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German Pages [543] Year 2016
DAS MITTELMEER UND DER TOD
MITTELMEERSTUDIEN
Herausgegeben von
Mihran Dabag, Nikolas Jaspert und Achim Lichtenberger
BAND 13
Alexander Berner, Jan-Marc Henke, Achim Lichtenberger, Bärbel Morstadt, Anne Riedel (Hg.)
DAS MITTELMEER UND DER TOD Mediterrane Mobilität und Sepulkralkultur
Wilhelm Fink | Ferdinand Schöningh
Titelillustration: Detail der Vorderseite des Sarkophags Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek Inv. Nr. 1299
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de | www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-6070-7 (Fink) ISBN 978-3-506-78522-0 (Schöningh)
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Alexander Berner / Jan-Marc Henke / Achim Lichtenberger / Bärbel Morstadt / Anne Riedel Über maritimen Tod und maritime Gedächtnislandschaften . . . . . . . . . . . . . . 21 Norbert Fischer
Mediterrane Identitäten in städtischen Nekropolen Bestattungen von Phöniziern, Fremden und Anderen im Mittelmeerraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Bärbel Morstadt Die Nekropole von San Montano (Pithekoussai): Ein Mosaik kultureller Diversität und Dynamiken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Eicke Granser Beobachtungen zum Umgang mit Bestattungen von Ausländern in den Nekropolen von Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Jan-Marc Henke „Fremde“ in Rom. Zur Bestattung von nicht-stadtrömischen und nichtitalischen Personen in der Metropole im 1. und 2. Jh. n. Chr. . . . . . . . . . . . . . 129 Clarissa Blume-Jung Sepultus hac in terra pessima – Bestattungen als Problemfall mediterraner Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Marc von der Höh
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INHALTSVERZEICHNIS
Funerary Practices in a Multi-Religious Context from the Iberian Peninsula to the Eastern Mediterranean . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Ana Echevarria Osmanische Friedhöfe in Istanbul – soziale Aspekte zur Wahl des Bestattungsortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Hans-Peter Laqueur Irrespective of Race or Religion. Heterodoxe Friedhöfe in Italien . . . . . . . . . . 211 Dieter Richter
Nekropolen als Räume des Konflikts Der malträtierte Leichnam: Zum Umgang mit Toten im byzantinischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Michael Grünbart Ehrenwerte Muslime, schändliche Kreuzfahrer? Zur Plünderung des muslimischen Friedhofs vor Antiochia im Rahmen der lateinischen Chronistik des Ersten Kreuzzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Alexander Berner Zwischen Politik und Religion – der Umgang mit den griechisch-orthodoxen und muslimischen Grabstätten Zyperns nach der gewaltsamen Teilung der Insel 1974 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Thorsten Kruse
Anonymer Tod Der Tod im Meer – aphaneis und kenotaphia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Linda-Marie Günther … in transeundo mare Ierosolimam … mortuus. Zum Totengedenken schiffbrüchiger Jerusalempilger und Kreuzfahrer im Mittelalter . . . . . . . . . . 319 Jens Lieven „Und das Meer gab die Toten heraus, die in ihm waren“. Sepulkralkulturelle Sonderwege im Umgang mit Strandleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Jürgen Hasse
INHALTSVERZEICHNIS
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Bureaucracies of Death: State and Religious Protocols in the Cemetery of Unidentified Immigrants in Sidiro (Evros Region, Greece) . . . . . . . . . . . . 355 Nefeli Angeliki Bami Letzte Reise Mittelmeer. Vom Umgang mit toten Migrantinnen und Migranten. Ein Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Reiner Sörries
Das Meer als Sinnbild des Todes Die Furcht vor dem Meer und der Tod im Nil. Wasserangst im Alten Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Joachim Friedrich Quack The Symbolic Ambiguity of the Mediterranean Sea in Ancient Semitic Mythology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Joanna Töyräänvuori Ins Meer gebettet. Einblicke in die nachpalastzeitlichen Bestattungssitten Kretas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Constance von Rüden Der elegische Tod und das Meer: Die Todesszene im Brief des Leander (Ovid, epist. 18) und die Tradition der Grabinschriften in der römischen Elegie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Anja Bettenworth Glück und Gefahr – Ambivalente Meereserfahrung in der Bildwelt römischer Sarkophage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Achim Lichtenberger Inde et Cyprius dictus est. Zum Tod Erik Ejegods auf Zypern im Jahr 1103 . . 511 Lukas Raupp Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren dieses Bandes . . . . . . . . . . . 539
Vorwort
Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, welche das Zentrum für Mittelmeerstudien (ZMS) der Ruhr-Universität vom 18.–20. Juni 2015 in Bochum veranstaltet hat. Ziel der Tagung war es, Disziplinen übergreifend und diachron den Umgang mit dem Tod im Mittelmeerraum zu betrachten. Ein Spezifikum des Mittelmeeres ist, dass es die an seinen Gestaden Lebenden sowohl eint als auch trennt und auf diese Weise eine spezifisch mediterrane Problemkonstellation entsteht: Das Mittelmeer generiert und ermöglicht eine hohe Mobilität, und diese Mobilität ist einerseits mit den üblichen (Todes-)Gefahren des Reisens verbunden, andererseits führt sie dazu, dass Menschen migrieren und jenseits ihrer ursprünglichen Heimat sterben und in anderen Kontexten bestattet werden müssen. Die Betrachtung des Umgangs mit dem Tod im Mittelmeerraum bietet daher die Chance, Fragen der mediterranen Mobilität, mediterraner Identitäten und des dynamisierten mediterranen Kulturaustauschs thematisch fokussiert zu betrachten. Zu der Tagung hatten wir Expertinnen und Experten nach Bochum eingeladen, um diese Fragen übergreifend zu diskutieren, und wir bedanken uns bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für ihre Referate und lebhaften Wortbeiträge. Ermöglicht wurde die Tagung durch finanzielle und logistische Unterstützung des Zentrums für Mittelmeerstudien, welches vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Dem BMBF sind wir dafür sehr dankbar. Weiter bedanken wir uns bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ZMS, insbesondere bei Eleni Markakidou für die tatkräftige Unterstützung bei der Organisation und Durchführung der Tagung. Bernd Lehnhoff danken wir für die Hilfe bei der Drucklegung und Redaktion der Beiträge, Megan Welton (University of Notre Dame) für die sprachliche Betreuung der englischsprachigen Texte und den Herausgebern der Mittelmeerstudien für die Aufnahme in die Reihe. Alexander Berner, Jan-Marc Henke, Achim Lichtenberger, Bärbel Morstadt und Anne Riedel Bochum, Februar 2016
Alexander Berner / Jan-Marc Henke / Achim Lichtenberger / Bärbel Morstadt / Anne Riedel Einleitung Der Tod ist seit jeher auf geradezu ironische Weise die beständigste Konstante des menschlichen Lebens. Dieses Bewusstsein der eigenen Endlichkeit hat im Umgang mit dem Tod selbst sowie mit den Verstorbenen innerhalb einer Gemeinschaft bereits früh ritualisierte Praktiken entstehen lassen, die uns einen ausschnitthaften, aber dennoch oftmals aussagekräftigen Blick in die Jenseits- wie Diesseitsvorstellungen betreffender Gruppen gestatten. Die dabei entwickelten Rituale können einerseits dazu dienen, den Verstorbenen einen erfolgreichen Übergang in ein bzw. Aufenthalt in einem Jenseits zu gewährleisten, wie z. B. durch Grabbeigaben, das Mitgeben des Charonspfennigs als Fährgeld in das Totenreich oder durch Gebete für das Seelenheil der Verstorbenen. Andererseits dienen solche ritualisierten und gemeinsam ausgeführten Handlungen aber auch der Gemeinschaft selbst, um das Verlusterlebnis nach ihren jeweiligen sozialen Konventionen und Vorstellungen über den Tod zu verarbeiten. Sie sind zudem Teil eines Aushandlungsprozesses, in dem die Verhältnisse neu geordnet werden: Es ist ein Moment der Neuformierung einer Gemeinschaft nach dem Verlust eines ihrer Mitglieder. Durch die Verarbeitung des Verlusterlebnisses kommt dem Grab als Repräsentant dieser Neuordnung häufig eine wichtige Rolle in der Memorialpraxis von Gemeinschaften zu. Mit ihm wird ein Ort geschaffen, an welchem die verstorbene Person memoriert wird, und der über die dort durchgeführten Praktiken zu einem Bezugspunkt im kollektiven Gedächtnis der Gemeinschaft werden kann. Dabei wird der Prozess des Erinnerns durch den Tod ausgelöst: „Erinnerung ist ja nicht einfach Bewahrung, Festhalten, Speichern. Erinnerung ist ein kreativer Prozeß. Erinnerung ist auch ein Prozeß der Semiose: Man erinnert vor allem das, was einem wichtig ist, was also von irgendwelchen gegenwärtigen Relevanz-Zentren her beleuchtet wird. Man erinnert vom Ende als von dem Punkt her, von dem aus Licht auf die Ereignisse fällt. Erinnern kann ich nur das Vergangene oder sonstwie Abwesende. Trennung, Distanz, Abwesenheit, Tod sind die vornehmlichen Auslöser von Erinnerung.“1 1
Assmann 1999b, 16.
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Die Gräber stellen in diesem Prozess nicht nur Zeugnisse der Vergangenheit dar, sondern schaffen durch ihren Platz in der jeweiligen Gesellschaft Verbindungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.2 Sie sind Ausdruck von kollektiven Identitäten und mitunter in der Lage, einen Erinnerungsraum zu schaffen.3 Daraus resultiert, dass das Grab „in gewissem Sinne zu einem geheiligten Ort [wird], welcher durch die Präsenz des Toten geweiht ist.“4 Die Sepulkralkultur mitsamt ihren Gräbern und Praktiken ist demnach als unmittelbarer Ausdruck der Identität einer bestehenden Gemeinschaft zu verstehen. Mit Veränderungen in einer Gemeinschaft gehen somit auch meist Änderungen in der Sepulkralkultur einher, die neuen Anliegen und Bedürfnissen der Gemeinschaft gerecht werden muss. Ein solcher Wandel kann ausgelöst sein durch Kontakt zu anderen Gemeinschaften, ihren Bestattungsbräuchen und Jenseitsvorstellungen. Solche Adaptions- und Ablehnungsprozesse, die Einblicke in das Selbstverständnis unterschiedlicher Gemeinschaften geben, treten verstärkt in Regionen auf, die durch die Koexistenz verschiedenster Gesellschaften und durch intensive Austauschprozesse zwischen diesen gekennzeichnet sind. Wohl kaum eine andere Landschaft bietet diese Voraussetzungen auf derart intensive Weise wie der Mittelmeerraum.5 Im Mittelmeerraum haben sich seit prähistorischer Zeit in unterschiedlichen Gruppen und Gemeinschaften Rituale und Vorstellungen über den Tod und ein mögliches Jenseits entwickelt, gegenseitig beeinflusst und/oder abgelöst. Im Kontext der Bedeutung von Mobilität und Konnektivität innerhalb des mediterranen Raumes6 muss es daher zwangsläufig auch im sepulkralkulturellen Bereich zu greifbaren Adaptionsprozessen, Transformationen oder dem Festhalten an Traditionen kommen. Bedingt durch die stark risikobehaftete maritime Mobilität kann das Meer aber auch zum Ort des Todes werden und dadurch die Durchführung von Ritualen und Praktiken erschweren bzw. neue Formen generieren. Das Meer selbst als Ort des Todes bedient dabei divergierende Vorstellungen: So kann einerseits eine Seebestattung vom Verstorbenen oder den Hinterbliebenen explizit erwünscht sein, während andererseits „das Verstreuen der Asche eines Hingerichteten im Meer die wirksamste und demütigendste Art seiner damnatio memoriae“7 ist. 2
„Die Vergangenheit wird Teil der Gegenwart: man kann sie berühren, glaubt sie unmittelbar zu erfahren.“ Halbwachs 2003, 14; s. a. Fischer (in diesem Band). 3 Herzog 2001, 18–19; Rader 2003. 4 Assmann 1999a, 72–73. 5 Abulafia 2013, 820: „So wurde der Mittelmeerraum zu der Region, in der es zu den weltweit wohl intensivsten Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Gesellschaften kam.“ 6 Horden et al. 2012, 123–172; Jaspert 2009. 7 Richter 2015, 35. Er verweist an dieser Stelle auf Adolf Eichmann, Rudolf Heß und Osama bin Laden.
EINLEITUNG
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Der Zusammenhang von Tod und Mittelmeer führt also zu Kernfragen der Mediterranistik:8 Welche Auswirkungen hat der Naturraum des Mittelmeers auf kulturhistorische Phänomene? Gibt es Spezifika mediterranen Kulturaustauschs und mediterraner Konnektivität, welche sich in sozio-kulturellen Prozessen und Praktiken niederschlagen? Gibt es mediterrane Strukturen, welche transmediterran vergleichbare Phänomene hervorrufen? Diese allgemeinen Fragen stellen sich, wenn wir konkret fragen: In welchem Verhältnis steht der Tod zu mediterraner Mobilität, und gibt es spezifisch mediterrane Phänomene der Sepulkralkultur? Solchen Fragen wurde während der Tagung im Juni 2015 in Bochum in komplementären Vorträgen von der Antike bis in die Gegenwart in vier Sektionen nachgegangen, deren Unterteilung wir auch in den jeweiligen Abschnitten des Bandes beibehalten. Dass die Untersuchung des Mediterraneums auf sepulkralkulturelle Aspekte ein Desiderat in der Forschungslandschaft darstellt, wurde bei den Vorträgen deutlich. Um das Potential einer solchen wissenschaftlichen Fokussierung sowie die transregionale Vergleichbarkeit zu verdeutlichen, wird daher den einzelnen Abschnitten des Bandes ein Beitrag zu einer anderen maritimen Gedächtnislandschaft – der Nordsee – vorangestellt. Die dortige Sepulkralkultur ist bereits seit Längerem Forschungsgegenstand Norbert Fischers und bietet die Möglichkeit, theoretische Konzepte zum Umgang mit Verstorbenen übergreifend zu beleuchten. Um der Vielschichtigkeit des Themenkomplexes der Sepulkralkultur als Indikator mediterraner Mobilität und Identität sowie der Rolle des Mittelmeeres selbst in diesen Verflechtungen näher zu kommen, bilden die Betrachtungen kosmopolitischer Gemeinschaften den Ausgangspunkt des Bandes. Die Städte, insbesondere die Hafenstädte des Mittelmeerraums, bieten sich besonders als Orte für derartige Untersuchungen an, da sie Verbindungspunkte ausgedehnter wirtschaftlicher, religiöser und politischer Netzwerke sind, deren Akteure eine hohe Mobilitätsbereitschaft aufweisen. Dies führte an jenen Orten früh zur Bildung kulturell heterogener Bevölkerungen, in denen bis heute unterschiedliche Identitätsgemeinschaften – zugewanderte wie indigene – aufeinandertreffen. Die auf diese Begegnung folgende Auseinandersetzung führt zu Öffnungs- wie auch Abgrenzungsprozessen, die allerdings oftmals nur unscharf in der historischen Forschung zu fassen sind. Im ersten Abschnitt des Bandes wird daher besonders nach den gestalterischen Markern solcher Separierungs- aber auch Öffnungs- bzw. Adaptionsprozesse gefragt, die in den städtischen Nekropolen des Mittelmeerraumes als visuelle Manifestation gemeinschaftsstiftender oder individueller Identitätskonzepte anzunehmen sind. Dabei stellen sich unweigerlich Fragen hinsichtlich der Identität der Verstorbenen sowie nach dem Willen von Gemeinschaften, bestimmten Vorstellungen im sepulkralen Kontext Ausdruck zu verleihen. Besonders im Spannungsfeld mediterran-kosmopolitischer Gemein8
Dabag et al. 2015.
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schaften bieten daher Fragen hinsichtlich divergierender Jenseitsvorstellungen und Repräsentationskonzepte sowie deren memorialer Umsetzung mögliche Ansatzpunkte, um potentiell spezifisch mediterranen Ausprägungen von Nekropolen nachzuspüren. Die Vorträge und die Diskussionen zeigten, dass Fremde im archäologischen Befund in der Antike nicht oder nur graduell nachweisbar sind (Beiträge Granser, Morstadt). Deutlich erkennbar sind sie v. a. durch Inschriften mit Namensnennung und Herkunftsangaben (Beiträge Blume-Jung, Henke). Ansonsten werden sie selten als „Fremde“ oder „Andere“ herausgestellt, noch tun sie dies selbst, und es findet keine Aus- oder Abgrenzung statt. Die Bestattung folgt i. d. R. den Riten und Bräuchen der Umgebung, während „fremde“ oder „andere“ Riten und Bräuche meist keine Anwendung finden bzw. für uns nicht erkennbar sind. Allein durch bestimmte Symbole oder Bilder kann ein „Fremd-“ oder „Anders“sein ausgedrückt werden, jedoch handelt es sich dabei um Einzellösungen, die sich an den Riten und Bräuchen der Umgebung und nicht an denen der Herkunftskultur der Bestatteten orientieren. Fremd- und Anderssein findet offenbar eher auf politisch-rechtlicher Ebene statt, z. B. in Form eines Metöken-Status’, jedoch nicht in der Sepulkralkultur. „Othering“ im Sinne einer „VerAnderung“ eines Gegenübers zur Schärfung der eigenen Identität9 in der Sepulkralkultur begegnet man erst im Rahmen monotheistischer Religionen. Hierdurch ergeben sich bisweilen Ausgrenzungen und/oder Separierungen. Im Fall der in Italien angelegten Cimiteri acattolici (Beitrag Richter) fällt gar die Abgrenzung von Anderen mit jener von Fremden zusammen, doch wird aus diesem Sammelbecken durch Negativauslese eine positive (und attraktive) Identitätsbildung entwickelt. Andererseits erforderten bestimmte Situationen und Orte detaillierte Aushandlungsprozesse, um einen akzeptablen und praktikablen Umgang mit Bestattungen und Gräbern unterschiedlicher Gemeinschaften, bedingt durch ihre divergierenden Rituale und Jenseitsvorstellungen, zu finden. Beispiele hierfür sind etwa die multiplen religiösen Bestattungskontexte jüdischer und muslimischer Minderheiten unter christlicher Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel im Mittelalter (Beitrag Echevarria) oder die Begräbnis- und Repräsentationsmöglichkeiten in der osmanischen Metropole Istanbul (Beitrag Laqueur). Auch musste ein Umgang mit den eigenen in einer bisweilen feindseligen mediterranen Fremde verstorbenen Bürgern gefunden werden, was am Beispiel des hochmittelalterlichen Pisa nachvollzogen werden kann (Beitrag von der Höh). Anscheinend werden durch die monotheistischen Religionen und ihre Auswirkungen auf die Sepulkralkultur Nekropolen zu Räumen des Konflikts: Als Kontaktzone zwischen Lebenden und Toten, der diesseitigen und der jenseitigen Welt, sind Nekropolen unter anderem Orte des Totenkultes, des Gedenkens und der Trauer. Damit sind sie Räume einer spezifisch praktizier9
Thomas-Olalde et al. 2011, 27; Reuter 2002.
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ten, identitätsstiftenden Religiosität bestimmter Gemeinschaften, die sie als Ziele heterodoxer Aggressoren prädestiniert und zu umkämpften Orten macht (Beiträge Berner, Kruse). Die intendierte Übertretung normativer Grenzen im Umgang mit dem Leichnam eines Feindes wie auch gezielte Angriffe auf Friedhöfe feindlicher Gemeinschaften treffen einen Gegner an seinen Wurzeln und gehörten etwa in Byzanz zum politisch-militärischen Repertoire (Beitrag Grünbart). Dabei halten sowohl die Angehörigen früher Kulturen im Mittelmeerraum als auch die der drei abrahamitischen Religionen die Grabesruhe für einen schützenswerten und wesentlichen Wert, wohingegen außerhalb der eigenen Ordnung Stehenden, Verbrechern oder Feinden häufig kein Begräbnis eingeräumt wird.10 „Nicht zuletzt waren es die spezifischen Friedhöfe gesellschaftlicher Minderheiten, wie die des Judentums, die in ihrer Existenz immer wieder bedroht waren und von Schändungen nicht verschont blieben.“11 Wenn die Grabesruhe allerdings absichtlich gestört und somit das Gedenken an den verstorbenen Menschen erschwert oder gar verhindert wird, wie im Fall einer damnatio memoriae,12 so ist dies in der Nachwelt meist schwierig zu fassen. Der Umgang mit Gräbern fremder Gemeinschaften, der mit unterschiedlichen Konfliktpotentialen aufgeladen sein kann, steht daher besonders im Fokus dieses Abschnitts. Die beiden darauf folgenden Themenbereiche komplettieren das Rahmenthema der Tagung in der Hinsicht, als sie das Meer an sich in den Mittelpunkt sepulkralkultureller Fragen stellen. Im dritten Abschnitt des Bandes spiegelt sich dies in der Rolle des Meeres als anonymisierender Faktor von Verstorbenen wider. Die Anonymität von Verstorbenen lässt sich in Hinblick auf das Mittelmeer dabei in zwei Kategorien unterteilen: Menschen sterben im Mittelmeer, verschwinden und ihre Leiche wird nicht gefunden, die Person soll aber memoriert werden. Oder Tote werden im Mittelmeer gefunden, die nicht als Personen identifizierbar sind, mit deren Leiche allerdings umgegangen werden muss. Das Meer mit seiner unbändigen Kraft und den damit verbundenen Risiken kann so Verursacher des Todes sein, wie im Falle von Seeunglücken, und als anonymisierender Friedhof die Verstorbenen aufnehmen. Dieser Aspekt scheint gerade in der heutigen Zeit aktuell und ist in der Presse allgegenwärtig.13 Das Phänomen der Seeunglücke und die tödliche sowie anonymisierende Kraft des Meers bestehen jedoch seit Menschengedenken. Daher waren und sind Menschen seit jeher mit dem Umgang der auf See Verstorbenen konfrontiert. Unabhängig davon, ob die anonym Verstorbenen ihre letzte Ruhestätte in den Weiten des Meeres oder aber in den Küstenregionen gefunden haben, stellt sich die Frage, wie 10
Schmitz-Esser 2014, 32. Fischer et al. 2005, 15. 12 Einen kurzen historischen Überblick über die damnatio memoriae liefert Ries 2001, 237–248. 13 So lautet etwa der Titel eines Beitrages auf arte „Das Mittelmeer ist kein Friedhof mehr, es ist ein Massengrab“, http://info.arte.tv/de/das-mittelmeer-ist-kein-friedhofmehr-es-ist-ein-massengrab [13.12.2015]. Siehe auch „Das Mittelmeer wird zum Friedhof“, http://www.taz.de/!5057304 [13.12.2015]; Gabriel 2014. 11
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dieser Menschen gedacht wurde und wird. Welchen Eingang in die Memorialkultur finden anonym auf See Verstorbene bzw. wie wird mit diesen verfahren? Und welche Rolle spielt das Meer bei diesen Konzeptionen? Mit den Beiträgen kann aufgezeigt werden, dass die Bewohner des Mittelmeerraumes zwar stets mit dem anonymen Tod konfrontiert waren und demzufolge nach einem geregelten Umgang damit suchten, etwa hinsichtlich der Memorialpraxis von auf See Verstorbenen der eigenen Gemeinschaft (Beitrag Lieven). Während im Verlauf der Geschichte aber deutlich das Bestreben zu erkennen ist, die eigene Gemeinschaft möglichst nicht mit anonymen Verstorbenen zu belasten (sei es moralisch, finanziell o. ä.), sind nur wenige Fälle einer grundsätzlichen Thematisierung und Problematisierung sowie Politisierung bekannt (Beitrag Hasse). Dies ist erst in jüngerer Zeit der Fall und hängt in besonderem Maße mit der Flüchtlingsproblematik zusammen (Beiträge Bami, Sörries). Es ist kein akzeptierter Umgang mit diesen Toten vorhanden, der den Beteiligten mittels Ritualen und Bräuchen eine Vergewisserungsmöglichkeit und damit Sicherheit ihres sozialen Selbstverständnisses ermöglichen würde. Es ist ein Ringen um Anonymisierung, Identifizierung und den Umgang mit den Toten als Eigene, Fremde oder Andere auf vielen verschiedenen Ebenen erkennbar. Darin wird die politische und politisierte Dimension dieses anonymen Todes erkennbar, wie er für die Geschichte nur in Einzelfällen bekannt ist (Beitrag Günther). Insbesondere für vormoderne Gesellschaften war das Meer mit sehr vielschichtigen und komplexen, zumeist aber ambivalenten Assoziationen verbunden. So stehen die wilden und das Leben vernichtenden Momente von Unberechenbarkeit, Unbezähmbarkeit und Chaos neben Leben spendenden und schützenden Konnotationen. Die Ambivalenz des Meeres kommt am eindringlichsten in den antiken religiösen Vorstellungen zum Ausdruck, in denen Gottheiten solche gegensätzlichen Aspekte in sich vereinen konnten (Beitrag Töyräänvuori). Auch wenn die einzelnen Aspekte je nach Kulturraum eine ganz unterschiedliche Gewichtung im kulturellen Verständnis erhalten, lässt sich dennoch eine übergreifende Funktion des Meeres als Sinnbild des Todes beobachten. Das Meer ist vordergründig ein realer Erfahrungsraum, der durch die stark und oft auch plötzlich wechselnden meteorologischen Gegebenheiten zu einem unberechenbaren und willkürlich Leben bedrohenden Gefahrenraum wird, dem man sich dennoch aus zumeist existenziellen Gründen nicht entziehen kann. In diesem Zusammenhang werden die konkreten Erlebnisse aus der Seefahrt zu Sinnbildern menschlichen Handelns oder des Lebenszyklus. Letzteres symbolisieren u. a. Hafenszenen auf römischen Sarkophagen, indem sie die Unberechenbarkeit des Lebens und dessen glückliche Vollendung mit dem Topos einer gefahrenreichen Seereise und einer glücklichen Ankunft im sicheren Hafen beschreiben (Beitrag Lichtenberger). Demgegenüber können aber auch reale Gefahrenzonen auf See zu Metaphern für abstrakte Gefahren werden. In diesem Sinne bedient sich bereits die antike Dichtung real erlebter Gefahrenräume, wie dem
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Hellespont, um ihn zur schicksalhaften und am Ende tödlichen Trennlinie zwischen mythologischen Liebespaaren zu stilisieren (Beitrag Bettenworth). Erst das Wissen um die im antiken Text als allgemein bekannt vorausgesetzten Gefahren dieser Meerenge gibt dem tragischen Briefwechsel der Protagonisten seine Brisanz. Demgegenüber wird das Meer im Rahmen einer mythologischen Überhöhung zum Sehnsuchtsort, auf den positive Vorstellungen des Todes, besonders aber der Glückseligkeit und des unbeschwerten Lebens, projiziert werden können (Beitrag Lichtenberger). Hier führte offenbar die Größe, Weite und Unendlichkeit des Meeres, seine Menschenferne und Menschenleere zur Schaffung eines für den Lebenden unerreichbaren Sehnsuchtsortes, einer fern im Meer liegenden „Insel der Glückseligen“. In der Gegenwart bieten demgegenüber Seebestattungen häufig als Alternative zur Beerdigung das romantisierende Bild eines Aufgehens in etwas Größerem. Auch hier ist das Meer symbolische Projektionsfläche des Todes. Diese Vorstellung ist vormodernen Kulturen nach unserem heutigen Wissen allerdings fremd: Für sie ist der Tod im Meer und der verschollene Leichnam eine unerträgliche Vorstellung. Dies gilt u. a. auch für das antike Ägypten, wo sich die Götter auf besondere Weise dieser Verstorbenen annahmen und ihnen den Weg ins Jenseits – trotz des Ausbleibens eines adäquaten Grabkultes – ermöglichten. Das Meer galt hier als grundsätzlich furchterregend, während die Gefahren des Nils differenziert betrachtet werden (Beitrag Quack). Sinnlich greifbar gemacht ist eine Bettung ins Meer auf minoischen Larnakes (Tonsärge) auf Kreta (Beitrag von Rüden). Ob diese nun auch als Vorstellung eines ins Meer entrückten Jenseitsraumes der Glückseligkeit oder aber Nachhall der Erfahrung von Seebestattungen zu deuten ist oder selbst gar diese Ambivalenz inkorporiert, bleibt allerdings hypothetisch. Zu einer ganz anderen Art von Bezugs- oder „Sehnsuchtsort“ avanciert der Mittelmeerraum in den christlich-mittelalterlichen Herrscherhäusern Nordeuropas. Hier entwickelte sich im Rahmen des spezifisch skandinavischen Phänomens der königlichen Pilgerfahrten der Typus des Königsheiligen, durch den z. B. der dänische König Erik Ejegod auch ohne eine offizielle Kanonisierung durch den Papst zum Heiligen aufstieg (Beitrag Raupp). Die Reise und besonders der Tod des Königspaares im heilsgeschichtlich aufgeladenen Mittelmeerraum dienen dabei als religiöse Katharsis und Vehikel zur Heiligwerdung. Mit der Konzeptionierung der Tagung und dem vorliegenden Band wurde ein Vorstoß unternommen, die zwei Forschungsrichtungen der Mediterranistik und der Sepulkralkultur miteinander zu verknüpfen und somit die spezifisch mediterranen Aspekte des Todes und von Bestattungen zu beleuchten. Mit den thematischen Kombinationen und der interdisziplinären Ausrichtung ergaben sich spannende Korrelationen wie auch Gegensätze einzelner Aspekte und Herangehensweisen. Keinesfalls, so ist deutlich hervorzuheben, ist „Das Mittelmeer und der Tod – Mediterrane Mobilität und Sepulkralkultur“ damit erschöpfend und
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A. BERNER, J.-M. HENKE, A. LICHTENBERGER, B. MORSTADT UND A. RIEDEL
abschließend behandelt. An Desideraten sind neben Detailstudien insbesondere quantifizierende Kartierungen sowie Beschäftigungen mit Terminologien und Methoden der Forschungen festzuhalten. Umso erfreulicher ist es für die Veranstalter(innen) der Tagung und Herausgeber(innen) des Tagungsbandes, dass hiermit Anstöße zu weiteren Forschungen gegeben wurden, sei es an Einzelpublikationen oder größeren Forschungsprojekten.
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EINLEITUNG
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Norbert Fischer Über maritimen Tod und maritime Gedächtnislandschaften Zusammenfassung Der Tod am und im Meer hat in der Küstenlandschaft vielfältige, zugleich materielle wie symbolische Spuren hinterlassen. Einerseits überdauern historische Relikte – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – und werden damit als Zeugnisse der Vergangenheit Teil der Landschaft (z. B. Wrackrelikte). Andererseits entstehen im reflektiert-intentionalem Handeln der Akteure gestaltete Muster materiellen Gedenkens (z. B. Memorials). Sie erinnern an die tragischen Folgen maritimer Katastrophen und sind meist an zentralen Schauplätzen der Küstenorte platziert. Mit diesen Artefakten wird zugleich die Vergangenheit als auch deren Reflektion in die Landschaft eingeschrieben. Dies kann immer dann als „Gedächtnislandschaft“ wahrgenommen werden, wenn in der räumlich-symbolischen Verdichtung der Objekte ein gesellschaftlich-kultureller Konsens hergestellt worden ist.
Katastrophenerfahrung und Gedenkkultur Gesellschaft, Kultur und Alltag an den Meeresküsten beruhen auf den regionalspezifischen Erfahrungen mit dem Wasser: „Die Geschichte des Meeres berührt (…) die wichtigsten menschlichen Formen der Auseinandersetzung mit der Natur, von der Mythologie über Philosophie, Literatur und Kunst bis zur Technik und Ökologie. Die Geschichte des Meeres ist Teil der Geschichte der menschlichen Kultur“, schrieb Dieter Richter.1 Das Meer und seine Küste ist nicht zuletzt – und diese Perspektive steht hier im Mittelpunkt – ein Schauplatz von Tod, Trauer und Erinnerung. Schiffsunglücke, Überschwemmungen und der Tod durch Ertrinken sind allgegenwärtig. Für die nordfriesischen Inseln hielt deren Chronist Georg Quedens einmal fest: „Kein Jahr ging über die Inseln und Halligen ohne Todesnachricht aus irgendeinem Hafen in fernem Land (…) Zeitweilig häuften sich die Unglücksfälle und Todesnachrichten derart, daß die Todesrate unter den meist jungen Männern ein Ausmaß erreichte, wie es vergleichsweise nur in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts üblich war. Es gab in der Seefahrerzeit fast keine Familie in den Inseldörfern und auf den Halligwarften, die nicht den Tod von nahen oder fernen 1
Richter 2014, 9; zur Wahrnehmung des Meeres siehe auch Holbach et al. 2014 sowie für den Atlantik Afflerbach 2001.
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Angehörigen zu beklagen hatte.“2 Nicht selten blieben die Verstorbenen im Meer verschollen.3 Auch bei Malern und Schriftstellern galt die Küstenlandschaft immer wieder als „vom Untergang bedroht“ – eine Wahrnehmung, die auch romantisch verklärt wurde.4 Ihren populären Höhepunkt fand sie in der bürgerlichen Literatur in Theodor Storms Sturmflut-Novelle „Der Schimmelreiter“ von 1888. Eine besondere Rolle spielten Schiffbrüche, nicht umsonst wurden sie im 19. Jh. zu einem eigenen Genre der Kunst.5 Dies zeigte sich unter anderem bei Caspar David Friedrich und seinen Zeitgenossen Heinrich Reinhold und Johan Christian Dahl. Reinhold stellt die maritime Tragödie besonders eindringlich in seinem 1819 entstandenen Gemälde „Nach dem Sturm“ dar. Spätestens seit dem legendären Untergang der französischen Fregatte „Medusa“ 1816 ist das Thema „Schiffbruch“ über den konkreten Anlass hinaus auch mit gesellschaftlich-historischer Relevanz besetzt: Géricaults berühmtes Gemälde „Das Floß der Medusa“ verweist auf die Krise der französischen Gesellschaft in der Restaurations-Epoche des frühen 19. Jh. Sein Monumentalgemälde regte Byron, Edgar Allan Poe und andere in ihren literarischen Werken an. Im Prosabereich griffen unter anderem Walter R. Scott, Robert Louis Stevenson und Joseph Conrad im 19. und frühen 20. Jh. diesen Topos auf.6 Die Küstenbevölkerung musste mit den existenziellen Erfahrungen des maritimen Todes umgehen. Neben der Verarbeitung durch Mythen und Sagen7 resultierte daraus ein breit gefächertes Spektrum der Gedenkkultur. Es reichte von aufwändigen Grabmälern auf den Friedhöfen bis hin zu jenen Memorials im öffentlichen Raum, die als maritime Gedächtniskultur im Folgenden im Mittelpunkt stehen. Auch die bürgerliche Literatur des 19. Jh. thematisierte solche Memorials: „Aber ein Denkmal ist es, das zur Erinnerung an die mit der ‚Amazone‘ Verunglückten errichtet wurde. Hundert oder mehr, und ich habe manchmal ihre Namen gelesen. Es ist rührend; lauter junge Leute.“8 Mit diesen Sätzen thematisiert Theodor Fontane in seinem Roman „Stine“ (1890) ein Memorial, das an den Untergang des preußischen Militärseglers „Amazone“ vor der niederländischen Küste am 14. November 1861 erinnert.
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Quedens 1996, 169. Als Überblick zum Thema „Tod und Meer“ mit vielen Beispielen siehe Knöll et al. 2012. 4 Jakubowski-Tiessen 1999 und 2004. 5 Mertens 1987. 6 Krahé 1992, 196. 7 Rheinheimer 2003; Rieken 2005; Kempe 2007. 8 Fontane 1973, 215. 3
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Abb. 1: Die Wartende, Insel Terschelling, Niederlande (Foto: A. KammmeierNebel).
Gedächtnislandschaft als regionale Adaption der Vergangenheit Der Tod hat in der Küstenlandschaft vielfältige, zugleich materielle wie symbolische Spuren hinterlassen: Denkmäler und Reliefs, Flutmarken und Wrackrelikte erinnern an die tragischen Folgen maritimer Katastrophen.9 Sie sind an zentralen Schauplätzen der Küstenorte platziert, zum Beispiel am Hafen oder an der Uferpromenade. Die Genese dieser Memorials kann ganz unterschiedlich sein. Einerseits überdauern historische Relikte – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – und werden damit als Zeugnisse der Vergangenheit Teil der Landschaft, zum Beispiel Wrackreste. Andererseits entstehen im reflektiert-intentionalem Handeln der Akteure gestaltete Muster verräumlichten Gedenkens: Artefakte, die aus der Arbeit am kollektiven Gedächtnis entspringen und deren bekannteste Variante die Memorials bilden. Mit diesen Memorials wird zugleich Vergangenheit als auch deren Reflektion in die Landschaft eingeschrieben. Dies kann immer dann als „Gedächtnislandschaft“ wahrgenommen werden, wenn in der räumlich-symbolischen Verdichtung der Objekte ein gesellschaftlich-kultureller Konsens hergestellt worden ist. Gedächtnislandschaften können als Palimpseste betrachtet werden. Sie sind materielles Produkt eines gesellschaftlichen Prozesses, der sein Gedächtnis in je9
Zur Geschichte der Katastrophenwahrnehmung siehe Walter 2010.
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der historischen Periode neu erfindet und entsprechende Artefakte mit zeichenhafter Bedeutung versieht. Diese beanspruchen keine historische Objektivität. Vielmehr ist es eine immer wieder neu ansetzende und auswählende Erfahrung, Reflexion und Erinnerung, die epochen-, gesellschafts- und regionalspezifische Adaptionen vergangener Ereignisse produziert. Indem spezifisch maritim geprägte Erfahrungen von Tod und Trauer an der Küste tradiert, reflektiert und materialisiert werden, gewinnen sie historische Bedeutung. „Spezifisch historisch“, so schreibt der Historiker Jörn Rüsen, „wird das Trauern dann, wenn es sich auf konkrete Vorgänge der Vergangenheit bezieht, die dem unmittelbaren Lebenszusammenhang der Gegenwart schon entrückt sind, (…) zugleich aber über den Zeitabstand hinaus (…) noch bedeutungsvoll und sinnträchtig geblieben sind oder erneut werden können“.10 Erst dieser Prozess ermöglichte es, die historische Erfahrung von Tod und Trauer in Form von Memorials zu materialisieren und sie schließlich als symbolisch verdichtete Gedächtnislandschaft wahrnehmbar zu machen. Hier gilt, was der französische Historiker Pierre Nora schrieb: „Das Interesse an jenen Orten, an die sich das Gedächtnis lagert (…), rührt von diesem besonderen Augenblick unserer Geschichte her. Wir erleben einen Augenblick des Übergangs, da das Bewusstsein eines Bruchs mit der Vergangenheit einhergeht mit dem Gefühl eines Abreißens des Gedächtnisses, zugleich aber ein Augenblick, da dies Abreißen noch soviel Gedächtnis freisetzt, daß sich die Frage nach dessen Verkörperung stellt“.11 So kann die maritime Gedächtnislandschaft als regionalspezifische Adaption der Vergangenheit verstanden werden, im Besonderen als Adaption der Katastrophen. Die Memorials fundieren die identitätsstiftende Wirkung des maritimen Todes in den Küstengesellschaften. Es ist unbestritten, dass lokale und regionale Bezüge eine besondere Funktion für die Bildung von Identität haben können. Region kann verstanden werden als ein mit symbolischer Bedeutung aufgeladener Raum, der sozial und kulturell verwandtes Wahrnehmen, Reflektieren und Agieren aufweist. So wird regionale Identität durch gemeinsame Erfahrung und Wahrnehmung gestiftet. Im vorliegenden Fall bildet die Erfahrung des Meeres den Bezugsrahmen. Deren Chiffren bilden nicht nur eine Form der Reflektion über das Geschehene, sondern dienen auch der identitätsstiftenden regionalen Selbstverständigung über die eigene Vergangenheit. Die maritime Gedächtnislandschaft resultiert also aus einer „Regionalisierung“ von Vergangenheit und Geschichte. Der Sozialgeograph Benno Werlen verwendet den Begriff „Regionalisierung“ im Sinne einer Wiederverankerung des Menschen in einer sich rasch wandelnden Gesellschaft.12 Im vorliegenden Fall bedeutet Regionalisierung der eigenen Vergangenheit, dass diese 10
Rüsen 2001, 70. Nora 1990, 11. 12 Werlen 2007. 11
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Abb. 2: Memorial für einen unbekannten Seemann in Arensch bei Cuxhaven (Foto: N. Fischer).
nicht als Teil einer übergeordneten, nationalen Gesamtgeschichte gesehen, sondern umgekehrt von dieser abgegrenzt wird.13
Zwei Beispiele: Namenlosen-Friedhöfe und das „Thousla-Kreuz“ Zu den regionalspezifischen Mustern maritimer Gedenkkultur zählen die so genannten Namenlosen-Friedhöfe. Dabei handelt es sich um abgegrenzte Begräbnisplätze, auf denen unbekannte Strandleichen bestattet wurden. Diese Begräbnisplätze verkörperten eine – bezogen auf die deutsche Nordseeküste – im 19. Jh. aufgekommene neue Entwicklung in der maritimen Gedenkkultur. Bis dahin war es nicht unüblich, die angeschwemmten und nicht mehr identifizierbaren Strandleichen höchst provisorisch und ohne Kennzeichnung zu vergraben. Dieser aus Sicht des städtischen Bürgertums, das seit der Zeit um 1800 zunehmend in die allmählich wachsende Zahl von Seebädern fuhr, wenig pietätvolle Umgang mit Strandleichen hatte unterschiedliche Gründe: Zum einen wusste man nicht, ob es sich bei den angeschwemmten Toten um christlich Getaufte handelte. Nur diese nämlich konnten regulär auf den kirchlichen Begräbnisplätzen beigesetzt werden. Sonst aber handelte es sich um ein so genanntes „unehrliches“ Begräbnis und verlangte eigentlich eine Beisetzung außerhalb des kirchlichen Friedhofes.14 13
Siehe zu maritimer Identität und Heimat weiterführend Oberg 2014 (Einleitung) sowie von Reeken 2014. 14 Zander 2005.
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Abb. 3: Das Thousla-Kreuz im Sound zwischen der Isle of Man und dem Calf of Man (Foto: B. Leisner).
Zum anderen spielte das Strandrecht eine besondere Rolle: Zwar gab es bereits seit dem Mittelalter an der territorial vielfältig aufgesplitterten Nordseeküste regionale und lokale Strandungsordnungen, die das Vorgehen bei einem Schiffbruch regelten und die Anteile am Bergungsgut festlegten. Den Schiffbrüchigen widmete man jedoch lange Zeit keine besondere Aufmerksamkeit – auch wenn einzelne Strandungsordnungen dies verlangten. Das Hauptaugenmerk der Küsten- und Inselbevölkerung lag angesichts der vor allem auf den Inseln häufig wirtschaftlichen prekären Lage vielmehr auf der Aneignung wertvollen Strandguts. Staatliche Rechtsauffassungen immer wieder ignorierend, führte die Praxis des „Strandraubs“ nicht selten zu einem wenig schicklichen Umgang mit angeschwemmten Schiffbrüchigen.15 Aus Großbritannien stammt das ungewöhnliche Beispiel eines einzelnen Memorials, das Schiffbruch und Rettung zugleich repräsentiert. Das so genannte „Thousla“-Kreuz im Sound zwischen der Isle of Man und der Nachbarinsel Calf of Man (Irische See) erinnert an den tragischen Schiffbruch eines französischen Schoners mit zwei Todesopfern im Jahr 1858. Zugleich erinnert es an eine heroische Rettungsaktion. Wie bei vielen Memorials, lässt sich der Hintergrund als 15
Hasse 2005; Fischer 2005.
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Narration darstellen. Barbara Leisner erzählt dieses Ereignis wie folgt: „In Port St. Mary, dem nächsten Ort, der immerhin vierzig Kilometer vom Sound entfernt liegt, hörte man von dem Unglück und beschloss den Schiffbrüchigen zur Hilfe zu kommen. Da der Wind die Seefahrt von Port St. Mary aus unmöglich machte, schleppte man ein Ruderboot über den Berg zum Sound. Ein erstes Rettungsboot, mit fünf Männern besetzt, wurde vom Wind und der Strömung an den Schiffbrüchigen vorbei zur Nachbarinsel gefegt. Ein zweites Boot wurde herbeigetragen. Drei Stunden lang ruderte seine Besatzung durch den Sturm, bis sie die schwer verletzten Franzosen erreichte und sie in ihr Boot holen konnte. Die Geretteten brachte man zuerst zum Leuchtturm auf dem Calf, später zum Arzt in Castletown und danach zu dem französischen Konsul in Liverpool. Augenzeugen sagten, sie hätten niemals so entschlossene Männer gesehen, wie die fünf Retter. Zieht man in Betracht, wie klein und zerbrechlich das Rettungsboot war, wie schwer der Sturm und wie wild die See, zu der noch die gefährliche Strömung kam, die durch den schmalen Kanal zwischen beiden Inseln raste und die Felsen nur zeitweise aus dem Wasser auftauchen ließ, so kann man kaum glauben, dass sie diese Rettungsaktion tatsächlich durchführen konnten. Sie erhielten später im Jahr Silbermedaillen des französischen Staates als Dank und Anerkennung. Auf dem Felsen wurde ein Jahr nach dem Schiffbruch ein Warnlicht errichtet, das einen Schutzraum für Schiffbrüchige enthielt. Auf dem Warnlicht wurde ein Lothringisches Kreuz – es hat oben einen schmalen Querbalken und darunter einen breiteren –zur Erinnerung an die beiden Schiffsjungen angebracht. Dieses Kreuz ging 1905 in einem Sturm verloren. An seiner Stelle wurde ein hölzernes Kreuz aufgestellt. 1980 wurde das Kreuz entfernt und durch ein Gaslicht ersetzt um die Schiffe besser zu warnen. Das Kreuz wurde ein Jahr später am Sound wieder aufgestellt.“16
Gesellschaftlich-historischer Kontext: Fallstudie Nordseeküste An der Nordseeküste ist die durch Memorials repräsentierte Regionalisierung der maritimen Vergangenheit ein Phänomen, dessen Anfänge sich im 19. Jh. verorten lassen. Sozial- und mentalitätsgeschichtlich betrachtet ist sie Ausdruck von Umbruchsituationen. Im 19. Jh. war es zum einen das aufgekommene und sich immer stärker ausbreitende Seebäderwesen, das eine identitätsstiftende Selbstvergewisserung innerhalb der Küsten- und Inselgesellschaften herausforderte. Dieser Umbruch ging, zum anderen, einher mit einem zunehmenden Verlust an politischer Selbstständigkeit der sich zuvor als relativ autonom verstehenden Territorien bzw. Landesgemeinden an der Nordseeküste und ihren Inseln. Mit der schrittweisen Ausdehnung des Seebädertourismus und staatlicher Einflussnahme seit dem 19. Jh. wuchs in Teilen der Bevölkerung die Furcht vor 16
Leisner 2015, 7–8.
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Abb. 4: Gedenkbrunnen für die auf See Gebliebenen, Elsfleth, Ldkr. Wesermarsch, Niedersachsen (Foto: N. Fischer).
Identitätsverlust. Die Küste und die Inseln bildeten immer weniger eigene Mikrokosmen, vielmehr unterlagen Lebensformen und Mentalitäten zunehmend bürgerlich-städtischem Einfluss. Lokale Institutionen wurden durch den weite Lebensbereiche normierenden modernen Staat ersetzt – insbesondere in der preußischen Zeit. Marktorientiertes Wirtschaften überformte und dominierte zunehmend traditionelle Wirtschaftsformen. Einige soziale Kreise profitierten von dieser Entwicklung, andere verloren eher. In diesem Kontext wurden in einer Art kulturell-kompensatorischer Gegenbewegung vor Ort die Eigenheiten der Küste stärker betont. Die Gründung lokaler Heimatvereine und -museen – beispielhaft für die Epoche um 1900 sei „Söl’ring Foriining“ auf der nordfriesischen Insel Sylt genannt – spielte bei diesem historischen Selbstvergewisserungsprozess ebenso eine wichtige Rolle wie die eingangs erwähnten Artefakte der Gedächtnislandschaft. Beides, der reale Verlust an politischer Selbstbestimmung und die Wechselwirkungen mit städtisch-bürgerlicher Kultur und Gesellschaft führten zu jener Historisierung, die die Erfahrung der maritimen Katastrophe als regionale Besonderheit akzentuierte und Erinnerungsorte im Sinne von Pierre Nora hervorbrachte.
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Akteure waren in der Regel lokale Honoratioren: Pastoren, Amtsvertreter, Kapitäne bzw. Vereinigungen lokaler Interessengruppen (Fischerei, Deichwesen). Gerade die Namenlosen-Friedhöfe zeichneten, indem sie den Strandungstod öffentlich sichtbar machten, ein anschauliches Bild jenes gefahrvollen Meeres, das auch immer die eigene Bevölkerung zum Opfer hatte, und trug dazu bei, unterschiedliche Diskurse in der Wahrnehmung der Küste und des Meeres zu integrieren. Dieser Prozess hat sich – wie die große Zahl neuerer Erinnerungsorte und Memorials in den letzten Jahrzehnten dokumentiert – bis in die Gegenwart fortgesetzt. Aufschlussreich dabei ist, dass selektiv auf eine als spezifisch „maritim“ begriffene Vergangenheit rekurriert wird. Dies mag auf den ersten Blick an der Küste als selbstverständlich erscheinen, bei näherem Betrachten jedoch wird deutlich, dass es – bis auf wenige Ausnahmen – nicht die maritimen Berufe und Milieus waren, die die Geschichte der Küste dominiert haben. Abgesehen von Kapitänen und der zeitweiligen Blütezeit der Walfang-Epoche waren es in erster Linie die Marschenbauern, die als gesellschaftliche Honoratiorenschicht an der Nordseeküste Politik und Gesellschaft bildeten. Dennoch griff man bei der Adaption der Vergangenheit auf die Chiffren des Maritimen zurück, weil sich hier ein regionaler Konsens herstellen ließ.
Raum – Landschaft – Gedächtnis: Zur Forschungsgeschichte Pionierarbeit bei der Erforschung des Zusammenhanges von Raum, Landschaft und Gedächtnis leistete der französische Soziologe Maurice Halbwachs in der ersten Hälfte des 20. Jh. Er erkannte und analysierte die soziale und räumliche Gebundenheit der Formen kollektiven Gedächtnisses. Für das hier zur Rede stehende Konzept der Gedächtnislandschaften ist unter anderem sein Werk über „Stätten der Verkündigung im Heiligen Land: eine Studie zum kollektiven Gedächtnis“ von Bedeutung. Maurice Halbwachs schrieb darin über die „sinnliche Gewissheit“ materieller Erinnerungsstätten – hier des Religiösen: „Die Vergangenheit wird Teil der Gegenwart: man kann sie berühren, glaubt sie unmittelbar zu erfahren.“17 Und weiter: „Wir werden uns also nicht zu klären bemühen, was hinter ihnen steht und ob sie glaubwürdig sind. Sondern wir werden sie selbst untersuchen, als kollektive Glaubensvorstellungen. Wir werden uns dabei ihre Wirkmächtigkeit und Ausbreitung anzusehen haben, ihnen aber vor allem durch den Wandel der Zeiten folgen (…).“18 Um es anders zu formulieren: Das, was als 17 18
Halbwachs 2003, 14. Halbwachs 2003, 14.
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materielles Relikt die Zeit überlebt hat, repräsentiert viel mehr als seinen bloßen materiellen Wert. Es findet in der je spezifischen Verdichtung vor Ort eine hohe symbolische, über die Entstehungszeit hinausgehende Bedeutung. In den 1980er Jahren entwickelte der bereits erwähnte französische Historiker Pierre Nora das Konzept der „Lieux de mémoire“ („Erinnerungsorte“). Nora ging dabei auf die gesellschaftlichen Ursprünge der Verräumlichung von Erinnerung ein, die ihm zu Folge auf der historischen Spaltung von Geschichte und Gedächtnis beruhten. Die Historisierung von Gesellschaft und Kultur im bürgerlichen Zeitalter, die nicht zuletzt mit den Anfängen moderner Geschichtsschreibung verbunden war, bedeutete demzufolge das Ende eines gesellschaftlich gelebten Gedächtnisses. Diese Entwicklung schuf Distanz zur eigenen Vergangenheit – ohne diese jedoch gänzlich verschwinden zu lassen. Folgerichtig definiert Pierre Nora Erinnerungsorte zunächst einmal als „Überreste“, welcher Form auch immer.19 Die Idee der „Gedächtnislandschaften“ im engeren Sinn ist in den Geisteswissenschaften seit Mitte der 1990er Jahre eingeführt. Wegweisend war die 1995 veröffentlichte Studie „Landscape and Memory“ des britischen Historikers Simon Schama. Er zeigte beispielsweise die in die Landschaft gleichsam eingebrannten politischen Mythen, wenn er den Mount Rushmore mit seinen eingemeißelten Portraits amerikanischer Präsidenten analysiert.20 Aus ideengeschichtlicher Perspektive verfasste Aleida Assmann vergleichbare Studien über Erinnerung und Raum.21 Die Untersuchung von Mustern maritimer Kultur ist – jedenfalls im Vergleich zur maritimen Politik-, Wirtschafts-, Arbeits- oder Technikgeschichte – ein relativ junges Phänomen. Die maritime Volkskunde in Deutschland hatte dank der Arbeiten von Wolfgang Rudolph, Wolfgang Steusloff u. a. ihren Schwerpunkt zunächst im Ostseeraum und widmete sich traditionellen Formen materieller Kultur, zum Beispiel Votivschiffen in Kirchen.22 Einen Überblick bietet der 1999 erschienene Band über „Maritime Volkskultur“.23 Innovativ wirkte die 2005 von Timo Heimerdinger vorgelegte Studie über den kulturhistorischen Topos des Seemannes.24 Kulturelle Muster untersuchten auch die Sammelbände „Küstenbilder – Bilder der Küste“ (2005) und „Inszenierungen der Küste“ (2007).25 Eine aufschlussreiche Fallstudie über maritime Gesellschaft, Kultur und Milieu des 19
Nora 1990, 11. Schama 1995. 21 Assmann 1999. 22 Steusloff 2003. 23 Maritime Volkskultur 1999. 24 Heimerdinger 2005 25 Döring et al. 2005; Fischer et al. 2007.
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19. Jh. bietet neuerdings Jan C. Oberg.26 Aus Großbritannien liegen bereits seit längerer Zeit Überblickswerke zu den hier thematisierten Aspekten vor.27 Auch für die maritime Geschichte des Mittelmeer-Raumes gilt, dass Konflikte, Krisen und Kriege, politische, gesellschaftliche und nicht zuletzt verkehrs-, wirtschafts- und handelsbezogene Aspekte im Mittelpunkt stehen.28 Zugleich aber lieferte schon Fernand Braudels aus dem Kontext der „Annales“-Schule hervorgegangenes, zuerst 1949 publiziertes „Mittelmeer“-Buch29 grundlegende Anregungen für mentalitäts- und kulturhistorische Forschungen – und damit auch für Studien über maritime Kulturen und über den Umgang mit Tod, Trauer und Gedächtniskultur. Sein Kollege, der französische Mentalitätshistoriker Georges Duby, sprach später vom „dämonische[n] Wasser“ des Mittelmeeres.30 Auch Raimund Schulz griff in seinem 2005 erschienenen Werk über „Die Antike und das Meer“ – und hier insbesondere im Kapitel „Meer und Mentalitäten“ – die Vorstellung des furchteinflößenden, todbringenden Mittelmeeres auf. Er hielt fest, dass für die Bewohner des mediterranen Raumes „(…) die Wasserwüste des Meeres Symbol grenzenloser und menschenfeindlicher Naturgewalt“ war.31 Damals wie heute also haben Leben und Wirtschaften, Verkehr und Migration am und auf dem Mittelmeer immer auch Furcht, Tod und Trauer mit sich gebracht.
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Oberg 2014. Saunders 1996: Lavery 2001. 28 Abulafia 2013; Horden et al. 2010; Harlaftis et al. 2004. 29 Braudel 1990. 30 Duby 1997, 148. 31 Schulz 2005, 207. 27
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NORBERT FISCHER
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ÜBER MARITIMEN TOD UND MARITIME GEDÄCHTNISLANDSCHAFTEN
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Mediterrane Identitäten in städtischen Nekropolen
Bärbel Morstadt Bestattungen von Phöniziern, Fremden und Anderen im Mittelmeerraum Zusammenfassung Unter den „Phöniziern“ verstehen wir diejenigen, die von ca. 1200–300 v. Chr. vom heutigen Libanon aus als Händler den Mittelmeerraum bereisten, dort in Kontakt mit den jeweiligen einheimischen Kulturen traten und sich entlang der vielbefahrenen Handelsrouten dauerhaft niederließen. Zu den wichtigsten archäologischen Zeugnissen phönizischer Siedlungen im Mittelmeerraum gehören die Bestattungen. Anhand von Fallbeispielen wird der Frage nach einer mittelmeerweiten homogenen oder heterogenen Entwicklung der phönizischen Bestattungen nachgegangen. Damit wird letztlich das Selbstverständnis der phönizischen, rund um das Mittelmeer siedelnden Gemeinschaften angeschnitten und die Frage nach ihrem Aufenthalt „in der Fremde“ und der Ausgestaltung von „Heimat“ gestellt. In weiteren Schritten wird die Gegenprobe unternommen und nach den „fremden“ und „anderen“ Bestattungen im Umfeld phönizischer Siedlungsaktivität gefragt, wobei auf das Fallbeispiel der Iberischen Halbinsel zurückgegriffen wird.
Die soziale Bedeutung von Bestattungen Der Tod ist ein generelles Phänomen unter den Lebewesen. Jedes Lebewesen muss früher oder später sterben, und somit ist jedes Lebewesen stets mit dem Tod von anderen und schließlich mit dem eigenen Tod konfrontiert. Aber allein der Mensch – so scheint es – ist sich dieses Faktums des Todes, seiner Unausweichlichkeit und Unumkehrbarkeit bewusst.1 Jeder Mensch entwickelt demzufolge Strategien des Umgangs mit dem Tod, und die Spannbreite dafür ist sehr groß: Ignoranz, fatalistische Akzeptanz, Willkommenheißen, Suche nach Vermeidung oder Kontrolle, Pläne für die folgende physische und spirituelle Seinsform. Welche Konzepte auch immer gestaltet, Strategien geplant und Maßnahmen ergriffen werden, ist doch der Tod und mit ihm das Sterben wesentlicher Bestandteil jedes Lebens. 1
Sinngemäß: Hödl 2007, 27.
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Während zwar aber jeder Mensch seinen Tod, das Sterben und die folgende Seinsform vorbereiten und planen kann, liegt doch ein Großteil der Durchführung in den Händen von anderen und entzieht sich der eigenen Kontrolle. Jeder ist auf andere angewiesen, um bestimmte Handlungen vor, während und nach dem Tod durchzuführen. Die Übertragung dieser wichtigen Aufgaben an eine Person oder Personengruppe erfordert ein hohes Maß an Vertrauen – denn eine Kontrolle und Umdisponierung ist ja nicht möglich –, und bevorzugt wird es jenen anvertraut, die nicht nur für die tatsächliche, sondern auch für die richtige Durchführung sorgen, also am besten die Ideen und Konzepte selbst teilen. Oder, sofern keine Absprachen und keine Kenntnis vorhanden sind, entscheiden die Hinterbliebenen nach eigenem Ermessen und führen diese Handlungen durch, die sie als angemessen für den Verstorbenen,2 die Situation sowie die eigene Person empfinden. Hierdurch werden maßgeblich soziale Bande für eine Gemeinschaft – wie groß oder klein auch immer – geknüpft oder gestärkt. Sobald der Tod eintritt, werden diese sozialen Bande berührt und die entsprechenden Handlungen setzen ein. Diese können die physische und spirituelle Begleitung des Sterbenden umfassen, etwa durch Linderung von Schmerzen oder Erteilung von Absolution, den Umgang mit dem toten Körper, etwa durch bestimmte Behandlung, die Betrauerung und das Gedenken des Verstorbenen, aber durchaus auch die Ignorierung des Sterbenden und des Toten und NichtHandlung – die Möglichkeiten sind endlos. Sie beruhen jedoch jeweils auf den abgesprochenen und/oder geteilten Ideen und Konzepten der Gemeinschaft. Die Handlungen umfassen dabei gewohnheitsmäßige Abläufe sowie symbolisch aufgeladene Ausführungen. Letztere sind bekanntermaßen als rites de passage von Arnold van Gennep in drei Ebenen unterteilt worden: Separation, Liminalität und (Re-)Integration:3 Zunächst nehmen der Sterbende oder Tote und die Hinterbliebenen Abschied voneinander und von der vorherigen gemeinsamen Existenz (Ebene 1). Mit Ebene 3 ist eine neue, eine getrennte Existenz für beide Parteien geschaffen, sowohl für den Verstorbenen in seiner wie auch immer gedachten Seinsform als auch für die Hinterbliebenen in ihrer neuen sozialen Formation. Einfacher ausgedrückt handelt es sich bei letzterem um die neue Einnahme des Platzes, der Position, der Aufgaben des Verstorbenen, sei es eines Herrschers, eines Priesters, eines Händlers, eines Bauern, eines Handwerkers, eines Ehemannes oder einer Ehefrau, von Verwandten allgemein. Ebene 2 umfasst den Transfer von Ebene 1 zu 3, das Dazwischen-Sein, oft als Reise vorgestellt. Ebene 2 ist meist der als am gefährlichsten erachtete Abschnitt des gesamten Prozesses, bei dem vieles falsch laufen kann, und der daher möglichst mit entsprechenden Richtlinien, Anweisungen und Hilfestellungen versehen wird. In diesen rites de passage ist nichts dem Zufall und der Willkür überlassen, denn diese würden das Wohlergehen des Verstorbenen und der Gemeinschaft ris2 3
Es wird hier das generische Maskulinum verwendet. Van Gennep 2005.
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kieren, da nämlich über die Bestattungssitten von der Gegenwart aus die Zukunft und die Vergangenheit berührt und somit verbunden werden. Durch das Zusammenkommen für eine Bestattung eines verstorbenen Mitglieds der Gemeinschaft handelt eine Gemeinschaft ihre Zukunft auf der Basis der Vergangenheit und Gegenwart aus, und durch Memorialaktivitäten wird dies immer wieder erneuert und bestätigt. Für Aleida Assmann ist das Totengedenken als identitätsbildendes Element einer Gemeinschaft gar der wesentliche Teil kulturellen Gedächtnisses überhaupt.4 Es handelt sich bei Bestattungen im weitesten Sinne also um aktiv bespielte soziale Arenen und nicht einfach um eine passive Widerspiegelung von Personen oder einer Gemeinschaft. Jede Gemeinschaft, wie klein oder groß, wie flexibel oder gefestigt auch immer, verfügt also über entsprechende Bestattungssitten – worunter im Folgenden sowohl die gewohnheitsmäßigen Abläufe als auch die rituellen Handlungen subsumiert sind. Damit ist jede Gemeinschaft potentiell unterscheidbar von anderen, ist sich des „Anders-Seins“ bewusst bzw. macht sich in vielen Fällen auch bewusst unterscheidbar von anderen oder nimmt eine Angleichung vor. Bestattungssitten wurden und werden daher meist als kulturelle Marker verstanden.5 Doch es darf nicht übersehen werden, dass weder „Kultur“ noch die Bestattungssitten unveränderlich sind. Die innere Perspektive ist natürlich die einer ewigen und unveränderlichen Gültigkeit, denn nur so können Riten ihre Wirkungsmacht entfalten, doch tatsächlich ändern sie sich gemäß der Bedürfnisse der jeweiligen Gemeinschaft in Gegenwart und Zukunft. Diese Veränderungen können sich z. B. durch Migration oder durch veränderte wirtschaftliche und politische Bedingungen ergeben. Die Auswirkung von Migration auf Bestattungssitten und der jeweilige Veränderungs- bzw. Bewahrungsprozess stellen jedoch ein kaum erforschtes Gebiet dar.6 Dies stellt insbesondere für eine Beschäftigung mit dem Mittelmeerraum eine schmerzliche Lücke dar, denn dieser ist ein einmaliger Raum von Kontakt, Kommunikation, Mobilität und Austausch von Menschen, Gütern und Ideen, dem damit eine hohe Dynamik innewohnt und der damit die Akteure stets zur Hinterfragung des eigenen Selbstverständnisses und Selbstbildes herausfordert.
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Assmann 1999, 19. Sammelbände gibt es zu den Bestattungssitten verschiedener Kulturen, z. B. Assmann et al. 2007. 6 Thematisiert wird es v. a. im Zusammenhang mit den einstigen Migrantinnen und Migranten in die Bundesrepublik Deutschland sowie deren Nachkommen mit Migrationshintergrund, z. B. in historischer (Höpp et al. 1996) oder praktischer (Kuhnen 2009) Perspektive. 5
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Bestattungen von Phöniziern Die Bestattungssitten der Phönizier bilden daher in mehrfacher Hinsicht einen interessanten Forschungsgegenstand: Unter den „Phöniziern“ verstehen wir diejenigen, die von ca. 1200–300 v. Chr. von phönizischen Städten wie Byblos, Sidon, Tyros im heutigen Libanon aus als Händler den Mittelmeerraum bereisten, dort in Kontakt mit den jeweiligen einheimischen Kulturen traten und sich dauerhaft entlang der vielbefahrenen Handelsrouten niederließen, in den heutigen Staaten Zypern, Türkei, Griechenland, Italien, Malta, Spanien, Portugal, Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Israel.7 Das Wort Phönizier ist dabei eine Fremdbezeichnung seitens der Griechen. Was oder wer damit tatsächlich gemeint ist, stellte stets – und tut es immer noch – die Forschung vor große Herausforderungen. Eine Definition wurde anhand eines Territorium oder einer Epoche, als Volk, Rasse oder Nation, durch Sprache, Schrift oder Kunstschaffen oder allgemein über materielle Kultur zu erstellen versucht.8 Jüngst wurden diese Fragen erneut von Giuseppe Garbati und Tatiana Pedrazzi aufgegriffen, die anstelle einer Beschreibung von außen vielmehr nach einem phönizischen Selbstverständnis und phönizischer Identität fragten.9 Hierfür kann die Erforschung der Bestattungssitten aus den o. g. Gründen einen wichtigen Beitrag leisten. Hinzu tritt weiterhin der Faktor der Migration der Phönizier im Mittelmeerraum, der ja mit der Frage nach Änderungen in den Bestattungssitten verbunden ist, und schließlich zählen Gräber generell zu den wichtigsten archäologischen Zeugnissen der Phönizier. Bestattungen umfassen eine Vielzahl von spezifischen Handlungen eines hochkomplexen Vorgangs mit zeitlicher Abfolge vom Sterben bis zum Totengedenken. Nur ein kleiner Teil der Elemente einer Bestattung ist allerdings überhaupt archäologisch erfassbar und erschließbar,10 was in der Interpretation natürlich Berücksichtigung finden muss. Im Folgenden werden drei Kriterien ausgewählt und behandelt: Die Lage und räumliche Anordnung der Gräber, die Grabform und die Grabbeigaben.
Lage und räumliche Anordnung der Gräber Phönizische Gräber liegen außerhalb der Siedlung, nicht jedoch entlang von Ausfall- oder Verbindungsstraßen, sondern in einem davon abseits liegenden bestimmten Areal. Dieses ist wohl definiert, nicht jedoch von einer Mauer umgeben. Die Gräber darin sind sehr dicht gedrängt, doch wurden Überschneidungen vermieden und bestehende Gräber respektiert. Eine Siedlung kann mehrere 7
Einen Überblick bietet: Aubet 2001. Einen Überblick über die Forschungslage bietet: Pastor Borgoñon 1988–1999. 9 Garbati 2012; Pedrazzi 2012. Identität wird hier also als soziale Konstruktion begriffen. 10 Ausführlich: Hofmann 2013. 8
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gleichzeitige Nekropolen aufweisen, die sich jedoch untereinander nicht wesentlich unterscheiden. Die Nekropolen sind weiterhin oft von der Siedlung durch Wasser getrennt: wenn sich also eine Ansiedlung auf einer Insel oder Halbinsel befindet, so liegt die Nekropole auf dem Festland. Befindet sich die Siedlung auf dem Festland, so liegt die Nekropole auf der Insel, oder sie ist durch einen Flusslauf von dieser getrennt.11 Ein Beispiel hierfür stellt die phönizische Siedlung des heutigen Almuñécar auf der südlichen Iberischen Halbinsel dar, in deren Westen und Osten der Río Seco und der Río Verde ins Meer münden. Die Gräber befanden sich jenseits davon auf dem Cerro de Velilla im Osten und auf dem Cerro de San Cristóbal und Puente de Noy im Westen.12 Gleiches ist in Phönizien zu beobachten, wo Tyros – gemäß des antiken Küstenverlaufs – auf einer Insel lag und eine Nekropole auf dem Festland in al-Bass lokalisiert werden konnte.13 Ausnahmen davon gibt es allerdings, denn etwa auf Mozia, einer Insel vor der westlichen Küste Siziliens, lagen Siedlung und Gräber zunächst auf der kleinen Insel und erst später wurden an der gegenüberliegenden Küste Gräber angelegt.14
Der Grabbau Für phönizische Gräber ist keine monumentale und repräsentative Grabarchitektur ausgebildet worden. Die Gräber sind stattdessen auf verschiedene Weise in den Boden eingetieft:15 Eine weit verbreitete und häufig anzutreffende Bestattungsform ist das Schachtgrab, das zumeist eine Brandbestattung enthält, wobei die Asche in eine Transportamphore gefüllt und diese dann gemeinsam mit den Beigaben auf dem Boden eines Schachtes oder in einer extra angelegten seitlichen Nische am Grund des Schachtes deponiert wurde. In der Amphore mit dem Leichenbrand konnten weitere Beigaben enthalten sein. Nach der Deponierung wurde der Schacht verfüllt. Die Tiefe des Schachtes kann dabei erheblich variieren und von etwa 50–80 cm tiefen Gruben bis zu mehrere Meter tiefen Anlagen reichen. Zu den ältesten bekannten phönizischen Schachtgräbern gehören jene bereits o. g. der Nekropole Laurita auf dem Cerro de San Cristóbal im heutigen Almuñécar – sie werden an das Ende des 8./den Beginn des 7. Jh. v. Chr. datiert.16 (Abb. 1). Die bereits o. g. Nekropole Tyros al-Bass enthält ebenfalls in den Boden eingetiefte Gräber mit einer Urne mit dem Leichenbrand und einigen Beigaben. Aufgrund der Bodenbeschaffenheit sind es hier keine metertiefen Schächte im anstehenden Fels, sondern Vertiefungen im sandigen Boden (Abb. 2). Die Gräber waren hier sehr 11
Ramos Sainz 1986, 27–33; Aubet 2002, 81. Pellicer Catalán 2007. 13 Aubet 2004a; Aubet et al. 2014. 14 Ciasca 1990; Becker 1998. 15 Zur Typologie: Tejera Gaspar 1979. 16 Pellicer Catalán 2007. 12
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Abb. 1: Grab 19B in der Nekropole Laurita auf dem Cerro de San Cristóbal, Almuñécar, Ende des 8./Anfang des 7. Jh. v. Chr. (nach Gras et al. 1991, 135).
Abb. 2: Grab 12/13 in der Nekropole von Tyros al-Bass, zweite Hälfte des 8./Anfang des 7. Jh. v. Chr. (Foto: M. Aubet).
Abb. 3: Grab 10 der Nekropole von Portoscuso auf Sardinien (nach Karlsruhe 2004, 143, P. Bernardini).
Abb. 4: Grab 4 in Trayamar, zweite Hälfte des 7. Jh. v. Chr. (nach Niemeyer et al. 1975, Beilage 17).
Abb. 5: Stele aus Khalde, mit der phönizischen Inschrift GTTY (nach Sader 2005, 25).
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dicht gedrängt angelegt worden: In den ersten Kampagnen von 1997 und 1998 wurden etwa 56 Urnen mit Beigaben in einem Areal von 104 m2 entdeckt.17 Eine übliche Form der Bestattung ist weiterhin das in den Boden eingetiefte Kistengrab. Hierbei wurden Steinplatten zu einer Art Kiste zusammengefügt und darin eine Körperbestattung mit Beigaben deponiert. Beispiele sind das Grab 10 der Nekropole von Portoscuso auf Sardinien (Abb. 3)18 und ein Grab auf dem Juno-Hügel von Karthago in Tunesien19. Beide werden an das Ende des 8. Jh. v. Chr. datiert. Bekannt sind solche Steinkistengräber auch in Phönizien, etwa Grab TC 3 der Südnekropole von Achziv (Israel), das etwa in das 10. Jh. v. Chr. datiert wird.20 Weiterhin sind Kammergräber angelegt worden, die im 7. Jh. gebaut, ab dem 6. Jh. einfach in den Fels eingeschnitten sind. Sie dienten meist zur Aufnahme einer Körperbestattung, seit dem 6. Jh. v. Chr. in einem Sarkophag, doch sind auch Niederlegungen von Brandbestattungen bekannt. Als Beispiel für die gebauten Kammergräber können die Gräber in Trayamar auf der südlichen Iberischen Halbinsel angeführt werden,21 etwa Grab 4. Es weist eine in den Boden vertieft gebaute Architektur auf. Im Osten bot ein Dromos Zugang zur Grabkammer, an den Langseiten der Wände waren Nischen eingelassen, in denen Beigaben niedergelegt waren. Im Inneren waren drei Brandbestattungen einer älteren Belegphase und zwei Körperbestattungen einer jüngeren Phase. Eine der Brandbestattungen war in der Südwestecke der Kammer als Aschehaufen erhalten (a). Eine zweite Brandbestattung war in der Nordwestecke gelegen (b). Die dritte Brandbestattung lag im Zentrum der Kammer (c). In der Nordwestecke lagen Skelettreste der einen Körperbestattung (d), die zweite Körperbestattung lag an der Westwand (Abb. 4). Der Grabbau war oben mit Erde, vielleicht mit einem Tumulus, bedeckt, und offenbar sind diese Schichten irgendwann in das Grab eingebrochen. In den oberen Verfüllschichten wurde zahlreiche zerbrochene Keramik geborgen. Die genaue Zeitbestimmung ist nur unsicher vorzunehmen, doch scheinen die Brand- und Körperbestattungen nicht zeitgleich zu sein: Die Brandbestattungen (4a, b und c) sind vermutlich in die beginnende zweite Hälfte des 7. Jh. v. Chr., um 640 v. Chr., zu datieren, und die Körperbestattungen (Nr. 4d–e) an das Ende des 7. Jh. v. Chr. Gebaute Kammergräber sind z. B. ebenfalls bekannt aus Karthago,22 und zu den bekanntesten dürfte das sog. Jadamilk-Grab aus der Zeit um 640 v. Chr. zählen.23 Vergleiche in Phönizien sind etwa mit Grab TC 1 aus Achziv vorhanden. Das Grab ist aus Quaderblöcken errichtet und hat einen erhöht liegenden 17
Aubet 2004a, 29. Bernardini 2000, 32–33 Taf. 1, 1; Karlsruhe 2004, 143. 155–156. 19 Chelbi 1985; Karlsruhe 2004, 59. 20 Mazar 2001, 16–18. 21 Niemeyer et al. 1975, 81–111. 151–154. 22 Bénichou-Safar 1982, 355–373. 23 Kunze 2002–03. 18
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Dromos. In dem Grab sind mehrere Bestattungen, meist Körperbestattungen, in verschiedenen Phasen vorgenommen worden, insgesamt waren es wohl 50 Personen. Eine Datierung lässt sich hier nur schwer präzisieren, das Grab scheint vom 10.–7. Jh. v. Chr. in Benutzung gewesen zu sein.24 Die Berühmtheit der Gräber in Trayamar und auch des Grabes des Jadamilk in Karthago sowie die Nennung der Parallelen der Grabform darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies eine im Vergleich selten anzutreffende Grabform mit insgesamt nur wenigen Parallelen ist. Phönizische Gräber waren überwiegend nicht mit einer oberirdischen Markierung versehen. Lediglich Stelen aus Stein sind in einigen Fällen erhalten: Aus Achziv sind sechs Stelen, aus der Nekropole von Khalde in Phönizien mit rund 400 freigelegten Gräbern lediglich eine einzige (Abb. 5) und in Tyros al-Bass 39 Stelen bekannt.25 Die phönizischen Grabstelen sind in die Zeit zwischen dem 10. und 6. Jh. v. Chr. zu datieren. Sie haben eine Höhe von rund 25 bis 70 cm und tragen entweder verschiedene Symbole, etwa das Tanit-Zeichen oder Gesichter, oder aber eine Inschrift mit der Nennung eines Personennamens. Es liegt die Vermutung nahe, dass etliche steinerne Stelen bislang nicht erkannt wurden, und dass es auch Grabmarkierungen aus Holz gegeben haben könnte, die nicht mehr erhalten sind.26 In allen Fällen ist jedoch keine monumentale, dauerhafte, repräsentative und erzählende Memorialarchitektur intendiert, sondern eine Markierung zum Wiederauffinden durch Mitglieder der Gemeinschaft für die spätere Hinzufügung von Bestattungen, wie das Beispiel in Khalde aufzeigt.27 Die Kammergräber von Trayamar waren indes mit einem Tumulus bedeckt, wofür möglicherweise ein lokales Phänomen anzunehmen ist.28 In den Verfüllungen der Kammergräber von Trayamar wie auch der Schachtgräber von Tyros war zwar zerbrochene Keramik enthalten, doch sind darüber hinaus keine späteren umfangreichen, regelmäßigen Memorialaktivitäten am Grab bezeugt.29
Die Grabbeigaben Für die Analyse der Grabbeigaben wird im Folgenden auf die bereits zuvor herangezogenen Nekropolen Bezug genommen: Die Schachtgräber auf dem Cerro de San Cristóbal, die an das Ende des 8./den Beginn des 7. Jh. v. Chr. datiert werden, weisen eine recht homogene Ausstattung an Grabbeigaben auf. Beispielhaft seien die Gräber 19B und 20 genannt. Grab 19B enthielt eine Alabasteramphore, in der der Leichenbrand deponiert war, je eine Kanne mit einer kleeblatt- und einer 24
Mazar 2001, 72–74. Sader 2005. 26 Sader 2005, 25. 27 Aubet 2012. 28 In diesem Sinne für Trayamar etwa Martín Córdoba et al. 2006. 29 Aubet 2004a; Niemeyer et al. 1975, 98–90. 25
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pilzförmigen Mündung sowie zwei protokorinthische Kotylen.30 Grab 20 enthielt ebenfalls ein Alabastergefäß als Urne mit dem Leichenbrand, das mit einer Kartusche mit dem Namen des Pharao Osorkon II. (881/880–852/851 v. Chr.) beschriftet ist. Diese Alabastergefäße stammten einst aus Ägypten, fanden Verbreitung im Mittelmeerraum und sind in besonders großer Zahl in dieser Nekropole aufgefunden worden.31 Das Innere der Urne enthielt neben dem Leichenbrand einen Bronzering und einen Skarabäus. Im Grab 20 waren außerdem zwei Kannen beigegeben – je eine mit kleeblattförmiger und eine mit pilzförmiger Mündung (Abb. 6).32 Ganz ähnliche Beigaben enthielt Schachtgrab TA 73 der Südnekropole von Achziv, das in das 7. Jh. v. Chr. datiert wird: Teller, je eine Kanne mit kleeblattförmiger und eine mit pilzförmiger Mündung, ein Steinkästchen, ein kleines Elfenbeinobjekt, ein Skarabäus des 9./8. Jh. v. Chr. und Schmuck aus Edelstein, Kupfer und Silber.33 Auch die Kistengräber in den Nekropolen von Portoscuso und Karthago aus dem späten 8. Jh. v. Chr. weisen je eine Transportamphore auf, die in Portoscuso eine Beigabe war und nicht als Urne diente, da es sich um eine Körperbestattung handelt. Dort sind des Weiteren eine Trinkschale sowie die schon genannten Kannen, dazu ein Topf mit Henkel einer einfachen und für diese Region typischen Gebrauchsform enthalten,34 in Karthago eine Kanne mit kleeblattförmiger Mündung, einige Teller, Töpfe und Lampen.35 Das Steinkistengrab TC 3 in Achiziv aus dem 10. Jh. v. Chr.,36 und das Kammergrab TC 1 aus Achziv des 10.– 7. Jh. v. Chr.37 enthielten ebenfalls Amphoren, diese Kannen, Skarabäen, kleine Objekte aus Elfenbein, Silber und Edelstein. In Grab 4 von Trayamar sind vermutlich der Brandbestattung, die nur noch als Aschehaufen erhalten war (a), drei Perlen aus Goldblech, eine Kalksteinperle und ein Fingerring aus Bronze zuzuweisen. Von der Brandbestattung im Kammerzentrum (c) ist nur die Amphore mit dem Leichenbrand und der dazugehörige Standring erhalten. Zur Brandbestattung (b) oder aber zur Körperbestattung in der Nordwestecke (d) gehörten zwei Kannen des schon gesehenen Typus, sowie zwei Lampen. Von den Beigaben der einen Körperbestattung (d) sind noch diverse Schmuckteile erhalten, von der anderen (e) ein kleiner Goldring. Dazu lagen in der Südostecke ohne Grabzusammenhang zwei Amphoren sowie ein Teller, die – wie wir aus den bisherigen Beobachtungen schließen können – wohl zu den Körperbestattungen gehörten. In der Nische der Westwand waren zudem 30
Pellicer Catalán 2007, 25–26. 122 Abb. 31. Gamer-Wallert 1978; Padró i Parcerisa 1980. 32 Pellicer Catalán 2007, 26. 123 Abb. 32. 33 Mazar 2001, 96–100. 34 Bernardini 2000, 32–33 Taf. 1, 1; Karlsruhe 2004, 143. 155–156. 35 Chelbi 1985; Karlsruhe 2004, 59. 36 Mazar 2001, 16–18. 37 Mazar 2001, 72–74. 31
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Abb. 6: Grab 20 in der Nekropole Laurita auf dem Cerro de San Cristóbal, Almuñécar, Ende des 8./Anfang des 7. Jh. v. Chr. (nach Fontan et al. 2007, 178. 326 Nr. 106).
Abb. 7: Grab des Jadamilk in der Nekropole von Douïmès, Karthago, drittes Viertel des 7. Jh. v. Chr. (nach Karlsruhe 2004, 59 untere Abb.).
Abb. 8: Grab 8 in der Nekropole al-Bass, Tyros, Ende des 7. Jh. v. Chr. (nach Aubet 2004b, 21 Abb. 4).
noch eine Kanne mit pilzförmiger und zwei mit kleeblattförmiger Mündung sowie eine Bronzefibel enthalten, in der Nordnische die Reste eines Elfenbeinkästchens. Wie bereits erwähnt, werden die Brandbestattungen um 640 v. Chr. datiert und die Körperbestattungen an das Ende des 7. Jh. v. Chr.38 Auch das Grab des Jadamilk in Karthago, ein gebautes Kammergrab, enthielt eine Amphore auf einem Standring, ein Straußenei, zwei Transportamphoren, die beiden Kannen, einen protokorinthischen Skyphos, eine Lampe, einen Bronzehenkel und diverse Schmuckgegenstände, darunter ein Skarabäus sowie das Goldmedaillon mit der Weihinschrift des Jadamilk an Astarte, wonach das Grab benannt ist (Abb. 7).39 38 39
Niemeyer et al. 1975, 81–111. 151–154. Bénichou-Safar 1982, 135–138; Kunze 2002–03; Chelbi 2007.
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Der Ritus der Niederlegung solcher Beigaben lässt sich für Grab 8 der Nekropole von Tyros erschließen (Abb. 8): Die Urne war in einer rechteckigen Vertiefung in 1,25 m Tiefe deponiert, gemeinsam mit fragmentiert erhaltenen Tellern und anderen Gefäßen, darunter die beiden Kannen mit kleeblatt- und pilzförmiger Mündung. Im Inneren der Urne befanden sich der Leichenbrand und Nahrungsreste. Die Kanne mit pilzförmiger Mündung wies Reste von Harz auf, die entweder vom Verschließen der Kanne oder aber von ihrem Inhalt stammen (vielleicht Honig?). Reste von Kohle und Asche in der Grube sowie Brandspuren an den Gefäßen deuten auf ein Feuer vor der Verfüllung hin. Dann wurde eine große rechteckige Holzkiste über der Urne deponiert. Diese enthielt vier Terrakotten, darunter eine Maske, einen Opfernden, einen Naiskos und eine Reiterfigur.40 Dann wurde die Grube geschlossen und mit Sand verfüllt. In der Verfüllung befanden sich eine zerbrochene Kanne und mehrere Teller. Angesichts der immer wieder angeführten Heterogenität der Grabformen (Schacht- und Kammergrab), Bestattungsarten (Körper- und Brandbestattung) und Beigaben (lokale, ägyptische, zyprische, phönizische, italische Keramik usw.) ist doch eine erstaunliche Gleichförmigkeit zu erkennen: Die Toten lagen getrennt von der Welt der Lebenden. Memorialaktivitäten am Grab fehlen. Die Toten sind nicht zu stören – wie auch anhand der Inschriften am Ahiram-Sarkophag aus Byblos aus der Zeit um 1000 v. Chr.41 und am Eschmunazar-Sarkophag aus Sidon aus dem frühen 5. Jh. v. Chr.42 angenommen werden kann. Die Gräber waren nicht markiert, lediglich eine Stele diente ggf. zur Auffindung von mehrfach genutzten Familiengräbern. Die Beigaben bilden ein Set, bei gleichzeitiger individueller Auswahl, z. B. in Provenienz und Qualität. Besonders sticht aber das Trinkgeschirr hervor, das man mit dem aus Schriftquellen recht gut bekannten Marzeah, eine Art Kultmahlgenossenschaft,43 in Verbindung bringen kann. Dieses dürfte dann der Raum für die sozialen Aushandlungsprozesse gewesen sein, nicht das Grab selbst. Zurschaustellung von Prestige suchen wir am und im Grab vergeblich. Die Bestattungen sind zwar meist einzeln vorgenommen, doch sind individualistische Komponenten nicht erkennbar.
Bestattungen von Fremden Als Begriff „Fremde“ seien hier in freier Anwendung der Definition Georg Simmels44 diejenigen verstanden, ob potentiell oder tatsächlich reisend, die jedenfalls 40
Aubet 2004a, 48–49. Lehmann 2004. 42 Frede 2000, 68. 43 Fabry 1986; Lipiński 1992. 44 Simmel 1908, 509–512: Exkurs über den Fremden. Siehe dazu auch Geenen 2002. Nach Simmel ist der Fremde zwar insbesondere nicht verstanden als „der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – so41
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kein konstituierendes Mitglied einer Gemeinschaft sind.45 Wie würde eine Gemeinschaft diese Fremden bestatten? Gar nicht? Nach den fremden Riten und Sitten (sofern bekannt) oder nach den eigenen? Archäologisch lassen sich im Fallbeispiel der Phönizier weder Phönizier in fremden Gemeinschaften noch Fremde in phönizischen Gemeinschaften anhand ihrer Bestattungen nachweisen. Allein der auf einer Grabstele aus Tyros westsemitisch bislang nicht bezeugte Personenname ‘GRP könnte auf die Bestattung eines Fremden in der Nekropole von Tyros hindeuten.46 In noch freierer Anwendung der „Fremde“ als dialektischem Gegenbegriff zur „Heimat“, ist folgendes festzuhalten: Es besteht eine erstaunliche Verbindlichkeit für phönizische Bestattungen im gesamten Mittelmeerraum. Wir erkennen ein von phönizischen Gemeinschaften getragenes Konzept rund um den Mittelmeerraum in engem Austausch. Die Gräber lassen sich dabei aber (bislang) erst mit der Anlage von Siedlungen einhergehend nachweisen. Offenbar erfolgte erst mit der Niederlassung einer Gemeinschaft von Siedlern auch die Etablierung von lokalen Bestattungsplätzen. Hiermit machten sich die Phönizier Siedlungsräume im Mittelmeerraum zu Eigen, und sie machten somit aus der Fremde eine Heimat.47 Möglicherweise wurden die Toten zuvor, in der sog. Präkolonialen Phase, jener so schwierig zu bestimmenden Zeit, als die Phönizier den Mittelmeerraum erfuhren und erste Kontakte knüpften, die sich bisweilen in sporadischen Funden, nicht aber in Siedlungsaktivität festmachen lassen, nach Phönizien gebracht. Gleiches könnte für die Phönizier gelten, die während späterer Zeiten mit dem in Teilen von Phöniziern besiedelten Mittelmeerraum aus einer Region ohne dauerhafte phönizische Ansiedlung, z. B. Athen, in eine phönizische Siedlung oder nach Phönizien gebracht wurden. Und vielleicht ist es gar nicht zu banal überzusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat“ (Simmel 1908, 509). Er ist aber auch derjenige, der „innerhalb eines bestimmten räumlichen Umkreises – oder eines, dessen Grenzbestimmtheit der räumlichen analog ist – fixiert [ist], aber seine Position in diesem ist dadurch wesentlich bestimmt, dass er nicht von vornherein in ihn gehört, dass er Qualitäten, die aus ihm nicht stammen und stammen können, in ihn hineinträgt“ (Simmel 1908, 509). 45 „Gemeinschaft“ ist hier im Sinne einer Gruppe von Personen angewendet, die eine gemeinsame Vergangenheit teilt, einen realen Kontakt hat und über Erfahren, Erinnern und Erzählen über eine gemeinsame Identität verfügt. Entscheidend dabei ist v. a., dass sich eine „Gemeinschaft“ selbst als solche versteht („Wir-Gefühl“). S. dazu etwa Scheidereit 2010. 46 Sader 2014, 376–378. Hélène Sader schlägt eine Interpretation des Namens als „Gabe des Gottes Ptah“ vor, verweist aber auch auf einen Vorschlag von Philip Schmitz in einem noch nicht veröffentlichten Beitrag, hierin eine archaische lateinische oder etruskische Form des Namens Agrippa in phönizischer Schrift zu verstehen. „Agrippa“ ist vom 6.–4. Jh. v. Chr. als römischer Vorname bezeugt, dessen Etymologie jedoch seinerseits unklar ist (italisch? römisch?), s. dazu Salomies 1987, 19–20. Ich danke Karl-Ludwig Elvers für diesen Hinweis. 47 Dies ist umso spannender, als im Nationalbewusstsein der meisten heutigen Staaten mit phönizischen Siedlungen – mit Ausnahme von Libanon und Tunesien – die Phönizier als Fremde gelten. Dies ist jedoch ein kaum thematisiertes und erforschtes Feld, s. zur Forschungsgeschichte allgemein: Morstadt 2015, 14–38.
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legt, ob die Präferenz von Brandbestattungen in dieser Phase der phönizischen Expansion mit der Möglichkeit des Rücktransportes des Verstorbenen zusammenhängt.
Bestattungen von Anderen Gut bekannt sind Bestattungen von jenen Gemeinschaften im Mittelmeerraum, insbesondere auf der südlichen Iberischen Halbinsel, aber etwa auch in Etrurien, die mit den Phöniziern in Kontakt und Austausch standen. Durch diesen Kontakt und Austausch kam es auch zu archäologisch nachweisbaren Reaktionen auf verschiedenen Ebenen, etwa als Transfer oder Adaption von Objekten, Sitten, Bräuchen, Technologie, u. a.48 Seit langem bekannt und immer wieder Gegenstand von Forschung zu diesen Kontakten sind die phönizischen Metallschalen, Metallkannen, Elfenbeinschnitzereien, Räuchergeräte u. a., die gar nicht aus phönizischen Kontexten, sondern aus jenen der Kontaktkulturen bekannt sind und etwa in assyrischen Palästen, griechischen Heiligtümern, zyprischen und etruskischen Gräbern gefunden wurden.49 Dabei lassen sich durchaus unterschiedliche Verbreitungs- und Aufnahmemuster unterscheiden. Im Folgenden seien beispielhaft die sog. tartessischen Prunkgräber näher betrachtet, die entlang der großen Flussläufe des Guadalquivir, Guadiana und Rio Tinto liegen (Abb. 9). Hier boten diese großen, schiffbaren Flüsse Zugang zum Hinterland mit den dortigen reichen Metalllagerstätten50 (Abb. 10), und die Anlage dieser Gräber ist als Reaktion auf die Kontakte der indigenen Bevölkerungsgruppen zu den Phöniziern im Zusammenhang mit dem Metallhandel zu werten.51 Der Begriff „Tartessos“ ist den klassischen Quellen entnommen52 und kann als Gebiet im Bereich des Unterlaufes des Guadalquivir, zwischen dem Fluss Guadiana im Westen und dem Cabo de la Nao im Osten sowie der Sierra Morena im Norden lokalisiert werden. Unklar ist jedoch, was genau damit gemeint ist (ein Königreich, eine Stadt?), und ob es gleichbedeutend mit dem im Alten Testament mehrfach genannten Tarsis ist.53 In der Forschung wird schlichtweg jenes Gebiet in dem Zeitraum zwischen dem 8. und 6. Jh. v. Chr. als „Tartessos“ benannt. Es zeichnet sich durch eine „orientalisierende“ Kultur aus, indem also zahlreiche phönizische Objekte rezipiert, imitiert und adaptiert wurden. Diese 48
Für die Iberische Halbinsel s.: Mielke et al. 2012. Grundlegend zu Metallschalen: Markoe 1985; Metallkannen: Grau-Zimmermann 1978; Elfenbeinschnitzereien: Winter 1976; Räuchergeräte: Morstadt 2008; orientalischer Import in Griechenland: Braun-Holzinger et al. 2005. 50 Einen Überblick bietet z. B.: Pérez Macías 2013. 51 Zu den früheren Bestattungssitten: Torres Ortiz 1999, 49–55. 52 Herodot 1, 163; 4, 152; Strabon 3, 150. 53 Z. B. 1. Könige 10, 21–22; Jonas 4. Zur Problematik: Koch 1984.
