) (2008). Das kann ja heiter werden. Humor und Lachen in der Pflege (2. Aufl.). Bern: Verlag Hans Huber.

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Boothe, B. (2007). Prächtige Selbstdarstellung und humoristischer Scharfblick. In H. Bachmaier (Hrsg.), Humorstrategien. Lachen macht stark (S. 46–56). Göttingen: Verlag Wallstein. Dean, R. A., Gregory, D. M. (2004). Humor and laughter in palliative care: an ethnographic investigation. Palliative and Supportive Care, 2 (2), 139–148. Dean, R. A., Major, J. E. (2008). From critical care to comfort care: The sustaining value of humor. Journal of Clinical Nursing, 17, 1088–1095. Duden (1982). Das Fremdwörterbuch. Mannheim: Dudenverlag. Frankl, V. E. (2005). Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Wien: Zsolnay. Goetz, C. (1964). Dreimal täglich. Rezepte von Curt Goetz. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt. Hirsch, R.-D. (2007). Gesundheitsfaktor Humor am Arbeitsplatz. In H. Bachmaier (Hrsg.), Humorstrategien. Lachen macht stark (S. 57–82). Göttingen: Verlag Wallstein. Karpawitz, J., Berenbrinker, U. (2007). Humorkompetenz. In H. Bachmaier (Hrsg.), Humorstrategien. Lachen macht stark (S. 83–95). Göttingen: Verlag Wallstein. Lützeler, H. (1954). Philosophie des Kölner Humors. Honnef: Dr. H. Peters Verlag. Martin, R. A. (2001). Humor, laughter, and physical health: methodological issues and research findings. Psychological Bulletin, 127 (4), 504–519. Müller, M. (2004). Dem Sterben Leben geben. Gütersloh. Gütersloher Verlagshaus. Müller, M., Pfister, D., Markett, S., Jaspers, B. (2009). Wie viel Tod verträgt das Team? Eine bundesweite Befragung der Palliativstationen in Deutschland. Schmerz, 23 (6), 600–608. Robinson, V. (1977). Humor and the health professions. Thorofare, New Jersey: C. B. Slack. Titze, M., Eschenröder, C. T. (2003). Therapeutischer Humor. Grundlagen und Anwendungen (4. Aufl.). Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag. Weinrich, H. (2001). Kleine Literaturgeschichte der Heiterkeit. München: C. H. Beck. Wicki, W. (2000). Humor und Entwicklung. Eine kritische Übersicht. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 32 (4), 173–185.

Literaturempfehlungen Bischofberger, I. (Hrsg.) (2008). Das kann ja heiter werden. Humor und Lachen in der Pflege (2. Aufl.). Bern: Verlag Hans Huber. Klein, A. (1998). The courage to laugh. Humor, hope and healing in the face of death and dying. New York: Penguin Press.

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»Mit meinem Glauben kann ich vieles tragen« Glaube und Religion als Schutzfaktoren Klaus Aurnhammer

Glaube und Religion werden als unterstützende Kraft erlebt, wenn es darum geht, die Häufung von Tod in Hospiz- und Palliativeinrichtungen zu bewältigen. Das ist auf den ersten Blick völlig nachvollziehbar, schreibt man doch diesen Komponenten von alters her die Funktion zu, mit den Unbilden des Lebens zurechtzukommen. Die einen, die religiösen Menschen selbst, bestätigen dies mit teils leuchtenden Augen, die anderen, die Religionskritiker, rümpfen die Nase und disqualifizieren die Religion z. B. als Opium für das Volk (Karl Marx). Wie dem auch sei, Religion und Glaube stehen jedenfalls im Ruf, dem Menschen beim Bewältigen gerade schwieriger Lebenslagen behilflich zu sein. Was aber genau glauben denn die Menschen, worin genau zeigt sich ihre Religiosität? In Zeiten, in denen die traditionellen Verständnisse von Religion und Glaube aufgeweicht sind, ist die Antwort darauf nicht einfach. Die christlichen Kirchen stehen unter Druck, ihr Selbstverständnis wird nicht mehr kritiklos hingenommen, Skandale erschüttern die Vertrauenswürdigkeit, Struktur- und Nachwuchsprobleme verändern das erlebbare Bild von Seelsorge. Alles zusammengenommen veranlasst viele, den etablierten Kirchen den Rücken zu kehren. Ist unsere Gesellschaft damit auch auf dem Weg, Glauben und gelebte Spiritualität zu verlieren? Und schwindet damit auch die Stärkungskraft der Komponenten Religion und Glaube?

1 Belastendes Leid Ganz offensichtlich gehört der Glaube ja zu den Ressourcen, aus denen Mitarbeiter von Palliativstationen und Hospizen schöpfen, um die verschiedenen Belastungen zu verarbeiten, die sich im palliativen Arbeitsfeld ergeben. Bei den in der Studie am häufigsten genannten Belastungsfaktoren (Anspruch, Beziehung zu Patienten und Zugehörigen, Häufung von Todesfällen) fällt auf: Meist geht das belastende Moment vom Patienten oder vom Zugehörigen aus. Mitarbeiter nehmen etwas wahr, das so, wie es ist, belastet. Was genau ist das aber? Wie lässt sich dies Belastende näher beschreiben? Spontan fällt einem die Ballung von Leid ein, dem Mitarbeiter hier ausgesetzt sind. Da ist zunächst das körperlich sichtbare und erlebte Leid der Patienten, das mit der Vielzahl der Symptome, die beklagt werden, einhergeht. Der Anspruch der Palliativmedizin ist der, dieses Leid zu lindern. In vielen Fällen gelingt dies tatsächlich. Erfolgreiche Symptomkontrolle

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bewirkt Schmerzlinderung, nimmt die Übelkeit, macht Atemnot erträglich, verringert die Angst. Ein Grundleid bleibt jedoch immer: Der sterbende Mensch nimmt an Kraft und Wachheit ab, Mobilität lässt nach, Appetitlosigkeit und Schwäche nehmen im Verlauf der Erkrankung unweigerlich zu. Daran ändert auch die Palliativmedizin nichts. Mit diesem Leid müssen Patient und Zugehörige selber fertigwerden. Wo Menschen fähig werden, dies hinzunehmen, in dieses Leid hineinzuwachsen, lindern sie es. Doch nicht alle können diesen Weg gehen. So bleibt in der palliativen Versorgung immer Leid bestehen, bisweilen wächst es. Dass sich dies mit dem Anspruch der Palliativmedizin reibt, ist deutlich. Ebenso deutlich ist, dass die Mitarbeiter, die eine größere Nähe zu Patienten oder Zugehörigen erleben, diesem Leid intensiver ausgesetzt sind. Ein weiterer Aspekt ist die Frage nach der Hoffnung. Immer wieder müssen sich Palliativpatienten und ihre Zugehörigen mit enttäuschter Hoffnung auseinandersetzen. Zuerst die Hoffnung, zu gesunden, dann die Hoffnung, noch eine längere Zeit zu leben zu haben, dann die Hoffnung, möglichst leidfrei zum Sterben zu gelangen, vielleicht die Hoffnung, zu Hause zu sterben. Es sind oft viele größere und kleinere Hoffnungen, die erwachsen und wieder zunichte gemacht werden. Diesen zerbrechenden Hoffnungen bis hin zur Hoffnungslosigkeit sind Mitarbeiter permanent ausgeliefert. Eine ähnliche Belastung erwächst aus dem Aspekt Lebenssinn. Auch wenn etliche Patienten im Nachdenken und Erzählen immer wieder vom Sinn ihres gelebten Lebens berichten, welchen Sinn hat es jetzt, das Leben in dieser Weise beschließen zu müssen? Ginge es nicht ohne so viel Leid und Schmerz? Wo Patienten dies nicht (mehr) ausdrücken können, tun es ihre Zugehörigen. In vielen Gesprächen mit Zugehörigen müssen sich die Mitarbeiter mit dieser Frage beschäftigen: Was ist der Sinn des Lebens, des Leids, des Sterbens? Diese spirituellen Fragen drängen auf Antwort, die es aber so schnell gar nicht gibt. Wie gelingt es, dies auf Dauer auszuhalten? Und dann ist da noch die oft gemachte Beobachtung, dass so vieles im menschlichen Leben ge- und zerbrochen ist. Nicht nur die körperliche Kraft und Vitalität sind damit gemeint.

2 Lebensbrüche Oft sind Mitarbeiter Zeugen zerbrochener Beziehungen oder gebrochener Willenskraft. Der Gebrechen sind viele in der Nähe des Sterbens. Vieles aus dem bisherigen Leben tritt an dieser Stelle noch einmal deutlich und ungeschützt hervor und steht sperrig im (Lebens-)Raum. Wohin damit? Was tun mit diesen Fragmenten menschlichen Gestaltens? Eine Vielfalt von Leid, Situationen ohne Hoffnung und Sinn, Leben in aller Gebrochenheit. All dem sind Mitarbeiter auf Palliativstationen und in Hospizen vielfach ausgesetzt. Zugleich sind damit existenzielle und zutiefst spirituelle Dimensionen berührt. Unterstützung muss genau diese Dimension mitberücksichtigen. Wer tröstet Menschen in dieser Lage? Wer oder was stärkt sie? Ich wähle an dieser Stelle bewusst den Begriff Trost. Ich halte Mitarbeiter einer Palliativstation oder eines Hospizes, also auch mich selbst, für ausgesprochen trost-

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bedürftig. Wer sich sterbenden Menschen mit dem Anspruch der Palliativmedizin oder der Hospizidee immer wieder nähert, Beziehungen zu ihnen und ihren Zugehörigen aufbaut, wer dem Sterben sozusagen alltäglich ausgesetzt ist, der kann nicht anders, als trostbedürftig zu werden. Denn er wird immer wieder hineingenommen in das Leid und seine vielfältigen und oft ungelösten Fragen. Und die Fragen der Sterbenden und ihrer Zugehörigen sind immer auch meine Fragen. Will ich sensibel bleiben für dieses Leid, dann geht es mich an, dann treibt es mich um und an, dann macht es mich trostbedürftig. Vielleicht gehört es ja zu den Funktionen des Schutzfaktors Glaube, dass er mich tröstet. Und dadurch kräftigt. Fragen wir also als erstes, was denn Trost überhaupt ist.

3 Was will und kann Trost? Spontan fällt den meisten Menschen ein, zu beschreiben, was Trost denn nicht für sie ist: billige Sprüche, haltloses Gerede, ausweichendes Verhalten; die Liste unheilvoller (Ver-)Tröstungen wird schnell lang und länger. Und es sind nicht die Substantive, die die Trennlinie markieren, es sind die Adjektive, die Eigenschaftsworte, die Trost von Vertröstung trennen. Könnte es also Trost spenden, wenn die Sprüche wert-voll und sinn-voll, das Reden gehalt-voll und das Verhalten begegnend wären? Schon beim Lesen wird ein Unterschied deutlich, ein Unterschied, der durch die Qualität entsteht. Trost wird also zum echten, wirksamen Trost durch die Qualität der Rede, die Qualität des Tuns. Menschen haben in der Regel ein feines Gespür für das, was für sie Trost ist. Aber woher wissen wir, was Trost ist? Der Soziologe Franz Xaver Kaufmann sagt: »Was Trost heißt, haben wir erfahren, bevor wir das Wort kannten« (Kaufmann, 2008, S. 68). Trost ist also offensichtlich eine frühkindliche Erfahrung. Der Pädagoge Hartmut von Hentig erinnert sich: »Gewiss hat der vierjährige Hartmut in den Armen von Salme, der estnischen Kinderfrau, die in meiner Kindheit die Mutter vertrat, Trost gefunden. Ich trug ihr meine Not zu; ich weinte mich aus; sie verstand, auch ohne dass ich etwas sagte, was mich bedrückte – ein verloren- oder kaputtgegangenes Spielzeug, eine Zurücksetzung, eine eigene Schuld, an der ich hilfloser litt als an einem Schmerz. Hatte ich mir wehgetan, wandte sie die Zaubersprüche der Erwachsenen an; diese nahmen den Schmerz nicht, aber ›Heile heile Segen‹ verbunden mit Streicheln tat wohl; jemand nahm mich wahr; ich war nicht allein. Entscheidend war, dass Salme nicht aufhörte, bevor ich nicht selbst aus dem Leid ausstieg. Nun war ich geheilt – der Trost war mehr als nur das bezeugte Mitleid, das Gebaren von Salme gewesen, mehr als ein bewährtes Beruhigungsmittel. Ihre bereitgehaltene Liebe war der benötigte Trost« (von Hentig, 2008, S. 13). Was uns diese Erinnerung lehrt, ist: Trost ist nichts, was ich verobjektivieren kann, es ist keine instrumentalisierte Methode. Trost ist nur dann Trost, wenn er auch subjektiv als solcher erlebt wird. Und: Trost ist immer ein Beziehungsgeschehen. In der Begegnung mit einem Gegenüber geschieht das Tröstliche. Für unsere Überlegungen zum Trost

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der Religion sind diese Erkenntnisse wichtig. Das, was Religion und Glauben zu bieten haben, muss diesen Kriterien genügen: Es geht um subjektives Erleben und es geht um erfahrbare Beziehung. Was bewirkt nun der Trost? Der Theologe Hans Gerd Schwandt schreibt: »Wer tröstet, ist beim Leiden des anderen mit dabei, er qualifiziert, er verändert, er füllt die Zeit des Leidens, aber er verkürzt sie nicht« (Schwandt, 2008, S. 43). Ein zentrales Moment des Tröstens ist, dem anderen sein Leid zu lassen. Das Leid wird nicht weggeredet, es wird weder durch Gesten noch durch Riten weggemacht, es wird geachtet, gewürdigt, ernst genommen, mitgefühlt. Genau dieses Lassen macht es möglich, dass sich das Leiden und der Leidende verändern, und zwar im Leid, nicht außerhalb des Leides. Halten wir fest: Wir haben drei Kriterien gefunden, die den wertvollen Trost von der billigen Vertröstung unterscheiden: das subjektive Erleben, die erfahrbare Beziehung und das mitfühlende Lassen. Alles Religiöse (Reden, Handeln, Rituale, Glauben) muss sich an diesen drei Kriterien messen lassen, wenn es trösten will.