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Abb. 9: Verbreitungskarte der sog. tartessischen Prunkgräber in Andalusien. 1 Papa Uvas; 2 Huelva; 3 Niebla; 4 Chinflón; 5 Cerro Salomón; 6 Monte Romero; 7 Aznalcóllar; 8 Tejada la Vieja; 9 Peñalosa; 10 San Bartolomé de Almonte; 11 Cerro de San Juan; 12 Sevilla; 13 El Carambolo; 14 Cerro Macareno; 15 Las Arenas; 16 Cerro del Cabeza; 17 Alcalá del Río; 18 Cerro Redondo; 19 Cerro Casar; 20 Torres Alocaz; 21 Lebrija; 22 Mesas de Asta; 23 Pocito Chico; 24 Campillo; 25 El Monte Berrueco; 26 Arcos de la Frontera; 27 El Coronil; 28 Montemolín; 29 Los Alcores; 30 Carmona; 31 Setefilla; 32 Vega de Santa Lucía; 33 La Saetilla; 34 Écija; 35 La Lantejuela; 36 Osuna; 37 Cerro de San Cristóbal; 38 Alhonoz; 39 Monturque; 40 Santaella; 41 Colina de los Quemados; 42 Ategua (nach Beba 2008, 243 Abb. A).
Objekte stammen zumeist aus den Prunkgräbern, die insbesondere als charakteristisch für „Tartessos“ gelten können.54 Diese Gräber liegen i. d. R. in geringer Entfernung zur jeweiligen Siedlung, sofern bekannt, und zwar meist in exponierter Lage auf Hügeln oder Anhöhen, entweder einzeln oder in Gruppen. Zusätzlich herausgehoben sind die Gräber teils durch Tumuli, die auf einer runden Grundfläche von ca. 19 m Durchmesser mit einer Höhe von vermutlich 2,3 m mit Lehmerde oder mehreren Steinschichten errichtet sind.55 Die Gräber enthalten zumeist Brandbestattungen und nur selten Körperbestattungen in rechteckigen Gruben unter den Tumuli, wobei die Kremation oft primär, also in situ in der 54
Sie sind auch als „Fürstengräber“ bekannt, doch soll dieser Begriff hier vermieden werden, denn wir sind über die politische Organisation von „Tartessos“ nicht stichhaltig informiert – „Fürst“ impliziert ein feudales System –, auch wenn Herodot in 1, 163 von einem König Arganthonios berichtet. 55 Beba 2008, 10–14.
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Grabgrube, oder in unmittelbarer Nähe erfolgt war.56 Beigegeben waren neben der lokalen handgemachten Keramik auch phönizische Red-Slip-Keramikgefäße, meist Trinkgeschirr, und polychrome Halsamphoren des Typs Cruz del Negro sowie weiterhin zahlreiche Objekte aus Bronze wie Gürtelschließen, Fibeln, Armund (Finger-)Ringe, Objekte aus Eisen wie Messer und Lanzenspitzen, Objekte aus Elfenbein wie etwa Möbelappliken, Kämme und Kästchen, und einige wenige Schmuckobjekte aus Gold und Silber.57 Zu den am besten erforschten Tumuli gehören jene zehn von Setefilla auf dem kleinen Hügel Los Cuadrejones am Fuß des Castillejo, in Lora del Río, Provinz Sevilla.58 Jeder Tumulus konnte neben den einfachen Grabgruben mit den Brandbestattungen (in Tumulus A die Anzahl von 65) auch eine einzelne, zentrale Grabkammer enthalten, nachweisbar etwa bei den Tumuli A, C, H. In der Grabkammer war vermutlich einst eine Körperbestattung enthalten59 (Abb. 11). Die gute stratigraphische Dokumentation von Tumulus A ergab dabei einen mehrphasigen Aufbau, bei dem unter der zentralen Steinkammer eine Nekropole mit Urnengräbern im anstehenden Boden nachweisbar ist („Basisnekropole“), auf die dann eine Lehmschicht mit vier Urnenbestattungen folgte, darauf die Steinkammer und ihre Annexwälle errichtet und sodann der Tumulus in mehreren Etappen aufgeschichtet wurden. Acht Stelen begrenzten den Rand des Tumulus.60 Die Basisnekropole ist bei den folgenden Bauphasen zwar zerstört worden, doch lässt sich insgesamt anhand der Beigaben eine räumliche Anordnung der Brandbestattungen zueinander erkennen und eine deutliche soziale Differenzierung und Hierarchisierung ablesen.61 Während einige Gräber neben der lokalen handgemachten Keramikware lediglich wenige weitere Beigaben, etwa der Red-Slip-Ware wie in Grab 8 des Tumulus A von Setefilla62 enthielten, weisen andere Gräber ein reichhaltiges Grabinventar auf. Als Beispiel seien genannt Grab 17 in der Nekropole von La Joya, Huelva, und der Tumulus von El Palmarón, nahe Niebla: Grab 17 in La Joya enthielt eine phönizische Bronzekanne und ein Bronzebecken, zwei Bronzestandringe, einen Spiegel mit Elfenbeingriff, ein von Kouroi getragenes Elfenbeinkästchen, ein Thymiaterion, ein Eisenmesser mit Elfenbeingriff, bronzenes Pferdegeschirr und Wagenelemente aus Bronze und Eisen sowie Elfenbeinleisten und Alabastra.63 Der Tumulus von El Palmarón enthielt eine phönizische Bronzekanne, Reste eines Bronzebeckens und einer Silberschale, ein Schwert, Lanzenspitzen und Lanzenschuhe aus Eisen, Nieten und 56
Beba 2008, 15–19. Beba 2008, 19–28. 58 Aubet 1975; Aubet 1978; Aubet 1980–1981; zur Grabungsgeschichte: Torres Ortiz 1999, 87. 59 Torres Ortiz 1999, 86–89; Beba 2008, 202–215. 60 Beba 2008, 202–215. 61 Krueger im Druck. 62 Beba 2008, 203. 63 Torres Ortiz 1999, 60. 62; Beba 2008, 40–55. 57
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Abb. 10: Die wichtigsten Metallvorkommen auf der Iberischen Halbinsel (nach Pingel 2001, 173 Karte 16).
Abb. 11: Der Tumulus A von Setefilla (nach Aubet 1980– 1981, Abb. 1).
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Abb. 12: Das Grabinventar des Tumulus von El Palmarón (Zusammenstellung nach Beba 2008, 71 Abb. 34).
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Abb. 13: Die Fundplätze des 8.–6. Jh. v. Chr. an der Küste von Vélez-Malaga: Phönizier und Indigene. 1 Morro de Mezquitilla; 2 Las Chorreras; 3 Lagos; 4 Trayamar; 5 Toscanos; 6 Cerro de Alarcón; 7 Cerro del Peñón; 8 Cerro del Mar; 9 Jardín; 10 Cerca Niebla; 11 Casa de la Viña; 12 Los Algarrobeños; 13 La Fortaleza; 14 La Pancha; 15 Los Pinares; 16 Los Lunares (nach Córdoba et al. 2008, 146 Abb. 1).
Blechfragmente sowie Stäbe aus Eisen, einen Silberstab, einen Bronzereif, ein Gürtelblech64 (Abb. 12). Hier wird also über das Grabinventar deutlich der jeweilige Status des Bestatteten zum Ausdruck gebracht, wie es bei den materiellen Manifestationen phönizischer Bestattungen so nicht ablesbar war. Dabei haben die phönizischen Objekte einen bedeutenden Platz inne, indem sie in die eigenen Bestattungssitten integriert wurden. Die Bestatteten waren über die phönizischen Objekte von ihrer Gemeinschaft nicht als „phönikisiert“ herausgestellt worden, sondern anhand der phönizischen Objekte wurde innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft auf graduelle Weise der Besitz und die Verfügbarkeit von phönizischen Objekten und der Kontakt zu den Phöniziern veranschaulicht. Sie generierten sich damit selbst als Gemeinschaft von „Anderen“ zu den Phöniziern, mit einer in einem Wechselverhältnis zu diesen stehenden und durch diese bedingte Identität.65 64 65
Torres Ortiz 1999, 64–65; Beba 2008, 65–72. S. ausführlicher zum Alteritätskonzept: Horstmann 1987.
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Es ist jedoch noch eine weitere Kategorie zu den phönizischen, fremden und anderen Bestattungssitten anzunehmen, die jedoch archäologisch derzeit nicht erfasst werden kann: Seit einigen Jahren werden die Kontaktsphären zwischen den Phöniziern und den jeweiligen indigenen Gruppen zunehmend erforscht und lassen frühere Annahmen einer grundsätzlichen Separierung widerlegen. Stattdessen sind verschiedene Ebenen eines durchaus engen Austausches und ein Teilen der Lebenswelt erkennbar, etwa in Form von hybrider Keramik im Nuraghen Sirai am Fuße des phönizisch besiedelten Monte Sirai auf Sardinien.66 Auch die indigene Siedlung der Fortaleza de Vélez-Málaga in Südspanien lag in solcher Nähe und Sichtweite zu den phönizischen Siedlungen an der Küste, Toscanos, Cerro del Mar, Morro de Mezquitilla u. a., in einer gemeinsamen Siedlungskammer67 (Abb. 13), dass die Annahme eines äußerst engen Kontaktes und Austausches in dieser Siedlungskammer unvermeidlich ist. Die Frage, ob Phönizier oder Indigene diese Region bewirtschafteten, und wer die ländlichen Gebäude bewohnte, kann nicht beantwortet werden und ist vielleicht gar falsch gestellt. Wo und wie sind aber die Mitglieder dieser Gemeinschaft bestattet? Ihre Gräber kennen wir (noch?) nicht, und wir können sie auch nicht innerhalb phönizischer Nekropolen nachweisen.
Zusammenfassung Das Mittelmeer als Raum von Kontakten und Mobilität von Menschen, Gütern und Ideen stellte alle unmittelbar oder mittelbar Beteiligten vor besondere Möglichkeiten und Herausforderungen. Diesen Kontakten und der Mobilität kann die Forschung heute in verschiedenen Facetten nachspüren, wie es in diesem Beispiel zu den Phöniziern unternommen ist: Phönizische Gruppen bereisten und besiedelten nicht nur den Mittelmeerraum im frühen 1. Jt. v. Chr., sondern sie machten sich ihre neuen Siedlungsgebiete auch mit der Anlage von Bestattungsplätzen jeweils zu Eigen („Verheimatung“). Möglicherweise erkennbar ist dies durch die Auswahl bestimmter, nur lokal verfügbarer Keramik. Dabei behielten sie aber über viele Generationen eine phönizische Identität, die höchstens graduelle lokale Ausprägungen erlaubte, in ihren wesentlichen Zügen aber unverändert blieb. Das Mittelmeer ist hier also nicht mit seinen großen geographischen Distanzen als trennender Faktor wahrzunehmen, sondern als ein verbindendes Element, das stetige Rückbindungen und Aktualisierungen ermöglichte.68 Demgegenüber stehen die Anderen, hier 66
Perra 2007. Córdoba et al. 2008. 68 Eine Schiffsreise von Tyros nach Cadiz und wieder zurück ist in der Forschung mit ca. drei Monaten kalkuliert (Díes Cusí 2004). Zu berücksichtigen sind dabei zwar stets die unvorhersehbaren Ereignisse, die zu einer Verlängerung der Reise führen konnten. Andererseits
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am Fallbeispiel der sog. tartessischen Fürstengräber thematisiert. Über nur kurze geographische Distanzen wurden phönizische Güter und Ideen nicht nur dorthin übermittelt, um dann dort adaptiert und imitiert zu werden. Vielmehr wurden sie dort in ihrer Funktion und in ihrem Sinngehalt neu aufgeladen und als Medien eingesetzt, um einerseits soziale Distinktion innerhalb der tartessischen Gesellschaft und andererseits die Unterscheidbarkeit zur phönizischen Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Sie sind damit Auslöser, Medium und Ausdruck einer dort neu formierten Identität, die in Beziehung zu den Phöniziern steht. Der archäologische Befund der hier behandelten Bestattungen erlaubt uns dagegen nicht, die nicht-konstituierenden Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaften, die „Fremden“, zu erkennen – die es mit Sicherheit gegeben hat. Dies ist methodisch durch das Thema erklärbar, denn sofern überhaupt eine Bestattung stattgefunden hat, geschah sie nach den Bestattungssitten der Bestattenden. Eventuelle Hinweise auf eine „Fremdheit“ des Bestatteten, etwa sein Name, seine Herkunft, ein bestimmtes Bild oder Symbol, eine Inschrift, sind nicht verfügbar.
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BÄRBEL MORSTADT
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Eicke Granser Die Nekropole von San Montano (Pithekoussai) Ein Mosaik kultureller Diversität und Dynamiken?∗
Zusammenfassung Die Nekropole von San Montano in Pithekoussai ist eine der größten bekannten Nekropolen der spätgeometrischen Zeit und steht als Zeugnis früher griechischer Kolonisation im Fokus diverser Forschungsfragen. Der zentrale Mittelmeerraum war in jener Zeit eine wichtige ökonomische und geostrategische Region, die Zielpunkt für verschiedene Akteure und ihre unterschiedlichen Intentionen und Interessen war. Der Beitrag beleuchtet das Paradigma der kulturellen Diversität dieses Kulturraums am Beispiel von Pithekoussai. Explizit steht das Verhältnis zwischen Griechen und Orientalen im Mittelpunkt der Betrachtung. Pithekoussai avancierte nicht zuletzt durch Giorgio Buchners Beitrag von 1982 zum Paradebeispiel griechisch-orientalischer Kohabitation. Buchners These wird hier vorgestellt und durch die Verortung in einen breiteren Kontext auf ihre Plausibilität überprüft. Dabei zeigt ein kurzer Überblick über das Beigabenmuster der Nekropole, dass in Pithekoussai seit den frühesten Phasen ein gewisser Konsens über die Ausstattung der Gräber herrschte. Neben den Ausstattungsmustern werden auch konkrete Grabbeigaben wie die Siegel der Lyre-Player-Group mit Hinblick auf die Frage nach orientalischer Präsenz in Pithekoussai betrachtet.
Der Tod war in der antiken und ist in der heutigen Gesellschaft ein Ereignis, dessen Folgen sich unmittelbar auf die Hinterbliebenen auswirkten und dahingehend zur Entstehung verschiedener Maßnahmen führten, um mit diesem Ereignis umzugehen. Das Mittelmeer als Kontaktzone verschiedener Akteure unterschiedlicher kultureller Prägungen kennt viele Arten des Umgangs mit dem Tod. Die archäologischen Kontexte aus den Nekropolen der Antike ermöglichen, dass diese verschiedenen Umgangsformen mit dem Tod anhand ihrer materiellen Hinterlassenschaften sichtbar werden. Das Mittelmeer und der Tod – der Tod ∗
Der folgende Beitrag ist ein Destillat meiner Masterarbeit „Griechisch-phönizische Kohabitation auf Pithekoussai. Nur eine schöne Idee?“ Ich danke dem Zentrum für Mittelmeerstudien der Ruhr-Universität Bochum für die Möglichkeit, meine Ergebnisse hier veröffentlichen zu können. Ich danke Bärbel Morstadt und Achim Lichtenberger für die Betreuung der Arbeit. Ferner geht mein herzlicher Dank an Kerstin P. Hofmann und Luca Cerchiai, die mir freundlicherweise einige ihrer Aufsätze und Manuskripte zur Verfügung gestellt haben.
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und das Mittelmeer: Gleichwohl welche Leserichtung präferiert wird, so ermöglicht der eine Begriff der archäologischen Forschung den Zugang zum jeweils anderen Begriff. Der besondere Umgang mit dem Tod ist vielfach als Marker einer spezifischen Kultur lesbar und im Rückschluss nimmt die kulturelle Prägung eines Menschen erheblichen Einfluss auf den Umgang mit dem Tod. Hierbei spielen also nicht nur individuelle Vorlieben eine Rolle, sondern auch externe Entitäten wie soziokulturelle Konventionen oder gesellschaftliche Erwartungen. Dem folgend lassen sich Teile der Alltagskultur in der Sepulkralkultur wiederfinden sowie Teile der Sepulkralkultur in der Alltagskultur, zumindest in ihrer Materialbasis und in idealisierter Form. Und für den Mittelmeerraum tritt hinzu, dass hier viele Kulturen fassbar sind, die zueinander in Kontakt und in einen besonders engen Austausch miteinander traten. Seit der Frühzeit der Archäologie waren sich die unterschiedlichen Fachrichtungen einig über den Stellenwert der archäologischen Quelle „Grab“. A priori wurde von der frühen Wissenschaft festgestellt, dass es sich bei Gräbern zumeist um geschlossene Befunde handelt. Durch die wahrscheinlich gleichzeitige Niederlegung der Beigaben mit den menschlichen Überresten und der Schutz, den die Eigenschaften des Grabes für die Objekte boten, wurde der Moment der Niederlegung für die Nachwelt konserviert. Die Quelle „Grab“ avancierte in der archäologischen Wissenschaft zum „Spiegel des Lebens“.1 Es wurde angenommen, dass Grabform, Ritus und Inventar die Alltagswelt und die Identität des Verstorbenen widerspiegelten. Diesbezüglich aber hielt Hans Jürgen Eggers bereits 1959 kritisch fest, dass Grabinventare nur eine positive Selektion der Gesamtheit des Sachgutes einer Kultur darstellen.2 Eggers erkannte folgerichtig, dass der Transfer von der Ebene der Toten auf die Ebene der Lebenden stets problematisch ist, denn der archäologische Befund spiegelt zunächst nicht die Gefühls- und Gedankenwelt der antiken Menschen wider, sondern gibt lediglich ausschnitthafte Einblicke in den materiellen, rituellen und praktischen Umgang mit dem Tod, der sich regions-, kultur- und zeitgebunden häufig sehr verschieden darstellt.3 Jene vermeintliche Spiegelung sollte also nicht als Matrize einer Gesellschaft verstanden werden, bei der die Totenstadt ein getreues Abbild der Lebenswelt wiedergibt. Dieser Divergenz Rechnung tragend wurde das Bild des Spiegels in der archäologischen Forschung durch das Bild des Zerrspiegels modifiziert.4 Ein Zerrspiegel reflektiert kein getreues Abbild, sondern ein diffuses Bild, welches nur durch Dechiffrierung einen Einblick in die Lebenswelt des Verstorbenen erlaubt. 1
Haffner 1989. Eggers 1959, 265. 3 Sarah Tarlow prägte Ende des 20. Jh. den Begriff „Archaeology of Emotions“ und betrachtete Grabkontexte als Relikte von Trauerfällen und Gedenkfeiern (Tarlow 1999). 4 Die Auffassung einer verzerrten Wiedergabe der Lebenswelt entstand in den 1980er Jahren in der Schule der „Contextual Archaeology“ (Hodder 1980; Parker Pearson 1982). 2
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Doch beiden Vergleichen, dem des „Spiegel des Lebens“ und der Modifikation des Zerrspiegels, haften gewisse Schwächen an. Der Vergleich des Spiegels impliziert Passivität, ein unbewusstes, arbiträres Wiedergeben, jedoch müssen Bestattungen vielmehr als bewusste, kulturspezifische Handlungen verstanden werden. Begräbnisse sind in Kerstin P. Hofmanns Auffassung als „Action-Settings“5 zu begreifen, als situativer Raum, in welchem aktiv und bewusst spezifische Handlungen vollzogen bzw. inszeniert wurden. Im Rahmen dieser Handlungen werden idealisierte Stereotypen wiedergegeben und kein Abbild der Lebenswelt.6 Die Quelle Grab belegt intentional selektierte Facetten einer multiplen Identität, denn Begräbnisse bedeuteten letztlich eine Neuinterpretation der Rolle des Verstorbenen durch die Hinterbliebenen, in welcher nur spezifische Aspekte einer komplexen Identität betont werden. Aus griechisch-eisenzeitlichen Nekropolen etwa ist der Brauch der Waffenbeigabe bekannt, womit die Rolle des Kriegers herausgestellt werden sollte.7 Das Grabinventar der sog. Kriegergräber erlaubt somit nur Aussagen über den Verstorbenen in seiner Rolle als Krieger, nicht aber über weitere Funktionen/Stellungen, welche das Individuum innerhalb der Gesellschaft bekleidete. Wurde Identität in der früheren Forschung gerne mit Attributen wie Homogenität, Kohärenz und Kontinuität beschrieben, änderte sich die Beschreibung von Identität mit den Post Colonial Studies in arbiträr, multipel oder hybrid.8 Somit sind Teile der Identität und des Status situativ, flexibel und grundsätzlich immer wieder neu verhandelbar. Die Zeremonie der Bestattung diente vor allem den Hinterbliebenen als Moment der Neuverhandlung oder Festigung einer spezifischen sozialen Rolle durch die intentionale Betonung bestimmter Aspekte des Toten. Wie sich im Folgenden am Fallbeispiel der Nekropole San Montanos auf Pithekoussai – der modernen Mittelmeerinsel Ischia im Golf von Neapel – zeigen wird, müssen im Umgang mit den Hinterlassenschaften aus dem funerären Kontext verschiedene Parameter berücksichtigt werden, um ein adäquates Gesamtbild der lebenden Gemeinschaft zu entwickeln. Stringente Gleichungen wie die, dass die Beigabenprovenienz der Provenienz der Bestatteten gleicht, sind zu un5
So in ihrem Vortrag „Materielle Kultur, Sepulkralpraktiken und Identitätsdiskurse. Zu den Bestattungsplätzen Südostsiziliens des 8.–5. Jh. v. Chr.“ am Institut für Archäologische Wissenschaften, Ruhr-Universität Bochum, 02.07.2015. Der Begriff des „Action-Settings“ stammt aus der Geographie bzw. aus der Raumplanung und wurde später von der archäologischen Forschung adaptiert (Weichhart 2004, 44–49). 6 Hofmann 2015, 5. In Kerstin P. Hofmanns Modell der Begräbnisse als „Action-Settings“ sind Bestattungen Inszenierungen und können somit kein Abbild der Lebenswelt sein, sondern lediglich stereotypische Idealisierungen. H. Härke hält jedoch entgegen, dass Grabbefunde nicht nur „fossilisied ideas“ sind, sondern partiell auch auf das Alltagsleben zurückschließen lassen. Er wirkt somit der Reduzierung des Grabbefundes auf rein ideologische Aspekte entgegen (Hofmann 2014, 117). 7 Für Eretria auf Euböia: Blandin 2007a, 177. 8 Hofmann 2015, 3.
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differenziert und erfassen selten präzise die Komplexität und Mobilität der antiken Gesellschaft des Mittelmeers. Objektbewegung und Bewegung von einzelnen Individuen gilt es stets zu differenzieren. Auf der Suche nach kultureller Zugehörigkeit oder Identität sind neben dem beigegebenen Material vor allem Fragen nach der Bestattungsart und Riten von großem Interesse. Mario Cuozzo beschreibt den Zusammenhang zwischen der sozialen Ordnung einer Gesellschaft und den Bestattungssitten wie folgt: „the relationship between social organisation and funary costums is a complex, mediated never neutral phenomenon“.9 Auch die Anordnung von Beigaben im oder außerhalb des Grabes kann Aufschluss über mögliche Zeremonien oder Bräuche geben, welche ihrerseits spezifisch für bestimmte Menschengruppen sein können. Besonders die räumliche Analyse antiker Nekropolen ist in den vergangenen Jahren immer mehr in den Blickpunkt der Wissenschaft gerückt. Mit Hilfe von kulturellen Topographien der Bestattungsplätze, die auf der Basis von Analysen der Bestattungsarten, Riten und Ausstattungsmustern fußen, wird vermehrt versucht, einzelne soziale oder kulturelle Gruppen innerhalb der Nekropolen zu identifizieren. Für das Fallbeispiel San Montano können diese soziokulturellen Landkarten in den nächsten Jahren zu aufschlussreichen Ergebnissen führen, wenn die Lage im Schnittpunkt verschiedener kultureller und ökonomischer Aktionsradien berücksichtigt wird, aus der eine eventuelle Vermischung der verschiedenen Akteure resultieren kann.
Die Nekropole von San Montano und der zentrale Mittelmeerraum Die Mittelmeerinsel Pithekoussai, die moderne Vulkaninsel Ischia, liegt im Golf von Neapel (Abb. 1), ca. 46 km von der süditalienischen Metropole Neapel entfernt. Die Nekropole von San Montano im Nordwesten von Ischia gilt als eine der weitest erforschten Nekropolen der spätgeometrischen Zeit.10 Strukturen der eigentlichen Siedlung sind dagegen heute, bis auf wenige Überreste eines Handwerkerviertels südlich des Monte Vico, nicht mehr erhalten. Für das ungefähre Gründungsdatum der Siedlung müssen die frühsten Funde der Nekropole konsultiert werden, die Hinweis auf die Gründung Pithekoussais in der Mitte des 8. Jh. v. Chr. geben (Abb. 2).11 Die Funde San Montanos sind eine Generation 9
Cuozzo et al. 2004, 142. Die spätgeometrische Zeit beschreibt nach der von Giorgio Buchner und David Ridgway verwendeten Chronologie den zeitlichen Rahmen von 750 bis 700 v. Chr. (Ridgway 1992, 46). 11 Der frühste Horizont der Nekropole San Montano wird über die Funde der Kotylen Aetos 666 bestimmt. Der Beginn der Produktion dieser Kotylen wird von Nicolas Coldstream in die Mitte des 8. Jh. v. Chr. datiert und soll hier im Folgenden als Spätgeometrisch I benannt werden (Coldstream 1968, 98). Der Horizont der Phase Spätgeometrisch II wird in
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Abb. 1: Ischia und der Golf von Neapel (Ridgway 1992, 38 Abb. 5).
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Abb. 2: Kotyle des Aetos 666. Pithekoussai Grab 116 (Buchner et al. 1993, Taf. 62).
älter als jene der benachbarten euböischen Kolonie Cumae auf dem italischen Festland. The First Western Greeks, wie der Titel einer bekannten Monographie David Ridgways lautet, siedelten somit auf Pithekoussai.12 Der Golf von Neapel und der weiter südlich gelegene Golf von Salerno sollten in der Folgezeit Schauplatz verschiedener griechischer Städtegründungen werden. Neben dem bereits erwähnten Cumae sind hier Neapolis und Poseidonia zu nennen. Die griechische Kolonisation stieß jedoch nicht auf ein unbesiedeltes Gebiet, denn entlang der kampanischen Küste lagen große Zentren der sog. Villanovakultur, wie Capua oder Pontecagnano.13 Doch nicht nur griechische und indigene Aktivitäten beschreiben den Kulturraum des zentralen Mittelmeerraums, sondern auch die der Phönizier. Aus dem Gebiet des heutigen Libanon stammend verhandelten sie ihre Waren bis in den italischen Raum.14 Die Insel Pithekoussai lag in einer Schnittzone aus griechischer Kolonisation, phönizischer Expansion und der Interaktion mit der indigenen Bevölkerung. Die Schnittmenge dieser Aktionsradien, sichtbar in der materiellen Hinterlassenschaft der fast tausend Gräber dieser Nekropole, lässt ein vielfältiges Mosaik entstehen, dessen Tesserae aus dem gesamten Mittelmeerraum stammen und ein kohärentes Bild eines hochgradig mobilen Kulturraums bezeugen. Pithekoussai, mit der seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts systematisch ergrabenen Nekropole, avancierte in der archäologischen Forschung der späten siebziger Jahre zum Paradebeispiel für kulturelle Diversität und kohabitärem Zusammenleben verschiedener Kulturen. Im Jahr 2013 formulierte Michael Pithekoussai anhand der Präsenz der Kotylen des Typs Thapsos datiert und beginnt im letzten Viertel des 8. Jh. v. Chr. (Ridgway 1982, 71). Spätgeometrisch I = ca. 750–725 v. Chr. Spätgeometrisch II = ca. 725–700 v. Chr. 12 Ridgway 1992, 118. Die etwa eine Generation jüngere Materialbasis Cumaes findet ebenfalls bei Livius Erwähnung. Der antike Schreiber berichtet, dass Cumae von Siedlern aus Pithekoussai gegründet wurde (Liv. 8, 22.5–6). 13 Schweizer 2003, Abb. 1. Als Villanovakultur wird die prähistorische Phase der etruskischen Kultur angesprochen (Ridgway 1992, 127; Schweizer 2003, 329). 14 In der Villanova-Nekropole von Pontecagnano lassen sich verschiedene phönizische Objekte finden (Schweizer 2003, 329). „Metallschalen, Räucherständer, Elfenbeinschnitzereien, Tridacna-Muscheln, Straußeneier und Fayencen wurden von Eliten in Etrurien, Latium und Kampanien gerne entgegengenommen und als Prestigeobjekte in ihre Gräber gegeben.“ (Morstadt 2015, 128).
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Sommer in einem Artikel einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift folgenden plakativen Satz: Einer dieser Umschlagplätze – die Griechen sprachen von emporia – war Pithekoussai (Ischia). Die ‚Affeninsel‘, so die wörtliche Übersetzung, war seit etwa 770 v. Chr. Anlaufpunkt für Griechen, wiederum hauptsächlich Menschen aus Euboia, sie wirkte aber auch wie ein Magnet auf Levantiner, die sich hier mitten unter den Griechen niederließen.15
Sommers kurze Note über Pithekoussai verdeutlicht sehr anschaulich eine Vielzahl verschiedener Aspekte des wissenschaftlichen Diskurses und der folgenden Ausführungen. Vor allem der letzte Teil seines Satzes wird im Folgenden überprüft. Es wird der Frage nachgegangen, ob es eine archäologisch fassbare, dauerhaft dort siedelnde Gruppe von Phöniziern auf Ischia gab. Darüber hinaus wird in Sommers Note ein weiteres terminologisches Problem deutlich: Es gilt zu determinieren, welche Personengruppen sich hinter den gewählten Etikettierungen Levantiner und Griechen verbergen.16 Aus einer forschungsgeschichtlichen Perspektive heraus wird erkennbar, dass der Inhalt Sommers Aussage keinesfalls ex novo entstanden ist, sondern sich aus einer langen Forschungstradition entwickelt hat. Mit dem Vortrag Die Kolonie Pithekoussai und der nordwestsemitische Raum im Rahmen des internationalen Symposiums Die phönizische Expansion im westlichen Mittelmeerraum legte Giorgio Buchner den Grundstein für die Entstehung der These einer griechisch-phönizischen Kohabitation in Pithekoussai. Spätestens im Rahmen dieses Symposiums wurde das zu pauschale Bild eines griechisch-phönizischen Konkurrenzkampfes um die Vorherrschaft im westlichen Mittelmeerraum revidiert und anstelle dessen ein Konzept entwickelt, in welchem der Orient und Okzident in der Manier eines Joint Ventures den westlichen Teil des Mittelmeeres gemeinsam erschlossen. Buchners These von einem Ort, an dem Griechen und Phönizier in Kohabitation friedlich zusammenlebten, Handel betrieben und sich sogar an einem gemeinsamen Ort bestatten ließen, kann als extremste Auslegung des neu erschaffenen Modells verstanden werden und sollte sich in der Folgezeit als opinio communis verselbstständigen.17 Das Fallbeispiel der Insel Ischia stellte einen innovativen, eisenzeitlichen Gegenentwurf für die aus einer nationalstaatlichen Betrachtungsweise ihrer Entstehungs15
Sommer 2008, 31. Die Terminologie des Forschungsdiskurses ist weitestgehend sehr undifferenziert. Verschiedene Beschreibungen wie Orientalen, Levantiner, Nordwestsemiten und Phönizier zirkulieren parallel und werden deckungsgleich benutzt. Auch die Bezeichnung Grieche ist in dieser frühen Zeitphase keineswegs zutreffend, da ein griechisches Selbstverständnis nicht existierte. Der Simplifizierung Rechnung tragend sollen dennoch im Folgenden der Begriff Phönizier als Äquivalent für Orientalen und Levantiner benutzt werden und Griechen für die Beschreibung der Kolonisten aus dem griechischen Raum. 17 Aufgegriffen wird diese Meinung von Ridgway 1992, 111–118; Sommer 2008, 31; Docter 2010, 135–150; Porta 2012, 3–26.
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zeit entstandenen Lehrmeinung zweier hermetisch abgeschotteter Sphären dar.18 Das geografische Umfeld Pithekoussais, der zentrale Mittelmeerraum der spätgeometrischen Zeit, war eine wichtige ökonomische und geostrategische Region und damit Zielpunkt für verschiedene Akteure und ihre unterschiedlichen Intentionen und Interessen. Während die Phönizier die Region schon seit dem 9. Jh. v. Chr. zumindest als Transitraum nutzten, um ihre Stützpunkte auf der Iberischen Halbinsel zu erreichen, kam es in der zweiten Hälfte des 8. Jh. zu einer Vielzahl phönizischer Neugründungen – vornehmlich Gründungen der phönizischen Stadt Tyros – im gesamten zentralen Mittelmeerraum.19 Eine der bekanntesten und für die Folgezeit prägendsten Gründung war die von Karthago, welche spätestens in das Ende der ersten Hälfte des 8. Jh. zu datieren ist.20 Auch auf dem italischen Festland sind phönizische Importe und somit auch phönizische Aktivität seit dem 8. Jh. v. Chr. nachweisbar. Aber nicht nur für die phönizischen Händler war der zentrale Mittelmeerraum von großem Interesse, auch griechische Kolonisten erkannten die ökonomischen und geostrategischen Gegebenheiten der Region und versuchten, an bereits etablierten Handelsstrukturen der Phönizier zu partizipieren. Pithekoussai kann als erster fassbarer Versuch der Partizipation betrachtet werden. Der Vergleich der Materialkultur und der Ausstattungsmuster, also der wiederkehrenden spezifischen Zusammenstellung von Beigabeobjekten innerhalb der einzelnen Gräber, zwischen den indigenen Nekropolen des italischen Festlandes und Pithekoussais zeugt von reger Interaktion zwischen griechischen Kolonisten und italischen Indigenen in der spätgeometrischen Zeit. Im Grab 315 und 323 der San Montano Nekropole waren, neben anderen Beigaben, Teller der sog. Impasto-Ware enthalten, die im italischen Raum gängig war.21 Teller gleicher Machart und Form sind auch in Gräbern der Nekropole von Gricignano nachweisbar.22 Die Präsenz der Teller belegt den Kontakt zwischen Griechen und den Bewohnern Kampaniens, der rein an der Präsenz der Teller noch unmittelbar sein konnte. Es ist denkbar, dass eine dritte Gruppe die Teller auf die Insel gebracht hat. Wie mittelbar dieser Kontakt war, erschließt sich anhand der Betrachtung einiger Ausstattungsmuster aus der Phase Spätgeometrisch II. Ein wiederkehrendes Muster war die Zusammenstellung aus griechi18
In Meyers Darstellung ist die griechische Kolonisation als Eroberung charakterisiert, in welcher sich Phönizier und Griechen feindlich gegenüberstanden (Meyer 1965, 96). 19 Die frühsten phönizischen Aktivitäten auf der Iberischen Halbinsel lassen sich in Cadiz und Huelva nachweisen und deuten in das 9. Jh. v. Chr. (Brandherm 2006, 2; Gener Basallote et al. 2012, 138). 20 Das Gründungsdepot des karthagischen Tofet (extraurbanes Urnenfeld), die Chapelle Cintas, wird wie Pithekoussai über die Präsenz der Aetos 666 datiert und fällt somit in den gleichen Zeithorizont (Briese 1998, 439). Die Ergebnisse der Hamburger Grabungen unter dem Decumanus Maximus bestätigten den Befund aus dem Tofet. Hier wurden Gebäudereste aus der zweiten Hälfte des 8. Jh. v. Chr. gefunden (Niemeyer et al. 2007, 56). 21 Grab 315 und 325 enthielt Teller der Impasto-Ware (Buchner et al. 1993, 370. 375). 22 Grab 8, 9 und 28 enthielten Teller gleicher Form und Machart wie jene in Pithekoussai (De Caro 2011, 473).
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scher Oinochoe, griechischem Skyphos und einem Teller, der als Impasto-Ware lokal imitiert wurde.23 Die Imitationen der italischen Keramikformen und Waren wurden von den Siedlern in Pithekoussai in ein festgelegtes Set integriert. Ähnliches lässt sich auch für die italischen Fibeln erkennen, die teils importiert, aber auch lokal hergestellt wurden.24 Italische Ware war ein fester Bestandteil der Materialkultur in Pithekoussai, sie wurde imitiert und in festgelegte Beigabenmuster integriert. Neben der reinen Übernahme griechischer Formen auf dem italischen Festland25 sind vergleichbare Beigabenmuster wie in Pithekoussai auch für die Villanova-Nekropole von Pontecagnano nachweisbar.26 Hieraus ableitend kann der Kontakt zwischen beiden Kulturen als so intensiv charakterisiert werden, dass sich innerhalb der Bestattungsgesellschaft gemeinsame Konventionen entwickelt haben.
Der Zusammenprall zweier Konzepte Das Paradigma Pithekoussai stellt nicht nur einen Zusammenprall verschiedener antiker Kulturen dar, sondern auch eine Konfrontation zweier vermeintlich unterschiedlicher Expansionskonzepte. In der verwendeten Terminologie des „phönizischen Stützpunktes“ und der „Händler“ sowie der „griechischen Kolonie“ und der „Kolonisten“ werden zwei verschiedene Stereotypen bezüglich phönizischer bzw. griechischer Westexpansion erkennbar. Auf der einen Seite stehen die phönizischen „Proto-Hanseaten“27, deren Präsenz und Einfluss sich zunächst auf den Handel beschränkte, und auf der anderen Seite stehen die griechischen „Meister der Colonisation“28, deren Pflanzstädte dem Deutungsmuster folgend kulturbringend für das indigene Hinterland waren. Für die Phönizier im Westen wurde ein Szenario perpetuiert, in welchem sie sich von ihren zum Meer hin orientierten Stützpunkten aus auf den gewinnbringenden mittelmeerischen Handel fokussierten.29 Für die griechische Westexpansion hingegen wurde ein Modell konzipiert, das sich weniger auf den Handel als auf Verbreitung des Griechentums konzentrierte.30 Jan Paul Crielaard erkennt fundamentale Unterschiede be23
Cuozzo 2003, 196–197. Die Gräber 323, 678, 243, 315 und 705 zeigten dieses Ausstattungsmuster (Buchner et al. 1993, 297. 370. 375. 658. 676). 24 Lo Schiavo 2006, 252. 261. 25 Schweizer 2003, 330. Die zwei „Fürstengräber“ 926 und 928 aus Pontecagnano enthielten Skyphoi und Oinochoen aus Silber. 26 Cuozzo 2003, 196–197. 27 Sommer 2007, 98. 28 Kistler 2013, 70 verweist auf ein Werk des Althistorikers Ernst Curtius aus dem Jahr 1889. Sicherlich wurde diese Betrachtungsweise von der griechischen Kolonisation als Mission Civilisatrice in der Folgezeit in Frage gestellt, jedoch sollte der Topos der Gräzisierung und der Assimilation noch lange in der archäologischen Forschung überleben. 29 Kistler 2013, 68. 30 Hierzu kritisch: Kistler 2013, 70.
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züglich der griechischen Kolonisation des Westens und der phönizischen Westexpansion.31 Während die phönizische Expansion rein merkantiler Natur war, lag die griechische Kolonisation Crielaards Ansicht nach im kriegerischen Topos der griechischen Aristokratie und in der aufkommenden zentralistischen Polisgesellschaft begründet. Resultierend aus dem steigenden Konkurrenzkampf innerhalb der Elite und dem Mangel an gesellschaftlichem Raum, das aristokratische Ideal des Kriegers zu verwirklichen, folgte der logische Schritt des Exils. Dieser Exodus führte zur Gründung einer Dublette der Heimatstadt in der Ferne durch die unterliegenden Fraktionen der Elite.32 Griechische Kolonisation war Crielaards Darstellung folgend somit die Angelegenheit der aristokratischen Elite und nicht einer kaufmännischen Bürgerschicht. Der Topos des Kriegers offenbart sich in den Gräbern der griechischen Nekropolen vor allem in der Beigabe von Offensivwaffen. Die Beigabe der Offensivwaffen ist für Eretria auf Euböia belegt, aber auch für das euböische Lefkandi und die euböische Kolonie Cumae auf der italischen Halbinsel.33 In allen Nekropolen der drei genannten Siedlungen sind ebenfalls Bestattungen in Bronzekesseln nachweisbar, die eventuell Bezug auf das heroische Begräbnis des Patroklos nehmen,34 welches häufig zum Archetyp eines aristokratischen Begräbnisses stilisiert wurde.35 Die Hinterlassenschaften in Lefkandi, Eretria und Cumae reflektieren deutlich die Existenz einer (kriegerischen) Elite. In Pithekoussai hingegen stellt sich dieser Reflex wesentlich undeutlicher dar. Zwar existieren Gräber mit Beigaben und beigabenlose Gräber zeitgleich, wobei die zweitgenannten vermutlich Gräber von Individuen niedrigen sozialen Rangs waren, jedoch sind keine Gräber mit Beigaben erkennbar, die sich durch die Exklusivität oder die hohe numerische Anzahl ihrer Beigaben oder durch eine besondere Grabarchitektur von den restlichen abheben.36 Es wurden keine Waffenfunde in San Montano geborgen, die als Marker einer kriegerischen Elite interpretiert werden können.37 Anhand des homogenen Bilds der pithekoussanischen Bestattungen kann der Stereotyp des aristokratischen Kolonisators für das Fallbeispiel Pithekoussai nicht bestätigt werden und es muss nach neuen Intentionen für die Koloniegründung auf Ischia gesucht werden.38 31
Crielaard 1993, 235–260. Der Titel seines Aufsatzes How the West was Won. Euboeans vs. Phonicians impliziert ein Konkurrenzdenken zweier Gruppen, deren Strategie der Gewinnung des Westens grundlegend verschieden war. 32 Crielaard 1993, 240–241 33 Blandin 2007a, 177. 34 Hom. Il. 23, 255. 35 Blandin 2007a, 177. Besonders für das Fallbeispiel Pithekoussai ist die Analogie zu den homerischen Epen sehr interessant, da der Fund des Nestor-Bechers, dessen Inschriften einen Bezug zu den Epen vermuten lässt, nahelegt, dass die Epen bekannt waren (Morstadt 2015, 128; Murray 1994, 47–54). 36 Burkhardt 2013, 50; Nizzo 2007, 28. 37 Buchner 1979, 129. 38 Eine vielfach diskutierte Frage bezüglich Pithekoussais ist, ob es sich um ein Emporion oder eine Apoikia handelt. Auf diese Frage soll im Weiteren nicht eingegangen werden. Hierzu sei
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Bei der Suche nach adäquaten Lösungen kommt es unweigerlich zur Konfrontation mit den von der frühen Forschung zum Erzfeind stilisierten Phöniziern. Die Phönizier hatten zur Gründungszeit Pithekoussais bereits ein funktionierendes Handelsnetz über den zentralen Mittelmeerraum gespannt, welches den italischen Raum einfasste. Die geostrategische Lage Ischias ermöglichte es den Siedlern, am Handel der Phönizier zu partizipieren, denn Ischia lag geografisch auf der nördlichen Handelsroute der Phönizier. Die Funde phönizischer Handelsamphoren in Pithekoussai belegen den Handelskontakt zwischen den Siedlern und phönizischen Händlern.39 War das Fundament der Gründung Pithekoussais entgegen Crielaards Modell doch ökonomischer Natur und kein Resultat elitärer Konkurrenzkämpfe im Mutterland? Ridgway vermutete 1992 aufgrund der Lage der Siedlung auf Ischia mit dem exzellenten Zugang zu einem natürlichen Hafen, die in ihren Grundzügen eher phönizischen Anforderungen an Siedlungsplätze folgte als griechischen, dass phönizische Berater bei der Gründung der Siedlung auf Pithekoussai involviert waren.40 Buchner präsentierte 1979 eine Theorie, die über die bloße Involvierung phönizischer Prospektoren bei der Wahl des Siedlungsplatzes hinausgeht und in der impliziert wird, dass Griechen und Nordwestsemiten in Pithekoussai Tür an Tür lebten.41 Er versuchte diese Annahme mit Hilfe dreier Phänomene darzulegen: 1. durch den Import orientalischer Kulturgüter, 2. durch die Übernahme orientalischer Formen innerhalb des Keramikrepertoires und 3. durch epigraphische Zeugnisse.42
Lyre-Player-Siegel – Marker phönizischer Präsenz auf Ischia? Eine häufig nachweisbare Grabbeigabe stellen die Skarabäoiden der Lyre-PlayerGruppe dar (Abb. 3). Die steinernen Siegel sind vor allem für Kindergräber der Phase Spätgeometrisch I belegt. Mit 9743 Exemplaren ist Pithekoussai der auf Greco 1994, 11–18 und D’Agostino 1994, 19–28 verwiesen. Luke 2003, 64. 40 Ridgway 1992, 111. Es ist zu beobachten, dass phönizische Siedlungen sehr häufig Zugang zu einem natürlichen Hafen hatten, entfernt von indigenen Siedlungen lagen und häufig dem Festland vorgelagert auf Inseln gegründet wurden. Dies sind Kriterien, die sich auch auf die Lage Pithekoussais übertragen lassen. 41 Buchner 1982. 42 Buchner 1982, 279. 286. 290. Im Folgenden werden das erste und dritte Phänomen bearbeitet. 43 Buchner 1982, 279. Buchner hält fest, dass etwa hundert Exemplare aus Pithekoussai bekannt sind. Von diesen sind nur 38 von Boardman, 1990a, einzeln publiziert. Der Rest wurde 1993 in Buchner et al. 1993 mit den dazugehörigen Grabinventaren publiziert. 39
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Hauptfundort für Skarabäoiden dieser Gruppe. Ihren Namen erhielten die Siegel aufgrund der häufig dargestellten Lyraspieler auf ihren Bildflächen.44 Neben den Exemplaren in Pithekoussai sind weitere 61 Siegel auf den griechischen Raum verteilt nachweisbar. Ein wichtiger Fundort neben Pithekoussai ist das Heiligtum von Lindos auf Rhodos, dessen Umland lange Zeit als Produktionsort dieser Gruppe galt.45 Im euböischen Raum sind die Lyre-Player-Siegel in Lefkandi46 und Eretria47 nachweisbar. In der Levante sind sie vor allem im Bereich der Hafenstadt Al Mina und im Gebiet zwischen Orontes und Mittelmeerküste belegt (Abb. 4).48 In und um die phönizischen Zentren der Levante sowie westlich Pithekoussais fehlen Funde der Lyre-Player-Gruppe vollständig. Dies korrespondiert mit den stilistischen Beobachtungen ihrer Bildfelder, denn der Stil aus geometrischen Darstellungen mit Ritzungen und Punktbohrungen ist weder mit dem Kunststil der griechisch-geometrischen Zeit vergleichbar noch mit dem phönizisch-ägyptisierenden Stil, der prägend für die Glyptik aus Tyros jener Zeit war.49 Die Produktionsstätte der Lyre-Player-Gruppe wird von John Boardman anhand des Stils und der Fundkonzentration im nordsyrischen Raum vermutet und seiner Ansicht nach über den Handelshafen Al Mina vor allem an griechische Käufer verhandelt.50 Wie sich im späteren Verlauf noch zeigen wird, sind fast alle Fundplätze der Lyre-Player-Gruppe außerhalb des vermuteten Produktionsgebietes im Zusammenhang mit griechischen Siedlungsaktivitäten zu betrachten.51 Pithekoussai steht exemplarisch für die griechische Affinität für Objekte ostmediterraner Provenienz und insbesondere für die Vorliebe für Siegel der Lyre-Player-Gruppe. Mit der Verhandlung der Objekte über Al Mina steht ein möglicher Handelshafen zur Verfügung, jedoch bleibt es zunächst fraglich, auf wessen Schiffen die Objekte in den zentralen Mittelmeerraum gelangten. Auch hier lassen sich wieder zwei konträre Modelle heranziehen, die versuchen, die Handelsbewegungen im Mittelmeerraum der geometrischen Zeit in ein straffes theoretisches Korsett zu kleiden. Auf der einen Seite steht die Annahme der Verhandlung durch euböische Händler und auf der anderen Seite die Annahme, dass phönizische Handelsschiffe die begehrten Objekte in den Westen brachten.52 44
Porada 1956, 185–211; Ridgway 1982, 65. Boardman 1990, 1; Porada 1956, 185–211. 46 Boardman 1990a, 13. Das in Lefkandi nachgewiesene Exemplar stammt jedoch nicht aus einem Grabkontext, sondern aus der Siedlung. 47 Ridgway 1992, 66. 48 Boardman 1990a, 11 Abb. 20. 49 Boardman 1990a, 1. 11; Bikai 1978, Taf. 85. 50 Boardman 1990a, 10–11. Franklin 2015, 1–16 lokalisiert den Produktionsort in Kilikien. Der genaue Produktionsort ist noch in Diskussion, aber eine phönizische Provenienz ist unter Beachtung der rezenten Forschungsliteratur auszuschließen. 51 Ein Exemplar der Lyre-Player-Gruppe ist ebenfalls in Pontecagnano auf dem italischen Festland nachweisbar (Cerchiai et al. 2008–2009, 106). 52 Zu dieser Thematik Ridgway 2000, 179–191 und Popham 1994, 1–34. 45
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Abb. 3: Siegel der Lyre-PlayerGruppe. Pithekoussai Grab 474 (Buchner et al. 1993, Taf. 69).
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Abb. 4: Fundorte der Lyre-Player-Group und Verbreitungsgebiet orientalischer Objekte (Boardman 1990a, 11).
Für Buchner, der im Fall Pithekoussais die östlichen Objekte als Marker für Präsenz levantinischer Menschen sieht, scheint die Frage nach der Provenienz der Händler eindeutig phönizisch zu sein.53 Auch wenn es zu berücksichtigen gilt, dass der gesamte Fundkorpus von 97 Exemplaren theoretisch in einen einzelnen Ledersack passen würde,54 bietet es sich an, anhand der Lyre-Player-Gruppe Buchners gradlinige Verbindung zwischen östlichen Händlern und östlichen Objekten zu diskutieren. In diese Überlegung sollen neben den Lyre-Playern auch weitere in Pithekoussai gefundene Skarabäen und Kleinkunstobjekte östlicher Provenienz (Ägyptiaka) einbezogen werden. In den spätgeometrischen Phasen I und II lassen sich insgesamt 56 Bestattungen nennen, bei denen mindestens ein Skarabäus oder Skarabäoider beigelegt wurde.55 Bei 398 Gräbern, die Beigaben enthielten, stellt die Anzahl von 56 Gräbern zunächst einen geringen Anteil dar, jedoch ist er zu groß, als dass die Funde mit dem Etikett der Singularität versehen werden könnten, womit ihr Vorhandensein auch nicht mit personenbezogenem Austausch erklärt werden kann. Auch die zeitliche Kontinuität spricht gegen einen personenbezogenen Warenaustausch, sondern für einen regelmäßigen Zufluss der Ware. Wie Buchner mit der Titulierung „Import“56 richtig erkannt hat, waren die Objekte Teil eines Handelskreislaufes, nur muss das Etikett „orientalisch“, welches in Buchners Ausführungen sowohl als Objektbeschreibung wie auch als Klassifizierung der Handelsträger dient, überdacht werden.57 Mit Hilfe des Verbreitungsgebiets der Lyre-Player-Gruppe lässt sich ein Radius ziehen, der sich vor allem auf die Gebie53
Buchner 1982, 282. Boardman 1990a, 10. Ridgway 1992, 70. 56 Buchner 1982, 279. 57 Buchner 1982, 279 schließt die Gruppe der Lyre-Player-Skarabäoiden an die Gruppe der Orientalischen Importe an.
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te konzentriert, in denen griechische Siedlungsaktivitäten nachweisbar sind. Pithekoussai ist sowohl der westlichste Punkt griechischer Kolonisation in der spätgeometrischen Zeit als auch einer der westlichsten Fundplätze der Lyre-PlayerGruppe.58 Es lässt sich ein geographischer Verbreitungsbereich der Lyre-PlayerGruppe definieren, der vom Produktionsort in Nordsyrien ausgeht, mit Al Mina59 als möglichem Handelshafen, den Raum der Ägäis mit zahlreichen Funden einschließt, und in welchem Pithekoussai einen der westlichsten Punkte markiert. Dieses Verbreitungsgebiet deckt sich mit dem Radius, in welchem auch dauerhafte griechische Präsenz nachweisbar ist, dem ägäisch-griechischen Aktionsradius.60 Der zentrale und westliche Teil des Mittelmeeres mit den Inseln Sizilien, Sardinien, den Balearen und der Iberischen Halbinsel werden von diesem Radius nicht berührt. Auch die Gebiete des südlichen Mittelmeeres, also die Küste Nordafrikas und die östliche Mittelmeerküste exklusive des Gebietes um Al Mina, sind kein Teil dieses Aktionsbereiches. Im Wesentlichen werden die Gebiete nicht tangiert, die außerhalb des durch die Materialkultur nachgewiesenen griechisch-ägäischen Aktionsbereichs der spätgeometrischen Zeit liegen. Diese Regionen sind jedoch wichtiger Bestandteil des phönizischen Aktionsbereiches, denn hier lassen sich nicht nur phönizische Handelsgüter, sondern auch phönizische Siedlungen nachweisen.61 Dass die Verhandlung der Lyre-Player-Gruppe und generell orientalischer Güter vor allem ein Phänomen des griechisch-agäischen Aktionsradius war, zeigt ein weiterer Umstand deutlich: Pithekoussai ist nicht nur der westlichste Punkt griechischer Kolonisation sowie für die Präsenz der Lyre-Player-Gruppe, sondern der westlichste Punkt für orientalische Artefakte nicht-phönizischer Provenienz generell (Abb. 4).62 Die nordsyrischen oder syrischen Importe treten außerhalb ihres Herkunftsgebietes der nördlichen Levante exklusiv in der Verbindung mit der griechischen Materialkultur auf.63 Werden Phönizier als alleinige Vermittler der Lyre-Player-Gruppe bzw. orientalischer Artefakte betrachtet, wie es Buchners Überlegung als Nachweis orientalischen Handelskontakts voraussetzt, so sollten sie auch außerhalb des griechischen Radius nachweisbar sein. Natürlich ist anzumerken, dass sich ein großer Teil des phönizischen Aktionsbereichs mit dem beschriebenen griechischen Aktionsbereich deckt. Auch deshalb ist nicht zu eruieren, auf wessen Handelsschiffen die Objekte nun nach Pithekoussai gelangten. Doch durch die Kongruenz der Verbreitungsgebiete mit dem Radius der griechischen Kolonisation ist die 58
Boardman 1990a, 11 Abb. 20. In Al Mina selbst sind Exemplare dieser Gruppe nachweisbar (Boardman 1990b, 11, Abb. 20). 60 Dieser Radius enthält das südliche griechische Festland, die Ägäis und Teile der tyrrhenischen Küste und der Apenninhalbinsel. Nicht enthalten ist der Schwarzmeerraum. 61 Als Siedlungspunkte der Phönizier in diesem Gebiet sind zu nennen: Karthago (Nordafrika), Sulcis (Sardinien) und Cadiz (Iberische Halbinsel). 62 Boardman 1990b, 180 Abb. 2. 63 Boardman 1994, 99; Boardman 1990b, 180. 59
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Präsenz orientalischer Objekte in Pithekoussai kein zwingender Beweis für einen exklusiv phönizischen Handlungsraum. Neben dem archäologischen Fundmaterial muss zusätzlich der Beigabenritus betrachtet werden, um ein dezidiertes Bild über die handelnden Akteure zu erlangen. Es ist richtig, dass der Brauch, Skarabäen mit in die Gräber zu geben, aus phönizischen Nekropolen bekannt ist64 und von dort eventuell seinen Weg in die griechischen Nekropolen fand. Jedoch muss der orientalische Charakter der Beigabe von Skarabäen, Skarabäoider und anderer fremder Objekte in westgriechischen Gräbern im Zusammenhang mit einem weiteren Phänomen betrachtet werden: Bezüglich der aus der Phase Spätgeometrisch II stammenden Kreis und Wellenband-Aryballoi (Salbölgefäß) ist festzuhalten, dass sie auf dem griechischen Festland häufig in Kombination mit italischen Fibeln oder ägyptisierenden Siegeln bzw. Skarabäen nachgewiesen sind.65 Diese Kombination findet in den westlichen Nekropolen wie Pithekoussai, aber auch in Cumae ihre Parallele.66 Die Kombination von Aryballoi und fremder Ware scheint ein gängiges Ausstattungsmuster zu sein, welches wiederholend auftritt und in Pithekoussai einen gewissen gesellschaftlichen Konsens widerspiegelt. Dies ist ein interessanter Aspekt für eine Gesellschaft, die sich in ihrer Findungsphase befindet und über die normierten, wiederkehrenden Beigaben integrative Handlungsmuster erkennen lässt. Die Verwendung von Skarabäen im Grabkontext ist keine pithekoussanische Innovation, denn es lassen sich griechische Gräber aus protogeometrischer Zeitstellung nennen, die Skarabäen aufweisen.67 Doch auch in spätgeometrischen Gräbern anderer Nekropolen, wie in Eretria, lässt sich die Beigabe von Skarabäen und ägyptisierenden Objekten nachweisen.68 Hier muss jedoch dringend die Symbolik der Beigabe von Skarabäen hinterfragt werden. Im phönizischen Raum hatten die Skarabäen in ihrer Funktion als Siegel im Alltag einen rechtsverbindlichen Charakter.69 In den euböischen Gräbern ist dieser Charakter nicht gegeben. Neben dem Aspekt des Exoticums ist 64
Aubet 2010, 149. Thomasen 2013, 33–34 nennt das Beispiel einer Votivgabe in Perachora. Hier wurde ein Globular-Aryballos zusammen mit italischen Fibeln gefunden (Waldstein 1905, 370 Abb. 1– 4; Taf. 143). Aus dem Heiligtum von Kommos auf Kreta nennt sie einen Aryballosfund, der mit mehreren italischen Fibeln und Skarabäen vergesellschaftet war (Shaw et al. 2000, 351). 66 Thomasen 2013, 34; Boardman 1994, 97. Boardman zeigt auf, dass über die Hälfte der Gräber mit KW-Aryballoi auch Fayence-Skarabäen enthielten. Er verweist ferner auf die sechs LyrePlayer-Gruppe-Gräber aus Spätgeometrisch II, von denen zwei KW-Aryballoi enthielten. 67 Grab T 38, T 46 und T 59 in Lefkandi (Popham et al. 1996, Taf. 40 Abb. 55; Taf. 135). 68 Eretria, Nekropole Heroon T6, Ende des 8. Jh. v. Chr. (Blandin 2007b, 191). 69 In Tarsus ist ein Abdruck eines Siegels der Lyre-Player-Gruppe belegt, womit sich nachweisen lässt, dass die Siegel auch in ihrer primären Funktion genutzt wurden und nicht nur exklusiv für den griechischen Markt produziert wurden (Franklin 2015, 6). Im griechischen Raum fehlen solche Abdrücke. 65
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eine Verwendung als Amulett denkbar.70 Auch wenn in der phönizischen Gesellschaft der Skarabäus in seiner Funktion als Siegel einen rechtsverbindlichen Charakter hat, ist seine Verwendung im Grabkontext davon zu differenzieren.71 Es ist häufig nachzuweisen, dass sich mehrere Skarabäen in einem Grab befanden. Der rechtsverbindliche Aspekt als persönliche Signatur entfällt demnach. Im Kontext der Bestattung lag anscheinend der Fokus auf der Handlung des Beigebens und dem Gegenstand als solchen und weniger auf den Darstellungen seiner Stempelseite als erkennbare Signatur.72 Aber auch wenn die Darstellungen eine untergeordnete Rolle im phönizischen Raum gespielt haben sollten, blieben sie stets verständlich für den Betrachter, worin ein erheblicher Unterschied zum griechischen Raum besteht. Im nicht-phönizischen Grabkontext kann den Gegenständen ostmediterraner Provenienz sicherlich auch eine transzendente Bedeutung zugewiesen werden. Skarabäen, aber auch ägyptische Figurinen, treten auf dem griechischen Festland häufig als Weihgaben in Heiligtümern auf und scheinen für die griechische Gesellschaft einen hohen ideellen Wert zu besitzen.73 In diesem ideellen Wert liegt auch die Wichtigkeit, wenn nicht gar Notwendigkeit der Exotica für den premonetären Handel, die in diesem System weit mehr als reine magische Amulette zu sein scheinen, wie es Beat Schweizer vorschlägt. Erich Kistler entwirft für den phönizischen Handelskontakt mit dem indigenen Hinterland Siziliens ein Modell für die Funktion der Exotica im Rahmen von Kulturkontakten.74 Sie eröffneten der indigenen Bevölkerung die Möglichkeit, die Überschussproduktion ihrer landwirtschaftlichen Produkte in unverderbliche Gegenstände zu tauschen 70
Schweizer 2014, 138–139 schlägt eine Deutung der Skarabäen als Amulett vor in klarer Distinktion zu Termini wie Exoticum oder Kuriosum. Amulette sind in seiner Auffassung magische Gegenstände und ihre Funde im Mittelmeerraum Anzeichen für die Präsenz „Religiöser Spezialisten“ und nicht reine Marker für Handelskontakte. 71 Zum Rechtscharakter phönizischer Siegel sei auf einen Archivfund in Karthago verwiesen (Berges 2002, 177–223). Die Rechtsverbindlichkeit scheint in der griechischen Welt keine Rolle zu spielen, denn in Rhodos und später in Naukratis des 6. Jh. v. Chr. wurden die Skarabäen mit Hilfe einer Matrize hergestellt, womit der Anspruch der Singularität und die Verwendung als persönliche „Unterschrift“ nicht mehr gegeben ist (Weippert 1988, 649). Die Skarabäen in Pithekoussai befanden sich häufig in Kindergräbern und Kinder besaßen wahrscheinlich keinen Status, der Rechtsverbindlichkeit erforderte. 72 Aubet 2010, 149. In 20% der tyrischen Urnen, die verbrannte Knochen enthielten, konnte ein einzelner Skarabäus nachgewiesen werden. Den Brandspuren nach zu urteilen wurde er zusammen mit dem Toten verbrannt. Weitere Skarabäen wurden unverbrannt in die Urne gegeben. Dies bezeugt, dass unterschieden wurde zwischen dem einen verbrannten und den anderen unverbrannten Objekten. Daraus könnten auch verschiedene Deutungen abgeleitet werden. 73 Im griechischen Westen scheinen die Objekte als Grabbeigaben gedient zu haben und im Osten als Weihegaben. Dieses Bild kann jedoch auch in der archäologischen Materialbasis begründet liegen. Im Osten der geometrischen Zeit sind wenig große Nekropolen bekannt und im Westen zu jener Zeit wenige Heiligtümer. 74 Kistler 2013, 76.
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und bei Bedarf wieder in Agrargüter zurückzutauschen.75 Die Objekte stellen somit eine Währung dar, die im Fall Siziliens von Phöniziern in den Tauschhandel der Indigenen eingespeist wurde und dessen Wert wie bei heutigen Währungen über den reinen Materialwert hinausgeht. Eine ähnliche Funktion der Objekte ist auch für die Interaktion zwischen den pithekoussanischen Siedlern und dem italischen Festland denkbar. Mit diesem Modell lässt sich auch die relative Häufigkeit jener Objekte in griechischen Nekropolen der geometrischen Zeit erklären – vor allem in Kontaktzonen. Da die ikonographische Lesbarkeit der Objekte entfällt, stellen die Gegenstände leere Folien dar, welche mit eigenen Wertevorstellungen und vor allem einer eigener Wertigkeit beschriftet werden können. Während die Siegel der Lyre-Player-Gruppe vom Materialwert und Fertigungsaufwand als Basar-Produkte zu bewerten sind,76 spricht ihre weite Verbreitung im mediterranen Raum und ihre Verwendung in griechischen Grabkontexten für einen wesentlich höheren, ideellen Wert für die griechische Gesellschaft jener Zeit. Wie sich anhand der Chorologie zeigt, gab es einen nicht zu unterschätzenden Absatzmarkt für Exotica unter den griechischen Siedlern. Die Existenz der Lyre-Player-Siegel, aber auch anderer Kleinkunstobjekte ostmediterraner Provenienz, in der Nekropole San Montano kann dahingehend nicht als Marker für die dauerhafte Präsenz von Phöniziern auf Ischia gewertet werden. Der Diskurs der Aktionsradien zeigt, dass die Präsenz dieser Objekte nicht als zwingendes Indiz für phönizische Handelsbewegungen gewertet werden darf. Auch auf ritueller Ebene lassen sich keine Anzeichen erkennen, dass hier Phönizier ihre Anverwandten bestattet haben, denn die Beigabe von Exotica ist für griechische Gräber hinreichend belegt – wenngleich sie einem anderen Kult- und Werteverständnis als in Grabkontexten der Levante folgt.
Semitische Graffiti als Zeugnis dauerhafter phönizischer Präsenz? Die epigraphischen Zeugnisse in Pithekoussai, vor allem die „nordwestsemitischen Schriftzeichen“77, sind Buchners Hauptargument für dauerhafte orientalische Präsenz auf Ischia. Während Wolfgang Röllig bezüglich der orientalischen Präsenz in Pithekoussai 1995 vorsichtig formuliert: „(…) vielleicht zusammen mit einer kleinen Schar orientalischer Händler oder Handwerker“,78 entwirft Buchner sieben Jahre vor Röllig ein wesentlich klareres Bild. 75
Kistler 2013, 76. Franklin 2015, 6. Schweizer 2014, 132–133 greift den Standpunkt De Salvias auf, der sich gegen eine „laizistische“ Bewertung der sog. Ägyptiaka wendend und ihre Abqualifizierung als Tand als ungerechtfertigt sieht. 77 Buchner 1982, 293. 78 Röllig 1995, 61.
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Er hält fest, dass es aus den Phasen Spätgeometrisch I und II in Pithekoussai 18 epigraphische Zeugnisse, geschrieben in griechischem Alphabet, gibt, welchen zwei Zeugnisse in semitischer Schrift gegenüber stehen. Aus diesem Verhältnis resultierend schätzt er den Anteil der „orientalischen“ Bevölkerung Pithekoussais auf 10%.79 Seine Hochrechnung, die zunächst eigentlich nur als grobe Schätzung intendiert war, sollte dennoch erheblichen Einfluss auf nachfolgende Betrachtungen nehmen. Den wichtigsten epigraphischen Beweis für die Anwesenheit von Orientalen stellt vermeintlich eine Vorratsamphore mit nordwestsemitischer Inschrift dar. Die Amphore diente als Behälter bei der Enchytrismos-Bestattung eines Säuglings (Grab 575). Der Fuß der Amphore wurde durch das Grab 574 abgeschnitten. Durch die Beigaben ist das Grab 574 in der Phase Spätgeometrisch I zu verorten. Das Grab 574 ist demnach jünger als 575, aber wahrscheinlich trotzdem in zeitlicher Nähe (Abb. 5).80 Bei der Amphore handelt es sich um einen griechischen Typus, der durch den feinen ziegelroten Ton, der mit einem cremefarbenen Überzug versehen ist, als Import anzusprechen ist.81 Neben einem bronzenen Fingerring enthielt die Amphore die Miniatur einer Doppelaxt82 und einen original ägyptischen Skarabäus aus Steatit83 (Abb. 6). Bei der Lesung der Ritzungen stützt sich Buchner auf die Ausführungen Giovanni Garbinis aus dem Jahre 1978,84 der in einigen Linien aramäische Buchstaben erkennt, die das Wort klpn ergeben (Abb. 7/c). Dies wird mit dem Begriff das Doppelte übersetzt.85 Auf dem Henkel befindet sich ein aramäisches Zahlzeichen für 200 (Abb. 7/b). Die Zahleinheit 200 würde mit dem das Doppelte-Graffito korrespondieren, wenn 100 Einheiten als Standardmaß betrachtet werden.86 Unter dem Henkel der anderen Seite wurden die zwei griechischen Buchstaben ΦΙ eingeritzt (Abb. 7/e). Diese drei Graffiti stammen aus dem ursprünglichen, mer79
Buchner 1982, 294: Seine Hochrechnung funktioniert jedoch nur unter der Prämisse, dass Orientalen und Griechen gleich häufig geschrieben haben. 80 Buchner 1982, 293: Das Grab 574 enthält zwei Exemplare der Lyre-Player-Gruppe, die aus anderen, stratifizierten oder eindeutig bestimmbaren Grabkontexten in die Phase Spätgeometrisch I datiert werden (Buchner et al. 1993, 568). 81 Buchner 1982, 293. 82 Docter et al. 1994, 111: Das Objekt wird als aus Knochen geschnitzte Miniatur einer Doppelaxt beschrieben. Docter und Niemeyer verweisen auf nicht stratifizierte, bronzene Parallelen aus Karthago und weisen dem Objekt eine phönizische Provenienz zu. Docter und Niemeyer verweisen auf die Grabungsergebnisse der Universität Hamburg (Docter et al. 1994, 110). Die genannten Pendants sind jedoch in den entsprechenden Publikationen der Grabung nicht publiziert. 83 Buchner et al. 1993, 768 original ägyptischer Skarabäus der Klasse IA nach De Salvia. 84 Garbini 1978, 143–150. 85 Buchner 1982, 29: Buchner merkt an, dass sich die Mengenangabe sowohl auf die Menge des Inhalts beziehen kann als auch auf die Stärke des Weines. 86 Buchner 1982, 293. Dieses Standardmaß impliziert ein metrisches System. Es ist zu hinterfragen, ob ein solches System für jene Zeit in jener Region überhaupt belegt ist.
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Abb. 5: Grab 574 und 545 (Buchner et al. 1993, Taf. 10).
Abb. 6: Inhalt der Amphore 545 (Buchner et al. 1993, 790; Buchner et al. 1993, Taf. 176; Docter 2000, 140 Abb. 5).
Abb. 7: Graffiti der Amphore 545 (Boardman 1994, 98 Abb. 2; Sader 1991, 121).
Abb. 8: Tanitsymbole aus Mozia und Tyros ([a] Boardmann 1994, 98 Abb. 2; [b] Sader 1991, 121).
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kantilen Gebrauch der Amphore, während Buchner in den weiteren Graffiti der Amphore Zeichen ihrer sekundären, sepulkralen Verwendung erkennt.87 Das erste dieser Zeichen wird auf Garbini stützend als das aramäische Wort hyn oder phönizisch hym gedeutet (Abb. 7/d).88 Dieses lässt sich mit dem Begriff für ‚Leben‘ übersetzen, wobei nicht auszuschließen ist, dass es auch andere Deutungsmöglichkeiten der Buchstaben gibt. Ferner wird sich nicht auf eine aramäische oder phönizische Lesart des Wortes festgelegt.89 Das zweite Zeichen auf der Schulter ist ein Dreieck mit über dem Scheitelpunkt verlängerten Schenkeln (Abb.7/a). Die geometrischen Linien deutet Garbini als religiöses Symbol, welches im westphönizisch-punischen Raum weit verbreitet war.90 Gemeint ist hier das Symbol der Göttin Tanit, das in seinen Grundzügen Ähnlichkeit aufweist und mit Schlagwörtern wie ‚Tod‘ und ‚Leben nach dem Tod‘ assoziiert werden kann.91 Zusammen mit dem anderen Graffito, welches ‚Leben‘ bedeuten kann, konstruiert Buchner einen religiös-symbolischen Zusammenhang.92 Wird dem Deutungsmuster Buchners gefolgt, ist die Identität des Bestatteten und der bestattenden Personen klar als phönizisch zu werten, denn ein nicht-phönizischer Mensch würde die Symbole und ihre Bedeutung wahrscheinlich weder kennen noch benutzen. Buchners Deutung der Graffiti der Urne 575 als religiöse Symbole ist in der Folgezeit häufig rezipiert, aber auch kritisiert worden.93 Zentraler Bestandteil der Kritik ist die Deutung des Dreiecks als Symbol der Göttin Tanit. Ein wesentlicher Kritikpunkt in der Deutung des Dreiecks als Tanit-Symbol ist das Fehlen der horizontalen Linie über der Spitze des Dreiecks und das Fehlen des Kreises oder Halbkreis über der Spitze.94 Boardman verweist diesbezüglich auf Beispiele aus Mozia (Sizilien), welche alle die beschriebenen, fehlenden Komponenten aufweisen (Abb.8).95 Roald F. Docter führte kritisch an, dass Boardmans Vergleiche keine Graffiti sind.96 Doch solange keine vergleichbaren Graffiti vorliegen, ist davon auszugehen, dass auch Buchners Interpretationsansatz nicht aus Vergleichen mit anderen Graffiti generiert wurde, sondern aus dem Vergleich mit TanitSymbolen anderer Gattungen wie diejenigen, die Boardman angeführt hat. Hierbei ist äußerst fraglich, warum ein Symbol, dessen Machart sich für Ritzungen geradezu anbietet, solch frappierende Unterschiede zu Pendants anderer Gattungen zeigt. 87
Buchner 1982, 293. Buchner 1982, 293; Garbini 1978, 149; Garbini 1966, 153–155. 89 Buchner 1982, 293; Ridgway 1992, 113. 90 Buchner 1982, 293. 91 Bonnet 2000, 83–85. 92 Buchner 1982, 293. 93 Boardman 1994, 97. 94 Boardman 1994, 97. 95 Boardman 1994, 97; Falsone 1978, 137–151. 96 Docter 2000, 139. 88
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Scheinbar außerhalb der Betrachtung liegt das Rechteck, mit dem das Dreieck auf seiner Unterseite verbunden ist. Da die Linien eindeutig mit dem Dreieck verbunden sind, waren sie wahrscheinlich auch dem Dreieck zugehörig und müssen dahingehend in ihrer Gesamtheit betrachtet werden. Vielleicht sind die Linien als profane geometrische Ritzungen zu deuten, deren Bedeutung nicht bestimmbar ist.97 Solche einfachen geometrischen Ritzungen auf Amphoren waren durchaus verbreitet, wie die Beispiele aus dem Grab 344, 437, 681, 442 und 524 zeigen. Einige von ihnen weisen ebenfalls Dreiecksformen auf.98 Mit dem Fehlen der üblichen Komponenten und dem Vergleich mit den geometrischen Ritzungen anderer Amphoren erscheint Buchners religiöse Deutung des Grafittos weniger eindeutig. Die restlichen Graffiti der Amphore aus Grab 575 könnten als Beweis dafür gewertet werden, dass ein orientalischer Händler eine griechische Amphore markiert hat, wahrscheinlich in der Levante.99 Ein Umstand, dem in der Forschung bislang keine Beachtung geschenkt wurde, ist hier bereits schon angeklungen: Es gibt keine eindeutige Festlegung, welcher Sprache das Wort für ‚Leben‘ angehört. Ob es phönizisch oder aramäisch ist, spielt in diesem Fall aber eine wichtige Rolle. Das Tanit-Symbol ist vor allem Teil der westphönizischen Bildsprache, zwar auch vereinzelt im phönizischen Osten belegbar, aber in der aramäischen Kultur nicht bekannt.100 Ferner sind keine Symbole in der beschriebenen kanonisierten Form aus dieser Zeitstellung belegt. James Bennett Pritchard nennt eine Inschrift aus Sarepta, welche den Namen Tanit beinhaltet, aber hierbei handelt es sich um eine Inschrift und nicht um eine bildliche Darstellung.101 Ein bildliches Beispiel aus dem ostphönizischen Raum stammt aus Tyros (Abb.8/b). Auf der Rückseite der Stele 5, welche in das 6 Jh. v. Chr. datiert und somit wesentlich jünger ist als die Ritzung in Pithekoussai, ist ein vermeintliches Tanit-Symbol zu sehen. Die Kombination aus Dreieck, Querbalken und Kreis ist eine wesentlich spätere Innovation, die nicht vor dem 6. Jh. v. Chr. auftritt.102 Auch wenn die Differenzierung der phönizischen und aramäischen Schrift nicht immer eindeutig ist103, bleibt der konstruierte Zusammenhang zwischen dem Zeichen für Tanit und dem Wort ‚Leben‘ klar auszuschließen, wenn es sich um ein aramäisches Schriftzeichen handeln würde. Weiterhin muss überlegt werden wie sich die griechischen Buchstaben Φ und Ι in den Befund einbetten lassen. Diese Signatur ist bei der Beurteilung des gesamten Kontextes in der Forschung bislang nicht beachtet worden.104 97
Boardman 1994, 97. Buchner et al. 1993, Taf. 224–230. 99 Boardman 1994, 98. 100 Bonnet 2000, 85. 101 Pritchard 1982, 83–92. 102 Sader 1991, 122. 103 Pritchard 1982, 83–94. 104 Eventuell handelt es sich hierbei ebenfalls um ein Zahlzeichen. 98
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Die religiöse Deutung Buchners aufgreifend hält Ridgway fest, dass mindestens ein Teil der Eltern ‚levantinischer‘ Herkunft sein muss. Er legt seinen Fokus auf den „ökumenischen Aspekt“ des Begräbnisses 575105 und meint damit, dass hier ein ‚Levantiner‘ einen griechischen Ritus mit seinen orientalischen Glaubensvorstellungen mischte.106 Diese Glaubensvorstellungen sieht er symbolisiert in der Ritzung des religiösen Zeichens. In diesem Zusammenhang müsste genau determiniert werden, welche Menschengruppe sich explizit hinter dem Synonym ‚Levantiner‘ verbirgt. Die Bezeichnung scheint in Ridgways Argumentation fast beliebig. Welche Wichtigkeit in diesem Kontext die genaue kulturelle Zugehörigkeit der signierenden Person besitzt, wurde bezüglich der fehlenden Festlegung der Sprache bereits verdeutlicht. Sowohl Buchner als auch Ridgway konstruieren eine hybride Bestattung, die in ihrer Umsetzung jedoch hinterfragt werden muss. Der Ritus des Enchytrismos ist im phönizischen Raum zu jener Zeit unüblich und lässt sich nur schwer mit phönizischen Bestattungsriten vereinbaren.107 Die Bestattung eines Kindes in einer regulären Nekropole für Erwachsene wird, wie die zahlreichen phönizischen Nekropolen bestätigen, im 8. Jh. v. Chr. durchgeführt. María Eugenia Aubet hält bezüglich der al-Bass-Nekropole in Tyros fest, dass Kinder kein Teil der phönizischen Bestattungsgesellschaft waren.108 Buchner und Ridgway konstruieren ein Modell aus zwei gegenläufigen Prozessen. Auf der einen Seite ist der Grabritus zu betrachten, der lokal belegt ist und aus einer Übernahme der pithekoussanischen Sitten resultiert.109 Auf der anderen Seite steht das Festhalten an vermeintlich orientalischen Glaubensvorstellungen, für die es letztlich sowohl keine Parallelen im phönizischen Raum als auch in der Nekropole San Montano selbst gibt. Es wird ein Konzept aus Assimilation mit konservativem Festhalten an ursprünglichen Glaubensvorstellungen konstruiert. Jedoch sind dies zwei gegenläufige Prozesse, die nur schwer vereinbar sind. Außerdem muss die „Assimilation“ im Kontext des Bestattungszeitpunktes in der Phase Spätgeometrisch I betrachtet werden. Kann zu diesem frühen Zeitpunkt der Belegung der Nekropole schon mit so einer grundlegenden Veränderung des Ritus gerechnet werden? Wird angenommen, dass das bestattete Individuum und die bestattenden Personen zu jenem Zeitpunkt soweit assimiliert 105
Ridgway 1992, 114. Ridgway 1992, 114 107 In der Nekropole von Khalde bei Beirut sind Enchytrismoi nachgewiesen, jedoch scheinen diese aus einer jüngeren Phase zu stammen (Aubet 2012, 286). In dieser Nekropole sind auch Kinderbestattungen nachweisbar, die jedoch aus dem 10./9. Jh. v. Chr. stammen (Saidah 1966). Für das 8. Jh. v. Chr. sind weder Körperbestattungen in Amphoren (Enchytrismoi) noch Kinderbestattungen in phönizischen Nekropolen bekannt. 108 Aubet 2010, 146. 109 Buchner 1982, 295.
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waren, wie es die Grabsitten aufzeigen, bleibt fraglich, woher das genaue Wissen über die Religion der alten Heimat stammt, welches durch die subtile Symbolik vermittelt wird. Die Zusammensetzung der Grafitti wirkt sehr eklektisch und eher willkürlich als religiös intendiert. Wie das restliche Material der Nekropole zeigt, war es nicht Brauch, religiöse Wörter und Zeichen in die Urnen zu ritzen, weder in Pithekoussai noch in phönizischen Gräbern im oder abseits des Mutterlandes. Für das verwendete Material bei Bestattungen muss stets die Frage gestellt werden, welches Material zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stand. Damit der Ritus des Enchytrismos durchgeführt werden konnte, wurde ein großes Gefäß, im besten Fall eine Amphore, benötigt, in welchem das tote Kind bestattet werden konnte. Aus Ermangelung an Parallelen und einer stichhaltigen Identifizierung des vermeintlich religiösen Symbols, sollte die Ritzung auf der Amphore wie die restlichen Grafitti als Markierung aus dem Bereich des Handels gedeutet werden. Inwieweit das Vorhandensein der Ritzung Einfluss auf die Wahl des Gefäßes durch die Hinterbliebenen nahm, ist nicht zu entscheiden. Aber anscheinend stellten Ritzungen auf den als Urnen verwendeten Gefäßen für den Ritus kein Hindernis dar. Es scheint nicht so, dass es genau festgelegte Gefäßarten für den Ritus des Enchytrismos gab. Auch wenn bereits festgehalten wurde, dass die Selektion des Grabgutes selten willkürlich geschah, steht bei der Wahl des Behältnisses für den Leichnam die Funktionalität im Fokus und nicht die Machart. Die große Bandbreite des verwendeten Materials bezüglich Form und Ware bestätigt diese Annahme. Es wurde verwendet, was zum Zeitpunkt der Bestattung verfügbar war und die praktischen Anforderungen erfüllte.110
Phönizische und griechische Grabsitten Eine größere Gruppe Phönizier müsste innerhalb der Nekropole von San Montano anhand der spezifischen phönizischen Grabsitten erkennbar sein. Zumindest ist dies für Angehörige der ersten Generation, die wahrscheinlich aus der Levante emigriert sind, anzunehmen. Die phönizischen Grabsitten sind auf die Gesamtheit aller phönizischen Nekropolen im Mittelmeerraum bezogen sehr heterogen und regional unterschiedlich.111 Während in der Nekropole Tyros al-Bass fast ausnahmslos die Brandbestattung praktiziert wurde,112 gibt es auch phönizische Bestattungsplätze, innerhalb derer die Bestattungsarten divergieren.113 Es gilt 110
Nizzo 2007, 55 zeigt die Spannbreite des für den Enchytrismos verwendeten Materials. Nicht nur die Provenienz der Urnen divergiert, auch ihre Form. Mehrheitlich wurden lokal gefertigte Amphoren genutzt, aber auch große Krüge oder Vorratsbehälter wurden benutzt. 111 Hier sei auf den Artikel von B. Morstadt in diesem Band verwiesen. 112 Aubet 2010, 149. 113 Dixon 2013, 504.
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zu fragen, ob es überhaupt eine gemeinsame Komponente innerhalb der phönizischen Begräbnisse gibt, die in jeder Nekropole wiederkehrend belegbar ist. Mit Hinblick auf Pithekoussai könnte diese Komponente als eindeutiger Marker für phönizische Präsenz dienen. In der Tat ist eine solche Komponente identifizierbar: ein gleichbleibendes Set phönizischer Grabkeramik. Das typisch phönizische Keramikset besteht aus einer Kanne mit pilzförmiger Öffnung, einer Kanne mit kleeblattförmiger Öffnung und einem Teller sowie ggf. Amphoren.114 Dieses Keramikset lässt sich in vielen phönizischen Nekropolen nachweisen.115 Wie al-Bass eindrucksvoll beweist, ist dieses phönizische Ausstattungsmuster zeitlich unabhängig und über mehrere Jahrhunderte gleichbleibend belegbar.116 Die Sets konnten mit weiteren persönlichen Komponenten wie Skarabäen ergänzt werden, aber prinzipiell ließ das Ausstattungsmuster wenig Spielraum für individuelle Repräsentation.117 Phönizische Bestattungssitten, die auf eine größere phönizische Personengruppe in Pithekoussai hindeuten könnten, sind innerhalb der Nekropole San Montano nicht erkennbar.118 Eine ähnliche Heterogenität in Bezug auf Grabformen und Bestattungsriten wie bei den phönizischen Nekropolen liegt auch für die griechischen Nekropolen der geometrischen Zeit vor. Als wichtige Referenzen sind hier die bereits angesprochenen Nekropolen Lefkandis und Eretrias auf Euböia zu nennen. Jene Bestattungsplätze unterscheiden sich von dem auf Ischia durch die zahlreich beigelegten Objekte aus Metall und Edelmetall sowie Offensivwaffen.119 In allen Nekropolen sind monumentale Gefäße als Grabmarkierungen nachweisbar.120 Monumentale Markierungen fehlen in Pithekoussai bislang.121 Als Bindeglied zwischen den euböischen Nekropolen und San Montano ist die Präferenz für gewisse Gefäßtypen zu nennen. Die vorherrschende Gefäßform in der Phase Spätgeometrisch I ist die Oinochoe, die im Alltag als Kanne für Getränke diente.122 Eine gleiche Funktion ist auch für das Bestattungsritual vorstellbar, zumal sowohl in den euböischen Nekropolen als auch auf Ischia der Konsum von Getränken (wahrscheinlich Wein) bzw. die Beiga114
In Tyros al-Bass lässt sich festhalten, dass nicht nur die Zusammenstellung der Keramik einem normierten Muster folgte, sondern auch die räumliche Anordnung (Aubet 2010, 146–148). 115 Zu Mozia Delgado et al. 2007, 32; zu Khalde Saidah 1966. 116 Aubet 2010, 146–148. 117 Zu den Skarabäen Aubet 2010, 149. 118 Porta 2012, 11 erkennt in dem Befund der Gräber 545–546 das phönizische Grabset wieder und geht davon aus, dass hier Phönizier bestattet haben. Der Befund ist in seiner archäologischen Beschaffenheit nicht eindeutig und lässt m. E. keine weiterreichenden Interpretationen zu. 119 Blandin 2007a, 177 120 Blandin 2007a, 177; Kistler und Ulf versuchen das Vorhandensein eines solchen monumentalen Gefäßes auch für Lefkandi nachzuweisen, um eine Verbindung zwischen Lefkandi und Athen zu belegen (Kistler et al. 2005, 275). Oberirdische Markierungen durch monumentale Gefäße sind in Pithekoussai nicht belegt. 121 Burkhardt 2013, 50. 122 Luke 2003, 64.
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be von Trinkgefäßen eine stetig wiederkehrendes Element zu sein scheint.123 Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den genannten Nekropolen besteht in der Verwendung fremder Ware, deren Funktion im Rahmen des griechischen Bestattungskontextes und prämonetären Handels bereits beschrieben wurde. Die Zusammenfassung der Grabsitten beider Gruppen, Phönizier einerseits und Griechen andererseits, für den gesamten mediterranen Raum zeigt deutliche regionale Unterschiede und ein durchweg heterogenes Bild. Verschiedene Bestattungsriten wurden parallel durchgeführt, und dies häufig sogar in derselben Nekropole. Die Art der Beigaben konnte partiell divergieren, häufig auch abhängig von Verfügbarkeit. Eine Zusammenfassung zeigt, dass es nicht den einen, absolut unveränderbaren griechischen oder phönizischen Ritus gibt, den die Archäologie als eindeutiges Identifikationsmerkmal heranziehen könnte. Die einzige Verbindlichkeit besteht anscheinend in heute nicht mehr genau rekonstruierbaren Ritualen, die anhand ihrer spezifischen materiellen Hinterlassenschaften nachweisbar sind. Für die phönizischen Begräbnisse lässt sich ein besonderes Ritual anhand des wiederkehrenden Keramiksets nachweisen. Der Fokus des Rituals kann nicht mehr genau bestimmt werden, aber Aubet hält fest, dass dieses Ritual, anders als es für das griechische Keramikset denkbar ist, nicht auf den Konsum von Wein limitiert werden darf.124 In San Montano lässt sich eine große Anzahl Kannen (Oinochoen) nachweisen, welche mit Skyphoi oder Kotylen typische Trinksets bilden. Dieses Keramikset spricht weniger für das phönizische, sondern eher für das griechische Ritual mit der Betonung auf dem Weinkonsum. Auch wenn der pithekoussanische Bestattungsplatz seinen ihm spezifischen Konventionen und Besonderheiten unterliegt, lässt er gewisse Parallelen zu euböischen Nekropolen wie Lefkandi oder Eretria erkennen. Ein Vergleich mit phönizischen Nekropolen fördert lediglich Parallelen in Teilen der verwendeten Grabbeigaben zu Tage, aber ihre Kontextualisierung obliegt anderen rituellen Vorstellungen.
Zusammenfassung Die Insel Ischia lag im Schnittpunkt verschiedener Aktionsradien diverser Interessen von verschiedenen Akteuren und somit im Schnittpunkt verschiedener Kulturen. Der Tod auf einer Mittelmeerinsel ist für die Archäologie unter der Berücksichtigung der verschiedenen vorgestellten Parameter ein Hilfsmittel, um 123
Buchner 1966, 6; Blandin 2007a, 177. An dieser Stelle sei wieder auf die homerischen Epen verwiesen, in denen Bankettszenen im Rahmen einer Bestattung beschrieben werden (Hom. Il. 23.255). 124 Aubet sieht den Fokus des Rituals weniger auf das Trinkgefäß gerichtet, welches kein spezifisches Trinkgefäß für Wein war, sondern auf dem Gefäß mit der pilzförmigen Öffnung, welches für die Aufbewahrung von Ölen verwendet wurde. Dieses Gefäß wurde mit dem Teller der kostbaren Samaria-Ware abgedeckt (Aubet 2004, 58).
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die Diversität, Mobilität und Integration, aber auch Distinktion der handelnden Personen greifbar werden zu lassen. Die euböische Gründung Pithekoussais muss als Versuch gewertet werden, Zugriff auf das rohstoffreiche italische Festland zu erhalten. Die Insel diente hierbei zunächst als sicherer Beobachtungsposten, von dem aus erste Verbindungen geknüpft wurden, aber auf welchen sich die griechischen Siedler bei drohender Konfrontation zurückziehen konnten. Der griechische Einfluss auf den etrurischen Raum, der sich ab der spätarchaischen Zeit im massiven Import, Verwendung und Imitation von griechischen Trinkgefäßen widerspiegelt, scheint im spätgeometrischen Pithekoussai seinen Ursprung zu haben. Die griechischen Gefäßformen in Nekropolen der Villanovakultur stehen hierfür exemplarisch. Aber der Austausch war keinesfalls einseitig: Die Imitation, der Import und die Integration italischer Ware in feste Ausstattungsmuster, die auch auf dem Festland nachweisbar sind, bezeugen eine intensive, wechselseitige Interaktion zwischen Ischia und dem Festland. Sowohl Indigene als auch griechische Siedler greifen auf ein Muster zurück, das sowohl griechische Formen und Ware als auch italische enthält. Neben den Griechen ist zwingend noch ein weiterer „global player“ der spätgeometrischen Antike zu berücksichtigen – die Phönizier. Pithekoussai lag im Transitraum phönizischer Händler, die ihre Waren auf dem italischen Festland verhandelten, aber scheinbar auch auf Ischia Station machten, wie die Funde phönizischer Handelsamphoren vermuten lassen. Alsbald ließen sich die phönizischen Händler auch entlang der Mittelmeer-Routen nieder. So laut Buchner und weiterer Archäologen der Folgezeit auch auf Ischia – und zwar Tür an Tür mit griechischen Kolonisten. Diese Annahme würde jegliche Theorie des kontinuierlichen phönizisch-griechischen Konkurrenzkampfs um die Erschließung des Westens im Keim ersticken und das Modell der griechisch-phönizischen Zusammenarbeit weitgehend ausreizen. Wie der Auszug aus der von Buchner vorgebrachten Beweisführung zeigt, ist hiervon jedoch nicht auszugehen. Die angeführten Befunde sind kein eindeutiger Beweis für die dauerhafte Präsenz einer größeren Gruppe Phönizier auf Ischia. Auch in der Folgezeit konnten keine evidenten Befunde aufgezeigt werden, die eine griechisch-phönizische Kohabitation auf Pithekoussai beweisen würden. Innerhalb des Gesamtbildes der Nekropole sind keine Abweichungen zu erkennen, die für die Präsenz einer anderen, fremden Gruppe sprechen würden. Phönizische Ware fand zwar ihren Weg nach Ischia, aber dies erfordert keine dauerhafte Niederlassung phönizischer Händler. Dies erfordert, wie Herodot zu berichten weiß, nicht einmal direkten Kontakt zwischen beiden Gruppen: Wenn sie ankommen und ihre Waren ausgeladen haben, legen sie diese in Reihe am Strand aus, gehen dann in ihre Schiffe zurück und geben ein Rauchzeichen. Wenn die Einheimischen den Rauch sehen, gehen sie zum Meer und legen dann anstelle der Waren Gold nieder, dann gehen sie wieder weg von der Ware. Dann steigen die Karthager aus und betrachten die Sache. Und wenn das Gold ihnen
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dem Wert der Ware zu entsprechen scheint, nehmen sie dieses und fahren ab. Wenn der Wert nicht stimmt, gehen sie zurück auf die Schiffe und bleiben liegen; die Einheimischen kommen aber heran und legen weiteres Gold hinzu, bis sie die Partner überzeugt haben (Hdt. 4, 196).