4 Was ist Religion? Fragen wir als nächstes, was denn Religion eigentlich ausmacht. Wie können, wie müssen wir sie verstehen? Diese Grundüberlegungen werden uns helfen, die dann folgende Frage zu beantworten, welche Stärkungskraft Religion haben kann. Der schon oben zitierte Karl Marx gehört zu den Ersten, die den Zusammenhang von Religion und Gesellschaft reflektierten und damit neue Wissenschaftsformen beflügelten: die Religionswissenschaft und die Religionssoziologie. Interessanterweise scheint es bis heute schwierig zu sein, eine allgemeingültige und wissenschaftlich fundierte Definition von Religion zu geben. Die Fülle der Theorien wird gemeinhin in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe versucht, Religion von ihren jeweiligen Glaubensinhalten her zu beschreiben (substanzieller Religionsbegriff ). Was sagt diese oder jene Religion aus über die Begegnung des Menschen mit Gott oder dem Göttlichen? Wie drücken Menschen diese Begegnung in der Praxis aus? Für das Thema Stärkungskraft der Religion ist hier zu fragen, ob und wie professionelle Begleiter im Palliative-Care-Kontext diese Begegnung als kräftigend erleben und mit welchen Ausdrucksmöglichkeiten Religionen dies realisieren. Die andere Gruppe versteht Religion von ihrer Funktion her, die sie für einzelne Menschen und die Gesellschaft hat. Eine Vielzahl religionssoziologischer Ansätze arbeitet mit dem funktionalen Religionsbegriff. Die Frage nach der Funktion von Religion ist auch für unsere Überlegungen von Bedeutung. Welche Funktion hat Religion für das Arbeitsfeld der Palliativversorgung? Wie erfüllt Religion diese Funktion? Und was müsste Religion in einer postmodernen, nachbürgerlichen Zeit entwickeln, um Menschen diese Kräftigung spürbar zu machen? Aus diesen beiden unterschiedlichen Ansätzen lässt sich eine Verschränkung zweier Bewegungsrichtungen ableiten, die für unser Thema von entscheidender Bedeutung ist. Die eine Richtung blickt auf den einzelnen Menschen und in ihn hinein. Dabei geht es nicht nur um die Frage des persönlichen Glaubens im Sinne des Fürwahrhaltens

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bestimmter Glaubenslehren. Es geht auch um die im Inneren erlebte Begegnung mit Gott, dem Göttlichen oder dem Numinosen, um ein inneres Sich-Ausrichten darauf. Nennen wir es die Innerlichkeit. Die andere Blickrichtung gilt den äußeren Ausdrucksformen des Religiösen. Gottesdienste, Versammlungen oder religiöse Riten gehören zu dieser Außenseite der Religion. Beide Blickrichtungen schließen einander nicht aus, sie können auf vielfältige Weise miteinander verschränkt sein, bisweilen sich auch gegenseitig bedingen.

5 Religiosität heute Die Bertelsmannstiftung hat im Jahr 2007 eine weltweit angelegte interreligiöse Studie gestartet (Bertelsmannstiftung, 2009). Im Mittelpunkt der Untersuchung stand die Frage, wie Religion heute erlebt wird und wie sie sich ausdrückt. Einige der Ergebnisse sind überraschend, auf jeden Fall sind sie für unsere Fragestellung nutzbar. Die Studie unterscheidet drei Typen: Für die sogenannten Hochreligiösen spielen religiöse Themen und ihre Ausdrucksmöglichkeiten eine große Rolle. Das Moment der Innerlichkeit ist hochbedeutsam. Bei den Religiösen kommen religiöse Themen und Praktiken vor, sie haben aber keine große Bedeutung. Religiöse Menschen greifen allerdings in bestimmten Lebenssituationen (Geburt, Heirat, Tod) auf religiöse Riten und Angebote zurück. Nicht-Religiöse zeichnen sich dadurch aus, dass religiöse Inhalte und Praktiken kaum vorkommen. Das Ergebnis der Befragung in Deutschland: 70 % der Bevölkerung sind religiös oder hochreligiös einzustufen. Religiöse Themen, Rituale und religiöse Sprache finden hier Nährboden. Das Ergebnis erstaunt, wenn man parallel dazu die Abkehr größerer Bevölkerungsteile aus den traditionellen Kirchen betrachtet. Offensichtlich ist die Abkehr von der Kirche nicht identisch mit der Abkehr vom Religiösen. Die Hochreligiösen spitzen es zu. Je intensiver Religiosität erfahren wird, desto distanzierter ist das Verhältnis zur Institution Kirche. Die Erklärung des Religionsmonitors: Das entscheidende Kriterium für intensiv erlebte Religiosität ist nicht mehr die Übereinstimmung mit bestimmten von den Kirchen vorgegebenen Glaubenslehren und Normen, sondern die »authentische Präsentierbarkeit des eigenen Lebens« (Nassehi, 2009, S. 120). Es kommt nicht so sehr darauf an, was man glaubt, sondern wie man glaubt, authentisch eben. Das innere Erleben und die daraus folgende Lebenspraxis bekommen so einen hohen Stellenwert. Dies ist bedeutsam, wenn wir der Frage nachgehen, wie wir die Trost- und Stärkungskraft des Glaubens im Palliativzusammenhang zu verstehen haben.

6 Trost des Glaubens – Aufgehobensein Nachdem wir von der Religionssoziologie gelernt haben, dass in der postbürgerlichen Gesellschaft die Innerlichkeit als ein entscheidendes Moment gesehen wird, lautet die Frage: Was bietet die Religion dem Mitarbeiter einer Palliativstation als innen erlebbare Stärkung? Zunächst fallen einem die hoffnungsorientierten Gedanken der mono-

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theistischen Religionen ein: Es gibt ein Jenseits, in dem der Verstorbene gut aufgehoben ist. Abrahams Schoß ist ein jüdisch-christliches Bild dafür. Es gibt die Vorstellung von einem letzten Gericht und von Gottes Gerechtigkeit, die ja nicht nur das Element der Strafe für begangene Sünden enthält, sondern auch die Idee der Belohnung kennt. In der christlichen Theologie spricht man davon, dass Gott das Leben des Verstorbenen vollendet und in seiner Liebe birgt, das Leid ist aufgehoben. Religion lebt von der Vorstellung, dass Gott die Welt und das Leben mit einem tieferen Sinn geschaffen hat, auch wenn wir Menschen diesen nicht immer erkennen können. All diese Vorstellungen sind geeignet, zu trösten. Doch wie geht das? Zunächst sind es ja Glaubenssätze und Vorstellungen, die außerhalb des einzelnen Menschen in der Tradition der jeweiligen Religion entstanden sind. Von den tief religiösen Menschen, die aus einer solchen Tradition stammen, dürfen wir annehmen, dass sie diese Überzeugungen in sich aufgenommen und vielleicht auch bereits bejaht haben. So sind sie in Zeiten von Belastung grundsätzlich erinnerbar und aktivierbar. Dies kann auch symbolisch geschehen. So können eine Geschichte, die die Vollendung oder Gottes Gerechtigkeit thematisiert, ein Psalm oder ein Gebet dieses Potenzial ansprechen und mit neuer Energie aufladen. Dieser innere Prozess ist aber mehr als nur gedankliches Erinnern. Es geschieht im und mit dem Erinnern etwas mit diesem Menschen. Gottes Gerechtigkeit oder die Vollendung des Lebens wird erlebbar, spürbar. Der Mensch, der dies erlebt und reflektiert, könnte sagen, dass dies eine innere Erfahrung von Gottes Nähe ist. Und es kann sein, dass diese Begegnung Kraft gibt. Eine solche Erfahrung entspricht den oben beschriebenen Kriterien für echten Trost: Es ist ein subjektives Erleben, die Beziehung zu Gott wird erfahrbar und Gott wird wahrgenommen als jemand, der einem die Belastung zwar lässt (also zumutet), sich dabei aber mitfühlend zeigt. Dies erfährt längst nicht jeder. Voraussetzung ist ja eine schon tief in der Persönlichkeit und dem Identitäts- und Lebenskonzept verwurzelte Spiritualität. Und selbst dann lässt sich diese Erfahrung weder machen noch erzwingen. Sie kann geschehen, aber sie muss nicht. Schwester Claudia arbeitet seit einigen Jahren auf einer Palliativstation. Bei der Versorgung eines Verstorbenen hat sie sich angewöhnt, gegen Ende ein stilles Gebet zu sprechen. Warum tut sie das? Sie berichtet: »Mit dem Gebet kann ich den gestorbenen Menschen Gott übergeben. Ich glaube, dass er dort gut aufgehoben ist. Vielleicht hat er es da besser als im wirklichen Leben.« Mit diesem Gebet rührt die Schwester an das Trost- und Kräftigungspotenzial des Glaubens. Die Vorstellung, dass der Verstorbene bei Gott einen Platz hat und aufgehoben ist, lässt die Krankenschwester das Gebrochensein und das Un-Heil des Krankseins und des Sterbens anders tragen. Oder anders: Sie kann dies existenzielle Un-Heil dem Patienten lassen, weil sie es bei Gott gut aufgehoben weiß. Dies stärkt und tröstet.

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7 Trost des Glaubens – Balsam des Beistehens Ein anderer kräftigender Zugang der Religion ergibt sich, wenn wir die Urerfahrung des Menschen mit Trost betrachten. Diese Erfahrung ist geprägt von der Begegnung mit anderen Menschen. Und diese anderen Menschen sprechen und handeln aus einer ganz bestimmten Haltung heraus. Sie lassen dem Belasteten seinen Schmerz, sind aber mitfühlend bei ihm. Der Philosoph Christoph Türcke formuliert dies so: »Ernster Trost hat teil an der Betrübnis. Er verscheucht sie nicht. Er tritt leise hinzu und legt sich ihr wie Balsam auf: lindernd. Trost kann Leid nicht beseitigen, nur lindern. Das ist stets zu wenig – und doch etwas vom Schönsten, was Menschen einander tun können« (Türcke, 2008, S. 46). Aus diesem Gedanken lässt sich so etwas wie ein Auftrag für die gegenseitige Begleitung in einem Team ableiten. So können Kollegen zu Begleitern werden, wenn sie leise hinzutreten und den Balsam auftragen. Wenn dies gelingt, kann ein belasteter Mitarbeiter in der Begegnung mit einem Kollegen auch die religiöse Dimension des Trostes und damit Stärkung erfahren. Der Begleiter und sein tröstendes Handeln werden zum Symbol für das Stärkungspotenzial der Religion. Der Begleiter spricht und handelt nicht einfach als Privatperson. Er kann zum Symbolträger werden für Trost, auch für religiösen Trost. In der modernen Krankenhausseelsorge der letzten dreißig Jahre spiegelt sich diese Erfahrung als grundsätzlicher Ansatz wider. Erhard Weiher (2007) spricht davon, dass ein Begleiter durch seine Art und Weise des Begleitens zum Segen wird für den anderen. In vielen Hospiz- und Palliativeinrichtungen sind Seelsorger in die Arbeit integriert. Im Blick auf die Stärkungskraft von Glaube und Religion können sie eine wichtige Rolle spielen. Moderne Krankenhausseelsorge übernimmt ja auch den Part, für die Mitarbeiter der Einrichtung Begleitung und Kräftigung anzubieten. Die Mitarbeiter erfahren in der Begegnung mit dem Seelsorger das Angenommensein durch Gott, das Dabeisein im Leid, den Trost also durch die Art und Weise, in der der Seelsorger spricht und handelt. In der christlichen Theologie hat dieses Vor-Bildliche seine Wurzeln in der Gottes-Ebenbildlichkeit des Menschen und dem Nachfolgeauftrag Jesu. Für unser Thema wichtiger aber ist, dass dies Gesagte nicht einfach theologisch (nach-)gedacht wird, sondern tatsächlich und real erfahren werden kann. Denn nur so wird es den Mitarbeitern zur Kraft. Kurz: Der Trost Gottes wird erfahrbar im tröstenden Handeln des Seelsorgers. Schaut man den Exegeten des Alten Testamentes über die Schulter, erfährt man Folgendes: Das hebräische Wort für Trost hat enge Verwandtschaft mit »atmen«, »seufzen« oder »aufatmen«. »Für das Bedeutungsspektrum Trost bedeutet dies: Wer Trost erfährt, erfährt Hilfe und Kraft zum Aufatmen und zum (Weiter-)Leben. Wer Trost spendet, spendet und mehrt Leben. Von wem Trost ausgeht, ist Quelle des Lebens und des Heils« (Zenger, 2008, S. 182). Wenn der Seelsorger in der Zeit der Belastung da ist, sich zu den Mitarbeitenden begibt, vielleicht einfach nur mit ihnen Kaffee trinkt, ihnen Raum zum Aufatmen und Aufseufzen gibt, kann das schon Trost und Kräftigung bewirken. Dabei machen nicht

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die Worte den Trost aus, sondern die Begegnung, die auch zum Symbol für die Trostkraft des Glaubens wird. Das Eigentliche geschieht in solchen Situationen nicht im Außen, sondern im Inneren der Menschen.

8 Trost des Glaubens – Beispielhaftes Die Dimensionen von Begegnung und Authentizität sind auch aktiviert, wenn ich als Mitarbeiter Patienten und Zugehörigen begegne, die ihrerseits gläubige Menschen sind und dies auch ausdrücken. Das, was ich da erlebe, ist oft höchst authentisch und so tief innerlich, dass es mein eigenes Gläubigsein berührt. Da ist Frau Bernd, 72 Jahre alt, die an einem metastasierenden Darmtumor leidet. Sie ist verwitwet, hat zwei Söhne und kam mit großen Schmerzen und Übelkeit auf die Palliativstation. Die Schmerzen und die Übelkeit sind gut kontrolliert, Frau Bernd ist aber in den letzten Tagen immer schwächer geworden. Sie weiß, dass sie sterben wird. Sie sagt: »Wissen Sie, es ist jetzt gut. Ich habe genug gekämpft. Ich glaube, dass ich es drüben besser habe. Gott wird mir jemanden schicken, der mich abholt.« Oder Herr Jürgen, der Bruder eines 59-jährigen Patienten, der im Sterben liegt. Herr Jürgen hatte keine gute Kindheit. Geschlagen vom Vater, missbraucht vom eigenen Bruder, der ihm lange den Kontakt verweigerte. Jetzt aber kommt er regelmäßig zu Besuch. Herr Jürgen sagt: »Ich bin zwar kein Kirchgänger, aber ich glaube an Gott. Mein Bruder war ein harter Hund, das stimmt. Aber ich habe ihm jetzt verziehen, und ich glaube, dass Gott das auch tut. Und dann ist es gut.« Dabei weint er. Solche Erlebnisse rühren tatsächlich an das eigene Innere. Die tröstende und stärkende Kraft des Glaubens wird spürbar und kann mich selber trösten und stärken. Selbst Zweifler spüren dies. Schwester Petra ist sich beim Thema Glauben nicht so sicher. Sie sucht, zweifelt an althergebrachten Glaubenssätzen, sie weiß nicht recht, was sie glauben soll. Sie könnte dies Thema einfach auf die Seite tun, sich nicht mehr damit beschäftigen. Doch auch sie wird durch Begegnungen mit einer Frau Bernd oder einem Herrn Jürgen angerührt, sie beschäftigt sich weiter mit ihrem Glauben. Sie sagt: »Was immer ich auch glauben soll, eines merke ich: durch das alles erhält meine Arbeit einen Sinn.« Die Erkenntnisse der neueren Religionssoziologie bestärken diesen Ansatz. Wenn es den Hochreligiösen darum geht, im Inneren religiös berührt zu werden, damit ihr Lebensvollzug authentisch sein kann, dann setzt religiöser Trost genau da an. Die wesentlichen Komponenten, auf die es ankommt, sind Begegnung, Innerlichkeit und Authentizität.

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9 Trost des Glaubens – Verbindung mit der »anderen Seite« Alle Religionen bieten angesichts des Todes vielfältige Formen von Ritualen an. Offensichtlich ist der Tod ein solch bedeutsames Ereignis für uns Menschen, dass wir ihn allein und in Form gesellschaftlicher Vollzüge rituell begehen, z. B. bei der Aufbahrung oder der Beerdigung. Die funktionalen Ansätze der Religionssoziologie haben dieses Phänomen eingehend untersucht. Niklas Luhmann (2000) beschreibt Religion als Kommunikationsform, die die Übergänge von Immanenz zu Transzendenz und umgekehrt markiert. Dabei legt Luhmann Wert darauf, dass Immanenz und Transzendenz nicht zwei isoliert zu betrachtende Aspekte sind, sondern sich gegenseitig bedingen. Immanenz als das, was wir sehen, anfassen, messen können, erklärt sich durch die Transzendenz, also durch das, was jenseits des Anfassbaren und Messbaren liegt. Ohne das »Auf-der-anderen-Seite« ist das Hier nicht erklärbar. Und umgekehrt gilt: Das, was wir dem »Auf-der-anderen-Seite« zuzählen, erklärt sich durch das, was wir zum Hier zählen. Riten und Rituale sind dabei Formen, die genau diese Grenze mit inhaltlicher Bedeutung aufladen. Der jeweils spezifische Inhalt ist dabei abhängig von Überzeugungen und Glaubenssätzen der jeweiligen Religion. Im Ritual kann der Mensch über die Grenze des Immanenten hinausgreifen, also sehr konkret denken, fühlen und handeln. Dadurch wird dieses Andere begreifbar, es lässt sich integrieren in unser Hier und Jetzt, ohne dass es dadurch allseits verfügbar wird. In diesem Hinüberspüren und -begreifen liegt für den religiösen Menschen Trost. Die Trennung bleibt Trennung, ist aber abgefedert durch eine erfahrbare Möglichkeit, in Verbindung zu sein mit der anderen Seite. Viele Handlungselemente von Mitarbeitern in Palliativ- und Hospizeinrichtungen tragen Züge des Rituellen. Das Gebet von Schwester Claudia ist ihr zum persönlichen Ritual geworden. Ähnlich ist es bei Schwester Manuela, die den Verstorbenen, wo immer es geht, ein Blümchen mit in die Hand gibt. Viele Hospiz- und Palliativeinrichtungen veranstalten einmal oder öfter im Jahr einen Gedenkgottesdienst. Die Zugehörigen der Menschen, die in einem bestimmten Zeitraum von dieser Einrichtung versorgt wurden und die in dieser Zeit starben, werden zu einem Gottesdienst eingeladen. In einem solchen Gottesdienst wird in Gebet, Gesang, Schweigen und Gesten der Verstorbenen gedacht. Die eigentliche Zielgruppe dieses Gedenkens sind die Zugehörigen. In vielen Einrichtungen dient der Gottesdienst aber auch den Mitarbeitenden zur Verarbeitung. Etwas salopp formuliert es ein Mitarbeiter einer Palliativstation: »Es ist so ein bisschen wie Jahreshauptversammlung. Man schaut zurück, zieht Bilanz, schließt ab und schaut nach vorne.« Die Atmosphäre eines solchen Gottesdienstes ist meist dicht und intensiv, vor allem dann, wenn Mitarbeitende auch Mitgestaltende sind. Die Gottesdienstbesucher, Zugehörige wie Mitarbeitende, erleben in dieser Feier etwas Sinnvolles, sie geben ihrer Hoffnung Ausdruck und können neben das Erleben, dass Leben immer etwas Gebrochenes hat, eine Erfahrung von Ganz- oder Heilsein stellen.

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10 Glaube nimmt nicht, Glaube lässt Kann Glaube kräftigen und schützen? Ja, er kann. Er tut es, indem er die verletzte und geplagte Seele tröstet. Dabei kommt der Trost nicht als Schulterklopfen oder Trostpflaster daher. Getröstet fühlt sich der Mensch in der Begegnung und im symbolischen Tun. Das eigentliche Geheimnis allen Glaubens liegt allerdings noch woanders. Während der verständliche Grundimpuls meist darin liegt, das Leid doch irgendwie zunichte machen zu wollen, lässt der Glaube dem Leiden einen Platz im Leben. Er birgt es sozusagen. Der Getröstete lebt mit dem Leid, nicht gegen es. Eine Versuchung von Palliativmedizin und Hospizarbeit liegt wohl darin, zu meinen, man könne mit der bestmöglichen Versorgungsqualität das Leid stets bannen. Daran misst sich allzu oft der hohe Anspruch der Palliativmedizin, an dem ganz offensichtlich viele leiden. Gewiss ist es notwendig, dem Leid, so gut es eben geht, mit Linderung zu begegnen. Und doch bleibt Leid. Das Leben und die Erfahrungen in den vielen Palliativ- und Hospizeinrichtungen lehren uns dies. Der Glaube in seinen vielfältigen Gestalten entwickelt seine tröstende Kraft, indem er diesem Leid einen behüteten, vielleicht sogar begründeten Platz gibt. Im besten Sinne kann der Glaube das erfahrene Leid in einer Balance halten, die es möglich macht, damit im Alltag von Palliativmedizin und Hospizarbeit zurechtzukommen.

Literatur Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2009). Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. Hentig, v. H. (2008). Trost versus Tröstung. In T. R. Peters, C. Urban (Hrsg.), Über den Trost (S. 12–18). Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag. Kaufmann, F. X. (2008). Die Trostlosigkeit der Kinder. In T. R. Peters, C. Urban (Hrsg.), Über den Trost (S. 68–72). Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag. Luhmann, N. (2000). Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Nassehi, A. (2009). Erstaunliche religiöse Kompetenz? Qualitative Ergebnisse des Religionsmonitors. In Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008 (S. 120 ff.). Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. Schwandt, H. G. (2008). Alles aus Worten. In T. R. Peters, C. Urban (Hrsg.), Über den Trost (S. 38–43). Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag. Türcke, C. (2008). Von den Zwillingen: Tod und Trost. In T. R. Peters, C. Urban (Hrsg.), Über den Trost (S. 44–46). Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag. Weiher, E. (2007). Die Religion, die Trauer und der Trost (3. Aufl.). Ostfildern: Matthias-GrünewaldVerlag. Zenger, E. (2008). Biblische Miniaturen über Trösten und Trost. In T. R. Peters, C. Urban (Hrsg.), Über den Trost (S. 182–187). Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag.

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Vom (V)Ertragen zum Ertrag

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Vorbemerkung Ertrag Monika Müller

Wie viel Tod verträgt ein Team? Wie viel Leid ist erträglich? Das sind die Fragen, denen das Buch bis hier nachgegangen ist. Nicht nur, weil es ein hübsches Wortspiel ist, stellt sich aber auch die Frage nach dem Ertrag der Arbeit. Gibt es (auch) einen Gewinn, den der Umgang mit Sterben und Tod bringen könnte? Eine kanadische Untersuchung (Sinclair, 2011) hat herausgefunden, dass der ständige Umgang mit Sterben und Tod eine besondere Nähe zur eigenen Sterblichkeit herstelle. Daraus gewännen die meisten Teammitglieder Kraft und Sinn. In drei Perspektiven (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) fand Sinclair elf wesentliche Themen, die einen Ertrag andeuten. Zum Faktor Vergangenheit bestätigten die meisten der im Feld Tätigen die These, dass frühe Erfahrungen mit Tod, unabhängig davon, ob sie positiv erlebt oder abgewehrt worden waren, zur Berufswahl in diesem Bereich führen. Auf die Gegenwart bezogen erlebten die Studienteilnehmer die Konzentration auf das Hier und Jetzt als großen Gewinn. Auch über ihre eigene Sterblichkeit nachzusinnen und spirituelle Fragestellungen zuzulassen, sahen sie als Ertrag der Arbeit. Für die Zukunft entwickelten die Behandler und Begleiter eigene Sterbebilder, die sie für ihr Lebensende anstreben und umsetzen wollen. Ein guter Tod ist für die meisten die größte Herausforderung und mit dem Blick auf ein sinnvolles Leben und mit Angstfreiheit verbunden. Menschen, die in der Hospizarbeit und Palliativmedizin arbeiten, erleben ihr Tun als Gegenpol zur Verdrängung und Tabuisierung der Themen Sterben, Tod und Trauer in der heutigen Gesellschaft. Ihr persönliches Leben scheint ihnen durch die Arbeit bereichert und der Umgang mit dem Lebensende vollzieht sich fern von Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit. Dieser Umgang erweist sich als einzigartige Möglichkeit, durch das, was sie von Patienten lernen, zu wesentlichen Einsichten für ihr Leben zu kommen.

Literatur Sinclair, S. (2011). Impact of death and dying on the personal lives and practises of pallative and hospice care professionals. CMAJ, 183, 180–187.

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Was bewirken Hospizarbeit und Palliativmedizin? Monika Müller

1 Bekannte Wirkungen Eine merkwürdige Frage, wird man beim Lesen der Überschrift denken. Und vor allem nun, zu diesem Zeitpunkt, wo doch schon über 25 Jahre in diesem Bereich gearbeitet wird. Hospizarbeit und Palliativmedizin in Deutschland sind weit verbreitet und die Mitarbeiter sind keine Anfänger mehr auf diesem Gebiet. Natürlich wissen wir alle, was diese Arbeit bewirkt oder bewirken soll: ein Sterben in Schutz und Geborgenheit, Schmerzlinderung und sogar Schmerzfreiheit, eine Verbesserung der quälenden Symptome wie Atemnot, Müdigkeit, Übelkeit und Erbrechen, auch die Erleichterung von Sorgen und Ängsten. Lebensqualität, so wird immer wieder werbend gesagt, die Lebensqualität steht im Vordergrund, diese soll gestärkt oder wiederhergestellt werden. Und es geht – so wissen wir außerdem – in der Hospizarbeit darum, nicht dem Leben mehr Tage hinzuzufügen, sondern den Tagen mehr Leben, wie es Cicely Saunders bei all ihren öffentlichen Auftritten immer wieder so treffend formulierte. All das ist uns vertraut, wir setzen es tagtäglich um. Hospiz und Palliativmedizin sind bekannt, stehen für Qualität, haben Ansehen, viele sterbende Menschen und ihre Familien danken für die dort geleistete Arbeit. Also: Was soll die Frage?

2 Die Wirkung, sich »das Leben zu nehmen« Nun, ich meine mit meiner fragenden Überschrift zur Wirkung einmal nicht die Patienten, die Gäste, die, denen unsere Sorge und Hingabe gilt, auch nicht ihre Angehörigen und Freunde. Ich meine: uns selbst. Uns, die haupt- und ehrenamtlichen Helfer, die Koordinatoren, die Vorstandsmitglieder, die anderen Hauptberuflichen in den Pflegediensten, Krankenhäusern, Altenheimen, Pfarreien, Arztpraxen, die im weitesten Sinne mit zum Team gehören. Was bewirkt Hospizarbeit in uns? Das ist vielleicht gar nicht so schnell zu beantworten. Mit unserer verbesserten Lebensqualität können wir die Frage wahrlich nicht abtun, denn da ist oft großes Leid, das uns nahe-, ja häufig nachgeht, da ist die Frage nach dem Sinn und der Theodizee, da lassen uns Bilder von Krankheiten und Nöten manches Mal nicht schlafen, da ent-

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Was bewirken Hospizarbeit und Palliativmedizin?

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wickeln sich in uns Ängste, dass auch wir krank werden, einen geliebten Menschen verlieren könnten, da opfern wir viel Zeit und Kraft. Und doch: In aller Mühsal der Arbeit bewirkt sie etwas Grundlegendes in uns. Die Welt, die uns außerhalb der Arbeit umgibt, lehrt uns nicht, zu sterben. In der Gesellschaft wird vieles getan, um den Tod aus unserem Bewusstsein zu verbannen. Es scheint, als ginge es nur darum, Ziele zu erreichen, als wäre Leistung der einzig gültige Wert. Aber sie lehrt uns ebenfalls nicht, zu leben, bestenfalls, mit dem Leben zurechtzukommen, was beileibe nicht das Gleiche ist. Wir sind immer mehr mit dem Machen befasst und laufen immer heftiger dem Haben nach. Auch in der Palliativmedizin und Hospizbewegung gibt es einige Haltungen dem Leben gegenüber, die sich im besten Fall mit Lebensscheu umschreiben lassen. Während wir bei allen Zielbestimmungen und Therapieplänen eifrig die Lebensqualität der uns anvertrauten Patienten diskutieren und uns in ethischen Konsilien um sogenannte Lebenswertanamnesen bemühen, vernachlässigen wir häufig genug die eigene Lebensqualität, ja wissen manchmal gar nicht mehr, woraus sie bestehen könnte. So wirkt das Kümmern um fremde Lebensqualität gelegentlich wie ein trauriger Ersatz. In den Supervisionsrunden wird immer wieder von Lebenshemmungen berichtet, die sich aus Respekt vor dem großen Leid der Patienten einstellen. Ein Psychologe im Hospiz erzählt etwas gedämpft von seinem Bergurlaub. Eine Kollegin fragt nach, ob seine mangelnde Begeisterung daher rühre, dass das Wetter nicht so gut gewesen sei. Nein, sagt er, nur habe er bei jedem Gipfelerlebnis darüber nachgedacht, ob es gerecht und angemessen sei, dass er so viel Kraft und Freude an der Bewegung empfinde, derweil zu Hause seine Patienten ans Bett gefesselt mit dem letzten Atemzug kämpften. Auch empfinde er es als Zumutung für sie, sich ihnen nun lebendig, gesund und erholt zu präsentieren. Mit welchem Recht, denke er, sei er denn überhaupt erholungsbedürftig gewesen? Das alles habe seine Urlaubsfreude eingeschränkt. Nun im Erzählen merke er erst, was er sich da angetan habe. Und dass es keinem Kranken nutzen würde, wenn sich die Helfer Leben und Lebensfreude versagten. Ein weise Formulierung aus alter Zeit begleitet uns bis heute: »Media vita in morte sumus«, mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben. Sie ist uns steter Appell auf Besinnung, vor lauter Lebenszugewandtheit den Tod nicht zu vergessen. Aber für uns in Hospizarbeit und Palliativmedizin Tätigen scheint die gelegentliche Umdrehung der Formel angebracht. Sie könnte dann heißen: »Media morte in vita sumus«, mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen. Mitten in all den kleinen eigenen und großen fremden Toden dürfen wir das Leben, seine Würdigung und seine Feier nicht aus den Augen verlieren. Es ist uns sozusagen zum Auftrag geworden, dass wir uns dem Leben annehmen und nicht versagen oder es aufschieben. Nach nunmehr zwanzig Jahren Begleitung von Menschen in ihrer letzten Lebensphase und im Trauerprozess scheint mir die Beobachtung wichtig, dass die Möglichkeit,

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mit seinem Leben etwas nachsichtiger abzuschließen und dem Tod ein wenig sachter entgegenzublicken, weniger eine Frage des Alters ist als eine Frage des gelebten Lebens. Eine erschütternde Erfahrung in diese Arbeit ist die Tatsache, dass wir häufig erleben, wie Menschen ihr Leben immer wieder verschoben haben. Mancher Patient hatte sich vorgenommen, später das Leben zu genießen, wenn der Pflichtteil des Familienaufbaus und des Arbeitslebens abgeleistet ist. Just zu diesem gesetzten Zeitpunkt sehen sich diese Patienten dann oft mit einer Krankheit konfrontiert, die dieses geplante Leben auf das Äußerste bedroht. Nachdrücklich im Ohr höre ich den tiefen Seufzer eines 65-jährigen tumorkranken Mannes: »Ach, hätte ich mir das Leben doch nicht aufgespart. Jetzt ist es zinslos verloren!« Er hatte sich vor seiner Erkrankung das Leben und die Freude daran versagt, stets mühsam gearbeitet und gespart und das »wirkliche Leben dann endlich« nach seiner Pensionierung beginnen wollen. Und das Paradoxe war, dass es genau dann endete, weithin ungelebt, noch nicht einmal unterbrochen, weil es noch gar nicht richtig begonnen worden war. Diese »Hätte ich doch …« und »Wäre ich doch …« sind Aussagen tiefer Enttäuschung über sich selber, das verfügbare Leben vergeudet und mit den Füßen getreten zu haben. Leben ist etwas, das sich unmittelbar gibt, das sich im Moment anbietet, das nicht den Verweis auf morgen oder den Rückblick auf gestern braucht, das sich nicht in der Planung vollzieht, sondern im Hier und Jetzt sich anbietend ergibt. So ist eine der Wirkungen unserer Arbeit vielleicht das Erkennen der Kostbarkeit von Leben. So zart, so zerbrechlich stellt es sich uns dar, und wir lernen, behutsamer mit diesem Geschenk Leben umzugehen. Vielleicht gelingt es uns heute mehr und öfter als früher, dieses Geschenk anzunehmen, es bewusst umzusetzen und nicht zu warten und zu verschieben auf ein Demnächst, auf ein Später, wenn … Vielleicht leben wir mehr und tiefer in den Minuten und Stunden und Tagen, die uns gegeben sind.