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Jan-Marc Henke Beobachtungen zum Umgang mit Bestattungen von Ausländern in den Nekropolen von Athen Zusammenfassung In der Antike entwickelten die verschiedenen Gemeinschaften des Mittelmeerraums sehr unterschiedliche Bräuche im Umgang mit ihren Verstorbenen, deren adäquate Durchführung in der Regel als zwingende Verpflichtung der Angehörigen betrachtet wurde. Ihnen wird in der Forschung nicht selten eine wichtige identitätsstiftende und die Gemeinschaft ordnende Rolle beigemessen. Hier stellt der Beitrag die Frage nach der tatsächlichen Verbindlichkeit solcher Bräuche für einzelne Individuen oder Gruppen, die sich außerhalb ihrer Gemeinschaft bzw. Heimat aufhalten und dort gegebenenfalls auch dauerhaft ansässig waren. Für das antike Athen ist eine große Menge an ortsansässigen (Metöken) sowie kurzzeitig anwesenden Ausländern (z. B. Diplomaten, Schaulustige oder private Gäste) überliefert, die – wie im Falle der Metöken – u. U. einen bedeutsamen Beitrag zum wirtschaftlichen Wohlstand und zur militärischen Stärke des Staates leisteten, jedoch einen rechtlich und politisch eingeschränkten Status gegenüber den athenischen Vollbürgern besaßen. Der Todesfall von Mitgliedern dieser verschiedenen Gruppen von Ausländern stellte die öffentlichen Institutionen und Angehörigen vor organisatorische Probleme. So waren Ausländer zunächst einmal grundsätzlich vom Recht auf Grundbesitz ausgeschlossen, wodurch ihnen der Erwerb einer privaten Grabstelle verwehrt war. Der Beitrag diskutiert die verschiedenen Bestattungsmöglichkeiten für diese breite Masse an Ausländern. Dabei werden ausgewählte Grabkontexte und Einzelmonumente beleuchtet und daraufhin analysiert, ob und in welchem Umfang die Befunde konkrete Rückschlüsse zur Herkunft und Identität des Bestatteten erlauben und welche Anzeichen auf eine Berücksichtigung ortsfremder Bestattungsbräuche existieren? Welche Interpretationen gestatten die dabei gemachten Beobachtungen zur Selbstwahrnehmung des Verstorbenen oder der ihn bestattenden Migrationsgemeinschaft innerhalb des neuen Lebensumfeldes?
Einleitung Mobilität und Mobilitätsbereitschaft sind wesentliche Charakteristika aller um das Mittelmeer ansässigen Gemeinschaften.1 Diese Mobilität führt zu ganz un1
Einleitung (in diesem Band); Morstadt (in diesem Band).
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terschiedlichen Formen freiwilliger wie erzwungener Migration einzelner Individuen und ganzer Gruppen. Begleitet werden diese Migrationsformen durch die zwangsläufige Konfrontation von Identität und Alterität auf beiden Seiten, die das Hinterfragen eigener kultureller Konventionen sowie die notwendige Positionierung gegenüber davon abweichenden Normen Anderer mit sich bringen.2 Sepulkralkultur wird dabei nicht selten als eine besonders charakteristische Ausdrucksform kultureller Zugehörigkeit gewertet, da sie den ideologisch-religiösen Vorstellungen einer Gemeinschaft entspringt, über die u. a. eine gemeinschaftliche Trauerbewältigung sowie die Neuordnung des sozialen Gefüges geschieht. Dabei ist die Rückbesinnung auf von den Vorfahren übernommene Werte – wie u. a. der Bestattungsbrauch – gleichsam gemeinschaftsstiftend wie -legitimierend. Der Tod und die Bestattung außerhalb der eigenen Gemeinschaft wurden in der Antike daher als großes Unglück empfunden. Im Wesentlichen bestand dieses Unglück in dem Ausbleiben des für die Gemeinschaft des Verstorbenen üblichen Grabkultes, für dessen adäquate Durchführung und regelmäßige Wiederholung die eigene Familie verantwortlich war. Demnach drohte dem Verstorbenen unter Umständen ein schlechtes oder überhaupt kein Fortbestehen im Jenseits. Dieses Unglück betraf aber ebenso die Angehörigen selbst, da die Pflege des Ahnenkults auch als existentiell für das Familien- und Gemeinwohl angesehen wurde. Wer es sich leisten konnte, versuchte daher, die in der Ferne verstorbenen Angehörigen zurückzuholen. Eine andere Möglichkeit bestand in der Errichtung eines Kenotaphs (eines Scheingrabes), an dem der Grabkult vollzogen werden konnte.3 Für die antike griechische Metropole Athen überliefern die historischen Quellen einen großen Anteil von Bewohnern mit Migrationshintergrund, wonach dieses wirtschaftliche und kulturelle Zentrum eine besondere Anziehungskraft auf Menschen aus dem gesamten Mittelmeerraum ausübte. Mit Blick auf diesen Hintergrund ist zu diskutieren, in welchem Fall das gerade rezitierte Modell uneingeschränkt für alle in Athen befindlichen Ausländer gültig war bzw. das genannte Unglück von allen in gleicher Weise empfunden wurde. Vor allem bei exilierten Familiengruppen hätte eine Bestattung nach gewohntem Grabkult durch die Hinterbliebenen adäquat organisiert werden können. Daher muss bei einer solchen Bewertung sicherlich berücksichtigt werden, ob es sich bei dem Verstorbenen um einen kurzzeitigen Besucher und Gast, dauerhaft Zugezogenen mit oder ohne größeren Familienstand sowie Sklaven handelte. Mit Blick auf die angesprochene identitäts- und gemeinschaftsstiftende Funktion von Sepulkralkultur beleuchtet dieser Beitrag eine Auswahl von Grabkontexten athenischer Nekropolen in klassischer Zeit bzw. des 5. und 4. Jh. v. Chr. und fragt, ob sich diese Bevölkerungspluralität auch in den materiellen Hinter2 3
Dazu u. a. Simmel 1908; Geenen 2002. Stroszeck 2002/2003, 159–160; Günther (in diesem Band).
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lassenschaften der Bestattungsplätze widerspiegelt. In welchem Umfang können also Abweichungen von ortsüblichen Standards festgestellt werden, die sich als Ausdrucksform von Bestattungsbräuchen anderer Gemeinschaften deuten lassen, und was sagt dieses gegebenenfalls über die Selbstwahrnehmung und -darstellung der bestattenden Migrationsgemeinschaft oder des Individuums gegenüber ihrem/seinem neuen Lebensumfeld aus? Die Wahl von Athen ist wie so häufig in den klassischen Altertumswissenschaften der vergleichsweise guten historischen wie auch archäologischen Quellenlage geschuldet.
Zum Begriff des „Fremden“ und des rechtlichen Status von Ausländern im klassischen Athen Der griechische Historiker Thukydides zeichnete in seiner Archaeologia im ersten Buch des Peloponnesischen Krieges für die Frühzeit der griechischen Gemeinschaften das Bild einer unruhigen und kriegerischen Epoche, welche bereits von intensiven und lang anhaltenden Migrationsbewegungen geprägt war. Im Zuge dieser Bewegungen seien auch viele Vertriebene anderer Stämme nach Athen gekommen, hätten dort das Bürgerrecht erworben und somit seit den ältesten Zeiten zum Wachstum der Bevölkerung Athens und Attikas beigetragen.4 Wurde Zuwanderung hier von Thukydides als positiv für ein Gemeinwesen bewertet, indem er die das attische Bürgerrecht erwerbenden Immigranten ausschließlich zu Angehörigen der Eliten anderer Stämme stilisierte, gab er im sechsten Buch das Beispiel für eine deutlich differenziertere Beurteilung:5 Hier legte er dem Feldherren Alkibiades, der die athenische Volksversammlung von einem zweifelsfreien Erfolg einer militärischen Intervention auf Sizilien überzeugen möchte, die Worte in den Mund, dass die sizilischen Poleis aus einem Gemisch hergelaufenen Volks bestünden. Mit dem alleinigen Ziel, das Gemeinwesen für den eigenen ökonomischen Vorteil auszunutzen, würde dieses je nach Situation zwischen den Poleis migrieren und die Staatsbürgerschaft wechseln, womit es also keine emotionale Bindung zum jeweiligen Staat und somit auch kein Loyalitätsbewusstsein besäße, weshalb die sizilischen Gemeinwesen schwach sein. Als negativ wurde hier also nicht das Phänomen selbst bewertet, sondern eher die soziale Motivation der Migranten. Auch ohne an dieser Stelle nach der historischen „Wahrheit“ zu fragen, offenbart sich zumindest eine gesellschaftliche Debatte über die Bewertung von Migration und Zuwanderung im 5. Jh. v. Chr. Dabei scheint Migration als grundsätzliches und dauerhaftes Phänomen der Region wahrgenommen und als ein 4 5
Thukydides 1, 2. Thukydides 6, 17.
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maßgeblicher Faktor für die Bildung der eigenen Gemeinschaft und deren Identität empfunden worden zu sein. In diesem Zusammenhang wurde die Diskussion offenbar weniger vor dem Hintergrund kultureller Überfremdungsängste geführt, sondern von Zweifeln an der politischen Loyalität der Zugewanderten gegenüber dem sie aufnehmenden Staat.6 Für die zugewanderten Personen und Gruppen wird heute oft der Begriff „Fremde“ angewandt. Elke Monika Geenen machte erneut auf die Etymologie des deutschen Wortes „fremd“ aufmerksam, das in seinem Kern etwas Unbekanntes und nicht Vertrautes bezeichnen soll. Darüber hinaus ist der Begriff zunächst einmal relativ wie relational und bezeichnet laut Alois Hahn weder eine eindeutige Eigenschaft noch ein objektives Verhältnis zwischen Personen und Gruppen, sondern die Definition einer Beziehung.7 Es handelt sich folglich eher um spezifische oftmals emotional und somit subjektiv motivierte Konstruktionsprozesse, in denen das Fremde je nach Gesellschaft und sozialer Situation unterschiedlich konzeptualisiert wird und demnach einem stetigen Wandel unterliegt.8 Nicht selten verfolgen sie bestimmte Absichten sozialer Distanzierung und Ausgrenzung, wie z. B. im Antisemitismus.9 Hier trennte Geenen die Bezeichnung eines Individuums von der kollektiven Klassifizierung einer ganzen Personengruppe als „fremd“.10 Letztere schafft laut Georg Simmel nicht selten vorurteilsbeladene und wenig variable Typen von „Fremden“-Gruppen, deren Angehörige ihre soziale Position innerhalb der neuen Gemeinschaft auf Grund ihrer Zuweisung an diese Gruppe und nicht durch bestimmte sachliche und auf das Individuum bezogene Inhalte erhalten.11 Die dahinter liegenden Beweggründe eines solchen emotionalen Fremdheitsempfindens lassen sich für die griechische Antike trotz überlieferter allgemeiner Vorurteile kaum eruieren.12 Mit Blick auf die hier behandelte Problematik von Bestattungsmöglichkeiten und -formen dieser Personen und Gruppen im klassischen Athen, empfiehlt es sich, nach Geenen vielmehr von „Ausländern“ als von „Fremden“ zu sprechen.13 6
Dieses mag zu einem wesentlichen Teil dadurch erklärbar sein, dass es sich bei den von Thukydides thematisierten Migranten ebenfalls um Personen anderer griechischer Poleis handelte. Etwas anders scheint die theoretische Diskussion im kaiserzeitlichen Rom geführt worden zu sein. Auf der einen Seite begründeten Cicero und Livius Roms Stärke – ähnlich wie Thukydides im Falle Athens – durch eine erfolgreiche Zuwanderung und Integration tugendhafter Geschlechter. Auf der anderen Seite bestand, wie u. a. bei Seneca oder Juvenal, die offensichtliche Angst vor kultureller Überfremdung und dem moralischen Verfall – zumeist durch die Übernahme von Sitten „orientalischer“ Zuwanderer; dazu z. B. SchlangeSchöningen 1995. 7 Geenen 2002, 23–25; Hahn 1994, 140. 8 Geenen 2002, 25–27. 9 Dazu Simmel 1908, 690–691; Geenen 2002, 21–22. 10 Geenen 2002, 21–22. 11 Simmel 1908, 690–691. 12 Dazu u. a. Spahn 1995, 45. 13 Geenen 2002, 23.
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Schließlich geht es weniger um die Konzeptionsprozesse eines Fremdheitsbegriffes in Athen und deren soziale Hintergründe, sondern vielmehr um die klar definierbare Sachlage, dass die hier betrachteten Personen keine athenische Staatsbürgerschaft besaßen. Im altgriechischen Sprachgebrauch werden diese Personen zumeist als ξένος (xénos) bezeichnet. Wie u. a. Peter Spahn betonte, ist die gerne vorgenommene Gleichsetzung mit jenem Wort „Fremder“ inhaltlich unpassend.14 Ξένος bezeichnet vielmehr den positiv konnotierten Gastfreund, der zwar nicht der eigenen Gemeinschaft entstammte, von dem aber auch nichts Negatives zu befürchten war.15 Im Rahmen der Gastfreundschaft – der φιλοξενία (filoxenía) oder ξενία (xenía) – hatte er das Anrecht auf häusliche Aufnahme und Bewirtung, vor allem aber auf Schutz durch den Gastgeber, der seinen Gast auch behördlich wie rechtlich vertreten konnte.16 Denn jeder Reisende war außerhalb seines Heimatlandes zunächst einmal völlig rechtlos und somit quasi „vogelfrei“. Diese φιλοξενία war Basis für alle moralischen und schließlich auch rechtlich fixierten Umgangsformen mit Ausländern in der griechischen Antike. In der Ilias und Odyssee Homers (ca. zweite Hälfte des 8. oder erste Hälfte des 7. Jh. v. Chr.) handelte es sich dabei um einen vererbbaren Bund zwischen einzelnen elitären Familien aus unterschiedlichen Gemeinschaften,17 was auch für das demokratische Athen noch galt. Auf gewerbliche Gaststätten und Herbergen zurückgreifen zu müssen betrachtete man demgegenüber als unehrenhaft.18 Auch der Staat konnte durch seine Repräsentanten als Gastgeber auftreten. So unterschied z. B. Platon zumindest in der Theorie vier Untergruppen von staatlichen Gästen, für deren Beaufsichtigung, Unterbringung und Bewirtung verschiedene Amts- und Würdenträger zuständig waren:19 Demnach waren es für durchreisende Händler die staatlichen Markt- und Hafenaufseher, für bildungsreisende Festspielbesucher die Heiligtümer – also Priester, Tempeldiener und andere Verwaltungspersonen – und für Gesandte und Bundesgenossen hochrangige Amtsträger. Im Falle hochrangiger ausländischer Beobachter überliefert Platon, dass sie uneingeschränkten Zugang zu allen Häusern der oberen sozialen Schichten Athens hätten.20 14
Spahn 1995, 39. 44–45. Zur Übernahme des Wortes ins Griechische s. a. Hiltbrunner 2005, 18–22. 16 Hiltbrunner 2005, 50–55. 17 Dazu u. a. Hiltbrunner 2005, 26–33. 18 Dazu Hiltbrunner 2005, 125–130. 19 Platon, leges 12,6 952 D–953 E. 20 Stroszeck 2002/2003, 161; Hiltbrunner 2005, 60–61, nahm an, dass von diesem platonischen Idealprogramm nur weniges der damaligen Realität entsprach. Dennoch beleuchtet Platons Gedankengang die Wahrnehmung dieser großen Menschengruppen als kollektive Gäste, für die durch den Staat als Gastgeber entsprechend Sorge zu tragen war. Immerhin kamen Festspielbesucher auf offizielle Einladung der entsprechenden Heiligtümer und Staaten. Somit garantierten diese als Gastgeber natürlich auch für den Schutz der Besucher im Sinne der φιλοξενία. 15
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Grundlage aller dieser Regelungen im Sinne einer φιλοξενία ist ein zeitlich begrenzter Aufenthalt des ξένος, der keine dauerhafte Ansiedlung mit eigener Familie und eigenem Hausstand vorsah. Die athenische Demokratie begrenzte diesen Aufenthalt auf vermutlich ungefähr einen Monat.21 Danach musste sich der ξένος bei den Behörden melden und den Status eines sogenannten μέτοικος (métoikos/Metöke) – was u. a. soviel wie „Mitbewohner“ oder „Wohnungswechsler“ bedeuten kann – durch einen von ihm selbst zuvor aus der athenischen Bürgerschaft bestimmten Vormund – einem προστάτης (prostátes)22 – beantragen lassen.23 Als rechtlicher Vormund übernahm der προστάτης also zumindest teilweise ähnliche Pflichten, die auch einem Gastgeber im Rahmen der φιλοξενία zufielen. Nicht selten ging diesem Beziehungsverhältnis auch tatsächlich eine zwischenfamiliäre φιλοξενία voraus. Der Metöken-Status distanzierte die Ausländer durch rechtliche Einschränkungen und spezielle Abgaben von den Vollbürgern, garantierte ihnen aber Freiheit und Schutz durch den Staat selbst.24 Der Staat wurde somit quasi zum eigentlichen Gastgeber. Die Metöken zahlten eine spezielle Steuer – μετοίκιον (metoikion)25 – und leisteten Militärdienst als Ruderer oder Hopliten.26 Von politischer Mitbestimmung, den Poliskulten und – was auch in Bezug auf das Bestattungswesen zunächst von Bedeutung ist – vom Grundbesitz waren sie allerdings ausgeschlossen.27 Demnach konnten Metöken ihren Wohnraum nur pachten oder mieten. Da in den wenigen antiken Quellen für solche Wohnarrangements nie 21
Whitehead 1977, 7–10. Spahn 1995, 45; Whitehead 1977, 6–7, betonte, dass die Übersetzung mit „Wohnungswechsler“ oder „Immigrant“ der Etymologie des Wortes bzw. des μετα deutlich näher käme und vermutlich auch anfänglich so im klassischen Athen gebraucht wurde. Er schließt aber nicht aus, dass sich der Begriff verselbstständigt haben könnte und mit anderen Bedeutungen – z. B. „Mitbewohner“ etc. – gefüllt wurde. 23 Spahn 1995, 45–46; wie viele andere Details aus den rechtlichen Lebensumständen eines Metöken ist auch die Funktion des προστάτης für das 5. und 4. Jh. umstritten. So gehen die Meinungen auseinander, ob der προστάτης nur bei der Beantragung des Metökenstatus nötig war oder tatsächlich bei allen behördlichen und juristischen Angelegenheiten in Erscheinung treten musste; dazu u. a. Thür 1989, 119–120. 24 Die Verwendung der Bezeichnung μέτοικος ist erst seit dem zweiten Viertel des 5. Jh. v. Chr. belegt (Whitehead 1977, 7; Spahn 1995, 43). Daher vermutet man die Entstehung dieses besonderen Status als Abgrenzung von der Bürgerschaft im Zuge der Demokratisierung und somit frühestens mit den kleisthenischen Reformen am Ende des 6. Jh. v. Chr. (Spahn 1995, 48). 25 Die Benennung einer speziellen Metökensteuer – μετοίκιον – ist sogar erst seit dem späten 5. Jh. v. Chr. belegt (Whitehead 1977, 7; Spahn 1995, 43). 26 Whitehead 1977, 75–77. 82–86; Whitehead 1977, 8–9, machte in Zusammenhang mit dem Ehrendekret für Strato von Sidon darauf aufmerksam, dass zumindest im 4. Jh. v. Chr. auch Händler, die geschäftsbedingt einen längeren Aufenthalt in Athen hatten – also nicht vollständig nach Athen umgesiedelt waren – die Metökensteuer zahlten und somit offenbar als Metöken galten. Es ist nur schwer vorstellbar, dass sie allen Verpflichtungen eines Metöken – wie z. B. dem Militärdienst – nachkommen mussten. 27 Whitehead 1977, 86–89. 22
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die gleichen Bezeichnungen wie für entsprechende Verhältnisse zwischen Vollbürgern verwendet werden,28 vermutete Gerhard Thür auf Grund der stattdessen anzutreffenden Wendung „unter einem προστάτης wohnen (ἐπὶ προστάτου οἰκεῖν)“, dass der προστάτης auch den Wohnraum eines Metöken gegen ein Entgelt zur Verfügung stellen musste.29 Die Einbürgerung eines Metöken war in der Regel nicht vorgesehen, doch konnten die Nachkommen der Metöken aus Ehen mit athenischen Bürgern und Bürgerinnen anfänglich noch das Bürgerrecht erwerben. Erst mit dem perikleischen Bürgerschaftsgesetz von 450/51 v. Chr. wurde auch dieses unmöglich. Bei den Metöken handelte es sich überwiegend um Handwerker, Händler und Arbeiter. Viele wohlhabende Metöken zeigten ähnlich den wohlhabenden Bürgern ein zusätzliches Engagement für den Staat. Dieses bestand zumeist in zweckgebundenen Geldspenden, Sachzuwendungen oder außenpolitischen Vermittlungsdiensten.30 Gerade im Bereich der Nahrungsmittelversorgung und Beschaffung von Holz für den Flottenbau, leisteten die entsprechenden Metöken oftmals einen substantiellen Beitrag zum Erhalt des Staatswohls, womit die Metöken u. a. ein besonderes Verbundenheitsgefühl mit dem gastgebenden Staat zum Ausdruck brachten und im Gegenzug auf die Vergabe von besonderen Privilegien abzielten. Diese Privilegien waren u. a. die Isotelie (die rechtliche Gleichstellung mit den Bürgern), die militärische Gleichstellung mit den Bürgern, die Atelie (Befreiung von bestimmten Abgaben und Verpflichtungen), die Enktesis (das Recht auf Grunderwerb) und schließlich die Politeia (Verleihung des vollen Bürgerrechts).31 Eine größere Gruppe der in Athen lebenden Ausländer besaß den Status eines πρόξενος (próxenos) der Athener. Nach der allgemeinen Forschungsmeinung 28
Thür 1989, 118–119, machte darauf aufmerksam, dass unter den ohnehin wenigen zeitnahen Quellen kaum ein Hinweis auf ein entsprechendes Wohnarrangement eines Metöken zu finden ist, bei dem auch die damals üblichen Begriffe für ein Miet- oder Pachtverhältnis – wie zwischen Vollbürgern – verwendet würden. 29 Thür 1989, 120–121, bezog sich dabei auf die Verwendung dieses Wortlauts bei Lysias um 398 v. Chr. und Lykurg um 335 v. Chr.; für die bisher offenbar nicht diskutierte Möglichkeit, dass ein προστάτης gegebenenfalls für den Metöken eine Wohnung anmietete – womit er auch hier als Bürge und Vertreter in Erscheinung getreten wäre – und sich die Kosten dafür vom Metöken erstatten ließ, scheint es keinerlei Hinweise in den Quellen zu geben. In Aischylos’ Tragödie Die Heketiden (Die Schutzflehenden), die vermutlich gegen 463 v. Chr. in Athen aufgeführt wurde und trotz des argivischen Schauplatzes athenische Verhältnisse reflektiert, ließ Aischylos König Pelasgos den um Asyl bittenden Danaiden, welche am Ende zu μετοικεῖν τῆσδε γῆς (metoikein tesde ges – Mitbewohnende dieses Landes) werden sollen, Häuser als Wohnsitz anbieten, die im Volksbesitz seien. Diese μονορρύθμους δόμους (monorrythmous domous – einförmige Häuser) verbanden Wolfram Hoepfner und Ernst Ludwig Schwandner mit dem Ausbau des Piräus zu dieser Zeit. In diesen Häusern könnten – wenn auch nicht ausschließlich – viele Metöken gewohnt haben (Thür 1989, 117– 121). Zumindest ist für den Piräus eine hohe Zahl an Metöken überliefert. 30 U. a. Adak 2003, 95–193. 31 U. a. Adak 2003, 195–241; zur Enktesis s. a. Hennig 1994, 305–337
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wurde dieser Status einem Polisbürger von einer anderen Polis verliehen, um deren Interessen und die ihrer Bürger in der Heimatpolis des πρόξενος zu vertreten.32 Auch dieser Ernennung gingen zumeist entsprechende private Gastfreundschaften voraus, bevor dieses Verhältnis auf eine staatliche Ebene gehoben wurde.33 Demnach gab es in Athen viele attische Bürger, die πρόξενοι für die sich in Athen aufhaltenden Bürger einer anderen Polis waren. Nach dieser Vorstellung werden die in Athen lebenden Ausländer mit dem Status eines πρόξενος der Athener gerne zu Exilanten erklärt, die nach der Ausübung ihres Amtes aus welchen Gründen auch immer nach Athen umsiedelten. Mustafa Adak vertrat demgegenüber die Meinung, dass die Proxenie zwar durchaus die oben geschilderten Aufgaben mit sich bringen konnte, in erster Linie aber eine Ehrung der Polis – in diesem Fall Athen – für „fremde“ Wohltäter war, die den πρόξενος unter einen speziellen Schutz der attischen Magistrate gestellt und mit weiteren Privilegien versehen habe.34 Auf jeden Fall habe diese Ehrung auch Ausländer betroffen, die zum Zeitpunkt der Verleihung bereits in Athen lebten, also Metöken waren. Aus der von Thukydides genannten Stärke des athenischen Hoplitenheeres wird ein Verhältnis zwischen Politen und Metöken zu Beginn des Peloponnesischen Krieges 431 v. Chr. von 4:1 bis 3:1 abgeleitet.35 Nach den Angaben bei Athenaios scheint sich das Verhältnis bis zum dritten Viertel des 4. Jh. v. Chr. sogar auf ungefähr 2:1 verschoben zu haben.36 Auch innerhalb der bei Johannes Bergemann zusammengestellten 1134 Grabinschriften des 4. Jh. v. Chr. machen Metöken fast ein Drittel aus.37 Im Gesamtcorpus des Athener Bestandes an genauer zuweisbaren Grabinschriften ist es laut Jutta Stroszeck sogar die Hälfte.38 Folglich bildeten ortsansässige Ausländer keine marginale Gruppe, sondern einen signifikanten Bestandteil der athenischen Gesellschaft und einen wichtigen Pfeiler für den wirtschaftlichen Wohlstand und die militärische Stärke des Staates.39 Nach dem antiken Historiker Xenophon wurde dieses auch tatsächlich von der Polis Athen so empfunden.40 32
Erxleben 1974, 495; Walbank 1985, 110. Dazu Hiltbrunner 2005, 69–75. 34 Adak 2003, 201–218; diese Privilegien umfassten die rechtliche Gleichstellung mit Athenern, Vergünstigungen vor athenischen Gerichten, Zugangsrechten zum Rat und zur Volksversammlung, Befreiung von der Metökensteuer, der Enktesis und seit ca. 400 v. Chr. auch die Isotelie; dazu auch Whitehead 1977, 13–14. 35 Thukydides 2, 13; 2, 31; Spahn 1995, 50. 36 Athenaios 6, 272c; danach umfasste die Bevölkerung Athens laut einer durch Ktesikles überlieferten Volkszählung des Demetrios von Phaleron 21.000 Bürger, 10.000 Metöken und ungefähr 400.000 Sklaven; Spahn 1995, 50. 37 Bergemann 1997, 142–150. 38 Stroszeck 2002/2003, 162 bezog sich hier auf die Angaben bei Osborne et al. 1996. Danach nennen 2633 Inschriften athenische Bürger und 2648 Inschriften Ausländer. Eine ähnlich große Menge ist allerdings nicht zuweisbar. 39 Spahn 1995, 43. 53–55. 40 Xenophon, Poroi 2, 1; Xenophon schlug vor, durch die Gewährung zusätzlicher Privilegien 33
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Auch wenn es Stadtgebiete mit erhöhter Metökenanzahl unter den Bewohnern gegeben hat – wie z. B. im Piräus, dem Hafengebiet – sind diese Verhältnisse wohl eher gewerblich bedingt als eine gewünschte Art von Gettoisierung.41 Dies mag auch e i n e mögliche Erklärung für den von Jutta Stroszeck betonten überproportional hohen Anteil an Grabinschriften für Ausländer in der KerameikosNekropole42 von Athen sein.43 Wie Ilja Steffelbauer hervorhob, bot sich die geologische Beschaffenheit im Demos (Gemeinde) Kerameis, zu dem das moderne Grabungsareal Kerameikos einst gehörte, seit alters her für die Ansiedlung von Handwerkern an.44 Auch die benachbarten Demen Melite oder Koile waren nicht zuletzt durch ihre Anbindung an die Hauptverkehrswege zum Piräus vermutlich bevorzugte Siedlungsräume für Handwerker und Händler und somit Metöken.45 Allerdings ist es ebenfalls auffällig, dass nicht einer der namentlich bekannten athenischen Bürger, die in der Kerameikos-Nekropole bestattetet worden waren, aus dem örtlichen Demos Kerameis stammte bzw. dort in die Bürgerlisten eingeschrieben war. Dies mag vielleicht mit der exponierten Lage der Begräbnisplätze vor dem Heiligen Tor und dem Dipylon zu tun haben. Vor letzterem lag schließlich auch das Demosion Sema (Staatsfriedhof). In Kleidung und Auftreten – also im öffentlichen Raum – scheinen Metöken grundsätzlich nicht von den Politen optisch unterscheidbar gewesen zu sein.46 Dies ist in Bezug auf die weiter unten noch zu besprechende Selbstdarstellung von Metöken auf ihren bildlich geschmückten Grabmonumenten in Athen von Interesse, da laut der antiken Quellen durchaus Unterschiede in der äußeren Ermehr Menschen zu einer Umsiedlung als Metöken nach Athen zu bewegen und somit die Staatseinkünfte durch weitere Abgabenleister zu steigern. 41 Spahn 1995, 56. 42 Mit dem Namen Kerameikos wird heute das Grabungsareal an den nördlichen Ausläufern des Nymphenhügels in Athen bezeichnet, in dem u. a. Teile der Stadtbefestigung mit dem Haupttor des antiken Athens (Dipylon-Tor/Triasisches Tor) und dem Heiligen Tor sowie der durch sie hindurchführenden Straßen mit den daran liegenden Nekropolen freigelegt wurden. Das Areal gehörte zum antiken Demos Kerameis, wobei der Name Kerameikos in der Antike vermutlich allein auf die Straße, die durch das Dipylon-Tor vom heiligen Hain des Heros Akamas zur Agora (Staatsmarkt) führte, verwendet wurde. Für diese Straße ist parallel die Bezeichnung Dromos (Straße/Weg) bezeugt. An ihr lag der Athener Staatsfriedhof. Zur antiken Verwendung der Begriffe Kerameikos und Kerameis sowie zur Lage des Demos Kerameis s. Stroszeck 2003; Ruggeri 2005; Steffelbauer 2007. 43 Laut Stroszeck 2002/2003, 162, nennen von den 480 im Kerameikos gefundenen Grabinschriften 250 ausländische Grabinhaber und nur 150 Athener Bürger. Allerdings zählte Stroszeck auch die Sklavennamen dazu. 44 Steffelbauer 2007, 240. 259–260. 45 Nach Steffelbauer 2007, 235–238, umfassten die angrenzenden Demen (Gemeinden) Melite und Kerameis mit Ausnahme des zentralen Demos Kydathen allerdings grundsätzlich die höchsten Bevölkerungsanteile, gemessen an der Zahl der Bouleuten (Ratsmitglieder), die die Demen stellen durften. 46 Spahn 1995, 53.
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scheinung zwischen Angehörigen verschiedener Poleis existierten.47 Somit konnte die Tracht durchaus als Symbol für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft empfunden bzw. auch, wie im Fall der Metöken, durch Angleichung dazu genutzt werden, eine entsprechende Botschaft zu vermitteln. Dieses spiegelt sich nicht zuletzt in der sichtbaren Gestaltung der hier behandelten Grabkontexte wider, womit nun zum eigentlichen Thema des Beitrags übergeleitet wird.
Die Bestattungen von Ausländern im klassischen Athen – theoretische Überlegungen und archäologische Zeugnisse Zu den Bestattungsplätzen von Metöken und anderen Ausländern im klassischen Athen Alle die einleitend genannten Gruppen von Ausländern – also kurzzeitige Besucher und Gäste, dauerhaft ansässige Metöken mit oder ohne größeren Familienstand sowie Sklaven – verband die Situation, vom Grunderwerb und somit auch dem Ankauf einer Grabstelle ausgeschlossen zu sein. In der Forschungsliteratur wird dieser Umstand gelegentlich zu einem gravierenden Problem stilisiert, da hiermit ja die wichtigste Voraussetzung für ein Begräbnis zu fehlen scheint. Aus den antiken Quellen erfahren wir dazu – wie allgemein zur Sepulkralkultur – zu wenig.48 Da der Tod von „Ausländern“ in Athen nach den oben angegeben Zahlen wie in allen anderen Poleis alltäglich war, müssen allgemeingebräuchliche Lösungen für diese Fälle existiert haben. Gerade bei kurzzeitigen Besuchern, die oftmals keine direkten Bezugspersonen gehabt haben dürften, musste jemand für die Durchführung der Bestattung offiziell verantwortlich gemacht worden sein und/oder sich womöglich auch aus einer Tradition – u. U. eben derjenigen der Philoxenia – heraus verantwortlich gefühlt haben. So wird im Fall, dass der Gast im Hause seines Gastgebers verstirbt, Letzterer der Erbe des sich am Ort befindlichen Besitzes seines Gastes.49 Sofern eine Rückführung des Toten nicht möglich war, sorgte der Gastgeber für die Bestattung des Gastes. Einige wenige Grabepigramme lehren, dass tatsächlich ortsansässige 47
Stroszeck 2002/2003, 163–164. Eher beiläufig erhält man in Gerichtsreden, Dichtungen, Kultkalendern und den Grabinschriften Hinweise auf den Ablauf und die Organisation von Bestattungen sowie die Pflichten der Hinterbliebenen oder die Bestattungsbräuche selbst (z. B. Herodot 3, 38; Thukydides 1, 8; Pausanias 2, 7, 2; Plutarch, Solon 10, 3; Plutarch, Lykurg 27, 1–2). Das Bild ist aber auch hier selektiv, da vor allem als besonders interessant oder merkwürdig empfundene Bräuche oder lediglich Details geschildert werden (u. a. Stroszeck 2002/2003, 173; Stroszeck 2006, 104. 106). Dazu dürfte treten, dass viele Praktiken und Rituale als allgemeingültig oder bekannt und somit nicht erwähnenswert erachtet worden sein mögen. 49 Hiltbrunner 2005, 20. 48
Abb. 1: Ruinenplan des Kerameikos (Knigge 1988, Faltplan Abb. 165).
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Abb. 2: Grabstele des Menes (Photothek des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Athen, Neg.-Inv.-Nr.: D-DAIATH-Kerameikos-04848).
Abb. 3: Grabstele des Antipatros (nach Hölscher et al. 2008, 290 Abb. 1).
„Freunde“ des Verstorbenen den Bestattungspflichten nachgekommen waren.50 Sofern es sich bei diesen „Freunden“ um Politen handelte, hätte eine entsprechen50
S. den Beitrag von L.-M. Günther in diesem Band.
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de Grabstätte problemlos angekauft oder der Verstorbene u. U. im Familiengrab des „Freundes“ beigesetzt werden können. Ein solcher Fall könnte z. B. für den Reiter und daher wohl Kavalleristen und „Ritter“ Menes, Sohn des Kallias aus Argos, gelten. Seine Grabstele (Abb. 1, 33; 2) wurde neben der Stele für Samakion, Tochter des Hippokles aus dem athenischen Demos Eitea innerhalb des gleichen Grabbezirks an der Gräberstraße in der Kerameikos-Nekropole (Abb. 2) von Athen 1863 in situ aufgefunden. Der Grabbezirk wird daher der athenischen Bürgerfamilie der Samakion bzw. des Hippokles zugeschrieben.51 Menes könnte ein Gastfreund des Hippokles gewesen sein, dessen Name ebenfalls eine Zugehörigkeit zum Ritterstand vermuten lässt. Somit bestünde eine vergleichbare soziale Stellung beider Personen und ihrer Familien, wie es oftmals bei Philoxenieverhältnissen der Fall war. Da jedoch der ursprüngliche Aufstellungskontext der meisten Grabmonumente, die Ausländer nennen, heute i. d. R. unbekannt ist, lassen sich kaum Anhaltspunkte zu den Besitzverhältnissen der ursprünglichen Grabparzellen gewinnen. So nennt die ikonographisch wie epigraphisch einmalige und auch für antike Betrachter bewusst chiffrenhaft gestaltete Bildfeldstele für Antipatros aus Askalon (Abb. 3),52 die in der Nähe des Herakleotenbezirks im Kerameikos von Athen außerhalb ihres primären Aufstellungskontexts gefunden worden war,53 den Sidonier Domsalos als deren Auftraggeber. Der nach Tonio Hölscher und Peter von Möllendorff wahrscheinlichste soziale Hintergrund des Antipatros scheint eine gegen die bisherige communis opinio verstoßende Identität als ortsansässiger Metöke und nicht als Priester und Angehöriger einer Theoria zu sein.54 Das sehr raffinierte Zusammenspiel des rätselhaften Reliefbildes und der sehr anspruchsvollen chiffrenhaften Inschrift dürften – ohne es an dieser Stelle aus51
Knigge 1988, 130–131; Stroszeck 2002/2003, 161 Abb. 3; Bergemann 1997, 187 A19a, zweifelt an der ursprünglichen Zusammengehörigkeit der beiden Stelen zum gleichen Grabbezirk – nach Schoell 1870, 145–146, wurden sie aber zumindest in der genannten Aufstellung bei den frühen Grabungen vorgefunden –, da eine gemeinsame Bestattung von Metöken und Bürgen bisher nicht belegt sei. Dass eindeutige Beweise fehlen, ist in der Tat richtig. Allerdings fanden sich bei den frühen Grabungen im Kerameikosgebiet u. a. im Rückraum der größeren Grabbezirke des Lysimachides oder des Dionysios viele Grabsteine von Ausländern. Leider kann ihre Zugehörigkeit zu den Bezirken stratigraphisch nicht mehr eindeutig ermittelt werden. Einige datieren auch zu spät, als dass ihre Verbindung mit den Grabperiboloi wahrscheinlich ist. In anderen Fällen werden Ausländer auch gerne zu Sklaven oder Bediensteten der entsprechenden Familien erklärt, wobei die jeweilige Namensgebung nicht immer einen Sklavenstatus der Person zwingend nahelegt (u. a. Stroszeck 2002/2003, 165). 52 Stroszeck 2002/2003, 170 Abb. 12; Hölscher et al. 2008, 290 Abb. 1. 53 Stroszeck 2002/2003, 172. 54 Auf die sehr komplexen Interpretationsversuche wird an dieser Stelle nicht weiter eingegangen, doch zeigten zuletzt Tonio Hölscher und Peter von Möllendorff (Hölscher et al. 2008, 305–318), dass die Inschrift die übliche Annahme einer Identität des Antipatros als Priester und Angehöriger einer Theoria nicht zwingend zulässt; vgl. u. a. Wolters 1888; Stager 2005; Xagorari-Gleißner 2009, 120–121.
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führlich erklären zu können – nicht nur auf besonders geschickte Weise die Aufmerksamkeit eines vorbeigehenden Betrachters erregt haben, sondern vielmehr auch auf einen gemeinsamen intellektuellen Hintergrund von Antipatros und Domsalos anspielen. Sowohl Domsalos als Stelenauftraggeber, noch die in der Inschrift genannten auf einem „heiligen Schiff“ reisenden und den Antipatros bestattenden „Freunde“ sind athenische Bürger. Sofern nicht einer von ihnen das Recht auf Grunderwerb (Enktesis) besaß, stellt sich abermals die Frage, wem die Grabparzelle tatsächlich gehörte. Eine Überlegung wäre, dass, wie es bei Kindernekropolen vermutet wird, öffentliche, im Staatsbesitz befindliche Räume dafür zur Verfügung standen. Dann müsste man hier aber eine hohe bzw. fast ausschließliche Fundkonzentration von Gräbern und Grabmonumenten von Ausländern erwarten, was im bisherigen archäologischen Bestand nicht der Fall ist. Demgegenüber nimmt man alternativ an, dass Metöken mit dem Recht auf Grunderwerb anderen Metöken Raum für Bestattungen bieten konnten. Hier wird stets das Familiengrab des Messeniers Philoxenos im Kerameikos als Beispiel angeführt (Abb. 1, 21; 4 links). Es ist von bemerkenswerter Größe und barg mit ca. 54 Gräbern eine auffällig hohe Zahl an Bestattungen.55 Dieses führte zu der Überlegung, Philoxenos – von dem lediglich vermutet wird, dass er ein Proxenos gewesen sei – habe als Metöke mit Recht auf Grunderwerb seine Grabanlage mit dem Ziel erworben, auch anderen Landsleuten Bestattungsraum zu bieten.56 In der Tat lassen sich auf den ersten Blick innerhalb des Grabbezirks Cluster an Grablegen feststellen – z. B. in der Nordost-, Nordwest- und Südwestecke sowie ungefähr an der Mitte der Nordbegrenzung oder im zentralen westlichen Areal –, die zu der Interpretation anregen mögen, dass hier nicht nur Einzelpersonen, sondern auch kleinere familiäre oder freundschaftliche Gruppen, die nicht zum engeren Haushalt des Philoxenos gehört haben, bestattet worden seien.57 Ferner gibt es einzelne, auffällig an die Bezirksgrenzen geschobene Gräber, die sich ggf. auch als sippenfremde Bestattungen deuten ließen. Dabei scheint der Bereich mit den Gräbern, die der Kernfamilie des Philoxenos zugeschrieben werden,58 bis in das erste Viertel des 3. Jh. v. Chr. von weiteren Bestattungen gezielt freigehalten, also von den anderen Grablegen separiert worden zu sein.59 Dabei ist jedoch zu bedenken, dass innerhalb der primären Belegungsphase (Phase XIII 1a) zwischen ca. 350 und 338 v. Chr., also von maximal zwölf Jahren, lediglich fünf Bestattungen entstanden – u. a. die von Philoxenos selbst und sei55
Kovacsovics 1990, 87–130. Kovacsovics 1990, 96. 57 Allerdings ist die genaue Lage von ca. 18 der 1910 freigelegten Gräber (Kovacsovics 1990, 128– 130) – wohl überwiegend in der südlichen Periboloshälfte – nicht mehr feststellbar. 58 Kovacsovics 1990, 88 Abb. 48 Me 25. 26. 27. 55. 56. (21?). 59 Bei den meisten anderen ergrabenen Periboloi findet sich eine grundsätzlich dichtere Belegung um die primären Bestattungen, was jedoch auch auf die geringere Größe der Grabanlagen zurückgeführt werden muss.
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ner Söhne Dion und Parthenios.60 Um 338 v. Chr. wurden die Frontmauer und die Grabmonumente in Zusammenhang mit den städtischen Sicherungsmaßnahmen nach der Niederlage bei Chaironeia zerstört. In der darauf folgenden Phase (Phase XIII 1b) von ca. 338 bis zum Gräberluxusgesetz des Demetrios von Phaleron um 317/07 v. Chr. – also innerhalb der nächsten 21 bis maximal 31 Jahre – wurden lediglich sechs bis sieben neue Gräber angelegt.61 Erst danach kam es bis in das frühe 3. Jh. v. Chr. (Phase XIII 2 und 3) – also innerhalb von weiteren 20 bis 30 Jahren – zu ca. 36 bis 37 neuen Gräbern.62 Zählt man die nicht sicher lokalisierbaren Bestattungen der Grabung von 1910 dazu, könnten es sogar ca. 43 Gräber sein.63 Mindestens 20 davon gehören in die letzte Belegungsphase (Phase XIII 3), als die Bezirksmauern zusammen mit den benachbarten Grabbezirken und dem davor verlaufenden Südweg verschüttet worden waren und einen neu geschaffenen gemeinsamen Bestattungsplatz bildeten.64 Für diese Phase ist es nicht mit Sicherheit zu entscheiden, ob sich das Areal überhaupt noch im Besitz der Nachfahren des Philoxenos befand.65 Demnach scheint es erst nach dem Gräberluxusgesetz des Demetrios von Phaleron, also minimal 21 und maximal 43 Jahren nach dem Ankauf, zu einer erhöhten Zahl an Beisetzungen gekommen zu sein. Für die vorausgegangene Zeit erlaubt die festzustellende Gräberzahl also nicht zwingend die bisher postulierte Schlussfolgerung, Philoxenos habe von vornherein beabsichtigt, nicht zu seinem Haushalt gehörenden Personen einen Begräbnisplatz zu bieten. Möglicherweise galt die Größe des Grabbezirks allein repräsentativen Zwecken. Dennoch ist diese Überlegung als theoretisches Modell für die Bestattung von Ausländern nicht uninteressant. In manchen Fällen ging der Wahl eines Prostates durch einen Metöken bereits ein Philoxenieverhältnis voraus. Nach der Idee von Gerhard Thür hätte die Bindung des Metöken an seinen Prostates auch beim Wohnraum bestanden.66 Demnach habe der Prostates den Wohnraum eines Metöken gegen ein Entgelt zur Verfügung stellen müssen, ähnlich wie es ja auch im übertragenen Sinne der 60
Kovacsovics 1990, 88 Abb. 48 Me 25. 26. 27. 55. 56. (21?). Die Larnax Me 75 direkt westlich von Grab Me 55 wird nach Kovacsovics 1990, 113 Kat. 108, mit diesem Grab in Verbindung gebracht. Mit der möglichen Ausnahme von Grab Me 21, das vor 317/07 v. Chr. angelegt worden ist, können keine weiteren Gräber dieser ersten Belegungsphase zugewiesen werden. 61 Kovacsovics 1990, 88 Abb. 48 Me 33. 35. 38. 39. 57. 78. (21?). 62 Kovacsovics 1990, 96–97. 63 Kovacsovics 1990, 128–129. 64 Kovacsovics 1990, 94–97 Phase XIII 2 und Phase XIII 3; somit wären dann ca. 14 Gräber bis ca. 300 v. Chr. (Phase XIII 2) und 13 Gräber im frühen 3. Jh. v. Chr. (Phase XIII 3) angelegt worden. Neun bis 15 Gräber lassen sich nicht genau einer der beiden Phasen zuweisen (Kovacsovics 1990, 96 Phase XIII 2 oder 3; 128–129). 65 Kovacsovics 1990, 95–96; so hielt Kovacsovics 1990, 65, die südlich des Messenierbezirks XIII liegenden Bestattungen seit dem frühen 3. Jh. v. Chr. schon nicht mehr zu den dort befindlichen Periboloi VII bis XII gehörig, da auch hier ältere Strukturen, wie Begrenzungen und Wege, bereits unkenntlich waren. 66 Thür 1989, 118–121.
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Gastgeber bei seinem Gast – wenn auch im eigenen Hause und ohne Entgelt – tat. In Fortführung dieses Gedankens und in Anlehnung an die moralische Verantwortung innerhalb einer Philoxenie wäre zu überlegen, ob der Prostates auch im Todesfall des Metöken und seiner Angehörigen für die Bereitstellung eines Begräbnisplatzes herangezogen wurde. Bei dieser Überlegung mag zusätzlich der Umstand berücksichtigt werden, dass freigelassene Sklaven den Metökenstatus mit ihrem ehemaligen Besitzer als Prostates erhielten.67 Vor der Freilassung hatte dieser grundsätzlich für die Bestattung seines Sklaven zu sorgen, was nach den archäologischen Zeugnissen auch in den Familiengräbern erfolgen konnte.68 Vielleicht hatte diese Konstellation dazu geführt, dass auch noch nach der Freilassung ein Platz im Familiengrab des Prostates und ehemaligen Besitzers zur Verfügung gestellt wurde – auch wenn der Prostates nun nicht mehr für alle Kosten einer Bestattung aufgekommen sein mag. Sollte dieses nicht als ungewöhnlich empfunden worden sein, könnte entsprechendes auch im Fall anderer Metöken eine Option dargestellt haben. Viele der Grabbezirke von Athener Bürgern boten allerdings relativ wenig Bestattungsraum. Sofern diese Vorstellung wirklich zutrifft, müssten daher Parzellen an anderer Stelle vom Prostates erworben worden sein. So liegt im Grabperibolos des Philoxenos auch Dorkas aus Herakleia bestattet. Wie die neben ihr beerdigte Anna wird sie als Sklavin identifiziert.69 Da aber Dorkas’ Ethnikon auf der Grabstele genannt wird, könnte sie theoretisch auch eine Metökin, eine Freigelassene und/oder Hetäre sein, für welche der Name öfters belegt ist, und die grundsätzlich Ausländerinnen waren.70 Der Name begegnet erneut in unmittelbarer Nachbarschaft bei einer Frau aus Sikyon, der ein kleiner Tumulus als Grabmonument aufgeschüttet worden war (Abb. 4 rechts; 5).71 Auf Grund der Stratigraphie und der Datierung in das frühe 3. Jh. v. Chr. steht das Monument nicht mehr mit dem vorausgegangenen Grabbezirk XII der Demetrias und der Pamphile (Abb. 1, 20; 4 rechts) in Verbindung und muss als autarke Grabstätte gewertet werden. Westlich davon liegt, ebenfalls unter einem flachen Tumulus, das Grab DP 7 der Glykera, Tochter des Antiochos aus Knossos (Abb. 4 rechts). Es entstand zu einer Zeit, als der Grabbezirk XII als solcher noch genutzt wurde. Auf Grund des verwendeten Porossarkophages, des Tumulus und der darauf stehenden wiederverwendete Anthemienstele, gehört das Grab nicht zu den ärmeren Bestattungen.72 Das Grab DP 2 scheint mit dem Grab der Glykera eine Art Cluster zu bil67
Whitehead 1977, 16–17. Scholl 1996, 178 Anm. 1207 (mit weiterführender Literatur); Stroszeck 2002/2003, 167–168. 69 Kovacsovics 1990, 111–112; Fragiadakis 1988, 346 Nr. 192. 70 Pape 1884, 319; Stroszeck 2002/2003, 167. 71 Kovacsovics 1990, 82; Brückner 1909, 33–34. 72 Kovacsovics 1990, 74 Abb. 44; 78. 83. 86; Kourouniotou 1913, 187–188. 68
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Abb. 4: Blick auf den Grabbezirk des Philoxenos (links) und den der Demetrias und Pamphile (rechts) (Kovacsovics 1990, Taf. 2, 2).
Abb. 5: Grabmonument für Dorkas aus Sikyon (Photothek des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Athen, Neg.-Inv.-Nr.: D-DAI-ATH-Kerameikos-00022).
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den und dürfte der Grabstätte ebenfalls zuzuschreiben sein.73 Die Anlage ist auf den schmaleren Nebenweg der Nekropole ausgerichtet und liegt somit nicht an einer exponierten Stelle. Es lässt sich nicht völlig ausschließen, dass der Bereich noch zum Bezirk XII gehörte, doch dürfte man hier eine autarke, wenn auch bescheidenere Grabstätte einer Metökin oder Metökenfamilie erkennen, die entweder im Grabbezirk einer Bürgerfamilie lag oder separat erworben wurde.74 Der Name Glykera ist allerdings auch – aber nicht ausschließlich – für Hetären belegt.75 So könnten Glykera und Dorkas zumindest theoretisch auch Hetären sein, denen die Besitzer der Bezirke XII und XIII einen Bestattungsraum, vielleicht auf Grund eigener privater Beziehungen boten. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann Glykera aus Knossos aber nicht, wie es sich offenbar in der jüngeren Forschung durchgesetzt hat, mit Glykera der Gattin des Dion, die ohne die Nennung von Patronym und Herkunft von einer Fluchtafel aus dem benachbarten Messenierbezirk bekannt ist, gleichgesetzt werden.76 73
Kovacsovics 1990, 74 Abb. 44; 86–87. Allerdings wurde das Gebiet nach den ersten Grabungen nicht noch einmal untersucht, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich hier weitere Grablegen befinden. 74 Bei dem ebenfalls schlichter gestalteten Bestattungsplatz der Familie des Onesimos, Sohn des Onetoros aus Lesbos, der zwischen Gräber- und Heiliger Straße im Kerameikos liegt, handelt es sich aber offensichtlich um den Grabbezirk einer weiteren Metökenfamilie (SchlörbVierneisel 1966, 83–85 Kat. 141–145). Auf welche Weise Onesimos in den Besitz der nicht exponiert, lediglich an einem Nebenweg hinter den Frontbezirken auf der Nordseite der Gräberstraße im Kerameikos gelegene Parzelle gekommen ist, bleibt natürlich abermals völlig spekulativ. 75 Pape 1884, 253; sehr bekannt war z. B. die unmittelbar in der zweiten Hälfte des 4. Jh. v. Chr. in Athen lebende Glykera, die Hetäre des Harpalos und angeblich auch des Menanders (Athenaios 13, 584a; 586c–d; 594d; 595d–596a). 76 So führten Osborne et al. 1996, 126 Nr. 2925, Glykera aus Knossos ohne Bedenken als Gattin des Dion, dem Sohn des Philoxenos. Demgegenüber konnte Franz Willemsen (in seinem Beitrag in Kovacsovics 1990, 145–147) eine Gleichsetzung der beiden Frauen und somit eine Rekonstruktion der Verwandtschaft zu Philoxenos als Stiefmutter oder Schwiegertochter zwar nicht ausschließen, hält dieses aber für unwahrscheinlich. Im Falle der genannten Verwandtschaftskonstellationen hätte Glykera entweder ihren Stiefsohn und ihre beiden Stiefenkel oder aber ihren Schwiegervater sowie ihren Gatten und ihren Schwager überlebt, was bei dem jungen Heiratsalter von Frauen in dieser Zeit natürlich nicht unmöglich gewesen wäre. Dass Glykera als Gattin des Dion nicht wie dieser selbst im Bezirk des Philoxenos bestattet wurde, könnte dann damit erklärt werden, dass die Ehe kinderlos blieb und Glykera nach dem Tod ihres Gatten in ihre eigene Familie zurückkehren musste. Sollte sie die Stiefmutter des Philoxenos sein, könnten ähnliche Gründe dazu bewegt haben, sie außerhalb des Messenierbezirks zu bestatten. Der Bezirk ist ja nicht von Philoxenos’ Vater Dion eingerichtet worden, der hier ebenfalls nicht bestattet gewesen zu sein scheint, sondern von Philoxenos, zu dem dann keine Blutsverwandtschaft mit Glykera bestanden hätte. Eventuell hätte man sie nahe ihres Gatten an anderer Stelle beerdigt, wenn sie nicht ebenfalls nach dem Tode des Gatten in ihre eigene Familie zurückkehren musste oder mit Dion eigene Kinder gehabt hätte. In der zu DP 7 nahe gelegenen Bestattung DP 2 nun das Grab des Dion, Vater des Philoxenos,
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Wie anfangs erwähnt, übernahm der Staat laut Platon im Falle von Diplomaten die Aufgaben der gastfreundschaftlichen Unterbringung selbst, weshalb bereits Jutta Stroszeck vermutete, dass im Todesfall auch die Bestattung dieser Diplomaten vom Staat organisiert und getragen wurde.77 Als Indiz dafür verwies sie auf die Gesandtengräber aus dem 5. und der ersten Hälfte des 4. Jh. v. Chr. an der Südseite der Heiligen Straße im Kerameikos direkt vor dem Heiligen Tor.78 Die Gräber wurden hier auf Staatskosten angelegt, womit auch das Gelände Staatseigentum war bzw. von diesem dafür angekauft worden sein muss. Bereits Alfred Brückner hatte vermutet, dass sich hier ein staatlicher Diplomatenfriedhof befunden haben könnte.79 In diesem Zusammenhang ist es durchaus möglich, dass für die jeweils anderen von Platon erwähnten Gruppen an Polisgästen die jeweils als zuständig angeführten Personen im Todesfall zur Organisation des Begräbnisses verpflichtet waren. Der Großteil an Händlern, Gesandten, vor allem aber Festtagsbesuchern dürfte nicht zwingend private Gastfreundschaften mit Athener Bürgern besessen haben, die entsprechende moralisch verpflichtende Dienste übernahmen. Allerdings sind hier auch die zehn Astynomoi zu erwähnen, die laut Aristoteles für das Beseitigen von Leichen auf der Straße Verstorbener Verantwortung trugen.80 Aber auch wenn ihnen diese Pflicht oblag, musste ja ein unter Umständen staatlicher Begräbnisplatz für diese Leute zur Verfügung gestanden haben. Folgendes Zwischenfazit lässt sich also an dieser Stelle festhalten: Die zehn von Johannes Bergemann aufgelisteten attischen Grabbezirke, die sich Metökenfamilien zuweisen lassen,81 sind, wie diejenigen des Philoxenos aus Messene oder des Agathon aus Herkleia, reich ausgeschmückte Anlagen, für deren Besitzer durchaus anzunehmen ist, dass sie das Recht auf Grunderwerb besaßen. Bei der großen Menge an kontextlosen Grabmarkern für Ausländer und der in den Quellen überlieferten Zahl an in Athen lebenden Metöken, denen der Grunderwerb verwehrt war, stellt sich allerdings die Frage, wo diese beigesetzt worden sind. Sklaven, die zum Haushalt einer Familie gehörten, wurden nicht selten im Famizu sehen, wäre höchst spekulativ. Auch dieses wurde gemäß den publizierten Befunden erst später als die Gräber von Philoxenos, Dion und Parthenios im Messenierbezirk angelegt. 77 Stroszeck 2002/2003, 168. 78 Stroszeck 2002/2003, 168–170. 79 Brückner 1909, 6; Ursula Knigge 1972, 602, vermutete, dass die Wahl des Ortes als Begräbnisplatz für hohe Staatsgäste auf eine alte Tradition zurückgehen könnte, da bereits das noch ungestört vorgefundene Grab von zwei archaischen Bestattungen unter dem direkt hinter den Gesandtengräbern liegenden „Südhügel“ als von den Peisistratiden ausgerichtetes Begräbnis eines hohen ausländischen (ostionischen) Gastes interpretiert wird. Einen möglichen Beweggrund für diese Ortswahl sah sie in der Lage des unmittelbar gegenüber liegenden Familiengrabes der Kerykes – sofern die Zuweisung des Begräbnisplatzes an diese Familie tatsächlich korrekt ist (Koenigs et al. 1980, 75–76). Die Familie stellte die Priester in Eleusis sowie Herolde athenischer Gesandtschaften, übte somit also einen diplomatischen Dienst aus. 80 Aristoteles, Staat der Athener 50, 2. 81 Bergemann 1997, 138 Anm. 71.
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liengrab beigesetzt, was auch die archäologischen Zeugnisse belegen. Für private Gäste, die sich im Rahmen einer Philoxenia in Athen aufhielten und verstarben, dürften die Gastgeber die entsprechenden Aufgaben übernommen haben. Sie konnten einzelne Grabparzellen dafür anwerben oder den Gast in ihrem eigenen Familiengrab bestatten. Die Grabstele des Menes aus Argos wird ein Beispiel dafür sein. Bei Staatsgästen übernahm die Polis diese Pflichten. Im Falle von Personen, die keine Freundschaft zu Bewohnern der Stadt hatten, scheint der Staat ebenfalls Zuständigkeiten geregelt zu haben. Wo ihre Begräbnisplätze lagen und ob diese staatlich unterhalten wurden, ist allerdings unbekannt. Das gleiche gilt auch für in Athen lebende Metöken ohne das Recht auf Enktesis. Hier konnte lediglich die Hypothese vorgestellt werden, dass Bürger – am wahrscheinlichsten der jeweilige Prostates – und Metöken mit entsprechenden Rechten für die Organisation eines Begräbnisplatzes herangezogen wurden. Nur in sehr wenigen Fällen haben sich in den Grabbezirken, deren Zwischen- oder Rückräumen Bestattungen erhalten, denen Grabstelen mit dem Namen von Ausländern zugewiesen werden können. Oft werden sie als Sklaven identifiziert, doch lässt sich diese Interpretation in einigen Fällen durchaus anzweifeln.82 Diese Gräber besitzen deutlich bescheidenere Monumentformen und lassen sich auch als Grabstätten von Metöken interpretieren. Sie könnten Beispiele für entsprechende Arrangements zwischen Bürgern und Metöken sein.
Die oberirdische Gestaltung der Grabanlagen von Metöken und anderen Ausländern im klassischen Athen Mit Blick auf die Bewertung von Sepulkralkultur als eine charakteristische Ausdrucksform kultureller Zugehörigkeit, die auf den ideologisch-religiösen Vorstellungen einer Gemeinschaft fußt, gilt es nun nach ihrer Verbindlichkeit im Falle von Migranten außerhalb der eigenen Gemeinschaft zu fragen. Neben einer kollektiven Trauerbewältigung soll der vollzogene Ritus ja dem Verstorbenen helfen, nach den bindenden gemeinschaftlichen Vorstellungen den Übergang ins Jenseits erfolgreich zu meistern und sein dortiges Fortbestehen zu erleichtern, was eine Verbindlichkeit der Riten impliziert. Inwieweit wurden also die eigenen Grabsitten beibehalten bzw. lässt sich die Herkunft des Verstorbenen auch ohne eine Inschrift am archäologischen Material ablesen? Wie oben bereits erwähnt, ist dabei sicherlich zu berücksichtigen, wer den Verstorbenen bestattete und ob dieser dessen Sitten überhaupt gekannt haben könnte. Bei der Bewertung der archäologischen Zeugnisse ist zwischen der oberirdischen Grabgestaltung und der Grablege selbst zu unterscheiden. Gerade die am ehesten aus der Ritualpraxis resultierenden Grablegen und Opferstellen mit ihren Beigabenspektren dürften daher ideologisch gebundene Praktiken am direk82
Dazu u. a. Scholl 1996, 176–178.
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testen widerspiegeln.83 Die oberirdische Grabgestaltung diente demgegenüber als Schaffung eines Erinnerungsraums für die Hinterbliebenen und erfüllt in einem hohen Maße repräsentative wie kommunikative Zwecke mit der Umgebung und richtet sich daher auch an die regional ansässige Bevölkerung. Sie mag daher weniger verbindlich gewesen sein. Dabei lässt sich schon an dieser Stelle vorausschicken, dass bisher keine gravierend von den jeweils ortsüblichen Gestaltungsformen abweichenden Anlagen nachzuweisen sind, obwohl eine besondere Diversität in der Architektur von Grabmonumenten zwischen den unterschiedlichen griechischen Siedlungsräumen von Süditalien bis zum Schwarzen Meer existierte, wie unter anderem der von Katja Sporn herausgegebene Tagungsband zur Gestaltung klassischer griechischer Grabanlagen veranschaulicht.84 Dies bedeutet nicht, dass nicht auch der ausländischen Gemeinschaft entspringende Formen der Grabgestaltung gewählt worden sein mögen, und es scheint für diesen Fall in den Quellen sogar ganz konkrete Hinweise zu geben. Die von den antiken Autoren als abweichend von ortsüblichen Gestaltungweisen herausgehobenen Grabanlagen werden aber offensichtlich gerade wegen ihrer Andersartigkeit erwähnt, wie z. B. das Grab der Xenodike in Sikyon durch den antiken Periegeten Pausanias.85 Es dürfte sich daher um Ausnahmen gehandelt haben. Wäre dieses generell üblich gewesen, müssten bei den hohen Zahlen an Ausländern in den griechischen Poleis zu den lokalen Gewohnheiten abweichende Grabformen viel häufiger vorgekommen und daher von den jeweiligen Autoren vielleicht nicht mehr als besonders erwähnenswert empfunden worden sein. Wie bereits Johannes Bergemann hervorhob, gibt es aber auch keinerlei Anzeichen, dass Metöken mit dem Recht auf Grunderwerb gesetzlichen Einschränkungen für die Gestaltung ihrer Grabanlage unterlagen.86 So nutzten die beiden Brüder Agathon und Sosikrates aus Herakleia am Pontos mit der exponierten Lage ihres Familiengrabes und seiner aufwändigen Ausgestaltung im Kerameikos die Möglichkeit zu einer luxuriösen Selbstinszenierung, wichen dabei aber nicht von den für Athen üblichen Formen ab (Abb. 1, 22; 6. 7).87 Dazu gehören die terrassenartige Bezirksgestaltung mit Frontfassade und die darüber aufragenden Einzelmonumente, wie die zentrale Namensstele für die patriarchale Genealogie der Grabinhaber, der aufwändige Reliefnaiskos (Reliefbild, gerahmt in Form eines Antentempels) für weibliche Angehörige wie Agathons Gattin Korallion oder der monumentale Grabnaiskos für Agathon selbst. Auch die für den Reliefnaiskos gewählte Darstellung folgt den bei Bürgerfamilien üblichen Typen. Lediglich ein Detail ist am Herakleotenbezirk auffällig: Entlang der Basen der Einzelmonumente und auf dem Giebel des Reliefs der Ko83
S. dazu den Beitrag von E. Granser in diesem Band. Sporn 2013. 85 Pausanias 2, 7, 3; Stroszeck 2002/2003, 171. 86 Bergemann 1997, 138–139. 143–144. 87 Brückner 1909, 64–74.
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Abb. 6: Rekonstruktionszeichnung des Grabbezirks des Agathon und des Sosikrates aus Herakleia am Pontos (Brückner 1909, 71 Abb. 43).
Abb. 7: Frontansicht des Grabbezirks des Agathon und des Sosikrates aus Herakleia am Pontos (Photothek des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Athen, Neg.Inv.-Nr.: D-DAI-ATH-Kerameikos-05981).
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Abb. 8: Basis des Grabreliefs der Korallion im Grabbezirk des Agathon und des Sosikrates aus Herakleia am Pontos (Stroszeck 2002/2003, 172 Abb. 14).
rallion befinden sich Einlassungen für Alabastra (Salbölgefäße) (Abb. 8). Jutta Stroszeck vermutete eine typisch herakleotische Grabsitte, die vielleicht jährliche Spenderituale dokumentierte.88 Ansonsten finden sich die Alabastra in den attischen Nekropolen, wie übrigens auch in den Sarkophagen des Herakleotenbezirks,89 bei den Grablegen selbst oder bei den Brandopferplätzen. Völlig losgelöst von festen attischen Konventionen scheint auf den ersten Blick jedoch das um 320 v. Chr. entstandene Grabmal des Metöken Nikeratos aus Istros und seines Sohnes Polyxenos zu sein, das an einer exponierten Kreuzung an der antiken Hauptverbindung zum Piräus im Demos Xypete lag.90 Es handelt sich um das bisher größte bekannte Grabmonument eines Privatmannes. Doch auch wenn das mehrstöckige Grabmal durch seinen möglichen Bezug zum Mausoleum von Halikarnassos dynastischen und somit prinzipiell unattischen Vorbildern folgen könnte – wie es Juliane Israel interpretierte –, blieb es dennoch ein Bekenntnis zum athenischen Staat.91 So trägt der Unterbau einen Grabnaiskos, in dem Nikeratos, sein Sohn und dessen Diener in Haltung und Kleidung nach dem üblichen attischen Bildschema dargestellt sind. Darüber hinaus bezöge sich nach Israel die durch den Amazonenfries von Halikarnassos inspirierte Amazonomachie (Amazonenschlacht) auf die Amazonomachie des Theseusmythos (Rachefeldzug der Amazonen gegen Athen), wobei die Amazonen durch 88
Stroszeck 2001/2003, 172–173. Brückner 1910, 130–140. 90 Israel 2013. 91 Israel 2013, 56–65. 89
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den zeitgenössischen Başlyk (persische Kopfbedeckung) klare persische Züge erhielten und sowohl auf die Alexanderzüge als auch die Perserkriege Athens Bezug nehmen könnten.92 Nikeratos demonstrierte also, trotz der außergewöhnlichen Monumentarchitektur, eine enge Verbindung zu Athen, besonders aber auch seine finanziellen Möglichkeiten und damit sicherlich auch sein Engagement für den Staat, was lt. Bergemann viele wohlhabende Metöken taten.93 Auch das oben ausführlich besprochene Familiengrab des Philoxenos aus Messene weicht nicht von attischen Grabbezirken ab (Abb. 4 links). Dazu gehören die rechteckige Einfriedung, das Reliefmonument oder die Trapezai (Grabtische/ -bänke) über den Gräbern des Philoxenos und seiner Söhne. Lediglich die Ausdehnung der Anlage sticht hervor, was erneut in Richtung eines besonderen Repräsentationswillens in Bezug auf das finanzielle Potential der Familie gedeutet werden könnte. Neben diesen reich ausgestatteten Grabanlagen und aufwändigen Grabmonumenten steht eine größere Zahl einfacherer Grabmarker, die zum Teil neben der Inschrift auch aufgemalte oder flach reliefierte Bildfelder tragen. Sie sind bereits von Maria Salta und Andreas Scholl ausführlich untersucht worden.94 Auch hier folgen die von Metöken selbst gewählten Bildthemen und Darstellungstypen überwiegend den attischen Bildformeln, wie sie auch von Vollbürgern verwendet wurden. Lediglich 10% weichen geringfügig davon ab, indem die dargestellten Personen entweder eine eigene nicht attische Tracht tragen oder durch Attribute auf einen speziellen Beruf anspielen. Die Anspielung auf den Beruf – auch bei den Grabinschriften – tritt nach Salta üblicherweise ausschließlich bei Metöken und Sklaven auf. Sofern die Aufstellungsplätze dieser etwas schlichteren Grabmarker bekannt sind, standen sie direkt am Grab oder aber, auch wie im Falle der Glykera aus Knossos oder der Dorkas aus Sikyon, über kleinen und flachen Tumuli (Grabhügel). Für die schlichtere Anlage der Familie des Onesimos, Sohn des Onetoros aus Lesbos, wurde abermals ein Erdhügel mit einer Stelenbekrönung gewählt.95 Es liegt im Rückraum des Gräberfeldes zwischen Heiliger Straße und Gräberstraße im Kerameikos an einem Nebenweg. Auch bei Tumuli handelte es sich um keinen ungewohnten Anblick in attischen Nekropolen. Doch gehören sie zu allgemeingriechischen Anlagenformen auch außerhalb Attikas. Demnach hoben sich athenische Metöken in der Gestaltung ihrer Gräber nicht von den Vollbürgern ab.96 Nikeratos aus Istros bediente sich sogar einer demonstrativen Übersteigerung dieser Formen. Man nutzte seine Möglichkeiten, um scheinbar eine besondere Verbundenheit zum und eine Form von Integrati92
Israel 2013, 63–65. Bergemann 1997, 146–148. 94 Salta 1991; Scholl 1996. 95 Schlörb-Vierneisel 1966, 83–85 Kat. 141–145. 96 Bergemann 1997, 139. 93
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Abbildung 9: Blick in die klassische Gräberstraße im Kerameikos (Photothek des Archäologischen Instituts Göttingen).
on in das athenische Lebensumfeld zur Schau zu stellen. Eigenen Konventionen folgten sie in der sichtbaren Ausgestaltung offenbar nicht. Allerdings gilt zu bedenken, dass für viele Herkunftsorte der Metöken, wie z. B. Milet oder Herakleia am Pontos, bisher kaum aussagekräftige Studien zu den Nekropolen existieren, die einen sinnvollen Vergleich ermöglichen. Andreas Scholl deutete diese Angleichung in Richtung einer Vorbildfunktion der Vollbürger bzw. einer Empfindung des Metökenstatus als Makel, den man nur ungerne zur Schau tragen würde.97 In diese Richtung weise auch die überwiegende Menge an Grabinschriften selbst, in denen abweichend zu allen anderen öffentlichen Lebensbereichen ausschließlich der ursprüngliche Herkunftsort des Metöken und nicht sein aktueller Wohnsitz genannt wird, der ansonsten das Demotikon der Vollbürger bei Metöken ersetzt. Demnach haben sich Metöken in ihrer Selbstdarstellung soweit wie möglich dem Ideal des Vollbürgers angenähert, was einen Wunsch nach sozialem Aufstieg zum Ausdruck bringt. Nach diesem Gesichtspunkt sei auch die Angabe des Herkunftsortes auf den Grabstelen zu verstehen, da diese – obwohl sie explizit auf den Ausländerstatus hinweist – den Metöken immerhin als Vollbürger 97
Scholl 1996, 174–176.
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einer anderen Polis ausweisen bzw. aufwerten würden, in der ja auch die familiäre Genealogie wurzelte.98 Lediglich im Falle der Ehrung eines Metöken durch die Isotelie fehlt die Angabe des Herkunftsortes in den Grabinschriften. Jochen Bleicken interpretierte dieses als ein fehlendes Gruppen- oder Identitätsbewusstsein von Metöken.99 Auch die auf Staatskosten errichteten Grabanlagen besitzen nach heutigem Kenntnisstand keine bzw. vielleicht auch erst recht keine auffälligen Abweichungen von attischen Gepflogenheiten. So erinnert die für die beiden in Athen verstorbenen Gesandten Thersandros und Simylos aus Kerkyra um 375 v. Chr. auf Staatskosten errichtete Stele (Abb. 1, 11a; 9 vorne. 10) an einfache attische Grabstelen und mit dem separat gearbeitetem Bildfeld mit Giebel an Urkunden- oder Bildfeldstelen, wie sie unter anderem auch in Heiligtümern, der Agora oder auf dem eigentlichen Athener Staatsfriedhof begegnen, was den staatlichen Hintergrund der Bestattung unterstrichen haben könnte.100 Eindeutige Auskunft über die Herkunft der Verstorbenen geben hier – wie bei den privaten Grabmonumenten – also nur die Inschriften, bei denen, wie im Fall des Pythagoras aus Selymbria (Abb. 1, 10; 11), der Dialekt des Verstorbenen berücksichtigt worden sein kann.101 Ein Beispiel für eine solche Inschrift ist das Staatsgrab der Lakedaimonier im Kerameikos (Abb. 1, 63; 11).102 Es besitzt durch den Bürgerkrieg am Ende des 5. Jh. v. Chr. einen für Athen besonders prekären militärischen Hintergrund. Seine exponierte Lage direkt vor dem Haupttor Athens, für die ältere Anlagen weichen mussten, ist sicherlich als Propagandahieb gegen die athenische Demokratie zu werten. Immerhin unterstützten die lakedaimonischen Truppen die von Sparta nach dem Peloponnesischen Krieg eingesetzten Oligarchen gegen die Demokraten. Der Hauptkörper des Baus scheint sich an dem auch bei athenischen Polyandria – also den attischen Gefallenengräbern – gebräuchlichen Anlagentypen zu orientieren. Zumindest brachten die Grabungen in der Odos Salaminos ähnliche langgestreckte Bauten zum Vorschein, die als Polyandria gedeutet werden.103 Doch muss offen bleiben, ob solche Typen nicht als überregional gebräuchlich 98
Allerdings mag vielleicht zu bedenken sein, dass mit dem Tode eines Metöken ja auch sein Wohnort erlischt, dessen Nennung ja ohnehin nicht wirklich etwas über ihn oder seine Familie aussagt. Anders als die bloße Nennung des Wohnortes verweist das Demotikon eines Vollbürgers ja auf seine Abstammung – zu der auch eine ortsbezogene Genealogie gehören mag – und gemeinschaftliche Zugehörigkeit. Insofern würde die Nennung des Herkunftsortes bei Metöken ja auf eine Genealogie in einer anderen Polis hinweisen. 99 Bleicken 1994, 88. 100 Knigge 1972, 591–601. 101 Knigge 1972, 584–589; Stroszeck 2002/2003, 171; eine Bestattung konnte dem Monument nicht zugewiesen werden, weshalb man u. a. vermutet, eine Urne des Pythagoras könnte in dem auffällig hohen Stufensockel eingelassen sein. Ähnliche Monumente, in die tatsächlich eine Urne eingelassen ist, finden sich auch auf Paros (Zapheiropoulou 2013, 11–119). 102 Zuletzt Stroszeck 2006, 101–104. 103 Stoupa 1997.
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Abb. 10: Grabstele der Gesandten Thersandros und Simylos aus Kerkyra (Knigge 1972, 592 Abb. 11).
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Abb. 11: Grabmonument des Pythagoras aus Selymbria (Photothek des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Athen, Neg.-Inv.-Nr.: D-DAI-ATHKerameikos-05999).
angesehen werden müssen, wie Funde aus Ambrakia zeigen.104 Unüblich für diesen Typus in Athen scheinen am Lakedaimoniergrab jedoch vor allem die später 104
Vgl. Angeli 2013, 181. 184 Abb. 6.
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Abb. 12: Rekonstruktionszeichnung des Grabmals der Lakedaimonier im Kerameikos (Knigge 1988, 161 Abb. 156).
in Richtung Norden angefügten Erweiterungen zu sein. Den Hauptkörper der Anlage krönt die Inschrift, die das Monument als Grab der Lakedaimonier ausweist und die Namen der Bestatteten nennt. Dabei wurden allerdings das spartanische Alphabet und die spartanische linksläufige Schreibweise verwendet. Nach den zuvor zusammengetragenen Beispielen von Grabanlagen für Metöken lassen sich keine besonderen Anhaltspunkte finden, dass die Gestaltung der Anlagenarchitektur anderen, eindeutig von Grabanlagen athenischer Bürger abweichenden Formen folgt. Vielmehr besteht bei Metöken der Wunsch, sich dem Ideal eines Vollbürgers anzunähern und dieses auch u. U. und bei den entsprechenden finanziellen Möglichkeiten demonstrativ zur Schau zu stellen. Da für die Metöken, die sich solch luxuriöse Grabanlage errichteten, die Verleihung des Rechts auf Grunderwerb in Folge bestimmter Wohltaten sehr wahrscheinlich ist, implizieren solche Anlagen dieses Privileg zwangsläufig und visualisieren eine besondere Verbundenheit zum Staat und die Rolle der jeweiligen Metökenfamilie innerhalb der Polisgemeinschaft. Für die Staatsgräber von Ausländern lassen sich ebenfalls keine aus anderen Regionen übernommenen Formen aufzeigen. Jedoch geht es hier ohnehin nicht um die Demonstration einer Assimilation. Auf Grund der zumeist politischen Hintergründe für den jeweiligen Aufenthalt des oder der Verstorbenen war dieses auch gar nicht angestrebt. So führen die Inschriften den Grund der Anwesenheit der jeweiligen Person in Athen klar vor Augen und können auch durch sprachliche Besonderheiten die fremde Herkunft betonen. So wie im Fall der Lakedaimonier, deren Herkunft durch die Verwendung des spartanischen Alphabets und der Schreibrichtung demonstrativ hervorgehoben wird. Wie das Staatsgrab am dritten Horos (Grenzstein) im Kerameikos aber verdeutlicht, können Staatsgräber allerdings grundsätzlich exzeptionelle und singuläre Architekturformen annehmen.105 105
U. a. Stichel 1998.
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Zur Identifizierbarkeit der Grablegen von Metöken und anderen Ausländern Im Gegensatz zu den Grabmonumenten bleibt zu fragen, ob denn zumindest bei der Bestattung selbst und den dabei vollzogenen Grabriten die Herkunft des Verstorbenen und damit verbundene Vorstellungen berücksichtigt wurden. Dass der persische Sklave Dioskurides explizit in seiner Grabinschrift darum bitten muss, nach den eigenen persischen Grabriten ungewaschen beigesetzt zu werden, mag allerdings ein Hinweis darauf sein, dass zumindest Sklaven in der Regel nach den ortsüblichen Riten beigesetzt wurden.106 Jutta Stroszeck konnte plausibel machen, dass nur das östlich neben der Stele für die beiden Gesandten aus Kerkyra gelegene Grab 1 als deren Doppelgrab zu identifizieren ist.107 Das westlich davon gefundene Grab 2 wies sie der Stelenbasis für den Gesandten Selinos, Sohn des Foko aus Rhegion, zu, die bereits Ursula Knigge mit einem zum Grab 2 benachbart gelegenen Monumentfundament verband.108 Selinos war um ca. 433 v. Chr. für Verhandlungen zu einem Bündnisvertrag, dessen Wortlaut durch eine andere Inschrift überliefert ist, nach Athen gekommen und dort offenbar verstorben und auf Staatskosten bestattet worden.109 Sein Grab enthielt Trink- und Kochgefäße, eine Kanne, eine Lekythos (Salbölgefäß), eine Lekane (Schüssel) und eine Strigilis (Schabeisen zur Körperreinigung).110 Bei zwei Gefäßen handelt es um keine attischen Produkte.111 Sie mögen Gegenstände aus dem persönlichen Besitz des Verstorbenen sein, da es durchaus üblich war, mit eigenen Trink- aber auch Salbgefäßen zu reisen.112 Aufmerksamkeit erweckte für Jutta Stroszeck die Lekane, die zwar attisch ist, aber als Grabbeigabe in Attika unüblich war und auf ein spezielles Reinigungsritual hinweisen könnte.113 Sie stellte daher die Frage, ob mit ihr bei der Auswahl der Bei106
Stroszeck 2002/2003, 173; Anthologia Graeca 7, 162. Ursula Knigge hielt noch beide der jeweils östlich und westlich der Stele gefundenen Bestattungen, Grab 1 und 2, zum Monument zugehörig (Knigge 1972, 591–601). Die östliche Grabgrube 1 war weitestgehend zerstört, während das westliche Grab 2 eine ungestörte Bestattung aus der Zeit um 430 v. Chr. enthielt. Daher wies Ursula Knigge die beiden Diplomaten einer Gesandtschaft unmittelbar vor dem Peloponnesischen Krieg zu. Die Stele sei auf Grund der Brisanz der Gesandtschaft nach der Niederlage Athens auf Druck Spartas entfernt und erst mit der Gründung des zweiten Attisch-Delischen Seebundes und eines neuen Bündnisvertrages mit Kerkyra erneuert worden. Jutta Stroszeck konnte allerdings überzeugend darlegen, dass nur die stark gestörte, in ihrer ursprünglichen und sehr großen Dimension aber noch erkennbare östliche Grabgrube als Doppelgrab der beiden Gesandten mit der Stele zu verbinden ist (Stroszeck 2002/2003, 168–170). 108 Stroszeck 2002/2003, 168–170; Knigge 1972, 589–591. 109 Stroszeck 2002/2003, 168. 110 Knigge 1972, 602–605. 606 Abb. 25, 1–2. 111 Knigge 1972, 602 Kat. GS 2, 6; 603 Kat. GS 2, 13. 112 Stroszeck 2002/2003, 174–175. 113 Knigge 1972, 604 Kat. GS 2, 19; 606 Abb. 25, 1–2; Stroszeck 2002/2003, 169–170; an dieser Stelle ist es leider nicht möglich einen umfangreich Einblick in das Spektrum der in Athen und 107
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gaben durch einen zuständigen attischen Würdenträger auf Grabriten des Verstorbenen Rücksicht genommen worden ist. Dies wäre auch gerade durch den Umstand denkbar, dass Selinos ja sicherlich mit weiteren Begleitpersonen der Gesandtschaft nach Athen gekommen war, die sich für die Durchführung des speziellen Ritus hätten einsetzen können. Nachweisbar ist ein solcher spezieller Ritus für die oben bereits genannten, 403 v. Chr. gefallenen Spartaner. Im Gegensatz zum Kernbau des Lakedaimoniergrabs, zeigen die Zeugnisse der Begräbnisfeiern klare Bezüge zu Sparta. Die bestatteten Feldherren waren gemäß lakonischer Sitte getrennt nach Kampfeinheiten und eng in ihre Mäntel eingewickelt beigesetzt worden, worauf die Fundlage der Gebeine hindeutet.114 Ihre Köpfe ruhten auf Kopfsteinen. Wie Jutta Stroszeck aufzeigte, weist auch die in der Füllerde des Grabbaus gefundene Keramik auf die lakonische Identität der Bestatteten und womöglich auch auf spartanische Rituale hin.115 Dazu gehören die durch lakonische Formen angeregten attischen Acrocups (ein bestimmter Typus von Trinkschalen) sowie lakonisch rotfigurige Keramik. Letztere zeigt nach spartanischer Sitte oberlippenbartlose Krieger und junge Epheben beim spartanischen Kultfest der Gymnopaidiai. Auch in diesem Fall dürften die Gefäße und Rituale durch die vor Ort anwesenden spartanischen Militärs bestimmt und durchgeführt worden sein. Bei der ebenfalls oben erwähnten archaischen Klinenbestattung unter dem Südhügel – die auf Grund der ausschließlich verwendeten ostionischen Lekythen und dem Reichtum der gesamten Anlage als Bestattung eines hohen ausländischen Gastfreundes der Tyrannenfamilie der Peisistratiden gedeutet wird – mögen ebenfalls noch weitere mitgereiste Ostionier aus dessen Gefolgschaft anwesend gewesen sein, die auf die Durchführung eines speziellen Rituals hätten bestehen können. Das angeführte Beispiel leitet zu weiteren Gräbern über, deren Beigabenspektren zumindest im Fabrikat der verwendeten Gefäße und damit wohl auch mit deren Inhalt von attischen Standards abweichen.116 Hier verwies Jutta Stroszeck auf das archaische Grab VD 7 vor dem Dipylon, das ebenfalls eine ostionische LeAttika häufig anzutreffenden Grabbeigaben des 5. und 4. Jh. v. Chr. zu geben. Üblich sind Sets verschiedener Salb- und Trinkgefäße. Daneben kommen individuellere Grabbeigaben, wie Schmuck, Kosmetikutensilien oder andere Gegenstände, vor. Zum Ende des 4. Jh. und im Beginn des 3. Jh. lässt sich ein grundsätzlicher Rückgang der Spektren beobachten. Hier herrschen vor allem sogenannte Tränenfläschen (Unguentarien) vor bzw. treten nun auch viele beigabenlose Bestattungen auf. Einen Überblick über die gängigen Spektren geben u. a. Kübler 1976; Knigge 1976; Schlörb-Vierneisel 1966; Kovacsovics 1990. 114 Stroszeck 2006, 103–107. 115 Stroszeck 2006, 107–116. 116 Stroszeck 2002/2003, 174–176, macht zu Recht darauf aufmerksam, dass eine solche Beurteilung schwierig ist, da auch Importe nicht-attischer Produktionen in die Gräber attischer Bürger gelangen konnten. Sie zieht aber, vor allem in den Fällen, bei denen ausschließlich oder überwiegend nicht-attische Gefäße angetroffen wurden, eine ausländische Identität des Verstorbenen in Erwägung.
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kythos und drei Lydia (Salbgefäße) nichtattischer Produktion enthielt.117 Demgegenüber bargen das Grab WP 26 lediglich eine einzige korinthische Lekythos – vermutlich aus dem Privatbesitz des Verstorbenen – und das Grab WRB 28 unter einem Tumulus des 5. Jh. v. Chr. an der Heiligen Straße, neben schwarzgefirnisten Tassen und einem Elfenbeinkästchen ausschließlich korinthische Lekythen.118 Am Fuße des Grabhügels fanden sich zwei korinthische Kannen. Der Tumulus wurde für drei Sarkophaggräber aufgeschüttet, von denen das älteste ausschließlich attische Lekythen enthielt.119 Im Falle der Salbgefäße scheint es offensichtlich, dass es weniger um die Herkunft der Gefäße aus der möglichen Heimat als um deren Inhalt, also die für die rituelle Salbung des Verstorbenen verwendeten Öle, gegangen sein wird, was somit tatsächlich auf wichtige Elemente des Grabritus abzielte. Bei den auf diese Art herausgestellten Grablegen handelt es sich allerdings um eine deutliche Minderheit innerhalb des Gesamtspektrums an Gräbern der Kerameikosnekropole, wo – gemessen an der Zahl der dort aufgefundenen Grabinschriften – eine große Menge an Ausländern bestattet worden sein muss. Von diesen gelingt lediglich im Fall der beiden Staatsgräber für Selinos und die Lakedaimonier auf Grund der erhaltenen Grabinschriften eine Identifizierung der mit – zumindest zum Teil – nicht attischen Beigaben ausgestatteten Begräbnisse als Gräber von Ausländern. Bei diesen Personen handelt es sich allerdings gerade um nicht dauerhaft in Athen Ansässige. Demgegenüber sticht hervor, dass besonders bei den Metökenfamilien aus dem Messenier- und Herakleotenbezirk keine markanten Abweichungen im Beigabenspektrum der Grablegen festzustellen sind, obwohl gerade hier weitere Mitglieder der eigenen Gemeinschaft in Athen anwesend waren und andere Beigaben und Substanzen für abweichende Rituale hätten besorgen und anwenden können. Dies würde zunächst den Schluss erlauben, dass – wie auch in der oberirdischen Grabgestaltung – eine Angleichung an attische Sitten stattgefunden haben kann. Allerdings mahnt der Herakleotenbezirk bei solchen Einschätzungen zur Vorsicht. So könnten nach Jutta Stroszeck die in die Monumente des Bezirks eingelassenen Alabastra auf spezielle aus Herakleia übernommene Rituale des Grabkultes hindeuten. Wären die Gefäße nicht auf so „unattische“ Weise in die Monumente eingelassen worden, wäre eine solche rituelle Abweichung mit Hilfe der weiteren archäologischen Funde aus den Gräbern des Bezirks nicht erkennbar. Es zeigt sich also, dass wichtige rituelle Handlungsabläufe offenbar nicht von der Herkunft der Gefäße und mitunter auch nicht der Herkunft der verwendeten Substanzen abhängig waren und somit am archäologischen Befund kaum auf die herkömmliche Weise ablesbar sind.120 Dass Gefäße und Substanzen in manchen Fällen aus der Heimat stamm117
Stroszeck 2002/2003, 176. Stroszeck 2002/2003, 175; Knigge 1975, 456 Abb. 8. 119 Knigge 1975, 456 Abb. 1. 7. 8. 120 Stroszeck 2002/2003, 175, betonte, dass der Umstand modebedingter Importe nach Athen 118
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ten, mag dabei vielleicht nur eine emotionale Wertsteigerung des Rituals bewirkt haben.121 So waren ja auch die korinthischen Lekythen aus Grab WRB 28 mit attischen Tassen vergesellschaftet. Das vermeintliche Grab des Selinos aus Rhegion wies ebenfalls bei dem möglicherweise ritualsignifikanten Utensil – der Lekane – ein attisches Fabrikat auf. Demnach deutet sich an, dass die Gefäße und ihre Vergesellschaftung nach funktionalen Kriterien, zu der auch ihre Positionierung am Leichnam gehören kann, interpretiert werden müssen. Unter Umständen ließen sich dann besser ritualbezogene Unterschiede feststellen. Trotz zahlreicher Publikationen von Grabkontexten fehlt eine systematische und statistikbezogene Auswertung in diese Richtung. Das würde allerdings unter anderem eine entsprechende Aufnahme aller bekannten Grabkontexte griechischer Nekropolen erfordern. Der Kenntnisstand zu außerattischen Nekropolen ist aber auf Grund der Forschungs- und Publikationslage ohnehin selektiv und kaum umfassend, so dass Vergleiche grundsätzlich erschwert werden.
Fazit Die sich in Athen aufhaltenden Ausländer lassen sich grob in drei Gruppen einteilen: Gäste mit temporärem Aufenthalt, dauerhaft ansässige Metöken und Sklaven. Gerade im Fall der Metöken distanzierte der Status diese Gruppe von Ausländern durch eingeschränkte Rechte von den Vollbürgern, obwohl sie einen fundamentalen ökonomischen Beitrag zum allgemeinen Staatswohl leisteten. Von den Metöken selbst wurde dieser Status als Makel empfunden, weshalb sie sich dem Ideal des Vollbürgers soweit erkennbar in allen Lebensbereichen zumindest nach außen anzunähern suchten. Da das ideelle Ziel der Erwerb des vollen Bürgerrechts war, kommt auf diese Weise wohl der Wunsch zum Ausdruck, dadurch die Identifizierung mit der athenischen Gesellschaft und dessen Werten zu demonstrieren. Dieses gilt nach den hier zusammengestellten Beispielen auch in ihrer Sepulkralkultur. Die oberirdische Gestaltung der Anlagen sticht zwischen den Anlagen athenischer Bürger nicht auf Grund ortsfremder Gestaltungsweisen hervor, die für außerattische Nekropolen charakteristisch wären. oder Exporte attischer Waren, die Identifikation eines Verstorbenen mittels der Herkunft der Beigaben erschwert. So könnte natürlich auch in Herakleia am Pontos Einheimischen attische Keramik als Beigaben mitgegeben worden sein, wodurch die Verwendung entsprechender Keramik in Athen durch die Herakleoten keinen Bruch mit den heimatlichen Gepflogenheiten bedeuten muss. 121 U. U. stammen sie aber tatsächlich aus dem Privatbesitz des Verstorbenen, der sie im Rahmen eines kurzzeitigen Besuchs in Athen dabei hatte. Dann wären solche Grablegen eventuell sogar konkreter als Bestattungen von Durchreisenden oder privaten wie staatlichen Gästen zu interpretieren und nicht als Metöken, deren privater Besitzstand in Athen vermutlich überwiegend dem ortsüblichen bzw. verfügbaren Objektspektrum entsprochen haben wird.
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Stattdessen werden die verwendeten ortsüblichen Formen eher noch übersteigert. Lediglich durch die Grabinschriften werden die Personen als Ausländer ersichtlich. Auch bei den Bestattungen lassen sich keine auffälligen Abweichungen von in Athen üblichen Beigabenspektren aufzeigen. Demnach scheint man nicht an Bräuchen und Vorstellungen, die der Tradition der eigenen Gemeinschaft entstammen, festgehalten zu haben. Allerdings besteht hier in der archäologischen Forschung ein erhebliches Forschungsdesiderat, das adäquate Vergleiche erschwert. Auch die Grabanlagen für Staatsgäste und Verbündete der Athener lassen keine Auffälligkeiten erkennen, die als bewusste Annäherung an ausländische Grabtypen interpretiert werden könnten. Lediglich bei den aufgezeigten Grabriten gab es Hinweise, dass tatsächlich fremde Bräuche berücksichtigt worden sein können. Abermals charakterisiert allein die Grabinschrift die Bestatteten als Ausländer.
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Clarissa Blume-Jung „Fremde“ in Rom Zur Bestattung von nicht-stadtrömischen und nicht-italischen Personen in der Metropole im 1. und 2. Jh. n. Chr.
Zusammenfassung Die Gesellschaft der Stadt Rom im 1. und 2. Jh. n. Chr. war multikulturell geprägt. Außer Bürgern mit einer langen stadtrömischen, näher regionalen oder italischen Abstammung, lebten hier zahlreiche Sklaven und Freigelassene sowie Menschen, die aus freien Stücken und beruflichen oder edukativen Gründen in die Stadt gezogen sind, die aber aus Städten und Regionen außerhalb Italiens stammten. Wie in unserer heutigen Welt variierte der Grad der Identifikation mit der gesamtrömischen und der explizit stadt-römischen Kultur jedoch sehr stark. Das Ziel des Beitrages ist es, mit einem Blick auf das Bestattungswesen der Stadt im 1. und 2. Jh. n. Chr. einen Einblick in die Vielfältigkeit des Spektrums an Identitäten zu erarbeiten und zu gewährleisten. Die meisten der Gräber „Fremder“ in Rom passten sich dem stadtrömischen Usus an. Gräber anderer Fremder orientierten sich dahingegen in ihrer Form, Sprache oder dem Inhalt der Grabbeschriftung an den Bräuchen der jeweiligen Herkunftsregionen der verstorbenen Personen. Von besonderem Interesse ist das Ergebnis, dass keine Bevölkerungsgruppe, wie Personen einer Herkunft oder einer Religion ein gesondertes Bestattungsareal zugeteilt wurde.