3 Die Wirkung von Hilflosigkeit und Ohnmacht Hospizbewegung und Palliativmedizin sind seinerzeit angetreten gegen die ärztliche, pflegerische und psychosoziale Ohnmacht und Hilflosigkeit angesichts des erlebten Leides von Patienten in der Finalphase. Sagten Vertreter der kurativen Medizin mit großem Ausdruck des Bedauerns: »Wir können nichts mehr für Sie tun«, so begehrten die Anhänger der Palliativmedizin auf: »Wir können immer noch eine ganze Menge für Sie tun …« Praxis und Forschung unserer Arbeit sorgten dafür, dass die Schmerztherapie immer effizienter, die Umsorgung Schwerstkranker und ihrer Zugehörigen gezielter und umfangreicher wurde, dass die Bilder des Sterbens und seiner Prozesse sich zum Teil radikal verändert haben von einem Dahinsiechen zu einer manchmal ge- und erfüllten letzten Lebensphase, die Möglichkeiten von Sinnfindung und Lebensqualität in sich birgt. Und doch: Der Umgang mit der Hilflosigkeit hat aber nur sein Gesicht und seine Sprache verändert. Auch der Siegeszug der Hospizarbeit und Palliativmedizin und ihre

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immer breiter werdende Akzeptanz haben im Blick auf die Symptombekämpfung, Schmerzkontrolle, Gesprächsbereitschaft und die gemeinsamen Paletten aller möglichen Interventionen nicht übersehen können, dass die Erkenntnis, letztendlich nichts mehr tun zu können, immer noch gilt, wenngleich die Trennmarke sehr viel weiter nach hinten verschoben wurde. An dieser Schwelle muss der Patient innerlich allein weitergehen mit seinem Druck, seiner Verzweiflung, seinen unbeantworteten Fragen, seiner mangelnden Sinnerschließung, seiner doch noch so bitter fühlbaren Lebensplanung. Ärzte, Pflegende, Seelsorgende, Ehrenamtliche, Psychologen und Sozialarbeiter stehen an dieser Schwelle, ohne jede Macht und ohne jede Antwort, und fühlen allzu oft ihre Hilflosigkeit. Dann kein Ziel zu haben, keine Absicht zu verfolgen und so auch keine Entwicklung durch unser Handeln überprüfen und keinen Erfolg der Bemühungen feiern zu können, kann uns im Nahesein mit Sterbenden und Trauernden noch einmal mehr unsere Hilflosigkeit spüren lassen. Nicht alles im Sterbeprozess eines Menschen unterliegt unserer oder seiner Kontrolle. Es mag geschehen, dass wir die Schmerzen eines Patienten gut einstellen können bzw. beherrschen (!) (nomen est omen), seine Angst vor dem Sterben aber ungemindert und ungehindert fortbesteht, ja sich möglicherweise sogar noch stärker artikuliert. Wir wurden zwar immer sensibler für die verschiedenen offen und verdeckt gezeigten Leiden sterbender Menschen, aber das Resultat unseres Handlungsimpulses »Problem erkannt« lautet in vielen Bereichen unserer Wirklichkeit nur allzu selten »Problem gebannt«. Die Macht, noch etwas tun zu können, wurde in Palliativmedizin und Hospizarbeit vom Ziel der Heilung auf das Ziel der Linderung und Lebensqualität verschoben. Allerdings müssen wir uns den Teil der Wurzel, die Macht, genau anschauen, denn wo ein Machtanspruch auftaucht, ist häufig genug das Ohnmachtsgefühl sein Zwilling, zumindest in den Bereichen, wo nichts (mehr) beherrschbar ist. »›Machen Sie doch nicht so ein Gesicht, Doktor Düsseldorf‹, sagt der kleine Oskar zu seinem behandelnden Arzt. ›Sie waren immer sehr korrekt beim Behandeln meiner Krankheit. Hören Sie also auf, so schuldbewusst zu gucken. Es ist nicht Ihre Schuld, wenn Sie den Leuten schlechte Nachrichten überbringen müssen, Krankheiten mit lateinischen Namen, die nicht zu heilen sind. Sie müssen sich entspannen. Zur Ruhe kommen. Sie sind nicht Gottvater. Sie können nicht über die Natur bestimmen. Sie sind nur eine Art Mechaniker. Sie müssen […] sich selbst nicht so wichtig nehmen, sonst werden Sie den Beruf nicht lange ausüben können‹« (Schmitt, 2003, S. 95 f.). Die langen und immerwährenden Debatten, wie in konkreten Situationen zu entscheiden ist, was ethisch erlaubt ist und was nicht, verdecken oft sehr unzulänglich, dass hier auf der rationalen, medizinisch-therapeutischen und auch ethischen Interventionsebene, an den real existierenden und belastenden Gefühlen der Helfer vorbeigeredet wird. Entlarvt sich nicht auch manchmal in den sehr gut gemeinten Überlegungen, Herr über Leben und Tod zu sein, dieses geheime Denken in Macht- und Ohnmachtkategorien? Auch hier gilt: Wer die Kleinheit und Angst in sich selbst entwertet, macht

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manchmal die Hierarchie in seiner Innenwelt nach außen deutlich. Die Einsicht in dieses Syndrom und der Verzicht darauf zeugen von Weisheit und Mut. An dieser Stelle gilt es, den Glauben an die Allmöglichkeit in dieser Arbeit noch einmal auf seine Tragfähigkeit zu überprüfen. Es gibt Gegebenheiten, denen wir mit Demut vor dem Leben gegenüberstehen müssen. Da gilt es, den Machtanspruch zu ent-machten. Wenn ich mich vom Gedanken des Allmach(t)baren verabschiede, so muss ich in der Folge auch keine Ohnmacht empfinden. Das, was machbar ist, sollte unter Realitätsprüfung und dann mit allen Kräften versucht und umgesetzt werden, das aber, was nicht beeinflussbar ist, mit einer Haltung fern von Depression angenommen werden. In dieser Wirkung der Arbeit auf uns bietet sich eine Begrifflichkeit an, die es meines Erachtens verdient, aus der Verbannung geholt und mit neuem Leben gefüllt zu werden, gerade im Bereich der Begleitung sterbender und trauernder Menschen: die Demut. Die Demut, die ich in unserer Arbeit zunehmend erlebe, hat nichts zu tun mit Selbsterniedrigung, Selbstverachtung, Unterwürfigkeit oder Willfährigkeit. Demut ist hier die Erkenntnis eines Samsons, eines Goliaths und eines Siegfrieds, dass eine Panzerung, und sei sie auch aus Drachenblut, am Ende nichts nützt, da immer ein Fleckchen bleibt, an dem wir hilflosen Helfer tödlich verletzbar bleiben. Für diese Einsicht, die äußeren Panzerungen und Stützen fahren zu lassen und sich in der eigenen Verletzlichkeit zu erleben, braucht es den erwähnten Mut. Dann zeigt sich Hilflosigkeit als Kraft. Sie ist das Zuschauen im Erstaunen, das Einlassen auf die Realität, das Anerkennen der Wirklichkeit, ohne sie in allen Einzelheiten zu verstehen und zu begreifen, und das Annehmen der eigenen Rolle. Hilflosigkeit als Suffix »-losigkeit« macht unsere Schritte schleppend. Der Entschluss zur Anerkennung von Hilflosigkeit als Akt der Demut mag uns zur Leichtfüßigkeit verhelfen.

4 Die Wirkung, sich mit dem Tod vertraut zu machen »›Zähmen, das ist eine in Vergessenheit geratene Sache‹, sagte der Fuchs. ›Es bedeutet: sich vertraut machen.‹ ›Vertraut machen? Was muss ich da tun?‹ sagte der kleine Prinz. ›Du musst sehr geduldig sein‹, antwortete der Fuchs. ›Du setzt dich zuerst ein wenig abseits von mir ins Gras. Ich werde dich so verstohlen, so aus dem Augenwinkel anschauen, und du wirst nichts sagen. Die Sprache ist die Quelle der Missverständnisse. Aber jeden Tag wirst du dich ein bisschen näher setzen können‹« (Saint-Exupéry, 2000, S. 99). Im Hospiz- und Palliativbereich zu arbeiten bedeutet, dem Sterben jeden Tag ein bisschen näherzukommen. Wie im von Janosch nacherzählten Grimms Märchen »Der Tod und der Gänsehirt« (Janosch, 2010) schauen wir bei jedem uns anvertrauten Patienten »von der anderen Flussseite« zu, wie der Tod die einzelnen Menschen zum Mitgehen auffordert, und wie der Gänsehirt lehrt uns dieses Hinsehen, dass wir aufzustehen und mitzugehen haben, wenn es an uns ist. Wenn alle Therapien aufgebraucht sind und keine Hoffnung mehr auf Heilung besteht, leisten Menschen oft Großes. Es

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gilt anzuerkennen, dass nun aktives Aufbegehren und Kampf nicht mehr die Mittel der Wahl sind, sondern dass die letzte Leistung das Sich-Anheimstellen ist. Unsere heutige Gesellschaft scheint die Wertschätzung der sogenannten passiven Eigenschaften verlernt zu haben, umso mehr gilt dies im Umgang mit Leid und Krankheit. Sich gedulden, sich fügen, abwarten, etwas erdulden, sich in Gelassenheit üben, erleiden, sich hingeben etc. sind in der heutigen Welt äußerst umstrittene Eigenschaften. Für Werte wie Hingabe, Niederlage, Aufgeben, Lassen, Verlieren usw. haben wir keinen positiven Hintergrund. Wenn solche oder ähnliche Begriffe vorkommen, werden sie manchmal durch die Endung »-losigkeit« eher als Defizite gebrandmarkt: Mutlosigkeit, Kraftlosigkeit, Gedankenlosigkeit, Hemmungslosigkeit – als ein Fehlen von etwas, was zur Lebensbewältigung scheinbar notwendigerweise verfügbar sein sollte. Schon das Wort Bewältigung – z. B. im Zusammenhang mit einer Lebenskrise wie Trauer oder einem Gefühl wie Angst – zeigt einen großen Irrglauben, als ob wir letztlich und grundsätzlich Sieger bleiben könnten. Manche Sterbende, aber auch um ihre Liebsten trauernde Menschen lehren uns eine Fülle anderer, neuer Umgangsmöglichkeiten als das Aufbegehren gegen etwas, das sich nicht beirren lässt. In der Hingabe erlauben sie sich zu überlassen, zuzustimmen, zu dulden und zu erdulden, einzuwilligen, zu akzeptieren, zu ermöglichen, zu bewilligen, zu ermächtigen, zu gewähren, zu bejahen. Es gehört eine überaus große Portion Mut dazu, das Erleben der Ohnmacht in Hingabe umzuwandeln. Hingabe zu üben bedeutet, zu lernen, dass Verletzungen und Leiden Möglichkeiten des Wachstums sein könnten: dass wir die Ahnung in uns bekräftigen, dass es etwas außerhalb unserer Erkenntnismöglichkeiten und jenseits der Bereiche unseres Wollens geben mag, das nicht zu bekämpfen ist, sondern das es anzuerkennen gilt. Dass wir uns eingestehen, dass nicht wir das Größte sind, weil nur dieses Wir uns bekannt und vertraut ist, sondern etwas über uns ist, viel größer als das Bekannte und fern unseres Zugriffs. Und dass es ein erhabener Moment sein kann, mit diesem unvergleichlich Großen in Kontakt und Auseinandersetzung zu sein. Begleiter erzählen, dass sie genauso viel, wenn nicht ungleich mehr von ihren Patienten und den ihnen Anvertrauten zurückerhalten hätten, als sie ihnen je gegeben hätten. Eines dieser Geschenke ist sicher das Miterleben solcher tapferer und beherzter Beugungen, die ein Wegweiser sein können für das eigene Sterben. Das und mehr können Wirkungen der Arbeit auf uns sein. Und diese Wirkkraft ist der Ertrag aller Anstrengungen, Mühen und Härten des Tätigseins in Hospizarbeit und Palliativmedizin.

Literatur Janosch (2010). Janosch erzählt Grimm’s Märchen (7. Aufl.). Weinheim: Beltz. Saint-Exupéry, A. de (2000). Der kleine Prinz. Düsseldorf: Karl Rauch Verlag. Schmitt, E.-E. (2003). Oskar und die Dame in Rosa. Zürich: Amman Verlag.

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Gibt es einen Ertrag von so viel Todesberührung? Ein Kurzinterview mit Birgit Weihrauch

1 Gab es Visionen, als Sie Ihre Arbeit begannen? Die Hospizbewegung war von Beginn an visionär – Visionen haben ihr ihre Dynamik und ihre Kraft verliehen. Mein Engagement für die Hospiz- und Palliativarbeit seit Ende der 1980er Jahre setzte auf der politischen, konzeptionellen/strukturellen Ebene an, auf der es in dieser frühen Phase so vieles und so ganz Grundsätzliches zu tun gab. Meine Visionen, von denen auch mein Engagement beflügelt und getragen wurde, resultierten sehr wesentlich aus meinem persönlichen Erleben und meinen Erfahrungen als junge Ärztin in deutschen Krankenhäusern in den 1970er Jahren, in denen ich die Isolation und das unwürdige Sterben schwerstkranker Menschen schmerzhaft erlebt hatte. Wenn man in dieser Zeit die Frage gestellt hätte: »Wie viel Tod verträgt eine Ärztin oder das Team einer Station?«, so hätte die Antwort wahrscheinlich noch ganz anders ausgesehen als in diesem Buch. Im Konsens mit den vielen engagierten Menschen, die die Bewegung trugen, habe ich daher die sich entwickelnde Hospizbewegung und die Palliativmedizin aus meiner Verantwortung im Gesundheitsministerium heraus mit großer Begeisterung politisch unterstützen und mitgestalten können. Unsere Visionen gewannen Gestalt in den Leitsätzen für die Hospizbewegung in NRW und durch vielfältige Umsetzung in die Tat.