Einleitung Blicken wir auf die heutigen Friedhöfe in Deutschland, sehen wir vor allem Reihengräber sowie Urnenbestattungen in sogenannten Columbarienwänden. Die Bodengräber sind geprägt von einem meist sehr einheitlichen Erscheinungsbild. Die Grabgrößen sind genormt, hängen von der Anzahl der geplanten Bestattungen ab und auch die Grabsteine ähneln sich in ihrer Größe, Form und Oberflächenbehandlung. Die Nischen der Columbarienwände sind umso ähnlicher. Diese Homogenität auf unseren Friedhöfen ist das Resultat einer Friedhofsreform im späten Zeitalter der Aufklärung, also Ende des 18., Anfang des 19. Jh.1 Als die Kirchhöfe als Begräbnisstätten geschlossen und aus hygienischen Gründen neue Friedhöfe außerhalb der Stadt gegründet wurden, entwickelte sich die 1
Fischer 1996, 21–45. 58–59. 136–140. 183.
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Bestattung in Einzelgräbern. Die Gräber wurden zunehmend systematisch der Reihe nach und damit abhängig vom Todesmoment und nicht von der Familienzugehörigkeit oder Konfession angelegt. Im Feld der Reihengräber finden sich jedoch nicht nur Bestattungen von Personen hiesiger Abstammung, sondern auch von Mitbürgern mit einem anderen kulturellen Hintergrund. Viele von ihnen reihen sich mit ihren Gräbern unauffällig ein. Einige andere variieren das typische Reihengrab durch kleine Details, die mit ihrer spezifischen kulturellen Prägung zusammenhängen. Ein Beispiel ist etwa die Anbringung von kleinen Medaillons mit den Portraits der Verstorbenen auf dem Grabstein – ein Usus, der vor allem aus dem südeuropäischen Raum stammt und in großen Bereichen Deutschlands weniger üblich ist. Wieder andere wählen eine vergleichsweise pompöse Grabform, die aufgrund der Maße mit der Friedhofsordnung konform geht, aber deutlich in der Wirkung von den anderen Grabmalen abweicht. Suchen wir auf den hiesigen Friedhöfen explizit nach Personen mit „Migrationshintergrund“, finden wir unter ihren Gräbern ein breites Spektrum an Grabgestaltungen. Die Grabmale können sowohl schlichte Grabsteine tragen, wie sie für Reihengräber üblich sind, als auch Formen aufweisen, die entweder aus der Bestattungskultur des jeweiligen Herkunftslandes stammen oder sich aber unter der Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund vor Ort entwickelt hat. So orientieren sich etwa die Gräber der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland in ihrer Gestaltung nur selten an typisch arabischen oder türkischen Vorbildern. Es entwickelte sich stattdessen eine neue und sehr heterogene Palette an Grabmalen, die zum Beispiel Grabsteine in Herzform einschließt, oder Grabstelen, die von zwei Minaretten gerahmt werden. Die Beschriftung kann im lateinischen Alphabet erfolgen, oder aber etwa auch im arabischen oder kyrillischen. Außer der deutschen Sprache werden für Sprüche auf den Grabsteinen auch die Sprachen der Herkunftsländer oder der Religionsschrift verwendet. Alle Kombination von Grabform, Alphabet und Sprache kommen vor. Wie sich der gemäß dem Aufsatztitel sogenannte „Fremde“ bestatten lässt, hängt von den finanziellen Mitteln ab, von den rechtlichen und organisatorischen Möglichkeiten, von dem Wissen der Steinmetze um spezielle Formen, Sprachen und Schriftzeichen, und vor allem vom Grad der Identifizierung mit der einen oder der anderen Kultur. Dasselbe Phänomen eines großen Spektrums an Bestattungen von „Fremden“ findet sich im kaiserzeitlichen Rom. Unter Fremden werden in diesem Aufsatz diejenigen zusammengefasst, die weder in der Stadt Rom, noch im römischen Kerngebiet Italiens geboren wurden, sondern aus der Ferne zugezogen sind. Gleichermaßen können sie auch Kinder von Sklaven oder Zuwanderern sein, die trotz ihrer eigenen Geburt in Rom zumindest teilweise durch die Elternkultur geprägt sind. Ihre eigene Herkunft bzw. die der Eltern konnte durchaus innerhalb der Grenzen des Imperium Romanum liegen. Rein rechtlich konnte es sich bei die-
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sen Personen daher auch um römische Bürger handeln. Ob sie sich selbst in der Stadt Rom „fremd“ fühlten oder als „Fremde“ wahrgenommen wurden, hing vom Einzelfall ab und war, wie heute, von einer Vielzahl von Bedingungen abhängig. Es ist nicht das Anliegen des vorliegenden Aufsatzes, die genaue Identität des Einzelnen als römisch oder nicht römisch zu interpretieren, sondern diejenigen Individuen hervorzuheben, die vom typisch stadtrömischen Bestattungsbrauch abweichende Grabmale wählten. Die römische Identität in der Stadt Rom, in Italien und im Rest des Imperiums zu definieren, stellt ein eigenes Forschungsdesiderat dar. Bevor im Folgenden Beispiele von Gräbern von Personen mit einer nicht-stadtrömischen oder nicht-italischen Herkunft beleuchtet werden, sollen zunächst typisch römische Grabsteine und Columbarieninschriften vorgestellt werden.2
Typische Gräber in Rom im 1. und 2. Jh. n. Chr. Die Bestattungsareale Roms im 1. und 2. Jh. n. Chr. waren nicht einheitlich, sondern variierten in der Prominenz ihrer Lage, ihrer Erstreckung, ihrer Strukturierung und ihrer Bebauung. So gab es etwa Bestattungen entlang der großen Ausfallstraßen der Stadt (wir sprechen in diesen Fällen von Gräberstraßen), Nekropolen, die meist in der Nähe von aber nicht direkt an einer der Ausfallstraße lagen und sich über eine größere, durch ein Wegenetz strukturierte Fläche erstreckten, und auch simple Gräberfelder, die weiter entfernt von den Ausfallstraßen platziert waren und vor allem einfachste Bodenbestattungen aufnahmen, während die beiden anderen Bestattungsareale von größeren Grabmonumenten geprägt waren. Auch an Grabformen gab es ein großes Spektrum. Die monumentalsten Gräber waren begehbare Architekturen, die oft einer Vielzahl an Bestattungen dienten.3 Sie konnten entweder einer einzelnen Familie gehören oder aber einer Person oder Institution, welche die einzelnen Grabplätze im Grabbau an verschiedene Individuen oder Familien verkaufte. Darüber hinaus gab es verschiedene kleinere begehbare Grabhäuschen für wenige Bestattungen einer Familie und kleine, nicht begehbare Grabarchitekturen, wie Tombe a Forno, Cupa-Gräber oder Aschenaltäre, die Urnen beherbergten oder über einer oder mehreren Brand2
Die Multikulturalität in Rom zeigte sich in allen Bevölkerungsschichten. Siehe etwa für eine Diskussion einer nicht-römischen Identität und der Rolle einer nicht-römischen Herkunft im Kaiserhaus: Lichtenberger 2011. Siehe hier auch die Diskussion des Forschungsstandes zu vielfältigen Aspekten der Frage nach der römischen Identität – z. B. Lichtenberger 2011, 11–12. 170–171. Anm. 926. 3 Für monumentale Grabbauten siehe etwa die Via Appia, die Via Latina oder die Nekropole nahe der Via Triumphalis. Für letztere siehe zum Beispiel: Liverani et al. 2010.
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oder Körperbestattungen errichtet waren.4 Von der breiten Masse wurden Brand- und Körperbestattungen gewählt, die direkt in der Erde beigesetzt wurden und nur durch eine Grabstele und möglicherweise eine ephemere Grabgestaltung, wie mit einer Holzrahmung oder Bepflanzung, markiert und geschmückt waren.5 Bei vielen, vor allem einfachen Gräbern, müssen wir zudem mit der Verwendung von hölzernen Grabstelen rechnen. Dass es Grabbegrenzungen und wohl auch klare Grabbenennungen gegeben haben muss, zeigen verschiedene Indizien, wie die Belegung von Gräberfeldern ohne Überschneidungen von Grablegen und das Vorkommen von steinernen Stelen, die das Verlangen nach der genauen Benennung der verstorbenen Person im einzelnen Bodengrab unterstreichen. Erhalten haben sich jedoch ausschließlich Grabinschriften auf steinernen Stelen oder Tafeln. Die Art, wie sie angebracht werden, die Form und Gestaltung der Stelen und Tafeln sowie der Aufbau und Wortlaut der Inschriften selbst ist sehr einheitlich. Die meisten Grabstelen haben ein schmales und in die Höhe längliches Format. Sie können oben zum Beispiel gerade, rund oder spitz abschließen oder sind durch einen aufwendigeren Abschluss bekrönt, wie durch Pseudoakrotere oder -pulvini. Die Inschriftentafeln, die an Urnennischen in Columbarien angebracht wurden, sind in den meisten Fällen horizontale Balken, in einigen Fällen aber auch kleine oder größere rechteckige Tafeln. Der Großteil der Grabinschriften wird seit der Mitte des 1. Jh. n. Chr. durch die Abkürzung D M bekrönt.6 Sie steht für Dis Manibus oder Di Manes und stellt die Widmung des Grabes an die Totengeister und explizit die Seele des Verstorbenen dar. In einigen Fällen ist statt der Abkürzung die komplette Formel verwendet. Unter der Anrufung der Manen folgen verschiedene Informationen, die in unterschiedlicher Reihenfolge genannt werden konnten. Hierbei handelt es sich um den oder die Namen der hier bestatteten Person oder Personen, oft die Angabe ihres Status als Sklaven oder Freigelassene, manchmal ihr Beruf und meist das von ihnen erreichte Lebensalter (gerne auch mit der Angabe der Monate, Tage und in seltenen Fällen auch der Stunden).7 Oft werden die Verstorbe4
Für die Vielfalt der kleineren Grabmonumente siehe beispielsweise die Nekropole nahe der Via Triumphalis oder von der Isola Sacra: Liverani et al. 2006; Liverani et al. 2010; Baldassarre et al. 1985; Angelucci et al. 1990. 5 Siehe zum Beispiel die Gräberfelder an der Via Grottaperfetta, der Via Serenissima oder dem Bezirk Casal Bertone: Pagliardi et al. 2002–2003; Buccellato et al. 2008; Catalano et al. 2008. 6 Aus der Zeit der Republik gibt es noch keine Beispiele von Grabinschriften mit einer Widmung an die Manen vor der Kaiserzeit. Zum wahrscheinlichen Einsetzen der Anrufung der Dis Manibus in der Mitte des 1. Jh. n. Chr.: Steinby 1973, 113–114; Solin 1971, 35–36 Anm. 1. 7 Siehe etwa die römische Grabinschrift für Eutyche (Epigraphic Database Roma [EDR] 029641), die 7 Jahre, 30 Tage und 11 Stunden lebte und am 4. Tag vor den Nonen des Februar verstarb (also am 2. Februar nach unserer Zeitrechnung). Das Sterbejahr ist nicht genannt. Dass das Sterbedatum mit angegeben wird, ist äußerst ungewöhnlich. Zu finden ist die In-
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Typischer Aufbau einer römischen Grabinschrift im 1. und 2. Jh. n. Chr. • D(i) M(anes) / D(is) M(anibus) • Name der bestatteten Person(en) • Oft Status der bestatteten Person(en) (Sklaven, Freigelassene) • Manchmal Beruf der bestatteten Person(en) • Meist Alter der bestatteten Person(en) • Oft Epitheta • Namen und oft Status der Person(en), die das Grab besorgen ließen Schematischer Aufbau einer typischen römischen Grabinschrift, die nicht zu Lebzeiten, sondern nach einem Todesfall erstellt wurde.
nen zudem mit Epitheta ornantia gelobt, bei denen es sich jedoch nicht um besonders individuell gewählte Worte handelt, sondern um eines von einer Gruppe immer wieder formelhaft verwendeter Adjektive im Superlativ, wie zum Beispiel bene merenti (dem/der Wohlverdienten), carissimo/ae (dem/der Teuersten), dulcissimo/ae (dem/der Süßesten), optimo/ae (dem/der Besten), pientissimo/ae (dem/der Frommsten).8 Darüber hinaus nennt bzw. nennen sich auf der Grabinschrift in aller Regel auch die Person oder Personen, die das Grab besorgten und sich künftig darum kümmerten und erklären die Beziehung zu der verstorbenen Person zum Beispiel als Sohn/Tochter, Gatte/Gattin, Freund/Freundin oder Mitfreigelassener/Mitfreigelassene. Während oft zuerst der Verstorbene genannt wird, haben sich manche Angehörige dazu entschieden, den Text unter der Widmung an die Manen mit ihren eigenen Namen zu beginnen. Die Formulierung der Grabinschriften konnte zudem abweichen, wenn das Grab bereits zu Lebzeiten des Grabinhabers erworben und beschriftet wurde. In diesen Fällen entschied man sich jedoch oft dazu, die Inschrift weitestgehend fertigzustellen und gegebenenfalls im Todesfall das erreichte Alter nachzutragen. Zudem war es vielen Grabinhabern, die ihr Grab und das Grabmal bereits zu Lebzeiten erwarben, wichtig, dies mit den entsprechenden Worten auch in der Grabinschrift kenntlich zu machen. 8
schrift in: Panciera 1987, 174–175 Nr. 92. Taf. 15. 2. Vgl. etwa die Liste von: Steinby 1973, 115–116.
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Zwei Grabinschriften aus der Nekropole nahe der Via Triumphalis sollen beispielhaft typisch römische Exemplare zeigen. Das erste Beispiel ist die Grabinschrift für Betiliena Euryale, die in Columbarium 8 unter einer Urnennische angebracht war (Abb. 1):9 Betilienae Euryale / M (anius) Servilius Rómánus, / mil(es) coh(ortis) I, coniugi / suae carissimae d(e) s(uo) p(osuit). / Vixit annis XIIII et / mensem I Für Betiliena Euryale. / Manius Servilius Romanus, / Miles der 1. Kohorte / hat es für seine teuerste Gattin auf eigene Kosten gesetzt. / Sie lebte 14 Jahre und 1 Monat.
Das zweite Beispiel ist eine kleine schmale Grabstele mit halbrundem Abschluss. Zwar sind die Buchstaben der Inschrift ordentlich gearbeitet, doch wirkt der Textblock insgesamt gedrungen und etwas an den oberen Stelenrand gedrängt. Möglicherweise wurde die Stele so beschrieben, dass Platz für eine potenzielle weitere Inschrift belassen wurde (Abb. 2).10 Dis M (anibus) / Ti. Claudius Bithus / fecit coniugi suae be/ nemerenti Munatiae / Venustae. Vixit annis / XXIII et men(ses) VI Den göttlichen Manen / Ti. Claudius Bithus / hat es gemacht für seine Gattin, die wohl-verdiente Munatia / Venusta. Sie lebte an Jahren / 23 und an Monaten 6.
In ähnlicher Weise wurden die meisten der römischen Grabinschriften gestaltet und beschriftet.
„Fremde“, die in Rom versterben Rom war bereits in der Kaiserzeit eine Stadt, in der viele Personen lebten, die nicht aus Italien kamen. Abgesehen von der großen Zahl an Sklaven und späteren Freigelassenen, fanden sich auch viele in der Stadt ein, um unter besseren Lebensbedingungen als in ihrer Herkunftsregion zu leben, hier in den Militärdienst einzutreten, eine besondere Bildung zu genießen, hier politisch tätig zu sein, um eine besondere Fähigkeit anzubieten (wie bei Ärzten, Schauspielern oder Handwerkern) oder Handel zu betreiben.11 Einige der Fremden wurden nach ihrem Tod von ihren Familien für die Bestattung wieder nach Hause gebracht oder geholt. Iulia Heliadis aus Lyon war beispielsweise im 2. Jh. n. Chr., als Kaiserpriesterin in Rom tätig. Als sie im Alter 9
EDR 006433; Väänänen 1973, 57–58 Nr. 56. EDR 006444; Väänänen 1973, 62–63 Nr. 67. 11 Siehe dazu etwa: Noy 2000, 85–139.
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Abb. 1: Urnennische für die Bestattungen der Claudia Tiberia Venusta (links) und Betiliena Euryale (rechts), Columbarium 8, Bereich Autoparco in der Nekropole an der Via Triumphalis in Rom (Foto: C. Blume-Jung).
Abb. 2: Grabstele der Munatia Venusta aus dem Bereich Autoparco in der Nekropole an der Via Triumphalis in Rom (Foto: C. BlumeJung).
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Abb. 3: Grabmal für Iulia Helias in Lyon. Lyon, Musée Gallo-Romain (Foto: © Musée gallo-romain de Lyon Fourvière, France, C. Thioc).
Abb. 4: Grabstele für Aurelia Graphicana aus Madauros in Numidien. Gefunden in Rom. Rom, Kapitolinische Museen NCE 1224 (Foto: © Sovrintendenza Capitolina ai Beni Culturali – Musei Capitolini).
von 25 Jahren in Rom verstarb, wurde sie von ihren Schwestern nach Hause geholt und fand dort in einem Mausoleum, vermutlich dem Familiengrab, in einem Sarkophag ihre letzte Ruhestätte. Ihre Grabinschrift lautet (Abb. 3):12 12
Lyon, Musée Gallo-Romain. Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) 13, 2181. Siehe dazu auch: Wierschowski 2001, 363–364.
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D(is) M (anibus) / Iuliae Heliadis / Sex(ti) Iuli Callisti / et Iuliae Nices fi/liae flaminic(ae) Aug(ustae) / quae vixit annis / XXV mensibus II / Iuliae Heliane et / Callistate corpus / sororis anima sua / sibi carioris ab urbe adferri / curaverunt et / sarcophago in/tra maesolaeum(!) / condiderunt Den göttlichen Manen / der Iulia Helias / Tochter des Sextus Iulius Callistus / und der Iulia Nikes / Priesterin der Kaiserin / die 25 Jahre lebte / und 2 Monate. / Iulia Heliane und / Callista kümmerten sich darum, den Körper / der Schwester, die ihnen teurer war als ihre eigene Seele aus Rom herbeizubringen und / haben ihn in einem Sarkophag in / dem Mausoleum / bestattet.
Gräber „Fremder“ in Rom Personen mit einem anderen als stadtrömischen oder italischen Hintergrund, die sich in Rom bestatten ließen, wählten verschiedene Grabarten und unterschiedliche Grabbeschriftungen. Der Großteil der Nicht-Römer wurde auf typisch stadtrömische Art, mit für die in Rom typischen Grabmalen und mit den gängigen Inschriftentexten beigesetzt. Trotzdem entschieden sich einige wenige von ihnen für Grabmale, die sich in ihrer Form an Gräbern ihrer Herkunftsregion orientieren. Einige andere wählten zumindest neben der lateinischen auch ihre Muttersprache. Interessant sind zudem die Gräber zahlreicher griechischsprachiger „Fremder“, deren Epigramme sich inhaltlich und sprachlich unterschiedlich stark an der griechischen oder römischen Texttradition orientierten.
Gräber „Fremder“ mit ungewöhnlichen Inschriftenstelen In Rom gab es nur selten Gräber Fremder, die optisch vom typischen Spektrum abwichen. Ein Beispiel ist der Grabstein von oder möglicherweise nur ein Kenotaph in Erinnerung an Aurelia Graphiciana (Abb. 4).13 Die Stele wurde von Numida und Catulus errichtet, die sich und vermutlich auch Graphicana als Medauriani bezeichnen. Ihre Herkunft ist demnach Madauros im antiken Numidien und im heutigen Algerien. Die Inschrift auf der Stele lautet: Memoriae / Aureliae / Graphicianae / Numida et / Catulus / Medauriani In Erinnerung / an Aurelia / Graphicana. / Numidia und / Catulus, / aus Madauros.
Der Grabstein ist eine rechteckige Stele die genau in der Mitte ein längliches, mit zwei Faszien gerahmtes und rot abgesetztes Inschriftenfeld trägt. Die Art der Stelengestaltung mit dem in der Stelenmitte statt am oberen Stelenrand platzierten Inschriftenfeld, ist für die Bestattungsareale Roms untypisch. Betrachtet man 13
Rom, Kapitolinische Museen, NCE 1224. CIL 06, 13327. EDR 116733.
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Abb. 5: Grabstele des Palmyreners Habibi Annubathi. Gefunden an der Via Appia (Vigna Corsi). CIL 06, 19134. Rom, Kapitolinische Museen NCE 718 (Foto: © Sovrintendenza Capitolina ai Beni Culturali – Musei Capitolini).
sich jedoch gleichzeitige Grabstelen aus Algerien, findet man diesen Typus.14 In dem Bestattungsareal, in welchem die Stele aufgestellt war, muss sie sich von der Gestaltung der anderen Stelen abgesetzt haben. Vor allem durch die rote Einfärbung der Inschriftenfläche, die für römische Grabstelen unüblich ist, muss die Stele verstärkt ins Auge gefallen sein. Trotzdem ist es wichtig festzuhalten, dass die Varianz ihres Erscheinungsbildes von dem der stadtrömischen Pendants so gering war, dass sie vermutlich kaum jemandem als etwas Fremdartiges auffiel. Eine andere Stele mit einer in Rom ungewöhnlichen Form und bilingualer Beschriftung ist die für den Palmyrener Habibi Annubathi (Abb. 5). Die Stele ist schmal und wird nach oben hin etwas breiter. An den Seiten und nach oben hin ist die Stele durch eine Kehle mit einem schmalen Rand abgesetzt. Der obere 14
Vgl. etwa in der Epigraphischen Fotothek der Epigraphischen Datenbank Heidelberg: F000092, F000146, F000355 und F000591.
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Abschluss weist zwei Senken und drei dadurch entstehende Spitzen auf. Der Text der Inschrift lautet:15 D(is) M (anibus). / Habìbi Annu/bathi f (ilio) Pal/murenus, v(ixit) anìs / XXXII, m(ensibus) V, d(iebus) / XXI. Fecit Heres / frater. / nfš hbjbj br / mlkj ’nbt hbl 16 Den göttlichen Manen. / Habibi Annu/bathi, der Sohn, aus Pal/myra. Er lebte 32 / Jahre, 5 Monate, 21 / Tage. Heres hat es gemacht / der Bruder. / Seele des Habibi, Sohn / des Malkai Anubath. Oh weh! 17
Sie wurde für Habibi errichtet, den Sohn des Palmyreners Malkai Annubath. Während der Wortlaut der Grabinschrift im oberen Teil der stadtrömischen Tradition folgt, wurde sie durch eine palmyrenisch-aramäische Inschrift ergänzt, welche zwar ungefähr dieselbe Information, diese aber mit anderen, in Palmyra üblichen, Schwerpunkten wiedergab. Hier folgten dem Namen der verstorbenen Person der Name seines oder ihres Vaters sowie ein Ausruf des Wehklagens (hbl).18 Anders als die griechische Schrift und Sprache konnte die palmyrenischaramäische Sprache von weit weniger Passanten gelesen und verstanden werden. Sie galt nicht als Bildungssprache und wurde nur im Gebiet von Palmyra und Dura Europos gesprochen.
Gräber griechisch-sprachiger Personen mit griechischen Inschriftentexten Griechisch-sprachige Bewohner Roms erwarben zwar in der Regel einen typisch römischen Grabstein bzw. eine handelsübliche Tabula für eine Columbariennische, beschrifteten diese jedoch nicht selten in ihrer Muttersprache bzw. der Amtssprache ihrer Herkunftsregion. Unter ihren Grabstelen und Nischentafeln, die mit griechischen Buchstaben beschrieben sind, können wir drei Gruppen unterscheiden. Zur ersten Gruppe gehören auf Griechisch verfasste, poetische Grabinschriften, die zu Gräbern von Griechen in Rom gehören. Die Texte orientieren sich in ihrem poetisch, überschwänglichen Stil und Inhalt an Epitaphen aus der griechisch-hellenistischen Welt. Zur zweiten Gruppe gehören Grabinschriften, die zwar auf Griechisch verfasst sind, aber dem inhaltlich typischen Aufbau römischer Grabstelen und Tabulae folgen. Bei der dritten Gruppe handelt es sich um Grabinschriften, die mit griechischen Buchstaben geschrieben wurden, welche jedoch lateinische Worte bilden und dem für Rom typischen Inschriftenaufbau folgen. Die drei Varianten sollen im Folgenden mit Beispielen beleuchtet werden. 15
Rom, Kapitolinische Museen, NCE 718. CIL 06, 19134; EDR116526. Die Transliteration bezieht sich auf den in palmyrenischem Aramäisch verfassten Abschnitt der Inschrift. – Zur Publikation der Inschrift mit hebräischer Transliteration s. Sobernheim 1905, 28. 17 Übersetzung des Aramäischen in Anlehnung an Sobernheim 1905, 28 18 Vgl. etwa Grabinschriften aus Palmyra in: Al As’ad et al. 1997, 27–36. Insbesondere Nr. 35–37. 41–44.
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Griechische Inschriften nach griechischem Usus (poetisch) Griechische Grabinschriften in Rom müssen aufgefallen sein. Zwar wurden sie auf typisch römischen Stelen geschrieben, waren aber länger als die sonst üblichen Texte, folgten einem poetischen Stil und waren dazu in griechischer Schrift verfasst. Was die Inschriften insbesondere auszeichnet, ist ihre starke Bekundung des Verlustes mit einer emotionalen Wortwahl. Selbst wenn auch in diesen poetischen und pathetisch verfassten Inschriften Inhalte verwendet wurden, die wie Topoi in ähnlicher Form in anderen griechischen Inschriften wiederholt wurden, transportierten sie mehr individuelle Gefühle als die römischen Grabtexte. Ein anschauliches Beispiel eines griechischen Grabepigramms aus dem hellenistischen Smyrna lautet etwa:19 Υἱὸς Βίωνος Ἀπίων μὲν οὑνϑάδε / ἄτεκνος, ἄωρος, εἴκοσι πλήσας ἔτη / καὶ τρί’ ἐπὶ τούτοις, οἰκτρὸς ἐν τρισὶ ἡμέραις / ϑανὼν ποϑεινὸς τοῖς γονεῦσι γενόμενος· / ὧι παστὸν οὐϑείς, οὐχ ὑμέναιον ἦισέ τις, / οὐ λαμπάδ’ ἧψε νυμφικήν, γόοισι δέ / καὶ δακρύοις πολλοῖσιν ἐνϑάδ’ ἤγαγον, / οὗπερ κατοικεῖν δεῖ με τὸν λοιπὸν χρόνον. / μᾶλλον δὲ κλαύσας, πάροδε, τὴν ἐμὴν τύχ̣ην / βαῖν’ οὗ φίλον σοι καὶ τύχοις ὅσων ϑέλεις. Dieser hier ist Apion, Sohn des Bion, welcher verstarb / ohne Kinder, zu früh, bejammernswert im Alter von 23 / Jahren, innerhalb von drei Tagen. / Die Eltern sehnen sich nach ihm. / Keiner sang ihm ein Braut-, keiner ein Hochzeitslied, / keiner entzündete die Brautfackel. Unter vielen Klagen und / Tränen geleiteten sie mich hierhin, / wo ich den Rest der Zeit wohnen muss. / Genug damit; nachdem Du, Wanderer, mein Schicksal beweint hast, / geh’ wohin Du möchtest, und was Du wünschst, möge Dir zuteilwerden!20
Aus Rom kennen wir dahingegen beispielsweise die folgende poetische, griechische Inschrift für Menophilos.21 Die Maße der Inschriftentafel von 37 cm Höhe und 71 cm Breite lassen vermuten, dass sie an seinem Grabmonument als Titulus angebracht war (Abb. 6): Εὐφρανϑεὶς συνεχῶς, γελά[σα]ς’ παίξας τε τρυφήσας, / καὶ ψυχὴν ἱλαρῶς πάντων τέρψας ἐν ἀοιδαῖς / οὐδένα λυπήσας, οὐ λοίδορα ῥήματα πέμψας, / ἀλλὰ φίλος Μουσῶν, Βρομίου Παφίης τε βιώσας / ἐξ Ἀσίης ἐλϑὼν Ἰταλῇ χϑονὶ ἐνϑάδε κεῖμαι / ἐν φϑιμένοις νέος ὤν, τοὔνομα Μηνόφιλος Glücklich warst Du, hast gelacht, gespielt, entspannt gelebt, / und die Seele ergötzt mit Liedern über das Erfreuliche aller Dinge. / Niemanden hast Du belästigt, noch Worte des Fluches gesprochen, / aber Du lebtest als ein Freund der Musen, 19
Petzl 1982, 225–226 Nr. 524. Vermutlich aus dem 2. Jh. v. Chr.; Pfuhl et al. 1979, Nr. 1451. Abb. 87. 20 Übersetzung in Anlehnung und Übernahme von Georg Petzl in: Petzl 1982, 225–226 Nr. 524. 21 Gefunden in Rom, Via Nomentana, Basilica di Sant’Agnese. Rom, Kapitolinische Museen NCE 173. Inscriptiones Graecae (IG) 14, 01857; Inscriptiones Graecae Urbis Romae (IGUR) 3, 1274 mit Abb.; EDR 125018.
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Bromios (Dionysos) und der Paphischen (Aphrodite), / du kamst aus Asien nach Italien. Hier in der Erde liege ich, / inmitten der Vergehenden, als Jüngling, mein Name ist Menophilos.
Wie die Inschrift des Bion, ist die des Menophilos so verfasst, dass der Bericht über den Jüngling zu Lebzeiten wie von einem Dritten gesprochen wird. Im Moment der Beschreibung des jetzigen Zustands des Verstorbenen wechselt die Inschrift in die Ich-Perspektive. Ähnlich melancholisch ist die Grabinschrift für Kritias, welche ebenfalls an das Epigramm für Bion aus Smyrna erinnert. Auffällig ist jedoch in diesem Fall, dass sich die Eltern für einen Beginn der Grabinschrift entschieden, der sich in Aufbau und Wortwahl am römischen Usus orientierte, bevor poetisch-pathetische Worte folgen (Abb. 7).22 ϑ(εοις) Δ(αιμοσι) Κ(αταχϑονιοις) / Κριτιατι τεκνω Λ(ουκιος) / Αττιδιος Κριτιας και / Περεγρινα γονις υ ι ω / γλυκυτατω ος εζης / εν ετη β μηνας η ημε/ρας ιε ωρας ε‹ Κουρον εχω Κρι/τιην διετη ξενε μησιν επ᾽οκτω / αλλα νοον πολιης αξιον ηλι/κιης. Τουνεκ᾽εβη πολυδα / κρυς ες Αιδος. Εκλασε γαρ / μιν ο Φϑονος ως απαλον / δενδρον αελλα νοτου. Den göttlichen Dämonen der Unterwelt / Für den Sohn Kritias. Lukios / Attidios Kritias und / Peregrina, die Eltern dem süßesten / Sohn, welcher lebte / 2 Jahre, 7 Monate, 15 / Tage, 5 ½ Stunden. Den Jungen Kri/tias habe ich, oh Fremder, von zwei Jahren und fast acht Monaten, / aber mit dem Geist wie im Alter eines Greisen. / Aus diesem Grund geht er voller / Tränen in den Hades. Es brach ihn (gemeint: sein Leben) / nämlich Missgunst wie einen zarten / Baum im stürmischen Südwind.
Wie im Epigramm für Bion aus Smyrna beweinen auch die Eltern des kleinen Kritias ihren großen Verlust. Sie heben sein junges Alter hervor und stellen diesem zudem seine frühe und ihrer Meinung nach außergewöhnliche Reife gegenüber, indem sie sagen, dass er so weise gewesen sei wie ein Greis. Auf typisch griechische Art vergleichen sie ihren kleinen Sohn zum Abschluss auf poetischphilosophische Weise mit einem zarten Baum, der im Wind gebrochen wurde. Interessanterweise wählten sie für ihren Vergleich jedoch nicht etwa Boreas, den eisigen Nordwind, sondern Notos, den regenbringenden Südwind. Offensichtlich passte dieses Bild besser zu ihrer Trauer. Die Entscheidung, ein griechisch-sprachiges und poetisch verfasstes Grabepigramm zu wählen, musste jedoch nicht unbedingt oder nicht nur mit dem entsprechenden kulturellen Hintergrund der verstorbenen Person zusammenhängen. Es haben sich auch Beispiele von Grabinschriften überliefert, die vermuten lassen, dass sie die hohe Bildung der oder des Bestatteten bzw. der Angehörigen hervorheben sollten. Ein Beispiel ist die teils griechisch teils lateinisch verfasste 22
Gefunden in Rom, Via Nomentana, Basilica di Sant’Agnese. Rom, Kapitolinische Museen NCE 173. CIL 06, 38723.
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Abb. 6: Grabinschrift für Menophilos. Gef. in Rom, Via Nomentana, Basilica di Sant’Agnese. Rom, Kapitolinische Museen NCE 173 (Foto: © Sovrintendenza Capitolina ai Beni Culturali – Musei Capitolini).
Abb. 7: Grabinschrift für Kritias. Gef. in Rom, vor der Porta Flaminia (heute Porta del Popolo). Rom, Kapitolinische Museen NCE 230 (Foto: © Sovrintendenza Capitolina ai Beni Culturali – Musei Capitolini).
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Abb. 8: Grabinschrift für Aucta. Gef. in einem Grab bei der Villa Pamphili in Rom (Schnitt O). Rom, Museo Nazionale Romano 172186 (Foto: © Soprintendenza speciale per il Colosseo, il Museo Nazionale Romano e l’area archeologica di Roma).
Abb. 9: Grabmal für die Hündin Margarita. Gef. in Rom, Via Salaria, Villa Perucchi (auch Villa Pelucchi genannt). London, The British Museum 1756,0101.1126 (Foto: © Trustees of the British Museum).
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Grabinschrift für Aucta, welche bei einem Feuer ums Leben kam und von ihrem Gatten Caius Terentius Bassus betrauert wird (Abb. 8). Das literarische Niveau des griechischen Epigramms ist, wie philologische Analysen ergeben konnten, qualitativ sehr hochwertig. Reinhold Merkelbach betont etwa, dass die Wortwahl κατεπρήνιζεν (kopfüber herabfallen) äußerst selten und bislang nur von Nikandros und Nonnos bekannt ist.23 Der bilinguale Text der Inschrift lautet:24 Τὴν Μουσέων χαρίεσσαν ἀηδόνα τὴν μελίγηρυν Αὔκταν, χρυσείων ἁπτομένην Χαρίτον, Ἡφαίστου πυρόεσσα κατεπρήνιζεν ἀυτμή Βάσσου συζυγίης ἀνέρος ἐν ϑαλάμοις· νῦν δ ὑπὸ τῶιδε τάφωι σποδΐη χαρίς ἀντὶ γυναικός κεῖται λυγρὸν ἄχος λειπομένη γαμέτηι καὶ πηοῖς σῦμπασιν· ἔχοις δέ μιν, ὠγαϑὲ Πλουτεῦ σύνϑρονον εὐσεβέων Φερσεφόνης ϑαλάμον. V (ivit) C (aius) Terentius Bassu[s- - -] ab ara marmor[ea] Θ Terentiae Auctae concub[inae et Terentiae] Ymnidi sorori et V (ivit) Tere[nti- - - et] V (ivit) Terentiae Primillae e[t Terenti- - - et] Θ C (aio) Terentio Euthycho et [- - -] Θ Cinnamus, Θ Phasis [- - -]. Hi qui decesserunt in v[- - -] quorum ossa in unum [hic condita sunt?]. Für die Nachtigall der anmutigen Musen, der wohlklingenden Aukta, die an den [der Kunst der] goldenen Grazien festhielt. Des Hades feuriger Atem ließ sie kopfüber herabfallen in die Gemächer, in welchen sie mit ihrem Mann Bassus verbunden war. Nun liegt die Asche anstatt der liebreizenden Frau unter diesem Grab, einen beklagenswerten Schmerz lassend für den Ehemann und gleichzeitig Gefährten. Aber empfang sie, guter Pluto, damit sie thronen möge mit den Frommen im Grab der Persephone. Zu Lebzeiten [hat] Caius Terentius Bassus [dieses errichtet] [- - -] Beim Marmoraltar Θ Für Terentia Aucta, seine Konkub[ine und Terentia] Ymnidi, ihre Schwester. Und noch lebend für Tere[ntius - - -] Lebend für Terentia Primillae und [- - -] Θ Caius Terentius Euthychus und [- - -] Θ Cinnamus. Θ Phasis [- - -] Hier die gestorben sind in v[- - -] Deren Knochen in einem [hier bestattet liegen?] 23 24
Merkelbach 1972, 240. Museo Nazionale Romano Inv. 172186 (EDR 005153). Notizie degli scavi di antichità (NSc) 24, 1970, 362–363 (L. Moretti); Merkelbach 1972.
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Theoretisch ist denkbar, dass derartig anspruchsvolle Inschriften in griechischer Sprache auch von einzelnen römischen Bürgern mit hoher Bildung gewählt wurden. Klare Beispiele von eindeutig Freigeborenen (Ingenui) mit griechisch-sprachigen Inschriften in Rom sind der Autorin jedoch bislang nicht bekannt. Diese Lücke könnte jedoch auch dadurch gegeben sein, dass es schwierig ist, Ingenui unter den Grabinhabern sicher zu identifizieren, da sie sich nicht als solche kenntlichmachen (während Sklaven und Freigelassene ihren Status oft nennen). Ingenui sind in der Regel allenfalls über ihre Namen und politische oder militärische Positionen identifizierbar. Auch wenn keine griechisch-sprachigen Epigramme von Freigeborenen bekannt sind, finden sich von ihnen in lateinischer Sprache verfasste, poetische Grabinschriften. Sie bezeugen, dass der Stil der griechischen Nachrufe zumindest von sprachlich und literarisch Gebildeten der römischen Gesellschaft wertgeschätzt und übernommen wurde. Das wohl berühmteste Beispiel dafür ist das Grabmal Vergils, dessen kurzes Epigramm im Distychon literarisch überliefert ist.25 Es lautete: Mantua me genuit, Calabri rapuere, tenet nunc Parthenope; cecini pascua, rura, duces. Mantua hat mich gezeugt, Kalabrien raffte mich dahin, nun birgt mich Parthenope; ich besang Hirten, Landbau und Helden.26
Derselbe, durch Vergils Grab berühmt gewordene, poetische Einstieg in ein Grabepigramm wurde auch für das Grab der Hündin Margerita gewählt, deren Grab an der heutigen Via Salaria gefunden wurde (Abb. 9). Ihre Herkunft Gallien wurde für den imitierenden Einstieg in das Epigramm genutzt.27 Gallia me genuit, nomen mihi dìvitis undae concha dedit, formae nominis aptus honos. Docta per incertas audax discurrere silvas collibus hirsutas atque agitare feras, non gravibus vinclìs umquam consueta tenerì, verbera nec niveo corpora saeva patì; mollì namque sinu dominì dominaeque iacebam et noram in strato lassa cubare toro et plus quam licuit muto canis ore loquebar nulli latratus pertimuere meos. Sed iam fata subiì partu iactata sinistro quam nunc sub parvo marmore terra tegit. Margarita. 25
Zu dem Epigramm Vergils siehe: Frings 1998. Übersetzung von I. Frings: Frings 1998, 89. 27 London, The British Museum, 1756,0101.1126. CIL 06, 29896 (EDR 133179).
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Gallien hat mich gezeugt, den Namen gab mir eine Muschel des an Schätzen reichen Meeres; der ehrenvolle Name war meiner Schönheit angemessen. Dazu ausgebildet, kühn unsicheres Waldgelände zu durchstreifen und auf den Hügeln struppiges Wild zu jagen, wurde ich doch nie daran gewöhnt schweres Jagdgeschirr zu tragen und an meinem schneeweißen Körper grausame Schläge zu dulden. Denn ich lag gewöhnlich auf dem weichen Schoß meines Herrn und meiner Herrin und verstand mich darauf, matt im gemachten Bettchen zu ruhen. Nicht mehr als erlaubt sprach ich, die Hündin, mit meinem Mund, dem keine Sprache gegeben war: Niemand fürchtete sich vor meinem Bellen. Doch schon hat mich das Todeslos ereilt, niedergestreckt von einer unglücklichen Geburt. Die nun unter dem kleinen Marmorstein die Erde bedeckt, Margarìta.28
Solche poetischen aber auf Latein verfassten Inschriften zeigen eine Wertschätzung der und Orientierung an typisch griechischen Inschriften. Mit diesem Exkurs soll die Möglichkeit aufgezeigt werden, dass einige der uns bekannten griechisch-sprachigen Grabinschriften in Rom nicht von Personen mit Migrationshintergrund, sondern von Ingenui errichtet wurden, die damit ihrer Neigung nachgehen oder ihren Bildungsstand präsentieren wollten.
Griechische Inschriften nach römischem Usus (mit festem Aufbau) Bereits bei der Grabinschrift für Kritias konnten wir feststellen, dass sich die Eltern für eine Beschriftung entschlossen, die sowohl zu ihrer griechischen Tradition passte als auch in den römischen Bestattungskontext. Eine Vielzahl griechischsprachiger Inschriften imitiert dagegen ausschließlich den Text typisch römischer Inschriften. Ein Beispiel ist etwa ein Grabaltar, der im 2. Jh. n. Chr. in Rom für eine Freigelassene namens Elpis aufgestellt wurde (Abb. 10). Die Seiten des Altares zieren die Darstellung der Gottheiten Elpis, welche für Hoffnung aber auch Befürchtung steht, und Nemesis, welche Hybris rächt. Die Figur der Elpis wurde in Anspielung auf den Namen der Verstorbenen ausgewählt. Die Inschrift auf dem Altar lautet:29 28
Übersetzung eng nach: Frings 1998, 94. Für einen Kommentar zur Diskussion des Epigramms in der Forschung siehe auch: Frings 1998, 93–96. 29 Florenz, Uffizien, IN 1914.990. Früher in Rom in Besitz von Papst Julius III. und in der Villa Medici; Mansuelli 1958, 217 Nr. 225. Abb. 234.
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Abb. 10: Grabaltar für Elpis. Vermutlich aus Rom. Florenz, Uffizien 1914.990. Früher in Rom in Besitz von Papst Julius III. und in der Villa Medici (Foto: C. BlumeJung).
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Abb. 11: Grabaltar für Iulios Theopropos. Vermutlich aus Rom. Florenz, Uffizien 1914.989. Früher in Besitz der Orsini und in der Villa Medici (Foto: C. Blume-Jung).
Θ(εοις) Η(ρωσιν) / Ελπιδι Εωος / και Κηνσω / ρεινα τειμι / ωτατηι απελευϑερα / ανεϑηκαν. Für die heroischen Götter / Für Elpis. Eos / und Kenso/reina haben es [das Grabmal] der wohl/verdienten (benemerenti) Freigelassenen / aufgestellt.
Die formelhafte Anrufung der Manen wurde in diesem Fall übersetzt als Anrufung der heroischen Götter. Wie in typisch römischen Inschriften wurde die Anrufung abgekürzt. Es folgen die Namen der Verstorbenen und der beiden Frauen, die ihr das Grabmal errichteten. Darüber hinaus wurde auch der Status der Elpis als Freigelassene festgehalten und ihre Person als Wohlverdiente beschrieben. Letzteres orientiert sich an dem in lateinischen Inschriften oft formelhaft verwendeten Epitheton benemerenti.
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Auch ein Grabaltar aus der zweiten Hälfte des 2. Jhs. n. Chr. spiegelt die Übernahme römischer Grabmale und die Übertragung der typisch römischen Grabinschriften ins Griechische. Es handelt sich um ein Grabmonument für Iulius Theopropos, welches von seinen Eltern errichtet wurde (Abb. 11). Die Inschrift lautet:30 Θ(εοις) κ(αταχϑονιοις). / Ιουλιω ϑεοπροπω / τω τεκνω ϑησευς / και Ευρυδικη / οι γονεις εποιησαν. Für die Götter der Unterwelt. / Für Iulios Theopropos, / den Sohn. Theseus / und Eurydike / die Eltern haben es gemacht.
Der Grabaltar hat eine für Rom typische Form. Die Frontseite des Altares schmücken die sich umarmenden Personifikationen von Eros und Psyche in einem hohen Relief. Die Darstellung von Eroten und von Psyche oder auch von Eros und Psyche als Paar ist auch von anderen römischen Grabmalen bekannt und stammt aus dieser anstatt aus der griechischen Tradition.31 Die Anrufung der Manen in der Inschrift des Grabaltars erfolgte auch hier formelhaft über die ins griechische übertragene Abkürzung. Die göttlichen Manen (DM) wurden in der Übertragung deutlicher zu den Göttern der Unterwelt (ϑK). Der Text der Inschrift präsentiert ausschließlich die Namen des verstorbenen Sohnes sowie die Namen der das Grabmal errichtenden Eltern.
Griechische Inschriften nach römischem Usus und lateinischem Wortlaut Die dritte Variante an griechisch-sprachigen Grabinschriften in Rom sind diejenigen, die zwar in griechischen Buchstaben geschrieben wurden, aber lateinische Worte wiedergeben. So wurde etwa Quintus Maritus Longus im 1. oder 2. Jh. n. Chr. von seiner Gattin in Rom bestattet und erhielt eine Grabstele mit der folgenden in das griechische Alphabet transkribierten Aufschrift (Abb. 12):32 Μαρεῖτα Ἀσία / Κυίντω / Μαρείτω Λόνγω / Κοιογι / Βενεμερεντι / φηκιτ. Marita Asia / Quinto / Marito Longo / coiugi / benemerenti / fecit. Marita Asia / hat es / für Quintus / Maritus Longus, / den wohlverdienten / Gatten / gemacht. 30
Florenz, Uffizien, IN 1914.989. Früher in Besitz der Orsini und in der Villa Medici; Mansuelli 1958, 219 Nr. 229. Abb. 227. 31 So zum Beispiel auf vielen römischen Reliefsarkophagen, wie auf dem Hippolytos-Sarkophag in den Vatikanischen Museen (IN 10400) oder ein Riefelsarkophag mit drei Bildfeldern in Pisa (Camposanto Monumentale A 6 INT). 32 Gefunden in Rom. Roma, Piazza Venezia 11, Radici del Presente, Collezione archeologica delle Assicurazioni Generali. CIL 06, 22176; EDR 111146 (falsche Abbildung).
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Abb. 12: Grabstele für Quintus Maritus Longus. Gef. in Rom. Rom, Piazza Venezia 11, Radici del Presente, Collezione archeologica delle Assicurazioni Generali (Foto: © Assicurazioni Generali http://www.radicidelpresente.it/up loads/a4/58/a45862a8eaa6ee7a439c95e25358 e5cf/General.pdf, 08.09.2015).
Abb. 13: Grabtitulus des Gaius Iulius Tilesphoros. Gef. in Rom, Via Appia, Nahe des Grabes der Caecilia Metella (Vinea Profiliorum). Rom, Via del Mascherone 63 (Casa Cancellieri) (Foto: IGUR 2, Nr. 616).
Abb. 14: Grabstele für Fabia Xenex aus dem Bereich Autoparco in der Nekropole an der Via Triumphalis in Rom (Foto: C. Blume-Jung).
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Auch in dieser Inschrift wurde mit benemerenti das zu dieser Zeit am weitesten verbreitete Epitheton Ornans verwendet, um den Gatten zu ehren. Inschriften wie diese bezeugen die enge Verbindung der Bestatteten oder Hinterbliebenen mit den lokalen stadtrömischen Bestattungsbräuchen. Sie weisen keine Spuren von dem Usus auf, den Verstorbenen im Epigramm melancholisch zu beweinen. Stattdessen orientieren sich die Texte an der Sachlichkeit der römischen Grabinschriften. Dass die Inschriften, obwohl sie sich inhaltlich am römischen Brauch orientieren, auf Griechisch verfasst wurden, kann vor allem mit zwei Gründen zu erklären sein. Erstens könnten die entsprechenden Angehörigen trotz ihrer Beheimatung in Rom vor allem griechisch-sprachig aufgewachsen und ausgebildet worden sein, so dass sie das griechische Alphabet besser lesen konnten. Zweitens könnten sie das griechische Alphabet gewählt haben, um einen Bezug zu der Kultur herzustellen, in der sie noch selbst oder ihre Eltern geboren wurden. Darüber hinaus muss jedoch auch in Betracht gezogen werden, dass die griechischen Lettern, wie die zuvor behandelten griechischsprachigen Inschriften, dazu dienten, die eigene höhere Bildung kenntlich zu machen. Der folgende Grabtitulus aus dem 1. oder 2. Jh. n. Chr. zeigt sogar, dass in den lateinischen aber ins griechische Alphabet transkribierten Inschriften selbst rechtliche Formeln übernommen wurden (Abb. 14). In diesem Fall ist es ein fester Wortlaut für die Öffnung des Grabes für die eigenen Freigelassenen: sibi et suis libertis libertabusque eorum (für sich und die Seinigen und deren Freigelassene). Insgesamt lautet die Inschrift:33 Δις Μαν(ιβους). / Γ(άιους) Ἰούλους Τιλέσφορος / φηκετ ετ σιβι ετ σου/εις λειβσρτεις λειβερταβο/υσκε εωρυμ‧ Τερεντία Ἄκτη / φηκετ Τερεντίῳ Ἀνεικήτῳ ετ λς/βερτω ετ κονιουγει βενεμερεντει ετ σι/βι ετ σουεις λειβερτεις λειβερταβουσκ/ε εωρoυμ‧ οκ μονομεντου ηδεφικατου / ες κομουνε αβ Ιουνιω Τελεσφορω τ / Τερεντια Ακτη. D(is) M (anibus) / G(aius) Ioulious Tilesphoros / fecet et sibi et su/is libertis libertabu/sque eorum. Terentia Akte / fecet Terentio Aneiketo et li/berto et coniugi benemerenti et si/bi et suis libertis libertabusqu/e eorum. Hoc monumento aedificato / ex comune ab Iounio Telesforo et / Terentia Akte. Den göttlichen Manen. / Gaius Iulius Tilesphoros / hat es gemacht für sich und die Seini/gen und deren Freigelassenen. Terentia Akte / hat es gemacht für Terentius Aneiketos, Freige/lassener und wohlverdientester Gatte, und sich / und den Ihrigen und deren Freigelasse/nen. Für dieses Monument, welches / erbaut wurde in Gemeinschaft von Iunius Telesforos und / Terentia Akte.
Gräber „Fremder“ mit typisch römischen Inschriftenstelen Ein Großteil aller Nicht-Römer, die wir durch ihre Grabinschriften auf Stein, in Form von Dipinti oder Graffiti beobachten können, entschieden sich offenkun33
Gefunden in Rom, Via Appia, Nahe des Grabes der Caecilia Metella (Vinea Profiliorum). Rom, Via del Mascherone 63 (Casa Cancellieri). CIL 06, 20294; EDR 111171.
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Abb. 15: Grabbau des Alcimus aus dem Bereich Santa Rosa in der Nekropole an der Via Triumphalis in Rom (Foto: C. Blume-Jung).
dig für Grabmarker, die in Form, Sprache und Formulierung typisch römisch waren. Ein frei herausgegriffenes Beispiel ist das Grab für Fabia Xenix aus der zweiten Hälfte des 1. Jh. n. Chr., die, wie ihr Gatte Fabius Onesimus, griechischer Abstammung zu sein scheint und Freigelassene war. Ihr Grab zierte eine kleine Stele mit gerahmtem Inschriftenfeld und einer oben halbrunden Bekrönung mit zwei vereinfachten Eckakroteren (Abb. 15). Der halbrunde Giebel zeigt einen Blattkranz, dessen Schnürung rechts und links flatternd ausläuft. Die Inschrift der Stele lautet:34 D(is) M (anibus) / Fabiae Xenices. / Fabius Onesimus / libertae idemq(ue) / coniugi / ob pietate(m) filior(um), /vix(it) a(nnis) XXIV, m(ensibus) III, d(iebus) VI. Den göttlichen Manen / Für Fabia Xenice. / Fabius Onesimus [hat es gemacht] / 34
EDR 110241; Väänänen 1973, 77 Nr. 95.
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Abb. 16: Titulus des Grabbaus des Alcimus aus dem Bereich Santa Rosa in der Nekropole an der Via Triumphalis in Rom (Foto: Liverani et al. 2010, 232. Abb. 192). für die Freigelassene und gleichzeitig/ Gattin. / Für ihr Pflichtgefühl gegenüber ihren Kindern. / Sie lebte 24 Jahre, 3 Monate, 6 Tage.
Noch deutlicher wird die Adaption des römischen Bestattungswesens etwa beim Grab des Sklaven Alcimus im Areal Santa Rosa der Nekropole an der Via Triumphalis (Abb. 16).35 Er war als Sklave Bühnentechniker am Pompeius-Theater in Rom. Seine Gattin Fabia Philtate errichtete für ihn und eine größere Zahl von Angehörigen einen kleinen Grabbau. Es handelt sich um eine etwa 1,50 m hohe Grabkammer mit einem Tonnengewölbe, mit einem aus der Mittelachse seitlich verrückten Zugang und einem kleinen Fensterschlitz. Von außen erschien das Grab wie ein kleines Columbarium – ein Grabtyp, welcher in Rom gerne als Familienmausoleum gewählt wurde. Dass der Grabbau innen jedoch nicht wie ein Columbarium mit Urnennischen gearbeitet war, ist vermutlich mit den finanziellen Möglichkeiten Philtates zu erklären. Auf aufwendig zu mauernde Urnennischen wurde verzichtet und Bestattungen nur unter dem Boden des Grabbaus vorgenommen. Die Inschrift orientiert sich am römischen Usus. Sie nennt den Verstorbenen, seinen Status, bereichert sein Wesen durch ein Epitheton, nennt 35
Grab XX im Bereich Santa Rosa in der Nekropole an der Via Triumphalis: Liverani et al. 2010, 235–240.
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die Gattin, welche das Grab errichtete und führt die Maße des Grabes an, die oft aus rechtlichen Gründen Erwähnung fanden. Alcimo / Neronis Claudi / Caesaris Aug(usti) Ser(vus) / Custodi de Theatro / Pompeiano e scaena / fecit Fabia Philtate / coniugi carissimo / in fr(onte) p(edes) IIIII in agr(o) p(edes) V Für Alcimus, einen Sklaven des Kaisers Nero Claudius Augustus, den Custos der Bühne des Pompeius-Theaters. [Dieses Grab] wurde durch Fabia Philtate für ihren liebsten Gatten errichtet. Front 5 Fuß, in die Tiefe 5 Fuß.
Resümee Lebte man im 1. und 2. Jh. n. Chr. in Rom, nahm man zwar ein architektonisches Stadtbild wahr, das von lokalen Traditionen und Riten geprägt war, doch spiegelten die Bewohner der Stadt eine große Diversität und kulturelle Pluralität. Teils unfreiwillig, teils freiwillig kamen die Bewohner aus dem gesamten römischen Reich und vermutlich auch darüber hinaus, da sie hier als Sklaven dienten oder hier aus beruflichen oder politischen Gründen oder aber auch für eine besondere Ausbildung lebten. Dass sich hier ein vielschichtiges Spektrum an Identitäten herausbildete, liegt auf der Hand. Je nach kultureller und religiöser Prägung oder dem Bildungshintergrund sowie den spezifischen Erfahrungen in Rom, variierte die Identifikation der Bewohner mit Migrationshintergrund mit der hiesigen Kultur.36 Im Bestattungswesen Roms können wir diese Vielfalt der Identitäten gut erkennen. Wir sehen einige Grabmale, die sich in Form und Wortwahl an den Bräuchen der Herkunftskultur der jeweiligen verstorbenen Person orientieren, Grabmale, für welche einige römische Eigenheiten übernommen wurden und Gräber, die durch und durch römisch sind, obwohl die Namen der oder des Verstorbenen und derjenigen, die das Grab veranlassten, auf eine nicht-römische Herkunft schließen lassen.37 Es ist eine wichtige Beobachtung, dass all diejenigen, die wir als „Fremde“ in Rom greifen können nicht etwa in Bestattungskomplexen beigesetzt wurden, die beispielsweise ausschließlich für Angehörige ihrer gemeinschaftlichen Heimat oder Religion gegründet wurden. Die Gräber der Personen mit Migrations36
Für Spuren von Fremden in Rom siehe: Noy 2000, 183–187 (über Kulte). 187–197 (über Bestattungen). 37 Eine eigene Gruppe von Grabaltären und Grabstelen Fremder in Rom findet sich unter den Gräbern der Equites Singulares. Großer Beliebtheit erfreuten sich hier Darstellungen von Gelagerten sowie von einem Pferd, das an einer langen Leine von einem Knecht geführt wird. Die Ikonographie scheint von Soldaten aus dem Rheinland nach Rom transferiert worden zu sein. Siehe dazu: Busch 2011, 130–137.
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hintergrund waren unter die der römischen Ingenui gemischt.38 Offensichtlich spielte die topographische Abgrenzung im funerären Bereich weder für die Ingenui noch für Personen mit einem anderen Hintergrund eine entscheidende Rolle. Blicken wir erneut auf die Friedhöfe unserer Zeit, sehen wir in den Gräbern ein ebenso großes Spektrum an kulturellen Identitäten. Trotzdem hat sich dieses Nebeneinander nicht problemlos entwickelt. Nach wie vor wird in der Gesellschaft und der Politik darüber diskutiert, inwiefern fremde Bestattungssitten und Grabformen zugelassen werden. Das Bestattungswesen und das Erscheinungsbild der hiesigen Gräber sind so stark reglementiert, dass jegliches Grabmal der städtischen Behörde im Entwurf vorgelegt und von dieser abgesegnet werden muss. Vorgegeben sind von vornherein etwa die verwendbaren Materialien und die Abmessungen des Grabmals. Überprüft werden aber auch die dargestellten Symbole und die Gesamtwirkung des Grabes. Die dahinterliegende Sorge zeigt sich etwa im allgemeinen Gestaltungsgrundsatz der Friedhöfe Frankfurts am Main. Hier heißt es in der Friedhofsordnung: „Jede Grabstätte ist so zu gestalten und an die Umgebung anzupassen, dass die Würde des Friedhofs in seinen einzelnen Teilen und in seiner Gesamtanlage gewahrt wird“.39 Da die schlichten Reihengräber für das Gesamtbild der hiesigen Friedhöfe prägend sind, ist es nachvollziehbar, dass alle Gräber, die von dieser Einheit abweichen, für Aufsehen sorgen. Anders als im Rahmen des Bestattungswesens in Deutschland gab es in Rom hinsichtlich der großen Vielfalt der Gräber vermutlich keine Probleme. Das Bestattungswesen war von sich aus heterogen genug, dass jeder Nutzer eine Bestattungsart und Grabform finden konnte, welche zu seinem kulturellen Hintergrund passte. Trotzdem ist auch hier festzustellen, dass keine Gräber errichtet wurden, die nicht in den Kontext des Bestattungsareals passten. So finden sich etwa extrovertierte Gräber nur an Gräberstraßen, nicht aber in großen, mehrreihigen Bestattungsarealen. Alles in allem zeigen uns die Bestattungen in Rom eine vielfältige, mediterrane Gesellschaft voll mit Bewohnern aus anderen Kulturräumen. Darüber hinaus spiegeln die Grabinschriften Roms eine gewisse Toleranz für Nachbargräber von Bewohnern Roms mit einem anderen kulturellen und sprachlichen Hintergrund sowie zumindest im Blick auf die Grabinschrift betrachtet anderen Ausdrucksformen am Grab.
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Die einzige Ausnahme scheinen jüdische (ab der Mitte des 2. Jh. n. Chr.) und später auch christliche Katakomben zu sein. Gruppierungen nach anderen Religionen oder gar Nationalitäten lassen sich nicht feststellen. 39 Friedhofsordnung der Stadt Frankfurt am Main vom 01.04.2005: § 27,1.
„FREMDE“ IN ROM
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Marc von der Höh Sepultus hac in terra pessima Bestattungen als Problemfall mediterraner Migration
Zusammenfassung Dieser Beitrag untersucht die maritimen und mediterranen Dimensionen der Sepulkralkultur der Toskanischen Seestadt Pisa. Hierbei werden drei Perspektiven verfolgt: Zunächst wird nach der Darstellung bzw. Wahrnehmung des Todes auf dem Meer als eines drängenden Problemfalls maritimer Sepulkralkultur gefragt. Trotz der ungewöhnlich reichen historiographischen Überlieferung trifft man hier auf einen Negativbefund. Keiner der Pisaner Texte thematisiert in besonderer Weise das Sterben auf See. Auch die normativen Quellen lassen im Gegensatz zur hochmittelalterlichen Liturgie-Exegese keine eigenständige Auseinandersetzung mit diesem Thema erkennen. Im zweiten Teil wird nach dem Umgang mit jenseits des Meeres verstorbenen Pisanern gefragt. Hier lässt sich in vielen Fällen die Überführung der teilweise einbalsamierten Körper der Verstorbenen nach Pisa nachweisen. Der dritte Teil wendet sich schließlich der Sepulkralkultur in Pisa zu. Auch in den hochmittelalterlichen Inschriften kann trotz der Beteiligung der Bestatteten am Überseehandel und an der Seekriegsführung ein regelrechtes Ausblenden der maritimen Dimension nachgewiesen werden. Auf der Suche nach einer mediterranen Dimension der Pisaner Sepulkralkultur werden schließlich Fälle von Bestattungen muslimischer Verstorbener in Pisa untersucht. Erhalten haben sich einerseits als Trophäen mitgeführte Reste muslimischer Bestattungen, daneben aber auch eine Inschrift, die vom Grab einer in Pisa bestatteten Muslima stammt.
Pisa war im 12. und 13. Jh. eines der vitalsten wirtschaftlichen und kulturellen Zentren des westlichen Mittelmeerraums. Die mit der Jahrtausendwende einsetzende rasante wirtschaftliche Entwicklung der Stadt war dabei eng mit der Zurückdrängung der muslimischen Präsenz vor allem aus dem Tyrrhenischen Meer verbunden.1 Begleitet wurde dieser wirtschaftliche Aufschwung durch eine kulturelle Blüte, die sich auf ganz unterschiedlichen Feldern zeigte, von der Architektur2 1
Vgl. hierzu neben der klassischen Studie von Rossi Sabatini 1935 zuletzt Tangheroni 2000. Ein bemerkenswerter Interpretationsansatz für die Pisaner „Erfolgsgeschichte“ bei Mitterauer 2005. Einen deutschsprachigen Überblick über die Geschichte Pisas bietet Mitterauer et al. 2007. 2 Hier ist insbesondere der Pisaner Dom zu nennen, der zuletzt durch ein monumentales Werk erschlossen worden ist: Peroni 1995.
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über die Rezeption des römischen Rechts3, die Entstehung einer ihresgleichen suchenden Historiographie4 bis zur Mathematik5 und Geographie6. Nicht nur der Handel der Seestadt, sondern gerade auch der hier nur mit einigen Schlagwörtern angerissene kulturelle Reichtum lassen sich dabei als Ergebnis von Vernetzungsprozessen verstehen. Pisa war spätestens mit der Wende vom 11. zum 12. Jh. zu einem Knotenpunkt in einem nahezu alle Länder und Kulturen des weiteren Mittelmeerraums verbindenden Netz von Austauschprozessen geworden.7 Es versteht sich nahezu von selbst, dass diese Austauschprozesse sich nicht nur auf Wissen, Ideen und Waren bezogen, sondern dass diese nicht ohne eine gesteigerte Mobilität menschlicher Akteure erfolgen konnte. Entsprechend lassen sich Pisaner Kaufleute und Schiffe in einem immer größer werdenden Radius um die Seestadt herum nachweisen, wurde Pisa gleichzeitig auf der anderen Seite das Ziel von Reisenden aus dem gesamten Mittelmeerraum. Als geradezu emblematisch für die Präsenz von Pisanern im Mittelmeerraum kann etwa die Biographie Leonardo Fibonaccis angesehen werden: Geboren um 1170 als Sohn eines von der Kommune bestellten Notars im Pisaner Fondaco in Bugia/Budschaja im heutigen Algerien, lernte er dort die indisch-arabische Mathematik kennen, vertiefte seine Kenntnisse durch Reisen im gesamten Mittelmeerraum und vermittelte diese schließlich durch seinen Liber abbaci an den lateinischen Westen.8 Als Beleg für die Präsenz von Reisenden aus dem muslimischen Kulturkreis könnte man auf den Bericht des von der iberischen Halbinsel stammenden jüdischen Reisenden Benjamin von Tudela verweisen, der in wenigen Zeilen eine erstaun3
Auch hier ist die Literaturlage nicht mehr zu überschauen, vgl. etwa zuletzt den Sammelband Rossetti 2000; daneben Storti Storchi 1998; Wickham 2000 (mit reichen Literaturangaben); Classen 1983; zu einer besonders exponierten Figur Classen 1974. 4 Vgl. den Syntheseversuch von der Höh 2006. 5 Vgl. etwa das Werk des Pisaners Leonardo Fibonacci: Muccillo 1997 (mit reicher Bibliographie); zuletzt Høyrup 2014; Galuzzi 2013. 6 Vgl. etwa Dalché 1995. 7 Vgl. die mittlerweile nahezu unüberschaubare Literatur zur mediterranen Dimension der Pisaner Geschichte, etwa Tangheroni 2003; Tangheroni et al. 2004; Ceccarelli Lemut 2006; Ceccarelli Lemut 2009; Renzi Rizzo 2003; Balestracci 2008; Renzi Rizzo 2010; Berti 2010; Baldassarri 2013; Salvatori 2013. 8 Zu diesem die in Anm. 5 genannte Literatur. Interessant ist vor allem dessen kurze autobiographische Einleitung zu seinem Hauptwerk, in der er über seinen Kontakt mit der indoarabischen Mathematik berichtet: Cum genitor meus a patria publicus scriba in duana bugee pro pisanis mercatoribus ad eam confluentibus constitutus preesset, me in pueritia mea ad se venire faciens, inspecta utilitate et commoditate futura, ibi me studio abbaci per aliquot dies stare voluit et doceri. Ubi ex mirabili magisterio in arte(m) per novem figuras indorum introductus, scientia artis in tantum mihi pre ceteris placuit, et intellexi ad illam, quod quicquid studebatur ex ea apud egyptum, syriam, graeciam, siciliam et provinciam cum suis variis modis, ad que loca negotiationis tam postea peragravi per multum studium et disputationis didici conflictum. Sed hoc totum etiam et algorismum atque arcus pictagore quasi errorem computavi respectu modi indorum, Liber abbaci, 1.
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lich präzise Charakterisierung der Arnostadt vorgenommen hat.9 Den multikulturellen und nicht zuletzt multireligiösen Charakter der Stadt bringt schließlich Donizo von Canossa, der Biograph der toskanischen Markgräfin Mathilde, auf den Punkt: Qui pergit Pisas, videt illic monstra marinara; Haec urbs paganis, Turclis, Libicis quoque Parthis Sordida, Chaldei sua lustrant litora tetri.10 Wer nach Pisa kommt, der sieht dort die Monster des Meeres: Diese Stadt ist verseucht durch Heiden, Türken, Libyer und Parther, finstere Chaldäer bereisen ihre Küsten.
Tod auf dem Meer – ein Negativbefund Stellt man nun die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der mediterranen Mobilität und der Sepulkralkultur, so erscheint Pisa zumindest für das Hochmittelalter, auf das ich mich hier vor allem beschränken werde, als eines der vielleicht geeignetsten Laboratorien bzw. Beobachtungsfelder. Bevor die Pisaner Sepulkralkultur genauer in den Blick genommen wird, seien jedoch einige Worte zum größeren Rahmen dieses Sammelbandes vorweggeschickt. Die hochmittelalterliche Geschichte Pisas ist nicht nur aufgrund ihrer mediterranen Dimension einer der Glücksfälle für den Mittelalterhistoriker. Ein Glücksfall ist sie vor allem aus überlieferungsgeschichtlicher Perspektive. Kaum ein anderer früher Akteur der mittelalterlichen Geschichte des Mediterraneums hat derart viele historiographische Texte hervorgebracht wie die Seestadt Pisa. Auf das Gesamtkorpus will ich an dieser Stelle nur verweisen.11 Bemerkenswert ist jedoch, dass trotz der dadurch überlieferten Fülle von Informationen ein Aspekt vollkommen unterbelichtet bleibt. Wenngleich überhaupt kein Zweifel daran besteht, dass sich ein nicht geringer Teil der militärischen Auseinandersetzung der Pisaner mit den Muslimen, aber auch mit den christlichen Rivalen (vor allem den Genuesen), auf dem Wasser abspielte, findet man in der Pisaner Historiographie des 11. und 12. Jh. keine Beschreibung eines Gefechts auf See. Zwar werden diese in großer Zahl etwa in der Annalistik erwähnt, eine narrative Repräsentation dieser Konfliktsituationen und der dabei zum Einsatz kommenden Waffen 9
Benjamin von Tudela, 5. Vita Mathildis, 53. Die bei Donizo belegte negative Sicht auf die Präsenz ganz unterschiedlicher kultureller und religiöser Gruppen in der Hafenstadt Pisa ist dabei einer konkreten Textstrategie verpflichtet. Donizo warb dafür, die Gräber aller Angehörigen des Hauses Canossa ebendort zusammen zu führen. Das Begräbnis der Beatrix in Pisa war ihm daher ein Dorn im Auge, vgl. hierzu Goez 1995, 173. 11 von der Höh 2006, 14 f.
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und Techniken fehlt aber komplett. Dieser negative Befund steht in auffälligem Kontrast zu den oft ermüdenden seitenlangen Schilderungen von Landgefechten, die am Zielort der überseeischen Unternehmungen geführt wurden, etwa im nordafrikanischen al-Mahdīya, vor den Mauern des (noch) muslimischen Palermo oder auf den Balearen.12 Überhaupt bleibt das Meer, bleibt der Seeraum von signifikanten Ausnahmen abgesehen, merkwürdig unbestimmt, geradezu ausgeblendet.13 Die Gründe für diese weitgehende Ausblendung des Maritimen lassen sich einerseits in den Autoren der überlieferten historiographischen Werke suchen, die bis in die zweite Hälfte des 12. Jh. hinein durchweg Geistliche waren. Diese verfügten einerseits kaum über direkte Erfahrungen mit den militärischen Praktiken auf See.14 Deutlich wird in den jeweiligen Texten zudem, dass diese in historiographischen Traditionen standen, die man als „terrestrisch“ bezeichnen könnte, und die so kaum Anknüpfungspunkte bzw. Vorbilder für die Darstellung von Seegefechten lieferten. Hinzu kommt schließlich eine nicht nur in Pisa nachweisbare negative Sicht auf das Meer als Raum der Gefährdung und Kontingenz, von der man sich im Hochmittelalter gewissermaßen auch narrativ fernzuhalten versuchte.15 Folge dieser Ausblendung des Meeres ist, dass man aus diesen Texten nichts über den Tod auf dem Meer erfährt. Erwähnt werden weder die Opfer erfolgreicher Pisaner Seegefechte noch die Besatzungen der vom Gegner versenkten Pisaner Schiffe. Ebenso wenig werden in den zeitgenössischen Quellen die sicher zahlreichen Opfer der zivilen Seefahrt thematisiert, also weder die Besatzungen im Sturm gesunkener oder auf Riffen aufgelaufener Schiffe noch die aufgrund der schwierigen Bedingungen an Bord verstorbenen Seeleute und Händler. Im gesamten Pisaner Quellenkorpus des 11. und 12. Jh. ist nur ein einziger Fall bekannt, in dem das Ertrinken von Personen thematisiert wird. Dabei geht es bezeichnenderweise um ein Verbrechen, das die Besatzung eines Pisaner Schiffs begangen hatte. Diese hatte auf ihrem Schiff reisende fatimidische Kaufleute ins Meer geworfen und deren Frauen und Kinder versklavt. Sowohl die muslimischen, konkret die fatimidischen Autoritäten, als auch die Pisaner Kommune gingen in diesem Fall mit der größten Härte gegen die entsprechenden Verantwortlichen vor.16 12
Vgl. neben den entsprechenden Darstellungen im Carmen in victoriam Pisanorum (alMahdiya) vor allem die seitenfüllenden Schilderungen der Landgefechte auf den Balearen im Liber Maiolichinus. 13 Entsprechend lässt sich bis weit in das Spätmittelalter hinein wenig bis nichts über das alltägliche Leben an Bord der Schiffe aussagen, vgl. Tangheroni 1984. 14 Gleichwohl begleiteten Geistliche aber natürlich die Pisaner Flotten, vgl. etwa die entsprechenden Berichte im Liber Maiolichinus. 15 Vgl. zum Meer in der frühen kommunalen Historiographie (nicht nur Pisas) demnächst von der Höh 2016. 16 Zum Ereignis ausführlich Salvatori 2007a; Salvatori 2007b.
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Sieht man von diesem ungewöhnlichen Beleg ab, schweigen die Quellen ansonsten zum Thema Sterben auf bzw. im Meer sowie vor allem zum Umgang mit Verstorbenen auf See. Hinweise auf die Praxis verdanken wir zeitgenössischen Reiseberichten. So schildert der Mekkapilger Ibn Dschubair zum Jahr 1184 den Umgang der genuesischen Schiffsbesatzung mit Personen, die auf der schwierigen und entbehrungsreichen Reise von Alexandria nach Palermo ums Leben kamen: Zwei Muslime starben – Gott erbarme sich ihrer! Sie wurden ins Meer geworfen. Zwei der christlichen Pilger starben ebenfalls, ihnen folgten dann viele. Einer von ihnen fiel lebendig ins Meer, und die Wellen trugen ihn schneller fort als das Leuchten eines Blitzes.17
Trotz der knappen Schilderung lässt sich im Text das Entsetzen angesichts des Schicksals der im Meer Versinkenden erahnen. Möglicherweise ist es dieses Grauen vor dem „nassen Grab“, das letztlich ein Problem sowohl für die zeitgenössische Sepulkralkultur der Muslimen wie der Christen darstellte, das dazu führte, dass man über diese Schicksale den Mantel des Schweigens hüllte.18 Wenngleich die von Ibn Dschubair für Genua belegte Praxis, die Leichen einfach der See zu übergeben, vermutlich auch von den Pisanern angewandt wurde, wird sie jedoch nirgends explizit erwähnt. Das ist nicht unbedingt nur auf die Quellensituation zurückzuführen. Die in der zweiten Hälfte des 12. Jh. entstandenen Kodifikationen des Pisaner Rechts, das Constitutum Legis und das Constitutum Usus, widmen sich u. a. ausführlich dem Seerecht. Während in beiden Kodifikationen detailliert der Umgang mit dem Besitz eines auf See verstorbenen Kaufmanns thematisiert wird, finden sich keinerlei Bestimmungen über den Umgang mit dem Verstorbenen selbst bzw. seiner Leiche.19 Dass diese Frage die Zeitgenossen im 12. Jh. umgetrieben hat, zeigt eine entsprechende Passage im Mitrale des Sicard von Cremona: Si quis autem in ęquore moriatur, si terra uicina fuerit, illuc nauigent ad eum sepeliendum. Alioquin in capsella cum pecunia, si habet, includatur et in mare proiciatur, ut, qui eum inuenerit, sciat se pretium accipere, quo eum terrę debeat commendare.20 Wenn aber jemand auf dem Meer stirbt, so sollen sie, wenn das Land nahe ist, dorthin fahren, um ihn zu bestatten. Ansonsten soll er zusammen mit Geld, wenn er welches hat, in eine Kiste eingeschlossen und ins Meer geworfen werden, damit derjenige, der ihn findet, weiß, dass er einen Lohn erhält, wofür er ihn der Erde übergeben soll. 17
Ibn Dschubair, 232. Zur Seebestattung bzw. zur mit dem Ertrinken verbundenen Vorstellungen Schmitz-Esser 2014, 38–47. 19 Constitutum Legis, XXI, 58 bzw. Constitutum Usus, XVIII, 193. 20 Mitralis de officiis, 675. 18
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Sicard überliefert hier eine Strategie, wie mit auf hoher See verstorbenen Personen umgegangen werden soll, die auch bei anderen hochmittelalterlichen Liturgie-Exegeten zu finden ist.21 Ob dieser Lösungsvorschlag, der in den Pisaner Quellen im Übrigen nicht erwähnt wird, auch in die Praxis umgesetzt wurde, darf bezweifelt werden. Die schon genannten Regelungen zum Besitz auf See verstorbener Personen, wie sie die Pisaner Constituta überliefern, erwähnen die so anfallenden „Bestattungskosten“ jedenfalls nicht.22 Vermutlich handelt es sich bei den Vorschlägen der Liturgie-Exegeten doch eher um Spekulationen, die die theologisch geforderte Bestattung in der Erde sicherstellen sollten. Dass die Bestattung an Land, wenn möglich in heimatlicher Erde, allerdings auch in Pisa die angestrebte Begräbnisform für auf See oder in Übersee Verstorbene war, zeigen eine Reihe nachweisbarer Leichenüberführungen.
Überführung von Leichen – zwei Beispiele Während der Expedition gegen das nordafrikanische al-Mahdīya 1087 war auch einer der Anführer der Pisaner Truppen, Ugo Visconte, gefallen. Über den Umgang mit seinem Leichnam heißt es im Carmen in victoriam Pisanorum, einer kurz nach den Ereignissen entstandenen Geschichtsdichtung: Hic inponunt illum scuto et ad naves deferunt. Plangunt omnes super illum, quasi unigenitum: O decus et dolor magnus Pisanorum omnium! O confusio triumphi et magnum incommodum! ‘O dux noster atque princeps cum corde fortissimo! Similatus es Grecorum regi nobilissimo, qui sic fecit, ut audivit responsum Apollinis nam ut sui triumpharent sponte mortem subiit. (…) Non iacebis tu sepultus hac in terra pessima ne te tractent Saraceni, qui sunt quasi bestia. Pisa nobilis te ponet in sepulcrum patrium, te Italia plorabit, legens epitaphium. (…)’ Non est mora, corpus findunt et eiectant viscera, balsamum infundunt multum et cuncta aromata et componunt quadam capsa de ligno composito, ut mater et coniux eum videant quoquo modo.23 21
Ähnliche Bestimmungen bei Johannes Beleth, 307 bzw. Wilhelm Durandus, 61. Vgl. Anm. 19. 23 Carmen in victoriam Pisanorum, Vv. 173–180, 185–196. Zur Datierung und allgemein zum Text von der Höh 2006, 120–154.
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Sie legen ihn auf einen Schild und bringen ihn zu den Schiffen zurück. Alle wehklagten über ihn, als wäre er ihr einziger Sohn: ‚O Schmuck und größter Schmerz aller Pisaner! O Wendung des Triumphs und großes Unglück! | O unser Anführer und Fürst mit dem allertapfersten Herzen! Du bist wie der alleredelste König der Griechen, der, als er die Antwort Apolls hörte: damit die Seinen siegten, freiwillig den Tod erlitt.24 | (…) Du sollst nicht in diesem so bösen Land begraben liegen, damit dich die Sarazenen nicht aus der Erde holen können, diese Bestien! Das edle Pisa wird dich in das Grab deiner Väter legen, Italien wird dich beklagen, wenn es dein Epitaph liest! (…)‘ | Keine Zeit ist zu verlieren, den Körper öffnen sie und entnehmen die Eingeweide, legen Balsam und allerlei aromatische Substanzen hinein, und fertigen aus Holz eine Kiste an, damit Mutter und Ehefrau ihn noch einmal sehen können.
Neben der stereotypen Klage angesichts der großen Verdienste des Verstorbenen sind zwei Aspekte im aktuellen Zusammenhang von Interesse: Der Verweis auf das Epitaph, die inschriftliche Form der Erinnerungsstiftung, auf die im weiteren Verlauf noch zurückzukommen sein wird, sowie vor allem der geschilderte Umgang mit der Leiche Ugos. Diese wurde einbalsamiert nach Pisa zurückgebracht, um dort im „Grab (seiner) Väter“, also in einem Mehrgenerationen- bzw. Familiengrab, beigesetzt zu werden. Interessant ist die Begründung für diesen Umgang mit der Leiche. Zunächst solle auf diese Weise den Verwandten – erwähnt werden allerdings nur die Frauen – die Gelegenheit gegeben werden, den Verstorbenen noch einmal zu sehen bzw. von ihm Abschied zu nehmen. Vor allem aber solle der Leichnam nicht in der Fremde ruhen. Zwar ist kein expliziter Verweis auf die zu vermeidende Bestattung in ungeweihter Erde erkennbar, möglicherweise ist dieser Aspekt in der Rede von der „terra pessima“, dem bösen, gemeint ist wohl: heidnischen Land, eingeschlossen. Schließlich wird explizit die Verrohtheit der muslimischen Feinde angesprochen, die nicht davor zurückschrecken würden, den Leichnam aus der Erde zu holen und zu schänden. Interessanterweise scheint sich hier ein zeitgenössisches Vorurteil gegenüber den Muslimen auszudrücken. Auch der um 1100 schreibende Kreuzzugschronist Albert von Aachen legt dem Heer Balduins I. von Jerusalem diese Sorge in den Mund.25 Der König wollte nach seinem Tod einbalsamiert und nach Jerusalem zurückgebracht werden: (…) ut (…) numquam corpus eius exanime in terra hac Sarracenorum ullo sepulchro reconderent, ne ludibrio et derisui gentilibus haberetur, (…).26 24
Zur Interpretation dieses Vergleichs von der Höh 2006, 402 f. Zur Episode Schmitz-Esser 2014, 222 f. 26 Albert von Aachen, lib. XII, cap. 27, 866. Die von Schmitz-Esser vorgeschlagene Übersetzung wurde hier abgeändert, da sie etwas zu weit geht. 25
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(…) dass sie seinen entseelten Körper nicht in irgendeinem Grab in diesem Land der Sarazenen bestatten, damit er nicht zum Spott und Gelächter der Heiden werde.
Dass diese Sorge um die Schändung von Gräbern in der Tat nicht abwegig war, wird sich im weiteren Verlauf noch zeigen. Der Bericht des Carmen in victoriam Pisanorum zeigt in aller Deutlichkeit, dass den Pisanern das Schicksal des Leichnams ihres Anführers durchaus am Herzen lag. Anderes würde man im religiösen Kontext der Zeit aber ohnehin gar nicht erwarten. Weitere Beispiele für die Überführung von Leichen aus dem hohen Mittelalter ließen sich anführen.27 Einiges spricht angesichts der Pisaner Befunde dafür, dass es sich bei der Einbalsamierung der zu überführenden Leiche um eine Praxis handelt, die aus dem Mittelmeerraum über Italien nach Lateineuropa gebracht worden ist.28 Im Falle des Carmen in victoriam Pisanorum erfährt man nichts darüber, was mit den übrigen christlichen Gefallenen geschieht, ob also die Behandlung, die der Leichnam des Visconte erfuhr, eine Ausnahme war, oder ob man auch die übrigen vor al-Mahdīya gefallenen Christen zurück nach Italien brachte. Dass Letzteres durchaus möglich und denkbar ist, zeigt das Beispiel einer wenige Jahre später von den Pisanern durchgeführten Militäraktion, die Eroberung der Balearen zwischen 1113 und 1115. In diesem Fall ist es nicht der historiographische Bericht, dem wir eine ausführliche Schilderung des Umgangs mit den Leichen der gefallenen Pisaner verdanken, sondern ein inschriftliches Zeugnis. Diese Inschrift, die ursprünglich im Kloster Saint Victor in Marseille angebracht war, berichtet über die Heimkehr der siegreichen Pisaner: ✠ VERBI INCARNATI ANNIS, BIS CENTUM VINCERE MAIORICAS, TEMPTANT PISANI MARTE NECI DANTUR ANGELICE TURBE TERRA DESTRUCTA, ET VI DIVINA O PIA VICTORUM CORPORA CLASSE GERUNT SED SIMUL ADDUCTUS CESI PRO CHRISTO 27
DE VIRGINE MILLE PERACTIS BIS SEPTEM CONNUMERATIS, CHRISTI FAMULIS INIMICAS, MAOMETI REGNA PROFANI. MULTI: TAMEN HII SOCIANTUR CELIQUE LOCANTUR IN URBE. CLASSIS REDIT EQUORE DUCTA, REDEUNT VICTRICE CARINA. BONITAS! DEFUNCTA SUORUM PISAMQUE REDUCERE QUERUNT: NE TURBET GAUDIA LUCTUS, TUMULO CLAUDUNTUR IN ISTO.29
Hierzu ausführlich Schmitz-Esser 2014, 200–205. Die Pisaner Fälle kennt Schmitz-Esser 2014 nicht. Weitere Belege für die Untermauerung eines solchen Transfers von Sepulkralkultur müssten gesucht werden. 29 Banti 2000, Nr. 8, 21. 28
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Als schon tausend Jahre vergangen waren, seit das Wort durch die Jungfrau Fleisch geworden war, und noch einmal hundert und zweimal sieben hinzugezählt, wagten die Pisaner es, die ungläubigen Reiche Mohammeds, die den Dienern Christi feindlichen Balearen, zu besiegen. Viele fanden im Kampf den Tod, doch sie werden in der himmlischen Stadt den Scharen der Engel zugesellt. Nachdem sie die Inseln verwüstet haben, segelt die Flotte durch die Fluten zurück und durch göttlichen Beistand kehren die Schiffe siegreich heim. O Treue und Güte der Sieger! Die Körper ihrer Gefallenen tragen sie auf die Schiffe und wollen sie schon nach Pisa zurückbringen! Doch damit das Wehklagen über sie nicht gleichsam die Freude [über den Sieg] stört, werden die für Christus Gefallenen in diesem Grab hier eingeschlossen.
Auch in diesem Fall bestattet man die gefallenen Mitbürger also nicht in der Fremde, sondern brachte sie auf die Schiffe, um sie nach Pisa zurückzuführen. Im Gegensatz zum literarischen Zeugnis des Carmen in victoriam Pisanorum ist hier jedoch nicht nur von einigen besonders exponierten Teilnehmern der Expedition die Rede, sondern offenbar hat man alle gefallenen Pisaner zurückzuführen versucht. Bis Pisa sind die Leichen allerdings gar nicht gekommen. Vielmehr hat man sie unterwegs in einer geeignet erscheinenden christlichen Umgebung bestattet. Grund hierfür war wohl nicht allein der in der Inschrift genannte: Da eine Einbalsamierung der Leichen nicht erwähnt wird, dürfte wohl nicht zuletzt die Geruchsentwicklung der verwesenden Leichen eine Rolle gespielt haben. Gerade die zu Recht als gesundheitsgefährdend eingeschätzten Effekte der Verwesung sind bei mittelalterlichen Leichenüberführungen häufig für kurzfristige Planänderung verantwortlich. Einer der bekanntesten Fälle ist wohl das vorzeitige Begräbnis Karls des Kahlen, der wegen unerträglicher olfaktorischer Belastung zunächst nicht seinen eigentlichen Zielort erreichte.30 Die Wahl des Bestattungsortes ist in diesem Fall ebenfalls interessant. Marseille lag einerseits gewissermaßen an der Strecke, so dass gerade aufgrund der angeführten möglichen Geruchsbelästigungen dieser Begräbnisort erklärbar wäre. Hinzu kommt jedoch, dass sich eine besondere Beziehung zwischen Pisa und der benediktinischen Reformkongregation der Viktoriner und vor allem deren Mutterkloster in Marseille nachweisen lässt.31 Zwar berichten spätmittelalterliche Chronisten, es seien Stiftungen an Saint Victor gemacht worden, nachdem bzw. weil die Pisaner Gefallenen dort ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Tat30 31
Schmitz-Esser 2014, 194–196. Vgl. etwa Cronaca di Pisa, fol. 29v: „Ognuno innuno di diputato col suo naviglio so parti e con prospero vento si vennero a trovare tutto lo essercito nella città di Marsiglia di Provincia, e qui ne soprasterno alchuno di per seppellire li nobili corpi che colloro aveano. Seppellironoli nella chiesa del monistero di Santo Vettore con grande honore et in luogho laudabile et, per l’anime di quelli, grandi doni offersono a quello monistero et privilegiorno a quello monistero la chiesa di Pisa di Santo Andrea innel quartieri di Chinsica per loro casa e risedensia.“ Ähnlich auch Sardo 1963, 23 f. sowie die Cronica di Pisa ms. R. 338, 14 f.
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sächlich war es jedoch genau umgekehrt: Schon 1095 hatten zwei Angehörige der Pisaner Führungsschicht ihre Eigenkirche Sant’Andrea in Chinzica, der südlichen Stadterweiterung Pisas, an Saint Victor in Marseille übertragen, und begründeten damit eine enge Beziehung zwischen Pisa und der Reformkongregation.32 Die Wahl der Begräbnisstätte war somit wohl deshalb auf die Benediktinerabtei in Marseille gefallen, weil es bereits diese enge Beziehung zwischen Pisa und Saint Victor gab und auf diese Weise zugleich die Memoria der hier bestatteten Pisaner gesichert war.33 Die Fehldeutung der Beziehung zwischen Saint Victor und Pisa, wie sie in der Chronistik des 14. und 15. Jh. zu erkennen ist, belegt dabei in bemerkenswerter Weise die Dauerhaftigkeit der Erinnerung an die Gefallenen der Balearen-Expedition und könnte eventuell auf entsprechende liturgische Memorialpraktiken in Pisa, möglicherweise in Sant’Andrea hindeuten.
Sarkophage und Inschriften – Begräbnisse in Pisa Der zitierte Bericht des Carmen in victoriam Pisanorum über den Umgang mit dem Leichnam des Ugo Visconte hatte schon zentrale Elemente der Pisaner Sepulkralkultur angesprochen. Zunächst die Existenz von Erb- bzw. Familiengrablegen der Führungsschicht sowie die mit diesen in Zusammenhang stehende epigraphische Ausstattung der Gräber mit Grabinschriften und Epitaphen. Im hochmittelalterlichen Pisa ist dabei eine im Zeithorizont ungewöhnliche Begräbnispraxis rekonstruierbar. Um die Mauern des Doms herum hat man seit dem Ende des 11. Jh. Dutzende von antiken Sarkophagen aufgestellt, die als Grablegen von Verwandtschaftsgruppen der politischen und wirtschaftlichen Führungsschicht der Kommune genutzt wurden. In der Regel waren diese durch Namensinschriften neben den Sarkophagen den jeweiligen Verwandtschaftsgruppen zugeordnet. In einigen Fällen haben sich jedoch zusätzlich ausführliche Epitaphe für einzelne Personen erhalten, vergleichbar dem im Carmen in victoriam Pisanorum angesprochenen Epitaph des Ugo Visconte. Eines der im aktuellen Zusammenhang interessantesten Epitaphe ist das für einen Konsul der Kommune namens Rodulfus und dessen Neffen Bonifatius: CONSUL RODULFUS HIC IACET IN TUMBA, QUI COTIDIE AB OMNIBUS QUASI MARE SONAT, ET PRECLARISSIMUS NEPOS EIUS BONIFATIUS NOBILISSIMUS MIRABILIS ADOLESCENS, QUI MORTUUS EST IN NEAPOLIM TERTIA DIE ANTE PENTECOSTEN. 32 Violante 1966, 361–376; Violante 1991, 37–60. 33 So schon Violante 1966, 376.
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ANNO DOMINICE INCARNATIONIS M. C. OCTA[vo] (…)34
Hier liegt der Konsul Rodulfus begraben, dessen Andenken an jedem Tag so allgegenwärtig ist wie das Rauschen des Meeres, und auch sein ruhmreicher Neffe Bonifatius, der alleredelste und wunderbarste Jüngling, der in Neapel am dritten Tag vor Pfingsten gestorben ist. Im eintausendeinhundert [achten/achtzehnten] Jahre der Fleischwerdung des Herrn.
Diese entweder auf 1107 oder 1117 zu datierende Inschrift35 erinnert an einen Konsul, über den ansonsten nichts weiter bekannt ist. Im Pisaner Korpus ist die verwendete Meeres-Metapher singulär: Sein Andenken sei so allgegenwärtig wie das Rauschen des Meeres, das den Pisanern wohlvertraut gewesen sein dürfte.36 Dies gilt nicht zuletzt auch für die Angehörigen der Pisaner Führungsschicht, die in ganz unmittelbarer Weise mit dem Meer in Verbindung standen, sei es als politische Amtsträger, die nicht zuletzt auch die Führung der Flotten und die Sicherung des von Pisa beanspruchten Seegebietes zu übernehmen hatten, sei es als Schiffseigner und Investoren im Mittelmeerhandel.37 Im gleichen Grab ist Rodulfus’ Neffe Bonifatius bestattet, der der Inschrift zufolge in Neapel verstorben ist. Leider wird nichts über die Umstände seines Todes oder über die Gründe für seinen Aufenthalt in Neapel gesagt. Die zuvor schon belegte Praxis, in der Fremde verstorbene Pisaner in ihre Heimatstadt zurückzuführen und dort in ihrem Familiengrab zu bestatten, lässt sich so jedoch für einen weiteren Fall belegen, so dass sich die Indizien verdichten, dass diese Praxis, wenn schon nicht üblich, so doch wenigstens häufig war. Zwei weitere Inschriften sind für den aktuellen Kontext von Interesse, da sich beide mit den Kämpfen der Pisaner gegen die Muslime im westlichen Mittelmeer in Verbindung bringen lassen. Einmal mehr zeigt sich der implizite Bezug der Pisaner Sepulkral- und Memorialkultur zum Mittelmeer. Wie gezeigt werden wird, finden sich aber auch hier keine expliziten Bezüge auf das Meer bzw. den Tod auf dem Meer. 34
Banti 2000, Nr. 5, 19 f. Zur Datierungsfrage von der Höh 2006, 243–246. 36 Die entsprechende Formulierung ist natürlich eine Anleihe bei Jeremia, Kapitel VI, wo über die heranziehenden Feinde Israels gesagt wird „vox eius quasi mare sonabit“. 37 Zur Einbindung der Pisaner Führungsschicht in den Mittelmeerhandel Rossetti 1973, 209– 337, hier 328 f. Naturgemäß gibt es für diese frühe Zeit keine direkten Quellen für die Beteiligung von Mitgliedern der Pisaner Führungsschicht am Mittelmeerhandel. Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass die Pisaner Führungsschichten am großen Reichtum der Seestadt partizipiert haben. Rossetti 1977, 245 führt die relative Stabilität des Grundbesitzes in Pisa und im Umland der Stadt darauf zurück, dass das Kapital in Pisa in anderen Bereichen, eben im Überseehandel, investiert wurde. Hierzu auch Tangheroni 2000, 9. 35
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Das erste Epitaph erinnert an einen Pisaner namens Ugo, der nicht identisch mit dem zuvor erwähnten Ugo Visconte ist.38 Dieses befand sich ursprünglich am Dom über dem Sarkophag des Bestatteten: ✠ UGO MAIORUM PISARUM NOBILIS UNUS QUEM NUNC DEFUNCTUM SUBDITA TUMBA TEGIT CONIUGO FIDUS FELIX CUM CONIUGE VIXIT ILLA PER EQUATAS REDDIDIT INDE VICES FORTE SUB OCCIDUO FUERAT GENS IMPIA SOLE QUAM MUNDO EVELLI NUMINA SACRA IUBENT PISARUM POPULUS VINDICTAM MISSUS AD ISTAM INTER DUCTORES HUNC HABUIT IUVENEM ISTE FUIT IUVENIUS QUO NULLUS GRATIOR ALTER SENSU DOCTRINA CONSILIOVE FUIT TEMPORIBUS IUVENIS SED ERAT PROBITATE SENILI FRENA IUVENTUTI DE PROBITATE FERENS PECTORIS AUDACIS SIBI LAUDES ARMAQUE QUERENS MISERAT HISPANOS MORTIS IN ORA TENUS DEIECIT MAUROS GLADIOQUE FURENTE PEREMIT CAPTORUMQUE DUCUM COLLA SUPERBA TRAXIT TEMPORE QUO GEMINI TOLERANT INCENDIA SOLIS ET MENSIS MEDIA PARTE REMISSUS TEGIT TUNC PREDICTUS UGO SUB TEMPORE DESIT ESSE PERPETUO VIVENS NULLA PERICLA TIMET39
Ugo, ein Edler unter den Großen Pisas, dessen Leichnam nun dieses Grab hier unten birgt, lebte glücklich und in Treue zu seiner Ehefrau, weshalb sie ihm das Gleiche entgegenbrachte. Das Schicksal bestimmte, dass ein ungläubiges Volk dort lebte, wo die Sonne untergeht. [gemeint sind natürlich die Muslime auf der iberischen Halbinsel!] Dieses von der Welt zu tilgen, befahlen die göttlichen Worte. Das Pisaner Volk, das zu diesem Befreiungszug entsandt wurde, hatte den [hier bestatteten Ugo] als Jüngling unter seinen Führern. Aufgrund seiner Gesinnung, seiner Bildung und Klugheit war er beliebter als alle anderen. Dem Alter nach ein Jüngling, hatte er doch die Stärke des Alters, weil er seiner Jugendlichkeit die Zügel der Tugend angelegt hatte. Mutigen Herzens verlangte es ihn nach ruhmvollen Taten und Kämpfen, er sandte die Spanier an die Ufer des Todes, erschlug die Mauren, tötete sie mit wild wütendem Schwert und zog die gefangenen Anführer an ihren hochmütigen Hälsen hinter sich her. Zu der Zeit, als die Zwillinge die Feuer der Sonne erduldeten und der mittlere Teil des Monats schon vergangen war, da hörte der genannte Ugo auf, der Zeit unterworfen zu sein und fürchtet von da an in Ewigkeit lebend keine Gefahren mehr. 38 39
Zur Person Banti 2001, 43–52. Text nach Banti 2000, Nr. 61, 52 f. Hier auch die ältere Literatur. Zur Inschrift allgemein jetzt auch von der Höh 2006, 302–306.
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Das Epitaph ist durch die für die Pisaner Erinnerungskultur des 12. Jh. charakteristische Orientierung an antiken Formen geprägt. Diese zeigt sich schon in der bereits erwähnten Wiederverwendung antiker (römischer) Sarkophage, aber auch auf der Text-Ebene, konkret im hier aufgegriffenen Topos des Puer senex. Im aktuellen Zusammenhang ist das Epitaph wiederum aufgrund eines Negativbefundes von großem Interesse: Ugo war einer der Anführer des Pisaner Angriffs auf die Balearen und war dabei – wie nahezu alle Angehörigen der Pisaner Konsulararistokratie – auch als Schiffsführer tätig.40 Die bereits erwähnte Eroberung der Balearen 1113–15 war eine der größten Pisaner Flottenexpeditionen des 12. Jh. Beides muss deshalb noch einmal betont werden, weil nur so deutlich wird, was der Text komplett ausklammert: Wüsste man nichts über die historischen Hintergründe, so wäre aufgrund des Textes nicht erkennbar, dass hier etwas geschildert wird, das eng mit dem Meer verbunden ist. Von der See, von Schiffen oder der beschwerlichen Fahrt zu den Balearen erfährt man nichts. Hier wird in ausschließlich „terrestrischer“ Sprache über die Kämpfe mit den Muslimen berichtet. Die bereits thematisierte Tendenz der Pisaner Texte, die maritime Dimension der eigenen Geschichte gerade nicht zu akzentuieren, findet sich so auch in den Epitaphen. Dies gilt auch für das letzte hier zu zitierende Epitaph für einen gewissen Konsul Henricus: QUAM SEQUERIS BELLI FORTUNA LAUDE SEQUARIS ROMAM PISA TUI CONSULIS EGREGII CLARUIT HENRICUS DIC DIC VIRTUTIBUS ALTIS NOMEN CUIUS ERIT SEMPER IN ORE MEIS HIC TIBI NEMPE CATO FUIT ECTOR TULLIUS ALTER MENTE MANU LINGUA PAR TRIBUS UNUS HOMO FABRICIUS CASTIS SPREVIT TEMPORIBUS OLIM MUNERA CONTEMPSIT HIC ET IN ORBE LEVI REGULUS ISTE TIBI CAPTUS TUA BELLA GERENDO BLANDA MINAS MORTEM SPERNERE FERRE PATI PREPOSUIT PRO TE MUTANS NON VIVERE PERDENS CLAUDITUR HIC, MUNDI CLIMATA CORDE TENENS41
Wie du, Pisa, im Kriegsglück Rom nacheiferst, so folge ihm auch im Lobpreis deines vortrefflichen Konsuls: Sprich daher: ‚Henricus glänzte durch hohe Tugenden. Sein Name wird stets im Mund der meinen sein.‘ Denn er war dir ein zweiter Cato, Hector und Cicero; ein Mann, doch durch Verstand, Tat und Rede dreien ebenbürtig. Wie Fabricius einst in moralisch integreren Zeiten irdische Güter zurückwies, so verschmähte Henricus sie auch in dieser verworfenen Welt. Er, der dir ein neuer Regulus war, wurde gefangen, als er für dich Krieg führte, und zog 40 41
Vgl. Anm. 38. Text nach Banti 2000, Nr. 57, 50 f. Zur Inschrift wiederum allgemein von der Höh 2006, 307–314.
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es dann vor, Schmeicheleien zurückweisend und Drohungen ertragend, für Dich den Tod zu erleiden, da dieser für ihn nicht der Verlust des Lebens, sondern nur ein Übergang war. Hier im Grab eingeschlossen trägt er die Weiten der Welt im Herzen.
Auch hier fällt zunächst der Antiken-Bezug ins Auge, der charakteristisch ist für die gesamte Pisaner Erinnerungskultur des 11. und 12. Jh. Vor allem ist jedoch wiederum das Fehlen jeglicher maritimer Bezüge zu konstatieren. Zwar weiß man nichts Weiteres über diesen Konsul, so dass nicht zweifelsfrei zu bestimmen ist, worauf konkret sich die im Inschriftentext enthaltenen Anspielungen beziehen. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass Henricus im Zusammenhang mit dem das 12. Jh. bestimmenden Konflikt mit der ligurischen Konkurrentin Genua gestorben ist. Der Text wäre sicher deutlicher geworden, wenn die Kämpfe mit den Muslimen gemeint wären. Man kann so mit aller Vorsicht schließen, dass Henricus wohl in genuesischer Gefangenschaft gestorben ist. Sicher belegt der Inschriftentext in jedem Fall, dass auch die Leiche dieses Angehörigen der kommunalen Führungsschicht nach Pisa zurückgebracht worden ist, womit ein weiterer Beleg für die Praxis der Überführung exponierter Pisaner vorliegt.
Grabinschriften für Muslime in Pisa Es dürfte schon deutlich geworden sein, dass sich in Pisa an der Wende vom 11. zum 12. Jh. eine besondere Sensibilität für das funktionale Potential von Inschriften herausgebildet hat.42 Vor allem der Domplatz als symbolisches Zentrum der Stadt war geradezu übersät mit epigraphischen Texten. Ein großer Teil dieser Texte und eben nicht nur die vorgestellten Epitaphe thematisieren dabei die Auseinandersetzungen der Pisaner mit den Muslimen im westlichen Mittelmeerraum. Diese Kämpfe mit den „Sarazenen“ waren der Kern des städtischen Selbstbildes. Neben den Inschriften waren es vor allem Trophäen, also Beutestücke, die den besiegten Muslimen geraubt wurden und die in verweisender Funktion im Stadtraum ausgestellt und so als Gedächtnismedien eingesetzt worden sind. Unter diesen Trophäen ist eine für den Kontext der mediterranen Sepulkralkultur von besonderem Interesse. Aus der Beute des schon erwähnten Kriegszugs gegen das nordafrikanische alMahdīya finanzierten die Pisaner den Bau der kleinen Kirche San Sisto in Cortevecchia, gelegen im politischen Zentrum der entstehenden Kommune.43 An deren Fassade brachte man nach 1115 eine Inschrift an, die nachweislich auf den Balearen erbeutet worden war (Abb. 1). Es handelt sich hierbei um die Grabinschrift 42 43
Vgl. die Synthese bei von der Höh 2006, 365–370. Zu San Sisto ebenfalls ausführlich von der Höh 2006, 254–262.
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Abb. 1: Inschriftenfragment, heute im Inneren von San Sisto in Cortevecchia, Pisa, Westwand, angebracht (Foto: Vf.).
für den 1094 verstorbenen Emir ʿAbd Allah al-Murtada, Herrscher von Mallorca. Dieser war der Vorgänger des 1115 von den Pisanern besiegten und getöteten Mubāšir ibn Sulaymān Naṣir ad-Daula.44 Bemerkenswert ist hierbei zunächst, dass man eine arabische Grabinschrift in Pisa in einen Kirchenbau einfügte, um an den Sieg über die Muslime zu erinnern. Mindestens genauso interessant ist aber, wie diese Inschrift nach Pisa gelangte. Es besteht kein Zweifel daran, dass der Emir nicht in Pisa, sondern auf den Balearen gestorben ist, so dass man davon ausgehen kann, dass die Pisaner die Inschrift vom Grab des Emirs entfernt und nach Pisa gebracht haben. Was man dabei mit dem Grab bzw. der Leiche des verstorbenen Emirs getan hat, bleibt unklar. Allein die Tatsache, dass die Grabinschrift entfernt wurde, müsste allerdings nach heutiger Vorstellung bereits als Grabschändung gewertet werden. Die Pisaner haben also auf den Balearen genau das getan, was sie den Muslimen al-Mahdīyas unterstellt hatten. Über Ugo Visconte dichtete der Verfasser des Carmen in victoriam Pisanorum: 44
Zur Inschrift und zur Person des Emir Barral 1994, 119–126.
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Non iacebis tu sepultus hac in terra pessima ne te tractent Saraceni, qui sunt quasi bestia. Pisa nobilis te ponet in sepulcrum patrium, te Italia plorabit, legens epitaphium.45 Du sollst nicht in diesem so bösen Land begraben liegen, damit dich die Sarazenen nicht aus der Erde holen können, diese Bestien! Das edle Pisa wird dich in das Grab deiner Väter legen, Italien wird dich beklagen, wenn es dein Epitaph liest!
Was die Pisaner den vermeintlich bestialischen Muslimen unterstellten, haben sie somit nachweislich selbst praktiziert. Zumindest im Kontext militärischer Konfrontationen ist entsprechend die Gewalt gegen Grablegen bzw. die bestatteten (oder unbestatteten) Leichen der Gegner ein unbedingt zu berücksichtigender Aspekt von Sepulkralkultur im umfassenden Sinne. Die Präsenz von Muslimen in Pisa ist wie bereits gesagt in den Quellen nur schwer nachzuweisen. Eine Gruppe ist dabei allerdings vergleichsweise gut dokumentiert: die muslimischen Kriegsgefangenen. Vor allem in der ersten Hälfte des 12. Jh. lassen sich zahlreiche Belege für deren Präsenz in Pisa finden. Besonders interessant ist dabei der Fall des Sohns des Zīriden-Herrschers von al-Mahdīya, Tamim/Timinus, der seit den 30er Jahren als „publicus preco“, also als öffentlicher Ausrufer oder Herold der Kommune amtierte und in dieser Funktion sogar Verträge mit christlichen und muslimischen Herrschern im Namen der Kommune abschloss.46 Was mit diesem und den übrigen in Pisa nachweisbaren Muslimen nach ihrem Tode geschah, entzieht sich vollkommen unserer Kenntnis. Ein einzigartiges Zeugnis belegt jedoch zumindest ein Begräbnis einer muslimischen Kriegsgefangenen in Pisa, und das vermutlich sogar in unmittelbarer Nähe zum Pisaner Dom. An der Fassade des Doms ist heute das Epitaph für eine Muslima eingelassen, um deren Figur sich in der Pisaner Historiographie ein fast unentwirrbares Geflecht von Legenden gesponnen hat: ✠ REGIA ME PROLES GENUIT PISE RAPUERUNT HIS EGO CUM NATO BELLICA PREDA FUI MAIORICE REGNUM TENUI NUNC CONDITA SAXO QUOD CERNIS IACEO FINE POTITA MEO QUISQUIS ES ERGO TUE MEMOR ESTO CONDITIONIS ATQUE PIA PRO ME MENTE PRECARE DEUM47
Aus königlicher Familie wurde ich geboren, Pisa hat mich verschleppt, für das ich zusammen mit meinem Sohn Kriegsbeute war. Das Königreich Mallorcas beherrschte ich, nun liege ich, wie du siehst, unter diesem Stein begraben, nachdem ich mein Ende erreicht habe. Wer immer du bist, denke an deine Bestimmung und bete mit frommem Geist für mich zu Gott. 45
Carmen in victoriam Pisanorum, Vv. 185–188. Zu diesem von der Höh 2015, 156. 47 Banti 2000, Nr. 60, 52.
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Wer diese „Regina di Mallorca“ war, ist aufgrund der angesprochenen Legendenbildung und der Schwierigkeiten bei der Interpretation der Inschrift nur mit Mühe zu bestimmen. Zahlreiche gefangene muslimische Frauen kommen für eine Identifizierung in Frage.48 Die zurzeit wahrscheinlichste Interpretation ist, dass es sich bei der am Pisaner Dom bestatteten Muslima bzw. Konvertitin um die Ehefrau des Taifen-Herrschers von Denia, Abū-l-Ğaiš Muğāhid (dieser †1044), handelt. Diese wurde im Zusammenhang mit den Kämpfen um Sardinien in der ersten Hälfte des 11. Jh. nach Pisa verschleppt und ist dort offensichtlich bestattet worden. Wo der genaue Bestattungsort lag, kann nicht mehr bestimmt werden, da die Inschrift sich sicher nicht mehr im ursprünglichen Grabkontext befindet.49 Gerade die Versetzung der Inschrift ist im Zusammenhang der mediterranen Sepulkralkultur jedoch bemerkenswert. Angebracht wurde das zitierte Epitaph der Regina di Mallorca an der Fassade des neuen, seit 1063 errichteten Pisaner Doms. Eingeordnet in die Baugeschichte des Doms wird man diese Wiederverwendung der Inschrift in die Mitte des 12. Jh. datieren können.50 Hier stand sie in engem architektonischen und inhaltlichen Zusammenhang mit den schon angesprochenen Inschriften, die auf die Kämpfe der Pisaner mit den Muslimen verwiesen haben. In diesem Fall haben die Pisaner zwar vermutlich den Leichnam der Muslima nicht angerührt, durch das wiederverwendete Epitaph wurde sie indirekt aber gleichwohl zu einer Trophäe bzw. zu einem Erinnerungszeichen, das an die Pisaner Siege erinnern sollte. Die Wiederverwendung des Epitaphs der „Regina di Mallorca“ lässt sich also durchaus mit der zuvor angesprochenen arabischen Inschrift von der Fassade von San Sisto vergleichen. In beiden Fällen werden Teile der Grabanlage tatsächlich oder vermeintlich besiegter Gegner als Trophäen im öffentlichen Raum der Kommune ausgestellt.
Fazit Am Ende dieses kurzen Blicks auf die in den Quellen zu fassende Sepulkralkultur der hochmittelalterlichen Pisaner seien zusammenfassend zwei Befunde noch einmal akzentuiert. Zunächst ein Negativbefund: Über das Sterben auf dem Meer und den Umgang mit auf und in der See verstorbenen Personen erfahren wir aus den hochmittelalterlichen Pisaner Quellen nichts. Erklären lässt sich dies, wie angedeutet, mit der auch in anderen Bereichen erkennbaren Sprachlosigkeit der zeitgenössischen 48
Zur Diskussion um die Identifizierung zuletzt von der Höh 2015, 156–163 mit weiteren Literaturangaben. 49 Zur schwierigen Interpretation der epigraphischen und baugeschichtlichen Befunde von der Höh 2006, 413 f. 50 Scalia 1963, 278 f. schlägt eine Datierung in die Mitte des 12. Jahrhunderts vor; Banti 2000, 52 datiert allerdings in die zweite Hälfte des 12. Jh.
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Historiographen, wenn es um die maritime Dimension der Pisaner Geschichte des 11. und 12. Jh. ging. Das Meer wurde noch weitgehend als ein Raum der Kontingenz, der dämonischen Kräfte und des Unheimlichen wahrgenommen. Ein pragmatischer Weg im Umgang mit dieser neuen Realität, auch im Bereich der Bestattungskultur, scheint sich erst im späteren Mittelalter ausgebildet zu haben. Der zweite Befund betrifft den Umgang mit Bestattungen im Umfeld der militärischen Auseinandersetzungen im westlichen Mittelmeerraum. Hier ließen sich mehrere Belege dafür finden, dass man die in Übersee gefallenen Mitbürger, zumindest teilweise nach entsprechenden Konservierungsmaßnahmen, nach Pisa zurückbrachte, um sie dort zu bestatten. Einer der Hintergründe dieser Praxis konnte in der Angst vor einer vermuteten Schändung der Leichen durch die Gegner, vor allem die Muslime, identifiziert werden. Interessanterweise ließen sich parallel dazu zwei Fälle rekonstruieren, in denen die Pisaner selbst Teile der Grabanlagen verstorbener Muslime raubten bzw. in neue Zusammenhänge einfügten. In beiden Fällen ging es darum, die Verstorbenen bzw. die an sie erinnernden epigraphischen Zeugnisse als Trophäen, als Siegeszeichen der erfolgreichen Kämpfe der Pisaner gegen die Muslime auszustellen. Entsprechend ist es weniger das Meer, das die Sepulkralkultur der Pisaner im 11. und 12. Jh. prägte, als vielmehr die mediterrane Verflechtung und hier insbesondere deren kriegerische Seite. Mobilität von Leichen und Grabbestandteilen waren somit ein zentraler Bereich der Sepulkralkultur sowie insgesamt der hochmittelalterlichen Erinnerungskultur der Seestadt Pisa.
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Ana Echevarria Funerary Practices in a Multi-Religious Context from the Iberian Peninsula to the Eastern Mediterranean∗ Abstract Burial rites of religious minorities in the Iberian Peninsula were dominated by strong issues of identity from the twelfth to the fifteenth centuries. Treaties and royal law permitted Jews and Muslims under Christian rule to maintain separate cemeteries, where these religious minorities enjoyed absolute freedom of ritual and practice. Within this framework, therefore, Jewish and Islamic religious ideology could be fostered as well as the sense of belonging to a select, religiously defined group. This paper will be divided in two parts. In the first, I analyze a number of features of Islamic and Jewish cemeteries in Christian Iberia and the capacity of these communities to negotiate their situation in the city. The second part will discuss the particular features of Muslim cemeteries in the Christian kingdoms of Iberia, including social and gender markers on their tombstones and in their graves. Recent excavations permit a deeper discussion of the rituals preferred by Muslims in Iberia and a comparison with those rituals practiced by their coreligionists in the Magreb, Egypt and Turkey. The dominance of Maliki legal prescriptions, alongside the legal and social prescriptions imposed on the Christian Islamic community in their subjected situation, resulted in significant differences that complicate the labeling of a “Mediterranean” transmission of burial customs in this period.
The presence of Muslims, Jews and Christians in the Iberian Peninsula provides an illustrative setting for the study of death across cultures. In a land with a long tradition of cohabitation,1 funerary habits accommodated to changing frontiers and population shifts over the centuries, but these funerary practices also were pervaded with an intense feeling of belonging to a select group defined by their religious affiliations. ∗
The research for this article has developed within the framework of the project Islam medieval en Castilla y León: realidades, restos y recursos patrimoniales (ss. XIII–XVI), funded by the Junta de Castilla y León, Spain. It was finished during a Visiting Fellowship at the Kulturwissenschaftliche Kolleg, Universität Konstanz. 1 I have chosen this term because it was used by contemporaries, like Alonso de Madrigal, Responsio in quaestione de muliere sarracena transeunte ad statum et ritum iudaicum (1451), Salamanca University Library, ms. 70, fol. 90v.
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Issues of identity dominated the construction of burial rites of religious minorities in the Iberian Peninsula between the twelfth and fifteenth centuries.2 Treaties and royal law permitted Jews and Muslims living under Christian lords to maintain separate cemeteries, where they enjoyed absolute freedom of ritual and practice with the protection of the king. These cemeteries remained separate from Christian ones, although in practice, the burial grounds of the different faiths at times lay adjacent to one another.3 Non-written assumptions of religious minorities combined with the requirements that each community had specified in their own sacred books determined the negotiation of burial space in Iberian cities. In cities and towns where Christian dwellers replaced Islamic inhabitants after the thirteenth century, the new Christian inhabitants abolished and rebuilt some of the old Islamic cemeteries. A more comprehensive destruction of the Islamic and Jewish sacred space occurred after the expulsion of Jews in 1492 and mass baptisms of Muslims in 1502 and 1516, when royal orders were issued for the removal of gravestones from graveyards and their reuse in new Christian buildings.4 This significant difficulty in locating Islamic and Jewish cemeteries in their urban contexts limits the development of archaeological research on this topic. Further problems are linked to difficulties in locating the remains and fragmentary information due to outdated archaeological practices, not to speak of the difficulties of technical archaeological reports in reaching a scholarly audience. This paper will analyze a series of mid-sized towns in the Iberian Peninsula, where recent excavations have revealed patterns of burial that allow comparative analyses.
Negotiation of Burial Space and Religious Requisites for Muslim & Jewish Cemeteries The special ritual features of Islamic and Jewish cemeteries suggest avenues for understanding these cemeteries’ locations in towns throughout Christian Iberia. The capacity of these communities to negotiate the situation of their burial grounds varied in time and in geographic zones. For instance, after Alfonso VI conquered Toledo in the eleventh century and it became the capital city of the restored Gothic kingdom of Hispania, all this according to Christian propaganda, Christian rulers needed new lands for Christian settlers. Therefore, they displaced the cemeteries of minorities and moved their burial sites further from the walled center. On the other hand, the Muslim population of a town such as Ávila arrived as slaves or migrant settlers after the twelfth century and established a big 2
As I have recently shown in Echevarria 2013. This was also the case in other places with several communities, like in Cairo, where Muslim cemeteries were adjacent to dhimmi graveyards, Ohtoshi 2006, 85. In Toledo, Ruiz Taboada 2015, 53–54. A more especial case was small, shared burial grounds in the transition for the Gothic period to early Islam in the central Iberian Peninsula, as shown by Vigil-Escalera 2009. 4 Bellido et al. 2001; Ortego 2011, with more bibliography. 3
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cemetery for Muslims close to the Southern gate of the wall. In the same town, Jews had constructed three cemeteries around, yet always outside, the town’s walls. Christians had their own requisites for these cemeteries of other faiths. First, Islamic and Jewish communities were required to situate their cemeteries in places with the least visual impact in the city. Consequently, these cemeteries usually were placed close to the riverbed in hilly places, so that they can only be seen from certain spots in the city. Outstanding funerary monuments generally were discouraged unless the cemetery walls were high enough. There are significantly fewer Islamic funerary monuments, as Islamic cemeteries were generally unenclosed. Funerary processions had to be kept out of the way, the same as wailing, funerals and celebrations at the tombs, especially on Sundays. All these measures contributed to demarcate spaces within the city, and prevent Christians from becoming familiar with the rituals that other faiths performed in their own, walled cemeteries. Additionally, these measures served to control large gatherings of non-Christian believers when they gathered for public rituals, from the funeral parlor to the end of the procedures. For the Jewish community, the maintenance of their cemetery was even more important than having a synagogue. Smaller communities often travelled to larger aljamas5 for the burial of their deceased. In Iberia, these cemeteries bore striking similarities to Christian and Muslim ones. Consequently, modern archaeologists can only distinguish Jewish grave sites by gravestones, the disposal of the body and a few funerary objects. One particular feature provides clues for the detection of Jewish cemeteries, namely the brick vault called lucillo, which has only been found in these burial places. Some authors have posed it as the differential feature of Jewish cemeteries.6 Instead of being inside the city walls, or within the boundaries of a church or a monastery, as Christian graveyards were, Jewish cemeteries were placed outside the Jewish quarter – called call or judería – beyond the city’s walls, normally over a hill in non-tilled land and separated from the city by a current of water. Archaeologists have found such examples outside the cities of Calatayud, Gerona, Barcelona and Segovia.7 Jewish law prescribed water to clean any impurity from contact with a corpse, which defiled not only those who touched it, but could also affect those situated nearby. By this same prescription, the cemetery needed to be surrounded by a wall, a measure that also 5
The term aljama refers to an organized community of Muslims under a Christian lord, juridically acknowledged by the king. It appears systematically in Castile only during the fourteenth century, suggesting that what developed then was an institutionalized assembly to lead the Muslim community, along the lines of a city council, at the same time that the latter body was reaching its apogee in the Christians’ administration. The term was extended tp include Jewish communities and their authorities. Echevarria 2011, 115. 6 Ruiz Taboada 2009, 31–32 ; Ruiz Taboada 2011, 292–294; Barrio Aldea et al. 2011. 7 Durán et al. 1947, 232–233; Cantera 1998, 168–171. Similar to Tetuán, Vilar Ramírez 1970; Abensur 1998.
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served to protect the tombs.8 Even though it lay outside the city walls, the graveyard still had to be close enough to the Jewish quarter, as the Talmud prescribed that the judería’s boundary should be within 50 feet from the closest house.9 If this was not possible, the judería should not be further than two or three kilometers from the graveyard. The path from the Jewish quarter to the cemetery had to be straight through the closest city gate, preferably without crossing through Christian neighborhoods. If the Jewish community had to cross the Christian threshold, the procession had to silence their songs and mourning each time they went past a Christian church. After the ritual washing and funeral, the body was taken in procession to the graveyard in a coffin or on a bier. Once in the cemetery, the corpse could be buried with or without a coffin. Perhaps due to Islamic influence, Sephardic Jews preferred direct contact with the ground, as stated by Nahmanides. The body was placed with its head oriented to the West and its feet to the East, so when the deceased were raised in the Final Judgment, they would face Jerusalem. The body’s legs were either straight or crossed and its arms were crossed over the chest. The tomb then was covered with earth and a cover. Each anniversary, the family brought new stones to cover the sepulcher. In the final moments, the family laid herbs or sand from a rabbi’s tomb over the head to ward off the angel of death.10 As recent excavations have shown, the shapes of Jewish tombs varied. This was in direct contrast to Muslim graves, which were straight and narrow so that the body would not move from its lateral position. The shapes of the pits for the Jews ranged from anthropomorphic to trapezoidal, oval, rectangular or irregular; caves were also used. The materials of these pits – and those of their coverings – varied depending on availability. Archaeologists have found tombs most commonly made of limestone, sandstone or granite flagstones and baked clay. Scholars, however, have rarely come across tombs of marble or alabaster which might have originally existed but which Christians subsequently reused after the abandonment of Jewish cemeteries.11 Jewish law permitted the construction of gravestones in cemeteries. Sephardic cemeteries could contain big slabs of around 2 m tall, while Ashkenazic cemeteries usually possessed more regular-sized standing gravestones (cipos). But in places like Montjuich (situated outside of Barcelona), archaeologists have uncovered uncarved, unengraved standing stones used as markers in the Jewish cemetery. Therefore, we cannot speak of significant differences between the practices of Sephardic and Ashkenazic Jews in this respect. The bigger ones were quadrangular in shape, finished in pyramid and either placed horizontally over the tomb 8
Bueno 2016. Mentions of eruv, the walled enclosure in a Jewish neighborhood, can be found in chapters 1 and 11 of the Talmud. 10 Cantera 1998, 119–125. 11 Durán et al. 1947, 239–249 ; Ruiz Taboada 2009; Cabrera et al. 2013. 9
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or standing with its epigraphy oriented to the East. In contrast to Muslim tombstones, these inscriptions were standardized with mentions of the name of the deceased, eulogies and formulae taken from Biblical passages, and the cause of death (particularly in the cases of a violent end). Last words were “amen” or “let him rest in peace”. Few iconographic motifs have been found, which primarily include the magen David (shield or star of David), the menorah or the etrog (cidra).12 Sephardic Jews carried these practices to new settlements along the Mediterranean after their forced migration in 1492. Muslims under Christian authority could continue using some of their cemeteries constructed before the conquest if they negotiated for these rights at the time of their surrender. Additionally, new burial areas could emerge in cities with new Muslim emigration to the north of the Christian kingdoms. These subdued Muslims (called Mudejars in the Granadan sources of the fourteenth century) fostered a particular sense of belonging to the broader Islamic ‘ummā in their last earthly abode: their cemetery, where they could carry out their last rituals in peace without Christian interference. New Muslim cemeteries in Castile and Aragon, those that were negotiated ex profeso with Christian authorities and not a remnant of former periods, carefully applied Maliki prescriptions for these sacred spaces in order to keep their religious strictness. The Muslim community in these areas placed primary importance on the place for the cemetery to encourage a clear separation from Christian and Jewish burial areas. Unlike Christian practices, burials inside the mosque and the location of mosques inside cemeteries was strictly forbidden. Most graveyards were built near the river or by the sea, or even near wells, since it was believed that water was needed to relieve the thirst of spirits while they rested waiting for resurrection.13 In al-Andalus, cemeteries were usually located in the outskirts of the cities along the main roads, normally outside the city wall or in the suburbs, although there are exceptions.14 The same holds true for Mudejar cemeteries, although there are fewer cemeteries than when the north was under Islamic control. For instance, if Almohad Seville had sixteen cemeteries in the thirteenth century and Cordoba had thirteen, usually one Muslim cemetery and one or two Jewish ones existed in a Castilian city or a middle-sized town. Walls or any other type of enclosure did not typically surround Muslim graveyards, but ovens or houses could be built along their boundaries. It is interesting to note that although Muslim quarters may change places due to political reasons and new mosques might be built to serve them, cemeteries seldom moved to other locations, but their extension instead was enlarged.15 The need to ensure enough land for Muslims to be buried 12
Durán et al. 1947, 255–259. Valor et al. 2014, 242–243. 14 Torres Palomo et al. 1995. 15 An exception is Valladolid. Villanueva 2007, 23–26. 13
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in the soil, as prescribed, meant that cemeteries had to be out of the way, in places which could extend beyond the usual limits of the city. For instance in Ávila, the Islamic cemetery lay on the bank of a river opposite a hospital for captives over Saint Matthew’s Hill that was close to one of the main ways out of the city although still outside the city’s walls. This place ensured easy access from two city gates, so that funerary processions could proceed without disturbing either the Christian or the Jewish communities. Since urban processions were public events, they helped promote communal feelings, but could at the same time cause strife with Christian citizens who lived in the same neighbourhoods. Both Muslims and Jews in these circumstances seem to have developed a policy of discretion, as they kept their external mourning within very strict limits. During the procession and subsequent prayers at the cemetery, the position of all the members of the community around the corpse was determined, having the imām or the faqῑh closest to the bier. After the two first days following the death, funerals attended by men or women separately in the cemetery were forbidden.16 Burials in Castilian Muslim graveyards contained the bodies in the prescribed canonical position. Permitted architectural devices were used to cover some of the tombs, and even set into the grave to keep the body or head in the proper position, and stones next to the head of the deceased and outlines of rock or low clay walls that could support a wooden cover, although the earth was kept always as a base. In this way, Muslims respected the prohibition against using plaster, lime or baked brick either inside or above the tomb. These same elements appear also in contemporary Muslim cemeteries such as those found in Granada, Valladolid, Murcia, Valencia and Crevillente.17 The orientation of the bodies and tombs followed the Maliki traditionalist rituals that prescribed the orientation of the body in right lateral decubitus position and slightly turned towards the South-East direction, which was thought to be the direction of the qibla from al-Andalus. The bodies were carefully organised in rows with corridors for transit.18 Excavations in different Muslim cemeteries from Castile and Aragon have uncovered remains of square in cross-section with an L-shaped head iron nails. These nails either formed part of the wooden bier in which the corpse was carried to the cemetery or part of the wooden structure that shielded part of the corpses 16
Prayers over the deceased (ṣalawāt al-janā’iz) were carefully ordered, and there were three places where the ṣalawāt could be recited: at home, during the vigil; before the mosque, during the procession, but without entering the building; and at the cemetery. Echevarria et al. 2010, 273. 289; Echevarria 2013, 353. 17 For the sources of these prohibitions, Fierro 2000, 156; Echevarria 2013, 355–358; Peral Bejarano 1995, 11–35. 18 Fierro 2000. For orientation towards the qibla or Jerusalem, see Halevi 2007, 182–183. 321, n. 99. Particularities of orientation in Ávila, Alonso et al. 43–44; Echevarria 2013, 358. For Toledo: Trelis et al. 2009; Ruiz Taboada 2015; Valladolid: Marcos Villán et al. 1991; Balado Pachón et al. 1991.
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of women and children from view, a practice that was still common in Egypt until the nineteenth century.19
Social differences in Iberian Muslim cemeteries: a Mediterranean, Islamic sepulchral culture? The Castilian word almacabra, “Muslim cemetery”, derives from the Arabic almaqbara.20 Together with qubūr, almacabra was used for Islamic burials in general, while rauda (from Arabic rawda ‘garden’) applied to the pantheons of princes and important personages.21 From the thirteenth century onwards, and probably coinciding with the period of mass manumission and the social differentiation among the members of the aljamas, physical markers (šahid, witness) in the form of gravestones began to be placed on the surface of tombs excavated in the ground, including in such cities as Ávila. Others could profit from previously built structures of brick, including the cemetery at the Roman circus in Toledo. Several devices illustrate social distinctiveness in an Iberian Muslim cemetery: a) Gravestones (ruḫāmah, lawḥ). Although Maliki jurists did not entirely ban gravestones and they even came to recommend them in opposition to bigger monuments,22 the gravestones were supposed to be unadorned and without inscriptions. Thus, the deceased was humbled by anonymity and unknown rank. The presence of inscriptions as well as the aesthetic effect of some gravestones and even family monuments clearly indicate that some social differentiation was sought and some families did ignore these recommendations. b) Archaeologists have found grave goods in the tombs. They were usually small pieces, including earrings, bracelets and bead necklaces.23 From the point of view of the burial grounds, maqbara-s (gravestones) shared Islamic codes of identification with cemeteries from the Maghrib and Turkey, such as markers (šahῑd-s) for the body’s head and feet as well as headstones.24 In 19
Tritton 1991, II, 441–442; Echevarria 2013, 254; Ruiz Taboada 2015; Trelis et al. 2009. Burton-Page 1991a; Pinilla Melguizo 1997; Jiménez Gadea 2009, 223–224; Halevi 2007, 147. 21 Torres Balbás 1967; Bulle 2012; Alemán et al. 2000. 22 Fierro 2000, 179–180; Halevi 2007, 32–34. 40–42. Iberian tombs were never marked by whole ceramic vessels as the ones found in Israel for Mamluk and Ottoman periods. Gorzalczany 2009. 23 Found everywhere, but only in a small part of the tombs excavated. Unfortunately, pieces might have been stolen. Trelis et al. 2009, 188–189; Moreda Blanco et al. 2008. 24 Also funerary monuments, Bulle 2012; Jiménez Gadea 2015; Jiménez Gadea 2010; Macías 2006.
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Castile, only the slabs coming from Ávila, and other exceptional examples from Talavera de la Reina or Toledo have been found in excavated cemeteries. The funerary steles or monuments followed the same tripartite model that was in use in other Islamic countries, with a quadrangular or truncated pyramid slab placed horizontally (between 1,60 and 1,70 m) and flanked by two cylindrical or rectangular stones of around 1 m height sunk into the ground. However, these shapes cannot be related to their immediate predecessors on Iberian soil, that is, the gravestones used by Almoravid and Almohad rulers,25 but to other patterns that will be explained below. The headstone in the form of a funerary column characterised another common typology, whose shape can be traced to the Hellenistic period. These markers appeared in Qayrawan (Tunis) as early as 862 and became widespread throughout the Maghreb and al-Andalus, where they started to be seen in cemeteries at the beginning of the eleventh century. In Egypt, headstones in the form of columns were common in Alexandria and the Nile Delta at around the same period, and they were even extended to Naples and Sicily.26 The slabs were fixed at the head-end of the grave. However, erosion has greatly damaged granite examples found in Ávila with lost inscriptions and a reduction in size that they now resemble milestones. Other regions favoured precious materials, as archaeologists have found marble tombstones in Toledo.27 Islamic jurisprudence discouraged the raising of elaborate monuments such as covered galleries, mausoleums, or pantheons in public cemeteries, but allowed the perimeter of a tomb to be marked externally with walls that rose slightly above ground level. Tombs could not, however, be covered with a roof28 and those found in Ávila were all open to the elements. The centuries-long use of cemeteries and the impossibility of expanding the grounds encouraged the widespread practice of burying several persons together in one single tomb.29 In such situations, the lack of inscriptions in tombstones would help an easy reassignment of tombs without any need to change or recarve the slab.30 There were two groups of re-used graves in Ávila, where the bones were treated differently. Dated to the end of the twelfth century, the earliest graves showed little differentiation in representation and were buried without grave goods. Therefore, these graves most likely contained captives or slaves, who 25
Martínez Nunez 2011, 199–202. Delgado Valero 1996, 292–293. 27 Jiménez Gadea 2011, 40–43. 28 Fierro 2000, 155–157. 166–170. 186–188; Halevi 2011, 32–40. 29 “If it were necessary, let them bury in one grave more than one after another, and soil in between. And in a grave used long time ago (‘Si neçesidad oviere entierren en una fuesa mas de uno enpues de otro y tierra entre medias. Y en fuesa que largo tiempo aya pasado’).” And again in common, (“A quanto enterrar mas de uno en una fuesa, pues pongan el mas abantallado dellos delante [orientado] a la alquibla”), Breviario sunni, f. 29v. Echevarria 2013, 359. 30 Ohtoshi 2006, 94–95, about reuse of tombs and gravestones.
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had been working on the great civil works of the walls and the cathedral at the time. Later expansions of the cemetery maintained the layout of rows even as the density of tombs increased within the limited space, so that sometimes three burials were superimposed with the lowest resting on the granite bedrock. In this second area of the cemetery, care was taken not to disturb previous burials. Except in three cases where groups of bones had been pushed to one end, the new body was placed carefully on top of the older one with a thin layer of soil between them to fulfil the Islamic precept that the corpse must rest directly on the earth.31 It is possible that this layout was applied to family groups, who used the same burial space and marked it with a mausoleum, as built structures were also found in the cemetery. Shared burial of relatives might be part of this practice, but anthropological analyses of the remains are still under way. Tombstones inscribed with Qur’ranic, religious quotations or with the deceased’s name and circumstances are rare in Mudejar cemeteries as opposed to the rest of the Islamic lands. Therefore, these inscribed grave markers can be regarded as a sign of social distinction as only the learned elites could afford to have a slab carved in Arabic in situ or sent from locales where Arabic was still spoken and written.32 The most extraordinary example of social distinction in a Mudejar cemetery is undoubtedly the three-part sepulchre of ‘Abd Allāh ibn Yūsuf al-Ghanīyy (the Rich), whose father erected the monument in memory of his son’s assassination. Engraved in perfect Arabic that other gravestones of the Ávila cemetery lacked, the inscription reads: “(Hādhā qabr ‘Abd Allah ‘This is the tomb of ‘Abd Allāh’) ibn Yūsuf al-Ghanīyy, unjustly murdered, may God have mercy on him (…) he died / (…) and his rule, the year of the Hijra of our Prophet Muhammad, may God bless him and keep him safe / (…) hundreds. May God reunite us with him in Paradise! There is no power or (…)”.33 More commonly, gravestones were inscribed with passages from the Qur’ān that may have mirrored the recitation of prayers at the graveyard. The strong symbolic content of Arabic language as a vehicle for the message of the Qur’ān played a fundamental role in upholding the Islamic faith and, therefore, maintained the distinct feeling of identity among Mudejars. The practice of reading a Qur’anic liturgy at the cemetery developed as early as the eighth century and gained popularity in Islamic cities very quickly, although jurists tried to limit these recitations. Scholars have postulated that Qur’anic quotations on these tombstones have the underlying intention of directing or inspiring the intercessory prayers of Muslims. Suras such as Yā-Sīn (36), al-Baqara (2) and al-Mulk (67) were re31
Alonso et al. 2006, 41. Two more archaeological reports from different periods of the graveyard are still lacking, so probably the later period will produce more evidence. 32 Werner 2004; Schöller 2004. New research is being undertaken on the subject of the use of Arabic by Muslims in Castile. Echevarria 2011; Echevarria et al. 2010. 33 The murder case and the inscription have been studied by Jiménez Gadea 2002, 34–35.
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cited on the fortieth day after the funeral or during Friday visits to the graveyard.34 Neither masters versed in Arabic nor expert calligraphers composed the Qur’anic inscriptions in the Ávila graveyard, except for the example mentioned above. The other inscriptions used cursive script with diacritic marks. Three of them are so fragmented that they hardly provide any useful information save their origin. Another inscription retrieved refers to the passage between life and death: “Death converts the passage (of time, of life) into a place of prayer, and (death) extinguishes the passage in Him. Everything will perish except his countenance. His is the command, and unto Him will you be brought back”.35 This same text is found in other gravestones from Portugal.36 Apart from these engraved markers, other different types of gravestones from Ávila reveal a strong acculturation to Christian artistic usage. Zigzags, scales, tiles, triangles and rosettes carved on tombstones in the thirteenth and fourteenth centuries find resonances with remarkably similar ornamental motifs on funerary monuments in the Cathedral or the Romanesque basilica of Saint Vincent. In the following century, gravestones were decorated with ropes, rosettes or balls, similar to those found on sarcophagi and convents built at the end of the fifteenth century in the city by renowned Late-Gothic architects such as Juan Guas and Martín de Solórzano. It is likely that the same Basque stonemasons working on these Christian sacred spaces created these Islamic funereal slabs, since Muslims were rarely employed to carve stone. The Basque craftsmanship would explain the lack of Arabic grammar and syntax evident in these somewhat bizarre Arabic inscriptions.37 Archaeologists have found another group of gravestones in Barco de Ávila, a small town in the mountains around Ávila, which share the same features and iconography.38 34
Halevi 2007, 28–29. Sura 2 was also quoted in Islamic inscriptions from the south of Portugal, in twelfth century Mértola. Macías 2006, III, 47. 35 Qur’ān XXVIII, 88. Sura 28, al-Qaṣaṣ (The Narrative). The end of the Sura speaks of the rewards given by God to those who follow him: “83 As for that Abode of the Hereafter We assign it unto those who seek not oppression in the earth, nor yet corruption. The sequel is for those who ward off (evil). 84 Whoso bringeth a good deed, he will have better than the same; while as for him who bringeth an ill-deed, those who do ill-deeds will be requited only what they did. 85 Lo! He Who hath given thee the Qur’an for a law will surely bring thee home again. Say: My Lord is Best Aware of him who bringeth guidance and him who is in error manifest. 86 Thou hadst no hope that the Scripture would be inspired in thee; but it is a mercy from thy Lord, so never be a helper to the disbelievers. 87 And let them not divert thee from the revelations of Allah after they have been sent down unto thee; but call (mankind) unto thy Lord, and be not of those who ascribe partners (unto Him). 88 And cry not unto any other god along with Allah. There is no God save Him. Everything will perish save His countenance. His is the command, and unto Him ye will be brought back.” Published and studied by Jiménez Gadea 2009, 262. 36 Macías 2006, III, 47. 37 Jiménez Gadea 2009, 38; Jiménez Gadea et al. 2011. 38 Jiménez Gadea 2015.
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The end of minority burial in Castile Desecration of cemeteries was severely punished, even in the cemeteries that contained the dead who professed another faith. Although the Partida VII, title 9, law 12 referred mainly to Christian graveyards, the same penalties also applied to those who violated the sepulchres of Muslims and Jews who were under royal protection: And what we said in this law refers to the burials of Christians, and not to those of the enemies of faith, and such an accusation can be promoted by each person in the village when the deceased’s relatives do not want to put it forward. And whomsoever committed any of those crimes already mentioned in the burial of a Muslim or a Jew of the king’s jurisdiction, they can be punished according to the judge’s criterion.39
However, once the Muslims were officially converted in 1502 and their burial grounds abolished, the field was open to abuse. Both Muslims and Christians accepted the cultivation of cemetery land and re-use of gravestones as construction material once the cemeteries had been deconsecrated. While Muslim scholars recommended ten years as a legal period of delay, Fernando and Isabel hastened to hand them over to private citizens and institutions once the general conversion had been achieved.40 In many cases, as the land was converted into grazing areas for animals or quarried for its soil and stones, corpses were exhumed and prostitution was practised in the area.41 The gravestones from the Ávila cemetery were valued, sold and converted into building materials. Remnants from Ávila’s Islamic cemetery can be found now in the town hall and the walls of several religious institutions built at the time, including the convents of Saint Anne and Santa María de Gracia, the monastery of Saint Thomas and the churches of Saint Nicholas and Santiago, whose bell-tower is full of repurposed stone from the cemetery. The funereal spoils were so widespread that by the time the convent of Saint Francis asked for its share of stone, the town council had to warn the friars that the supply had almost run out, as other new construction sites in the city had claimed most of the stone.42 On top of the disintegration of the cemetery, an animal figure (verraco) thought to represent a pig was thrown over the Muslim tombs in order to desecrate the cemetery. 39
“E lo que diximos enesta ley ha lugar enlas sepulturas delos cristianos non en las delos enemigos dela fe. & tal acusac’ion com〈m〉o esta puede fazer cada vno del pueblo qua〈n〉do los parientes del muerto non quisieren fazerla. Otrosi dezimos que los que fizieren alguno delos yerros sobre[+]dichos en sepultura de moro o de iudio del sen〈n〉orio del rey que puede resc’ebir pena segund aluedrio del iudgador, Alfonso X 1999. 40 Fierro 2000, 173. About the destruction of the Ávila cemetery, Ortego Rico 2011, 297–303. 41 Instances in Alagón, Vitoria, Huesca, Zaragoza, etc. cited in Hinojosa 2002, I, 168. 42 Ortego 2011, 295–296.
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Under the expulsion decree in 1492, Jews were forbidden to sell their cemeteries, as well as their other public goods, as they were confiscated for the royal treasure. Convents, city councils and a number of citizens received the rights to the cemeteries’ grounds. In the towns of Vitoria, Calahorra and Toledo, the Christian communities removed and reused the slabs and converted the lands of the Jewish cemeteries to common grounds for pasture. The same policy was applied to Muslims when they were asked to convert to Christianity or to leave Castile in 1502. The stone from the cemeteries of Segovia, Ávila, Seville and other cities was given to the recent monasteries and convents founded in the cities. In these walls, we can still see the remains of the slabs and the markers of a highly symbolic prize for the winners in the religious contest.43 The dominance of Maliki legal prescriptions in the Iberian Peninsula and necessities derived from their subject situation resulted in differences that make it difficult to speak of a “Mediterranean” transmission of burial customs in this period, which were not necessarily common in other Islamic lands. Despite these unique conditions, descriptions of cemeteries throughout their world can be found in pilgrims’ guides to Mecca (rihla genre), such as the one written by the Castilian Muslim Umar Batun around 1493, as a result of the connectivity in the Islamic lands that extended as far as Tunis and Mamluk Egypt through trade and Mecca via pilgrimage routes. On his journey, Umar Batun visited all kinds of burial grounds along the way in his search for the tombs of reputed wise men or hermits. His description of one of such places near Damascus states: “Two leagues from there, we came past the place where the man who cut his head was executed. There is the grave of Hud -alayhi al-sallam-, and they say that more than eleven thousand prophets are buried there, many of them are recognizable by the inscriptions in their headstones”.44 In all the others he simply registers the monuments or qubba-s that he saw. The fact that a Castilian Muslim reported on those cemeteries and the correspondence of funerary elements in both the graveyards in al-Andalus and those in Christian conquered lands, as well as newly founded cemeteries of emigrants in Castile, show that communication was fluid. As for the assimilation of Jews and Muslims under Christian rule, lucillos and gravestones show that minority communities had an eye on both the majority burial fashions –esthetically, but not ritually – and on their religious counterparts for general trends and rites. Subsequent migrations and diasporas involved diffusion of burial practices in the case of Sephardic Jews and Moriscos.
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Bellido et al. 2001; Jiménez Gadea 2009. “A dos leguas de aqui pasamos por donde mataron al que le corto la cabeza. Aqui esta la fuesa de Hud -alayhi al-sallam- y dicen que estan aqui más de once mil alnabies, muchos de ellos se conocen por tener escribto su piedra a la cabeza”. Casassas 2015. I thank the author for providing me with references of these texts.
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Hans-Peter Laqueur Osmanische Friedhöfe in Istanbul Soziale Aspekte zur Wahl des Bestattungsortes
Zusammenfassung Die osmanische Stadt Istanbul war fast vollständig umschlossen von einem Gürtel von ausgedehnten Flächenfriedhöfen. Daneben existierten einige hundert innerstädtische Begräbnisplätze, zumeist bei Moscheen oder anderen Kultbauten. Die Flächenfriedhöfe sind heutzutage in ihrer Ausdehnung dezimiert, etliche existieren auch nicht mehr. Ebenso sind viele der innerstädtischen Begräbnisse verschwunden, andere nicht mehr in ihrem historischen Umfang erhalten. Es soll aufgezeigt werden, welche sozialen Voraussetzungen zum – privilegierten – innerstädtischen Begräbnis erforderlich waren. Zudem soll der Frage nach den – zumeist historisch-politischen – Gründen dafür nachgegangen werden, warum vor allem ab ca. 1800 hochrangige Würdenträger, denen ein innerstädtisches Begräbnis zugestanden hätte, auf Friedhöfen vor der Stadt bestattet wurden. Weiterhin werden einige Aspekte der Auswahl einer Grabstelle innerhalb eines innerstädtischen Begräbnisses bzw. des Bestattungsortes auf einem Flächenfriedhof dargestellt.
Das frühe – und wieder das heutige – Christentum teilt sich mit dem Judentum und dem Islam die Tendenz zu einem Begräbnis extra muros. Im Judentum ist die Situation eindeutig, beruhend auf den mosaischen Gesetzen wird eine Entfernung von ‚mindestens fünfzig Ellen‘1 zwischen dem Bestattungsort und dem Ort der Lebenden gefordert. Wo dies durch örtliche Gegebenheiten – wie die Enge des Ghettos – nicht möglich war, wurde durch die Ummauerung des Friedhofes die Fiktion aufrechterhalten, er befinde sich ‚außerhalb‘ der Stadt.2 Wohl das bekannteste Beispiel hierfür ist der alte jüdische Friedhof in Prag. An diese jüdische Tradition knüpft auch das islamische Bestattungsbrauchtum an, die Toten vor der Stadt zu bestatten – mit vielen Ausnahmen, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll. Das Christentum kannte ebenfalls ursprünglich vor allem die Bestattung vor den Stadtmauern, übernahm damit die römischgriechische Tradition (wie z. B. bei den Katakomben an der Via Appia in Rom), die in keinem Widerspruch zu seinen jüdischen Wurzeln stand. 1 2
Brocke 1980. Boehlke 1986.
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Im muslimischen Istanbul nach dessen Eroberung durch die Osmanen im Jahre 1453 kamen die beiden Traditionslinien zusammen, die jüdisch-islamische und die griechisch-römisch-byzantinische, und führten zur Anlage sehr ausgedehnter Gräberfelder vor den Mauern rings um die Stadt. Im Abendland hingegen war die Entwicklung seit dem Mittelalter dem entgegengesetzt verlaufen: Das Entstehen befestigter Städte, die Sicherheit, und vor allem der Status, den sie ihren Bürgern boten („Stadtluft macht frei“), zogen die Menschen an, und sie begruben ihre Toten dort, wo auch sie leben wollten, innerhalb der Mauern, um die Kirchen oder auch – wenn sie den entsprechenden sozialen Status hatten – in diesen. Die communio sanctorum, die Nähe zu den Heiligen, bestimmte die Wahl des Begräbnisortes – und das war auch im muslimischen Istanbul ein wesentlicher Faktor, wie noch gezeigt werden soll. Im Abendland änderte sich die Situation erst Jahrhunderte später, und es waren Sachzwänge, die dazu führten: Eine Ausnahme ist die Inselstadt Lindau, die bereits 1515 einen Friedhof auf dem Festland anlegen musste, weil im Stadtgebiet kein Platz mehr verfügbar war.3 Die seit dem späten 18., vor allem aber im 19. Jh., einsetzende Tendenz in Mittel- und Westeuropa sowie in Nordamerika, die Toten aus dem Gebiet der Lebenden zu schaffen, hatte vor allem sanitäre Gründe. Sie begann 1780, als in Paris der Cimitière des Innocents und die anderen Kirchhöfe aufgelassen und die Gebeine der dort Begrabenen in die Katakomben im Süden der Stadt verbracht wurden.4 Damals noch weit vor der Stadt gelegen, wurde stattdessen 1804 der Friedhof von Père Lachaise angelegt, den heute längst bewohnte Gebiete umschlossen haben. Andere europäische Großstädte folgten dem Beispiel, in London entstanden zwischen 1832 und 1841 sieben große Friedhöfe rund um das damals besiedelte Stadtgebiet,5 heute ebenfalls mitten darin gelegen. Ein weiterer Aspekt prägte die osmanisch-türkische Grabkultur, der wiederum an das jüdische Brauchtum und damit an die mosaischen Gesetze anknüpft: Das Grab bleibt Eigentum des Toten.6
Ein Grab ist nicht – wie hierzulande heute üblich – befristet, sondern für die Ewigkeit, soll bis zum Jüngsten Tag bestehen, damit der darin begrabene Mensch dann unversehrt auferstehen kann. Und es ist nur für e i n e n Menschen bestimmt, wie Salomon Schweigger, der sich 1576–1581 als Prediger des kaiserlichen Botschafters in Konstantinopel aufhielt, schreibt: (…) da legt man nit viel in ein Grab /sondern ein jeder hat sein besonder Grab (…)7 3
Boehlke 1988. Ariès 1982, 630–631. 634–635. 5 Curl 1980, 212–230. 6 Lewinson 1984, 60. 7 Schweigger 1608, 199.
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Theoretisch gilt der ewige Bestand eines Grabes in der Türkei auch heute noch, praktisch gibt es in Istanbul zumindest seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. weiträumige Auflassungen von Gräbern und Friedhöfen – vor allem im Zuge der Planung neuer Verkehrswege – ebenso wie die Wiederbelegung von Grabplätzen in großem Umfang. Der letzte bayerische Kronprinz Rupprecht, der gegen Ende des 19. Jh. Istanbul besuchte, hat das diesbezügliche Vorgehen anschaulich beschrieben: Wenn man einerseits (…) den offenkundigen Raummangel betrachtet, andererseits sieht, welch ausgedehnte Flächen die Friedhöfe einnehmen, die zudem ein Verkehrshindernis bilden, wird das Streben begreiflich, die älteren in möglichst unauffälliger Weise der Bebauung zu erschließen. Erst gestattet man den Steinmetzen, auf den Friedhöfen Werkstätten zu errichten, in denen sie die vorhandenen Grabsteine nach und nach zu anderen Zwecken umarbeiten, dann verschwinden einzelne Zypressen, und wenn endlich die Fläche öd und leer ist, beginnt man sie mit Straßen zu durchziehen.8
Diese Sätze gelten bis heute – cum grano salis, denn man geht inzwischen mit den betroffenen Stätten nicht mehr so vorsichtig und rücksichtsvoll um, sondern setzt gleich die schweren Baumaschinen ein. Der Ewigkeitsanspruch für Grabstätten führte zu einer Situation, die europäische Besucher des Osmanischen Reiches immer wieder fasziniert hat, zu dem über die Jahrhunderte immer breiter wachsenden Friedhofsgürtel um die Städte. Die Liste der diesbezüglichen Schilderungen in historischen Reiseberichten ist fast endlos,9 Joseph von Hammer-Purgstall, der Begründer der deutschsprachigen Osmanistik, hat diesen Tatbestand in den folgenden Worten zusammengefasst: Die Bescheibung ihrer [der Friedhöfe] romantischer Schönheit macht einen stehenden Artikel aller constantinopolitanischen Reisebeschreibungen (…)10
Ein europäischer Reisender des 18. Jh. stellte angesichts der ausgedehnten Friedhofslandschaft vor den Theodosianischen Landmauern Berechnungen an, denen zufolge die Fläche der Gräberfelder dort, mit Getreide bestellt, die Hälfte des Bedarfs der Stadt decken könnte.11 Bestattungen extra muros waren im osmanischen Istanbul die Regel, es gab aber auch Ausnahmen – zumindest für Muslime, denn mir sind keine innerstädtischen Kirchhöfe oder vergleichbare christliche Begräbnisorte intra muros 8
von Bayern 1923, 169. Laqueur 1982, 21–28. 10 Hammer 1822 2, 331. 11 Tournefort 1768, II, 86. 9
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bekannt. Selbst die griechisch-orthodoxen Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, als primi inter pares nominell die Oberhäupter der gesamten orthodoxen Christenheit, wurden und werden vor den Stadtmauern, im Hof der Kirche von Balıklı begraben. Und für die Juden stellte sich die Frage nie, ihre Religion fordert die Bestattung entfernt vom Gebiet der Lebenden. Im historischen Stadtgebiet gibt es wohl um die 300 bis heute erhaltene islamische Begräbnisstätten, zumeist um Kultbauten wie Moscheen oder ehemalige Derwischkonvente. Sie können nur aus einem einzelnen Stiftergrab bestehen, können aber auch – wie z. B. an den Sultansmoscheen des Eroberers in Fatih oder Süleymans, ebenfalls um das Heiligengrab des Şeyh Vefa – 100 oder mehr Gräber zählen. Ein Merkmal eint alle Friedhöfe vor und Gräberfelder in der Stadt: Sie sind konfessionell gebunden, den Angehörigen eines Bekenntnisses vorbehalten. Bei den Gräberfeldern um Kultbauten bedarf dieses keiner weiteren Erklärung, es liegt auf der Hand, dass im Garten einer Moschee kein Christ oder Jude begraben wurde. Aber diese Separation gilt ebenso für die ausgedehnten Friedhöfe außerhalb des historischen Stadtgebietes, und dieses Prinzip wurde erstmals nach der Gründung der Republik in Ankara durchbrochen, als mit dem programmatisch so benannten ‚zeitgemäßen‘ oder ‚modernen‘ Friedhof, dem 1935 eingeweihten Asrî Mezarlık in Ankara (nach Entwürfen des deutschen Architekten Martin Elsaesser) der erste überkonfessionelle Friedhof des Landes angelegt wurde. Er umfasst neben seinem muslimischen Hauptteil auch separate, vom Hauptfeld durch Mauern abgetrennte Gräberfelder für Christen und Juden.12 Aber auch auf den Istanbuler Friedhöfen gibt es – wenn auch nur sehr vereinzelt – Ausnahmen von der konfessionellen Trennung, einige wenige NichtMuslime wurden auf muslimischen Gräberfeldern beigesetzt. Der wohl Prominenteste unter ihnen ist der Architekt Bruno Taut, der in der Türkei Zuflucht vor der braunen Barbarei fand. 1938 entwarf er den Katafalk für den Staatsgründer Atatürk, beaufsichtigte dessen Errichtung und zog sich dabei eine Lungenentzündung zu, der er am 24. Dezember 1938 erlag. Er wurde auf dem Ehren- und Prominentenfriedhof vor dem Stadttor Edirnekapı bestattet, wo auch u. a. der Dichter der türkischen Nationalhymne, Mehmet Akıf Ersoy ruht. Auch auf dem Aşiyan Friedhof am Fuß der Festung Rumelihısaram Bosporus finden sich einige nicht-muslimische Gräber, neben Lehrern und Mitarbeitern des amerikanischen Robert College – aus dem die heutige Bosporus Universität hervorging – ruhen dort auch ein deutscher Emigranten-Professor, seine Frau und die eines zweiten Professors13, Menschen, die nach 1933 Zuflucht in der Türkei fanden, und denen sie zur Heimat wurde. Bestattungen wie diese müssen durch Kabinettsbeschluss der Regierung in Ankara genehmigt werden. 12
Laqueur 1993, 67. S. a. http://www.goethe.de/ins/tr/ank/prj/urs/geb/res/fri/deindex.htm [6.9.2015]. 13 Der Zoologe Curt Kosswig mit seiner Frau sowie die Frau des Botanikers Alfred Heilbronn.
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Zunächst wird auf die vielfältigen Gründe für ein Begräbnis innerhalb der Stadt – wie es bis zum Verbot derartiger Bestattungen 186814 möglich war – eingegangen, danach werden einige Aspekte aufgezeigt, die die Auswahl eines Friedhofes außerhalb der Stadt bestimmt haben mögen. Ebenso wie in anderen muslimischen Städten gibt es in Istanbul zwei Kategorien von Bestattungsorten: die Friedhöfe außerhalb und die Gräberfelder innerhalb der Stadtmauern. Die ersteren waren für jedermann offen, wir finden dort Gräber aus allen sozialen Schichten, das Spektrum reicht vom Handwerker bis zum Großwesir. Der Erwerb eines dauerhaften Grabzeichens – in Istanbul in der Regel aus Marmor von der nahe gelegenen Insel Prokonnesos (heute: Marmara adası), deren Gestein das Marmarameer seinen Namen verdankt – setzte natürlich ein gewisses Vermögen voraus und grenzte damit die soziale Schicht derer, deren Grabstätten wir heute noch sehen, ein. Sehr viel klarer sind die Voraussetzungen für Bestattungen auf den – meist kleinen – Gräberfeldern um Kultbauten innerhalb der Stadtmauern. Es sind dies Moscheen und kleinere Gebetsräume (Mescit), Schulen (Medrese), Derwischkonvente (Tekke), aber auch größere Stiftungskomplexe (Külliye) bis hin zu den Sultansmoscheen. Bei kleineren Moscheen findet sich oft nur ein einzelnes Stiftergrab, bei größeren Komplexen Gräber der Stiftungsverwalter (Mütevelli), die in vielen Fällen Angehörige und Nachkommen des Stifters sind. Hinzu kommen bei Moscheen Vorbeter (İmam), Gebetsrufer (Müezzin) und andere Bedienstete, bei Derwischkonventen die Vorsteher (Şeyh) und die Derwische. Einen Sonderfall stellen einige Moscheen dar, bei denen die berufliche Stellung des Stifters und/oder die Lage in der Nähe von bestimmten Institutionen das soziale Bild der hier Bestatteten prägt. Als Beispiele für das Zusammenkommen beider Elemente seien hier die Küçük Ayasofya und die Piyalepaşa Moschee genannt: Die byzantinische Klosterkirche der Heiligen Sergios und Bakchos wurde im frühen 16. Jh. durch den Bâb-üs’saade ağası, den Obersten der weißen Eunuchen am Sultanshof Küçük Hüseyin Ağa, in eine Moschee umgewandelt.15 Das hohe Hofamt des ‚Stifters‘ ebenso wie die Nähe zum Sultanspalast von Topkapı bestimmen die Belegung des dazugehörigen Gräberfeldes: Bei der Katalogisierung des Bestandes vor gut 30 Jahren konnten rund 170 Stelen bzw. lesbare Fragmente von solchen erfasst werden.16 Nicht weniger als 54 davon – also fast ein Drittel – gehören zu Gräbern von hohen Funktionären des Hofes und der Staatsverwaltung bzw. Angehörigen ihres Hausstandes. Ähnlich – wenn auch nicht ganz so eindeutig – ist die Lage im Gräberfeld der Piyalepaşa Moschee17 im Hinterland von Kasımpaşa, dem Standort des os14
Eyice 1977. Müller-Wiener 1977, 182. 16 Bacqué-Grammont et al. 1984. 17 Laqueur 1990. 15
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manischen Marinearsenals am nördlichen Ufer des Goldenen Horns. Ihr Stifter war der 1578 verstorbene Kapudanpaşa, der Großadmiral und Wesir Piyale Paşa.18 Über dieses Gräberfeld lasssen sich keine so eindeutigen Zahlenangaben machen, es war zum Zeitpunkt meiner Arbeit dort (ca. 1983) in einem schlechten Zustand, eine spätere, sehr unsachgemäß ausgeführte Aufräumungsaktion durch die Bewohner der Umgebung hat die Situation nicht verbessert. Damals waren wohl etwa 200–250 Stelen erhalten, hinzu kam eine nicht näher bestimmbare Anzahl von Fragmenten. Zwei soziale Gruppen fallen dort besonders auf: zum einen Mitglieder des zum Stiftungskomplex gehörigen Derwischkonvents, und zum anderen Marineangehörige. Eine unvollständige Erfassung des Friedhofes ergab 27 eindeutig als solche erkennbare Gräber von Marineangehörigen bzw. ihren Familien, identifizierbar meist durch die Inschrift, in einigen Fällen durch Symbole wie Anker etc. Auch hier wirkten Stifterperson und topographische Situation zusammen: Der Moscheekomplex war ursprünglich durch einen schiffbaren Kanal mit den Marinewerften am Goldenen Horn verbunden (Abb. 1). Neben diesen Gräberfeldern, deren Belegung durch eine Zugehörigkeit zur Institution oder eine Beziehung zum Stifter bzw. zu dessen sozialem Stand bestimmt wurde, gibt es im Stadtgebiet auch einige Gräberfelder um die Bestattungsorte von als Heiligen verehrten Personen, als Beispiel hierfür sei Şeyh Ebu’lVefâ unweit der Süleymaniye genannt. Um den Grabbau dieses Sûfi-Şeyhs aus der Zeit Mehmeds des Eroberers, also der zweiten Hälfte des 15. Jh., entstand ein Gräberfeld der Oberschicht: Wie auch die Christen in Europa suchten fromme Muslime im Tod die Nähe zu Heiligen, da sie sich davon Vorteile für ihr Seelenheil versprachen. Dieses Gräberfeld ist ein sehr anschauliches Beispiel für die sozialen Strukturen auch innerhalb eines Bestattungsortes, ein Beleg dafür, wo die ‚besten Plätze‘ waren: Seit der historisch wie architektonisch mehr als zweifelhaften ‚Wieder‘errichtung einer Moschee dort vor etwa 25 Jahren – der auch zahlreiche Gräber zum Opfer fielen – sind die Strukturen nur noch teilweise erkennbar, sehr viel ist zerstört worden. Aber die ‚besten Liegeplätze‘ sind noch immer auszumachen, sie liegen entlang den – durch vergitterte Öffnungen durchbrochenen – Außenmauern mit den Grabinschriften zu den vorbeiführenden Straßen gerichtet. Die zweitbesten Plätze säumten den Weg, der durch das Gräberfeld führt. Hierfür gibt es einen einfachen Grund: Zentraler Bestandteil einer jeden osmanischen Grabinschrift ist die Bitte um Gebet, rûhuna fâtiha oder rûhiyçün fâtiha, eine fâtiha, d. i. die erste Sure des Korans – die im Islam eine dem ‚Vaterunser‘ vergleichbare Bedeutung hat – für die Seele des Verstorbenen. Und ein Grab am Rand des Feldes oder am Durchgangsweg, wo die meisten Passanten es sehen und der Bitte nachkommen konnten, war deshalb besonders erstrebenswert. Auch heute werden fromme Muslime, wenn sie an einem Gräberfeld vorbeikommen oder durch es hindurchgehen, ihre Hände zum Gebet öffnen und die Verse der fâtiha murmeln. 18
Müller-Wiener 1977, 450.
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Abb. 1: Küçük Ayasofya und Piyalepaşa Moschee. (1) Küçük Ayasofya; (2) Palastbezirk; (3) Piyalepaşa Moschee; (4) vermutlicher Verlauf des Kanals zum Goldenen Horn; (5) osmanisches Marinearsenal (nach Nouveau Plan o. J.).
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Eine Sonderform der sozialen Beziehung der dort Begrabenen zum Bauwerk bzw. dessen Stifter findet sich auf einigen der Gräberfelder bei Sultansmoscheen, insbesondere der Mehmeds des Eroberers (Fatih Camii) und der Süleymans des Prächtigen (Süleymaniye Camii). Wie aus historischen Abbildungen hervorgeht,19 fanden dort bis in das 19. Jh. hinein allem Anschein nach fast keine Bestattungen statt – außer denen des Stifters und seiner Angehörigen. Nach 1800 entstanden hier – ebenso wie um den Grabbau von Sultan Mahmud II. (gest. 1839) – Prominentenfriedhöfe für die Inhaber hoher und höchster Staatsämter, einen Personenkreis, der in früheren Jahrhunderten eigene Stiftungen errichtet hatte und bei diesen beigesetzt worden war. Um die Ursachen dieser Veränderung zu erklären, muss man bedenken, dass im Jahrhundert nach der Eroberung Istanbuls 1453 27 Großwesire amtiert hatten, im letzten osmanischen Jahrhundert bis 1922 jedoch 93.20 Die durchschnittliche Länge einer Amtszeit, die für die gesamte osmanische Epoche bei 2,05 Jahren liegt, betrug zwischen 1850 und 1922 nur noch 0,92 Jahre. Diese kurzen Amtszeiten hatten zur Folge, dass es zumindest einigen der Inhaber dieses Amtes nicht möglich war, den für die Errichtung einer eigenen Stiftung erforderlichen Wohlstand zu akkumulieren. Hinzu kam, dass im Zuge der Modernisierung des Staatsapparates an die Stelle einer Besoldung durch Überlassung von Einkünften aus Ländereien etc. das Versprechen von Zahlungen aus der zumeist leeren Staatskasse trat. Lässt sich der Kreis derer, die auf den zumeist innerstädtischen Gräberfeldern bei Moscheen und Kultbauten begraben wurden, ziemlich klar definieren, so gilt für die Flächenfriedhöfe außerhalb des Stadtgebietes zunächst einmal ganz einfach: Sie waren der Begräbnisort für alle ‚Normalbürger‘, die weder durch Beruf, noch durch Familienzugehörigkeit eine besondere Beziehung zu einem der innerstädtischen Begräbnisse hatten. Aber auch hier gibt es – vor allem seit der Wende zum 19. Jh. – Ausnahmen von der Regel: Inhaber hoher und höchster Staatsämter wurden auch auf Flächenfriedhöfen bestattet, zu den frühesten Fällen gehört der Großwesir Halil Hamit Paşa,21 der 1785 abgesetzt und auf die Insel Tenedos (heute: Bozcaada) vor den Dardanellen verbannt wurde. Kurz darauf entsandte der Sultan den Henker zu ihm, er – genauer gesagt nur sein (zum Beweis der Urteilsvollstreckung abgetrennter und in die Hauptstadt gesandter) Kopf – wurde auf dem Friedhof von Karacaahmet zwischen Üsküdar und Kadıköy begraben. Dieses Grab – bzw. diese Grabanlage, denn es handelt sich um ein ursprünglich umfriedetes Feld (der Verlauf der Umfassungsmauern ist noch weitgehend erkennbar) von ca. 25 m Länge und 9 m Tiefe mit etwa 70 Gräbern von Angehörigen der Familie und Mitgliedern des Hausstandes – liefert etliche Hinweise zu den Kriterien, die bei der Auswahl eines Bestattungsortes und bei dessen Gestaltung relevant waren: 19
Z. B. der Stahlstich nach William Bartlett in Pardoe 1838, Tafel nach S. 26. Danişmend 1971. 21 Uzunçarşılı 1935.
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Abb. 2: Üsküdar. (1) Grab des Halil Hamit Paşa; (2) ungefährer Verlauf der „Straße nach Bagdad“; (3) Friedhof derer aus Saloniki; (4) Friedhof der Iraner (nach Nouveau Plan o. J.).
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Aus heutiger Sicht ist der Ort in einem Ausläufer am Rande der Friedhofslandschaft von Karacaahmet entlegen, man muss sich jedoch vor Augen führen, dass es sich bei der Straße, an der er liegt, um die historische Heer- und Pilgerstraße nach Anatolien und in die arabischen Teile des Osmanischen Reichs handelt (Abb. 2). Über diese ‚Straße nach Bagdad‘ führten in früheren Jahrhunderten Sultane ihre Armeen ins Feld, über sie begann jeder Mekka-Pilger seine Reise zu den heiligen Stätten, sie war von der Lände in Üsküdar an in kurzen Abständen gesäumt von offenen Gebetsplätzen (namazgâh), auf denen Pilger wie Soldaten ihre rituellen Gebete verrichten konnten. Entlang dieses wichtigen Verkehrsweges war mit genügend Passanten und somit mit Gebeten für die Seele des Verstorbenen zu rechnen. Die ufernäheren ‚guten‘ Plätze waren bereits belegt, und so wurde am Rande des Friedhofs diese Familiengrabstätte angelegt, um die sich rasch ein Gräberfeld der Oberschicht entwickelte, auf dem u. a. zwei Sultansfrauen begraben wurden.22 Dieses Gräberfeld ist topographisch höchst ungewöhnlich, es ist zwar etwa 150 m lang, aber nur ungefähr 9 m breit. Die seltsamen Dimensionen sind begründet darin, dass es offenbar zwischen zwei parallel laufenden Straßen lag, von denen die eine, die westlichere, heute nicht mehr existiert. Das führte auch zu der ungewöhnlichen Gestaltung des Grabes von Halil Hamit Paşa: Sein Grab liegt am westlichen Rand, also zu der nicht mehr vorhandenen zweiten Straße und weist einen auf sie gerichteten Grabstein auf. Ihm gegenüber, am östlichen Rand, steht ein zweiter, textgleicher aber größerer Grabstein zur wichtigeren Straße gewandt. Familiengräberfelder wie dieses gibt es auf den Friedhöfen der Stadt mehrere, sie sind aber eher die Ausnahme; sie sind die Übertragung des hergebrachten Begräbnisortes bei einer eigenen innerstädtischen Stiftung in einen Flächenfriedhof extra muros. Im Fall des Halil Hamid Paşa mag der Grund dafür darin liegen, dass er zwar in den zweieinviertel Jahren seiner Amtszeit verschiedene wohltätige Stiftungen – wie z. B. einen großen Brunnen in Kasımpaşa am Goldenen Horn – errichtet hat, aber keine, die zur Anlage eines Gräberfeldes darum geeignet war. Wie aber sieht es mit der ‚normalen‘ Belegung der Friedhöfe außerhalb des Stadtgebietes aus? Grundsätzlich waren sie für alle da, jeder, der nicht durch familiäre oder soziale Beziehungen Zugang zu einem innerstädtischen Gräberfeld hatte, wurde hier begraben. Aber wer war ‚jeder‘? Die mehr oder weniger präzisen Angaben zum sozialen Stand in den Inschriften der erhaltenen zig-tausend Grabsteine geben ein verfälschtes Bild: Zumindest seit dem 19. Jh. fielen entgegen der religiösen Tradition immer wieder mehr oder weniger große Gräberfelder der wachsenden Stadt und ihrer Verkehrsplanung zum Opfer, die erhaltenen Friedhöfe stellen also eine nicht-repräsentative Auswahl der ursprünglichen Bestände dar. Hinzu kommt 22
Laqueur 1995.
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die – heute nicht mehr klärbare – Frage, wer sich überhaupt ein bleibendes, d. h. steinernes Grabzeichen leisten konnte. Europäische Reisende des 16. Jh. berichten von hölzernen Grabzeichen; diese waren wohl spätestens nach einer Generation verschwunden (und erlaubten so vermutlich die erneute Nutzung des Grabplatzes). Zu den Kosten eines Begräbnisses und insbesondere auch denen für ein steinernes Grabzeichen gibt es zwar wohl etliche archivalische Quellen, aber nur eine davon ist publiziert, ein Verzeichnis der staatlich verordneten Preise (narh) aus dem Jahr 1640.23 Anhand dieser Einzelinformation ist es leider nicht möglich, eine Relation zwischen allgemeinen Lebenshaltungskosten und denen einer Bestattung mit steinernem Grabstein herzustellen, wir können nur vermuten, dass man die Schicht, die sich das leisten konnte, als vom Mittelstand an aufwärts beschreiben kann. Nach welchen Gesichtspunkten wurde der Friedhof ausgewählt? Es liegt nahe, anzunehmen, dass in einer Zeit, als der Sarg auf menschlichen Schultern vom Moscheehof, wo das Totengebet stattfindet, zum Grab getragen wurde, der nächstgelegene Friedhof üblicherweise der Bestattungsort war. An zwei Beispielen soll hier kurz aufgezeigt werden, dass einige Friedhöfe besonders gefragt waren und hier das Prinzip der räumlichen Nähe wohl keine Rolle spielte. Da ist zum Einen der Friedhof von Eyüb am oberen Goldenen Horn zu nennen. Hier wird das Grab des Abû Ayyûb al-Ansarî,24 des Bannerträgers des Propheten, verehrt, das bald nach der osmanischen Eroberung im 15. Jh. auf Grund der Vision eines Mystikers ‚entdeckt‘ wurde. Der Heilige soll im Verlauf der ersten arabischen Belagerung von Konstantinopel 674–678 gefallen sein, auch 668, 669 und 672 werden als Todesjahre genannt. Sein Grab wurde zur heiligsten Stätte des Islam in der Stadt, hier fanden die Schwertumgürtungs-Zeremonien, also die Inthronisierung der osmanischen Sultane statt. Zwischen der Grabmoschee mit ihrem Gräberfeld und dem Goldenen Horn entstand ein Konglomerat an Kultbauten mit eigenen Gräberfeldern, dahinter am Hang ein ausgedehnter Friedhof.25 Die Attraktivität dieses Bestattungsortes liegt in der communio sanctorum, der Nähe zum Heiligengrab mit seinen vielen Besuchern, und somit auch in der Aussicht auf zahlreiche Gebete für das eigene Seelenheil. Anders steht es um den wohl größten – und von europäischen Besuchern vergangener Jahrhunderte meistgeschilderten bzw. -abgebildeten – Friedhof der Stadt, um den von Karacaahmet oberhalb von Üsküdar.26 Auch er entstand um das Grab eines legendären islamischen Heiligen, seines Namensgebers, der bereits ein Jahrhundert vor der osmanischen Eroberung der Stadt hier einen Derwischkonvent errichtet haben soll.27 Über die Anziehungskraft dieses im asiatischen 23
Kütükoğlu 1983, 314–315. Huart 1913. 25 Koman 1966. 26 Şehsuvaroğlu 1976. 27 İşli 1994, 444.
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Teil der Stadt gelegenen Friedhofes haben sich verschiedene europäische Reisende Gedanken gemacht, die der spätere Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke, 1835–1839 als Instruktionsoffizier im Osmanischen Reich, in die folgenden Worte gekleidet hat: Die Türken fühlen, daß sie in Europa nicht zu Hause sind, ihre Prophezeiungen und Ahnungen sagen ihnen, daß das römische Reich ihnen nicht immer gehören werde, und wer die Mittel dazu hat, läßt seine Asche auf die asiatische Seite des Bosporus nach Skutari bringen.28
Das scheint mir abendländisches Wunschdenken, viel näherliegend ist die Erklärung, dass dieser Friedhof auf der asiatischen Landmasse liegt, durch kein Meer getrennt von den heiligen Stätten in Mekka und Medina. Waren auch die Flächenfriedhöfe grundsätzlich für jedermann offen, so gibt es doch in Istanbul wenigstens zwei Ausnahmen, konfessionell gebundene islamische Friedhöfe. Es sind dies der İranlılar Mezarlığı, der Friedhof der Iraner im Seyyit Ahmet Tal am nordöstlichen Rand der Friedhofslandschaft von Karacaahmet und der Selânikliler Mezarlığı, der Friedhof derer aus Saloniki im Bülbülderesi, dem Nachtigallental nordöstlich der Schiffslände von Üsküdar. Im ersteren Fall definiert der Name eindeutig die hier begrabene Personengruppe: Es waren die Schiiten aus dem Iran, meistenteils Kaufleute und Händler, die sich seit dem 15. Jh. in der Stadt niedergelassen hatten, und von denen einige es zu erheblichem Wohlstand gebracht hatten. Gegen Ende des 19. Jh. zählte die iranische Gemeinde in Istanbul ungefähr 15 000 Seelen.29 Durch seinen Namen weniger offensichtlich definiert ist der Friedhof derer aus Saloniki: Als Selânikliler, ‚die aus Saloniki‘, bezeichnet man Konvertiten (dönme), Nachkommen der Anhänger von Sabbatai oder Schabbatai Zwi, der 1626–1676 lebte.30 Er, ein Jude, bezeichnete sich als den Messias und sammelte rasch eine große Anhängerschaft in jüdischen Gemeinden über ganz Europa. In seiner osmanischen Heimat vor Gericht und vor die Auswahl Tod oder Übertritt zum Islam gestellt, entschied er sich für die zweite Möglichkeit, und zahlreiche seiner Anhänger folgten ihm. 1683 kam es in Thessaloniki – der (bis zu ihrer Vernichtung durch die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg) bedeutendsten jüdischen Gemeinde des Balkans – ebenso wie in anderen Städten zu Massenkonversionen seiner Anhänger. Sie bilden seither eine nicht formal organisierte, aber in ihrem eigenen Bewusstsein ebenso wie in der Wahrnehmung ihrer Umgebung eindeutig existente Gruppe, der kryptojüdische Gebräuche nachgesagt werden. 28
Moltke 1876, 104. Zarcone 1994. 30 Dietrich 1961, 393–394.
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Der Friedhof im Nachtigallental war (oder ist vielleicht noch?) der bevorzugte Bestattungsort derer, die sich zu dieser ‚Konfession‘ zugehörig fühlten. In seinem unteren, älteren Teil unterscheidet er sich nicht von anderen osmanischen Friedhöfen des 18./19. Jahrhunderts. Im nordöstlichen Bereich, wo er sich einen steilen Hang hinaufzieht, fallen jedoch die Gräber aus der zweiten Hälfte des 19. und den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts durch ungewöhnliche Grabzeichen auf, die sich Motiven aus der europäischen Ikonographie bedienen: erloschene Fackeln, geknickte Blumen, aufgeschlagene Bücher als Inschriftfelder usw. Auch die – durchaus un-islamische – Anbringung von Bildern der Verstorbenen auf dem Grabstein – heute auf türkischen Friedhöfen weit verbreitet – finden sich dort bereits viele Jahrzehnte früher. Schließlich sei noch ein Phänomen erwähnt, das man auf verschiedenen Friedhöfen rings um die Stadt beobachten kann, die landsmannschaftliche Ordnung des Todes: Es ist eine bekannte Tatsache, dass Menschen, die – freiwillig oder gezwungenermaßen – ihre Heimat verlassen, in der Fremde, am neuen Lebensort, die Nähe zu Landsleuten, nach Möglichkeit aus der engeren Heimat suchen. Das spiegelt sich in vielen Ortsnamen der USA wider (Berlin, Hanover etc.), und das spielte auch eine Rolle in unserem Land, als vor etwa 60 Jahren die ersten Arbeitsmigranten – damals ‚Gastarbeiter‘ genannt – hier ankamen. Gleiches gilt auch für die Bevölkerung der Stadt Istanbul. Zum Zeitpunkt der osmanischen Eroberung 1453 war die Stadt weitgehend entvölkert, in den folgenden Jahrzehnten wurden deshalb Menschen aus anderen Gebieten des Reiches dort angesiedelt und brachten heimische Ortsnamen für ihre Wohngebiete mit, wie z. B. Aksaray nach der gleichnamigen Stadt in Mittelanatolien. Nördlich von Istanbul, nahe der Küste des Schwarzen Meeres, ließ Sultan Süleyman im 16. Jh. serbische Gefangene ein Dorf errichten, das seither Belgrat heißt. Im 19. Jh. – im Zuge des sukzessiven Verlustes der balkanischen Reichsteile – erfolgte ein massenhafter Zuzug von Muslimen von dort, der sich in Quartiernamen wie Yeni Bosna (Neu-Bosnien) widerspiegelt. Aber nicht nur im Leben, auch im Tod suchten die Menschen nachbarschaftliche Nähe. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür ist eine Ansammlung von (um 1984) ca. 200–300 Gräbern am Hang zum Seyyit Ahmet Deresi im nordöstlichen Bereich der Friedhofslandschaft von Karacaahmet im Hinterland von Üsküdar. Alle diese Gräber – die frühesten etwa aus der Mitte des 19. Jh., die meisten aus der Zeit nach der Schriftreform 1928 – nennen als Herkunftsort des Verstorbenen das Dorf Ormana, ein Bergdorf (im Hinterland von Side gelegen) in der Provinz (il) Antalya, 1955 wurden dort 977 Seelen gezählt, 2011 waren es nur noch 647. Über das nur etwa 25 km entfernt gelegene Städtchen Akseki, zu dessen Verwaltungsbezirk Ormana früher gehörte, schreibt die Türkische Enzyklopädie:
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Viele Einwohner beginnen als Wanderhändler, um sich, wenn sie das nötige Kapital erworben haben, (als Krämer) in einer Stadt niederzulassen.31
Ebenso wie Akseki liegt Ormana in einer Gebirgslandschaft, die nur einer beschränkten Einwohnerzahl Auskommen bieten kann und zwangsläufig zur Abwanderung von nicht unerheblichen Teilen der Bevölkerung führt. Nicht weit davon findet sich ein weiteres Beispiel für die landsmannschaftliche Ordnung des Todes, allerdings jüngeren Datums und weniger umfangreich, eine ummauerte Parzelle mit (1984) etwa 150 Gräbern aus der Zeit ab 1950. In der ganz überwiegenden Mehrzahl der Inschriften wird die ostanatolische Provinz Bingöl als Heimat genannt, am häufigsten zwei Dörfer im Landkreis Kiğı, Anzevik und Ağdat mit (1955) 272 bzw. 187 Einwohnern.32 In neueren Bevölkerungsstatistiken erscheinen diese Orte nicht, entweder wurden sie umbenannt oder gänzlich verlassen. Ein weiterer Schwerpunkt dieser Art findet sich in Karyağdı, dem Hügel über Eyüb, bevorzugtem Bestattungsort von Menschen von der östlichen Schwarzmeerküste, vor allem aus der Provinz Rize,33 ein anderer auf dem Friedhof vor den Stadtmauern beim Edirnekapı, wo ab der Mitte des 19. Jh., seit Beginn der bereits erwähnten Übersiedlung (oder vielleicht besser: Flucht?) von Muslimen aus den neu entstehenden Nationalstaaten des Balkan Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe begraben wurden.34 Abschließend können wir zusammenfassen: Wie überall auf der Welt bedeutete auch im Osmanischen Reich großer Wohlstand oder die Zugehörigkeit zu einer besonders angesehenen sozialen Gruppe Privilegierung, und diese Privilegierung endete nicht mit dem Tod. Sie wirkte sich auch aus im Zugang zu einem hervorgehobenen Bestattungsort, einem Begräbnis, das von möglichst vielen Passanten gesehen und mit Segensgebeten bedacht wurde. Diese Begräbnisorte, ursprünglich ganz überwiegend in der Stadt, also im Gebiet der Lebenden gelegen, verlagerten sich ungefähr ab 1800 auf Grund sich wandelnder sozialer wie politischer Strukturen aus der Stadt heraus auf die großen Friedhöfe vor den Mauern. Aber auch dort sorgten Ummauerungen, Erhöhung über das umgebende Terrain etc. für die Hervorhebung dieser Gräber. Der Tod als ‚großer Gleichmacher‘, wie ihn der frühe Islam in seiner Ablehnung bleibender, vor allem auch architektonisch gestalteter Grabdenkmäler gefordert hatte, spielte auf osmanischen Gräberfeldern keine Rolle, soziales Ansehen spiegelte sich im Begräbnis wider. Längst vergessen waren die Worte des persischen Dichters und Mystikers des 12. Jh. Farîduddîn Muhammed ‘Attâr: 31
Türk Ansiklopedisi 1946. Laqueur 1993, 13. 33 Laqueur 1993, 33. 34 Laqueur 1993, 22. 32
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Ob du nun bettler bist oder könig, drei ellen leinen und zehn ziegelsteine werden dich allein begleiten.35
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Dieter Richter Irrespective of Race or Religion Heterodoxe Friedhöfe in Italien
Zusammenfassung Heterodoxe Friedhöfe in Italien, das heißt Grabstätten für im Land verstorbene Angehörige nicht-katholischer christlicher Glaubensgemeinschaften, sind bisher kaum dokumentiert und erforscht worden; einzig der Cimitero al Testaccio an der Cestius-Pyramide in Rom hat eine größere Aufmerksamkeit gefunden, nicht zuletzt dank der dortigen Gräber zahlreicher berühmter Persönlichkeiten. Eine ganze Reihe dieser Orte sind, sofern überhaupt bekannt, in konservatorisch schlechten Bedingungen, schwer zugänglich oder praktisch vergessen. Der Beitrag widmet sich der Geschichte, der Anlage, der kulturellen Bedeutung und der Ästhetik der italienischen Cimiteri acattolici und möchte zu einer Beschäftigung mit einer Einrichtung anregen, in deren Anlage sich interreligiöse und interethnische Konflikte ebenso spiegeln wie die Strategien einer frühen Versöhnung zwischen Völkern und Kulturen.
Heterodoxie, Andersgläubigkeit – im Folgenden verstanden als Abweichung von der jeweils vorherrschenden Glaubensrichtung im Spektrum der verschiedenen christlichen Konfessionen – war bis ins 19. Jh. eines der wichtigsten Identitätsmerkmale in der Wahrnehmung von Angehörigen fremder Völker. Im neuzeitlichen Europa wirkte sich dies vor allem auf die Begegnung von Menschen aus den Ländern des protestantischen Nordens mit jenen der katholischen Mediterranée aus und führte zu einer Reihe von Vorurteilsbildungen und Stigmatisierungen, die im Zeitalter sich anbahnender Handelsbeziehungen, vor allem aber eines stetig wachsenden Reiseverkehrs vom Norden in den Süden in verschiedenen italienischen Städten zur Anlage eigener Begräbnisplätze für die hier verstorbenen Mitglieder nicht-katholischer Kommunitäten führten. Sie sind bis heute lokal bekannt unter Namen wie Cimitero acattolico, Non-Catholic Cemetery, Cimitero inglese o. ä. Eine gewisse überregionale Bekanntheit hat dabei lediglich der Cimitero acattolico al Testaccio bei der Cestius-Pyramide in Rom erlangt, nicht zuletzt wegen der Gräber vieler prominenter Persönlichkeiten, die sich dort befinden. Die meisten dieser Friedhöfe sind jedoch nur noch lokal bekannt, einige verwahrlost (z. B. Livorno, Friedhof der Holländisch-deutschen Kongregation) oder praktisch unbekannt (Salerno, Cimitero Svizzero). Die meisten von
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ihnen sind aufgelassen (z. B. Bagni di Lucca, Messina), einige noch immer als Grablege in Betrieb (z. B. Rom, Neapel, Capri). Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt. Zu einzelnen dieser Einrichtungen gibt es kleinere Veröffentlichungen, meist von Lokalhistorikern (siehe Literaturverzeichnis). Der Friedhof in Rom und vor allem dessen „Ältere Abteilung“ bis ca. 1821 (Parte Antica) ist dagegen mehrfach Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden, u. a. in einem Gemeinschaftsprojekt der Unione Internazionale degli Istituti di Archeologia, Storia e Storia dell’Arte in Rom unter Federführung des Schwedischen Archäologischen Instituts.1 Dort wurde auch zum ersten Mal exemplarisch auf die Bedeutung eines solchen Ortes als „a historically important ensemble of memorials spanning more than 250 years and illustrating significant aspects of Rome’s past and present“2 aufmerksam gemacht und wurden Methoden zu dessen interdisiplinärer Erforschung vorgestellt und praktiziert (Cemetery Archeology)3. Über den Fremdenfriedhof auf der Insel Capri habe ich selber nach ähnlicher Methodik eine Monographie publiziert.4 Für die meisten dieser Friedhöfe fehlen jedoch methodisch fundierte Forschungsarbeiten; ebenso fehlt eine zusammenhängende Darstellung dieser Einrichtung. Was ich anregen möchte, ist ein Forschungsprojekt mit dem Ziel der Auffindung, Bestandsaufnahme und Erforschung dieser heterodoxen christlichen Friedhöfe in Italien. Zu beteiligen wären Vertreter der Disziplinen Archäologie, Theologie, Geschichte, Kulturgeschichte, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft. Das Projekt könnte in der Folge auch zur besseren Würdigung, Erhaltung und Nutzung dieser historisch einzigartigen Stätten führen, deren konservatorischer Zustand zur Zeit in vielen Fällen nicht gut ist. Ein Beispiel dafür könnte der Non-Catholic Cemetery auf der Insel Capri sein: Lange Zeit verwahrlost, wurde er nach Publikation der genannten Studie in seiner Bedeutung für die Geschichte der Insel erkannt und in kommunale Pflege übernommen. Wie weit sich ein solches Forschungsprojekt auf andere Länder des Mittelmeerraums ausweiten lässt, muss im Moment eine offene Frage bleiben.