2 Was haben Sie in Ihrer Arbeit umsetzen bzw. erreichen können? Hospizbewegung und Palliativmedizin sind viel mehr als der Aufbau neuer Strukturen im Gesundheitssystem. Es ging und geht um ein Umdenken und eine andere Kultur im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer in unserer Gesellschaft, die den Menschen in den Mittelpunkt rückt, seine Würde, seine Wünsche und Bedürfnisse. Und natürlich geht es auch um strukturelle Entwicklungen im Gesundheitssystem, um die Schaffung neuer Rahmenbedingungen, damit ein Sterben in Würde gelingt. Dies waren unsere Ziele – sowohl während meiner langjährigen Tätigkeit im NRW-Gesundheitsministerium seit den Anfangszeiten der Hospiz- und Palliativarbeit in Deutschland als auch in meiner ehrenamtlichen Funktion als Vorstandsvorsitzende des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbands: die Öffentlichkeitsarbeit, die Gründung der Alpha-Stellen in NRW, die Entwicklung konzeptioneller Grundlagen und Durchführung innovativer Modellprojekte,

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daraus abgeleitete Gesetzgebungsverfahren und landesweite Konsensusprozesse bis hin zum Rahmenprogramm für die ambulante Palliativversorgung. Viele in NordrheinWestfalen haben daran mitgewirkt; ich empfinde dies mit Dankbarkeit bis heute als eine Erfolgsgeschichte. Auch in meiner Tätigkeit als DHPV-Vorsitzende galt und gilt es, die Rahmenbedingungen weiter zu verbessern, deutschlandweit mehr Menschen ein schmerzfreies und selbstbestimmtes Sterben zu ermöglichen und – gemeinsam mit vielen weiteren Engagierten – dafür die qualitativen und finanziellen Voraussetzungen zu verbessern. Die neuen gesetzlichen Grundlagen im Sozialgesetzbuch V zur Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) und zur Finanzierung der Hospizarbeit sind dafür nur zwei Beispiele; von besonderer Bedeutung ist sicher die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland mit ihrer großen gesellschaftspolitischen Bedeutung.

3 Welches sind Ihre Wünsche und Anliegen für die Zukunft? Wir stehen in unserer alternden Gesellschaft vor großen Herausforderungen. Wir befinden uns in einer Situation, die zunehmend von Ökonomie, Individualinteressen und Wettbewerb geprägt ist und in der die Zahl alter und demenziell erkrankter Menschen mit palliativem Versorgungs- und Pflegebedarf weiter wächst. Mein Wunsch und Anliegen ist es, dass auch in der Zukunft eine ethische Auseinandersetzung in unserer Gesellschaft über die Fragen von Leben und Tod gelingt, die die Würde des Menschen, seine Wünsche und Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt. Und dass für jeden schwerstkranken und pflegebedürftigen Menschen mit palliativem Versorgungsbedarf ein würdevolles Leben bis zuletzt möglich wird. Die Hospizbewegung und insbesondere die Arbeit der Ehrenamtlichen stehen für die Solidarität mit schwerstkranken und sterbenden Menschen in unserer Gesellschaft. Wir brauchen auch in der Zukunft bürgerschaftliches Engagement, und es bedarf eines ganzheitlichen, integrativen Ansatzes von Hospizarbeit und Palliativversorgung, in dem alle erforderlichen hauptamtlichen und ehrenamtlichen Hilfen umfassend und Hand in Hand erbracht werden.

4 Welchen Ertrag für sich selber, für Ihr Leben haben Sie von der Arbeit in diesem Feld? Während meiner fast 25-jährigen Arbeit in diesem Bereich habe ich einen tief greifenden Bewusstseinswandel in unserer Gesellschaft erlebt, getragen von einer dynamischen Bürgerbewegung Hospiz und begleitet von einem engagierten Auf- und Ausbau palliativer Versorgungsstrukturen – eine soziale Bewegung, wie ich sie nie zuvor erlebt habe. Die intensiven Auseinandersetzungen mit den ethischen Fragen über Leben und Tod, mit Grenzsituationen menschlichen Lebens, Wertediskussionen und Diskussionen über Gesellschaftsbilder, wie sie zuletzt im Zusammenhang mit der Frage des ärztlich assistierten Suizids öffentlich und kontrovers geführt wurden, haben nicht nur etwas

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mit dem beruflichen Alltag zu tun, sondern prägen und verändern die persönlichen Sichtweisen, die Diskussionen und das Selbstverständnis innerhalb der Familie und mit Freunden. Der Bewusstseinswandel in unserer Gesellschaft ist ja keine abstrakte Veränderung gesellschaftlicher Haltungen, sondern bedeutet in jedem individuellen Fall eine ganz reale und sehr persönliche Auseinandersetzung, eine Bereicherung auch für mein Leben. Mich hat die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens, den damit zusammenhängenden sehr grundlegenden Fragen und immer wieder auch mit dem eigenen Sterben bewusster gemacht im Umgang mit dem eigenen Leben, das wir nicht aufschieben dürfen; Begegnungen mit Menschen werden intensiver und vieles wird ausgesprochen, was vielleicht unausgesprochen geblieben wäre, weil es Ängste, Zweifel, Ratlosigkeit auszulösen vermag. Und schließlich – diese Fragen immer wieder zu verbinden mit der Frage: »Was kannst du selbst in deiner Funktion und mit deinen Möglichkeiten tun, um im Sinne unserer gemeinsamen Visionen und unserer Ziele die Dinge wirksam weiter voranzubringen?« Das ist eine bleibende und wunderbare Herausforderung.

Vielen Dank für Ihren Einsatz und Ihre Antworten. Und viel Kraft für die Aufgaben, die noch vor Ihnen liegen.

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Hilft die Palliativarbeit bei eigenen Lebenskrisen? Ein Rundgespräch im Team, moderiert von Martina Kern

Dieser Beitrag ist unserer langjährigen Kollegin Bettina gewidmet, die im Sommer 2011 verstorben ist. In der vergangenen Zeit haben wir in unserem eigenen Team viele Verlusterfahrungen erleiden oder hinnehmen müssen. Eine Kollegin ist aufgrund von Krankheit für mehrere Monate ausgefallen. Von zwei Kolleginnen ist der Vater, von einer Kollegin die Mutter verstorben. Zusätzlich erleben einige Kolleginnen noch schwere Erkrankungen in der Familie. Eine langjährige Kollegin unseres ambulanten Teams ist im Sommer 2011 an einer Tumorerkrankung verstorben. So viele gleichzeitige Einschnitte in das eigene Leben innerhalb unseres Palliativteams haben wir noch nie erlebt. Viele Fragen beschäftigen uns: Welches Verhalten ist angemessen in dieser Situation? Wie viel können wir noch ertragen? Was hilft uns? Und gleichzeitig gibt es durchgehend ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit, in diesem Feld arbeiten zu dürfen, uns darin geborgen zu wissen. Dies nahmen wir zum Anlass, uns über die Frage auszutauschen, ob die Palliativarbeit bei eigenen Lebenskrisen hilft, es auch hier eine Art Ertrag geben könnte. Im Folgenden sind einige Gedanken wiedergegeben.

1 Wie geht es euch, wenn ihr an die Belastung im eigenen Leben denkt? Dorothee: »Mein Gefühl ist, man ist überhaupt nicht vorbereitet, und die ganze Arbeit und Erfahrung hilft dann auch nicht. Als ich von der weit fortgeschrittenen Erkrankung meiner Mutter gehört habe, da war nur noch Schmerz und Nicht-Verstehen, ich hatte gar keinen Zugang zu meinem Wissen, fühlte mich haltlos und laienhaft.« Martina: »Bei mir zeigte es sich anders, glaube ich. Als ich von der weit fortgeschrittenen Erkrankung meines Vaters hörte, sah ich sofort den Weg, der vor ihm liegen würde. Ich begann, innerlich zu planen, überlegte, was die kommenden Schritte sind, was nun zu tun ist, was wir organisieren sollten. Das gab mir Halt und Sicherheit. Ich hatte ein recht genaues Bild, wie es sein würde. Dies Bild kam allerdings stark ins Wanken, als mein Vater sich gegen meine Erwartung für eine Chemotherapie entschied und mich bat, mit ihm zu hoffen und an das Leben zu glauben, daran, dass er es schaffen könnte. Das

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irritierte mich zunächst, nahm mir jede Sicherheit. Ob ich das würde leisten können? Da hatte ich auch einen Moment das Gefühl, alles Erlernte hilft gar nicht, ist vielleicht sogar hinderlich, und es ist alles anders, als ich es mir vorgestellt habe. Und früher einmal hatte ich das Gefühl, dass es bei eigenen Berührungen mit dem Thema nicht nur nicht hilft, in diesem Arbeitsfeld zu sein, sondern es auch noch verkompliziert. Ich erinnere mich an eine Situation, als eine Freundin und Kollegin von mir vor vielen Jahren an einem Tumor erkrankte. Beide arbeiteten wir im Bereich der Palliativversorgung. Ich höre sie noch sagen: ›Es ist bösartig‹, und wenige Minuten später hielt sie einen Vortrag, den sie mit Bravour meisterte. Mir war es damals schleierhaft, wie sie dies schaffen konnte. Wir haben über die Bedrohung der Erkrankung durchaus gesprochen, aber irgendwie war es so, als redeten wir über einen außenstehenden Dritten. Wir sprachen darüber, welche Phase in der Krankheitsbearbeitung das nun sein könnte, dass man in dieser Form darüber reden könnte. Wir sprachen in einer Weise über unsere Gefühle, als wären es die eines anderen, nicht von unseren Gefühlen und Empfindungen, schon gar nicht mit ihnen. Wir waren beide innerlich im Gespräch nicht wirklich beteiligt. Ich erinnere eine Situation, in der wir uns heiter ausmalten, wie es sein würde, wenn sie tot wäre, wie sie dann wohl aussehen würde, wer von den Kollegen oder gar Vorgesetzten den Sarg tragen sollte … Meistens fanden diese Gespräche am Telefon statt. Wenn wir aufgelegt hatten, hatte ich einen dicken Kloß im Hals, und ich hätte nur schreien können: ›Nein, was machen wir denn da? Ich will das alles nicht.‹ Oft habe ich mir ausgemalt, wie Gespräche gewesen wären, wenn wir beide im Thema naiv gewesen, keine berufliche Erfahrung damit gehabt hätten. Es ist schon spannend, welche skurrilen und anstrengenden Wege sich unsere Seele suchen muss, um das Unverstehbare als unverstehbar auszudrücken, wenn man alle Abschieds- und Sterbeprozesse selbst so gut kennt. Und mit diesem Blick war unsere Reaktion dann sicher auch angemessen.«

2 Gibt es auch Ertragreiches im Zusammenhang mit eigenen Verlusterfahrungen? Karen: »Ich glaube, ich habe es wiederum anders erlebt. Uns traf die Diagnose vor zweieinhalb Jahren – meinen Vater sowie unsere Familie. Ich, sozusagen als Expertin, erfuhr es zuerst – er hatte ein Bronchial-Karzinom, weit fortgeschritten. Für mich war es selbstverständlich, dass ich es ihm sagte – er sollte es nicht von einem Fremden erfahren. Ich war so dankbar über meine Erfahrung, die ich in der Palliativarbeit gewonnen hatte. Ich hatte den Mut, es ihm zu sagen, wusste worauf zu achten war, wenn man schlechte Nachrichten vermittelt. Ich fühlte, dass es richtig war. Aufrichtigkeit war in unserer Familie immer ein hoher Wert gewesen. Schon als Kind hatte ich gelernt, nichts sei schlimmer als eine Lüge. Diese Szene jedoch hat sich eingebrannt in mein Gedächtnis: Wir saßen uns gegenüber an einem kleinen Tisch im Krankenhaus. Ich werde seinen Blick nicht vergessen, als ich ihm sagte, dass es äußerst ernst sei und dass noch weitere Untersuchungen folgen würden.

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Mein Vater war kein Mann von großen Worten. Bis zu diesem Tag hatte er nur selten über Gefühle mit uns (seinen Kindern) gesprochen. Das hat sich von dem Moment an verändert, in dem er von seiner lebensbegrenzenden Erkrankung erfuhr. Ich lernte meinen Vater von seiner sehr empfindsamen und emotionalen Seite kennen und durfte ihn in der folgenden Zeit begleiten. Stand wieder eine Untersuchung an, versuchte ich, bei dem anschließenden Arztgespräch dabei zu sein. Ich hörte mit und erinnerte ihn an die Fragen, die er stellen wollte. Fast immer telefonierten wir am selben Tag noch einmal oder tauschten uns einige Tage später über das Gesagte aus. Ich habe diese gemeinsamen Gespräche als sehr wertvoll erlebt. Natürlich war ich in dieser Zeit in erster Linie Tochter und nicht Beratende. Dennoch haben mir mein Wissen und die Erfahrung, die ich während der Arbeit im Palliativzentrum erworben habe, enorm geholfen in der Einschätzung des Krankheitsverlaufs. Mir tat es gut, informiert zu sein. Es folgten Radiatio und Chemotherapie, und mein Vater konnte, abgesehen von wenigen Einschränkungen, seinem Alltag wie gewohnt nachgehen. Und dennoch war innerlich alles anders: Meine Familie und ich erlebten die gemeinsam mit meinem Vater verbrachte Zeit viel intensiver als früher. Es entstand eine emotionale Nähe, wie ich sie vorher nicht gekannt hatte. Wir nutzten viel mehr Gelegenheiten, als Familie zusammenzukommen, und ließen den anderen mehr an unserem Alltag teilhaben. Das betrachte ich jetzt als großes Geschenk. Zwei Jahre verbrachten wir mit dem Wissen, dass uns die Erkrankung jederzeit einholen könnte, und trotzdem versuchten wir, so ›normal‹ wie möglich zu leben.« Dorothee: »Ja, das ging mir ähnlich. Das Wissen und die Zuversicht, dass wir es schaffen würden, haben mich und uns als Familie durch diese Zeit getragen. Dennoch kann ich sagen, dass ich mit dem ständigen Rollenkonflikt zu kämpfen hatte: Für meine Eltern war ich Tochter, aber auch eine vom Fach, vor allem die Übersetzerin von der medizinischen Fachsprache. Für die Krankenschwestern auf der Station in der Universitätsklinik war ich lästige Angehörige und Kollegin. ›Das müssten Sie doch eigentlich wissen‹, hieß es da. In Gesprächen mit der Hausärztin war ich Fachkollegin (›Sie kennen sich ja mit solchen Erkrankung aus!‹), aber auch immer Tochter. Erstmals wirklich gesehen als die, die ich war, fühlte ich mich von dem hinzugezogenen Palliativmediziner, der mich gut kannte und die verschiedenen, gleichzeitigen Rollen durchschaute. Auch am Schluss auf der Palliativstation hatte ich diese verschiedenen Rollen, doch die Kolleginnen begegneten mir mit einem hohen Maß an Verständnis und Achtung. Schwierig war meine Rolle auch im Geschwisterkreis. Ich selbst fühlte mich oft eher stark, wenn es z. B. um die Frage ging, ob meine Mutter noch eine Reise antreten könne. Ich habe das ›Alles ist machbar‹ vertreten, wie ich es in meiner Arbeit gelernt und erfahren habe. Ich war zwar Angehörige, aber gleichzeitig auch Expertin im Familiensystem. Meine Geschwister haben durch diese Situation erst verstanden, worin genau meine Arbeit besteht, wie wertvoll sie ist. Auch nach dem Tod meiner Mutter hat sich diesbezüglich meine Rolle in der Familie positiv verändert.« Martina: »Wenn ich darüber nachdenke, ist es die Haltung, die tief in uns verankert ist.