Historischer Hintergrund Heterodoxie fungierte in der Vergangenheit vielfach als Faktor gesellschaftlicher Separation. Das galt nicht nur für die Lebenden (z. B. deren Glaubensausübung oder gesellschaftlichen Verkehr), sondern auch für die Toten. Andersgläubige Angehörige von diasporischen Kommunitäten sowie Reisende, die unterwegs starben, erhielten in Italien vielfach keinen Begräbnisplatz auf den örtlichen 1
Ippolito et al. 1989; Nylander 1992; Israel et al. 2013. Ippolito et al. 1989, 2. 3 Ippolito et al. 1989, 161–168. 4 Richter 1996. 2
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Friedhöfen („in geweihter Erde“). Diese unterstanden meist der Souveränitat der Römisch-Katholischen Kirche und galten nach dem Codex Iuris Canonici (CIC/ 1917 can 1212 und 1240) als loca sacra und damit als reserviert für die sepultura fidelium5. Protestanten und andere Andersgläubige galten jedoch als infideles und mussten – im schlimmsten Fall – auf offenem Feld und ohne Grabstein beigesetzt werden (so z. B. in Rom bis 1823, auf Capri bis 1874). Das galt vor allem für die (ehemaligen) Staaten des Großherzogtums Toskana, des Kirchenstaats und des Königreichs Beider Sizilien, während in den von Napoleon besetzten oberitalienischen Territorien aufgrund der napoleonischen Reformen nach 1800 auch Andersgläubige in den neuen öffentlichen Friedhöfen beigesetzt wurden, wenn auch in eigenen, konfessionell getrennten Abteilungen (Venedig, San Michele; Genua, Staglieno). Vor allem im Zeitalter wachsenden Reiseverkehrs seit der Mitte des 18. Jh. schuf diese Situation Irritationen und Ängste unter Reisenden aus den protestantischen Ländern, wie zeitgenössische Berichte zeigen: Als sich die kurländische Reichsgräfin Elisa von der Recke (Schönberg 1754 – Dresden 1833) auf ihrer Grand Tour im Sommer 1806 für mehrere Monate in Neapel aufhielt und ihr Freund und Reisebegleiter, der Dichter Christoph August Tiedge (Gardelegen 1752 – Dresden 1841) hier lebensgefährlich erkrankte, notierte sie in ihrem Tagebuch: „Der theure Kranke hatte in seinen halbhellen, halb mit Fantasie vermischten, Außerungen die ihn quälende Besorgnis ausgedrückt: daß, wenn er sterben sollte, sein Körper als der eines Nicht-Katholiken auf eine höchst schimpfliche Art weggeworfen werden würde“6. Vergessen wir nicht: Reisen war eine gefährliche Angelegenheit, Krankheit und Tod in der Ferne waren an der Tagesordnung – wie selbstverständlich enthält ein französischer Reisesprachführer von 1814 für die häufigsten auf Reisen vorkommenden Situationen (les expressions plus usitées en voyage) auch – in sechs Sprachen – Vokabular und Mustersätze für Krankenlager und Sterbebett.7 Auch ausländische andersgläubige Residenten, etwa in Handelsniederlassungen, Dienstleistungsbetrieben oder diplomatischen Vertretungen, teilten dieses Schicksal. Sie mochten lange Zeit und relativ integriert im Ausland gelebt haben, im Falle ihres Todes wurden sie wieder zu Fremden: „The funeral is a moment of truth“8. Allenfalls hochgestellte oder sehr wohlhabende Persönlichkeiten konnten im Falle ihres Todes mit der Möglichkeit einer Rückführung in die Heimat rechnen: So ließ beispielsweise der britische Botschafter im Königreich Beider Si5
Walter 1854, 580–582. Von der Recke 1815, 277. Die Autorin erfährt dann zu ihrer Beruhigung von Freunden, „daß das Augustiner-Kloster in Neapel sich der Leichen der Lutheraner besonders annehme, und auf dem Klosterkirchhofe für sie ein eigener Raum bestimmt sey“ (von der Recke 1815, 277 f.). 7 De Genlis 1814, 396–399 (Kap. LI: „Von demselben Kranken, der sich auf dem Todten-Bette mit seinem Arzte unterhält“). Die Mustersätze umfassen u. a. das Herbeirufen des Priesters und die Abfassung des Testaments. 8 Nylander 1992, 223.
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zilien, Sir William Hamilton, den Leichnam seiner verstorbenen Frau 1782 auf einem schwedischen Schiff nach Ostende überführen, damit er in der Familiengrabstätte in England beigesetzt werden konnte.9 Gerade in Orten mit lebhafterem kulturellem Nord-Süd-Austausch in Handel und Fremdenverkehr entstanden daher schon frühzeitig Initiativen zur Gründung und Sicherung eigener Begräbnisplätze, auf denen, in gewissen Grenzen, rituelle Beisetzungen stattfinden konnten, wie sie auch im Zeitalter einer zunehmend laizistischer werdenden Gesellschaft zum kulturellen Selbstverständnis gehörten. Der vermutlich älteste nicht-katholische Friedhof in Italien ist der Antico Cimitero degli Inglesi in Livorno; er wurde um 1645 gegründet und war bis 1839 in Betrieb, wurde dann durch den Nuovo Cimitero degli Inglesi abgelöst.10 Ins 17. Jh. zurück reichen auch die heterodoxen Begräbnisplätze in Venedig, deren Geschichte für die Nazione alemanna dokumentiert ist.11 Die meisten Gründungen fallen dann in die Zeit um 1800, als sich in Italien, meist unter dem Dach ausländischer diplomatischer Vertretungen, auch protestantische Glaubensgemeinschaften fest etablierten.12 Dabei lassen sich für Einrichtung und Unterhaltung der Friedhöfe drei Modelle unterscheiden: 1. Einrichtung und Unterhaltung unter der Hoheit auswärtiger Mächte. Dieses Modell gilt z. B. für den Cimitero al Testaccio in Rom, der nicht zuletzt durch die diplomatische Initiative der Preußischen Botschaft unter Wilhelm von Humboldt gesichert wurde und bis heute von einem Komitee von Vertretern aus 14 ausländischen Botschaften verwaltet wird. 2. Einrichtung und Unterhaltung in Eigenregie der ausländischen Diaspora. Die Initiative konnte dabei von lokalen protestantischen Glaubensgemeinschaften ausgehen (z. B. Florenz, Messina), aber auch von einem nicht kirchlich inspirierten Zusammenschluss, wie beispielsweise auf Capri, wo der Fremdenfriedhof von 1874 bis 1991 in Selbstorganisation der dortigen Fremdenkolonie und orientiert am englischen Vereinsrecht unterhalten wurde.13 Ähnlich funktionierten Gründung und Unterhaltung (von 1844 bis 1982) auch in Bagni di Lucca. 3. Einrichtung und Unterhaltung durch Privatpersonen. In diesem Fall stellten einzelne Personen einen Teil ihres privaten Territoriums als Begräbnisfläche zur Verfügung. So ließ in Syrakus der liberale Graf Landolina seit 9
Knight 2015, 68 f. Giunti et al. 2013, 15–22. 11 Oswald 1989, 63-68. 12 Zur Situation in Rom vgl. Maurer 2005, 51–61, zu Neapel Richter 2005, 211–19. 13 Richter 1996, 51–56.
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1803 an einem Mauerstück im Park seiner Villa mehrere Ausländer beisetzen, darunter neben einem britischen und einem US-amerikanischen Seeoffizier auch den 1835 dort verstorbenen Dichter August Graf von Platen.14 In Salerno richtete in den 1830er Jahren der Schweizer Industrielle Johann Conrad Schlaepfer aus Appenzell einen Teil seines Fabrikgeländes als Begräbnisplatz für die verstorbenen Arbeiter und Angestellten der am Ort betriebenen Schweizer Baumwollspinnereien und -webereien ein (heute in Privatbesitz). Einen Sonderfall stellt der Friedhof in Bronte in Sizilien dar. Der neapolitanische König Ferdinand IV. hatte 1799 Lord Nelson zum Dank für seine Hilfe gegen die napoleonischen Truppen zum „Herzog von Bronte“ ernannt, einem eigens für ihn geschaffenen „Herzogtum“, der „Ducea di Bronte“ am Osthang des Ätna. Das Mini-Territorium und sein Titel blieben (mit Unterbrechungen in der Mussolini-Ära) bis 1981 im Besitz der Nachkommen von Admiral Nelson, die in der Nähe ihres Schlosses 1898 auch einen kleinen Friedhof angelegt haben, auf dem neben zwei Herzögen und verschiedenen britischen Verwaltern und Dienern auch der schottische Dichter William Sharp beigesetzt wurde, der 1905 hier starb. Nach dem Verkauf des Territoriums an die Kommune 1981 behielt sich die Familie als Besitz einzig den Friedhof vor: ein Stück englischen Landbesitzes am Ätna.15 Federführend bei der Einrichtung der Friedhöfe waren in der Regel die Engländer, die im 18. und 19. Jh. die größte Gruppe der Ausländer in Italien bildeten. Aus diesem Grund firmieren bis heute viele dieser Orte als Cimiteri Inglesi, „Englische Friedhöfe“ (z. B. in Florenz, Neapel). Aktiv beteiligt waren darüber hinaus vor allem Deutsche und Schweizer, außerdem Skandinavier, Niederländer, USAmerikaner und Russen.
Die Anlagen Was die beigesetzten Personen betrifft, so lassen sich aus meiner Kenntnis im wesentlichen die folgenden Gruppen nennen: • Vertreter ausländischer Institutionen (diplomatische Vertretungen, Gesandtschaftspersonal, Vertreter ausländischer Glaubensgemeinschaften, Korrespondenten ausländischer Zeitungen o. ä.). 14
Die Anlage ist heute im kommunalen Besitz und enthält vier Grabmonumente aus dem Zeitraum von 1803 bis 1836, außerdem ein „von Freunden und Verehrern“ 1869 errichtetes Denkmal für den Ansbacher Dichter. Ob dort auch die Beisetzung von weiteren Personen ohne Grabstein erfolgte, wäre zu eruieren (April 2015). 15 Beigesetzt sind hier auch drei italienische Jugendliche, die 1943 durch kriegerische Ereignisse getötet wurden. Der Friedhof (Cimitero Inglese dei Nelson) wird von der Kommune und dem örtlichen Verein Pro Loco gepflegt, die einzelnen Gräber sind mit Tafeln markiert.
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• Ausländische, residente oder vorübergehend anwesende Arbeitskräfte (Bankiers, Industrielle, Kaufleute, Schweizer Hotelpersonal, Hausangestellte, Industriearbeiter, Handwerker auf der „Walz“, Soldaten etc.). In dieser Kategorie spielen die Schweizer eine wichtige Rolle, die als ausländische Arbeitskräfte im 19. Jh. besonders geschätzt waren, außerdem eine wichtige Funktion bei der Industrialisierung Süditaliens hatten. • Personal fremder Schiffe. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Briten von Handels- oder Kriegsschiffen, wie sie z. B. auf den Friedhöfen in Livorno, Neapel und Messina zahlreich vertreten sind. • Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle. Dieser Personen-Kategorie verdanken die Friedhöfe, vor allem der römische, bis heute einen gewissen Bekanntheitsgrad. Ich nenne als Beispiele aus Rom die Gräber von Keats, Shelley, Johann Christian Reinhart und Wilhelm Waiblinger, aus Livorno von Tobias Smollett, aus Florenz von Arnold Böcklin (im Cimitero degli allori) und Elizabeth Barrett-Browing (im Cimitero degli inglesi), aus Capri von Norman Douglas und Gracie Fields, aus Taormina von Wilhelm von Gloeden. Bis heute werden solche „prominenten“ Gräber immer wieder von Liebhabern und Verehrern besucht. • „Expatriots“ wie sie im Englischen auch Thema der erzählenden Literatur geworden sind (Somerset Maugham, Compton Mackenzie), also pensionierte Offiziere, Gutsbesitzer, Rentiers, die ihren Lebensabend in Italien verbracht haben (Bordighera, Bagni di Lucca, Florenz, Capri). • Durchreisende Touristen, die in Italien vom Tod ereilt wurden – in Rom ist etwa das Grab von Goethes Sohn August bekannt geworden. • Selbstmörder, die, auch wenn sie römisch-katholischen Glaubens waren, keine Aufnahme auf „offiziellen“ Friedhöfen fanden, und ebenfalls gelegentlich auf akatholischen Friedhöfen beigesetzt wurden. • Politische Emigranten. Hierzu gehören neben den Russen, die nach den Revolutionen von 1905 und 1918 nach Italien kamen, vor allem Juden, die nach 1933 aus Nazi-Deutschland geflohen sind,16 oft in schwierigen Verhältnissen in Italien lebten und deren Emigrations-Schicksale eine besondere Aufmerksamkeit verdient hätten. So befindet sich beispielsweise in Taormina das Grab des deutsch-ungarischen Filmproduzenten Eugen Kürschner, der 1939 nach dem Erlass der italienischen Rassengesetze zusammen mit seiner ganzen Familie (vier Personen) den kollektiven Freitod im Meer 16
Vgl. Vogt 1989, Bd. I, 141–220.
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wählte.17 Auch auf Capri befinden sich mehrere Gräber jüdischer Emigranten, zum Teil mit jüdischen Grabsymbolen. • Atheisten, Freidenker oder Personen, die aus Kritik an der Katholischen Kirche bewusst einen Begräbnisplatz auf einem nicht-katholischen Friedhof gewählt haben oder auf einem solchen bestattet wurden. Das berühmteste Beispiel ist vermutlich das Grab von Antonio Gramsci auf dem Testaccio-Friedhof in Rom. Charakteristisch für Anlage und Belegung der Fremdenfriedhöfe ist die Tatsache, dass konfessionelle und nationale Schranken hier keine Rolle spielen. Zwar gibt es einzelne Friedhöfe (z. B. Triest, Venedig, Livorno), in denen Angehörige verschiedener christlicher Konfessionen in verschiedenen Abteilungen beigesetzt wurden, in der Regel sind die Anlagen jedoch gemischt. Auch jüdische Gräber (mit jüdischen Symbolen) sind mancherorts integriert, ferner die Gräber von Personen, die, wie z. B. Selbstmörder, früher auf „normalen“ Friedhöfen kein Bestattungsrecht gehabt haben.
Orte kultureller Alterität. Zur Ästhetik der Friedhöfe Die akatholischen Friedhöfe sind Orte kultureller Alterität auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild und spiegeln damit die kulturellen Differenzen zwischen Mitteleuropa und der Mediterranée auch in der Sepulkralkultur. Anders als in Italien und in weiten Teilen des Mittelmeerraums ist das „nördliche“ Ideal der Totenruhe die Erdbestattung (interratio). Akatholische Friedhöfe in Italien werden daher durch das Bild von Erdgräbern bestimmt, es fehlen die für italienische Friedhöfe typischen Kolumbarien. Bis heute lassen sich an diesem Gegensatz die beiden archaischen, noch immer weiterwirkenden Grundmuster der Grablege ablesen: In der Mediterranée ist das Ideal des Grabes das Haus, im erweiterten Sinn die Stadt, nekropolis, im postreformatorischen, zunehmend naturaffinen Norden hingegen das Beet, im erweiterten Sinn der Garten, der „Friedhof“ (etymologisch = der „umhegte Hof“). Vor allem dort wo (etwa in Taormina oder auf Capri) katholischer und akatholischer Friedhof unmittelbar nebeneinander liegen, tritt diese sehr alte kulturhistorische Opposition auch unmittelbar in Erscheinung. In nicht wenigen Fällen nähert sich dabei die Ästhetik der akatholischen Friedhöfe der Idee der Parklandschaft an, wie sie seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. die Diskussion über Garten- und Parkgestaltung zunächst in England, später auch in Kontinentaleuropa bestimmt. Sie sind – anders als italienische und vergleichbar 17
Die Anlage wird heute (2015) durch die Kommune mit einem permanenten „Totenlicht“ geehrt. Die Grabstätte ist außerdem mit einem Gedicht geschmückt, welches das Schicksal der Familie thematisiert.
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mitteleuropäischen Friedhöfen in Deutschland und England – im Idealfall grüne Zonen, bestanden mit unterschiedlichen Bäumen und Büschen. Anders als auf italienischen Friedhöfen ist auch die Ästhetik von Grabschmuck und Grabgestaltung. Das hatte unbeschadet differierender kultureller Muster zunächst historische Ursachen: Im Königreich Beider Sizilien war das Anbringen von Kreuzen und anderen christlichen Symbolen auf nicht-katholischen Friedhöfen bis zur Eroberung des Landes durch Garibaldi 1860 verboten; im Kirchenstaat galt das Verbot sogar bis 1871. Der Rückgriff auf antikisierende Muster der Grabsteingestaltung, wie er sich etwa auf den Friedhöfen in Rom und Neapel findet, verdankt sich also nicht nur dem klassizistischen Stilideal der Zeit, sondern wurde durch diese ästhetische Zensur geradezu notwendig gemacht und befördert.18 Darüber hinaus wird die Ikonographie vieler Gräber auf nicht-katholischen Friedhöfen durch spezifisch christologische Elemente, Bibelzitate (auf deutschen Gräbern nach Martin Luther), Choralverse, Gedenksprüche etc. bestimmt, wie sie durch Reformation und Pietismus für Grabstätten von Protestanten üblich wurden. Die protestantische Identität der Verstorbenen im katholischen Italien sollte auf diese Weise ostentativ betont werden. Das Grab in der Fremde wurde, in gut reformatorischer Tradition, zum Monument des individuellen Glaubenszeugnisses über den Tod hinaus. Auf diese Weise präsentieren sich die akatholischen Friedhöfe als einzigartige Form einer „literarisierten Landschaft“19. Auch in ihrer äußeren Form, ihrer Symbolik, ihren Formeln (In memory of …, Hier ruht …) und ihrer Schriftgestaltung folgen die Grabsteine „nördlichen“, häufig britischen Vorbildern.
Erinnerungsgeschichte Historische Wahrnehmung und Erinnerung sind Teil der Geschichte dieser Friedhöfe. Sie reichen von literarischen und bildkünstlerischen Zeugnissen bis hin zu aktuellen touristischen Präsentationsformen. Auch in diesem Zusammenhang ist der römische Friedhof an der Cestius-Pyramide am bekanntesten geworden: Goethe hat ihn gezeichnet, sich dort ein Grab imaginiert, ihn in die „Römischen Elegien“ eingeführt, später seinem Sohn dort die Grabinschrift gesetzt. Shelley hat von ihm geschwärmt, englische und deutsche Künstler der Romantik haben ihn gemalt. Pier Paolo Pasolini (der sich ostentativ an Gramscis Grab hat fotografieren lassen) hat dem Toten und dem „dunklen fremden Garten“ mit seinem Gedicht Le ceneri di Gramsci (1957) ein literarisches Denkmal gesetzt. Heute ist der Friedhof auch touristisch und durch ein Internetportal vorbildlich erschlossen. 18 19
Nylander 1992, 239 f. Richter 1996, 24–26.
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Auch der Friedhof in Syrakus ist durch das Grab August von Platens seit längerer Zeit Pilgerziel einer exklusiven Gemeinde von Verehrern des Dichters.20 Literarische Zeugnisse der Erinnerungsgeschichte sind auch für die Friedhöfe in Florenz und Capri bekannt, existieren aber vermutlich auch für andere Lokalitäten.
Erforschung, Quellenlage Die Erforschung der Friedhöfe hätte in einem ersten Schritt durch eine interdisziplinäre Methodik aus Gräberfeldanalyse und historischer Quellenforschung zu erfolgen. Die Quellenlage ist disparat und unterscheidet sich nach den drei oben genannten Modellen der Einrichtung und Unterhaltung. Sofern die Friedhöfe unter der Regie auswärtiger Mächte standen bzw. stehen, kann man auf das Quellenmaterial der jeweiligen Auswärtigen Ämter oder Botschaften zurückgreifen. Im Falle kirchlicher Einrichtungen bieten kirchliche Archive entsprechendes Material, in Deutschland etwa das „Evangelische Zentralarchiv“ der EKD in Berlin. Schwieriger wird es im Falle der privaten Einrichtungen. So befindet sich z. B. das wichtigste Quellenmaterial für den Cimitero svizzero in Salerno aufgrund einer privaten Nachlassschenkung heute im Staatsarchiv St. Gallen. In jedem Fall sind natürlich örtliche Archive zur Quellenforschung heranzuziehen.
Ansätze des Verstehens Die nicht-katholischen Friedhöfe in Italien sind Zeugnisse eines Sachverhalts, der in Untersuchungen zur Grand Tour und zu den historischen Beziehungen zwischen Italien und den Ländern Mitteleuropas bislang wenig thematisiert worden ist: dass das Zeitalter der „klassischen“ Nord-Süd-Begegnungen im neuzeitlichen Europa ein konfessionell geprägtes Zeitalter war.21 Anthropologisch dokumentieren sie die Konfliktlage einer interkulturellen Begegnung, bei der Ausgrenzung und Stigmatisierung zu einer neuen gemeinschaftlichen Form der Identitätsbildung führte, in der Gegnerschaften zwischen Konfessionen und Nationen, wie sie in der „Heimat“ eine wichtige Rolle gespielt haben, in der „Fremde“ irrelevant wurden. So ruhen beispielweise auf dem Fremdenfriedhof in Capri Angehörige aus 21 verschiedenen Nationen und den entsprechenden Konfessionen. 20
Vgl. Rausch 1914, 197. – Gegenüber von Platens Grab haben „Freunde und Verehrer“ des Dichters 1869 ein Denkmal errichtet, auf dessen Sockel 1935 nochmals eine Gedenktafel angebracht wurde; 2012 wurde das Denkmal „von Bürgern der Stadt Ansbach“ restauriert (so eine weitere Tafel). 21 Maurer 2013, 252
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Irrespective of Race or Religion: So lautet die hier am Eingang im Jahr 1874 angebrachte Widmungstafel, gesetzt in einer Zeit, in der allerorten eben diese Unterschiede von Rasse, Religion, Nation ihre äußerste Zuspitzung erfuhren. Nur in der Fremde und im Schatten des Todes war möglich, was den Lebenden in der Heimat undenkbar schien. Insofern sind die nicht-katholischen Friedhöfe Orte einer frühen Oikumene im konfessionellen, kulturellen und nationalen Sinn. Sie zeugen vom Geist einer antizipierten Multikulturalität und Internationalität und einer Versöhnung über die Barrieren der Glaubensrichtungen und Weltanschauungen hinweg. Und als solche, Gärten der Erinnerung und Zeugnisse einer besseren Zukunft, verdienen sie ihre Erforschung, Erhaltung und Pflege.
Orte (soweit mir bekannt): Triest (mehrere Friedhöfe) Venedig (mehrere Friedhöfe) Bordighera Bagni di Lucca Livorno (mehrere Friedhöfe) Florenz (zwei Friedhöfe) Rom Neapel (zwei Friedhöfe)
Capri Salerno Messina Syrakus Taormina Palermo Bronte (Provinz Catania)
In Frankreich gelegen, aber stark italienisch geprägt: Menton (Côte d’Azur).
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IRRESPECTIVE OF RACE OR RELIGION
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Nekropolen als Räume des Konflikts
Michael Grünbart Der malträtierte Leichnam Zum Umgang mit Toten im byzantinischen Reich
Zusammenfassung Die Bestattung der Verstorbenen und der Umgang mit den Toten waren im byzantinischen Kulturraum ausdifferenziert geregelt. In gesellschaftlichen und politischen Ausnahmesituationen konnte es jedoch zu Übertretungen der Normen der Totenehrung kommen: Die Verweigerung eines Begräbnisses, Leichenschändungen und Zerstörungen von Bestattungsplätzen stellen die signifikantesten Akte dieses Handelns dar. Diese sind besonders im militärischen und kaiserlichen Kontext zu finden und dienten der Demütigung, endgültigen Auslöschung und Verachtung einer missliebigen Person (Entmenschlichung und Entstellung eines toten Körpers) oder eines Kollektivs (Leichenberge auf Schlachtfeldern). Darüber hinaus wird die Grabschändung auch zur psychologischen Kriegsführung eingesetzt: Die Zerstörung von Friedhöfen, die der Erinnerung dienten, traf einen Gegner an seinen Wurzeln.
Einleitung Der entehrende Umgang mit Toten und die Störung der Totenruhe wurden in der Byzantinistik noch nicht umfassend dargestellt, wenngleich sich in den Quellen zahlreiche Hinweise darauf finden.1 Im Folgenden sollen die Bandbreite und die Funktionen derartiger Handlungen vorgeführt werden, eine vollständige Untersuchung kann hier nicht geboten werden. Das Augenmerk wird auf den entehrenden Umgang mit Leichnamen in Zusammenhang mit Kriegsaktionen, auf die Verweigerung von standesgemäßen Begräbnissen und auf die Schändung von Gräbern bzw. Friedhöfen gelegt, wobei als der Hauptzeitraum der Betrachtung das zwölfte Jahrhundert gewählt wurde. Eine Fundgrube für diese Thematik stellt eine jüngst erschienene Monographie zum Umgang mit dem Leichnam im westlichen Mitteleuropa dar; dort findet sich auch ein Kapitel zur Leichenschändung.2 1
Klingenberg 1983, bes. 617–622 (VII. Die Grabschändung). Zum „kultivierten“ Umgang mit heiligen Körpern bzw. ihrer tolerierten Umbettung siehe Geary 1990, 110–112 (Legality of relic thefts). 2 Schmitz-Esser 2014, 473–608.
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Doch zunächst ein paar Worte zur materiellen Evidenz bzw. den Grundlagen für die angeführte Fragestellung, kurzum: Wo spielen sich diese Handlungen ab? Die Erforschung von Bestattungsplätzen – vor allem ab der frühbyzantinischen Zeit (6./7. Jh.) – wird als ein Desideratum bewertet.3 Zudem findet man kaum Namen und topographische Angaben von Friedhöfen in schriftlichen Quellen, der bei Eustathios von Thessalonike genannte Friedhof Sapria (Σαπρία, „Moderstätte“) stellt eher die Ausnahme dar.4 Zwar bringt die archäologische Forschung laufend neue Ergebnisse hinsichtlich von Gräbern und Bestattungspraktiken, ein Repertorium der Grabplätze oder eine Kulturgeschichte des Bestattungswesens im byzantinischen Kulturkreis steht allerdings noch aus. Schwierig gestaltet sich die Lage für die Reichshauptstadt Konstantinopel, da die extreme Ausbreitung des Stadtgebietes in den letzten hundert Jahren möglicherweise viele Friedhöfe hat verschwinden lassen.5 Epigraphische Zeugnisse bieten reichlich prosopographisches Material und gelegentlich auch Hinweise auf Friedhofsanlagen.6 Die noch sichtbaren Gräber (zumeist von aristokratischen Stifterinnen und Stiftern) in den konstantinopolitanischen Kirchen sind in Detailstudien behandelt worden.7 Die wichtigsten Angaben zu Fragen des entehrenden Umgangs mit Toten liefern nach wie vor historiographische Quellen.
Tote Körper als Massenphänomen – der militärische Kontext Seit der Antike galt es als unstatthaft, einen Leichnam einfach liegen zu lassen und nicht zu beerdigen oder zu verbrennen. Ohne Bestattung konnte ein Verstorbener nicht in das jenseitige Leben wechseln. Wichtig war seit jeher, dass man durch einen markierten und eigens eingerichteten Bestattungsplatz auch das ehrende Andenken pflegen konnte. Der Name einer Person konnte so im Gedächtnis einer Gesellschaft verortet werden.8 Auch im christlichen byzantinischen Reich war die Bestattung der Toten geregelt.9 Die Sitten änderten sich zwar, doch findet man bis weit in die mittelbyzantinische Zeit Beigaben in Gräbern aller sozialen Schichten.10 3
Ivison 1993 befasste sich mit Bestattungspraktiken der mittelbyzantinischen Zeit, diese Dissertation wurde nie veröffentlicht. Zur prekären Situation der Forschung siehe auch Ivison 1996, 99: „Although the study of the mortuary practices of medieval Western Europe is a wellestablished archaeological discipline, the funerary archaeology of the Eastern Roman Empire remains a little known and under-used resource.“ 4 Eustazio di Tessalonica 28, 19 (nicht bei Müller-Wiener 1977). 5 Müller-Wiener 1977, 219–222 (mit Karte von Grabbefunden aus der Spätantike). 6 Z. B. Mango 1950. 7 Weißbrod 1993 (allerdings nur in kunsthistorischer Hinsicht); Mango 1995 (Inschriften auf aristokratischen Gräbern); Grünbart 2015, 154–164. 8 Ich verweise hier lediglich auf Carroll et al. 2011. 9 Kyriakakis 1974; Abrahamse 1984. 10 Ivison 2000; Albani 2004; Poulou-Papadimitriou et al. 2012 (sehr umfassender Überblick über den Stand der Erforschung byzantinischer Friedhöfe in Griechenland).
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In gesellschaftlichen Ausnahmesituationen wollte oder konnte man hingegen Leichname nicht gebührend bestatten: Es fehlte an Zeit und Raum.11 Ein besonders ergiebiges Feld für die Rekonstruktion von Übertretungen der Normen stellt das Kriegswesen dar. Die militärischen Handbücher (Taktika) und historiographische Quellen gehen darauf ein: Der Tod von Soldaten und die Plünderung von Gefallenen werden gelegentlich thematisiert. In den Taktika stößt man auf sporadische Aussagen. Der versammelten Truppe werden die Strafbestimmungen auf Latein und Griechisch vorgelesen: „Wenn ein Soldat zum Zeitpunkt der Schlachtaufstellung und des Kampfes die Linie oder seine Schwadronen verlässt (…) oder einen Leichnam beraubt (…) soll er enthauptet werden“12 und noch genauer in einem eigenen Paragraphen: „Leichen zu plündern oder den Tross oder das Lager der Feinde vor dem endgültigen Ausgang der Schlacht anzugreifen ist eine verderbliche und gefährliche Sache. Daher muss man den Soldaten beizeiten vorher befehlen, wie auch in den Strafbestimmungen deutlich wird, sich dessen unbedingt zu enthalten. Denn oft wurden die Sieger dadurch nicht nur besiegt, sondern auch vernichtet, weil sie sich zerstreut hatten und vom Feind überrascht wurden.“13 In den Taktika des Leon (10. Jh.) wird empfohlen, nach der Schlacht nicht nur die eigenen Toten, sondern auch die gefallenen Feinde zu bestatten, da dies guten Sitten entspräche.14 Im Gefolge von militärischen Handlungen und gewaltsamen Eroberungen kam es aber auch immer wieder zu einem unstatthaften Umgang mit Toten.15 Einige Passagen aus der byzantinischen Geschichtsschreibung sollen das untermalen. Theophylaktos Simokattes, Historiograph des frühen siebten Jahrhunderts, berichtet von den Erfolgen der Byzantiner gegen die Perser unter Kaiser Maurikios (582–602): „Die toten Perser wurden ihrer Habe beraubt und waren, da sie unbestattet dalagen, beliebigen wilden Tieren eine leichte Beute.“16 Lei11
Katastrophen waren Seuchenzüge und damit verbundene Hungerkrisen, die auch Implikationen auf das Bestattungswesen hatten, siehe Stathakopoulos 2007 und 2008. 12 Mauricii strategicon I 8 § 18 (99): Ἐὰν στρατιώτης ἐν καιρῷ παρατάξεως καὶ πολέμου τὴν τάξιν ἢ τὸ βάνδον (…) σκυλεύσει νεκρὸν (…) κελεύομεν τιμωρεῖσϑαι αὐτὸν κεφαλικῶς (…) Mauricii strategicon VII B 17, 38–39 (der Feind darf nicht vor dem Ende des Kampfes geplündert werden). 13 Mauricii strategicon VII A 14 (240, 1–8): Περὶ τοῦ μὴ σκυλεύειν ἐχϑροὺς ἐν καιρῷ μάχης. Σκυλεύειν δὲ νεκροὺς ἢ τούλδῳ ἢ φοσσάτῳ πολεμίων ἐπέρχεσϑαι πρὸ τελείας ἐκβάσεως τοῦ πολέμου πρᾶγμα ὀλέϑριον καὶ ἐπικίνδυνόν ἐστι. Διὸ χρὴ εὐκαίρως προπαραγγέλλειν τοὺς στρατιώτας, ὡς καὶ ἐν τοῖς ἐπιτιμίοις δηλοῦται, τούτων παντοίως ἀπέχεσϑαι. Πολλάκις γὰρ οἱ νικήσαντες διὰ τοιούτων τρόπων οὐ μόνον ἡττήϑησαν, ἀλλὰ καὶ ἀπώλοντο, σκορπίσαντες ἑαυτοὺς καὶ ὑπὸ τῶν αὐτῶν ἐχϑρῶν αἰφιδνιασϑέντες. 14 Leonis tactica 20 (542, 106–108): Κατασκευάσεις ἀϑυμίαν τοῖς πολεμίοις ὅταν ἐν καιρῷ μετὰ τὸν πόλεμον ποιῆσαι δυνηϑῇς τὴν ταφὴν ἀφανῶς τῶν ἀπὸ τοῦ σου στρατοῦ πεσόντων, τὰ δὲ σώματα τῶν πεσόντων πολεμίων ἐάσῃς. 15 Es kann hier nur eine Auswahl getroffen werden, eine systematische Durchforstung der byzantinischen Historiographie würde noch weitere Belege zutage fördern. 16 Theophylacti Simocattae historiae III 7, 19 (125, 17–21): τοῖς μὲν οὖν τὰ τῆς ἀποδράσεως ἐκρατύνετο, τοῖς δὲ τὰ τοῦ ϑάρσους ὡς ἔπος εἰπεῖν ἐμηκύνετο. Οἱ δὲ τῶν Περσῶν τεϑνεῶτες λωποδυτούμενοι καὶ ταφῆς ἀμοιροῦντες τοῖς ἐντυγχάνουσι ϑηρίοις ἑστίασις ἦν αὐτοσχέδιος. Übersetzung:
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chenfraß stellte schon in der antiken Vorstellung etwas Verabscheuungswürdiges dar. Ein Grund für die Forderung nach einer raschen Bestattung waren zweifelsohne auch hygienische Gründe: Der Leichnam galt als unrein, der rasch den Blicken der lebenden Umgebung entzogen werden solle. Kaiser Julian verbot Leichenzüge in den Straßen, da sie die Augen der Menschen verletzten und verunreinigten.17 Auch in den Kriegserzählungen spielt der hygienische Aspekt eine große Rolle. Mitunter behinderte Leichengeruch die Fortsetzung von militärischen Aktionen: „Als Chosroes und die Romäer drei Tage lang am Schlachtfeld gelagert hatten, entfernten sie sich am vierten, da die Toten einen Geruch verbreiteten und sie den drückenden Gestank nicht mehr ertragen konnten.“18 Man liest auch von Verstümmelungen toter Soldaten. Im Jahre 1030 lässt der byzantinische General Georgios Maniakes bei der Schlacht von Teluch gefallenen Arabern die Nasen und Ohren abschneiden, um sie an Kaiser Romanos III. Argyros (1028–1034) zu schicken. Dies dient dazu, den großen Erfolg der Operation zu zeigen und anhand der Leichenteile zu visualisieren.19 Streiflichter auf die Verhältnisse im 12. Jh. enthalten die Werke von Anna Komnene, Niketas Choniates, Ioannes Kinnamos und Eustathios von Thessalonike. Anna Komnene berichtet in ihrer Alexias ausführlich über die Zustände während des Ersten Kreuzzuges und der folgenden Jahre. Ihre plastischen Darstellungen tragen viel zum Verständnis zeitgenössischer Verhaltensweisen und Vorstellungswelten bei. Als Bohemund, Fürst von Antiocheia, im Jahre 1104 aus dem Heiligen Land vor dem Zugriff des Kaisers Alexios I. flüchtete, griff er zu einer List. Er ließ sich in einen Holzsarg (mit Luftlöchern) betten: „Damit es aber auch den Anschein habe, als sei der Leichnam in Verwesung begriffen und stinke, erwürgten oder schlachteten sie einen Hahn und legten ihn auf den Toten. Und prompt verbreitete dieser nach vier oder fünf Tagen einen durchdringenden Gestank für alle, die eine Nase hatten.“20 Zwar wird die Historizität dieser Episode bezweifelt, es zeigt aber das ständig präsente Problem des Umgangs mit toten Körpern. Schreiner 1985, 98. Julian, Briefe 197–201 (Nr. 62) und dazu der lateinische Erlass im Codex Theodosianus IX 17,5 (bei Julian, Briefe 330-332 abgedruckt und kommentiert). 18 Theophylacti Simocattae historiae V 11, 5 (209, 12–15): τριταῖοι τοίνυν ἐναυλισϑέντες Χοσρόης τε καὶ Ῥωμαῖοι ἀνὰ τὸν πολέμιον χῶρον ἀπηλλάσσοντο τῇ τετάρτῃ, ὀδωδότων τῶν τεϑνεώτων αὐτοῖς, καὶ τὸ πνῖγος τῆς κατοσμίας φέρειν οὐκ ἔχοντες. Übersetzung Schreiner 1985, 155. 19 Ioannis Scylitzae synopsis 382, 55–56: τὰς δὲ ῥῖνας καὶ τὰ ὦτα τῶν πεσόντων ἀποτεμὼν διεκόμισεν ἐν Καππαδοκίᾳ τῷ βασιλεῖ. Mitunter wurden gefallenen Soldaten auch die Kopfhaut abgezogen und die Geschlechtsteile abgeschnitten, um ihre eindeutige Zuordnung (Byzantiner oder Seldschuken) zu erschweren. So geschah dies in Kleinasien, als Kaiser Manuel I. auf seinem Rückzug in Kleinasien (1176) auf große Leichenfelder stieß; vgl. Nicetae Choniatae hist. 190, 76–77. 20 Annae Comnenae Alexias XI 12 § 3: ἵνα δὲ καὶ δοκοίη ὁ νεκρὸς ἕωλος εἶναι καὶ ὀδωδώς, ἀλεκτρυόνα ἀποπνίξαντες ἢ ἀποσφάξαντες ἐνέϑηκαν τῷ νεκρῷ, καὶ εὐϑὺς ἐκεῖνος εἰς τετάρτην ἢ καὶ πέμπτην ἡμέραν βαρυοδμότατος ἦν τοῖς ὄσφηρσιν ἔχουσι. Übersetzung Reinsch 2001, 399. 17
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Bei der Eroberung der Stadt Thessalonike durch die Normannen im Jahre 1185 kam es zu unerhörten Freveltaten. Eustathios, Erzbischof der Demetriosstadt, berichtet als Augenzeuge: Einen empfindlichen Menschen musste es auch verletzen, dass die Barbaren, diese Menschenfeinde, die auf den Straßen und auf der Akropolis liegenden Leichen gemeinsam mit Tieren verbrannten; und auch das taten sie erst recht spät. Denn gleich zu Beginn hatten wir sie ersucht, die Leichen zu bestatten, um den widerlichen Anblick und gesundheitsschädliche Ausdünstungen zu beseitigen. Darauf hatten sie erwidert, sie seien daran gewöhnt und hätten ihre Freude an solchen Bildern und Gerüchen.21
Die Verachtung der toten Einwohner Thessalonikes kommt hier zweifach zum Ausdruck: Einerseits werden sie mit Tierkadavern zusammengeworfen und andererseits verbrannt. Die Verbrennung von Leichnamen nahm in der Spätantike ab und wurde von christlicher Seite zurückgedrängt. Wie in den westlichen mittelalterlichen Gesellschaften ist auch in Byzanz die Verbrennung als Strafe für Häretiker belegt, die bekannteste Darstellung bietet Anna Komnene, die genau den Prozess und die Hinrichtung des Bogomilenführers Basileios auf dem Scheiterhaufen beschreibt.22 Auch das nasse Element hatte als Bestattungsmöglichkeit eine negative Konnotation. Die niedergemetzelten Gefolgsleute des falschen Diogenes – dieser gab vor, Romanos IV. Diogenes (1068–1071) zu sein – werden in Wasserläufe geschleudert: „Alakaseus (= ein Militär aus Adrianopel) selbst aber und der Kommandant machten sich augenblicklich mit einigen anderen über sie her, nahmen ihnen die Pferde und Waffen weg und ließen ihn (= den falschen Diogenes) selbst dort schnarchend zurück, seine Gefolgsleute aber töteten sie und warfen sie auf der Stelle in irgendwelche Kanäle, die gleichsam als Gräber von der Natur für sie vorherbestimmt waren.“23 Schlechten, hier kaiserabtrünnigen Männern gebührt also kein anständiges Begräbnis, sondern sie werden gleichsam in einem Abfluss entsorgt. Die Verachtung dieser Personen geht also über den Tod hinaus. 21
Eustazio di Tessalonica 120, 13–18: Ἐνταῦϑα δάκοι ἂν καρδίαν ἀνδρὸς φιλοίκτου καὶ ὅτι τοὺς κειμένους ἔν τε ταῖς ἀμφόδοις καὶ ἐν τῇ ἀκροπόλει ἀλόγοις ζῴοις ἀναμιγνύντες κατέκαιον οἱ ἐχϑροί, τὸ μισάνϑρωπον ὀψὲ καὶ τοῦτο δράσαντες. Τὰ πρῶτα γὰρ ὑφ’ ἡμῶν παρακαλούμενοι καταχῶσαι τοὺς νεκρούς, μὴ καὶ ϑέα δυσπρόσωπος ἔκκεινται καὶ ἀποφορὰς δὲ νοερὰς ἀτμίσωσιν, ἐϑάδες τοιούτων αὐτοὶ ἔφασαν εἶναι καὶ χαίρειν τοιαύταις ϑέαις τε καὶ ὀδμαῖς. Übersetzung Hunger 1967, 116 (cap. 107). 22 Anna Comnena, Alexias XV 10 § 1–4. 23 Anna Comnena, Alexias X 4 § 4 (292, 52–56): περιελϑόντες δὲ εὐϑὺς αὐτὸς τὲ ὁ Ἀλακασεὺς καὶ ὁ φύλαξ μετά τινων ἑτέρων τούς τε ἵππους ἀφελόμενοι καὶ τὰ ὅπλα αὐτὸν μὲν αὐτοῦ που καταλιμπάνουσι ῥέγχοντα, τους δ’ ὑπ’ αὐτὸν ἀναιρήσαντες ἐν διώρυξι τισὶν εὐϑέως ἀπέρριψαν ὥσπερ εἴς τινας τάφους αὐτοφυεῖς.
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Die Verweigerung der Bestattung von Individuen Nach diesen Beispielen zum unstatthaften Umgang mit Toten (als Kollektiv) soll nun der Blick auf Vorfälle gelenkt werden, bei denen gezielt und vorsätzlich gegen Einzelpersonen vorgegangen wurde. An erster Stelle muss die imperiale Sphäre betrachtet werden, wo es öfters zu Umstürzen und zum Ausradieren von Erinnerung, zu der auch das Entfernen bzw. Vernichten des kaiserlichen Leichnams gehörte, kam.24 Wenn ein Kaiser gewaltsam abgesetzt wurde, wurde ihm hin und wieder eine ehrenhafte Beisetzung verweigert, geschweige denn ein regelmäßiges Gedenken an ihn initiiert. Auch die Angehörigen des Kaisers waren von solchen Maßnahmen betroffen. Als sich Kaiser Maurikios in der Hauptstadt nicht mehr durchsetzen konnte, floh er mit seiner Familie auf die asiatische Seite des Bosporus, wo er jedoch von Anhängern des Militärs Phokas aufgegriffen wurde. Phokas, den die hauptstädtische Bevölkerung zum Kaiser ausgerufen hatte, ließ Maurikios und fünf seiner Söhne im Jahre 602 enthaupten25 und ihre Leiber in den Bosporus werfen: „Die Körper der Toten wurden als beweinenswerter Gegenstand des Spiels in die Wogen des Meeres geworfen, und es war zu sehen, wie die Meeresströmung bald dem Festland die eben dahingeschlachteten Körper schenkte, bald sich freute, sie in Wellenstößen zurückzunehmen, und sie wieder dem gierigen Meer überließ.“26 Die Köpfe wurden hingegen öffentlich, auf dem Hebdomon (ἐν τῷ Κάμπῳ τοῦ τριβουναλίου), ein Platz vor den Stadtmauern Konstantinopels, zur Schau gestellt.27 In den folgenden Jahrhunderten passierten des Öfteren Schändungen von toten Usurpatoren oder gestürzten Kaisern.28 Einer der spektakulärsten Fälle der Zerstörung eines Körpers stellte die Tötung des Andronikos I. dar.29 Andronikos Komnenos inszenierte sich zunächst als Beschützer des noch minderjährigen Alexios II., des Sohnes von Manuel I. († 1180). Er drängte alle möglichen Widersacher zurück, die Mutter des Alexios, Maria Xene, ließ er erwürgen, nachdem ihr Sohn – laut Niketas – das Todesurteil unterzeichnet hatte. Sie wurde an einem unbekannten Ort „im Sand der Küste verscharrt“, was die damnatio memoriae der Gegnerin Andronikos’ unterstreicht.30 Nach und nach drängte er Alexios zu24
Zur damnatio in memoria jetzt Scholz et al. 2014. Theophylacti Simocattae historiae VIII 11. 26 Theophylacti Simocattae historiae VIII 12 (306, 23–28): Τὰ μὲν οὖν σώματα τῶν τεϑνεώτων ἐπίδακρυ παίγνιον τοῖς τῆς ϑαλάττης ἀκοντίζονται κύμασιν, καὶ ἦν ἰδεῖν τὸ ῥεῖϑρον ὡς ἔπος εἰπεῖν τὸ ϑαλάττιον ποτὲ τῇ χέρσῳ τὰ νεοσφαγῆ φιλοτιμούμενον σώματα, ποτὲ φιλυποστρόφοις τισὶν ἀντωϑήμασι πρὸς τὴν ὑποδεξαμένην ἐναγκαλιζόμενον ϑάλατταν. Übersetzung Schreiner 1985, 218. 27 Theophylacti Simocattae historiae VIII 12 (307, 24–27). Jäckel 2006, 120–121. 28 Siehe die umfassende Analyse bei Heher 2015, 161–166 (Kopfjagd in Byzanz). 29 Jäckel 2006, 130. 30 Nicetae Choniatae hist. 269, 91: ἡ ἐκεῖ που ἀκτὴ τῇ ψάμμῳ καταχωσϑεῖσαν (Grabler 1971b, 60). 25
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rück, wurde Mitkaiser und ergriff 1183 als Alleinherrscher die Macht und entledigte sich sogleich möglicher Konkurrenz. Der noch minderjährige Alexios erlitt nun das folgende Schicksal: In der Nacht überfielen Stephanos Hagiochristophorites, Konstantinos Tripsychos und ein gewisser Theodoros Dadibrenos (…) den Kaiser Alexios und erdrosselten ihn mit einer Bogensehne. Seine Leiche wurde zu Andronikos gebracht und dieser trat ihn noch mit seinem eigenen Fuß in die Weichen und höhnte seinen eidbrüchigen Vater, der ihn so gequält, und beschimpfte seine Mutter als allbekannte Dirne. Dann durchbohrte man dem toten Alexios ein Ohr, zog einen Faden durch und klebte dessen Enden mit Wachs zusammen und Andronikos drückte mit seinem Ring sein Siegel darauf. Hierauf wurde die Leiche verurteilt, in die Tiefe des Meeres geworfen zu werden, der Kopf aber sollte abgeschnitten und wieder zu Andronikos gebracht werden. So geschah es auch. Der Kopf wurde insgeheim in die sogenannte Katabate geworfen, der Körper aber in einen Bleibehälter gesteckt und in einer Meerbucht versenkt.31
Der Kaiser malträtiert den toten Körper, übt also auch noch physische Gewalt gegen den Leichnam aus. Die Diktion des Niketas lässt geradezu auf ein Gerichtsverfahren gegen die Leiche schließen (τὸ μὲν λοιπὸν σῶμα καταδικάζεται ῥιφῆναι βυϑῷ). Prozesse gegen Verstorbene kennt man aus dem lateinischen Westen, einer der spektakulärsten Fälle war das mehrmalige Verfahren gegen den Papst Formosus (896/897).32 Der Kopf des getöteten Alexios wurde dann mit dem kaiserlichen Siegelring gekennzeichnet, um sicher zu gehen, dass die Häscher die Beseitigung der Leiche auch durchführen. Auch hier sollte jegliche Möglichkeit von Memorialhandlungen ausgeschlossen werden, denn man ließ das corpus des Alexios sicher verschwinden, indem man es bleibeschwert im Meer versenkte. Die kurze Regierung Andronikos‘ I. endete im September 1185 gewaltsam.33 Der abgesetzte Kaiser wurde mehrere Tage lang öffentlich Misshandlungen ausgesetzt und dann getötet.34 Seinen Leichnam hängte man zwischen zwei Säulen öffentlich auf: 31
Nicetae Choniatae hist. 274, 12–25: καὶ νυκτὸς ἐπεισπεσόντων αὐτῷ τοῦ Ἁγιοχριστοφορίτου Στεφάνου, τοῦ Τριψύχου Κωνσταντίνου καί τινος Δαδιβρηνοῦ Θεοδώρου (…) τὴν διὰ τόξου νευρᾶς καϑυποδέχεται πνιγμονήν. ἀφϑεὶς δὲ ὁ νεκρὸς καὶ ἀχϑεὶς ἐς Ἀνδρόνικον κατὰ τοῦ κενεῶνος τῷ ἐκείνου τύπτεται ποδὶ καὶ τῶν τοκέων τῷ κειμένῳ ὁ μὲν ὡς ἐπίορκος διατωϑάζεται, ἡ δὲ ὡς περιλεσχήνευτον ἑταιρικὸν περιυβρίζεται γύναιον· ἔπειτα τιτρᾶται ὀβελίσκῳ τὸ οὖς καὶ κρόκης ἐξαφϑείσης κηρὸς περιπλασϑεὶς τῷ Ἀνδρονίκου σφραγιστηρίῳ ἐνσημαίνεται δακτυλίῳ. Καὶ τὸ μὲν λοιπὸν σῶμα καταδικάζεται ῥιφῆναι βυϑῷ, ἡ δὲ κεφαλὴ ἀποτμηϑῆναι καὶ αὖϑις Ἀνδρονίκῳ προσενεχϑῆναι. Καὶ πέρας εἰληφότος τοῦ ἐπιτάγματος, ἡ μὲν ἐν παραβύστῳ κατὰ τὴν λεγομένην Καταβατὴν διαφίεται, τὸ δὲ σκῆνος κεράμῳ μολιβδίνῳ ἐνειληϑὲν τοῖς ϑαλάττοις κόλποις ἐκδίδοται, (…) Grabler 1971b, 65. 32 Schmitz-Esser 2014, 539–544. 33 Jäckel 2006, 130. Nicetae Choniatae hist. 349 Grabler 1971b, 149–154. 34 Grabler 1971b, 150–152.
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Nach einigen Tagen wurde Andronikos von dem Strick, an dem er jämmerlich gehangen, abgeschnitten und wie ein verendetes Vieh in ein Gewölbe der Rennbahn geworfen. Von dort trugen später einige Leute, die sich ein wenig Mitgefühl bewahrt und sich nicht ganz der Wut überlassen hatten, seinen Leichnam weg und legten ihn in eine tiefe Grube in der Nähe des Ephorosklosters, welches neben dem Zeuxippon erbaut ist; einige noch nicht ganz zerfallene Reste sind an dieser Stelle bis heute zu sehen. Denn der – wenigstens seiner eigenen Meinung nach – untadelige und gerechte Kaiser Isaakios erlaubte nicht, dass Andronikos bestattet werde oder dass man seinen Leichnam in der Kirche der Vierzig heiligen Märtyrer beisetze, die Andronikos prunkvoll ausgestattet und mit herrlichem Schmuck und überreichen Weihegaben verschönt hatte, auf dass in ihr der Staub seines Körpers würdig ruhe.35
Der systematischen (stückweisen) Entmenschlichung des abgesetzten Kaisers folgt die respektlose Behandlung des toten Körpers. Wie ein Stück verdorbenen Fleisches wird er abgenommen und ohne Bestattung dem Verfall preisgegeben. Kaiser Isaakios II. (1185–1195) verhindert die geplante Beisetzung in der von Andronikos auserkorenen und dekorierten Grabkirche (Vierzig Märtyrerkirche), um jegliche Memorialhandlung zu unterbinden. Zunächst irgendwo im Hippodrom deponiert wird er dann zwar in ein Kloster überführt, das laut dem Augenzeugen Niketas aber ruinös ist. Das bedeutet, dass sich in dem Kloster kein geistliches Leben mehr abspielte, es also auch keine Gottesdienste und keine Memorialgemeinde gab.36 Vor der Einnahme der Hauptstadt durch die Kreuzfahrer im Jahre 1204 regierte Ioannes Komnenos, genannt der Dicke (1200), wenig erfolgreich. Besonders schockierend ist das Ende dieses kurzzeitigen Regenten: Den Kopf trennten sie [scil. die kaisertreuen Soldaten] ab und brachten ihn dem Kaiser. Damit jedermann ihn sehen konnte, wurde er – noch triefend vor Blut, fürchterlich grinsend und mit geschlossenen Augen – an einem Triumphbogen auf der Mese aufgehängt. Der Rest von Ioannesʼ Leichnam wurde unter freiem Himmel beim Südtor des Blachernenpalastes auf eine Bahre gelegt. Von unten konnte man sehen, dass der Basileus beim Betreten der über diesem Tor befindlichen kaiserlichen Wohnräume auf den Leichnam herabblickte, der aufgedunsen 35
Nicetae Choniatae hist. 352, 91–97: Μεϑ’ ἡμέρας δέ τινας καϑαιρεϑεὶς τοῦ οἰκτροτάτου ἐκείνου ὑψώματος ὅσα καὶ πτῶμα ϑρέμματος ἐν μίᾳ τῶν τῆς ἱπποδρομίας ἁψίδων παραρριπτεῖται. ἐσύστερον δέ τινες μερίδα τῷ ἐλεῷ διδόντες καὶ μὴ πάντα τῷ ϑυμῷ χαριζόμενοι ἐκεῖϑεν τὸν Ἀνδρόνικον νεκρὸν ἀνελόμενοι παρά τινι κατωτάτω τόπῳ κατέϑεντο περί που τὴν Ἐφόρου μονήν, ἣ κατὰ τὸ Ζεύξιππον ἵδρυται, ὃ καὶ εἰσέτι μὴ πάντῃ διαλυϑὲν τῆς ἁρμονίας τοῖς βουλομένοις ὀπτάνεται. ὁ γὰρ ἀμεμφής, ὡς ᾤετο, τὰ πάντα καὶ δίκαιος Ἰσαάκιος οὐ κατένευσε καϑαιρεϑῆναι καὶ ταφῇ παραδοϑῆναι Ἀνδρόνικον ἢ ἀπενεχϑῆναι τὸν τούτου νεκρὸν εἰς τὸν τῶν ἁγίων τεσσαράκοντα νεών, ὃν Ἀνδρόνικος ἐπεποίησε φιλοτίμως καὶ λαμπροῖς ἠγλάϊσε κόσμοις καὶ ἀναϑήμασι περιττοῖς κατεκάλλυνε καὶ ἐν ᾧ τὸν τοῦ σώματος χοῦν ἀποϑησαυρίσαι προεμηϑεύσατο. Grabler 1971b, 153–154. 36 Zu seinem Kloster und der bildlichen Darstellung zuletzt Grünbart 2011.
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war wie ein gewaltiges Rindvieh und wie er sich an dem Anblick ergötzte und mit dem Erfolg prahlte. Dann entfernte man den Körper von dort und warf ihn Hunden und Vögeln zum Fraß vor, was allgemein als menschunwürdig und beinahe tierisch-roh empfunden wurde.37
Die öffentliche Hinrichtung und die Zurschaustellung eines unterlegenen, toten Gegners gehörten zum politischen Repertoire in Byzanz.38 Dies diente dazu, Zweifel aus der Welt zu räumen, dass jemand doch überlebte und eventuell als falscher Kaiser wiederkehrte. Die Verweigerung eines Begräbnisses behindert mögliche Memorialpraktiken und die Ausbildung einer ‚Wallfahrtsstätte‘. Der Delinquent sollte schändlich vergehen und nichts sollte von ihm übrig bleiben. Eine übliche Hinrichtungsstätte war das Hippodrom in Konstantinopel, man erreichte dort ein Massenpublikum und hatte Möglichkeiten, den Tod öffentlichkeitswirksam zu inszenieren.39
Die Zerstörung und Schändung von Grabstätten Nicht nur bei Friedhöfen, sondern sogar bei den ursprünglich monumental angelegten Kaisergräbern ist die Dokumentationslage prekär:40 Zwar existieren zahlreiche kaiserliche Sarkophage in İstanbul, erkennbar an der Verwendung des kostbaren Porphyrsteins, doch Aussagen zur Aufstellung und Inszenierung der imperialen Grablegen kann man nur wenige finden.41 Normalerweise wurden Kaiser ehrenvoll in der Hauptstadt des byzantinischen Reiches zu Grabe getragen, wobei sich der seit Kaiser Konstantin übliche Bestattungsplatz, das Mausoleum an der Apostelkirche bzw. in der Apostelkirche, bis in das zehnte Jahrhundert gefüllt hatte.42 Ab diesem Zeitpunkt ist verstärkt der 37
Nicetae Choniatae hist. 527–528: (…) καὶ τὴν κεφαλὴν ἀφελόμενοι τῷ βασιλεῖ προσάγουσι. καὶ ἡ μὲν τῇ κατὰ τὴν ἀγορὰν ἁψῖδι μετεωρίζεται πρὸς ϑέαν πάνδημον, ἔτι τοῦ αἵματος ἀποβλύζουσα σεσηρυῖά τε δεινὸν καὶ μεμυκυῖα τὼ ὀφϑαλμὼ ὁ δὲ λοιπὸς Ἰωάννης ἀρϑεὶς ἐπὶ κλίνης αἴϑριος προτίϑεται κατὰ τὴν μεσημβρινὴν πύλην τῶν ἐν Βλαχέρναις ἀρχείων. Καὶ βασιλεὺς τὰς ἄνωϑεν αὐτῆς ἀρχικὰς διαίτας εἰσανιὼν ἐϑεᾶτο κάτωϑεν, ὁμοῦ μὲν τὰς ὄψεις διδοὺς τῷ πτώματι ὑπὲρ βοῦν διῳδηκότι μεγαλόπλευρον, ὁμοῦ δὲ καὶ διαχεόμενος τῷ ὁράματι καὶ καταλαζονευόμενος τὸ κατόρϑωμα. μετὰ δὲ τὸ σῶμα ἐκεῖϑεν ἀρϑὲν κυσὶ καὶ ὄρνισι βορὰ παρατίϑεται. Übersetzung Heher 2015, 165; Grabler 1971c, 100–101. 38 Zum Missverständnis des Pfählens in Byzanz siehe Heher 2013; ein Delinquent wurde nicht gepfählt, sondern auf eine furca (Holzgabel) gehängt, wobei der Kopf in die Gabel eingelegt und durch einen Holzbalken von hinten fixiert wurde. 39 Dagron 2011, passim. 40 Der Tod des Kaisers war mehrfach Thema der wissenschaftlichen Beschäftigung: Reinsch 1994 (zum 11. Jh.); Rapp 2012 (Beispiele zum Totengedenken); Tinnefeld 1997 (spätes Byzanz); Sode 2015 (kaiserliche Leichenbegängnisse). 41 Asutay-Effenberger et al. 2006. 42 Grierson 1962 (gibt einen Überblick über die Grabmäler). Grünbart 2012, 379–380 (Romanos I. Lakapenos und die Grablege im sogenannten Myrelaion).
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Usus zu finden, sich eine eigene Grablege zu schaffen. Diese war oft mit einem Kloster verbunden und diente der Pflege der regelmäßig stattfindenden memoria.43 Da die Kaiser in kostbar verzierten Sarkophagen und in ihrem Ornat bestattet waren, kam es im Laufe der Geschichte – besonders bei Knappheit der kaiserlichen Kasse – immer wieder zu Plünderungen und Störungen der Totenruhe,44 denn mit Grabraub ließ sich auch Kapital generieren.45 Grabplünderungen scheinen oft vorgekommen zu sein: Seit der Spätantike gibt es zahlreiche schriftliche Hinweise und literarische Reaktionen darauf. Gregor von Nazianz (4. Jh.) beschäftigt sich damit,46 und noch Theodoros Prodromos (12. Jh.) komponiert Verse gegen Grabräuber für Athanasios Hesychastes.47 Darüber hinaus findet man auf Grabinschriften manchmal Formulierungen, die vor Übergriffen schützen und Grabschänder abschrecken sollen. Eric Rebillard zählte für den Zeitraum vom zweiten bis zum vierten Jahrhundert ungefähr 3500 Inschriften, die auf Grabraub Bezug nehmen.48 In Corridonia (Macerata) existiert eine Inschrift aus dem Jahre 1186,49 ein weiteres Beispiel befindet sich in Serrai/Serres in Nordgriechenland.50 En passant soll erwähnt werden, dass geistiger Diebstahl in Byzanz mit Grabraub und Leichenschändung verglichen wurde.51 Gräber, Grabanlagen und Friedhöfe konnten auch aus politischem Kalkül zerstörerischen Übergriffen zum Opfer fallen, wie sich anhand der folgenden Funde in der byzantinischen Historiographie zeigen lässt. Immer wieder sind systematische Zerstörungen derartiger Anlagen während kriegerischer Aktionen erwähnt. Dies diente dazu, den Gegner auch in seiner Erinnerung/Herkunft zu treffen. Während des Ersten Kreuzzuges wurden die Anhänger des Kukupetros (= Peter von Amiens) in Kleinasien in der Gegend um Nikaia niedergemacht, ihre Leichen wurden nicht bestattet, sondern zu einem Berg aufgeschichtet. Die Gewährsfrau Anna Komnene schreibt dazu: Eine solche Menge von Kelten und Normannen fiel dem Schwert der Ismaeliten zum Opfer, dass man, als man die verstreut liegenden Leichen der gefallenen Männer zusammentrug, nicht einen gewaltigen Hügel aufschüttete, möchte ich sagen, 43
Grünbart 2012, 385–386 (Besuch von Kaisergräbern durch Nachfolger), 387–388 (Verzeichnis von Gedenktagen für die Familie des Alexios Komnenos). Zur Geschichte des Grabes des Basileios II., der Bergung seines Leichnams und dessen prophetisch inspirierender Funktion im Zelt von Michael VIII. im Jahre 1260 siehe Stephenson 2005. 44 Stellen bei Asutay-Effenberger et al. 2005, 51. 45 Burgmann et al. 1991. 46 Petzl 1987; Floridi 2013. 47 Hörandner 1974, 471–472 (Gedicht Nr. 58, tadelnde Verse an die Grabräuber). 48 Rebillard 2009, 70–71; wenn man diese Zahl mit den etwa 500.000 Inschriften aus diesem Zeitraum in Beziehung setzt, dann kommt man auf unter ein Prozent; Creaghan 1951. 49 Schreiner 1971. 50 Rhoby 2014, 348–352 (Nr. GR108) (datiert 1336) mit Anklängen an Theodoros Prodromos. 51 Lukake 2001 ediert einen Text, in dem geistiger Diebstahl mit Leichenfledderei verglichen wird.
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auch nicht eine Anhöhe oder eine hochragende Kuppe, sondern gleichsam ein hohes Gebirge, das eine beträchtliche Tiefe und Breite einnahm; so groß war das, was an Gebeinen aufgehäuft wurde. Und als später Angehörige desselben Stammes der dort hingeschlachteten Barbaren für die Anlage einer Festung eine Mauer bauten, da verwendeten sie für das Füllmaterial die Knochen der Toten wie Mörtel und Kieselsteine, indem sie die Stadt sozusagen als Grab für sie bauten. Sie steht bis auf den heutigen Tag mit ihrer Mauer, die aus einer Mischung von Steinen und Knochen gebaut ist.52
Die westlichen Eindringlinge scheuten also nicht einmal davor zurück, die Überbleibsel des eigenen Ethnos zweckentfremdet und ohne ethische Bedenken in einer Verteidigungsanlage zu verbauen. Leichen- bzw. Knochenberge scheinen in Kleinasien an mehreren Stellen anzutreffen gewesen zu sein. Die Kreuzfahrer unter Ludwig VII. konnten einen Erfolg gegen die Seldschuken am Mäanderfluß erreichen (1147). Dieser hatte zuvor seinen Männern in einer Rede Mut gemacht: „Schimpf und Schande aber werden die Perser (Seldschuken) ernten. Am Ufer dieses Flusses hier werden ihre Leiber liegen, zu Hügeln aufgeschichtet, als weithin sichtbares Siegeszeichen, uns zu unsterblichem Ruhm!“53 Die unbestatteten Feinde sollen den Erfolgreichen also zu einem unvergesslichen tropaion gereichen. Der Historiograph Niketas fügt in den Gang seiner Erzählung – ein paar Zeilen später – folgende Passage ein: Wie groß die Verluste der Perser (= Seldschuken) waren, das bezeugen bis zum heutigen Tage die Haufen von Knochen, die so zahlreich sind und wie wirkliche Hügel so hoch aufragen, dass sie bei jedem, den sein Weg dort vorbeiführt, betroffenes Staunen erregen; so auch bei mir, der ich (Niketas Choniates) das schreibe.54
Es folgt ein Exemplum aus der römischen Geschichte: Marius, der die Kimbern besiegte, ließ deren Gebeine in Weingärten um Marseille aufschichten. 52
Annae Comnenae, Alexias, X 6 § 4 (300, 31–301, 40): καὶ τοσοῦτον πλῆϑος Κελτῶν τὲ καὶ Νορμάνων ἔργον μαχαίρας ἰσμαηλιτικῆς ἐγεγόνει ὥστε, τὰ ἑκασταχοῦ κείμενα λείψανα τῶν ἀποσφαγέντων ἀνδρῶν συγκομίσαντες, μέγιστον οὐ λόφον φημὶ οὐδὲ βουνὸν οὐδὲ σκοπιὰν ἐποιήσαντο, ἀλλ’ οἷον ὄρος ὑψηλὸν καὶ βάϑος καὶ πλάτος ἀξιολογώτατον ἀπολαμβάνον· τοσοῦτος ἔκειτο ὁ τῶν ὀστῶν κολωνός, κἄν τινες ὕστερον τῶν ἐκ τοῦ αὐτοῦ γένους τῶν ἀποσφαγέντων βαρβάρων ἐν σχήματι πόλεως οἰκοδομήσαντες τεῖχος μεσέμβολά τινα καϑάπερ κάχληκας τὰ ὀστᾶ τῶν ἀπολωλότων ἐνέϑεντο τρόπον τινὰ τάφον αὐτοῖς τὴν πόλιν ποιούμενοι, ἥτις καὶ εἰς τὴν τήμερον ἵσταται τετειχισμένη ὁμοῦ τὲ λίϑοις καὶ ὀστοῖς ἀναμὶξ ἔχουσα τὸν περίβολον. 53 Nicetae Choniatae hist. 71, 21–23: οὐ λήϑης ἐξίτηλον ῥεύματι, καὶ κατάγελως πλατὺς τῶν Περσῶν, ὧν τὰ κῶλα περὶ τουτονὶ πεσοῦνται τὸν ποταμὸν ἐς κολωνὸν αἰρόμενα καὶ ὡς τρόπαιον προφαινόμενα εἰς κλέος ἡμῶν αὐτῶν ἀϑάνατον (…) Übersetzung Grabler 1976a, 106. 54 Nicetae Choniatae hist. 71, 64–67: Καὶ μαρτυροῦσι τὸ τῶν πεσόντων ἐς δεῦρο πολύποσον οἱ τῶν ὀστέων σωροὶ οὕτω συχνοὶ καὶ μετέωροι ὄντες καὶ κατὰ τὰ ἀνεστηκότα γήλοφα ἐπαιρόμενοι, ὡς ϑαῦμα κεῖσϑαι καὶ ἄλλοις μὲν ὁπόσοι τῆς ἐκεῖσε φερούσης ἥψαντο, κἀμοὶ δὲ τῷ ταῦτα συγγράφοντι. Übersetzung Grabler 1971a, 107.
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Zum Abschluss soll noch der Aspekt der angeordneten Grabschändung beleuchtet werden. Als Kaiser Manuel I. Komnenos im Jahre 1146 gegen die Seldschuken nach Kleinasien zog, gab er Anweisung, muslimische Gräber zu zerstören. Sowohl Johannes Kinnamos als auch Niketas Choniates berichten davon, mit – wie gewöhnlich – leichten Abweichungen:55 Während das rhomäische Heer die Gräber der Türken (= Seldschuken) außerhalb der Stadt schändete und so viele Körper als möglich herausholte, soll er (der Kaiser) nicht einmal unter dem Zeitdruck gewollt haben, dass die Herrlichkeit der Mutter des Sultans beleidigt werde, sondern er befahl, dass ihr Staub nicht schlecht behandelt werden solle.56
Den Körper der Angehörigen der Sultansfamilie verbietet er zu schänden, da – wie der Historiograph Kinnamos erläutert – kluge Männer eher beschämt wären, wenn Wohlgeborenheit verunglimpft würde.57 Wegen der Zerstörung der Gräber ist die Verteidigerin der Stadt, eine Tochter des Sultans Masut, nicht bereit, sich zu ergeben, die Belagerer mit Lebendvieh zu versorgen und willkommen zu heißen. Anders stellt Niketas Choniates den Vorfall dar. Manuel bestürmt die Stadt Ikonion, der Sultan Masut flieht nach Taxara (ehemals Koloneia). Ikonion wird unter der Leitung einer Tochter des Masut geschickt verteidigt: Der Kaiser rückte nahe an die Mauer heran, schloss die Stadt mit seinem Heer ein und ließ durch die Jungmannschaft die Bollwerke beschießen, wobei er jedoch verbot, die Grabbauten zu schänden.58
Was beide Historiographen jedoch übereinstimmend erzählen, ist, dass sich vor der Stadtmauer Grabanlagen befanden, die in die Kriegshandlungen miteinbezogen werden konnten.
Schluss Auf Schändungen von toten Körpern trifft man in byzantinischen Quellen mannigfaltig: Sowohl in Ausnahmesituationen wie Krieg, wo sich Ordnungen auflösen, als auch im politischen Alltag wurden Leichname malträtiert. 55
Zur Problematik der Glaubwürdigkeit beider Historiographen zuletzt Lilie 2009. Kurz dazu Magdalino 1993, 42; Ioannis Cinnami epitome, 45, 21–46, 4: ὅτε δὴ λέγεται ὡς τοῖς πρὸ τῆς πόλεως Περσῶν τάφοις πολλὰ τοῦ Ῥωμαϊκοῦ ἐνυβρίσαντος ἔκϑετά τε τῶν σωμάτων ὡς πλεῖστα πεποιηκότος, ὁ δὲ οὐδ’ ἐν τηλικαύταις καιρῶν ὀξύτησι καϑυφεῖναι ϑέλων τοῦ μεγαλοπρεποῦς τῆς τὸν σουλτὰν γειναμένης παντάπασιν ἀνύβριστον τηρηϑῆναι τὴν κόνιν ἐκέλευε, (…). 57 Ioannis Cinnami epitome, 46, 3–4: (…) χρῆναι τοῖς καὶ κατὰ βραχὺ σωφρονοῦσιν εἰπὼν αἰδεῖσϑαι μᾶλλον δυστυχοῦσαν εὐγένειαν. 58 Nicetae Choniatae hist. 53,51–54: βασιλεὺς δὲ ἀγχοῦ τῶν περιβόλων τοῦ Ἰκονίου γενόμενος καὶ τὰ τείχη τῷ στρατῷ διαζώσας τόξα τε τείνειν ἐπὶ τὰς ἐπάλξεις τῇ νεολαίᾳ ἐνδοὺς καὶ τοῖς νεκροδόχοις σήμασιν ἐνυβρίζειν οὕτως ἐκεῖϑεν ἐξώρμησε καὶ παλίμπους ἐφέρετο. Grabler 1971a, 88.
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Die massenweise im Feld liegengelassenen Leichname konnten die Kriegsführung beeinflussen. Einerseits stellten diese ein hygienisches Problem dar – militärische Operationen konnten damit empfindlich gestört werden –, zum anderen wirkte sich die Verweigerung der Bestattung auch psychologisch auf die teilnehmenden Kriegsparteien aus. Verstärkt wurde dies, wenn man bei Belagerungen Grabanlagen zerstörte und so die Totenruhe beeinträchtigte. An mehreren Stellen wird klar, dass die bewusste Verwüstung von Gräbern und Schändung von Leichen zum politischen Kalkül und Repertoire eines Feldherrn zählten. Dies konnotierte zudem die Vernichtung von Erinnerung und Tradition des Gegners. Die Demütigung der Unterlegenen wurde vergrößert, wenn man ihre Leichen plünderte und einfach liegen ließ, sodass sie Tierfraß ausgesetzt waren. Eine statthafte Beisetzung war dadurch nicht mehr möglich. Die Vernichtung eines Körpers und die Verweigerung einer Bestattung waren besonders in der imperialen Sphäre anzutreffen. Schon bei der Absetzung von Kaisern oder der Beseitigung von Usurpatoren setzte die Entmenschlichung ein, sie wurde fortgesetzt, wenn ein Delinquent zu Tode gekommen war. Dem toten Körper wurde physische Gewalt angetan, Teile wurden ausgestellt, was auch dazu diente, die Vernichtung öffentlich sichtbar zu machen und diese dem kollektiven Gedächtnis auch sicher einzuprägen, um das Problem von Wiedergängern oder falschen Kaisern klein zu halten. Die Bestattung und der Übergang in das Jenseits wurde dem so Getöteten verweigert: Der Leichnam wurde in einem Gewässer versenkt, verbrannt oder Tieren vorgeworfen. Jegliche Möglichkeit eines Totengedenkens wurde damit unmöglich gemacht, es fehlten zwei wesentliche Elemente dazu: ein klar definierter Ort der Verehrung (samt regelmäßiger Memorialhandlungen) als auch die Kennzeichnung des Grabes (mit einer Inschrift). Mit der Auflösung des toten Körpers ging auch die Auslöschung des Gedächtnisses einher.
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Alexander Berner Ehrenwerte Muslime, schändliche Kreuzfahrer? Zur Plünderung des muslimischen Friedhofs vor Antiochia im Rahmen der lateinischen Chronistik des Ersten Kreuzzugs∗
Zusammenfassung Im Verlauf des Ersten Kreuzzugs (1095–1099) plünderten die Kreuzfahrer einen muslimischen Friedhof vor den Mauern Antiochias, exhumierten und zerstückelten die dort bestatteten Leichname. Während sich die meisten Chronisten des Kreuzzugs über Gang und (positive) Bewertung dieser Ereignisse weitgehend einig waren, scheint der Benediktinermönch Robert von Reims in seiner Historia Iherosolimitana Kritik an der Kreuzfahrergewalt zu äußern. In diesem Beitrag soll die betreffende Passage bei Robertus Monachus in Hinblick auf ihr kritisches Potenzial untersucht werden. Dies geschieht mittels einer vergleichenden Textanalyse, aber auch, indem die geschilderten Vorgänge in die um 1100 herrschenden Vorstellungen von Friedhof, Totenruhe und dem Umgang mit dem gefallenen Feind eingebettet werden, denn diese Vorstellungen begleiteten sowohl die Augenzeugen unter den Chronisten des Kreuzzugs bis nach Palästina als auch die zu Beginn des 12. Jh. schreibenden daheimgebliebenen Historiographen. .
Am Anfang der Vorarbeiten zu diesem Beitrag über die Plünderung des muslimischen Friedhofs vor Antiochia während des Ersten Kreuzzugs stand eine Fußnote. In ihrer im Jahr 2005 veröffentlichten, äußerst verdienstvollen englischen Übersetzung der Historia Iherosolimitana des Robert von Reims, einer für die Geschichte der Kreuzzüge zentralen Quelle, kommentierte Carol Sweetenham die Beschreibung der Plünderung des muslimischen Friedhofs vor Antiochia, der Exhumierung und anschließenden Verstümmelung der dort beigesetzten Leichen durch die Kreuzfahrer folgendermaßen: „It is hard to tell whether there is implicit criticism of the Christians here: if so, a rare example in Robert. More severed heads.“1 Der vorliegende Beitrag zielt darauf, das kritische Potenzial der betreffenden Textstelle bei Robert einzuschätzen, und zwar einerseits mittels einer vergleichenden Textanalyse, andererseits durch ihre Einbettung in die Vorstellungen, die um ∗
Für ihre klugen Anregungen und Kommentare zu diesem Beitrag bin ich insbesondere Miriam Czock zu Dank verpflichtet. 1 Sweetenham 2005, 134, Anm. 50.
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das Jahr 1100 den Bewertungen von Verhaltensweisen auf dem Friedhof, der Bedeutung der Totenruhe und dem Umgang mit dem gefallenen Feind zugrunde lagen. Die grundsätzliche Bereitschaft Sweetenhams, Robert in diesem Zusammenhang Kritik am eigenen Lager zuzutrauen, erscheint auf der Basis eines heutigen Bewertungsrahmens erwägenswert, geht es doch um eine besondere Form von Gewalt, die in einem besonderen Bereich ausgeübt wurde, nämlich einem Friedhof. Der Friedhof ist im westlich-christlichen Kulturkreis heute ein multifunktionaler Raum, der als solcher verschiedene Eigenschaften auf sich vereint.2 Er hat kultische Bedeutung, finden auf ihm doch i. d. R. von der Geistlichkeit begleitet Beisetzungen statt, die bestimmten religiösen Ritualen folgen. Er dient als Ziel von Prozession, beispielsweise während der traditionellen Allerheiligenandacht. Er ist ein durch eine Weihe geheiligter Raum, woraus sich bestimmte Verhaltensregeln ableiten. Als Ort der Bestattung Verstorbener erfüllt er auch die Funktion eines Memorialraumes, in dem den Gedenkenden die physische Nähe zur bestatteten Person langfristig ermöglicht wird. Ebenfalls wichtig ist seine Bedeutung für die öffentliche Hygiene, vermindert die geregelte Beisetzung in einem klar gegliederten und umrissenen Raum das Risiko von Seuchen und einer Belastung des Grundwassers. Er ist auch ein rechtlich geschützter Raum: Nach Kapitel 35, Regel 115 des humanitären Völkerrechts sind die Parteien eines bewaffneten Konflikts verpflichtet, jegliche Bestattungsräume zu respektieren und sogar instand zu halten.3 In Deutschland wird die Störung der Totenruhe, womit Unfug mit oder Zerstörung der Aufbewahrungsstätte des Toten bzw. des Leichnams selbst gemeint ist, nach § 168 StGB mit bis zu drei Jahren Freiheits- oder Geldstrafe bestraft, wobei bereits der Versuch strafbar ist. Diese Strafbewehrung hängt eng mit der kultischen Bedeutung des Friedhofs zusammen, bezieht sie sich doch auf die Annahme, dass die Totenruhe – eine letztlich irrationale, religiös begründete Vorstellung – von Staats wegen besonders schützenswert ist. Die Störung der Totenruhe ist eben keine Sachbeschädigung. Die Rechtsprechung in diesem Bereich ist auch deshalb problematisch, weil im Grunde zwei verschiedene Rechtsgüter geschützt werden sollen, nämlich einerseits das Pietätsgefühl der Angehörigen, andererseits das über den Tod hinausreichende Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen.4 Daran anschließend (nulla lex sine necessitate) ist der Friedhof im Konfliktfall häufig ein umkämpfter Raum, weil er insbesondere seiner kultischen Bedeutung und Funktion im Memorialzusammenhang wegen auch emotional konnotiert ist. In einer Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen ist 2
Der folgende Überblick strebt nicht nach Vollständigkeit. Für unseren Zusammenhang weniger bedeutend, aber ebenfalls erwähnenswert sind die heutigen Funktionen des Friedhofs in ökologischer und künstlerischer Hinsicht, als Grün- oder Ausstellungsfläche. Siehe auch die Einleitung dieses Bandes. 3 Henckaerts et al. 2009, 414–417. 4 Dieser Befund ist zum Teil das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung. Einen gelungenen Überblick liefert Sörries 2009.
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der verhasste Feind dort schwerwiegend zu verletzen, und zwar durch die gezielte Kränkung des gegnerischen Pietätsgefühls, wovon zahlreiche Fälle von Vandalismus auf Friedhöfen Zeugnis ablegen. Prädestiniert ist der Friedhof als Ziel solcher Attacken auch wegen seiner identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Funktion, die über individuelle Memoria hinausgeht: Die Gemeinschaft der Toten auf einem Friedhof steht über das Totengedächtnis mit der Gemeinschaft der Lebenden in Kontakt, die sich auf diese Weise ihrer selbst versichert, bildet aber auch eine frühere Gemeinschaft der Lebenden ab, beispielsweise in Hinblick auf Heimat, Wohnort, Religion oder Konfession.5 Bei Angriffen auf Friedhöfe geht es also neben der buchstäblichen ‚Beschmutzung des Andenkens‘ auch um emotionale Kränkung, die Ruptur des Bandes zwischen Lebenden und Toten und die Desintegration von Gruppenidentität. Im vorliegenden Zusammenhang erklärt dieser einleitende Überblick unsere fast reflexhafte Bereitschaft, über eine mögliche kritische Äußerung Roberts im Kontext mit Friedhofsplünderung und Leichenschändung nachzudenken, weil ein derartiger Akt allem widerspricht, was wir für sittlich angemessen halten. Um allerdings zu einer zulässigen Einschätzung einer gut 900 Jahre zurückliegenden Äußerung zu gelangen, darf man selbstredend nicht heutige Maßstäbe verwenden. Carol Sweetenham sei unterstellt, sich dieser Binsenweisheit absolut bewusst zu sein, dennoch belegt bereits die generelle Bereitschaft, über ein kritisches Potenzial der betreffenden Textstelle nachzudenken, die Schwierigkeit, moderne Deutungsmuster so weit als möglich abzulegen zugunsten einer weitgehend objektiven Analyse. Darum soll nach der Einordnung der Friedhofsplünderung in den größeren Zusammenhang des Kreuzzugs und seiner Historiographie der Quellenausschnitt kontextualisiert und analysiert werden. Dies mündet in einer Antwort auf die Frage, ob Robert der Mönch in seiner Chronik des Ersten Kreuzzugs am Beispiel der Friedhofsplünderung vor Antiochia tatsächlich Kritik an der Gewaltausübung der Kreuzfahrer äußerte.
Der Erste Kreuzzug und die Belagerung von Antiochia Um die Umstände des Ersten Kreuzzugs in Erinnerung zu rufen, sei zusammengefasst, dass sich im Jahr 1096 viele Tausend Männer, Frauen, Junge, Alte, Reiche, Arme, Unbewaffnete und Ritter aus Lateineuropa auf päpstliches Geheiß auf den langen und beschwerlichen Weg nach Jerusalem machten, um für einen geistlichen Lohn (Ablass) die Heilige Stadt von der Herrschaft der Muslime zu befreien.6 Am 21. Oktober des Jahres 1097 erreichten die Kreuzfahrer Antiochia 5 6
Rader 2007, 15; Rader 2003, 35 f. Für Grundlagen, Ursachen und Verlauf des Ersten Kreuzzugs zuletzt monographisch Frankopan 2012; Rubenstein 2011; Asbridge 2004. Neueste Forschungen zu wichtigen Einzelaspekte bei Edgington et al. 2014.
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am Orontes, in das die muslimischen Seldschuken eine starke Garnison gelegt hatten.7 Die Kreuzfahrer machten sich umgehend an die Belagerung der Stadt, die nicht nur aus strategischen, sondern auch aus heilsgeschichtlichen Gründen geboten schien: Einerseits konnte Antiochia mit dem nahen St. Simeonshafen als eine sichere Anlaufstelle für den so dringend benötigten und über das Mittelmeer erfolgenden Nachschub dienen.8 Andererseits war die Stadt der biblischen Überlieferung zufolge Heimat der ersten Gemeinde, die sich „Christen“ nannte,9 und Basis verschiedener Apostel, darunter Paulus und Barnabas. Auch beherbergte sie zahlreiche wertvolle Reliquien. Schließlich hatte die Kirche Antiochias den Rang eines Patriarchats, das traditionell auf den Apostelfürsten Petrus zurückgeführt wurde.10 Fulcher von Chartres hebt in seiner Beschreibung Antiochias zusätzlich die Bedeutung der Petrus- und Marienkirche der Stadt hervor.11 Insofern versteht sich, warum die Kreuzfahrer nicht lange zögerten, bevor sie ihre Zelte vor der Stadt aufschlugen. Die Soldaten Christi hatten auf ihrem Weg durch Kleinasien herbe Verluste hinnehmen müssen, weshalb es ihnen nicht gelang, Antiochia völlig einzuschließen. Zudem erwies sich die Lage der Stadt für die Verteidiger als strategisch vorteilhaft, wurde ihre Ostseite doch von Bergen, ihre Westseite von starken Mauern und dem Fluss Orontes geschützt. Nach einigen Scharmützeln richteten sich die Kreuzfahrer auf eine längere Belagerung ein, errichteten ein provisorisches Lager, plünderten das Umland und blockierten einige Tore der Stadt.12 Ein eilends entsandtes seldschukisches Entsatzheer konnte zwar besiegt werden, doch gelangten die Anführer des Kreuzzugs zu der Einsicht, dass die Belagerung nur dann erfolgreich abgeschlossen werden könne, wenn man die Stadttore besser kontrolliere. Der anonyme Verfasser der Gesta Francorum, ein sehr zeitnah schreibender Augenzeuge des Geschehens, berichtet, dass die Beratung der Fürsten zu dem Schluss gelangt sei, eine Burg zu errichten: „Bevor wir alle unsere Leute verlieren, lasst uns eine Burg errichten, und zwar an der Moschee, die vor dem Stadttor liegt, wo die Brücke ist. Vielleicht gelingt es uns so, unsere Feinde einzuschnüren.“13 Hier hören wir das erste Mal von einer muslimischen Kultstätte vor den 7
Zur Belagerung und Eroberung Antiochias zuletzt Birk 2011; France 2001; Asbridge 2000, 15–42; Bachrach 1999. 8 Zur Bedeutung des Mittelmeeres für den Ersten Kreuzzug Pryor 2008; France 1997. 9 Apg 11, 26. 10 Robertus Monachus, lib. III, 34; Baudri, lib. I, 7. 11 Fulcher, lib. I, cap. XV, § 2, 217. 12 Ich folge hier im Wesentlichen den Gesta Francorum, lib V–VIII. Andere Chroniken wie der „Liber“ (Historia Francorum) von Raimund von Aguilers oder die Kreuzzugsgeschichte Alberts von Aachen stimmen im Wesentlichen mit dem dort geschilderten Gang der Ereignisse überein. 13 Gesta Francorum, lib. VII, cap. XVIII, 39: Priusquam perdamus gentem nostram, faciamus castrum ad machumariam quae est ante urbis portam, ubi pons est, ibique forsitan poterimus nostros constringere inimicos. Fast wortgleich der textlich eng mit den Gesta Francorum verwandte Petrus Tudebodus, 73: Priusquam perdamus gentem Dei et nostram, faciamus
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Stadtmauern, die in der christlichen Chronistik zunächst lediglich als topographischer Orientierungspunkt genutzt wird. Die militärische Notwendigkeit der Errichtung einer Belagerungsburg wurde den übrigen Kreuzfahrern unmittelbar nach dem Aufbruch zahlreicher Ritter in Richtung St. Simeon demonstriert, wo Baumaterial und Arbeiter organisiert werden sollten. Die seldschukische Garnison nutzte die Aufteilung der Belagerer nämlich, um die im Lager Zurückgebliebenen und die mit Baumaterial beladenen Rückkehrer separat anzugreifen. Die Angriffe waren recht erfolgreich, und die Gesta Francorum berichten von schweren Verlusten der Kreuzfahrer.14 Letztlich gelang es jedoch den milites Christi, die seldschukischen Krieger über die Brücke bei der Moschee, die sogenannte Eiserne Brücke, zurückzudrängen und die drohende Niederlage in einen deutlichen Sieg zu verwandeln. Am nächsten Morgen konnten die Kreuzfahrer beobachten, wie einige Muslime aus der Stadt herauskamen, um ihre am Vortag gefallenen Kameraden zu begraben. Sie bestatteten die Leichen an der Moschee, zusammen mit kostbaren Gewändern, Goldmünzen, Waffen und anderen Grabbeigaben.15 Die Gesta Francorum berichten weiter: „Sobald die Unseren hörten, dass die Türken ihre Toten begraben hatten, machten sich alle bereit und kamen eilends zu der genannten Teufelshalle, wo sie befahlen, die Grabsteine zu zerstören und die Leichen auszugraben.“16 Danach enthaupteten sie die Leichen und brachten die Köpfe in ihr Lager. Dieser insgesamt außergewöhnliche Vorgang – es sind keine anderen Übergriffe auf muslimische Friedhöfe überliefert – bedurfte einer Erklärung, und die fiel pragmatisch aus: Auf diese Art und Weise habe man sich ein besseres Bild vom Ausmaß des am Vortag erstrittenen Sieges machen können. Damit war die Schilderung des Umgangs der Kreuzfahrer mit dem muslimischen Friedhof aber noch nicht beendet. Triumphal verkünden die Gesta Francorum einige Zeilen später: „Am dritten Tag (nach der Schlacht) versammelten wir uns mit großer Freude, um die erwähnte Burg zu bauen, mit Steinen, die wir von den Gräbern der Türken genommen hatten.“17 Nach der Fertigstellung castrum ad machumariam quę est ante portam civitatis ubi pontus est, ibique forsitan poterimus inimicos nostros constringere. 14 Gesta Francorum, lib. VII, cap. XVIII, 40. 15 Die grundsätzliche Ablehnung von Grabbeigaben im Islam nach Koran und Sunna spricht nicht zwingend gegen die Authentizität des Geschilderten, denn archäologische Untersuchungen haben nachweisen können, dass Grabbeigaben in der muslimischen Bestattungspraxis überraschend häufig waren, siehe Petersen 2013, 253. Zum islamischen Bestattungsritual im Mittelalter Talmon-Heller 2007, 151–178. 16 Gesta Francorum, lib. VII, cap. XVIII, 42: Audientes itaque nostri quod humassent mortuos suos Turci, omnes sese preperaverunt, et venerunt festinantes ad diabolicum atrium, et iusserunt desepeliri et frangi tumbas eorum, et trahi eos extra sepulchra. Et eiecerunt omnia cadauera eorum in quandam foueam, et deportauerunt cesa capita ad tentoria nostra quatinus perfecte sciretur eorum numerus (…). 17 Gesta Francorum, lib. VII, cap. XVIII, 42: Tertia vero die coepimus simul iuncti cum gaudio magno aedificare castrum supradictum, de lapidibus scilicet quos abstraximus de tumulis Turcorum. Textlich sehr ähnlich Petrus Tudebodus, 78: Tertia autem die veniente, cepimus
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jener Burg waren die Verteidiger tatsächlich eingeschlossen, und die Situation für die Belagerer hatte sich wesentlich verbessert. Am Ende stellte die Errichtung der Befestigung einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zur Eroberung der Stadt am Orontes dar, die am 2. Juni 1098 gelang.18
Zur Einbettung der Friedhofsschändung in die frühe Historiographie des Ersten Kreuzzugs Die Episode der Zerstörung des muslimischen Friedhofs während der Belagerung Antiochias durch das Kreuzfahrerheer findet sich in vielen Chroniken des Ersten Kreuzzugs wieder. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass spätere Quellen gerne die anonymen Gesta Francorum nacherzählen, beispielsweise um ihr eher einfaches Latein des glorreichen Gegenstands wegen aufzupolieren oder die Rolle bestimmter Adelsgeschlechter besonders zu betonen. Zu diesen Quellen gehören u. a. die Historia de Hierosolymitano itinere aus der Feder des Petrus Tudebodus und die von Guibert von Nogent verfassten Dei Gesta per Francos.19 Während Petrus den Gesta sprachlich ausgesprochen eng folgt,20 übernimmt Guibert die Episode dem Sinn nach.21 Auch eine von den Gesta Francorum mutmaßlich unabhängige Erzählung überliefert die Zerstörung des Friedhofs, nämlich die sogenannte Historia Francorum qui ceperunt Iherusalem des provenzalischen Klerikers Raimund von Aguilers. Er berichtet Folgendes: „Durch die Aussicht auf Kriegsbeute angestachelt zerstörten die Armen all ihre Grabsteine. Nachdem sie die Türken ausgegraben hatten, blieb kein Zweifel über das Ausmaß des Sieges: Es waren nämlich ungefähr 1500. (…) Die Leichen aber wurden in den Fluss geworfen, damit ihr unerträglicher Gestank die Arbeiten an der Festung nicht störte.“22 Ein Vergleich der Darstellungen der Gesta und der Historia Francorum ergaudentes et exsultantes, iuncti insimul ędificare eodem die castrum illud iam supra dictum de eisdem lapidibus quos abstraximus desuper humata corpora Turcorum. Inhaltlich ähnlich die Beschreibung der Dei Gesta per Francos, lib. IV, cap. 14, 194: Tercia abhinc die castrum prefatum edificare ceperunt, ex his videlicet lapidibus, quos fractis gentilium sarcofagis tulerunt. 18 Speziell zu den Umständen der Eroberung zuletzt France 2001; Levine 1998. 19 Zum komplizierten Verhältnis der Chroniken untereinander z. B. Skottki 2015, 184–247 u. präzise zusammengefasst 407; Bull et al. 2014; Bull 2012; Niskanen 2012; Rubenstein 2005; Rubenstein 2004; France 1998; Edgington 1997. 20 Petrus Tudebodus, 77: Audientes itaque nostri quod humare fecissent mortuos Turcos, omnes statim preperaverunt sese, et venerunt festinantes ad diabolicum atrium et iusserunt rite desepelire et frangere eorum tumbas, et trahere illos extra illorum sepulturas. 21 Dei Gesta per Francos, lib. IV, cap. 14, 193: Quarum inferiarum cum ad nostros devenisset notitia, funestum cimiterium illud, multo armorum freti apparatu, adeunt fractisque sepulchris erui corpora exinde precipiunt factaque congerie in cuiusdam foveae ima devolvunt. 22 Historia Francorum, cap. XI, 61: Exuviis igitur eorum provocati pauperes omnia eorum monumenta fregerunt. Effosis itaque Turcis, qualis victoria fuerit nulli dubium fuit. Namque
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gibt folgendes Bild: Beide berichten einhellig, dass der muslimische Friedhof verwüstet und die Leichen exhumiert wurden, doch nur Raimund überliefert die Ausplünderung der Leichen als Tatmotiv: Es sei den Plünderern um irdischen Reichtum gegangen, den sie sich durch den Raub der Grabbeigaben erhofften. Dies verweist auf den ‚Täterkreis‘, den Raimund auf die pauperes, also die Armen, eingrenzt. Die übergeordnete Erklärung, die die Exhumierung der Leichen betrifft und offenbar der problematischen, weil profanen Gier nach Reichtümern entgegenwirken soll, entspricht sich: Die Kreuzfahrer gruben die Leichen aus, um den Sieg des Vorabends besser einschätzen, ja sogar quantifizieren zu können. Die Gesta Francorum gehen in diesem Abschnitt weiter, indem sie von den Enthauptungen der Leichen berichten: Dieser Vorgang diente der eindeutigen Kommunikation des Sieges. Um den Triumph des Vortags auch im Lager dinglich beweisen zu können, musste man den Exhumierten die Köpfe abschneiden, weil sie transportabler waren als die kompletten Leichen. Kritik an den Exhumierungen und postmortalen Zerstückelungen der muslimischen Leichname findet sich in der Darstellung der Gesta nicht, in der Historia Francorum nur scheinbar: Raimund identifiziert als Täter die Armen des Kreuzzugs, also eine unterprivilegierte Randgruppe, wodurch der Verdacht entstehen kann, dass der provenzalische Priester auf diese Weise die übrigen Kreuzfahrer exkulpiert. Allerdings wäre dieser Schluss vorschnell, denn es ist im Einzelfall nur schwer auszumachen, wen er mit dem changierenden Begriff pauper eigentlich bezeichnet und welche Wertungen damit verbunden sind.23 Der Tenor der bisher angeführten Darstellungen ist der gleiche: Sobald man im Lager der Kreuzfahrer davon Kenntnis erhielt, dass die Türken ihre am Vortag Gefallenen bei der Moschee an der ‚Eisernen Brücke‘ bestattet hatten, machten sich die Christen auf, die Gräber zu zerstören und die Leichen auszugraben. Der Friedhofsfrevel, der bei Raimund wie eine ökonomisch motivierte Gewalttat erzählt wird und damit für den Kreuzzug als Bußwerk zum Problem werden könnte, wird schließlich mit dem Verweis auf seinen pragmatischen Nutzen in beiden Quellen erzählerisch entschärft. Andere, von den Gesta Francorum und Raimund teilweise unabhängige Chroniken des Ersten Kreuzzugs, wie die Darstellungen Fulchers von Chartres und Alberts von Aachen, überliefern die Plünderung des Friedhofs nicht. Während Albert offenbar keine Kenntnis von diesen Vorkommnissen hatte, hatte Fulcher an den antiochenischen Angelegenheiten des Ersten Kreuzzugs allgemein wenig Interesse, denn er befand sich während der Belagerung der syrischen Metropole am Hofe Balduins von Boulogne, der im Begriff war, eine eigene Herrschaft in numerati sunt circiter mille quingenti. (…) Cum autem fetore intolerabili laborantibus in castello obstitissent, cadavera in flumine proiecta sunt. 23 Schuster 2004; Auffahrt 1989. Zur grundsätzlichen Ambivalenz der Armut im christlichen Mittelalter Oexle 2012.
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Edessa, östlich des Euphrats, zu errichten. Die dortigen Ereignisse beanspruchten die volle Aufmerksamkeit Fulchers.24
Wider die guten Sitten – zeitgenössische Kritik der Friedhofsplünderung bei Robertus Monachus? Man sollte nun meinen, dass die Plünderung des muslimischen Friedhofs in der lateinischen Chronistik kein großes Aufsehen erregt hat, handelte es sich doch offenbar lediglich um einen weiteren erfolgreichen Angriff gegen ein religiöses Symbol der Heiden, der darüber hinaus einen praktischen militärischen Nutzen gehabt hatte, und zwar im Rahmen eines religiös begründeten Kriegs. Weder die Gesta Francorum noch Raimund von Aguilers betonen diese Episode. Der Befund, dass die Plünderung des Friedhofs als eine der wenigen Begebenheiten des Ersten Kreuzzugs in einer Weise beschrieben wurde, die als Kritik am Vorgehen der milites Christi verstanden werden kann, wäre auch vor der Folie der beiden Augenzeugenberichte überraschend. Dies ist ein Grund dafür, warum die eingangs erwähnte Überlegung von Sweetenham außerordentlich attraktiv erscheint. Tatsächlich liegt ein Fall vor, der in diese Richtung interpretiert werden könnte, und zwar in einer alles andere als abseitigen Quelle: Wenige Jahre nach den Ereignissen des Kreuzzugs erhielt Robert, ein in der Diözese Reims lebender Benediktinermönch, den Auftrag, die Gesta Francorum zu überarbeiten.25 In seiner Historia Iherosolimitana gestaltete er einen großen Teil der Gesta sprachlich um, ergänzte aber auch einige Teile aus anderen Quellen.26 Die Kreuzzugsgeschichte Roberts war im Mittelalter außerordentlich beliebt. Sie zirkulierte in über 100 Handschriften und übte merklichen Einfluss auf eine ganze Literaturgattung, die Chansons de geste, aus, von der sie gleichzeitig beeinflusst war. Deshalb darf man annehmen, dass Robert das mittelalterliche Bild des Ersten Kreuzzugs wesentlich geprägt hat.27 Ausgehend vom Text der Gesta Francorum berichtet Robert Folgendes über die Ereignisse um den Friedhof vor Antiochia: „Am nächsten Tag, als das erste Licht des Tages dämmerte, kamen die Türken aus der Stadt und versammelten so viele Körper der Gefallenen, wie sie finden konnten, und trugen sie zur Bestattung. Als die iuvenes des Heeres dies erfuhren, versammelten sie sich und eilten zu diesem Friedhof (cimiterium). Die Türken hatten die Leichen mit großer Ehre beigesetzt, die Christen gruben sie mit großer Schande aus. Sie waren bestattet gewesen jenseits der Brücke neben der Moschee, vor dem Stadttor. Viele waren in Tücher gehüllt und mit Goldmünzen, Waffen, Bögen, Pfeilen und anderen Dingen begraben worden, so wie es ihrer consuetudo bei 24
Fulcher, 6–8. Zu Robert und seinem Umfeld Naus 2014. 26 Zu Roberts Quellen Sweetenham 2005, 28–47; vgl. dagegen Bull 2014. 27 Robertus Monachus, XLII-XLVII; Sweetenham 2005, 8 f. 25
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Bestattungen entspricht. Unsere ist es hingegen, die Gräber mit Freude zu plündern. Nachdem sie alle Körper ausgegraben hatten, schnitten sie die Köpfe ab, um die Zahl derjenigen herauszufinden, die am Ufer des Flusses erschlagen worden waren. Die abgeschnittenen Köpfe trugen sie in ihr Lager, die unbestatteten Körper hingegen ließen sie für die wilden Tiere und Vögel zurück.“28 Danach beschreibt er die Trauer der Muslime, die auf den Mauern dem Treiben der Kreuzfahrer hilflos zusehen müssen und sich die Haare raufen, ohne allerdings die hier beschriebene emotionale Kränkung im Sinne einer „psychologischen Kriegsführung“ als Ziel der Handlungen auszuweisen. Etwas später erwähnt er schließlich die Umwidmung des muslimischen Friedhofs ganz ähnlich, wie es der Verfasser der Gesta Francorum getan hat: „Nach diesen Ereignissen fingen sie an, am dritten Tag nach der Schlacht die bereits genannte Burg zu bauen; sie errichteten sie am Beginn der Brücke in der Nähe der Moschee, wo der Friedhof vor dem Stadttor war. Sie zerstörten alle Grabsteine der Toten und befestigten die Burg mit ihnen.“29 Mit der Einbettung der symbolisch wichtigsten materiellen Elemente des muslimischen Friedhofs in einen anderen, eindeutig profanen Kontext endet die Erzählung dieser Episode bei Robert. Im Folgenden sollen die Argumente gegeneinander abgewogen werden, die für oder gegen eine Interpretation dieser Textstelle als Gewaltkritik Roberts sprechen. Zunächst allerdings einige allgemeine Bemerkungen zur mittelalterlichen Kritik der Kreuzzüge: Innerchristliche Kritik an den Kreuzfahrern, und sei sie auch noch so implizit, hat nicht nur bei Robert, sondern in der gesamten frühen Kreuzzugschronistik Seltenheitswert, sofern sie sich nicht auf Verfehlungen in der korrekten Lebensführung während dieses stark religiös geprägten Kriegszuges bezog.30 Einen Sonderfall stellt der christliche Kannibalismus während der Belagerung von Ma‘raat an-Numan dar, über den in beinahe allen Chroniken wenigstens mit Unbehagen berichtet wird.31 Verzögerte Belagerungen oder christliche Niederlagen wurden von den frühen Chronisten häufig auf mangelnde Buß28
Robertus Monachus, lib. IV, 46: In crastinum, ut primum lux matutina processit, Turci de civitate exierunt, et collegerunt corpora mortuorum quot invenire potuerunt, et sepulture tradiderunt. Quod Christiani exercitus iuvenes ut audierunt, multi in unum conglobati ad cimiterium cucurrerunt, et que illi cum magno honore tumulaverant, cum magno dedecore foras extraxerunt. Subterraverant quippe illa ultra pontem ad machumariam que erat ante portam civitatis, et plurima palliis involverant, et bizanceos aureos, arma, arcus, et sagittas, et alia multa cum eis reposuerant. Sicut enim est eorum consuetudo sepelire; nostrorum vero est ea libentissime tollere. Abstractis itaque corporibus universis, capita ceciderunt, scire cupientes numerum illorum qui ad ripam fluminis necati sunt. Truncata siquidem capita ad castram attulerunt, et cadavera feris et volucribus inhumata reliquerunt. 29 Robertus Monachus, lib. V, 48 f.: His ita transactis, tercia die post transactum prelium castellum ceperunt edificare, de quo superius mentionem fecimus, et constructum est in introitu pontis, ad machumariam scilicet in loco cimiterii ante ianuam civitatis. Destruxerunt omnes tumulos lapideos mortuorum, et ex illis castrum munierunt. 30 Zur innerchristlichen Kritik Hiestand 1998; Siberry 1985. 31 Rubenstein 2008, 526; Heng 1998.
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fertigkeit, Enthaltsamkeit, Demut oder fehlendes Gottvertrauen zurückgeführt, denn diese Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen bildeten eine Art sittlich-religiösen Rahmen des Kreuzzugs, der in vielem einer Pilgerfahrt ähnelte.32 Als prominentes Beispiel mag die Belagerung Jerusalems dienen, wie sie Raimund von Aguilers schildert: Kurz nachdem die Kreuzfahrer ihre Positionen um Jerusalem bezogen hatten, versprach ein auf dem Berg Zion lebender Eremit, Gott werde ihnen Jerusalem geben, wenn sie die Stadt bis zur neunten Stunde des folgenden Tages bestürmten. Auf den Einwand der Kreuzfahrer, man habe keine Belagerungsgeräte, antwortete der Eremit, Gottes Allmacht sei so groß, dass sogar eine einzige Leiter ausreichen würde, die Mauern der heiligen Stadt zu überwinden. Die Kreuzfahrer folgten dem Rat und griffen die Stadt an. Fast wäre ihnen der Sturmangriff geglückt. „Doch als die Stadt beinahe gefallen war, wurde die Attacke durch Faulheit und Furcht beendet.“33 Weil sich die Christen im Anschluss lieber die Bäuche vollschlugen, als sich um einen erneuten Angriff zu kümmern, und darüber hinaus vergaßen, Gott im Gebet für den Schutz seines Volkes zu danken, war es den Sarazenen auf Gottes Ratschluss hin vergönnt, den Christen weitere Steine in den Weg zu legen, indem sie Brunnen, Quellen und Zisternen zerstörten. Den Verstößen der Kreuzfahrer gegen die Gebote der Pilgerschaft – das Vertrauen auf Gott und sein Handeln, die Beschränkung in der Speise auf das Notwendige als Bußleistung, der Dank an Gott für seinen Beistand – folgt die Sanktion, durchgeführt von den Sarazenen, autorisiert von Gott. Letztlich waren die Kreuzfahrer also an ihrer Misere selbst schuld, und zeitgenössische wie auch spätere Chronisten brachten diesen Zusammenhang auf eine einfache Formel zur Erklärung christlicher Niederlagen gegen die Muslime: peccatis nostris exigentibus, wegen der von uns begangenen Sünden.34 Diese Art der internen Kritik ist in der frühen Kreuzzugschronistik zur Erklärung von Rückschlägen üblich auf einer ansonsten zum Erfolg prädestinierten, gottgewollten Kampagne. Kritik hingegen an auch extremster Gewaltausübung der Kreuzfahrer in Auseinandersetzung mit den Muslimen ist außerordentlich selten, sofern sich die Kreuzfahrer an die „Spielregeln“ hielten, also das genannte sittlich-religiöse Korsett der Pilgerfahrt beachteten. Nun zu der Darstellung Roberts: Die Annahme einer Kritik Roberts an den Kreuzfahrern im Erzählkontext seiner Chronik erscheint uns durchaus plausibel, denn es geht um einen Gewaltexzess, der heute gleich auf mehreren Ebenen als klare Transgression ethischer Grenzen selbst im Krieg gewertet werden würde. Im Zentrum steht ein muslimischer Friedhof vor den Mauern von Antiochia, der von den belagernden Kreuzfahrern geplündert wird. Die bestatteten Leichname werden aus ihren Gräbern gerissen und anschließend enthauptet. Der Friedhofs32
Zuletzt dazu Ni Chléirigh 2014. Historia Francorum, 139: Cumque iam civitas caperetur, subrepente desidia et timore obpugnatio incepta, nulla fuit. 34 Jäckel 2008. 33
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frevel und die Leichenschändung führen bei heutigen Lesern fast unweigerlich zu einer reflexhaften Ablehnung dieser Handlungen, zu Ekel und zu einer moralischen Verurteilung der Täter. Wie verhält es sich nun bei Robert? Zunächst wird bei ihm die Bezeichnung des Raumes eindeutiger: Auch wenn wir bereits auf Basis der Gesta Francorum und Raimunds von Aguilers davon ausgehen durften, dass es sich bei diesem Raum um einen muslimischen Friedhof handelte (die Rede ist dort von tumbae und sepulchra bzw. monumenta), ist es Robert, der die Ansammlung von Grabanlagen mit dem Begriff cimiterium eindeutig benennt und den damit bezeichneten Raum als Friedhof in christliche Vorstellungswelten integriert. Textimmanent ist des Weiteren die Bezeichnung der Täter als iuvenes aussagekräftig, denn mit den vermeintlich jüngeren Kreuzzugsteilnehmern (Sweetenham übersetzt „younger soldiers“35) sind, wie Conor Kostick einsichtig dargelegt hat, vielmehr diejenigen Ritter gemeint, die mangels eigenem wirtschaftlichen Vermögen und erlangter Würde den Kreuzzug dazu nutzen wollten, ihr Glück zu machen. Die scheinbar auf das Alter zielende Bezeichnung iuvenes war eher eine, die auf das im Vergleich mit den arrivierten Rittern und Fürsten geringe Sozialprestige Anwendung fand.36 Robert lastet also den nicht unbedingt positiv konnotierten, teilweise unberechenbaren Heißspornen und Glücksrittern die Plünderung des Friedhofs an, womit er den Rest des Heeres gleichzeitig vom Verdacht der Täterschaft befreit. Diese Beobachtung ist vor allem deshalb auffällig, weil andere Chronisten die Täter anders bezeichnen: Die Gesta Francorum spezifizieren sie nicht (nostri / omnes), Raimund von Aguilers nennt sie pauperes, womit er sie einer klareren Einordnung entzieht. Bei Robert gehören die Plünderer einer Gruppe an, die zwar militärisch notwendig, aber „verhaltensauffällig“ war. Es wäre also durchaus nachvollziehbar, dass er bereits mit dieser Wortwahl seine Kritik an dem Vorfall einleiten wollte, denn die iuvenes brachten durch ihr zügelloses Verhalten den Kreuzzug immer wieder in Gefahr und waren deshalb selbst Gegenstand impliziter Kritik. Zu bedenken wäre allerdings auch, ob Robert das Verhalten der iuvenes an grundsätzlich akzeptierten Verhaltensweisen der römischen iuvenes misst, die durch wagemutige und gewaltsame Aktionen politische Entscheidungen maßgeblich beeinflussen konnten, wenn der gewaltlose Weg der Debatte nicht weiterführte.37 Die Wertung der Verhaltensweisen der Kreuzfahrer-iuvenes wäre dann nicht zwingend negativ. Auch das von Robert gewählte Bewertungsgerüst ist von einigem Gewicht. Er misst die Taten der Kreuzfahrer und Muslime in dieser Episode auf einer zweipoligen Skala, die von der Schande (dedecus) bis zur Ehre (honor) reicht.38 Auf 35
Sweetenham 2005, 134. Kostick 2008, 187–212; Kostick 2009 37 Zur politischen Rolle der iuventus in der späten Republik Timmer 2005. Für den Hinweis danke ich Amalie Fößel. 38 Zu den Forschungsproblemen rund um diese Begriffe zuletzt polemisch, aber zutreffend
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dieser Skala ordnet er die Zerstörung des Friedhofs als Schande den Christen zu, die der ehrenvollen Behandlung der türkischen Gefallenen durch ihresgleichen gegenübersteht. Man könnte mit einigem Recht annehmen, Robert würde seinen Mitchristen einen Spiegel vorhalten, der ihnen den korrekten, ehrenhaften Umgang mit den Toten vor Augen führt. Aber was wäre denn der korrekte Umgang mit den Toten einer Schlacht in einem noch nie dagewesenen Konflikt wie dem Kreuzzug gewesen? Die Beantwortung dieser Frage fällt nicht leicht, sind die Quellenzeugnisse doch verhältnismäßig disparat gesät. Grundsätzlich ist HansHenning Kortüm zuzustimmen, in der Bestattung des militärischen Gegners, selbst wenn er ebenfalls Christ war, den Sonderfall zu sehen.39 Malte Prietzel präzisiert: „Die eigenen Gefallen muss der Sieger begraben. Was die toten Feinde angeht, so ist es legitim, dieses Problem den überlebenden Verlierern und den Angehörigen der gefallenen Gegner zu überlassen.“40 Man konnte sich allerdings keinesfalls darauf verlassen, dass der Sieger die Bergung der toten Verlierer gestattete. Ausdrückliche Verbote, die toten Kameraden der Verliererseite zu bestatten, sind hingegen selten. Romedio Schmitz-Esser ist in seiner Untersuchung zum Leichnam im Mittelalter hingegen zu dem Schluss gelangt, dass das christliche Ideal einer Bestattung der Feinde um 1100 durchaus bestanden habe und gerade dort besonders betont wurde, wo man mit Heiden kämpfte.41 Als Belege führt er vornehmlich Berichte über Schlachten christlicher Heere mit den heidnischen Slawen östlich der Elbe an, bei denen die siegreichen Christen ihre Feinde ehrenhaft begruben. Zwar ging es bei den Bestattungen nicht nur um christliche Tugenden,42 sondern auch um die Sicherung der gegnerischen Leiche als Siegeszeichen und die damit verbundene Deutungshoheit über die Memoria, doch bieten sich diese Quellen als Referenz zu der in diesem Beitrag thematisierten Friedhofsplünderung durchaus an. Allerdings stellt Schmitz-Esser wenig später völlig zu Recht fest, dass sich die christliche Pflicht zur Bestattung gefallener Feinde in der überwiegenden Zahl der Zeugnisse auf die Leichname ranghoher Gegner bezieht. Der Leichnam des durchschnittlichen gegnerischen Soldaten ist dieser Pflicht entzogen.43 Nun ist durchaus überliefert, dass sich unter den Toten der Schlacht an der „Eisernen Brücke“ zwölf Emire (ammiralii / ammiravissi) befunden haben, doch wird diese Information nicht mit der eigentlichen Friedhofsplünderung verknüpft.44 Es sei zudem darauf hingewiesen, dass sich die Schwaderer 2015. Kortüm 2010, 235. 40 Prietzel 2006, 140. 41 Schmitz-Esser 2014, 83 42 Hier sei auf den Beitrag von Michael Grünbart in diesem Band verwiesen, der in den Taktika des Leon aus dem 10. Jh. die Anweisung findet, auch die feindlichen Gefallenen zu bestatten, da dies guten Sitten entspräche. Um die Mitte des 12. Jh. sind allerdings kaiserlich angeordnete Friedhofschändungen im Konflikt mit den Seldschuken denkbar. 43 Schmitz-Esser 2014, 88 f. 44 Z. B. Gesta Francorum, lib. VII, cap. XVIII, 41; Petrus Tudebodus, 76. 39
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Auseinandersetzungen zwischen Christen und Heiden östlich der Elbe in ihrer Qualität der Gewalt dann doch vom Ersten Kreuzzug unterschieden: Während an der nordöstlichen Grenze des römisch-deutschen Reichs der Missionsgedanke von Beginn an eine wesentliche Rolle spielte und die Konfliktparteien einander seit langer Zeit kannten, ging es im Heiligen Land christlicherseits – vor allem bei den frühen Chronisten – um die Reinigung dieser christlichen „Kontaktreliquie“ durch die blutige Vernichtung der Muslime, kulminierend in der Beschreibung der Eroberung Jerusalems.45 Auf dem Weg dahin ist der Umgang mit den Muslimen von äußerster Brutalität geprägt, die auch über den Tod hinausging, wovon die häufig beschriebenen Enthauptungen und Zerstückelungen von Leichen zeugen.46 Eine Übertragung der Beobachtung Schmitz-Essers auf den Ersten Kreuzzug ist folglich eher nicht zulässig, sodass davon auszugehen ist, dass weder Regularien noch Gewohnheiten für den Umgang mit den gegnerischen Gefallenen des Kreuzzugs vorlagen. Eine Bewertung der Vorgänge vor Antiochia vor der Folie des richtigen oder falschen Umgangs mit dem gegnerischen Leichnam muss Robert also schwergefallen sein, weshalb unklar ist, ob er auf diesen Komplex überhaupt rekurrierte. Doch zurück zu den Begriffen honor und dedecus, die Robert zur Bewertung der Taten heranzieht: Aus der übrigen lateinischen Historiographie des Ersten Kreuzzugs kennen wir kaum Beispiele für die Darstellung von Muslimen als ehrenhaft.47 Stattdessen finden sich Textpassagen, in denen die militärischen Fähigkeiten und die Kampfstärke der Türken gepriesen werden, pointiert beispielsweise in den Gesta Francorum. Dort heißt es, Türken und Franken (also die Kreuzfahrer) teilen dieselbe Abstammung und seien als einzige unter den Völkern zum Rittertum geboren. Der Türken einziges Defizit bestehe in ihrem fehlenden Bekenntnis zum christlichen Glauben, ansonsten finde man keine „stärkeren, tapfereren und kriegstüchtigeren Männer“.48 Dahinter steht das Bemühen, die Bedeutung der christlichen Siege vor dem Hintergrund besonderer Mühsal als Bußakt zu betonen: je gefährlicher der Feind, desto wertvoller der Sieg. Die Kategorie „Ehre“ findet sich in Verknüpfung mit den Türken hier allerdings nicht. Grundsätzlich dominieren erwartungsgemäß die negativen Zuschreibungen u. a. von Liederlichkeit, Hochmut, Brutalität, Obszönität und Feigheit.49 Lediglich Albert von Aachen gesteht einzelnen Muslimen Verhaltensweisen zu, die sich wohl der Kategorie „Ehre“ zuordnen lassen, wobei er im Gegensatz zu allen anderen Chronisten des Kreuzzugs Christen und Muslime gleichermaßen an einem nicht 45
Dazu Murray 2014; Kedar 2004; Elm 2001. Einige Belege bei Sweetenham 2005, 67, Anm. 172. 47 Das später prominente Beispiel der christlichen Wahrnehmung Saladins als „edler Heide“ wird treffend analysiert bei Möhring 2005 und Jäckel 2010. 48 Gesta Francorum, lib. III, cap. IX, 21: (…) ipsis potentiores uel fortiores uel bellorum ingeniosissimos nullus inuenire potuisset. 49 Die Zuschreibungen finden sich nach Chroniken sortiert bei Skottki 2015, 252–420.
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klar formulierten ritterlichen Ehrencodex misst.50 Leider äußert sich ausgerechnet Albert nicht zu der Plünderung des Friedhofs. Die Zuschreibungspraxis der Christen hängt eng mit dem Wissen über den Islam zusammen. Auch wenn in bestimmten Kontaktzonen (z. B. die Iberische Halbinsel, Sizilien, Süditalien) um 1100 ein gewisses Wissen darüber vorlag, wurde es doch nicht systematisiert.51 Die Muslime waren für die Chronisten auch aus propagandistischen Gründen im Wesentlichen Polytheisten und Teufelsanbeter52 – die Bezeichnung der Moschee als diabolicum atrium53 in den Gesta Francorum oder die Titulierung der Türken als filii diaboli54 bei Robert spricht für sich. Von diesem Befund ausgehend erscheint die Interpretation der Darstellung Roberts als Kritik an der Gewalt der Kreuzfahrer unwahrscheinlich. Zusätzlich möchte ich auf die Möglichkeit hinweisen, dass sich Robert bei seiner Beschreibung der Friedhofsplünderung eines rhetorischen Tricks bedient haben könnte: Die Ehre, die die Muslime ihren Gefallenen im Akt der Beisetzung angedeihen lassen, ist vor dem Hintergrund ihrer Bezeichnung als „Söhne des Teufels“ eine „Teufelsehre“, die die Kreuzfahrer aus naheliegenden Gründen nicht unkommentiert lassen können. Die Christen sind dieser Lesart zufolge dazu gezwungen, den rituellen Akt dieser Ehrerbietung (die Bestattung) rückgängig zu machen, indem sie die Leichen exhumieren. Auf diese Art „schänden“ die Kreuzfahrer die „Teufelsehre“ der gefallenen Muslime, womit sie im Einklang mit ihren eigenen religiösen Pflichten handeln. Ein religiöses Ritual der „teuflischen“ Muslime zuzulassen, obwohl die Möglichkeit bestanden hätte, es zu unterbinden oder ungeschehen zu machen, wäre die eigentliche Verfehlung gewesen. Dieser Interpretation entspricht dann auch die triumphale und hämische Beschreibung der Reaktion der muslimischen Bevölkerung von Antiochia: Die Türken, nach der verlorenen Schlacht des Vortages gezwungen, hilflos zuzusehen, standen auf den hohen Mauern und Türmen und beobachteten das Treiben der Kreuzfahrer; bitterlich weinend zerkratzten sie sich die Wangen und rissen sich die Haare aus. Dann begannen sie, ihren Meister (preceptor) Muhammad um Hilfe anzurufen, doch konnte er diejenigen nicht zurückbringen, die Christus durch seine Ritter hatte zerstören lassen.55 Hier erheischen wir zusätzlich einen Blick auf den strategischen Nutzen der Friedhofsplünderung, die die Moral der Belagerten offenbar erheblich untergrub. Auch der zeitgleich mit Robert schreibende Baudri von Bourgueil, ebenso Benediktiner, sieht die Notwendigkeit, die Gewalt der Kreuzfahrer auf dem Fried50
Dazu und zu den Gründen dafür Skottki 2015, 363–378; Albert von Aachen, XXXI–XXXVI. Hamilton 1997, 373. 52 Möhring 1998, 129. 53 Gesta Francorum, lib. VII, cap. XVIII, 42. 54 Robertus Monachus, lib. IV, 43. 55 Robertus Monachus, lib. IV, 46: Quod ab altis menibus et turribus excelsis prospicientes, vehementer indoluerunt, et genas scindentes crinesque vellentes, Mathomum preceptorem suum in auxilium sui ceperunt invocare; sed Mathomus non potuit restaurare, quos Christus per suos milites voluit exterminare. 51
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hof vor Antiochia zu begründen und wählt dabei ähnlich problematische Formulierungen wie der Reimser Mönch. Er schreibt: „Nachdem die Christen dies erfahren hatten, gruben sie die Bestatteten aus und verhöhnten die exhumierten Körper sehr schändlich, teils angelockt, weil sie Beute machen wollten, teils angetrieben, um den Türken Schmerz über Schmerz zuzufügen.“56 Ebenso wie Robert fühlt sich Baudri genötigt, die Ereignisse zu begründen – sie sind also selbst im Zusammenhang des Kreuzzugs alles andere als gewöhnlich. Er erklärt das Verhalten der Christen mit dem Verlangen nach Beute und dem Wunsch, die Türken durch die Misshandlung der Leichen besonders zu treffen. Interessant ist hier, dass er die Handlung der Kreuzfahrer als satis ignominiose, als sehr schändlich bzw. schändlich genug verurteilt. Welche Wertung war damit verbunden? Geschah es den Muslimen recht, so schändlich ausgegraben zu werden, oder war die Exhumierung an sich schändlich und kritikwürdig? Die Parallelen zu Robert liegen auf der Hand. Baudri stützt sich, wie Robert, aber unabhängig von diesem, wesentlich auf die Gesta Francorum, von deren verhältnismäßig nüchterner Darstellung er sich aber emanzipiert. Die Gründe dafür dürften sich weitgehend mit den für Robert angeführten decken. Baudri differenziert die christlichen Täter nicht. Er verknüpft allerdings deutlicher als Robert das Verhalten der Kreuzfahrer auf dem Friedhof mit einem legitimen Kriegsziel, nämlich der emotionalen Kränkung des Feindes durch entgrenzte Gewalt in dem auf so vielen Ebenen – Memorialkultur, Identitätsstiftung etc. – wichtigen Raum des Friedhofs. Die Version der Friedhofsplünderung bei Baudri liest sich nicht als Kritik an der Gewaltausübung der Kreuzfahrer, sondern lobt ihre Taten als kriegerische Anstrengungen über den eigentlichen Kampf hinaus. Diese Gewaltbegründung fungiert gleichzeitig als Kompensation des problematischen Motivs der Profitsucht, das auch Raimund von Aguilers einführt und durch militärischen Nutzen entschärft. Die Darstellung Baudris ist wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Darstellung Roberts und ihrer eindeutig unkritischen Position ein gewichtiges Argument gegen die Deutung der Darstellung Roberts als Gewaltkritik. Den Chronisten des Ersten Kreuzzugs ist es eigen, den Kreuzzug in der Tradition des Alten Testaments zu verorten. Jeder Historiograph setzt dabei seine eigenen Schwerpunkte, auch Robert stellt diesbezüglich keine Ausnahme dar. Er erzählt den Kreuzzug als „Landnahme“ der Kreuzfahrer mit starken Parallelen zur derjenigen der Israeliten;57 entsprechend bedient er sich immer wieder den Motiven des Alten Testaments. Auch ein Detail in der Robertinischen Darstellung der Friedhofsplünderung weist auf biblische Motivik hin, nämlich das Zurücklassen der unbedeckten Leichen für die Vögel und wilden Tiere. Dieses zunächst vornehmlich deskriptiv erscheinende Bild – der Tierfraß als grausiges, 56
Baudri, lib. II, 52: Quo Christiani comperto, partim exuuiarum cupiditate adlecti, partim ut dolorem super dolorem Turcis apponerent incitati, sepultos desepelierunt, et corporibus egestis satis ignominiose insultauerunt. 57 Skottki 2015, 341 f.
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aber natürliches Phänomen auf Schlachtfeldern – verweist allerdings deutlich auf alttestamentliche Vorbilder. In den zahlreichen Textstellen des Alten Testaments, in denen davon die Rede ist, dass Gewaltopfer unbestattet den Tieren zum Fraß überlassen werden, ist die Zuordnung eindeutig: Der Tierfraß ist eine besondere Strafe Gottes, die er für die Feinde des Volkes Israel vorgesehen hat.58 Zwar lässt sich daraus keine Vorschrift für den Umgang mit dem gefallenen Feind ableiten, jedoch wird durch die Verwendung dieses Motivs einsichtig, dass die Muslime typologisch den Feinden des Volkes Israel entsprechen. Baudri von Bourgueil wählte rhetorisch geschickt die invertierte Version dieses Bildes in seiner Version der Rede Urbans, um den verdrehten Zustand des Heiligen Landes unter der Herrschaft der Muslime zu verdeutlichen: Bei ihm liegen die Christen nach ihrer Ermordung durch die Heiden unbestattet für die Tiere zum Fraß auf der Erde.59 Für die Plünderung des Friedhofs und die Exhumierung der Leichen lässt sich ebenfalls eine Präfiguration im Alten Testament finden: Nach 2.Kön 23,16 machte sich Josia, König des Südreichs Juda, daran, sein Reich vom Götzendienst zu reinigen: „Und Josia wandte sich um und sah die Gräber, die auf dem Berge waren, und sandte hin und ließ die Knochen aus den Gräbern holen und verbrannte sie auf dem Altar und machte ihn unrein nach dem Wort des Herrn, das der Mann Gottes ausgerufen hatte, als er es verkündete.“60 Die Zerstörung des Friedhofs vor Antiochia mitsamt der Exhumierung der Leichen lässt sich durchaus als eine quasirituelle Verunreinigung des heidnischen Bestattungsraumes bzw. als ein makabres Reinigungsritual des durch die Apostel geheiligten Bodens lesen, ganz in der Tradition der biblischen Geschichte. Durch die recht eindeutige Zuordnung der Kreuzfahrer als Volk Israel und der Muslime als Feinde des Volkes Israel findet sich in diesem Bereich ein starkes Argument gegen die Wertung der Beschreibung Roberts als Kritik, denn sie wäre ein Zeugnis erstaunlicher Inkonsistenz. Ein weiteres Argument für die „kritische Lesart“ entsteht, wenn man den Begriff consuetudo mit „Sitte“ oder „Brauch“ übersetzt. Dies entspricht ungefähr dem Vorgehen Sweetenhams, die „custom“ wählt. So entsteht eine Interpretation, die den ganzen Abschnitt in ein ethisch-traditionales Licht rückt und die religiöse Komponente reduziert, unabhängig davon, dass sich mittelalterliche Sitten und Bräuche zu Teilen, aber längst nicht ausschließlich auf religiöse Elemente stützten.61 Davon ausgehend kann man darauf schließen, dass Robert hier tatsächlich einen kritischen, beinahe sarkastischen Seitenhieb auf die Friedhofsplünderer formuliert hat, denn Traditionen, die Gewalt gegen Friedhöfe und Exhumierungen gutheißen oder vorschreiben, sind im lateinischen Mittelalter um 58
Gesammelte Stellen im Alten Testament bei Schmitz-Esser 2014, 81, Anm. 301. Baudri, lib. I, 8: Posuerunt morticina seruorum tuorum escas uolatibus celi, carnes sanctorum tuorum bestiis terre. 60 Dazu Pietsch 2013, 441 f.; Rader 2003, 32–34. 61 Zur Verbindung beider Elemente Hartinger 1992. 59
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1100 noch nicht gestiftet. Zwar ist es gerade im Umgang mit Exkommunizierten und Ketzern bei einigen Gelegenheiten zu Exhumierungen und Leichenverbrennung gekommen, doch das gezielte Ausgraben von Leichen als Waffe im Kampf gegen Häretiker ist eine Entwicklung der zweiten Hälfte des 12. Jh., die ihren ersten normativen Höhepunkt in den Bestimmungen des III. Laterankonzils 1179 erreichte.62 Dort wurde in Dekret 27 unter anderem untersagt, Söldnern, Ketzern sowie deren Unterstützern ein christliches Begräbnis zukommen zu lassen.63 Diese Bestimmung wurde wenige Jahre später im Languedoc so umgesetzt, dass die widerrechtliche christliche Bestattung exkommunizierter Ketzer das Anathem für die Bestattenden und das Interdikt für den Sprengel nach sich zog, und zwar so lange, bis der Leichnam wieder aus der geweihten Erde entfernt worden war.64 Im ersten Jahrzehnt des 12. Jh., also der Zeit, in der Robert schrieb, sind solche Vorstellungen aber alles andere als gängig. Die durchaus geläufige Übersetzung von consuetudo mit „Sitte“ muss in diesem Fall allerdings nicht unbedingt zutreffen. Im interreligiösen Kontext, der hier zweifellos vorliegt, kennzeichnet der Begriff nämlich seit den Kirchenvätern eine pagane Religion, in Abgrenzung zur christlichen religio.65 Dann wäre eine Übersetzung mit „(Aber-)Glaube“ vielleicht passender, und es ergäbe sich die Möglichkeit in der Interpretation, Robert stelle der abergläubischen Sitte der Bestattung mit Beigaben die christliche Pflicht zur Bekämpfung des Aberglaubens gegenüber. Diese Interpretation spricht deutlich gegen eine Gewaltkritik bei Robert, sie lässt stattdessen sogar eine affirmative Beurteilung der Friedhofschändung durch Robert wahrscheinlich werden. Vielleicht speiste sich Roberts Kritik – so es sich denn um eine handelt – aus den ihm bekannten Vorstellungen von Friedhofsraum und Totenruhe. Der christliche Friedhof war im Spätmittelalter ein geheiligter Raum.66 Zum einen hing dies damit zusammen, dass er eng mit dem Kirchengebäude verbunden war, weil die (aus liturgischen Gründen nicht unproblematische) Bestattung in der Nähe der unter dem Altar ruhenden Heiligenreliquien als erstrebenswert galt.67 Zum anderen ist spätestens seit dem 10. Jh. im Pontificale Romano-Germanicum ein eigener ordo über die Friedhofsweihe belegt, der die Abhängigkeit der WeiheHeiligkeit des Friedhofs von der Kirche reduzierte.68 Durch entsprechende Handlungen – die Gewalt gegen Gräber und Begrabene sei hier beispielhaft ge62
Schmitz-Esser 2014, 512–514. Foreville 1970, 260 f. 64 Barber 2003, 116–118. 65 Gerwing 1995; Gnilka 1993, 105–108, bes. Anm. 56. 66 Zum Friedhof im lateinischen Mittelalter übergreifend Sörries 2009, 28–100; Lauwers 2005. Eine systematische Bibliographie älterer Forschung liefert Bell 1994. 67 Schmitz-Esser 2014, 65–70; Czock 2012, 226 f.; Sörries 2009, 33–35 u. 59–63; Boehlke et al. 1983, 648. 68 PRG, LIV, 192 f. Zur Friedhofsweihe generell Lauwers 2005, 115–158. 63
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nannt – konnte dieser geheiligte Raum profaniert werden, was göttlichen Zorn zum Schaden aller nach sich ziehen konnte.69 Diese Vorstellungen sind im christlichen Spätmittelalter verbreitet. Man muss allerdings berücksichtigen, dass die Vorstellung eines heiligen Friedhofsraumes um 1100 noch längst nicht in allen Regionen Lateineuropas fest implementiert war, ja sogar kirchenintern war die Vorstellung von der Notwendigkeit der christlichen Bestattung in geweihter Erde umstritten. In der kultischen Praxis war sie im Grunde ein Novum, was an den Bemühungen des Papsttums um 1100 deutlich wird: Die Predigtreise Papst Urbans II. im Jahr 1095/96 galt nicht nur der Kreuzzugswerbung, sondern ebenfalls der Verbreitung des Rituals der Friedhofsweihe.70 Es wäre nun ausgesprochen erstaunlich, wenn diese neue Vorstellung auch gleich auf einen heidnischen Friedhof übertragen worden wäre. Die Kritik Roberts ließe sich, dies angenommen, auf ein allgemeines, religionsübergreifendes Unbehagen wegen der Friedhofschändung beziehen. Dies ist durchaus denkbar, aber unwahrscheinlich. Der Status des Friedhofsraumes war zumindest in Bezug auf seine Weihe-Heiligkeit um 1100 unsicher, was Bewertungen von Handlungen in seinen Grenzen grundsätzlich erschwerte. Entsprechend verliert dieses Argument an Gewicht. Es gilt weiter zu berücksichtigen, dass der mittelalterliche Friedhof ein zumindest in der Vorstellung der Kirchenreformer geheiligter Raum war, der für kultische Zwecke verwendet wurde, aber auch ein Versammlungs-, Beurkundungs-, Gerichts-, Schutz- und Asylraum.71 Diese Multifunktionalität des Friedhofs geht nicht nur auf seine besondere Qualität u. a. als numinoser Ort zurück, sondern wird im frühen Mittelalter interessanterweise mit seiner besonderen Ehre (honor) begründet, worauf hier aus Platzgründen allerdings nicht weiter eingegangen werden kann.72 Der in der Regel umhegte Friedhof bot jenen, die sich auf ihm versammelten oder auf ihn flohen, Schutz vor Friedlosigkeit und dem Zugriff weltlicher Gewalt; er war ein Hof, in dem Frieden herrschen sowie Recht verhandelt und gesprochen werden sollte. Beeinflusste also möglicherweise die im lateinischen Mittelalter verbreitete Verbindung von Frieden und Friedhof die Darstellung Roberts, weshalb er in der Gewalt auf dem Friedhof und der Störung der Totenruhe einen Verstoß gegen ein implizites Friedensgebot sah? Die Vorstellung eines derart multifunktionalen Raums, in dem sich weltliche und geistliche Sphären überlagern, ist bereits für sich reichlich komplex. Weder waren die kircheninternen Diskussionen um die Heiligkeit des Friedhofs um 1100 mit eindeutigem Ausgang abgeschlossen, noch war es möglich, diesen Raum funktionsabhängig eindeutig den Sphären zuzuordnen, was die Bewertung möglicher Trans69
Schmitz-Esser 2014, 35 f.; Czock 2006; Kleine 2006; Lauwers 2005, 197–201; Krüger 1978. Schmitz-Esser 2014, 74 f.; Zadora-Rio 2003, 13; Treffort 2001, 295. 71 Schmitz-Esser 2014, 422 f.; Schempf 2008, 1824; Siems 2003, 280. 72 Dazu Czock 2012, 134–143 und demnächst Czock 2015. Zwar argumentiert Czock mit dem Kirchenraum, allerdings ist eine Übertragung der entsprechenden rechtlichen Regelungen durch ihre Ausweitung auf die Immunität des Kirchenbesitzes – und damit letztlich auf den Friedhof – sehr wahrscheinlich.
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gressionen weiter verkomplizierte, weil verschiedene und unterschiedlich ausgeprägte normative Strukturen vorlagen. Die Vermutung, Robert könne wegen eines „Verstoßes gegen die Friedhofsordnung“ Kritik an den Kreuzfahrer üben, ist spekulativ, denn Derartiges ist um 1100 kaum greifbar. Von dieser Feststellung ausgehend gewinnt die Einbettung der Schrift Roberts in die Zusammenhänge der Kirchenreform Gewicht: Die Zeit des Ersten Kreuzzugs wurde wesentlich von Kirchenreform und Investiturstreit geprägt, und dieser Streit erstreckte sich auch auf Bestattungen und den Umgang mit Bestatteten. Im Konflikt um die Beisetzung des exkommuniziert verstorbenen Kaisers Heinrich IV. wurde sogar eigens eine pro-kaiserliche Streitschrift mit dem Titel De sepultura eorum qui falso excommunicati dicuntur non turbanda verfasst, nach der die Totenruhe als unantastbares Gut aufzufassen ist. Eines der dort angeführten Beispiele betrifft die sogenannte Leichensynode von 897, bei der der bereits beigesetzte Papst Formosus auf Betreiben seines Nachfolgers Stephan VI. exhumiert, angeklagt und verurteilt, vom folgenden Papst Theodor II. aber wieder mit der Kirche versöhnt und mit allen Ehren bestattet worden war.73 Die genüsslich mit offenkundigem Fehlverhalten des Papsttums spielende Schrift bot für die Reformer aber durchaus Anknüpfungspotenzial, denn grundsätzlich waren sich beide Parteien darin einig, dass die Totenruhe nicht gestört werden dürfe. Bereits auf der Synode von Ravenna im Jahr 998 hatte man kirchlicherseits beschlossen, dass gegen Tote keine Gerichtsverfahren mehr geführt werden dürften.74 Die Schlussfolgerungen aus der Nichtjudizierbarkeit des Leichnams unterschieden sich allerdings erheblich: Während die Parteigänger des Kaisers ableiteten, dass die Exkommunikation mit dem Eintritt des Todes endete, vertraten die papstnahen Reformer die Ansicht, dass die im Leben erfolgte Exkommunikation weiter wirke, weil sich die Binde- und Lösegewalt des Papsttums auf das Diesseits beschränke.75 In jedem Fall lässt sich festhalten, dass sich um 1100 Vertreter beider Sphären für die Wahrung der Totenruhe einsetzten. Allerdings handelt es sich dabei um einen klaren innerchristlichen Diskurs, der Juden oder Muslime mit keinem Wort thematisierte. Die Aussagekraft dieses Arguments für eine Einschätzung der Darstellung Roberts ist also sehr begrenzt.
Zusammenfassung Wie ist die Beschreibung der Plünderung des muslimischen Friedhofs vor Antiochia bei Robert nun zu werten? Die Weihe-Heiligkeit des Friedhofs war ein relativ neues Phänomen, das sich in der kultischen Praxis um 1100 noch nicht durchgesetzt hatte. Insofern hatte Robert diesbezüglich keinen Grund, die Gewalt der 73
De sepultura, 690. Zur ‚Leichensynode‘ zuletzt Heckmann 2012. Schmitz-Esser 2014, 544. 75 Dazu Schmitz-Esser 2014, 511 f.; Lauwers 2005, 101–107.
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Kreuzfahrer auf dem Friedhof zu verurteilen – ungeachtet des gewichtigen Umstands, dass es sich bei diesem Friedhof um eine muslimische Bestattungsstätte handelte, die aufgrund ihrer spatialen Multifunktionalität (Kultraum, Memorialraum etc.) einen Angriff im Kontext eines religiös begründeten Kriegs geradezu provozierte. Im Umgang mit den Leichen von Exkommunizierten, Ketzern und Muslimen, die sich durch einen anderen Glauben oder deviantes Verhalten in Glaubensdingen von ihr abgrenzten, war die Kirche noch nicht dahin gelangt, ihre Gegner über deren Tod hinaus systematisch körperlich zu verfolgen. Diese Entwicklung setzte erst ungefähr zwei Generationen nach Robert ein. Die Totenruhe im christlichen Kontext war zur Zeit des Ersten Kreuzzugs grundsätzlich ein wenig umstrittenes Gut, allerdings wird der Umgang mit nicht-christlichen Leichen nicht thematisiert. Daraus abzuleiten, dass sich die hohe Wertung der Totenruhe auch auf nicht-christliche Leichname erstreckte, ist also spekulativ. Was den Umgang mit den gegnerischen Gefallenen nach einer siegreichen Schlacht betrifft, so ist davon auszugehen, dass gerade während des unerbittlich geführten Ersten Kreuzzugs kein großer Wert darauf gelegt wurde, jenen aus christlichem Pflichtgefühl mit Respekt zu begegnen. Die typologischen Vorbilder des Alten Testaments, auf das sich die Kreuzfahrer bzw. Historiographen gerne bezogen, legten sogar in Gestalt Josias, der sein Königreich vom Götzendienst reinigte, indem er die Leichen seiner polytheistischen Gegner exhumieren und verbrennen ließ, den Kreuzfahrern einen entsprechenden Umgang mit den Leichen der Muslime nahe. Schließlich sei auf die Probleme hingewiesen, die die Zuordnung der Begriffe honor und dedecus betreffen: Hier erscheint es sinnvoll, die ehrenvolle Bestattung der Muslime durch ihresgleichen als eine unangemessene Ehrung durch ein paganes Ritual zu verstehen, deren Schändung zu den Pflichten eines aufrichtigen Kreuzfahrers gehörte. Die ähnliche, aber eindeutig gewaltunkritische Formulierung der Episode bei Baudri von Bourgueil spricht für diese Interpretation. Auch die Funktion des Friedhofs als Friedensraum, in dem Recht gesprochen, Urkunden ausgestellt und Asyl gewährt wurde, spricht nicht für die Interpretation der Textpassage als Kritik an den Kreuzfahrern, denn es finden sich einerseits keine Anhaltspunkte dafür, dass Robert auf dieses Funktionsgeflecht rekurrierte, andererseits lag eine Systematisierung der weltlichen Funktionen des Friedhofsraums nicht vor. Als stichhaltiges Argument, bei Robert Kritik an den Tätern zu vermuten, bleibt lediglich die Bezeichnung der Täter als iuvenes, sofern er deren Verhaltensweisen nicht als ihrem Status angemessen betrachtete, und das ist in jedem Fall zu wenig, um in dieser Textpassage eine beinahe singuläre und damit spektakuläre Kritik an der Gewaltausübung der Kreuzfahrer zu sehen. So sehr der gewalttätige Konfliktaustrag auf dem Friedhof für heutige Beobachter beinahe reflexhaft Kritik hervorruft, so wenig kritikwürdig erschien er den frühen Chronisten des Ersten Kreuzzugs. Jene wendeten ihre in der lateinischen christianitas entstandenen Vorstellungen von Friedhof, Totenruhe und vom Umgang mit den gefallenen,
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in diesem Fall teuflischen Gegnern beinahe selbstverständlich auch auf Ereignisse an, die sich jenseits des Mittelmeeres ereigneten – welche Alternativen hätten sie auch gehabt? Dementsprechend positiv fiel ihre Bewertung der Kreuzfahrergewalt auf dem muslimischen Friedhof vor Antiochia aus, und auch Robert stellt diesbezüglich keine Ausnahme dar.
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Thorsten Kruse Zwischen Politik und Religion Der Umgang mit den griechisch-orthodoxen und muslimischen Grabstätten Zyperns nach der gewaltsamen Teilung der Insel 1974 Zusammenfassung Das Jahr 1974 stellte für Zypern eine enorme Zäsur dar. Mit der Besetzung des nördlichen Teils der Insel durch die Türkei ging eine massive Fluchtbewegung einher – die griechische Bevölkerung floh vor den türkischen Truppen in den Südteil der Insel, die türkischen Zyprioten flohen in die von der Türkei besetzten Gebiete im Norden. Im Ergebnis lebten die griechischen und die türkischen Zyprioten nun erstmals räumlich getrennt auf der Insel. Mit der dauerhaften Besetzung von gut einem Drittel der Insel übernahm die türkische Seite auch die Kontrolle über die kulturellen und religiösen Einrichtungen der zuvor mehrheitlich griechischen Bevölkerung in diesen Gebieten. Die Verantwortung für die kulturellen und religiösen Hinterlassenschaften der aus dem Süden geflohenen türkischen Zyprioten ging auf die nur noch von den griechischen Zyprioten getragene, aber international anerkannte Regierung der Republik Zypern über. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie man auf Zypern mit Friedhöfen, Gotteshäusern und Gedenkstätten nach 1974 umgegangen ist bzw. heute noch umgeht. Ein hierzu initiiertes Studienprojekt befindet sich noch in der Frühphase. Der Beitrag wird sich deshalb auf den Umgang beider Seiten mit den Begräbnisstätten der jeweils anderen Ethnie nach 1974 beschränken und einen ersten Überblick zu dieser Thematik liefern.
Der Einmarsch türkischer Streitkräfte und die anschließende gewaltsame Teilung der Insel Zypern im Jahr 1974 stellte in vielen Bereichen eine gewaltige Zäsur dar. Durch die kriegerischen Auseinandersetzungen im Sommer 1974 kam es zu zahlreichen menschlichen Verlusten auf beiden Seiten und die Insel erlebte massive Fluchtbewegungen – so flüchteten im Norden der Insel beheimatete griechische Zyprioten vor der anrückenden türkischen Armee in den Süden und bis dahin im Süden ansässige türkische Zyprioten flohen in die von der Türkei besetzten Gebiete im Norden.1 In dieser Phase und auch im Nachgang der Ereignisse wurden auch Bereiche in Mitleidenschaft gezogen, die bei den kriegerischen Auseinandersetzungen und Vertreibungen zunächst kaum wahrgenommen wurden, so 1
Eine detaillierte Darstellung zu den Fluchtbewegungen findet sich bei Richter 2009, 538–544.
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zum Beispiel das kulturelle und religiöse Erbe der jeweils anderen Volksgruppe in den entmischten Gebieten der Insel. Besonders im Bereich des Umgangs mit dem religiösen Erbe ist eine erhebliche Wissenslücke festzustellen. Dieser Beitrag widmet sich speziell dem Umgang mit den Friedhöfen in den entmischten Gebieten und ist in seiner Form als eine erste Bestandsaufnahme für ein Projekt, das sich mit dem religiösen Erbe Zyperns beschäftigen wird, zu verstehen.
Historische Entwicklung bis zur Teilung der Insel 1974 Um den Umgang mit dem religiösen Erbe der jeweils anderen Volksgruppe auf Zypern bewerten zu können, ist ein kurzer Rückgriff auf die geschichtliche Entwicklung der im östlichen Mittelmeer gelegenen Insel notwendig. Die politischen und wirtschaftlichen Geschicke Zyperns lagen bis zur Entlassung in die Unabhängigkeit im Jahr 1960 gemeinhin in den Händen fremder Machthaber – so zum Beispiel der Perser, der Römer, der Byzantiner, der Kreuzritter und der Venezianer. Diesen folgten die Osmanen, die im Jahr 1570 die Insel in ihr ausgedehntes Reich integrierten. Aus der Eroberung Zyperns durch die Osmanen resultierte ein größerer Zuzug von Menschen muslimischen Glaubens: Zum einen blieben viele ehemalige Soldaten der osmanischen Eroberungsarmee auf Zypern, zum anderen wurden im Rahmen eines vom Sultan initiierten Ansiedlungsprogramms Neusiedler aus Kleinasien auf die Insel gebracht.2 Trotz dieser demographischen Veränderung lag der Anteil der Muslime auf Zypern über die Jahrzehnte hinweg nur zwischen ca. 20 bis 30 Prozent.3 Die osmanische Elite auf der Insel nutzte ihre Macht, um sich möglichst selbst zu bereichern. Das erdrückende osmanische Steuersystem führte zu einer Ausbeutung der Bevölkerung. Es betraf nicht nur die griechisch-zypriotischen Bewohner, sondern auch die einfachen türkisch-zypriotischen Inselbewohner, da bei der Festlegung der Steuern kaum ein Unterschied zwischen der jeweiligen Religionsangehörigkeit gemacht wurde. Erst mit der Übernahme der Insel durch Großbritannien im Jahr 1878 kamen nach der jahrhundertelangen Isolation wieder verstärkt europäische Einflüsse nach Zypern. Der Wechsel von den osmanischen Machthabern hin zu den Briten wurde besonders von den griechischzypriotischen Bewohnern begrüßt, erhofften sich diese doch durch die Integration der Insel in die britischen (Handels-)Strukturen einen spürbaren wirtschaftlichen Aufschwung. Diese Erwartungen wurden allerdings sehr schnell enttäuscht, 2 3
Hill 1952, 18–19. Eine Volkszählung, die wirklich belastbares Zahlenmaterial bot, wurde auf Zypern erst im Jahr 1881 von den Briten durchgeführt (Barry 1884). Hier ist ein Bevölkerungsverhältnis von 73,9 % (griechische Zyprioten) zu 24,4 % (türkische Zyprioten) ausgewiesen. Auf die Problematik der ersten Volkszählungen aus dem 18. Jh., die eine türkische Majorität ausweisen, geht Hill 1952, 31–36, ausführlich ein.
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denn auch die Briten nutzten die Insel – ebenso wie ihre osmanischen Vorgänger – als sprudelnde Geldquelle: Von 1878 bis 1927 musste die zypriotische Bevölkerung für sogenannte Tributzahlungen aufkommen, die zunächst als offizielle Pachtzahlungen an das Osmanische Reich deklariert worden waren, von der britischen Regierung in London aber einbehalten wurden. Dies begründete London mit bestehenden Schulden, die das Osmanische Reich noch begleichen musste. Zypern war somit für fast fünfzig Jahre eine der am meisten ausgebeuteten Kolonien des britischen Empire.4 In den folgenden Jahren bemühten sich die Briten zwar darum, eine Infrastruktur auf der Insel aufzubauen, Zypern blieb jedoch weiterhin agrarisch geprägt. Einzig der Kupfer- und Asbestabbau trugen einen kleinen Teil zur wirtschaftlichen Leistung Zyperns bei. Die Bergbaufirmen waren allerdings in der Regel in der Hand ausländischer Konzerne. Im Jahr 1955 begannen blutige Auseinandersetzungen zwischen der griechischzypriotischen Untergrundorganisation EOKA (Εθνική Οργάνωσις Κυπρίων Αγωνιστών / Nationale Organisation zypriotischer Kämpfer) und den britischen Kolonialherren. Die EOKA kämpfte für einen Anschluss Zyperns an Griechenland. Die türkischen Zyprioten wollten einen Anschluss der Insel an Griechenland unbedingt vermeiden und unterstützten die britische Kolonialregierung. Dies führte schließlich dazu, dass sich der Kampf der EOKA nicht nur gegen die Briten richtete, sondern in Teilen auch gegen Angehörige der türkisch-zypriotischen Bevölkerung. Die durch die von den Briten bereits zuvor geschaffene Kluft zwischen türkischen und griechischen Zyprioten wurde somit immer größer.5 Erst die Abkommen von Zürich und London, die in der Hauptsache zwischen Griechenland, der Türkei und Großbritannien geschlossen wurden, beruhigten die Situation auf der Insel. Die Abkommen sahen vor, Zypern in die Unabhängigkeit zu entlassen und die drei beteiligten Staaten als Garantiemächte für den Schutz und den Erhalt der neuen Republik einzusetzen. Im August 1960 wurde schließlich die Republik Zypern gegründet. Aus den Präsidentschaftswahlen ging der Erzbischof von Zypern, Makarios III., als Sieger hervor, als Vizepräsident wurde der türkische Zypriot Fazil Küçük gewählt. Sowohl griechische als auch türkische Zyprioten wurden als Minister in die neue Regierung berufen. Die Gründung der Republik Zypern wurde den Bewohnern der Insel ebenso oktroyiert wie die neue Verfassung des Landes.6 Das in den Jahren zuvor zwischen den beiden Volksgruppen entstandene Misstrauen wurde durch diese 4
Eine anschauliche Kurzdarstellung der Geschichte Zyperns bietet Richter 2010. Bereits seit den 1920er Jahren versuchte Großbritannien immer wieder durch die sogenannte divide-and-rule-Politik, die beiden Volksgruppen gegeneinander auszuspielen, um die eigene Herrschaft auf der Insel zu sichern. Vgl. u. a. Richter 2004, 185. 353 (Fn. 1). 431. 6 Während der Verhandlungen in Zürich und London und im Rahmen der Ausarbeitung der Verfassung hatten beide Volksgruppen nur sehr geringe Einflussmöglichkeiten auf die Vorgänge und kamen kaum über die Rolle von Statisten hinaus. Eine sehr detaillierte Darstellung dieser Ereignisse findet sich bei Richter 2006, 609–632 und Richter 2007, 59–68. 5
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Maßnahmen nicht verringert, sondern unter anderem durch die Implementierung vielfältiger Vetorechte für die türkische-zypriotische Minderheit in den wichtigsten politischen Bereichen weiter verstärkt. Der Grundgedanke, der hinter diesen besonderen Rechten stand, war der besondere Schutz der türkischen Volksgruppe, der von der Türkei als unverzichtbar angesehen wurde. Aus Sicht der griechischen Zyprioten war diese umfassende Privilegierung einer 18%-Minderheit von Beginn an ein Faktum, das demokratischen Grundprinzipien widersprach. Aus diesem Grund waren erneute Auseinandersetzungen zwischen den beiden Volksgruppen vorprogrammiert.7 Die Unabhängigkeit stellte für Zypern sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen Bereich eine gewaltige Zäsur dar, denn erstmals in ihrer Geschichte besaßen die Zyprioten nun selbst die Verantwortung für die Entwicklung ihres Landes. Gleichzeitig bedeutete diese neue Freiheit aber auch einen völligen Neuanfang: Großbritannien hatte als Kolonialmacht zwar dafür gesorgt, dass das Alltagsleben einigermaßen funktionierte, nennenswerte Investitionen in die Infrastruktur waren aber ausgeblieben. Die zypriotische Regierung war sich der Tatsache bewusst, dass man im wirtschaftlichen Bereich nach wie vor vom Wohlwollen ausländischer Geldgeber abhängig war. Während der türkisch-zypriotische Vizepräsident Küçük dafür plädierte, Zypern in die westliche Staatenwelt zu integrieren, begann Makarios ohne Rücksprache mit Küçük, einen neutralen außenpolitischen Kurs zu steuern. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass Präsident Makarios sich sehr für die Gründung der Bewegung der Blockfreien Staaten einsetzte und Zypern eines der Gründungsmitglieder dieser Organisation war.8 Makarios’ außenpolitische Intention war es, die beiden großen Machtblöcke in West und Ost zum eigenen Vorteil gegeneinander auszuspielen. Die Mitgliedschaft Zyperns in der Bewegung der Blockfreien Staaten war für ihn deshalb der ideale Weg, sein Vorhaben umzusetzen. Und in der Tat schaffte Makarios es, wirtschaftliche Zusagen sowohl aus dem Westen als auch aus dem Osten zu erhalten. Da die Lage Zyperns im östlichen Mittelmeer auch von geostrategischer Bedeutung war, fingen die USA und die UdSSR an, sich bei der Unterstützung Zyperns zu überbieten. Dieses Taktieren, das in vielen Bereichen einer außenpolitischen Gratwanderung glich, wurde von der türkisch-zypriotischen Führung äußerst kritisch gesehen und sorgte immer wieder für Reibungspunkte in der zypriotischen Regierung. Allerdings wirkte sich der von Makarios eingeschlagene Weg zunächst sehr positiv aus. So erhielt Makarios nicht nur die angestrebte wirtschaftliche Unterstützung in Form von Warenlieferungen und günstigen Krediten – und dies, ohne sich für eine Seite im Kalten Krieg entscheiden zu müssen –, er konnte darüber 7
Einen detaillierten Überblick über die Entwicklungen in den ersten Jahren nach Gründung der Republik bietet Richter 2007, 161–262. 8 Zypern gehörte der Bewegung der Blockfreien Staaten von 1961 bis zum EU-Beitritt im Jahr 2004 an.
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hinaus auch enge Kontakte mit der arabischen Welt knüpfen, die sich nach und nach als äußerst lukrativ erwiesen. Zypern profitierte auch sehr von den Hilfsleistungen verschiedener Länder: So unterstützte zum Beispiel auch die Bundesrepublik Deutschland über die Kreditanstalt für Wiederaufbau große Projekte zur Wasserversorgung der größeren Städte und Gemeinden in Zypern – auch mit der Absicht, den Einfluss der DDR in Zypern gering zu halten.9 Kurz nach Gründung der Republik Zypern war es bereits zu massiven Spannungen zwischen der türkischen und der griechischen Bevölkerung gekommen, die in den sogenannten Weihnachtsunruhen zum Jahreswechsel 1963/64 mündeten. Hierbei kam es in Teilen der Insel zu bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen, und etliche der türkischen Zyprioten verließen ihre Dörfer, um in türkischzypriotischen Enklaven Schutz zu finden. Einige der geflüchteten türkischen Zyprioten kehrten in den folgenden Jahren in ihre ursprünglichen Wohngebiete zurück, andere richteten sich in den Enklaven ein.10 Auf beiden Seiten wurden die Konfrontationen durch nationalistische Hardliner verursacht, die ihre eigenen Ziele verfolgten: Auf griechisch-zypriotischer Seite war dies der Anschluss der gesamten Insel an Griechenland, auf türkischer Seite die Teilung der Insel in einen griechischen und einen türkischen Teil, wobei das türkische Gebiet eine enge Verbindung mit der Türkei eingehen sollte. Nach den Unruhen beruhigte sich die Lage zunächst, blieb aber weiterhin angespannt. Am 4. März wurde die United Nations Peacekeeping Force in Cyprus, kurz UNFICYP, ins Leben gerufen, um den Frieden auf der Insel zu wahren.11
Die Teilung der Insel Die Machtübernahme durch eine Militärjunta in Athen im Jahr 1967 und die daraus resultierende Neuausrichtung der Außenpolitik Griechenlands verkomplizierte die Situation auf Zypern.12 Die neuen Athener Machthaber versuchten im Sommer 1974, Präsident Makarios zu stürzen und durch einen der griechischen Regierung genehmen Kandidaten zu ersetzen, was schwerwiegende Folgen nach 9
Eine detaillierte Darstellung der bundesdeutschen Zypernpolitik in den 1960er Jahren findet sich bei Kruse 2013. 10 Schätzungen durch Richard A. Patrick sollen während der Unruhen rund 25.000 türkische Zyprioten und 700 griechische Zyprioten ihre angestammten Wohnorte verlassen haben. Bis 1970 kehrten gut 1.300 türkische Zyprioten in ihre ursprünglichen Wohnorte zurück (Gürel et al. 2006, 3). 11 Der Einsatz dieser UN-Friedensmission war im Jahr 1964 für eine Dauer von drei Monaten vorgesehen. Im Jahr 2015 sind die UN-Blauhelme immer noch an der innerzypriotischen Demarkationslinie stationiert. Das genehmigte Budget für den UNFICYP-Einsatz für den Zeitraum Juli 2014 bis Juni 2015 liegt bei über 59 Mio. US-$ (UN 2015 Annex 2/3). 12 Ein kurzer Überblick über die Zypernpolitik der Militärjunta in Athen nach der Machtübernahme findet sich bei Richter 2009, 71–97.
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sich zog: Die Türkei fühlte sich durch diesen Akt provoziert und begann eine militärische Operation auf der Insel. Die türkische Intervention, der man aufgrund des von Griechenland aus gesteuerten coup d’état in ihrer Anfangsphase eine gewisse Legitimität zusprechen kann, wandelte sich in ihrem weiteren Verlauf jedoch zu einer bis heute andauernden, unrechtmäßigen Besetzung des Nordteils der Insel.13 Die dadurch bewirkte Teilung der Insel bedeutete eine Zäsur in der Geschichte Zyperns. Es kam zu großen Fluchtbewegungen: Zehntausende türkische Zyprioten flohen aus dem Süden in den nun von der Türkei besetzten Norden und mehr als 140.000 griechische Zyprioten aus dem Norden in den Süden.14 Am Ende der türkischen Militäroperation Ende August 1974 war gut ein Drittel der Insel von der Türkei okkupiert worden. Dieses Gebiet entspricht annähernd dem Teil Zyperns, der bereits in den 1950er und 60er Jahren von der Türkei als mögliches Zielgebiet angesehen worden war – falls es zu einer Aufteilung der Insel zwischen Griechenland und der Türkei kommen sollte.15 Nach dem Ende der Kriegshandlungen entstand auf Zypern eine Demarkationslinie, die militärisch von der UN überwacht wird; zudem riegelte die Türkei das besetzte Gebiet hermetisch ab. Nur wenige Hundert griechische Zyprioten verblieben im Norden – auf der Karpass-Halbinsel, denn ihnen war der Fluchtweg durch die türkische Armee verstellt worden. Einige wenige dieser griechischen Zyprioten leben noch heute in diesem Teil des besetzten Gebietes, in dem im Jahr 1983 die Türkische Republik Nordzypern ausgerufen wurde. Dieser Staat gilt völkerrechtlich als Pseudostaat und wird bis heute international nicht anerkannt. Lediglich die Türkei sprach 1983 umgehend die Anerkennung aus. Während der kriegerischen Auseinandersetzungen im Sommer 1974 kam es infolge der erbitterten Kämpfe auf beiden Seiten nicht nur zu schmerzhaften Verlusten, es war auch zu zahlreichen Gräueltaten gekommen. Menschen wurden allein wegen ihres Glaubens und aus niedrigen Beweggründen, wie etwa Rache für vermeintliche Untaten der anderen Seite, getötet.
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Eine detaillierte Darstellung der Ereignisse in Zypern im Sommer 1974 findet sich bei Richter 2009, 377–544. 14 Die Zahlen variieren je nach Quelle sehr stark. Nach türkisch-zypriotischen Angaben betrug die Anzahl der zur Flucht gezwungenen türkischen Zyprioten 45.000 (das UNFlüchtlingswerk UNHCR geht sogar von 65.000 Menschen aus). Auf griechischer Seite liegen die Zahlen zwischen 142.000 und 200.000 Flüchtlingen. In einem offiziellen Report der European Commission of Human Rights des Council of Europe wird die Zahl der griechischzypriotischen Flüchtlinge mit 170.000 beziffert (CoE 1976, 163). 15 Richter 2007, 294.
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Die Folgen der Teilung Im Süden der Insel widmete man sich unverzüglich und erfolgreich den vorrangigen Aufgaben – Versorgung und Unterbringung der zahlreichen Flüchtlinge und dem Neuaufbau der Wirtschaft. Trotz großer wirtschaftlicher Verluste (die damals entwickelten touristischen Zentren, aber auch ertragreiche landwirtschaftliche Nutzflächen lagen nun in den besetzten Gebieten) gelang es innerhalb kürzester Zeit, diese Verluste auszugleichen und die Wirtschaftsleistung auf das Niveau vor der türkischen Invasion zu bringen und weiter zu steigern. Der Norden hingegen geriet in eine völlige internationale Isolation und wurde in allen Bereichen fast vollständig von der Türkei abhängig. Die Teilung bedeutete zugleich aber auch, dass viele Häuser, Grundstücke, öffentliche und kulturelle Einrichtungen von jetzt auf gleich verlassen wurden und nicht mehr von den ursprünglichen Eigentümern genutzt werden konnten. Relativ schnell kristallisierten sich zwei unterschiedliche Vorgehensweisen mit dem Umgang dieser Immobilien heraus. Während die Machthaber im besetzten Norden die verlassenen Immobilien als eine Art Entschädigung für die Flucht der türkischen Zyprioten aus dem Süden ansahen und sie neuen Besitzern überließ,16 gingen die Verantwortlichen im Süden einen anderen Weg. Der gesamte zurückgelassene Besitz der türkischen Zyprioten wurde unter die Verwaltung des Staates gestellt. Das heißt, Häuser und Grundstücke, die sich vor den Ereignissen im Sommer 1974 im Besitz türkischer Zyprioten befanden, sind zwar griechischzypriotischen Flüchtlingen zur Nutzung übergeben worden, gingen aber nicht in deren Eigentum über. In ähnlicher Art und Weise wurde jeweils auch mit dem jeweiligen religiösen und kulturellen Erbe verfahren. Während im Norden die griechisch-orthodoxen Güter vielfach unter die Verwaltung der islamischen EVKAF-Stiftung oder staatlicher Einrichtungen (wie etwa das sog. Department of Antiquities) fielen, ist im Süden bis heute ausschließlich der Staat für die muslimischen Stätten im Süden der Insel verantwortlich.17 Der Umgang mit eben diesem religiösen Erbe ist aber – vor allem den Norden Zyperns betreffend – schon seit Jahrzehnten Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Dennoch ist nach einer ersten Durchsicht hierzu kaum sachliche bzw. seriöse Literatur zu finden. Es sind zwar einige Veröffentlichungen zu finden – meist auf die Verhältnisse im Norden Zyperns beschränkt –, diese sind in ihrer 16
Zunächst wurden diese ehemals von griechischen Zyprioten bewohnten Immobilien türkisch-zypriotischen Flüchtlingen aus dem Süden zur Verfügung gestellt. Später wurden solche Immobilien auch sogenannten Siedlern vom türkischen Festland offeriert, die nach 1974 im Rahmen eines Ansiedlungsprogrammes, das zum Ziel hatte, die demographischen Verhältnisse auf der Insel zugunsten der türkischen Seite zu verändern, in den nördlichen Teil der Insel immigrierten. 17 Zur Problematik der Eigentumsfrage u. a. Gürel et al. 2006.
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Darstellung und Wertung aber meist höchst tendenziös. Eine neuerliche Beschäftigung mit dieser Thematik, die nun aber wissenschaftlichen Standards und damit größtmöglicher Objektivität verpflichtet ist, ist daher dringend notwendig. Im Folgenden soll eine erste Bestandsaufnahme zum Umgang mit den Friedhöfen der jeweils anderen Volksgruppe in den beiden Teilen der Insel präsentiert werden.
Der Umgang mit den griechisch-zypriotischen Friedhöfen im besetzten Norden Zyperns In der ersten Zeit nach Abriegelung der Demarkationslinie durch die Türkei war es nur noch sehr schwer möglich, Quellen zu finden, die über die Entwicklungen in Norden Zyperns zuverlässig und unabhängig berichten konnten. Zwar benannte die UNESCO bereits im Jahr 1975 mit dem kanadischen Fachmann Jacques Dalibard einen Adviser for the Cultural Heritage of Cyprus18 und beauftragte ihn mit der Erstellung eines Reports über den Zustand des kulturellen und religiösen Erbes. Der mehr als 100 Seiten starke Bericht, den Dalibard auf Grundlage von drei Reisen auf Zypern, die insgesamt gut drei Monate in Anspruch nahmen, anfertigte, wurde von der UNESCO nicht zur Veröffentlichung freigegeben, weil man befürchtete, dass eine Publikation sowohl die türkische als auch die griechische Seite in Aufruhr versetzen könnte. In Paris hatte man offensichtlich Angst davor, sich mit der Zypern-Thematik die Finger zu verbrennen: So fand der britische Journalist John Fielding bereits kurze Zeit später heraus, dass die UNESCO ihren Zypern-Beauftragten Dalibard aufgefordert hat, einen gekürzten und bereinigten Report zu verfassen.19 Dieser nur noch neun Seiten umfassende Report ist in der Tat sehr allgemein gehalten und erweckt den Eindruck, beide Konfliktparteien würden den schwierigen Umständen entsprechend handeln und das kulturelle Erbe dort, wo es möglich ist, schützen. Trotz dieses eher unverfänglichen Inhalts ging man im Direktorat der UNESCO selbst bei dieser Kurzfassung auf Distanz und legte Wert darauf, politische oder moralische Stellungnahmen tunlichst zu vermeiden. Denn selbst dieser unscheinbare Kurz-Bericht wurde auf dem Deckblatt mit dem Hinweis versehen, dass die im Text geäußerten Gesichtspunkte die des Autors seien und nicht notwendigerweise denen der UNESCO entsprächen („The views expressed are those of the author and not necessarily those of Unesco“).20 In einem Gespräch mit der St. Petersburg Times (Florida) erklärte Dalibard, dass ihm bei seinen Aufenthalten im besetzten Teil der Insel keine Bewegungs18
UNESCO 1975. SP Times 1976, 7A. 20 UNESCO 1975 (Deckblatt). 19
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freiheit gewährt und er bei allen Besichtigungen von Offiziellen der Besatzungsmacht begleitet worden sei. Dalibard erklärte weiter, dass er zwar in der Lage gewesen sei, einige wertvolle Antiquitäten im Norden zu retten, dass er aus Furcht, die türkisch-zypriotische Administration könnte ihre geringe Kooperationsbereitschaft bei der Rettung der Antiquitäten gänzlich aufkündigen, aber darauf verzichtet habe, die von ihm bereits zuvor registrierten Zerstörungen im Norden publik zu machen.21 Im Mai 1976 berichtete der bereits erwähnte Journalist John Fielding im Guardian erstmals über die Entweihung und Schändung griechischer Kirchen und Friedhöfe. Seinem Artikel war ein zweiwöchiger Aufenthalt im besetzten Gebiet vorausgegangen. Fielding hebt dabei besonders hervor, dass er gemeinsam mit einem Kollegen erfolgreich der rigorosen Kontrolle durch die türkische Armee entgangen sei. Diese strikte Kontrolle war in dieser Phase eigentlich obligatorisch, da die türkischen Machthaber nur ihnen genehme Orte präsentieren wollten. Zusammen mit seinem Kollegen, so Fieldings Schilderung, sei er bereits frühmorgens durch die besetzten Gebiete gefahren, mit der selbstgesetzten Maßgabe, vor dem Frühstück wieder im Hotel zu sein, um dann an dem von den Machthabern kontrollierten Tagesprogramm teilzunehmen. In seinem Artikel wird Fielding dann sehr deutlich: Er berichtet, dass er und sein Kollege insgesamt 26 Dörfer besucht hätten, die vor der Okkupation von griechischen Zyprioten bewohnt gewesen seien. Er stellte fest, dass es nicht ein einziges Dorf gab, in dem der griechische Friedhof nicht geschändet worden sei. Ein Fall sei besonders bemerkenswert gewesen: „(…) an entire graveyard of 50 or more tombs had been reduced to pieces of rubble no larger than a matchbox.“22 Leider wird in dem Bericht nicht genauer spezifiziert, um welchen Friedhof es sich hierbei handelt. Laut diesem Bericht war bereits kurz nach der Eroberung der nördlichen Inselteile damit begonnen worden, die Friedhöfe in den vormals griechischen Dörfern systematisch zu zerstören („The vandalism and desecration are so methodical and so widespread that they amount to institutionalized obliteration of everything sacred to a Greek.“).23 Auch andere religiöse Stätten der griechisch-orthodoxen Bevölkerung seien in diese systematische Welle der Zerstörung einbezogen worden, wie Fieldings weiter darstellte: „At Syngrasis, the church interior was smashed beyond recognition, littered with the remains of icons, pews, and beer bottles. The broken crucifix was drenched in urine. (…) At Lefkoniko, the church furniture was piled outside in the rain, and half a dozen icons were strewn across the rubble in the churchyard. One of the churches in Limnia was utterly wrecked. In a corner lay a stinking pile of household refuse. The church at Piyi was a mass of wrecked furniture, glass, 21
SP Times 1976, 7A. SP Times 1976, 7A. 23 SP Times 1976, 7A.
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and icons, so was the impressive church at Peristerona, a mile away, Gaidhouras church had apparently taken three direct shell hits, although nothing else in the vicinity showed signs of battle. The interior was a shambles, overlooked by an armless Christ on a smashed crucifix.“24 Literatur, die auf diese massive Zerstörung griechisch-orthodoxer Sakralstätten aus Sicht der Türkei oder der türkischen Zyprioten und auf eine mögliche Intention für dieses offensichtlich methodische Handeln eingeht, scheint nicht existent zu sein. Eine kritische Aufarbeitung der Vorkommnisse während und kurz nach der türkischen Invasion Zyperns scheint es ebenso nicht zu geben, weshalb über Täter und mögliche Auftraggeber nur spekuliert werden kann: Waren es Angehörige des türkischen Militärs, Hardliner und Nationalisten aus dem türkischen und türkisch-zypriotischen Lager oder Mitglieder der von der Türkei unterstützen türkisch-zypriotischen Untergrundbewegung TMT?25 Als sicher vorauszusetzen ist aber, dass diese Taten mit Duldung, Unterstützung oder Wohlwollen der militärischen Machthaber erfolgten: Bis zum heutigen Tag zeigt das türkische Militär im Norden der Insel eine massive Präsenz; es kontrolliert weiterhin zahlreiche öffentliche Bereiche in der sogenannten Türkischen Republik Nord-Zypern. Um etwas anschaulicher darzustellen, in welchem Zustand sich die griechischen Friedhöfe in Norden der Insel befinden, werden im nächsten Abschnitt einige dieser Begräbnisstätten näher dargestellt; zur besseren Einordnung wird auch die Historie der Ortschaften, in denen diese Friedhöfe liegen, jeweils kurz dargestellt. Zur Orientierung sind zudem sämtliche Orte in der beigefügten Zypernkarte angegeben (Abb. 1).26 Im Vorfeld ist zu erwähnen, dass sich viele der griechischen Friedhöfe im Norden in einem ähnlichen Zustand befinden und dass keineswegs nur Extrembeispiele gewählt worden sind. Die hier verwendeten Hauptnamen der Orte sind jene, die vor der Okkupation in der Regel von beiden Volksgruppen verwendet wurden. In einigen Fällen waren ursprünglich sowohl der griechische als auch der türkische Name gebräuchlich. Die heute im Norden Zyperns verwendeten türkischen Namen sind das Ergebnis einer Maßnahme, die gegen geltende Konventionen verstößt. Auf vielen Karten begegnen deshalb noch immer die ursprünglichen griechischen Ortsnamen, aber gerade bei Straßenkarten werden zur besseren Orientierung natürlich auch die neuen türkischen Namen verwendet.27 Kritiker weisen zu Recht 24
SP Times 1976, 7A. Zur Gründung der TMT ausführlich Richter 2006, 531–537. 26 Zur vereinfachten Übersicht werden die Ortschaften in der Karte nach ihren griechischen Bezeichnungen aufgeführt. 27 Eine Liste mit der Gegenüberstellung der alten und neuen Ortsnamen im Norden Zypern ist online zu finden unter: http://www.kypros.org/Cyprus_Problem/xwria.html [zuletzt abgerufen am 13.07.2015]. 25
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Abb. 1: Übersichtskarte Zypern (Vf. unter Zuhilfenahme der „Positionskarte Zypern“ von NordNordWest; Lizenz: CC BY-SA 3.0).
darauf hin, dass selbst die osmanischen Eroberer im 16. Jh. die angestammten und vielfach historisch belegten Ortsnamen nicht änderten.28 Als erstes Beispiel soll der Ort Angastina (Αγκαστίνα) dienen, ca. 20 km östlich der Hauptstadt Nikosia an der Straße nach Famagusta gelegen. In diesem bis zum Beginn des 19. Jh. gemischt besiedelten Ort lebten zum Zeitpunkt der türkischen Invasion im Sommer 1974 ausschließlich griechische Zyprioten. Die Zahl der in den Süden der Insel geflohenen Personen wird mit 810 angegeben. Heute leben in diesem Ort, der 1975 in Aslanköy umbenannt wurde, hauptsächlich Familien türkisch-zypriotischer Flüchtlinge, die aus dem gemischt besiedelten Ort Pentakomo im Süden fliehen mussten.29 Der griechische Friedhof von Angastina, der sich in unmittelbarer Nähe zum nach 1974 angelegten türkischen Friedhof befindet, weist große Zerstörungen auf (Abb. 2). Sämtliche Grabkreuze wurden zertrümmert und die vorhandenen Gräber geöffnet, was anhand der zerstörten oder geöffneten Grabplatten deutlich zu erkennen ist (Abb. 3). Als weiteres Beispiel lässt sich der Ort Trikomo (Τρίκωμο) aufführen, der 1975 in Yeni İskele – also Neu İskele – umbenannt wurde und gut 20 km nördlich der Stadt Famagusta nahe der Küste liegt. Die Umbenennung sollte auf den Ort Skala/İskele30 im Süden der Insel verweisen, aus dem die meisten der neuen Be28
Hierzu Asmussen 2001, 24–25. Weitere Daten und Informationen zum Ort sind online abrufbar unter: www.prio-cyprusdisplacement.net/default.asp?id=555 [zuletzt abgerufen am 13.07.2015]. 30 Skala ist mittlerweile ein Stadtteil von Larnaka und liegt nördlich des Flughafens von Larnaka
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Abb. 2: Zerstörter griechisch-zypriotischer Friedhof von Angastina mit der verfallenen Kirche Agios Therapon (2010). Foto: Christos Evangeli (Lizenz: CC BY-SA 3.0).
Abb. 3: Zerstörter griechisch-zypriotischer Friedhof von Angastina; im Hintergrund links neben der Kirche der türkisch-zypriotische Friedhof (2013). Foto: Kyriacos Antoniou.
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Abb. 4: Zerstörter griechisch-zypriotischer Friedhof von Trikomo (2015) mit zerschlagenen Grabkreuzen. Foto: Vf.
Abb. 5: Zerstörter griechisch-zypriotischer Friedhof von Trikomo (2009) mit geöffneten Gräbern. Foto: Sabine Rogge.
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wohner von Trikomo geflüchtet waren. Ein Großteil der mehr als 2.300 Einwohner des vor 1974 rein von griechischen Zyprioten bewohnten Trikomo floh 1974 vor den heranrückenden türkischen Truppen. Im Oktober 1975 befanden sich noch 92 griechische Zyprioten in Trikomo, wurden aber im Jahr 1978 im Rahmen des Bevölkerungsaustausches in den Süden übergesiedelt.31 Auch der griechische Friedhof in Trikomo weist massive Zerstörungen auf (Abb. 4). So wurden nicht nur fast alle steinernen Grabkreuze beschädigt, sondern auch die massiveren, aus Eisen gefertigten Grabkreuze. Wie schon am Beispiel Angastina zu sehen war, wurden auch auf diesem Friedhof die meisten Gräber geöffnet. Neben verschobenen und zerstörten Grabplatten sind hier sogar herausgeschlagene Teile der Grabfundamente zu registrieren. Ebenso wurden einige der bisweilen in die Grabkreuze eingelassenen Bilder der Verstorbenen mutwillig zerstört (Abb. 5). Im ca. 14 km westlich von Kyrenia gelegenen Lapithos (Λάπηθος) ist der griechische Friedhof ebenfalls vollkommen verwüstet (Abb. 6). Der Ort, der seit jeher auch den türkischen Namen Lapta besaß, war über die vergangenen Jahrhunderte eine gemischte Siedlung, in der die griechische Bevölkerung allerdings immer die Mehrheit stellte. Die türkischen Zyprioten hatten das Dorf bereits nach den innerzyprischen Unruhen im Januar 1964 verlassen – und sie kehrten auch nach Beruhigung der Lage nicht wieder zurück. Somit war der Ort zum Zeitpunkt der türkischen Invasion 1974 nur noch von griechischen Zyprioten bewohnt.32 Der griechische Friedhof wurde nach der Besetzung des Ortes massiv geschändet. So wurden auch hier die Gräber geöffnet und die Grabkreuze abgeschlagen. Häufig befinden sich die abgeschlagenen Grabkreuze auch nicht mehr in der Nähe des ursprünglichen Sockels. Sie wurden in einem weiteren Akt der Verwüstung entweder auf einen Haufen oder in geöffnete Gräber geworfen. Mit einem ähnlichen Ausmaß an Zerstörung wird man auf dem griechischen Friedhof des Nachbarortes von Lapithos/Lapta konfrontiert (Abb. 7 und 8). Das Dorf Karavas (Καραβάς) liegt ca. 12 km westlich von Kyrenia und wird gemeinhin als Schwesterort von Lapithos bezeichnet. Das Dorf wurde bis 1974 fast ausschließlich von griechischen Zyprioten bewohnt. Nach der Besetzung wurde Karavas dann von geflüchteten türkischen Zyprioten als neuer Wohnort übernommen. Diese stammten zum überwiegenden Teil aus Dörfern in der Nähe von Paphos an der Westküste Zyperns. 1975 wurde der Ortsname dann in Alsancak geändert, was im Türkischen so viel wie „rote Fahne“ bedeutet.33 Auf dem Friedhof wurden die zum Teil äußerst massiven Gräber mit ihren schweren Grabplatten direkt an der Küste. Weitere Daten und Informationen zum Ort sind online abrufbar unter: http://www.priocyprus-displacement.net/default.asp?id=627 [zuletzt abgerufen am 13.07.2015]. 32 Weitere Daten und Informationen zum Ort sind online abrufbar unter: http://www.priocyprus-displacement.net/default.asp?id=451 [zuletzt abgerufen am 13.07.2015]. 33 Weitere Daten und Informationen zum Ort sind online abrufbar unter: http://www.priocyprus-displacement.net/default.asp?id=440 [zuletzt abgerufen am 13.07.2015]. 31
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Abb. 6: Zerstörter griechisch-zypriotischer Friedhof von Lapithos (2009) mit geöffneten Gräbern und abgeschlagenen Grabkreuzen. Foto: Grethe van Geffen.
Abb. 7: Zerstörter griechisch-zypriotischer Friedhof von Karavas (2009) mit zerstörtem Grab. Foto: Grethe van Geffen.
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Abb. 8: Zerstörter griechisch-zypriotischer Friedhof von Karavas (2009) mit zerstörten und auf einen Stapel geworfenen Grabkreuzen. Foto: Grethe van Geffen.
Abb. 9: Griechisch-zypriotischer Friedhof von Lefkoniko (2009) mit zerstörten Gräbern und Grabkreuzen im Eingangsbereich des Friedhofs. Foto: Grethe van Geffen.
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Abb. 10: Griechisch-zypriotischer Friedhof von Lefkoniko (2009) mit relativ vielen erhaltenen Grabkreuzen in den hinteren Bereichen des Friedhofs. Foto: Grethe van Geffen.
Abb. 11: Ehem. Siedlungsgebiet von Agioi Iliofotoi (2015), wo nur noch die griechische Wallfahrtskirche erhalten ist. Foto: Vf.
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so stark zerstört, dass schließlich das Grab selbst offen da lag. Auch in Karavas wurden die Grabkreuze abgeschlagen und dann zum Teil achtlos aufeinander geworfen, sodass der Eindruck von „Schutthaufen“ entstand. Direkt an die Mauern des geschändeten griechischen Friedhofes grenzt heute der türkische Friedhof von Karavas. Von mutwilligen Zerstörungen weitgehend verschont geblieben ist hingegen der griechische Friedhof in Lefkoniko (Λευκόνοικο), von den türkischen Zyprioten heute als Geçitkale34 bezeichnet (Abb. 9 und 10). Die ursprüngliche türkische Bezeichnung lautete Lefkonuk. Dieser gut 20 Kilometer nordwestlich von Famagusta gelegene Ort war bis zum Jahr 1960 sowohl von griechischen als auch türkischen Zyprioten bewohnt, wobei die griechischen Bewohner immer den deutlich größeren Anteil der Bevölkerung darstellten. 1974 lebten nur noch griechische Zyprioten in dem Ort, die im Sommer des Jahres dann vor der anrollenden türkischen Armee in den Süden der Insel flüchteten. In dem verlassenen Ort ließen sich dann hauptsächlich türkische Zyprioten nieder, die aus dem Ort Kofinou im Süden der Insel geflohen waren. Der griechische Friedhof von Lefkoniko wurde ebenfalls in großen Maße zerstört. Hier sind schwere Zerstörungen an den Gräbern und vielen Grabsteinen festzustellen. Dennoch bildet er eine Ausnahme, insofern hier sehr viele Grabkreuze – wenn auch sehr provisorischer Natur – wieder aufgerichtet worden sind. Aufgrund von Beschädigungen und eindeutigen Bruchmarken an den Kreuzen, aber auch der Tatsache geschuldet, dass die Fundamente dieser Kreuze nicht mehr in der Erde verankert sind, ist davon auszugehen, dass auch dieser Friedhof zuvor in Gänze zerstört worden war.35
Der Umgang mit den türkisch-zypriotischen Friedhöfen im Süden Zyperns Werfen wir nun einen Blick auf den Umgang mit den türkischen Friedhöfen im Süden der Insel nach 1974. Hier zeigt sich, dass man hier anders mit diesen religiösen Stätten umgegangen ist als im Norden. Während im Norden fast die gesamten griechischen Friedhöfe massiv zerstört und geschändet worden sind, gibt es im Süden kaum Hinweise auf mutwillige und systematische Zerstörungen der türkischen Begräbnisstätten. 34
Weitere Daten und Informationen zum Ort sind online abrufbar unter: http://www.priocyprus-displacement.net/default.asp?id=590 [zuletzt abgerufen am 13.07.2015]. 35 Ein ähnlicher Zustand konnte bisher nur für die Friedhöfe von Gypsou (5 km östlich von Lefkoniko gelegen) und Rizokarpaso (auf der Karpass-Halbinsel gelegen) dokumentiert werden. In Rizokarpaso kann dies darauf zurückgeführt werden, dass dort noch eine kleine griechisch-zypriotische Minderheit lebt und der Friedhof aktiv genutzt wird. Welchen Hintergrund das Aufrichten der Grabkreuze auf den griechischen Friedhöfen von Lefkoniko und Gypsou hat, ist zur Zeit noch nicht abschließend zu klären.