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Die trägt dazu bei, die Arbeit auch in eigenen Sterbe- und Trauersituation als ertragreich zu erleben. Als mein Vater starb, war ich nicht dabei. Ich war in einem mir wichtigen Urlaub, hatte morgens noch mit ihm gesprochen, gefragt, ob ich zurückkommen solle. ›Bitte bleib da‹, sagte er zu mir, ›alles ist gesagt und vorbereitet, wir wissen, dass wir uns nah sind, und wir haben immer alles zu Ende gebracht, und das machst du mit dem Urlaub jetzt bitte auch.‹ Damit war die Entscheidung gefallen, mit der ich mich vorher lange herumgeschlagen hatte. Soll ich in den Urlaub fahren und damit mein Leben in den Vordergrund stellen oder nicht, soll ich zurückfahren zu seinem Sterben oder nicht, wird es mir hinterher leidtun oder nicht? Ich telefonierte oft mit meiner Schwester, leitete sie an, erklärte meiner Mutter die Symptome und spürte in mir eine große Gelassenheit, Sicherheit und Zuversicht, dass alles gut gehen würde. Und es verlief alles ruhig und weitgehend entspannt, den Wünschen meines Vaters entsprechend. Nachdem mein Vater am nächsten Tag zu Hause verstorben und ich danach zurückgefahren war, kam eine Mitarbeiterin vom Beerdigungsinstitut. Wir standen als Familie beisammen. Für uns war es erstens klar, dass wir Zeit für den Abschied brauchten, zweitens hatten wir es leicht, uns gegen einen teuren Sarg zu entscheiden, in Vaters Sinn. Die Dame versuchte uns klarzumachen, dass die letzte Ehrerbietung in Eiche doch eine andere Qualität habe als die in Kiefer und einen Ausdruck für die Beziehung darstelle. Darüber setzten wir uns lächelnd hinweg. Wir wussten, was Vater gewollt hätte – und auch, dass die Beziehung nicht von Eiche oder Kiefer abhängt. Selbstbewusst und selbstverständlich setzten wir uns über manche Normen hinweg. So ging es weiter: von der Beerdigungsanzeige, die wir selbst entworfen haben, bis zum Gottesdienst, den wir aktiv mitgestalten wollten. Die Dame vom Beerdigungsdienst verabschiedete sich anerkennend und ein wenig verwundert mit den Worten, dass sie solch eine Familie noch nie erlebt habe und es ihr – so unpassend das jetzt klinge – richtig Spaß gemacht habe, uns und unseren klaren Vorstellungen zuzuhören. Die Situation zeigte mir, dass es für mich vom Ablauf bei aller Einzigartigkeit eine normale Situation war. Ich habe schon viele Verstorbene gesehen und so war mir dieses Bild nicht fremd. Sterben und Tod sind in meinem Beruf alltäglich und so findet eine Gewöhnung im positiven Sinne statt.«

3 Welche Bedeutung hat das Team in eigenen Lebenskrisen? Karen: »Mein Vater wurde als Notfall auf die Palliativstation aufgenommen. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie seltsam sich das anfühlte, den eigenen Vater nun hier zu wissen. Doch letztlich war es für uns alle eine sehr heilsame Erfahrung. Die Kolleginnen einmal von der anderen Seite zu erleben und nun selbst als Angehörige ihre wohltuende, wertschätzende Haltung gegenüber dem Patienten und der Familie zu spüren, das war beglückend, trotz des großen Schmerzes. Ich durfte mich darauf verlassen, jederzeit Hilfe holen zu können. Alle im Team haben dazu beigetragen, dass meine Familie sich sicher aufgehoben fühlte.

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In den folgenden Wochen und bis zum heutigen Tag habe ich mich auf mein Team verlassen können. Auf mich wurde geachtet, und ich wurde geachtet. Ich glaube, dass genau diese Haltung uns stark macht. Dass sie uns hilft, in Zeiten wie diesen über uns hinauszuwachsen. Und noch etwas: Meine persönliche Erfahrung hat mich noch sicherer gemacht, dass wir mit unserer Arbeit den richtigen Weg gehen. Ich war nie in der Gefahr, verloren zu gehen.« Martina: »Das kann ich nachvollziehen. Es fällt uns allen zwar schwer, damit umzugehen, wenn es einen von uns trifft, und die richtigen Worte zu finden, und gleichzeitig verbindet uns diese Situation, spüren wir doch trotz aller Belastung, wie gut es tut, sich im und durch das Team getragen zu wissen. Die Situation fordert von allen Beteiligten viel Sensibilität und Respekt. Die Kolleginnen, die einen Verlust erlitten haben, fragen sich: ›Was brauche ich jetzt, um arbeitsfähig zu bleiben?‹, und die anderen denken darüber nach, was sie anbieten können, um die Situation zu erleichtern. Und im Unterschied zu anderen Arbeitsfeldern haben wir ja etwas zu bieten, haben wir eine Ahnung und Erfahrung, was zu tun ist.« Dorothee: »Das stimmt, da haben meine Schwester und ich komplett unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Ich konnte mich mit meinen Kollegen austauschen, wir hatten verabredet, ob und wenn ja, wann sie mich fragen dürfen, wie es mir geht. Das ging für mich nur nach dem Dienst. Während der Arbeit wollte ich nicht über meine persönliche Situation sprechen. Dann war ich in der Rolle der Krankenschwester. Ich wollte und konnte tagsüber die mir anvertrauten Menschen gut begleiten. Hätte man mich gefragt, wie es mir geht oder mich auch nur mit einem Anteil nehmenden Blick bedacht, wäre ich aus der Rolle gefallen und hätte sicher zu weinen begonnen. Das wollte ich im Dienst nicht. Wenn ich so richtig darüber nachdenke, wird mir deutlich, welcher Luxus das war. Bei meiner Schwester ist überhaupt niemand auf die Idee gekommen, sie zu fragen, wie es ihr gehe – oder vielleicht gab es schon die Idee, aber niemand hat gewusst, wie er sich angemessen verhalten soll. Sie gehörte in dieser besonderen Situation nicht dazu, war mit ihrem Schmerz und ihrem Leid eine Außenseiterin, die man besser meiden sollte. Davon berichten ja auch Angehörige immer wieder. Das würde ich als Ertrag bezeichnen, die Geborgenheit, die Selbstverständlichkeit und Normalität im Umgang mit mir.« Martina: »Das habe ich auch erlebt. Es gab Kollegen, die das ausdrückten, was ich selbst nicht auszudrücken vermochte, andere, die die staunende Zurückhaltung vor der Gewaltigkeit und Unverstehbarkeit des Todes mit mir und uns als Familie teilten, die Zuversicht und Beistand waren und sind, offen durch ein Wort oder wortlos durch einen Blick, und noch vieles mehr. Und mich erfüllt eine große Dankbarkeit, wenn ich daran denke, dass ich an einem Ort bin, an dem alles sein darf, was an Gefühlen, Äußerungen und Verhaltensweisen da ist. Ich bin glücklich, mit zum Team zu gehören, auch deshalb, weil ich jetzt selbst empfinden darf, wie wesentlich und bedeutsam unser aller Arbeit ist.« Dorothee: »In mir steigt ein kleines ›Aber‹ auf. Ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht

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wie Karen. Meine Mutter ist auch auf die Palliativstation aufgenommen worden, dann aber auch dort verstorben. Es war nach der so anstrengenden Zeit zu Hause eine riesige Erleichterung und Entspannung der Situation. Für uns – insbesondere für mich mit dem Gefühl der Verantwortung als Krankenschwester – hat die Aufnahme erst ermöglicht, zur Ruhe zu kommen: Die letzte Lebensphase an Mutters Seite leben zu dürfen, ohne die Last der gesamten Verantwortung zu tragen, nicht nur hektisch zu organisieren und angstvoll jedes neue Drama zu erwarten.« Martina: »Rührt dein ›Aber‹ nun daher, dass du jetzt jeden Patienten, den du ambulant betreust, am liebsten auf die Palliativstation aufnehmen lassen würdest? Dorothee: »Ja genau, der Impuls kommt bei mir sehr schnell. Die Gefahr der Übertragung ist nach dem Tod eigentlich stärker als in der Situation der Erkrankung meiner Mutter. Wenn es zu Hause bei den Patienten kriselt, denke ich immer, sie wären jetzt am besten auf der Palliativstation aufgehoben. Manchmal bin ich deshalb in der Gefahr, zu schnell eine Aufnahme auf die Palliativstation zu initiieren, ohne ambulant alle Ressourcen ausgeschöpft zu haben. Aber da sind ja, Gott sei Dank, meine Kollegen wachsam und erinnern mich, fragen bei mir kritischer nach als bei anderen, ob die Aufnahme berechtigt ist. Und das ist in Ordnung so.«

4 Ist man gewappnet für spätere Leiderfahrungen, wenn man in einem Palliativteam arbeitet? Kann man sich vorbereiten? Martina: »Ich finde, ja und nein. Da fällt mir der Text von Fridolin Stier ein zum Thema Denk- und Erfahrungswissen. Da heißt es: ›Aber dann kommt der Tod, und […] mein Denkwissen platzt zur Wirklichkeit auf. Aus der Wahrheit, die ich eingeübt und mir vertraut gemacht habe, fährt es plötzlich heraus, wie ein Blitz in die Krone durch den Stamm bis in die Wurzeln des Baums schlägt […] Dann schmecke ich ihn. Die Wahrheit wissen, ist das eine, sie zu schmecken bekommen, das andere‹ (Stier, 1981, S. 112). Das habe ich selbst so erfahren. Alle Vorbereitung und das Darüber-Nachdenken, die Voraussicht und Dankbarkeit für so manches Erlebnis führen nicht dazu, dass damit automatisch der Tod in Ordnung ist. Mit dem Tod meines Vaters ist unser Leben in UnOrdnung geraten, haben wir die Wahrheit geschmeckt, nicht nur gewusst. Ich habe das

Gefühl eines neuen und anderen Erwachsenwerdens. Das klingt vielleicht komisch, aber ich erlebe eine neue Verantwortung für das Wohl meiner Mutter, das Haus, die Dinge, die zu regeln sind und … Für mich ist die Trauer nicht alltäglich spürbar, sondern meist situativ, z. B. als meine Mutter an meinem Geburtstag allein anrief. Das hatte ich in meinem Leben noch nie erlebt, hatte es aber erwartet und war ganz gut darauf vorbereitet. Als ich meine Mutter am Niederrhein besuchte und mich von ihr verabschiedete, stand sie zum ersten Mal allein im Türrahmen, und da erwischte mich die Erkenntnis der Endgültigkeit und des ›Nie wieder‹ plötzlich und unerwartet mit einem Gefühl tiefer Verlassenheit. Und ich schmeckte sie wieder, die Wahrheit. Dann empfand ich: Nein, man kann sich nicht vorbereiten auf den Schmerz.

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Und das Ja erlebte ich z. B. im Unterricht. Kurz nach dem Tod meines Vaters unterrichtete ich das Thema ›Eigene Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Trauer‹. Es fiel mir leicht, und ich staunte, welche Abstraktionsfähigkeit in mir wohnte. Meine Kollegen fragten, wie es denn gegangen sei bei der eigenen Betroffenheit, und ich sagte: ›Es war okay, es ging sehr gut‹, und ich hoffte gleichzeitig, dass dies nicht mit Emotionslosigkeit und innerer Kälte verwechselt wurde. Ich selber hatte den Eindruck, ich war noch authentischer, glaubwürdiger geworden. Und ich habe das Gefühl, das Sterben ist mir noch vertrauter geworden. Ich weiß selbstverständlich nicht, wie und wann mein Lebensende und mein Nicht-mehr-Sein stattfinden bzw. aussehen werden, aber ich habe das Gefühl, dass ich in dieser Vertrautheit mit fremden Toden Vertrauen fassen kann für den eigenen, auch wenn ich sehr gern lebe. Diese Zweigleisigkeit im Denken finde ich derzeit intensiv bei meiner Mutter, die schwer erkrankt ist. Sie sagte mir letzte Woche: ›Ich hoffe auf ein Wunder und gleichzeitig genieße ich jeden Tag in dem Wissen, dass es mein letzter sein könnte.‹ Dies ist für mich ein Beispiel für den Begriff ›gewappnet sein‹.« Karen: »Ich habe das Gefühl, ich bin gereift, und diese Reife ist ein Stück meines Gewappnetseins. Sich wappnen heißt, die Rüstung anzulegen. Vielleicht könnte ich es heute so formulieren: Im Schauen auf den Tod habe ich die Rüstung an, bin gewappnet, bin grundsätzlich bereit hinzusehen, aber würde gut gerüstet noch eine Zeit gegen ihn antreten, denn meine siebenjährige Tochter braucht mich noch sehr.«

5 Was bleibt von den Verstorbenen, die wir im engen Umfeld verloren haben? Martina: »Auch im Arbeitskontext sind es die Erinnerungen, die meinen Vater in mir wach halten. Nicht dauerhaft, aber immer mal wieder aufkommend. Und diese Erinnerungen reichern meine Arbeit an. In so manchem Unterricht war er Beispiel und ist es geblieben. Er hat auch als Kunsthandwerker Tiffany-Engel hergestellt. Davon haben wir einen auf der Palliativstation. Er wird immer im Zimmer aufgestellt, wenn ein Patient verstorben ist. Dieses Ritual gibt es bei uns schon seit Jahren. Seit seinem Tod hat dieser Engel eine neue, tiefere Bedeutung bekommen. Er ist nicht mehr einer von vielen, die mein Vater hergestellt hat, sondern er ist, wie sein Hersteller und Schöpfer, einzigartig geworden. Das erleben viele Kollegen auch so und sie behandeln den Engel mit großer Behutsamkeit. Und dann gibt es eine kleine Geschichte, die ich gern erinnere: Ich erzählte meinen Kollegen nach dem Tod meines Vaters, dass er zeitlebens versucht habe, mich das Gärtnern zu lehren. Und siehe da, ich weiß heute noch, dass die Bohnen so flach unter die Erde müssen, dass sie ›die Glocken läuten hören können‹. Und immer, wenn wir im Team gemeinsam zu Mittag essen und es Bohnen gibt, ist diese Geschichte buchstäblich als heitere Anekdote mit auf dem Tisch.« Karen: »Für mich hat sich ein Bild eingeprägt, das ich immer beim Anblick eines Heiß-

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luftballons vor meinem inneren Auge sehe. Wir hatten den Mut, meinem Vater noch einen Wunschtraum zu verwirklichen: Er schwebte kurz vor seinem Tod gemeinsam mit meinem Bruder im Heißluftballon über seine Stadt. Diesen Anblick vergesse ich nie. Solche Erinnerungen sind Erträge eines langen Lebens und bewussten Sterbens.« Dorothee: »Ich habe das Gefühl, dass es das Vermächtnis meiner Mutter ist, dass ich Mut gewonnen habe. Ich gehörte lange Zeit zu denen, die eher zögerten und Mühe hatten, dem anderen seinen Weg wirklich zuzutrauen. Durch die Erfahrung mit meiner Mutter, sich wunderbare Reisen auszudenken, zu planen und dann auch umzusetzen, habe ich das Vertrauen gewonnen, dass alles prinzipiell möglich ist. Ich spürte eine tiefe Sicherheit, dass es gut gehen würde, dies hat sich auch auf meine Eltern übertragen. Ich habe daraufhin schon einige Patienten motivieren können, ihre Träume wahr zu machen und sie zu wagen.«

6 Ertrag Zusammenfassend können wir sagen, dass unsere Arbeit trotz mancher schweren und belastenden Situation viel auf der Habenseite vorweist. Sie macht uns Mut, dem Leiden, der Krankheit, dem Alter und dem Sterben nicht auszuweichen. Mit jedem Menschen, der in unserer Obhut ist, lernen wir etwas für uns, für unseren Umgang mit Leid und Schmerz, für unser Sterben. In unserer Arbeit und mit unseren Teamkollegen erleben wir ein Umfeld, das trägt, das von Verlässlichkeit geprägt ist und in dem wir aufgehoben sind, sowohl in der Alltäglichkeit als auch in Krisenzeiten. Mit unserer Arbeit haben wir Fachwissen und Expertentum erworben. Das gibt eine große Sicherheit im Umgang mit schwerer Krankheit und tiefer Trauer, auch wenn wir uns bewusst sind, dass in eigener Betroffenheit dieses Wissen nicht ohne Weiteres und sofort zur Verfügung steht. Es gibt eine Art von Gewöhnung an diesen existenziellen Raum, in dem sich unsere Arbeit abspielt, die uns zu einer gesunden Form von Routine führt. Wir erschrecken nicht mehr so sehr beim Anblick von Wunden, beim Erleben von Ängsten, beim Äußern von Verzweiflung, sondern bleiben präsent und handlungsfähig. Immer erleben wir in dieser wertvollen Arbeit die Aufforderung, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen. Nie ist diese Konfrontation zu Ende, das bedeutet aber auch, dass wir nicht erstarren und lebendig bleiben. Das Kostbarste am Tätigsein in diesem Feld ist aber die Intensivierung des eigenen Lebens im Jetzt.

Literatur Stier, F. (1981). Vielleicht ist irgendwo Tag. Freiburg u. Heidelberg: F. H. Kerle Verlag.

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Alles habe seine Zeit, sagt der Weisheitsdichter Kohelet im Alten Testament (Prediger 3, 1). So auch: Nahe beim Tod zu sein, hat seine Zeit, und sich ferner vom Tod zu stellen, hat seine Zeit. Es gibt keine todlose Zeit …

1 So viel Tod hängt an mir Nach 25 Jahren des Dienstes als katholischer Priester nahm mich eine Panikstörung in Besitz. Sie hatte sich angeschlichen, machte sich als Vorbote zuerst bemerkbar, wenn ich bei Beerdigungen auf dem Weg zum Grab war. Ich sah den langen Weg vor mir war voll innerer Unruhe, peilte die noch zu leistende Strecke an und befahl mir durchzuhalten. Ich distanzierte mich – wacklig gehend – vom Tod, dem ganz konkreten, den wir zu Grabe trugen. Wenn das vorbei war, dann kamen Erschöpfung und das unausgesprochene Wissen, mich vom Tod wieder distanzieren zu können. Und als es dann letztendlich keine Widermacht mehr gegen die Panik in mir gab, habe ich meinen Dienst nicht mehr machen können. Im Grübeln über das, was mich ungewollt aus der Bahn des Vertrauten geworfen hatte, kam mir unwillkürlich der Gedanke: »Wie viele Menschen hast du schon begraben?« Ich kam auf über 800. 800mal Trauernde, 800-mal meine Einfühlung in ein Schicksal, in einen Schmerz, mein Mitgehen, selbst wenn ich mich auch abzugrenzen wusste. Meinte ich. 800 Tote – wie viel Tod verträgt ein ganz normaler Mensch wie ich im Dienst der Kirche, im Dienste der Menschen? Es gab gewiss mehrere Faktoren, die mich mittels der Panikstörung lahmgelegt haben. Ich habe einen Hospizverein mit gegründet. Seit Gründung war ich Vorsitzender des Trägervereins des Hospizdienstes. Ich habe andere Initiativen begleitet auf ihrem Weg, einen Hospizdienst aufzubauen. Ich war aktiv als Referent in Sachen Hospiz unterwegs. Aber auch da habe ich mich irgendwann zurückgezogen. Ich kommentierte: »Ich habe so lange im hintersten Wagon des Lebenszuges gesessen, ich wollte gern einmal andere Wagenabteile ausprobieren.«

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2 Ein anderes Leben – der Tod fährt mit Im anderen Wagen fahren klingt wie: »mal schnell alles Mögliche auskosten, was das Leben bietet.« Das war es nicht. Ich hatte begriffen, dass ich mich dem Tod in seiner täglichen Wucht nicht mehr aussetzen konnte. Ich stieg aus dem letzten Wagon aus – und brauchte eine Zeit, einen neuen Platz im Zug des Lebens zu finden. Während ich die etwa 800 Menschen begraben habe, bin ich nach meinen Möglichkeiten mit den Menschen gegangen. Dass jeder dieser Tode von meinem eigenen Leben zehrte, das habe ich meist nicht erfasst. Es war eben mein Dienst – den erfüllte ich, so gut ich konnte. Egal, in welches Abteil des Lebenszuges ich einstieg, diese 800 Tode sind mit eingestiegen, weil sie das Wissen um meine eigene Sterblichkeit trugen, geduldig, nicht aufdringlich, aber sehr präsent, unmerklich präsent. Die vielen professionell begleiteten Tode sind jeder einzelne ein Wissen – auch um meinen Tod.

3 Kapitulation als Tod-Lebenserfahrung Und was suchte ich in den anderen, den vermeintlich vorderen Wagons des Lebenszuges? Da gab es keine Planung. Eine Kapitulation vor der Bestimmbarkeit meines Lebens hat es gegeben. Eine Kapitulation, die nicht gewollt, nicht gemacht, aber zum Leben zwingend nötig war. Auch Kapitulationen fühlen sich an wie vergehendes Leben, wie eine Niederlage vor der Macht eines unbestimmbar Höheren. Aus Kapitulation wurde dann ein Wiederleben, ein erstaunt geschenktes und zur Gestaltung frei gegebenes Leben. Die 800 Tode inbegriffen. Die Kapitulation lehrte mich, dem Geschehen zu trauen. Geschehen, das ist die jeweilige Gegenwart und das, was es an Impulsen daraus gibt. Die 800 Tode sind mit dabei, aber sie hindern nicht. Abstand zu ihnen ist da, obwohl sie in meiner Lebensgeschichte nicht mehr wegzudenken sind.

4 Heilt die Zeit Wunden? Heilte die Zeit die Wunden? Die Zeit ist Rahmen unseres Schöpfungswerkes, Ermöglichung des Gelingens unseres Lebenwerdens. Zeit eröffnet ein Weitergehen und ein Weitergetragensein – für den, der glaubt: sogar ein Weitergetragensein über unseren Tod hinaus. Die Zeit schneidet nicht ab – nicht die 800 Tode, wie vieles andere aus der Geschichte meines eigenen Lebens nicht. Die Zeit bewahrt wie der diskreteste Freund. Zeit vergisst nicht und ermöglicht dennoch das Vergessen. Vielleicht ist es besser, vom Ablegen zu reden. Die Zeit trägt und lässt – vermeintlich – auch verschwinden – z. B. die vielen Sterbenden, die vielen Toten, die vielen Trauernden, mit denen mein Leben verbunden worden ist. Die Zeit heilt die Wunden dieser Sterbenden, Toten, Trauernden nicht. Die Zeit schafft Raum, Raum zum Wandeln.

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5 Der Tod als getroster Mitgeher Das Heraustreten aus der Begegnung mit dem Tod entsorgt das Erlebte nicht. Und wenn es zu viel an Erlebtem ist, dann kann es der Mensch mit Leib und Seele nicht mehr tragen. Dann ist es gut, neue Wege zu suchen. Einen anderen Wagon im Lebenszug. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass in den anderen Wagons kein Tod lauert. Indem in jedem Wagen Menschen sitzen, sitzt da auch die Gewissheit des Todes. Indem Menschen darin sitzen, die Begegnung mit z. B. 800 Toden hatten, sitzt auch dieses Wissen mit im Abteil. Gibt es kein Entrinnen vor dem Tod? Keinen Raum, in dem Leben sein darf, ohne an den Tod erinnert zu werden? Der Tod ist Gewissheit – es hat Zeiten in der Geschichte gegeben, in denen die Lust und der Tod sich Tänzchen leisteten, nicht zynisch, sondern lebenslust-voll. Und wie ertrage ich den Tod, den 800-fach miterlebten? Hingewiesen wurde ich, dem Leben trauen zu lernen, dem Leben, wie es ist. Nicht fatalistisch ergeben, aber demütig, geerdet in dem, was sich je aktuell als Leben zeigt. Im Denkrahmen meines Glaubens ist das das wachsende Vertrauen in den Geist, in die Lebenskraft des unerfasslichen Gottes.

6 Die Zeit schafft Räume Die Zeit hat mir den Raum des Wachsens ermöglicht. Das Älterwerden schenkt dazu die Lust, immer mehr kennenzulernen, die Lust und Freude, ebenso in der Persönlichkeit weiter zu reifen. Es ist ein Reifen auch in der Erkenntnis des Todes. Zurückschauend erschrecke ich davor, wie ich vor dreißig Jahren Menschen in ihrer Trauer begleitet habe, abgründig verzweifelte Eltern am durch den plötzlichen Kindstod gezeichneten leeren Bettchen. Ich erhoffe, dass ich damals auch hilfreich gewesen sein mag. Verstanden habe ich damals – gemessen an den Erkenntnissen und Erfahrungen heute – sehr wenig. Die Zeit hält die Zumutungen, die wir in eigener noch nicht fertiger Reifung erzeugen. Die Zeit ist aushaltender, weil sie einfach nur ist. Ohne Bewertung, ohne emotionale Besetzung. Die Zeit ist darin verlässlich. Verlässlich im Wissen um dieses Reifen. Verlässlich im unberührten Aushalten dessen, was Menschen fehlbar leisten. Die Zeit schenkt die Möglichkeit des Begrenzens. Auch des Aussteigens, weil zu viel Tod war. Die Zeit trägt dieses Menschheitswissen und dieses mein begrenztes Leben unerschüttert mit. Bei mir die 800 Tode und viel anderes, das mein Leben prägte – Auflösbares und in Ewigkeit nicht Auflösbares. Die Zeit erlaubt und bewahrt, die Zeit vergisst nicht und ermutigt auch, Eigenes nicht als Vergessenes abzuwerten. Das ist gerade das Wunderbare an der Zeit – in ihrer Unbestechlichkeit erlaubt sie Grenze und Ende; in ihrer Unbestechlichkeit trägt sie durch und eröffnet neue Räume: Zeit-Räume, Lebenswagon-Räume.

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7 Neuer Spielraum – nicht ohne das Wissen vom Tod Jetzt lebe ich als Pfarrer in der Kölner Altstadt. Deutlich weniger Tode – höchstens zehn im Jahr. Ich bin verbunden geblieben mit den Toden, den anderen Toden. Mit Sterbenden bin ich gegangen, habe in manchem Ringen die unglaubliche, Ehrfurcht gebietende Kraft »Leben« gesehen. In ausgemergelten Körpern, in zum Sterben bereiten Menschen diese gewaltige Macht: Leben. Wenn wir nicht Hand anlegen, dann ist die Zeit das messbare Maß dieser Urkraft Leben. Zeit-Räume sind der Spielraum des eigenen Lebens. Bleibend ist die Zeit, die mich überdauert und Leben aller Art zusammenhält, über die Grenzen des eigenen Lebens hinaus. Zeit hält Erfahrungen bereit und nimmt Erfahrungen auf – in unberührbarer Gelassenheit und Ehrfurcht vor dem zu Bewahrenden. Dann kam ein Zeit-Raum, der mich erneut mit der Nähe des Todes verband. Ich begegnete obdachlosen Drogenabhängigen. Ich arbeite in einer Notschlafstelle für obdachlose Drogenabhängige mit, ebenso in einer Krankenwohnung für diese Menschen. Hier zieht der Tod oft sichtbare Spuren ins Leben dieser Gequälten. Der Ruf nach dem Tod als Löser wird in der Not der unentrinnbaren Suchtbesetzung laut, ausgesprochen in Erschöpfung. Ich bin umgestiegen in einen anderen Wagon des Lebenszuges. Es gibt kaum noch einen letzten Wagon. Die Wagen sind Zeitabschnitte, Zeit-Räume, die frei geben und bewahren, die einladen und wegdrängen. In all dem das ureigene Leben. Im Angesicht der Tode spüre ich meinen eigenen Tod. Ich – wie vermutlich alle Menschen – kann diesen Blick nicht immer tun. Für mich war es ratsam, mich der zerrenden Gewalt der Panik zu ergeben. Neue Räume meiner Zeit sind mir eröffnet worden. Das zu erkennen brauchte Kapitulation und Ergebung. Auch dazu schuf die Zeit mir Raum, unaufgeregt, einfach so. Nach Zeiten der bewussten Ausblendung der Tode öffnet die Zeit mir neue Räume. Und wieder begegnet mir der Tod – in seiner schreckerregenden Brutalität, in seinem Kampf mit der Urmacht Leben. Und in seiner Faszination, dieser unheimlichen Macht.

8 Die Zeit ist ein wahrender Erinnerer Die Zeit ist gnädig, denn sie lässt uns gehen und schafft neuen Raum. Die Zeit bewahrt, was wir erlebt haben, bewahrt es trotz unserer Ausblendung. Die Zeit gibt uns wieder, was wir als Leben gefüllt haben, gibt es wieder im Reifen der Person, im lustvollen Entdecken, dass die Zeit Raum gibt für Leben – im Wissen um den Tod. Wie viel Tod erträgt der Mensch? 800 Tode – manche sehr viel mehr. Die Zeit schafft Raum, wegzugehen, wegzuschauen, wenn das eigene Leben die Tode nicht mehr tragen kann. Zeit bewertet nicht. Sie ist. Wir sind darin, begrenzt, lustvoll, freudvoll, liebevoll, friedsehnend, glücksuchend, bis zum eigenen Tod werdend.

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Die Autorinnen und Autoren

Klaus Aurnhammer, Diplom-Theologe und Krankenpfleger, arbeitet als Seelsorger auf Palliativstationen; Mitarbeit in der Leitung eines ambulanten Hospizdienstes; Vorstandsmitglied der Landesarbeitsgemeinschaft Hospiz Saarland e. V. Dorothea Becker, Krankenschwester, ist Gründerin und Geschäftsführerin des RicamHospizes in Berlin-Neukölln. Benno Bolze, Diplom-Sozialpädagoge (FH), ist hauptamtlicher Geschäftsführer des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbands e.V.; Mitglied der Steuerungsgruppe der »Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland«. Veronika Bracks, Diplom-Psychologin, ist Junior Consultant in einer Unternehmungsberatung in München. Diplomarbeit zum Thema Schutz- und Risikofaktoren von psychischer Belastung bei Personal auf Palliativstationen. Sylvia Brathuhn, Diplom-Pädagogin, psychoonkologische Beratungs- und Betreuungstätigkeit für krebskranke Menschen und ihre Angehörigen, Trainerin in den Bereichen Sterben, Tod, Spiritualität und Kommunikation, Trauerbegleiterin. Astrid Conrad, Krankenschwester, ist Stationsleitleiterin der Palliativstation des Malteser Krankenhauses Bonn Rhein/Sieg. Karin Dlubis-Mertens, Diplom-Psychologin, Redakteurin, ist Referentin für Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und war Koordinatorin der »Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland«. Jörg Fengler, Prof. Dr., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor, Coach, Gruppendynamik-Trainer und Balintgruppen-Leiter, ist Lehrstuhlinhaber für Klinische und Pädagogische Psychologie an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln.

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Die Autorinnen und Autoren

Andrea Gasper-Paetz, Krankenschwester, ist stellvertretende Leiterin im Ambulanten Palliativdienst des Malteser Krankenhauses Bonn/Rhein-Sieg. Margit Gratz, Theologin, Palliativfachkraft, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Spiritual Care (Interdisziplinäres Zentrum für Palliativmedizin, Klinikum der Universität München) sowie Einsatzleitung in einem Ambulanten Hospiz- und Palliativ-Beratungsdienst in der Nähe von München. Andreas Heller, Univ.-Prof. Dr., M. A., ist Lehrstuhlinhaber für Palliative Care und Organisationsethik an der IFF-Fakultät der Universität Klagenfurt, Wien, Graz; Leiter des interdisziplinären Doktorandenkollegs und des MAS-Studiengangs Palliative Care.   Susanne Hirsmüller, Dr. med., M. A., Psychoonkologin, ist Leiterin des Hospizes am Evangelischen Krankenhaus in Düsseldorf. Cornelia Jakob-Krieger, Diplom-Supervisorin, Praxis für Psychotherapie (HPG), Supervision (DGSv) und Beratung, Körperpsychotherapie, Fachberaterin für Psychotraumatologie (DIPT), Lehrtherapeutin am FPI/EAG Hückeswagen; Supervisorin und Weiterbildnerin im Bereich Hospiz und Palliative Care. Birgit Jaspers, Dr. rer. medic., Forschung und Lehre in der Palliativmedizin; Wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Lehrstühlen für Palliativmedizin in Göttingen und Bonn. Saskia Jünger, Dr. rer. medic., Gesundheitswissenschaftlerin mit einer Spezialisierung in klinischer Psychologie, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Palliativmedizin der Universitätsklinik Bonn und Project Executive Officer eines EU-Projekts zur Verfügbarkeit von Opioid-Therapie in Europa. Martina Kern, Gesundheits- und Krankenpflegerin, Case Managerin DGCC, ist Leiterin des Zentrums für Palliativmedizin am Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg; Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin; Vorstandsmitglied des Vereins zur Betreuung und Begleitung von Schwerstkranken und Tumorpatienten e. V. Heiner Melching, Sozialpädagoge/Sozialarbeiter, Trauerbegleiter, ist Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin; Referent im Bereich der Fort- und Weiterbildung mit Schwerpunkt Palliativmedizin für Ärzte, Pflegekräfte, Seelsorger, Hospizdienste und Studierende. Thomas Montag, Palliative-Care-Fachpflegekraft, Fachkrankenpfleger für Anästhesie und Intensivtherapie, Palliative-Care-Trainer, Case Manager DGCC; Pflegeteamleitung

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Die Autorinnen und Autoren

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im Zentrum für Palliativmedizin der Uniklinik Köln; Mitarbeit als Kursleiter »Palliative Care für Pflegende« und in den Ärztekursen für Palliativmedizin an der Dr. Mildred Scheel Akademie in Köln; Sprecher der DGP Landesvertretung NRW. Monika Müller, M. A., Philosophin, Therapeutin für integrative Verfahren, ist Leiterin von Alpha-Rheinland, der Ansprechstelle in NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung in Bonn. Christof Müller-Busch, Prof. Dr., war Leitender Arzt der Abteilung für Anästhesiologie, Schmerztherapie und Palliativmedizin am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, Berlin; apl. Professor an der Universität Witten/Herdecke; wissenschaftliche Leitung des Masterstudiengangs Palliative Care an der Dresden International University; Sprecher des Arbeitskreises Ethik der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin Friedemann Nauck, Prof. Dr. med., Lehrstuhlinhaber der W3-Professur Palliativmedizin, Zentrum Anaesthesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin der Universitätsmedizin Göttingen. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Birgit Pauler, Diplom-Sozialpädagogin, Lehrsupervisorin, Systemische Traumatherapeutin, Supervision im Bereich Hospiz und Palliative Care, ist in freier Praxis für Supervision, Coaching und Fortbildung in Köln tätig. David Pfister, Diplom-Psychologe, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fachhochschule Ravensburg-Weingarten und Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt zu Palliativversorgung in Pflegeheimen. Lukas Radbruch, Prof. Dr. med., ist Lehrstuhlinhaber für Palliativmedizin der Universität Bonn, Leiter des Zentrums für Palliativmedizin am Malteser Krankenhaus Bonn/ Rhein-Sieg und Leiter der Klinik für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Bonn. Petra Rechenberg-Winter, Diplom-Pädagogin, Psychologin, Master of Biografical and Creative Writing, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Familientherapeutin, Supervisorin, Mediatorin, ist in eigener Praxis sowie in der Ausbildung von Familientherapie und Supervision und in der Weiterbildung Palliative Care tätig. Roman Rolke, Priv.-Doz. Dr. med., Arzt für Neurologie und Palliativmedizin, ist Oberarzt an der Klinik und Poliklink für Palliativmedizin am Malteser Krankenhaus Bonn/ Rhein-Sieg. Traugott Roser, evangelischer Pfarrer, ist Professor für Spiritual Care an der LMU München; Seelsorger und Palliativbeauftragter bei der Augustinum gGmbH München.

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Die Autorinnen und Autoren

Johannes Schlachter, Theologische Ausbildung und Gemeindearbeit in der Schweiz und in Deutschland, Krankenpfleger, ist Pflegedienstleiter und stellvertretender Hospizleiter im Ricam-Hospiz in Berlin-Neukölln; Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in ambulanten Pflegediensten; Aufbau eines Wohnprojekts für Menschen mit Aids; Vorstandsarbeit im Palliativzentrum Berlin-Brandenburg. Matthias Schnegg, katholischer Pfarrer an zwei romanischen Kirchen Kölns, Caritaspfarrer für das Erzbistum Köln; Mitarbeit auf dem Grenzweg zwischen Palliativmedizin und Theologie. Margit Schröer, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Psychoonkologin, Medizinethikerin, Referentin für Medizinethik, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen an der Universität Witten/Herdecke. Andreas Stähli, Dr. phil., Leiter der Akademie am Johannes-Hospiz, Münster. Ellen Üblagger, Diplom für Palliativmedizin, ist Schulärztin an der Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik und Volksschule Schwarzstraße. Dr. Birgit Weihrauch, Staatsrätin a. D., Ärztin/Sozialmedizin; Vorstandsvorsitzende des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbands e. V.; Vorsitzende der Deutschen Hospizund Palliativstiftung. Eduard Zwierlein, Dr. phil. habil., M. A., ist apl. Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau sowie Unternehmensberater.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647403410

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A Abgrenzung 239, 261 Ablenkung 246, 260 aktive 263 passive 261 Abschiedlichkeit 190 Abschiedsfeier 202 Abstand 104, 199, 263, 269 Abwehr 173, 261, 264 Abweichung von einer Norm 83 Ähnlichkeit 54 Ambivalenz 143 ff. Anforderungs-Kontroll-Theorie 26 Anker 233 Annahme 229 Anspruch 17, 44, 60, 90, 251 Anspruchskultur 62 Antipathie 54 Arbeitsumfeld 25 Arbeitswirklichkeit 228 Ärzte 65, 98, 140, 255 f. Aufgabenebene 220 Aufgehobensein 281 Aufstiegschancen 216 Ausgleich 263 ff. Austausch 37 f., 100, 220 ff., 229 B Balance 26, 147 Bedeutsamkeit 109 f. Bedürfnisse 63, 97, 108 Beelterung 14 Beistehen 283 Belastungsfaktoren 43 Belastungssymptome 139 Berufsgruppen 172 Berufung 214

Be- und Verarbeitung 246 Bewältigung 27, 295 Bewusstseinswandel 297 Beziehung 45, 50, 216 Beziehungsebene 220 Bezugssystem 228 Biografie 13 Branchenvergleich 25, 215 Burnout 19, 22 ff, 31 ff., 133 f. C Compassion Fatigue 24 Copingstrategie 33, 265 f. D Demut 294 Depersonalisierung 31 Dienst nach Vorschrift 159 Distanz professionelle 56 f., 193, 248 f. räumliche 240 E Ebenen von Mitteilungen 219 eigene Verlusterfahrungen 300 Empathie 251 ff. empathische Kompetenz 258 Entfremdung 70, 160 Entlastung 35 ff., 131, 168, 186, 245 ff. Entlastungsstrategien 247 Entwicklungschancen 216 Erleben des Lebens 19 Ertrag 289, 296 f., 306

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403419 ISBN E-Book:— 9783647403410 ISBN E-Book: 9783647403410

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F Familie 30 ff., 101, 202 f., 232 ff., 247 f. Fehler 80 ff., 154 f. instrumenteller 84 Fehlerdefinitionen 80 Feuer-Wasser-Ritual 204 Fortbildung 35 ff., 212 Freizeitbeschäftigung 245 Fremdbestimmung 65 fremde Welt 234 Führung 208 Fürsorge 14, 131 f. Fürsorgepflicht 186 G Gefühle 201, 214, 268, 300 Gegenbewegung 71, 172 gemeinsame Wirklichkeit 226 Gemeinschaftsbildung 201 Gesellschaft 38 ff., 112, 200 f., 289, 291, 296 ff. Gesprächsführung 169 Gewinn 289 Glaube 277, 283 ff. H Haltung des Nichtwissens 169 Handhabbarkeit 109 Herzensritual 204 Hilflosigkeit 17, 187, 292 Hingabe 295 Hoffnung 278 Homosexualität 135 humane Wegbegleitung 151 Humor 182, 268 ff. Humoranamnese 274 I Ideal 210 Identifikation 55, 107, 123 f., 209, 216 f., 241 f. Identität 19 f., 129 Identitätsfragen 187 f. Ideologie 172 Individualität 208 Informationsteilung 227 Inhaltsebene 220 Integration 214 Intervision 216

J Jammern 209 Ja zum Tod 147 junge Patienten 56 K Kapitulation 308 Killerphrasen 229 Kinder 232 ff. Klammern 104 Kohärenz 109, 257 Kommunikation 162, 209, 219, 269 intraindividuelle 222 symmetrische 224 Komplementärrolle 225 Kontrolle 26, 293 Kontrollüberzeugung 32 Kooperation 186 Kostbarkeit 292 Kultur des Sterbens 68 L Lachen 269 Lassen 280 Lebensbrüche 278 Lebenskrisen 299, 302 Lebensqualität 227, 290 f. Leistung 291 M Macht 293 Manipulation 229 Menschlichkeit des Sterbens 152 Missverständnis 228 Mitgefühl 55, 165, 170, 250 ff. Mitsprache 208 Motivation 53, 186 Mut 306 N Nähe 50, 220 familiäre 51 kontrollierte 51 professionelle 56, 249 nichtpalliativer Tod 135 Nichtwissen 151 normativer Anspruch 63

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O Offenheit 221 Ohnmacht 142, 146, 292, 295 Omnipotenz 31, 142 Organisationsethik 77 Organisationskultur 68 Outcome 85 P Paradigmenwechsel 94 passive Eigenschaften 295 Patientenverfügung 112 f. Pioniere 65 f. Privatleben 238 ff. Pünktlichkeit 158 R Rahmenbedingungen 35, 92, 99 Räuchern 203 Reaktionen 14, 19, 144, 147, 151 f. Realitätswechsel 95 Regeln 228 Reizbarkeit 172 f. Religion 75, 277, 280 ff. Resilienz 27 f., 257 Ressourcen 26 f., 58, 183, 240, 246, 249, 257 Rituale 157, 198 Rolle 173, 223 Rollenambiguität 224 Rollenkonflikt 301 Rollenverständnis 250 Rücksicht im Team 131 Rückzug 155 f. S Salutogenese 33, 109, 257 Scham 186 ff. schmerzfreies Sterben 73 Schmerztherapie 74 Schuld 187 ff., 197 Schutz des Privatlebens 245 Selbstdisziplin 248 Selbstverständnis eines Teams 209 Selbstvertrauen 215 ff. Selbstvorwürfe 154 Self Care 18, 258 Sinn 20, 76, 109, 147, 150, 193, 208, 278 Spannungen 140, 172 f., 178 Spiegelneurone 253

Spiritualität 75 f., 205, 277, 282 Sprache 108, 122, 228 f. Sprachlosigkeit 162, 165, 269 Sterblichkeit 112, 143, 145 ff., 152, 289 Streitigkeiten 172 f. Struktur 166, 211 Studien 22 f., 26 ff. Suizid 134 Supervision 19, 182, 184 Symbole 198 ff., 202 f. Sympathie 54 T tabuisierte Traueranlässe 134 Team 109, 173, 182, 302 Teamarbeit 207 Teamgenuss 66 Teamprozesse 210 Tempo 108 Tod eines ungeliebten Menschen 134 Todesaneignung 222 Todeserfahrung 143 ff. Todesfälle im eigenen Umfeld 126 total pain 73 Totengedenken 203 Transzendenz 285 Trauerverlauf 132 Trost 18, 152, 233, 278 ff. U Übergabe 163 ff., 212 f. Übergangsriten 199 Überredseligkeit 140, 162, 182, 194, 212 Unausdeutbarkeit 142 Unsterblichkeitsillusion 144 V Vergeudung 292 Versagen 88 Verschwiegenheit 221 Verstehbarkeit 109 Versterben 112 erwartetes 114 unerwartetes 112, 113, 115, 117 Verweigerung von Neuaufnahmen 161 Visionen 296 Vorwürfe 105, 154 f.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403419 ISBN E-Book:— 9783647403410 ISBN E-Book: 9783647403410

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Sachwortregister

W Wertschätzung 210, 229 Wunsch nach der Erlösung 116 Z Zeit 148, 178, 307 Zeitdruck 77, 117

Zerstreuung 145 Zielfindung 47 Zugehörigenbegleitung 101 Zuhören 165 ff. Zusammengehörigkeitsgefühl 270 Zweideutigkeit 142 ff.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647403410

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