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In den Kriegswirren ist es auch auf Seiten der griechischen Zyprioten zu Übergriffen auf religiöse Einrichtungen der türkischen Mitbewohner gekommen. Allerdings hat sich die Regierung der Republik Zypern bereits kurz nach der Wiederherstellung der verfassungsgemäßen Ordnung darum bemüht, in allen Bereichen gemäß der internationalen Konventionen zu agieren. Dies wurde auch vom UNESCO-Beauftragten Dalibard bestätigt. Nach einem Interview mit der St. Petersburg Times (Florida) im Jahr 1976 wird Dalibard folgendermaßen wiedergegeben: „He [Dalibard] said that there also has been desecration of Turkish churches in the Greek-occupied section of the island. But, he said, Greek authorities ‚are making a real effort to restore some of the damaged churches.‘“36 Eines der wenigen negativen Beispiele für den Umgang mit dem religiösen Erbe der türkischen Zyprioten stellt der kleine Ort Agioi Iliofotoi (Άγιοι Ηλιόφωτοι) in der Nähe von Kato Moni im Nikosia-Distrikt dar. Der im Türkischen Alifodez bzw. Zeytinlik genannte Ort wurde bis zu den Unruhen des Jahres 1964 allein von türkischen Zyprioten bewohnt. Infolge der innerzypriotischen Unruhen verließen diese Einwohner das Dorf, das danach zusehends verfiel. Von Behördenseite wurde in diesem Fall nicht viel unternommen, um den Ort zu erhalten. Statt ihn zumindest notdürftig zu sichern, wurde er in den 1980er Jahren dem Erdboden gleichgemacht. Von den türkischen Wurzeln dieses Ortes ist heute nichts mehr zu sehen. Lediglich eine alte griechische Wallfahrtskirche, die sich dort seit 1881 befindet und direkt an das Dorf angrenzte, ist erhalten worden (Abb. 11). Zu den Gründen, warum dieser Ort – und somit auch Moschee und Friedhof – völlig ausgelöscht wurden, finden sich bei Constantinou et al. (2010) verschiedene Darstellungen. Ob es zutrifft, dass ein naher Steinbruch die Fundamente derart stark beschädigt hatte, dass kein Erhalt mehr möglich war, oder dass die zypriotische Armee nach einer Übung dort nur noch Schutthaufen hinterlassen hatte, dürfte nur schwer zu klären sein. Allerdings ist festzustellen, dass kein Ortsschild (mehr) auf den ehemaligen Ort hinweist.37 Normalerweise sind selbst in den verlassen Orten im Süden Zyperns Ortsschilder angebracht, auch wenn in manchen dieser Dörfer nur noch wenige, kaum erkennbare Ruinen vorhanden sind.38 Die Diskussion, ob der zypriotische Staat verpflichtet ist, verlassene Dörfer und Wohngebiete zu schützen und zu erhalten, wird je nach Sichtweise energisch geführt. Eine nähere Befassung mit dieser Thematik würde den Rahmen dieser Darstellung allerdings sprengen. Es sei an dieser Stelle aber auch angemerkt, dass nicht nur Siedlungen, die ehemals allein von türkischen Zyprioten bewohnt waren, verfallen. Das gut 15 km südöstlich von Nikosia gelegene Dorf Agios Sozo36
SP Times 1976, 7A. Eine ausführliche Darstellung der Geschichte des Ortes Agioi Iliofotoi findet sich bei Constantinou et al. 2010, 1608–1617. 38 Als Beispiel hierfür seien die Orte Souskiou im Paphos-Distrikt oder Alevga im NikosiaDistrikt genannt.
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Abb. 12: Grab mit Erosionsschäden durch rostigen Armierungsstahl auf dem türkischzypriotischen Friedhof von Kofinou (2015). Foto: Vf.
Abb. 13: Aufwändigere Gräber auf dem türkisch-zypriotischen Friedhof von Kofinou (2015); im Hintergrund ein einfaches Grab aus Ziegelgittersteinen. Foto: Vf.
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menos (Άγιος Σωζόμενος) ist ein gemischt besiedeltes Dorf gewesen, aus welchem sowohl die türkischen als auch die griechischen Bewohner während der innzypriotischen Unruhen 1964 flüchteten – ohne später zurückzukehren. Heute sind im ehemaligen Siedlungsgebiet fast nur noch die stark zerfallenen Ruinen der alten Häuser zu sehen.39 Es scheint sich so zu verhalten, dass die türkischen Friedhöfe im Süden keiner mutwilligen Zerstörung zum Opfer gefallen sind. Nach den bisherigen Untersuchungen lassen sich lediglich Spuren des natürlichen Verfalls registrieren. Als Beispiel hierfür ist der türkische Friedhof im Ort Kofinou (Κοφίνου) zu nennen. Dieser im Süden der Insel zwischen den Städten Limassol und Larnaka gelegene Ort war über die Jahrhunderte bis zur Staatsgründung 1960 gemischt bewohnt, wobei die türkischen Zyprioten stets die Bevölkerungsmehrheit stellten. Die türkische Ortsbezeichnung lautete bis 1958 Köfünye, danach wurde der Alternativname Geçitkale genutzt. Seit den innerzypriotischen Unruhen in den 1960er Jahren wurde Kofinou zunehmend als militärisches Hauptquartier der türkischzypriotischen Enklave in Larnaka genutzt und in den 1970er Jahren bewohnten schließlich nur noch türkische Zyprioten den Ort.40 In Kofinou existiert zudem ein Ehrenfriedhof, der zwar in den allgemeinen Teil des türkischen Friedhofs integriert wurde, als besonderer, abgetrennter Bereich aber nur über einen separaten Zugang von außen zu betreten ist. Dieser separate Teil wurde offenbar gefallen Kämpfern der türkischen Untergrundorganisation TMT gewidmet,41 die in diesem Gebiet während der interkommunalen Unruhen in den 1960er Jahren eine Art Stützpunkt unterhielt.42 Um die Geschichte des Friedhofs genau nachzeichnen zu können, sind allerdings weitere Nachforschungen anzustellen. Es fällt auf, dass – im Gegensatz zu den meisten anderen türkischen Friedhöfen im Süden – sowohl im bereits erwähnten gesonderten Teil als auch im allgemeinen Teil des Friedhof keine einzige senkrecht stehende Kopf-Stele mehr vorhanden ist und die Überreste sehr kleinteilig zerfallen sind. Hierfür verantwortlich ist offenbar eine Mischung aus natürlicher Verwitterung und Materialschwäche, die auch auf anderen türkischen wie auch griechischen Friedhöfen anzutreffen ist. Der zur Armierung eingesetzte Stahl ist in den in der Regel gegossenen Grabaufbauten meist stark gerostet und hat das umgebende Material im Laufe der 39
Nach dem Zensus von 2011 waren im Verwaltungsgebiet von Agios Sozomenos lediglich elf Personen gemeldet, CyStat 2015, C1. Daten und Informationen zum Ort sind online abrufbar unter: http://www.prio-cyprus-displacement.net/default.asp?id=261 [zuletzt abgerufen am 13.07.2015]. 40 Weitere Daten und Informationen zum Ort sind online abrufbar unter: http://www.priocyprus-displacement.net/default.asp?id=375 [zuletzt abgerufen am 13.07.2015]. Zur Bedeutung des Ortes für die türkischen Zyprioten vgl. auch Richter 2009, 99–133. 41 So weisen die Überreste des über dem Eingang angebrachten Wappens darauf hin, dass es sich um eine Anlage der TMT handeln muss. 42 Zu den Auseinandersetzungen in und um Kofinou in den 1960er Jahren ausführlich Richter 2009, 98–133.
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Abb. 14: Türkisch-zypriotischer Friedhof am Ortseingang von Klavdia (2015). Foto: Vf.
Zeit regelrecht gesprengt (Abb. 12). Dass es sich in Kofinou ganz offensichtlich um natürliche Verwitterungsprozesse handelt, lässt sich auch durch die Aussage eines betroffenen Zyprioten belegen: Die renommierte zypriotische Journalistin Sevgül Uludağ gibt in einem im Juni 2015 erschienenen Beitrag die Aussage eines türkischen Zyprioten wieder, der kurz nach der Grenzöffnung im Jahr 2003 den Friedhof in Kofinou besuchen wollte, sich dann allerdings doch anders entschied und erst im Jahr 2012 dorthin reiste: „When the checkpoints opened we wanted to come with my father to find my grandfather’s grave but quite a few Turkish Cypriots discouraged us from going (…) They said, ‘Greek Cypriots went with a shiro (bulldozer) to the Kofinou cemetery and destroyed all the graves!’ and we believed them and did not go! But he would see today [2012] with his own eyes that these had been lies: When we find the cemetery he exclaims, ‘Oh my God! Everything is as we left it! Nothing has been touched!’ “43 Nach mehrfacher Besichtigung des türkischen Friedhofs von Kofinou ist sehr sicher festzustellen, dass die vorgefundenen Gräber keine Beschädigungen aufweisen, die über den natürlichen Verfall – verursacht durch Pflanzenwachstum, Bodenerosion oder Materialermüdung – hinausgehen (Abb. 13). Auch auf den über 20 türkischen Friedhöfen, die ich im Süden der Insel bisher besichtigt habe, lassen sich keine systematischen und mutwilligen Zerstörungen feststellen.44 Sie weisen aber aufgrund der langen Zeitspanne zum Teil starke Ver43 44
Uludağ 2015. Bis zum Abschluss dieses Beitrags (Anfang Oktober 2015) habe ich mehr als 30 ehemals rein
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witterungsschäden auf. Somit könnte der griechischen Seite einzig die zum Teil starke Vernachlässigung dieser Orte zum Vorwurf gemacht werden (Abb. 14–16).
Politische Intentionen Mit Blick auf die Gesamtsituation stellen sich natürlich verschiedene Fragen. So zum Beispiel, welche Absichten die beiden Volksgruppen, aber auch die weiteren involvierten Akteure mit dem von ihnen gewählten Umgang mit dem religiösen Erbe auf der Insel verfolgten? Wieso versuchte die UNESCO nicht energischer, auf den Schutz des kulturellen und religiösen Erbes hinzuwirken? Wo liegt die Ursache, dass in den letzten Jahren zahlreiche vertrauensbildende Maßnahmen getroffen wurden, aber offensichtliche Missstände, wie etwa der Zustand der Friedhöfe und Gotteshäuser, in diesem Rahmen kaum eine Rolle gespielt haben? Auch muss die Frage gestellt werden, warum sich bis heute kaum etwas am desolaten Zustand der griechischen Friedhöfe im Norden geändert hat – können die griechischen Zyprioten doch seit dem Jahr 2003 die Orte im besetzten Norden und somit auch die Friedhöfe dort aufsuchen? Auf viele dieser Fragen sind zurzeit noch keine klaren Antworten möglich. Deutlich zu erkennen ist jedoch, dass das religiöse Erbe und sein Erhalt bzw. Nicht-Erhalt von beiden Seiten für die eigene politische Zielsetzung genutzt wurde – und noch wird. So verweisen die türkisch-zypriotischen Hardliner gern darauf, dass mit der Teilung der Insel eine pragmatische Lösung gefunden sei. Die Verluste, die die Inseltürken im Süden erlitten hätten, wären durch die Übernahme griechischen Besitztums und den Neubau kultureller und religiöser Einrichtungen in den nördlichen Gebieten lediglich kompensiert worden. Nur wirklich bedeutende griechische Bauten im Norden der Insel, zum Beispiel aus byzantinischer Zeit, seien demnach erhaltenswert. Zudem vertreten viele stark rechts-nationalistisch eingestellte türkische Zyprioten die Meinung, dass man die verlassenen Gebiete im Süden nicht zurückersehnen sollte, da die neue Heimat aller türkischen Zyprioten im Norden liege.45 Wie zwiespältig die Politik der türkisch-zypriotischen Administration im Bereich des religiösen Erbes ist, lässt sich an einem Beispiel darstellen: Ein türkischzypriotischer Hotelbesitzer wollte einen geschändeten und zerstörten griechischen Friedhof, der sich in Sichtweite seiner Hotelanlage befindet, wiederherrichten lassen, da dieser Anblick seiner Meinung nach beschämend für das Ansehen türkische oder gemischte Dörfer im gesamten Süden Zyperns besucht und dabei eine Bestandsaufnahme von 22 türkischen Friedhöfen gemacht. Dank der Unterstützung der Franzund-Eva-Rutzen-Stiftung konnte im Oktober und November 2015 ein Projekt begonnen werden, das u. a. eine weitere, umfassendere Bestandsaufnahme sowohl der türkischen Friedhöfe im Süden als auch der griechischen Friedhöfe im Norden der Insel zum Ziel hat. 45 Vgl. Constantinou et al. 2010, 1613–1615.
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Abb. 15: Eingang zum türkisch-zypriotischen Friedhof von Agios Nikolaos (2015). Foto: Vf.
Abb. 16: Türkisch-zypriotischer Friedhof von Agios Nikolaos (2015). Foto: Vf.
der türkischen Zyprioten sei. Vom zuständigen Amt wurde ihm dies jedoch untersagt. Die Begründung lautete, es handele sich bei diesem Friedhof um kulturelles Erbe der griechischen Zyprioten, das nicht verändert werden dürfe!46 46
E-Mail vom 3. Juni 2015 einer Nordzypern-Kennerin an den Vf.
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Abb. 17: Verwilderte Grabstelle auf dem türkisch-zypriotischen Friedhof von Mari (März 2015). Foto: Vf.
Abb. 18: Wiederhergerichtete Grabstellen (vgl. Abb. 17) auf dem türkisch-zypriotischen Friedhof von Mari; rechts das neu aufgestellte Grabmal (September 2015). Foto: Vf.
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Auf der griechischen Seite geht man einen gänzlich anderen Weg. Zerstörte oder beschädigte Einrichtungen der türkischen Zyprioten wurden wiederaufgebaut oder instand gesetzt. So werden zum Beispiel fast sämtliche Moscheen im Süden erhalten – wenn auch manchmal nur sehr notdürftig. Auch die Umfriedungen der türkischen Friedhöfe wurden in einigen Fällen erhalten bzw. komplett erneuert. Diese Maßnahmen zielen natürlich darauf ab, den politischen Willen zu zeigen, dass man zu einer Lösung des Zypernproblems kommen möchte, welche die alten Strukturen berücksichtigt. Durch die Erhaltungsmaßnahmen soll auch auf internationaler Bühne signalisiert werden, dass man nicht nur das kulturelle Erbe der Türken im Süden der Insel schützt, sondern dass eine Rückkehr der geflüchteten türkischen Zyprioten in ihre angestammten Wohngebiete sogar möglich sei. Außerdem kann auf diese Weise auf die massive Zerstörung des eigenen religiösen Erbes im Norden der Insel hingewiesen werden – ohne ähnliche Anschuldigungen von türkischer Seite her ausgesetzt zu sein.
Kurzer Ausblick Die Problematik mit dem Umgang des religiösen Erbes und somit auch der Umgang mit den Friedhöfen der jeweils anderen Volksgruppe auf Zypern werden wohl solange bestehen bleiben, bis man zu einer einvernehmlichen Lösung der Zypernfrage gelangt ist. Allerdings gibt es – wenn auch kleine – Anzeichen eines Umdenkens in dieser Angelegenheit. Ein Steinmetz aus dem Norden und ein Steinmetz aus dem Süden haben eine Initiative gestartet, die darauf abzielt, die Friedhöfe der jeweils anderen Volksgruppe zu pflegen und instand zu setzen. Es besteht u. a. die Möglichkeit, die Restaurierung oder Erneuerung der Grabdenkmäler in Auftrag zu geben.47 So wurde erst im Sommer 2015 auf dem türkischen Friedhof des an der Südküste gelegenen Dorfes Mari48 ein im Norden der Insel angefertigtes Grabmal aufgestellt, und die umliegenden Gräber wurden, soweit möglich, hergerichtet (Abb. 17–18). Es wäre zu wünschen, dass derartige bikommunale Initiativen ein größeres Maß an Aufmerksamkeit fänden und somit das Bemühen um einen sorgsamen Umgang mit dem jeweiligen religiösen Erbe der jeweils anderen Volksgruppe stärken würden. 47 48
Cyprus Mail 2014. Mari war bis 1974 ein gemischt besiedeltes Dorf, in dem die türkische Bevölkerung seit jeher die Mehrheit stellte. Im Jahr 1973 war Mari nur noch von türkischen Zyprioten bewohnt. Weitere Daten und Informationen zum Ort sind online abrufbar unter: http://www.priocyprus-displacement.net/default.asp?id=378 [zuletzt abgerufen am 13.07.2015].
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Anonymer Tod
Linda-Marie Günther Der Tod im Meer – aphaneis und kenotaphia Zusammenfassung Aphaneis – Tote, die infolge von Schiffsbruch, Piratenüberfall oder sonstigem Unfall im Meer ertrunken waren oder auf einem Schlachtfeld vermisst wurden – haben in der griechischen Antike normalerweise keine bzw. keine die herkömmlichen Rituale wahrenden Beisetzungen erfahren. Ihnen war gleichsam Leichenschändung durch die Naturgewalten zugestoßen, wodurch sie ein vergleichbares Schicksal erlitten wie von ihrer politischen Gemeinschaft verurteilten, etwa hingerichtete Menschen, denen eine würdige Bestattung verweigert wurde. Wenn den aphaneis von ihren Verwandten Kenotaphia (‚Leergräber‘) errichtet wurden, hing diesen doch die negative Konnotation des entwürdigenden Todes an. In diesem Beitrag wird zunächst nach der sepulkralen Mentalität der griechisch-hellenistischen Mittelmeeranrainer bei der Erinnerung an im Meer Verunglückte gefragt und dazu literarische Zeugnisse, nämlich vornehmlich hellenistische Grabepigramme, mit entsprechenden epigraphischen Dokumenten verglichen. Auf den Hintergrund der hierbei gewonnenen Erkenntnis, dass es keinen Wandel im Verlauf der Jahrhunderte gegeben zu haben scheint, empfiehlt sich eine Re-Lektüre und partielle Neuinterpretation des Berichts Xenophons über die sog. Arginusen-Affäre. Dieser politische bzw. Justizskandal im Athen des späten 5. Jh. v. Chr., hatte sich an den Ertrunkenen der Seeschlacht bei den ArginusenInseln (406 v. Chr.) entzündet und stellt den singulären Fall eines Konfliktes um aphaneis dar.
Vorbemerkung Zum Konnex zwischen mediterraner Mobilität und Sepulkralkultur kann der Althistoriker so einiges beitragen. Dass selbst Grabstätten nicht Orte ‚ewiger Ruhe‘ waren, zeigt sich in der Geschichte der griechischen Poleis, wo in einer massiven bürgerkriegsartigen Auseinandersetzung (stasis) auch nicht vor der Totenruhe Halt gemacht wurde.1 Ein bekanntes Beispiel ist im späten 7. Jh. v. Chr. der Umgang der Athener mit der Familie des Archonten Megakles, dem die frevelhafte Tötung der Putschis1
Vgl. Gehrke 1985, 245–254 zu „Symptomen besonderer Desintegration“.
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ten um Kylon zur Last gelegt wurde:2 Die lebenden Angehörigen der angesehenen Familie wurde verbannt, d. h. ausgebürgert, die toten Angehörigen wurden aus ihren Grablegen gerissen, ihre Überreste verstreut.3 Damit wurden gleichsam auch die Verstorbenen mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft bestraft, ihnen wurde im Nachhinein das ehrenvolle Begräbnis verweigert. Die Schändung der Alkmeonidengräber entspricht damit als Strafe in etwa dem Talionsprinzip: So wie den Kylonanhängern im Heiligtum die Zugehörigkeit zu den Lebenden verwehrt wurde, so wurde den Toten der Alkmeoniden der sakrale Raum der Grabstätten verwehrt. Mit dem physischen Tod oder mit dem sozialen, den der Ausschluss aus der Bürgergemeinschaft dezidiert bezweckte, wurde bereits in der frühen griechischen Staatenwelt bestraft, wer einen heimtückischen Mord begangen hatte, etwa eine Tötung im Schutzbereich einer Gottheit.4 Freilich sind Nichtbestattung von Toten oder deren schändende Exhumierung ebenso Freveltaten gegen die Götter, werden aber zur Bestrafung von Ungehorsam gegen die Polis und ihre Gesetze sanktioniert. Indem der – im Einzelnen wie auch immer motivierte – kollektive Verzicht auf eine ehrenhafte Bestattung die Toten wie Frevler aus der Gemeinschaft ausschließt, wurde üblicherweise alles daran gesetzt, besonders die eigenen Kriegstoten in angemessener würdevoller Weise beizusetzen. Wie ernst diese Pflicht genommen wurde, zeigt die Geschichtsschreibung mit den Berichten über die Bergung der Gefallenen nach einer Schlacht.5 Den locus classicus bietet Thukydides mit der Schilderung der Bestattung der Gefallenen des ersten Jahres (431/0 v. Chr.) im Peloponnesischen Krieg, bei der Perikles die Leichenrede (epitaphios) hielt.6 Der athenische Historiker unterrichtet uns dabei auch über das vorangegangene Aufbahrungsritual, bei dem die Toten zwar phylenweise gruppiert waren, es aber auch einen eigenen Platz für die Verschollenen (aphaneis) gab.7 2
Herodot 5, 70–72; Thukydides 1, 126; Plutarch, Solon 12; vgl. Welwei 1992, 135 zur wohl erst späteren Überlieferung über die Bestrafung der Alkmeoniden. 3 Plutarch, Solon 12, 4: „Myron von Phlya führte die Anklage, und die Männer (i. e. die Alkmeoniden) wurden verurteilt. Die Lebenden verließen das Land, und die Leichname der Verstorbenen wurden ausgegraben und über die Grenzen geworfen.“ 4 Dieses Motiv findet sich prominent in Sophokles’ Drama Antigone: Die junge Thebanerin will es nicht hinnehmen, dass ihr im Kampf gegen die Heimatstadt gefallener Bruder als Feind der Polis nicht bestattet werden darf. 5 Beispielsweise seien hier genannt: Thukydides 1, 50: Nach der Schlacht bei den Sybota-Inseln bergen die siegreichen Korinther ihre Schiffstrümmer und Toten; Thukydides 1, 54: die Kerkyräer sammeln die Schiffstrümmer und Toten auf, die von der Schlacht bei den SybotaInseln durch nächtlichen Wind bis an die Küste Kerkyras gespült worden waren; Thukydides 8, 106: Die Athener sammelten nach der siegreichen Schlacht am Hellespont bei Kynossema die Schiffstrümmer ein und erlaubten auch ihren Feinden, ihre Toten zu bergen. 6 Thukydides 2, 35–46. Die Literatur zur Gefallenenrede des Perikles ist umfangreich. Für eine erste Orientierung sei empfohlen Sonnabend 2004, 85–91 (mit Literaturangaben). 7 Thukydides 2, 34, 3: „Und eine verdeckte Bahre wird leer mitgeführt, für die Vermissten, die
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Der sich nahezu 30 Jahre hinziehende Peloponnesische Krieg wurde schließlich in den Gewässern vor der Küste Ioniens und am Hellespont entschieden; im Sommer 406 v. Chr. kam es bei den Arginusen, einer zwischen Lesbos und Chios gelegenen Gruppe kleiner Inselchen, zu einer für die Athener sieg- aber auch verlustreichen Seeschlacht.8 Sie soll uns beschäftigen, weil ihr eine unerhörte politische Affäre folgte: Die siegreichen Feldherren (strategoi) wurden von ihren Mitbürgern zum Tode verurteilt und stante pede auch hingerichtet, weil sie nach dem Ende der Seeschlacht nicht, wie es ansonsten üblich war, die Überlebenden respektive die Toten von den gesunkenen Kriegsschiffen geborgen hatten.9 Der Grund hierfür lag in einem heraufziehenden schweren Unwetter, so dass die Suche nach den Besatzungen der eigenen 25 verlorenen Schiffe – mithin nach rund 5.000 Personen –, für die zunächst 47 Trieren ausfahren sollten, abgeblasen wurde. Obgleich einige Athener, unter ihnen der als Ratsherr amtierende Philosoph Sokrates, in der damaligen Situation die Entscheidung der Feldherren angesichts der ‚höheren Gewalt‘ für gerechtfertigt hielten, eskalierte der Justizskandal jenes Jahres bis zur Hinrichtung der Arginusen-Strategen. Die Frage, wie der ‚nasse Tod‘ zahlreicher Marinesoldaten zu jenem schweren politischen Konflikt führen konnte, soll erst im Anschluss an die folgenden mentalitätsgeschichtlichen Ausführungen über die generelle griechische Wahrnehmung der im Meer Verunglückten beantwortet werden.
Grabepigramme auf ‚Tote aus dem Meer‘ In der griechischen Antike wurden üblicherweise Gräber durch eine Stele markiert, deren Aufschrift den Besucher bzw. Passanten über die verstorbene Person informierte. Vornehme oder begüterte Familien ließen die Grabstelen ihrer Angehörigen mit bildlichem Dekor (Malerei, Relief) verzieren oder sorgten für die Anbringung mehr oder weniger langer Grabgedichte, die beredt über das Schicksal der Toten und die Trauer der Hinterbliebenen Zeugnis ablegten.10 Solche Grabepigramme sind anonym; in einzelnen Fällen, etwa bei Kriegsgräbern, ist der Verfasser indessen literarisch überliefert,11 doch erst im Verlauf des 4. Jh. v. Chr. man nicht auffinden und zur Bestattung hat mitnehmen können.“ Vgl. dazu Bleckmann 1998, 104–114. 9 Xenophon, Hell. I 6, 33–7, 34; Diodor 13, 97–102. – Zur Literatur s. u. S. 312 Anm. 48. 10 Bei Peek 1955 sind sowohl epigraphisch als auch literarisch überlieferte Grabgedichte gesammelt. 11 Vom Grabmal für die bei Salamis (480) gefallenen Korinther ist auf Salamis ein Marmorblock erhalten mit dem Epigramm „[Fremdling,] einst bewohnten wir die [wasserreich]e Stadt Korinth, / [jetzt birgt uns die Aias]s-[Insel Salamis].“ (HGIÜ Nr. 36), dessen Text nach Plutarch, De malignitate Herodoti 38 und Ps.-Dion Chrysostomos 37, 18 ergänzt ist. Der spätantike Autor überliefert, dass der Autor des Epigramms Simonides von Keos gewesen sei. – Auch das Denkmal der Megarer für ihre im Perserkrieg Gefallenen (von 479) ist von Simonides, wie 8
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entwickelte sich das Grabepigramm zu einem neuen poetischen Genre. Die Frage, ob die literarische Qualität realer Versgedichte für Grabmäler zur Publikation dieser Epigramme bzw. auch zur Kreation fiktiver Gedichte angeregt haben mag oder ob die wachsende Beliebtheit dieser Dichtung zu ihrer Verwendung auf Grabstelen geführt haben könnte, ist in der bisherigen Forschung nicht erörtert worden und soll auch hier nicht diskutiert werden. Allerdings möchte ich annehmen, dass es durchaus wertgeschätzte anonyme Grabgedichte gab, die renommierten Autoren zugeschrieben wurden. Manche Epigramme können leicht als anachronistische Fiktion erkannt werden, beispielsweise ein unter dem Namen Sapphos tradiertes Gedicht.12 In manchen Fällen ließen sich Autoren von einem besonders gelungenen Grabgedicht eines Kollegen zu einer eigenen Verskompositionen auf denselben Toten anregen; hier seien exempli gratia zwei Epigramme für einen gewissen Kallaischros genannt, das erste von Leonidas aus Tarent (1. H. 3. Jh. v. Chr.),13 das zweite rund 250 Jahre später aus der Feder von M. Argentarius (2. H. 1. Jh. v. Chr.).14 Literarisch tradierte Grabgedichte für im Meer Ertrunkene lassen sich in fünf Gruppen unterteilen: aus der Inschrift selbst hervorgeht, die allerdings eine Wiederaufzeichnung des Epigramms ist und nach den Buchstabenformen in das 4.–5. Jh. n. Chr. datiert werden muss (vgl. HGIÜ Nr. 43): „Das Epigramm für die, die im Perserkrieg fielen und die / hier als Heroen liegen, das mit der Zeit untergegangen ist, hat Helladios der Oberpriester aufschrei/ben lassen zur Ehre derer, die (hier) liegen, und der Stadt. Simonides / hat (es) verfasst: «Hellas und den Megarern den Tag der Freiheit zu mehren / bemüht haben wir des Todes Anteil empfangen: / manche bei Euboia und Pelion, wo man nennt / der reinen Artemis, der Bognerin, heiligen Bezirk, / manche am Mykaleberg, manche vor Salamis / (der phoinikischen Schiffe Kriegsmacht vernichtend (?)) / manche in der böotischen Ebene, die es wagten / Hand anzulegen an Männer zu Pferd; / Bürger haben uns diese [gemeinsame] Ehrengabe um den Altar auf dem volkreichen Markt der Nisaier gewährt.» / Bis in unsere Tage opfert die Stadt (ihnen als Heroen) einen Stier.“ 12 Anth. Gr. VII 505: „Vater Meniskos setzte aufs Grab des Fischers Pelagon / womit er hart durchs Leben sich schlug.“ – Vgl. dazu das Grabepigramm eines anonymen Dichters (Anth. Gr. VII 279): „Male doch bitte nicht länger Ruder und Schnabel des Schiffes / hier auf das Grabmal, in dem kalt nur der Aschenrest ruht! / Schiffbruch erlitt er. Soll er denn, unter der Erde schon liegend / ständig gedenken des Leids, das ihm die Wogen getan?“ – Gern verfassten Dichter Epigramme auf historisch bedeutsame Personen, etwa Dichterkollegen: vgl. Anth. Gr. VII 25–31 (auf Anakreon). 13 Anth. Gr. VII 273: „Ein übermächtig herniederfahrender Sturmstoß des Euros, / Nacht und Wogen, so schwarz, wie sie Orion uns lässt, / waren mein Tod. Ich, Kallaischros, musste scheiden vom Leben, / als ich eilig dem Kurs folgte auf Libyscher See. / Immer noch treibe ich auf den Wellen, den Fischen zur Beute. / Aber der Grabstein hier sagt schwerlich die Wahrheit, er lügt!“ 14 Anth. Gr. VII 395: „Dieses Leergrab gehört dem Kallaischros. Die mächtige Dünung / auf dem Libyschen Meer zog unterwegs ihn hinab; / während Orion unheilvoll unterging, hatte der Sturmwind / furchtbar die wogende Flut bis in die Tiefen zerwühlt. / Seefische fraßen darauf den im Wasser treibenden Leichnam. / Auch auf der Säule die Schrift ist nur vergebliche Müh.“
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1. für Vermisste (aphaneis), die kein anderes Grab als das Meer haben, 2. für das zumeist in der Nähe eines Strandes oder an einer felsigen Küste gelegene Grab, das den sterblichen, hier angespülten Überresten eines Unbekannten errichtet wurde, 3. für das Grab des an ein Ufer geworfenen Leichnams eines identifizierbaren Fremden, dessen Name (und gelegentlich auch Vatersname) nebst der Heimatstadt angegeben werden konnte, 4. für das Kenotaph eines im Meer verschollenen Toten, der von seinen Angehörigen in der Heimat errichtet wurde, oft wohl aufgrund der Nachricht vom tödlichen Unglück, 5. für das Kenotaph, das in der Fremde für einen im Meer verschollenen Toten von Schicksalsgenossen oder angereisten Angehörigen errichtet wurde. Von einem Sonderfall, der Bestattung eines Schiffbrüchigen in der Heimat, berichtet der Tarentiner Leonidas: Traue auf See nicht den Planken, weder nach Länge noch Tiefe. Ist doch ein einziger Sturm stärker als jegliches Schiff. Eine Bö vernichtete Promachos, jählings entraffte ihn mit der Mannschaft der Schwall tief in den Salzschlund hinab. Doch nicht in allem sann ihm die Gottheit Verderben. In seiner Heimat erhielt er ein Grab, Ehren nach voller Gebühr von den Händen der Lieben; denn hoher Wellengang spülte seinen Leichnam hierher, hoch auf den offenen Strand.15
Bezeichnenderweise wird die Gottheit, die das Verderben verursacht hatte, für die Rettung des Leichnams verantwortlich gemacht: Sie ließ es eben doch nicht zu, dass er kein ehrenvolles Grab in der Heimat erhielt unter Verzicht auf die trauernde Zuwendung der Angehörigen. Damit ist der konstante Tenor der Grabgedichte auf zur See Verunglückte benannt, der in der ersten Gruppe am deutlichsten hervortritt: Ihr faktisches Grab ist das Meer, dessen Wellen die Leichname ebenso schänden wie gefräßige Fische: Weder ein Erdhaufen noch ein paar Steine dienen als Grabmal für Erasippos; das Meer, das mit dem Blick du erfasst, bildet sein Grab. Mitsamt dem Schiffe ist er versunken. Wo sein Leichnam verfault, wissen die Möwen allein.16
Mit drastischen Worten schildert ein Dichter des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, Philippos aus Thessalonike, das schlimme Schicksal des Schiffbrüchigen: 15 16
Anth. Gr. VII 665. Anth. Gr. VII 285 von Glaukos aus Nikopolis.
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Hier am Gestade betrachte die Reste des elenden Menschen, völlig zerfressen und verstreut über umbrandenden Fels! Dort der Schädel, enthaart und mit Stümpfen zerschmetterter Zähne, dort die Hände mitsamt Fingern und Nägeln, je fünf, hier die entblößten Rippen, und da, gegenüber, die Füße, ohne die Sehnen, der Leib ganz auseinandergetrennt. Alle die Teile gehörten einstmals aufs engste zusammen. Glücklich, wer nach der Geburt die Sonne erst gar nicht sieht.17
Hier wie auch in vielen anderen Beispielen nutzt ein Dichter die Auflösung des toten Menschen zu einem sinnlosen Haufen Materie zu einer stark moralisierenden Aussage; beschränkte sich in frühhellenistischer Zeit die Belehrung durch den Dichter auf eher praktische Warnungen,18 wurden diese später – zumal wenn Seereisen zu Handelszwecken genutzt werden – als unheilbringende Habgier kritisiert.19 Sehr allgemein von der Vergänglichkeit des menschlichen Schicksals spricht das – vermutlich zumeist fiktive – Grabgedicht dort, wo ein barmherziger Mitmensch den Überresten des anonymen Fremden mit mehr oder weniger bescheidenen Mitteln die letzte Ehre erwiesen hat; diese Epigramme gehören in die zweite Gruppe und sollen hier erneut mit Kallimachos illustriert werden: Wer, Schiffbrüchiger, bist du? Leontichos fand ihn als Toten hier am Gestade und schuf redlich ein Grab ihm, vergoß Tränen über das eigne vergängliche Leben. Auch selber kann er nicht rasten, durcheilt, Möwen vergleichbar, das Meer.20 17
Anth. Gr. VII 383. – Vgl. Anth. Gr. VII 276 (von Hegesippos, 3. Jh. v. Chr.) mit einem ähnlichen Tenor: „Einen zur Hälfte zerfressenen Leichnam bargen im Netze / Fischer aus salziger Flut, Schiffbruchs kläglichen Rest, / wollten, aus Scheu vor der Sitte, die Beute nicht nutzen. Sie scharrten / Leichnam und Fische zugleich ein an den sandigen Strand. / Erde, du birgst den Ertrunkenen vollständig: Was an dem Leichnam / fehlte, verschlang das Getier, das du mit jenem bedeckst!“ 18 Anth. Gr. VII 272 (von Kallimachos aus Kyrene, 1. H. 3. Jh. v. Chr.): „Lykos, der Naxier, starb nicht zu Lande. Er sah sich auf hohem / Meere mit seinem Schiff bitterem Tode geweiht. / Von Aigina aus war er gesegelt, ein Kaufmann. Im Wasser / treibt er. Ich trage als Grab bloß noch den Namen und muss / künden die leidige Wahrheit: «Meidet die Fluten, ihr Schiffer, / wenn das Sternbild sinkt, das man die Böckchen benennt!»“ 19 Vgl. Anth. Gr. VII 286 (von Antipatros aus Thessalonike, 1. Jh. v. Chr.): „Armer Nikanor, ausgelöscht bist du vom schäumenden Meere, / liegst jetzt, von allem entblößt, ferne an feindlichem Strand / oder auf steiniger Klippe. Dahin dein begüterter Hausstand, / fort die Erwartung, du kämst jemals nach Tyros zurück. / Nichts von der Fülle des Reichtums rettete dich, du ertrankst, / Elender, mühtest dich ab einzig für Fische und Meer!“ – Vgl. Anth. Gr. VII 586 (Julianos aus Ägypten, 5. Jh. n. Chr.): „Weder das Meer noch Winde töteten dich, nein, dein Streben, / das, unersättlich, auf Fahrt Handelsgewinne dir versprach. / Gönne das Festland mir ein bescheidenes Leben – / gefalle andern auf See der Ertrag, den man von Stürmen ertrotzt!“ 20 Anth. Gr. VII 277. – Vgl. Anth. Gr. 350 (von einem Anonymos): „Frag mich nicht, Seemann,
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Die an den Strand gespülten sterblichen Überreste eines Menschen wurden allem Anschein nach in unmittelbarer Nähe des Fundortes bestattet.21 Sofern nicht Name und Herkunft eines am Ufer angespülten und dort beigesetzten Leichnams in Erfahrung gebracht werden konnten, blieb die Familie des Toten über das Grab ihres Vermissten (aphanes) im Unklaren. Im günstigen Fall, den etliche – möglicherweise dennoch fiktive – Versgedichte thematisieren, konnte in der Heimat die Lokalisierung der letzten Ruhestätte des Verunglückten vermeldet werden. Für diese dritte Gruppe der literarischen Grabepigramme seien hier diejenigen für die in der Fremde errichteten Gräber des Milesiers Diphilos und des Kyreners Ariston genannt: Solltet ihr nach Miletos zum Hafen des Phoibos gelangen, bringt dem Diogenes die schmerzliche Botschaft ins Haus: «Schiffbruch erlitt dein Sprößling Diphilos, ruht auf der Insel Andros im Grabe, ertrank hier im Ägäischen Meer.»22 Seeleute, die ihr vorbeifahrt, Ariston, entstammt von Kyrene, bittet euch herzlich, bei Zeus, der uns das Gastrecht beschützt: Meldet dem Vater Menon, dass ich am Ikarischen Felsstrand liege, nachdem ich den Tod fand im Ägäischen Meer!23
In der Heimat eines auf See Verunglückten befand sich dann sein ‚Leergrab‘, an dem die Familie die Trauerrituale vollziehen und ihres Toten gedenken konnte. Die sich darauf beziehenden literarischen Grabepigramme der vierten Gruppe zeichnen sich durch die Nennung präziser Namen und der konkreten Todesumstände aus; sie evozieren damit eine Aura der Authentizität, die – zu Recht oder zu Unrecht – von ihrer Fiktivität ablenkt.24 So ist nicht sicher zu sagen, ob das Versgedicht des Perses aus dem späten 4. Jh. v. Chr. auf einem tatsächlichen Leergrab stand: für wen ich als Grabhügel aufgehäuft wurde! / Mach nur mit wogender See bessre Erfahrung als er!“ 21 Anth. Gr. VII 267 (von Kallimachos’ Zeitgenossen Poseidippos): „Warum begrabt ihr, Matrosen, so dicht mich am Strand? Wo das arme / Grab des Gescheiterten doch weithin landeinwärts gehört! / Schaudern erwecken mir meine Mörder, die rauschenden Wogen. / Trotzdem: Niketas dankt, dass ihr euch seiner erbarmt!“ – Vgl. das Epigramm des aus Sardes stammenden und in der 1. H. des 1. Jh. v. Chr. wirkenden Diodoros Zoas (Anth. Gr. VII 404): „Über dir häufe empor ich den kalten Sand des Gestades / streue ihn über den Leib, der schon im Tode erstarrt. / Deine Mutter sah nicht die Wellen den Leichnam zernagen, / widmete auch nicht am Grab schmerzliche Tränen für dich. / Nein, dich empfangen die öden, unwirtlich steinigen Hänge, / die am Aigaischen Meer langgestreckt bilden den Strand. / Bitte, empfange den spärlichen Sand und die reichlichen Tränen, / Fremdling: Die Handelsfahrt hat gradwegs zum Tod dich geführt.“ – Verwiesen sei hier zudem auf den Beitrag von Jürgen Hasse in diesem Tagungsband. 22 Anth. Gr. VII 631 (von Apollonides aus Smyrna, 1. H. 1. Jh. v. Chr.). 23 Anth. Gr. VII 499 (von Theaitetos aus Kyrene, 1. H. 3. Jh. v. Chr.). 24 Vgl. u. S. 307 Anm. 29 zum Tod der Lysidike aus Kyme.
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Dass der Arkturos, der triefende, unterging – drohendes Zeichen! –, hielt dich, Timotheos, von tödlicher Meerfahrt nicht ab, die dich auf kraftvoll gerudertem Schiffe über des Aigeus Wogen zum Hades geführt, deine Gefährten mit dir. Aristodike und Eupolis, deine Eltern, sie weinen; sie betreuen ein Grab, das doch den Leichnam nicht birgt.25
Ein Kenotaph erhöhte evidenterweise die Trauer der Hinterbliebenen.26 Tatsächlich thematisieren auch epigraphisch überlieferte Grabgedichte den Tatbestand der Leere des Kenotaphs (dazu s. u.), so dass an der geläufigen Betonung der ‚Lügenhaftigkeit‘ der Grabstelle in den literarischen Texten kein Anstoß zu nehmen ist.27 Als weiteres – und m. E. deutlich fiktives – Beispiel trauernder Eltern am unechten Grab bietet sich ein Gedicht des Herakleides aus Sinope an, das weder die Heimat des Schiffbrüchigen noch die Namen der Eltern angibt: Wilder Orkan, ein hoher Seegang, das Licht des Arkturos, dunkel und brandende Flut auf dem ägäischen Meer, all das zerschlug mir die Planken. Dreimal knickte der Mastbaum, dann verschlang mich mitsamt wertvoller Ladung der Schlund. Tränen vergießet um euren Tlesimenes, Eltern, am Strande, wo ihr das Grabmal erbaut, das doch den Zweck nicht erfüllet.28
Präsentieren die Verse auf im Meer Verunglückte, die zur dritten Gruppe der literarischen Zeugnisse gehören, ein Grab, in dem zumindest vorgeblich sterbliche Überreste geborgen waren, so umfasst die fünfte Gruppe Epigramme auf Leergräbern in der Fremde, wie beispielsweise das Gedicht des Samiers Asklepiades: 25
Anth. Gr. VII 539; ob Perses aus Theben oder Makedonien stammte, ist ungeklärt; er gehört aber mit Kallimachos und Poseidonios zu den renommierten frühhellenistischen Dichtern. 26 Vgl. Anth. Gr. VII 537 (von Phanias, aus dem 3. Jh. v. Chr.): „Nicht für den Vater, sondern den schmerzlich betrauerten Sprössling / schüttet Lysis, vor Gram stöhnend, das Leergrab hier auf, / hat nur den Namen bestattet. Die sterblichen Reste des armen / jungen Mantitheos nahm keiner der Eltern zur Hand.“ 27 Vgl. o. S. 302 Anm. 13 und 14 die Gedichte auf Kallaischros. – Epigramme vom so genannten ausschließenden Typus – „nicht das Grab des X, sondern Kenotaph“ – betonen die Lügenhaftigkeit; vgl. dazu Peek 1955, 539–542, wo Nr. 1802–1809 die Gruppe V 8a bilden. 28 Anth. Gr. VII 392; der Dichter lebte in der ersten Hälfte des 1. Jh. v. Chr. – Vgl. auch das Epigramm des Zeitgenossen von Herakleides, des Thessalers Erykios VII 397: „Dieses erbärmliche Grab gehört nicht dem Satyros, Ruhe / bot ihm der Holzstoß auch nicht – wer das berichtet, der irrt. / Nein, falls du hörtest vom furchtbaren Meere, das ungestüm brandet / gegen Mykales Kap, wo nur die Ziege sich nährt: / Ebendort liege ich noch im ruhelos strudelnden Wasser, / schmähe in Ewigkeit den unverwandt rasenden Nord!“ – Die Sinnlosigkeit der Grabinschrift betont VII 274, ein Gedicht des Honestos aus Byzantion (1. H. 1. Jh. n. Chr.): „Timokles nenne ich, halte über die Salzflut nach allen / Richtungen Ausschau: Wo mag bloß der Ertrunkene sein? / Ach, ihn verschlangen bereits die Fische. Ein unnützer Grabstein / bin ich, man meißelte mir sinnlos die Buchstaben ein.“
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Wanderer, der du an meinem leeren Grab vorbeigehst, kommst du nach Chios vielleicht, bring Melesagoras die Botschaft: Den Sohn Euhippos entriss ihm der wütende Euros, Schiff desgleichen und Fracht, ließ nur den Namen zurück.29
Dass die literarischen Epigramme, auch wenn sie nicht an realen Gräbern angebracht waren, Einblicke in die Mentalität und Gefühlswelt ihrer Autoren bzw. ihrer Zeitgenossen geben, zeigt sich an den – wenngleich weniger zahlreich erhaltenen – metrischen Steininschriften auf Ertrunkene, die einst an deren Gräbern bzw. Leergräbern angebracht waren. So befindet sich das früheste Beispiel eines Grabgedichtes für ein Kenotaph in der Fremde an einem Grabbau in Kerkyra aus dem letzten Viertel des 7. Jh. v. Chr.:30 Des Tlasias-Sohnes Menekrates (ist) dieses Mal, eines Oiantheers von Geburt; dies hat ihm das Volk errichtet. Er war nämlich der geschätzte Proxenos des Volkes. Doch auf dem Meer ging er zugrunde, und ein Verlust für das Volk [trat ein, der alle betraf (?)]. Praximenes kam für ihn aus seinem Vaterland und zusammen mit dem Volk setzte dieses Mal für den Bruder.
Dieses Zeugnis ist umso wertvoller, als sich in den vier Bänden der von Reinhold Merkelbach und Josef Stauber übersetzten und kurz kommentierten Inschriften aus Kleinasien und der Levante nur zehn Gedichte finden, die von im Meer Ertrunkenen handeln. Auf diese lässt sich allerdings nicht die Kategorisierung der literarischen Epigramme übertragen, so dass im Folgenden die Zeugnisse in anderer Weise gruppiert werden sollen, nämlich nach dem Kriterium der Wahrscheinlichkeit, dass das jeweilige Grab ein Kenotaph war. Nicht wirklich einzuordnen ist eine hellenistische Inschrift aus Sinope, die aufgrund ihrer sehr fragmentarischen Erhaltung nur insofern erkennen lässt, dass 29
Anth. Gr. VII 500 (um 300 v. Chr.). – Vgl. VII 291 (von Xenokritos aus Rhodos): Das Mädchen Lysidike aus Kyme, das in Begleitung seines Vaters zu Schiff reiste – möglicherweise als Braut zur Heirat in eine entfernte Stadt – war bei Sturm von Bord geschleudert worden, dürfte ein Kenotaph in der fremden Stadt erhalten haben, denn anderenfalls macht die Angabe ihrer Heimat Kyme keinen Sinn: „(…) Deinen Namen und Kyme, die Heimatstadt, nennt zwar dein Grabstein, / deine Gebeine jedoch treiben am eiskalten Strand (…).“ 30 IG IX 1, 867, Übersetzung nach HGIÜ 4. – Um den Unterschied zu literarischen Grabepigrammen, die wegen ihrer Zuschreibung an einen frühen Dichter ein ähnlich hohes Alter haben müssten, zu illustrieren, sei hier Anth. Gr. VII 495 zitiert, das von Alkaios stammen soll: „Unter dem Licht des Arkturos fürchtet der Seemann die Fluten. / Während des Nordsturms ertrank elend Aspasios – ihm / gilt hier der Hügel, an dem du vorbeigehst, Wanderer. Seinen / Körper freilich verschlang das Ägäische Meer. / Tränen verdient zwar jeder vorzeitige Tod. Das Versinken / eines Seemanns jedoch quält uns mit bitterstem Schmerz.“ – Auch ein dem Anakreon zugeschriebenes Grabgedicht (Anth. Gr. VII 263) dürfte nicht authentisch sein: „Heimweh ließ dich auch, Kleënorides, den Untergang finden, / da du dem stürmischen Süd allzu verwegen getrotzt. / Launischer Jahreszeit fielst du zum Opfer; dich rissen die Wogen, / stattlich und jung wie du warst, tief in ein flutendes Grab.“
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von einem Schiffbruch die Rede ist, weil die Pleijaden genannt sind.31 Hier ließe sich vermuten, dass es sich um ein Kenotaph gehandelt haben dürfte.32 Ein Grabepigramm aus dem frühen 2. Jh. v. Chr. aus Milet,33 das einer Demetria, der jung verstorbenen Mutter des kleinen Philokrates gewidmet ist, erwähnt einen Schiffbrüchigen: Dionysios, der Vater des Waisenkindes, war bei einer Seereise – es ponton pleusas – ums Leben gekommen, als er „jählings die tiefe Salzflut des Nereus erdulden“ musste. Einen eigenartigen Sonderfall stellt eine Inschrift aus Smyrna dar, die wohl noch ins 3. Jh. v. Chr. gehört: Die Gebeine des Hermias birgt der Tmolos unter den Ausläufern seiner Hänge, weithin sichtbar umgibt sie aufgehäufter Sand; zuoberst verkündet mit stummen Mund sprechend ein glatter Fels den (Namen) des Toten. Dieses leere Grab haben ihm die ihn vermissenden Gefährten am Strand von Smyrna aufgeschüttet.34
Zwar ist hier nicht die Rede von einem Tod im Meer, doch wird ein solcher durch die Lokalität des Kenotaphs „am Strand von Smyrna“ vermutet. Das die Gebeine bergende Grab am Tmolos, dem Gebirge im südöstlichen Hinterland der Stadt, mag dagegen das ‚echte‘ Grab des Hermias in seiner Heimat gewesen sein, in das seine sterblichen Überreste hatten verbracht werden können. Von einem solchen Fall, der die tatsächliche Bestattung des ertrunkenen Toten dokumentiert, berichtet das Grabgedicht aus Erythrai für Zosimos, das in das 2. Jh. v. Chr. datiert wird: Nicht klage ich an die Schiffe, was soll das Schiff dafür können? und auch nicht das Meer; aus dem Meer bin ich in den Hafen geflohen, Anker und Seil habe ich befestigt und kam in den Hafen des Hades, als ich von den dichten Schlägen des in der Nacht rasenden Nordwindes getrieben wurde. Aber meine arme Mutter hat die Asche in die Heimatstadt zurückgebracht. Ja, Kallistion, du beklagst den Zosimos, den du als einen Jüngling, dem gerade der erste Bart wuchs, neben den Vater Nikomachos beigesetzt hast.35 31
Merkelbach et al. 1998–2002, Nr. II–10/06/99. Die Pleijaden sind im Kontext des ‚nassen Todes‘ in einem Epigramm (Anth. Gr. VII 534) vermutlich des Kyzikeners Automedon (1. H. 1. Jh. v. Chr.) genannt: „Sorgfältig hüte dein Leben, Menschlein, und geh nicht zum falschen / Zeitpunkt auf See! Ohnehin währet das Leben nicht lang. / Armer Kleonikos, drängtest vom Hohlen Syrien zum reichen / Thasos hinüber, gewillt, Handel zu treiben auch dort / Handel, Kleonikos! Aber sobald die Pleijaden versanken, / sankest auf offenem Meer, mit den Pleijaden, auch du!“ 33 Herrmann 1998, 70–71 Nr. 738; Merkelbach et al. 1998–2002 Nr. I–01/20/24. – Vgl. Günther 2014, 210–212 mit der Vermutung, dass der ertrunkene Dionysios ein eingebürgerter Metöke in Milet und von Beruf Kauffahrer gewesen sein könnte. 34 Merkelbach et al. 1998–2002 Nr. I–05/01/42. 35 Merkelbach et al. 1998–2002 Nr. I–03/07/17. 32
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Bemerkenswert ist an diesem Gedicht, dass es – ähnlich wie literarisch überlieferte Versepigramme – die Namen des Verstorbenen (Zosimos) und seiner Eltern (Nikomachos und Kallistion) angibt; dass die Heimatstadt Erythrai war, ergibt sich aus dem Fundort des Steines. Das Schicksal des in der Ferne Verunglückten verbindet sich indessen mit demjenigen des Eunomos, der im späten 1. Jh. v. oder frühen 1. Jh. n. Chr. zu Tode gekommen war, nicht nur durch die Herkunft aus derselben Stadt, sondern auch durch die Initiative der verwitweten Mutter, die für die Aufstellung des Kenotaphs samt Grabinschrift gesorgt hatte: Eunomos, Sohn des Eunomos, sei gegrüßt. Dieser Gedenkstein, Fremder, enthält nur den Namen; den untergegangenen Körper hält das Meer zwischen der Heimatstadt und Lesbos; aber die Mutter, ganz voller Tränen bejammert im vereinsamten Haus den Eunomos in unendlichem Leid.36
Ein weiteres explizites ‚Leergrab‘ bezeugt eine Inschrift des dritten nachchristlichen Jahrhunderts aus Sinope, deren fragmentarischem Zustand der Name des Toten zum Opfer gefallen ist: (…) Wo in der unbarmherzigen Woge hast du das Licht verlassen? Den Grabstein hat über dem leeren Grab gesetzt der Ziehbruder (syntrophos) Markion, zum ewigen Gedenken.37
Nicht unähnlich ist die Situation eines Grabes aus dem frühen 3. Jh. n. Chr. aus dem mysischen Daldis: (Ich) Kallinikos, liege im Feuchten, unübertroffen in der feuchten Menge. Secutilla (hat den Grabstein gesetzt) auf Grund eines Traumes.38
Diese Inschrift weist als bemerkenswerte Besonderheit auf, dass die Frau, die sich als verantwortlich für das Kenotaph bezeichnet, die Stele mit dem knappen Text wohl aufgrund eines Albtraums hatte errichten lassen. Offenbar war der Ertrunkene gleichsam als Untoter durch Secutillas Nächte gegeistert, bis sie ihm im Leergrab eine Heimstätte gab.39 Sie scheint weder Gattin noch eine engere Verwandte des Toten gewesen zu sein, sondern eher eine Konkubine oder Sklavin, was im Sinne einer eigentlichen Unzuständigkeit den zeitlichen Verzug der Aufstellung des Grabsteins erklären mag. Wahrscheinlich um ein Kenotaph handelt es sich beim Grabmal des Symphoros, das wiederum in das hellenistische 2. Jh. v. Chr. gehört und in Seleukeia am Kalykadnos (heute: Silifke) stand: 36
Merkelbach et al. 1998–2002 Nr. I–03/07/11. Merkelbach et al. 1998–2002 Nr. II–10/06/13. 38 Merkelbach et al. 1998–2002 Nr. I–04/08/01; als Datierung geben die Autoren „um 220 n. Chr.“ an. 39 So überzeugend Merkelbach et al. 1998–2002, Bd. 1 426 (zu Nr. I–04/08/01). 37
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Dieser Grabstein ist, Fremder, das Denkmal an Symphoros, den Sohn des Diokles, der die süße Liebe zur Weisheit gefasst hatte. Im Alter von 19 Jahren ist er umgekommen, als er von diesem Land aus im Winter zu Schiff über das tiefe Meer fuhr. Er wurde von den weiblichen Nymphen (in der See) in einer Höhle verborgen; sie mögen für ihn sorgen. Sein Grabmal hat er (hier) in der väterlichen Erde. Sieh hier auf diesem Stein das Bild seiner Gestalt, welches der Vater zur Erinnerung an den Sohn anbringen ließ.40
Das poetische Bild des von Nymphen in einer Höhle umhegten bildungshungrigen Jünglings spricht für die faktische Leere des Grabes, wenngleich das Bemühen des Vaters darauf gezielt zu haben scheint, eben diese Wahrheit zu verschleiern, nämlich zum einen durch die Formel, der Sohn habe sein Grabmal „in der väterlichen Erde“, zum anderen durch das am Grabmal angebrachte Bildnis, das die Präsenz des Toten beschwört. Die beiden letzten epigraphischen Versgedichte auf einen auf dem Meer Verunglückten stammen aus Kyzikos, der bedeutenden Hafenstadt an der östlichen Küste des Marmarameeres, und sind sich darin ähnlich, dass unklar bleibt, ob das Grab ein leeres war oder nicht. Sie unterscheiden sich aber in ihrer Datierung, denn das eine ist der frühen Kaiserzeit (Ende 1. Jh. v. / Anfang 1. Jh. n. Chr.) zuzuweisen, das andere der späteren Kaiserzeit (wohl schon 4. Jh. n. Chr.). Ersteres nennt als Grabherren Alexandros aus Alexandria, einen in Kyzikos vermutlich ansässigen Kauf- oder Seemann: Nicht von Krankheit bezwungen verließ ich das Leben, und nicht als Großvater bin ich in den Hafen der Lethe eingelaufen, sondern ein mit raschen Füßen drängender Nordwind hat mich getötet, zusammen mit den dichten Schneewolken, die vom Himmel herabstürzten. Ihr Verwandten, beweint mich nicht mit Wehklagen, denn es ist nicht möglich, durch Tränen der verderblichen Schicksalsgöttin zu entrinnen. Von Geschlecht stamme ich aus Alexandria, und mein Name ist ebendies; sei gegrüßt und sprecht zum Grab eben dieses Wort.41
Für einen Schiffbruch und damit für ein Leergrab spricht – neben der Benennung des schneereichen Nordwindes als ‚Mörder‘ – die Formulierung, der Verstorbene sei „in den Hafen der Lethe eingelaufen“, denn in literarischen Epigrammen ist gelegentlich davon die Rede, der Verunglückte sei mit seinem eigenen Schiff in den Hades gekommen,42 wohin nach der üblichen antiken Vorstellung 40
Merkelbach et al. 1998–2002 Nr. IV–19/05/03. Merkelbach et al. 1998–2002 Nr. II–08/01/33. 42 Vgl. Anth. Gr. VII 539 (s. o. S. 306 mit Anm. 25). In Anth. Gr. VII 264, einem Gedicht des Leonidas aus Tarent (1. H. 3. Jh. v. Chr.) heißt es: „Günstigen Wind und Glück für den Seefahrer! Reißen dich freilich / Stürme zum Hades, dich dort ankern zu lassen, wie mich, / schimpfe nicht über den grausamen Salzschlund, nein, über die Kühnheit, / die dir das Haltetau von meinem Gedenkstein entfernt.“ 41
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die Toten ansonsten vom Fährmann Charon gebracht wurden. Wenn es andererseits auf ein echtes Grab schließen lässt, dass Alexandros die Passanten auffordert, seinem Grab den Gruß zu entbieten, so dürfte diese Formulierung gleichermaßen für ‚echte‘ und für leere Gräber angemessen gewesen sein. Interessanterweise vermeidet aber doch der Grabherr die anderenorts nicht seltene Betonung der Leere des Grabes. In der zweiten und späteren Grabinschrift aus Kyzikos spricht der Seemann Dionysios aus Aproi zu dem Passanten: Ein Grabmal siehst du, Wanderer, wie es vom Schicksal allen vorbestimmt ist, nicht nur mir allein; wenn du erfahren willst, wer es ist, der mich verwundet hat, so halte die Spur deiner beiden Sohlen inne und erfahre: Wirklich, ich entkam nicht dem Faden der Moiren, welcher mir zugesponnen ward; als Seemann verließ ich den schrecklichen Namen des Pontos, da hat dieser auf mich den Zorn des Meeres gelenkt. Dieses Grabmal hier hat mir aus Freundschaft Unio gemacht; mein Name war einstmals Dionysios, die Scholle von Aproi zog mich auf, zum 6. Mal war ich Sieger. So verließ ich das Licht.43
Für ein Kenotaph, das ja ein Freund des Toten errichtet hat, lässt sich anführen, dass in den Versen mit keinem Wort angedeutet wird, dass an dieser Stelle die sterblichen Überreste geborgen sind, dass vom unzweifelhaften Tod im Meer eher allgemein, auf das Schicksal aller Sterblichen abhebend, die Rede ist und dass keine Trauernden Erwähnung finden. Eigenartig und unerklärlich ist der kurze Hinweis auf sechs Siege. Man mag aus diesen wenigen epigraphischen Zeugnissen den Schluss ziehen, dass dort, wo es eine Chance gab, die sterblichen Überreste von im Meer Verunglückten zu bergen, die Angehörigen keine Kosten gescheut haben, ihren Toten ‚heimführten‘. Dort, wo der Leichnam unwiederbringlich versunken war, schufen sich zwar die Angehörigen einen sepulkralen Erinnerungsort, doch fehlt es nicht an Beispielen, dass durch ambivalente Formulierungen der Eindruck zu erwecken gesucht wurde, als wäre dieser Ort kein Kenotaph – kein ‚Lügengrab‘ in der Diktion einiger literarischer Epigramme. Aus beiden Bereichen der Grabepigramme wird indessen deutlich, dass sich in der gesamten griechischen Antike – von der archaischen Zeit bis in die römische Kaiserzeit – die Grundeinstellung der Menschen zum ‚nassen Tod‘ und zum höchst beklagenswerten Schicksal der aphaneis und ihrer Angehörigen kaum etwas geändert hat. Aus religiösen und mentalen Gründen war – ungeachtet regionaler oder temporaler Unterschiede im Einzelnen – ein Bestattungsritual nötig, für welches in den Heimatstädten der im Meer Verunglückten die realen Körper fehlten. Dort, wo gegebenenfalls sterbliche Überreste an eine Küste gespült worden waren, mag eine notdürftige Beisetzung durch barmherzige Personen oder 43
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in seltenen Fällen Bekannten erfolgt sein, zumeist aber hatten die Verwandten daran wohl keinen Anteil. Oft genug blieben die Angehörigen der Vermissten auch ohne Information darüber, ob ihr aphanes irgendwo notdürftig beigesetzt worden, oder ob sein Leichnam – horribile dictu den Meerestieren zum Fraß – endgültig in der Salzflut versunken war.
Die Toten der Arginusen-Schlacht Auf dem skizzierten mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund soll in einem letzten Schritt der berüchtigte Arginusen-Skandal des Jahres 406 v. Chr. betrachtet werden. Die ausführliche Beschreibung der Ereigniszusammenhänge bei Xenophon44 lässt keine Zweifel daran, dass die Trauer der Hinterbliebenen von mehreren Tausend ertrunkenen Seeleuten und Kriegern in spektakulärer Weise für politische Zwecke instrumentalisiert wurde. Bei Diodor weisen zwei Bemerkungen auf die Bedeutung der Toten der Seeschlacht hin: „Die Athener setzten die Verfolgung der geschlagenen Gegner über eine beträchtliche Strecke hin fort und füllten den ganzen benachbarten Seebereich mit Leichen und Wracks. Danach glaubten die einen Befehlshaber, man müsse die Toten an Bord bringen, da die Athener sich über Menschen empörten, welche Leichen unbestattet ließen; die andere Gruppe von ihnen aber war der Auffassung, man müsse nach Mytilene fahren und in aller Eile der dortigen Belagerung ein Ende setzen. In der Zwischenzeit aber brach noch ein heftiger Sturm aus, so dass die Trieren schlingerten und die Soldaten infolge der Strapazen, die sie in der Schlacht durchgemacht hatten, und des hohen Wellengangs sich weigerten, die Toten an Bord zu nehmen.“45 In Athen war man dann trotz des Sieges „sehr erregt, dass (die Befehlshaber) die Männer, welche für die Behauptung ihrer Herrschaft gefallen waren, unbeerdigt gelassen hatten.“46 Deswegen wurden dann die Strategen ihres Amtes enthoben.47 In der Forschung48 ist größter Wert auf die juristischen respektive demagogisch-radikaldemokratischen Aspekte der Affäre gelegt worden, wäh44
Xenophon, Hell. I 6, 33–7, 34; Diodor 13, 100–102 gibt eine in einigen Punkten abweichende Darstellung der Ereignisse nach dem Ende der Schlacht. 45 Diodor 100, 1–2. 46 Diodor 101, 1. – Vgl. dazu Mehl 1982, 70–75 (ausführlich zum ethischen Stellenwert des Bestattungsgebots insbesondere in Attika). 47 Bis auf Konon, der damals im Hafen von Mytilene eingeschlossen war und sich an der Schlacht gar nicht beteiligen konnte; die aus Athen ausgelaufene Flotte hatte eigentlich das Ziel gehabt, seine Zernierung aufzubrechen. 48 Vgl. Mehl 1982, 32–80; Due 1983, 33–44; Nemeth 1987, 51–57; Bleckmann 1998, 509–571; Burckhardt 2000, 128–143. 273–274.
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rend die Stimmung der Bürger – zumeist als von den Demagogen verführt dargestellt – in den Hintergrund tritt.49 Von den sechs Feldherren, die nach Athen zurückkehrten, wurde sofort Erasinides wegen der Führung seines Amtes und der Unterschlagung von Tributgeldern aus dem Hellespont angeklagt und verhaftet; als die anderen Feldherren vor dem Rat über die Seeschlacht Rechenschaft ablegten und über das Ausmaß des Unwetters, welches die Bergung der vermissten ca. 5000 Mitbürger verhindert hatte, wurden auch sie verhaftet und der Volksversammlung vorgeführt. Dort spielte dann ein Brief die entscheidende Rolle, den die Feldherren noch vor ihrer Rückkehr nach Athen geschickt hatten; darin hatten sie bereits das Unwetter als Ursache für die fehlende Bergungsaktion benannt. Absurderweise wurden sie gerade deshalb, weil sie niemand anderem als den Naturgewalten die Schuld zuschrieben, selbst für die Schuldigen gehalten. Zur Verteidigung aufgefordert sagten sie in der außerordentlich kurzen Zeit, die nun jedem einzelnen gegeben wurde, übereinstimmend aus, dass das Unwetter schuld daran gewesen sei, dass die ursprünglich mit der Bergung beauftragten 47 Schiffe nicht ausgelaufen waren. Also ausdrücklich beschuldigten sie nicht die Trierarchen dieser Schiffe, nämlich Theramenes und Thrasybulos.50 Dass dann Zeugen und Bürgen eine Vertagung des Prozesses auf eine nächste Volksversammlung erwirkten, sollte den Angeklagten nicht zugute kommen, denn in der Zwischenzeit setzte Theramenes alles daran, die Feldherren weiter zu diskreditieren, und inszenierte eine makabre Schau: „Hierauf feierte man das Apatourienfest, bei welchem Eltern und Verwandte zusammenzukommen pflegen. Theramenes und seine Anhänger sorgten dafür, dass viele Leute bei diesem Fest schwarz gekleidet und bis auf die Haut kahlgeschoren erschienen, welche vor der Volksversammlung auftreten und sich als Angehörige der in der Seeschlacht ums Leben Gekommenen ausgeben sollten (…).“51 Als aufgrund der emotionalen Eskalation die Feldherren vor dem Rat angeklagt werden sollten, trat ein Mann mit der unglaublichen Behauptung auf, er habe sich vor dem Untergang auf einer Mehltonne retten können und sei von den Ertrinkenden, denen er begegnet sei, dazu aufgefordert worden, „falls er gerettet würde, solle er vor dem Volke melden, die Feldherrn hätten die besten Verteidiger des Vaterlandes nicht gerettet.“52 Damit lag eine konkrete Anklage der Opfer 49
Insbesondere Burckhardt 2000, 128–129, vgl. 140–143 nimmt eine kritische Position gegenüber der wenig demokratiefreundlichen Perspektive Xenophons ein. 50 Vgl. Burckhardt 2000, 138–140, der auf die Motivation des Theramenes, „der die Schuld von sich selbst auf die Strategen abzuwälzen“ suchte (l. c. 138), verweist; ausführlich Bleckmann 1998, 554–558, 570. 51 Xenophon, Hell. I 7, 8. – Bei Diodor (13, 101, 6) heißt es dazu: „(…) Nicht zum wenigsten schadeten den Generälen die Anverwandten der Toten; sie waren in Trauerkleidung zur Volksversammlung gekommen und baten das Volk um Bestrafung jener, die es zugelassen hatten, dass die im mutigen Einsatz für das Vaterland Gefallenen unbestattet geblieben waren.“ 52 Xenonphon, Hell. I 7, 11. – Bei Diodor 13, 101, 6 wird der Vorwurf von den trauernden Verwandten erhoben (s. o. Anm. 51). – Bleckmann 1998, 553 Anm. 152, ist der Auffassung, dass
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vor, der zufolge allein das Versäumnis der Feldherren die athenischen Seeleute zu Tode bzw. um eine Bestattung gebracht hatte.53 Unter fortgesetztem Bruch zahlreicher sonstiger Verfahrensregeln wurden die Strategen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Es gibt m. W. in der archaischen und klassischen Antike keinen vergleichbaren Fall, dass ein Feldherr für den Tod seiner Soldaten verantwortlich gemacht wurde, selbst wenn die Leichname der Gefallenen nicht auffindbar waren.54 Warum konnte es im Jahr 406 v. Chr. eine Anklage geben für den Tod auf Kriegsschiffen, die im Geschehen einer Seeschlacht verlorenen gingen? Worin lag, anders formuliert, die implizite ratio des Komplotts gegen die Feldherren, welche Rolle kam den trauernden Angehörigen zu? Zunächst ist hier an die große Zahl der Toten zu erinnern: Auf 25 Trieren dürften rund 5000 Männer gewesen sein, von denen „nur wenige Leute (…) an Land gespült wurden.“55 Sodann ist zu bedenken, dass auf dieser 110 Trieren starken Flotte, die in einer Gewaltaktion zur Rettung der im Hafen von Mytilene belagerten Flotte unter dem Kommando Konons aufgestellt und ausgesandt worden war, ausnahmsweise viele Ritter eingesetzt worden sein sollen56 – das meint ja wohl auch der Hinweis auf die verlorenen „besten Verteidiger des Vaterlandes“57 –, mithin ‚bessere‘ Bürger als üblich. Diese waren vermutlich aufgrund ihrer Unerfahrenheit mit Schiff und Meer ein noch größeres Risiko eingegangen als die ansonsten eingesetzten Theten. Das unerwartete physische Verschwinden dieser „besten“ Männer dürfte deren Angehörige geradezu schockiert haben. Diejenigen Trauernden, die dann anlässlich der Apaturien Klage erhoben, dürften zu einem großen Teil die Angehörigen gerade solcher Ertrunkener gewesen sein, war doch jenes Fest ein Familienfest, „bei welchem Eltern und Verwandte zusames sich beim Auftritt des Mehltonnenreiters „um eine authentische Intervention eines Teilnehmers der Seeschlacht“ gehandelt habe. 53 Vgl. Bleckmann 1998, 514–522; Burckhardt 2000, 135: „(…) beide Quellen machen deutlich, daß irgend etwas Derartiges auch tatsächlich vorgefallen war (…) der Streit drehte sich vielmehr darum, wer dafür verantwortlich war und ob diese Verantwortlichen das Geschehen hätten verhindern können.“ 54 Burckhardt 2000, 139: „Soweit ich sehe, wurde die Bergung der Schiffbrüchigen nach einer Seeschlacht – ob tot oder noch lebendig – in der Zeit vor 406 nie zu einem Thema in Athen, das in einem Prozeß, geschweige denn in der Geschichtsschreibung abgehandelt wurde.“ 55 Xenophon, Hell. I 6, 34. 56 Xenophon Hell. I 6, 24–25; zu den 110 auf Volksbeschluss hin ausgerüsteten Schiffen kamen zehn weitere aus Samos und 30 weitere von anderen Bundesgenossen. Zu den Mannschaften der eigenen Trieren berichtet Xenophon, dass die Athener „sämtliche Leute heranzogen, die im dienstfähigen Alter waren, sowohl Sklaven wie auch freie Bürger (…) Es waren auch viele aus der Klasse der Ritter an Bord gegangen.“ (l. c. 24); Burckhardt 2000, 130: „(…) mit enormem Aufwand innerhalb außerordentlich kurzer Zeit unter Nutzung letzter Reserven (…).“ – vgl. Bleckmann 1998, 105–106. 57 Xenophon, Hell. I 7, 11.
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menzukommen pflegen“.58 Wenn auch ‚nur‘ etwa 10 % der Toten (also ca. 500 Männer) aus den Kreisen der Ritter stammten, so konnten doch ohne weiteres ca. 2.000 ihrer Angehörigen pathetisch aufgetreten sein – und einen außerordentlichen Eindruck bei den anderen Athenern erweckt haben. Wer mochte sich vorstellen, dass auch sein Sohn oder Bruder ‚verschwunden‘ war: von Fischen gefressen oder zerrissen an einen fernen Strand angespült? Es war doch das äußerste Grauen, dass einer kein Grab erhielt – wie als ob er ein Feind der Polis oder ein Frevler an den Göttern gewesen wäre! Nun mag man einwenden, dass die Athener in Laufe der Kriegsdauer von bereits 26 Jahren schon einiges an Verlusten und Leid hatten ertragen müssen, etwa den Verlust der stolzen Expeditionstruppen von 415 in Sizilien. Auch wird es bei Seeschlachten ungeachtet der Usance, hinterher die Vermissten aufzuspüren und zumindest tot zu bergen, immer wieder Misserfolge gegeben haben; die ‚See-Toten‘ von 406 v. Chr. waren nicht die ersten, die für das Vaterland ertrunken waren. Inzwischen aber, so nicht nur meine eigene Interpretation,59 trafen die Verluste eine Polis-Gesellschaft, die für innere Destruktionen immer empfänglicher geworden war, die den Konsens aufzukündigen bereit war und die Augen vor Realitäten verschloss. Nicht mehr der Sieg der eigenen Flotte zählte, sondern ein Sieg, der einen solchen Preis gekostet hatte, wurde als Niederlage wahrgenommen. Wie konnte das Meer, das man doch zu beherrschen meinte, die Söhne und Brüder verschlingen? Xenophon lässt den Athener Euryptolemos eine vergebliche Verteidigungsrede halten, in der es an einer Stelle heißt: „Männer von Athen (…) gebt euch nicht, statt anzuerkennen, dass das Missgeschick von einem Gott verhängt war, den Anschein, als hättet ihr den Sinn für das rechte Maß verloren, indem ihr auf Verrat erkennt, wo ihr nichts erkennen solltet als das Unvermögen, wo doch der Sturm den Männern die Ausführung ihres Auftrages vereitelte (…).“60 Das von Christian Meier so benannte ‚Könnensbewusstsein‘ der Athener hatte sich zu einem Machbarkeitswahn gesteigert: Nicht die Wellen im Reich des Poseidon, nicht die göttlichen Winde konnten die Männer getötet haben, sondern die verantwortungs- und tatenlosen Feldherrn mussten es gewesen sein. Nicht die Naturgewalten, sondern allein die Strategen hatten die Männer vernichtet und so vielen Bürgerfamilie schlimmstes Leid zugefügt, nämlich nicht einmal den Toten sehen und bestatten zu können. Und indem sie ihrerseits die Schuld auf die Elemente schoben, frevelten sie auch noch! Theramenes und Thrasybul waren selber erfahrene Flottenlenker; daher muss ihnen bewusst gewesen sein, dass sie Ängste und Phantasien der Mitbürger instrumentalisierten, wenn sie sich rhetorisch geschickt der unverfügbaren Naturgewalten bedienten, um die Strategen 58
Xenophon, Hell. I 7, 9. Vgl. Bleckmann 1998, 570–571; Mehl 1982, 75–76. 60 Xenophon, Hell. I 7, 33. 59
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als unfähig, diese zu beherrschen, zu verunglimpfen. Wären bei gutem Wetter die beiden Initiatoren der Affäre nach der Seeschlacht zu ihrer Mission aufgebrochen, so hätten sie selbst im Falle eines mageren Erfolgs der Bergungsaktion den Strategen keine Vorwürfe machen können. Insofern ist ihre Anklage verlogen und hinterhältig. In jedem Fall ist das außerordentliche Phänomen, dass sich die Trauer über die weder lebend noch tot geborgenen Seesoldaten in Rachsucht gegenüber den vermeintlich Verantwortlichen wandelte, ein Symptom für die schwindende Solidarität, die wachsende Instabilität der Polis Athen. Der Angelpunkt war dabei eine neuartige, von den Profiteuren der explosiven Stimmung offenbar propagierte Interpretation der ‚Toten ohne Leichnam‘: Ohne echtes Grab war ein Toter ein ehrloser ‚Volksfeind‘. Somit ließ sich verkünden, dass diejenigen, welche die braven Vaterlandsverteidiger wie ‚Volksfeinde‘ enden ließen, verfluchte Frevler waren und die Todesstrafe verdienten. Auf diese Weise trug also der Tod Tausender Seesoldaten nach dem Sieg bei den Arginusen zum Konflikt einer entsolidarisierten Bürgergemeinschaft bei, den Einzelne aus egoistischem Machtstreben anheizten.
Quellenverzeichnis Anth. Gr.: Die griechische Anthologie, herausgegeben und übersetzt von Dietrich Ebener, 2 Bd. (Berlin, Weimar 1981–1991). Diodor: Diodor, Griechische Weltgeschichte, Buch 6–13, übersetzt von Otto Veh (Stuttgart 1998). Herodot: Herodot, Historien, übersetzt von Josef Feix (München 1963). HGIÜ: Brodersen, Kai – Günther, Wolfgang – Schmitt, Hatto H., Historische Griechische Inschriften in Übersetzung 1 (Darmstadt 1992)IG IX: Incriptiones Graecae Bd. 9 12 4:Inscriptiones Graeciae septentrionalis, inscriptiones insularum maris Ionii (Berlin 2001). Plutarch, Solon: Plutarch, Solon, übersetzt von Konrad Ziegler, Plutarch, Große Griechen und Römer 1 (Zürich, München 1954). Thukydides: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, übersetzt von August Horneffer (Bremen 1957). Xenophon, Hell.: Xenophon, Hellenika, herausgegeben und übersetzt von Gisela Strasburger (Zürich, München 42005).
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Jens Lieven … in transeundo mare Ierosolimam … mortuus Zum Totengedenken schiffbrüchiger Jerusalempilger und Kreuzfahrer im Mittelalter∗
Zusammenfassung Der Beitrag nimmt seinen Ausgang bei den Verbrüderungsbüchern und Necrologien des frühen und hohen Mittelalters und geht zunächst auf den Zusammenhang zwischen dem Totengedenken geistlicher Gemeinschaften und den Nameneinträgen in den Libri memoriales ein. Verbrüderungsbücher und Necrologien bildeten im Mittelalter gewissermaßen das Fundament des Gebetsgedenkens und sollten helfen, das Seelenheil Verstorbener im Jenseits zu sichern. Im Mittelpunkt der Ausführungen stehen die Necrologien, die im Gegensatz zu den Verbrüderungsbüchern ein individuelles Gedenken erlaubten. Da die Libri vitae des Mittelalters mit Blick auf Kreuzzugsteilnehmer und Jerusalempilger bislang nicht systematisch untersucht worden sind, geht der Beitrag exemplarisch zunächst auf den historischen Zeugniswert der Necrologeinträge für Pilgerreisen und die Kreuzzüge im Allgemeinen ein. Daran anschließend werden solche Einträge beleuchtet, die auf dem Meer verstorbene Pilger und Kreuzfahrer betreffen und deren Leichname größtenteils nicht wieder in die Heimat überführt werden konnten. Am Beispiel Landgraf Ludwigs III. von Thüringen, der am dritten Kreuzzug teilnahm und starb, als er 1190 zu Schiff auf der Rückreise vom Heiligen Land nach Venedig war, wird sodann ein gut überlieferter Fall nachgezeichnet, in dem ausnahmsweise die Rückführung der Gebeine von Zypern aus über das Mittelmeer in die Heimat gelang. Im Vergleich mit jenen Zeugnissen, die sich auf solche Verstorbene beziehen, die ihr Grab in der Fremde fanden, ist dabei festzustellen, dass die Memoria im einen wie im anderen Fall in besonderer Weise auf die Lebenden angewiesen war und sich die Memorialpraxis allenfalls graduell unterschied, nicht aber grundsätzlich. Angesichts eines plötzlichen Todes etwa durch Schiffbruch, durch Ertrinken oder Piratenattacken, eines Todes, der keine Möglichkeit ließ, Wiedergutmachung zu leisten und Absolution zu erhalten, verwiesen die Kommemorierenden im Rahmen des Totengedenkens auf den besonderen Gnadenschatz, den sich die verstorbenen Kreuzfahrer und Jerusalempilger aufgrund ihrer Pilgerreise erworben hatten. Nicht selten versahen sie ihre Gedenkeinträge zudem mit besonderen Fürbitten und Gebeten und nahmen die Verzeichneten somit auf in die Solidargemeinschaft der Lebenden und der Toten, die als das Kennzeichen des mittelalterlichen Gebetsgedenkens schlechthin betrachtet werden darf. ∗
Der Vortragsstil wurde beibehalten, das Skript nur geringfügig erweitert und um die wichtigsten Literatur- und Quellenbelege ergänzt.
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Vorüberlegungen – Totengedenken und Memorialüberlieferung des Mittelalters Das Gebetsgedenken für Lebende und Verstorbene gehörte im Mittelalter zum festen Bestandteil der Liturgie geistlicher Gemeinschaften – monastischer Kommunitäten ebenso wie klerikaler.1 In die liturgische Memoria wurden auf diese Weise neben den Mitgliedern verbrüderter Konvente insbesondere weltliche Wohltäter aufgenommen, die einer Mönchs- oder Kanonikergemeinschaft in Form von frommen Stiftungen materielle Zuwendungen gewährt hatten, um auf diese Weise – sozusagen wie bei einem Wechsel auf die Zukunft – für die Zeit nach ihrem Tod vorzusorgen und das Heil ihrer Seele zu sichern. Von entscheidender Bedeutung für die Stifter oder Wohltäter war in diesem Zusammenhang, dass ihre Gabe eine immaterielle Gegengabe evozierte: die Fürbitte und das Gebet derer nämlich, die sie bedacht hatten. Nach dem Prinzip des do ut des kommemorierten Mönche und Kanoniker dementsprechend ihre Wohltäter und halfen mit ihren Fürbitten und den als Opfer gedachten (Votiv- beziehungsweise Privat-) Messen vor allem den Verstorbenen, deren Seelen im Jenseits nach Auffassung der Theologen zwar weiterlebten, dort aber nicht mehr in der Lage waren, selbst Buße zu tun, um ihre Leuterungsqualen im Fegefeuer zu verkürzen und am Tag des jüngsten Gerichts in das Paradies einzugehen.2 Für den praktischen Vollzug der Memoria bedeutete dies, dass die Namenrezitation der in das Gebetsgedenken Eingeschlossenen von besonderer Wichtigkeit war. Denn der Name bezeichnete nach mittelalterlicher Vorstellung nicht einfach eine Person, vielmehr war er in rechtlicher und sozialer Hinsicht ein nachgerade konstitutiver Teil von ihr, weshalb das Aussprechen des Namens in gewisser Weise die Gegenwart der Genannten bewirkte – auch und gerade bei physischer Abwesenheit. Die Nennung des Namens verschaffte mit anderen Worten den Toten einen rechtlichen und sozialen Status unter den Lebenden, sie machte die Verstorbenen in Messe und Liturgie gegenwärtig, sie zog sie gewissermaßen in die dort vollzogene heilige Handlung hinein und ließ sie an der segenspendenden Wirkung des Gebets partizipieren.3 (Abb. 1) Ausdruck dieser Vorstellungswelt waren die Libri memoriales des Mittelalters, die in der Karolingerzeit aufkamen und nach dem Vorbild frühchristlicher Diptychen während der Messe auf dem Altar lagen. In diesen liturgischen Handschriften, die man im Rekurs auf die neutestamentliche Apokalypse auch als Libri vitae, als Bücher des Lebens, bezeichnete, wurden Tausende und Abertausende von Namen eingetragen.4 1
Schmid et al. 1967, 365–405; Oexle 1976, 70–95. Zur Forschungsgeschichte vgl. unlängst: Geuenich 2008, 9–19. 2 Oexle 1994, 297–323; Horch 2001, 29–46; Angenendt 1983, 153–221. 3 Vgl. Berger 1964, 228–231. 4 Angenendt 22013, 199–226; Geuenich 2015, 123–146; Ludwig 2015, 147–174; Jakobi 2015, 87– 122.
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Abb. 1: Älteres St. Galler Verbrüderungsbuch, Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I., Cist. C 3, B 55 saec. IX, fol. 6v.
Analog zum himmlischen Buch des Lebens, das nach der Offenbarung des Johannes die Namen der Gerechten enthält, die am Tag des Jüngsten Gerichts das ewige Leben erwartet, hoffte man durch den Eintrag in ein Gedenkbuch, Gott am Ende aller Zeiten in Erinnerung zu sein und zu den Auserwählten zu gehören, denen die Gnade zuteil werden sollte, der ewigen Verdammnis zu entgehen. So schließt etwa das Salzburger Verbrüderungsbuch5 – der älteste erhaltene Liber memorialis, der noch auf die letzten Dezennien des 8. Jh. zurückgeht, – mit folgendem Gebet: „Gewähre, Herr, den Seelen aller rechtgläubigen Christen das immerwährende Gedenken, und Erquickung, denen du verheißen hast mit friedvoller Billigung aus diesem Leben zu scheiden und die im Glauben gestorben sind, auf dass ihre Namen in das (irdische) Buch des Lebens, das auf dem heiligen Altar liegt, geschrieben werden. Und befiehl, dass sie auch im (himmlischen) Buch der Lebenden aufgeschrieben werden, damit sie von Dir, o Herr, die Verzeihung der Sünden erlangen.“6 5 6
Zum Salzburger Verbrüderungsbuch vgl. allgemein: Diesenberger 2010, 31–36. Liber confraternitatum vetustior, 42: Dignare domine in memoriam sempiternam commemorare et refrigerare animabus quas de hoc sęculo pacifica adsumptione migrare iussisti omnium Christianorum catholicorum quique confessi defuncti sunt quorumque nomina scribta sunt in libro vitae et supra sancto altario sunt posita adscribi iubeas in libro viventium ut a te domine veniam peccatorum consequi mereantur.
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Abb. 2: Reichenauer Verbrüderungbuch, Zürich Zentralbibliothek, Ms Rh. Hist. 27, pag. 98.
Abb. 3: Xantener Necrolog, Universitätsund Landesbibliothek Münster, Hs. 101, fol. 13v.
In die Verbrüderungsbücher wurden zunächst die Lebenden und Verstorbenen vornehmlich des eigenen Konvents und – wie der Name schon sagt – solcher Kommunitäten aufgenommen, die mit der gedenkbuchführenden Gemeinschaft verbrüdert waren; hinzu kamen sodann weitere mit ihr verbundene geistliche und weltliche Würdenträger sowie seit der zweiten Hälfte des 9. Jh. auch zunehmend andere Adlige mitsamt ihren Verwandten (Abb. 2). Dieser Umstand führte – wie etwa im Fall des Reichenauer Verbrüderungsbuches, das über 38.000 Nameneinträge aufweist,7 – bald dazu, dass der Eingetragenen in Messe und Gebet allenfalls noch summarisch gedacht werden konnte. Ein individuelles Gedenken wurde dagegen mithilfe der Necrologien vollzogen, die zwar zuerst auch den Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft und ihrem engsten Freundeskreis sowie verbrüderten Konventen vorbehalten blieben, dann aber oft ebenfalls einen weiteren Personenkreis berücksichtigten. Anders als im Fall der Verbrüderungsbücher wurden in ihnen Nameneinträge nicht gruppenweise, sondern kalendarisch nach dem Todestag zum Beispiel in einen Heiligenkalender (Martyrolog) ein7
Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau. Vgl. hierzu auch Rappmann et al. 1998 sowie zuletzt Geuenich 2015.
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getragen, so dass mit dem Datum des Tagesheiligen die Wiederauffindung der Gedenkeinträge und damit ein ständig wiederkehrendes Gedenken – etwa zum Jahrtag des Todes – für jede einzelne Person, die in den Codex aufgenommen wurde, möglich war (Abb. 3).8 Um Einträge dieser Art soll es im Folgenden vornehmlich gehen, wenn vom Totengedenken schiffbrüchiger Jerusalempilger und Kreuzfahrer die Rede ist. Nach dem eingangs Gesagten dürfte allerdings schon deutlich geworden sein, dass der Beitrag zum Thema der Sektion „Anonymer Tod“ nur bedingt etwas beitragen kann, liegt es doch gleichsam in der Natur des mittelalterlichen Totengedenkens, dass ohne Kenntnis der Namen die Kommemoration der Verstorbenen in Messe und Liturgie schlechterdings unmöglich war. Unbekannt, weil im Mittelalter topographisch nicht fixierbar und damit in gewisser Weise ebenfalls „namenlos“ bleiben in vielen Fällen aber auch die – letztlich unzugänglichen – „Bestattungsorte“ der Schiffbrüchigen auf dem Meer, was für die Praxis des mittelalterlichen Totengedenkens nicht weniger problematisch war als der anonyme Tod im engeren Sinne. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass die Gegenwart der Verstorbenen neben dem liturgischen Gedenken und der damit einhergehenden Namenrezitation vor allem mit dem Platz ihres Grabes verbunden war.9 Insofern kommt dem Ort der Bestattung, der nicht nur im Zusammenhang mit der Beisetzung eines Leichnams, sondern auch an den Anniversaroder anderen Begängnistagen aufgesucht und in liturgische Gedächtnisriten einbezogen wurde,10 eine überaus wichtige Funktion zu. Ein zweiter, im Mittelalter sicher ebenso gravierender Gesichtspunkt muss ebenfalls bedacht werden: man konnte nämlich nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass diejenigen, die durch einen Sturm Schiffbruch erlitten hatten und ertranken, zuvor ihre Sünden bekennen konnten und ihnen damit die Absolution eines Priesters zuteil geworden war.11 Im Gegenteil musste man davon ausgehen, dass sie angesichts der äußeren Umstände ihres Todes völlig unerwartet, das heißt ohne Reue respektive Wiedergutmachung vor ihren Schöpfer getreten waren und dementsprechende Sündenstrafen im Jenseits zu gewärtigen hatten. Um vom plötzlichen Tod ohne den Gnadenschatz der Kirche, von der mors pessima, wie Cassiodor ihn bezeichnete, verschont zu bleiben, rief man seit dem 12. Jh. den heiligen Christopherus an, dessen Abbild zu erblicken schon ausreichen sollte, nicht unvorbereitet sterben zu müssen.12
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Wollasch 1999, 1078–1079. Vgl. Oexle 1983, 24. 10 Vgl. Kroos 1984, 310–318, 325–332; Reitemeier 2007, 133–134; Janssen 2007, 152–153. 11 Ariès 1997, 181–189. 12 Fuhrmann 1999, 149–165. 9
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Abb. 4: Codex Falkensteinensis, Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, KL Weyarn 1, fol. 1v.
Abb. 5: Bamberger Necrolog, Staatsbibliothek Bamberg, Lit. 159, fol. 79r.
Jerusalempilger und Kreuzfahrer in der mittelalterlichen Memorialüberlieferung Was aber, wenn der heilige Christopherus aus unerfindlichen Gründen nicht half, was, wenn trotz aller Vorkehrungen der schlimmste Fall dennoch eintrat? Bevor darauf anhand konkreter Necrologeinträge schiffbrüchiger Jerusalempilger und Kreuzfahrer einzugehen ist, kurz noch ein Wort zum allgemeinen Zeugniswert mittelalterlicher Memorialüberlieferung für Pilgerreisen ins Heilige Land und für die Kreuzzüge, da – soweit zu sehen ist – diese Quellen in entsprechenden Forschungszusammenhängen bislang keine Rolle gespielt haben und wir somit gewissermaßen Neuland betreten: Klar machen muss man sich zunächst, dass der Aufbruch in die Fremde – unabhängig davon, ob dies im Zusammenhang mit einem Kriegszug, einer Geschäfts- oder Pilgerreise geschah – ein nicht unerhebliches Wagnis für Leib und Leben bedeutete. Als beispielsweise der bayerische Graf Sibodo IV. von Falkenstein im Jahr 1166 ungefähr 40-jährig den Entschluss fasste, Friedrich I. Barbarossa auf dem vierten Italienzug zu begleiten, machte der Graf im besten Mannesalter sein Testament und bestellte für den Fall seines Todes einen Vormund für seine beiden noch minderjährigen Söh-
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ne. Im gleichen Zusammenhang traf er weitreichende Verfügungen über seine Burgen sowie über sonstige Rechts- und Besitztitel und ließ diese zusammen mit einem Verzeichnis der passiven Lehen und einem Urbar in einer eigens dafür angelegten Handschrift – dem Codex Falkensteinensis – aufzeichnen, damit für den Fall der Fälle die Herrschaft seines Hauses gesichert blieb.13 (Abb. 4) Über der Vormundschaftsnotiz befindet sich auf fol. 1v des Codex eine Miniatur, welche die Familie des Grafen darstellt. Vor einem Sternenhimmel sind in der Mitte der durch eine Überschrift (DOMINUS • SIBOTO • COMES) ausgezeichnete Vater und die Mutter zu erkennen. Zu ihrer Rechten und Linken sitzen die beiden Söhne, denen sich die Eltern mit mahnenden Worten zuzuwenden scheinen. Alle vier halten ein Spruchband in Händen, auf dem zu lesen ist: Dic valeas patri, bene fili, dicite matri. Qui legis hec care, nostri petimus memorare. Hoc quidem cuncti, mage tu, carissimi fili („Sag’ lebewohl dem Vater, und Ihr Söhne, befleißigt Euch einer ehrerbietigen Sprache gegenüber der Mutter. Gedenke unser, der Du dies liest. Das mögen zwar alle tun, in erster Linie aber Du, liebster Sohn“). Man sieht also: Vor der Abreise ins Ungewisse musste Vorsorge getroffen werden, und zwar nicht nur in weltlichen Dingen, sondern auch in Angelegenheiten, die das Gebetsgedenken und das Seelenheil im Jenseits betrafen. Deutlich wird dies mit Blick auf eine Pilgerfahrt nach Jersusalem zum Beispiel anhand eines Eintrags im Necrolog des Aachener Marienstifts, das um 1239 angelegt wurde und – von gelegentlichen späteren Nachträgen abgesehen – bis circa 1330 in Gebrauch war. Zum Tag der Maria Magdalena (22. Juli) wird der Tod eines gewissen Wiker (Obiit Wikerus) verzeichnet, von dem es weiter heißt: qui proficiscens Iherosolimam quartam partem domum sue constituit post obitum suum et post obitum uxoris sua, der also dem Aachener Marienstift ein Viertel seines Hauses vermachte, als er nach Jerusalem aufbrach. Zum 14. November, dem Todestag eines nicht näher bekannten Gerhard, wird das Haus des Wiker im Aachener Necrolog ein zweites Mal erwähnt; nun ist die Rede vom vierten Teil der domus, quam Wikerus proficiens Iherosolimam Rodensibus dederat.14 Ein weiteres Viertel hatte er demnach den Regularkanonikern von Klosterrath vermacht und versicherte sich somit also auch ihrer Gebetshilfe. Weitere Einträge von Jerusalempilgern, von denen es im Aachener Necrolog immerhin eine ganze Reihe gibt, sind demgegenüber nicht so auskunftsfreudig. Sie verzeichnen lapidar den Namen und geben neben dem Epitethon Iherosolimitanus nur noch die Höhe der Präsenzgelder an, welche an die beim Chorgebet anwesenden Kanoniker ausgezahlt wurden. Lediglich von einem weiteren Gerhard heißt es zum 26. Oktober, er sei in via Iherosolimitana gestorben.15 Ob ihn der Tod auf dem Land- oder auf dem Seeweg ereilte, ob er auf der Hin- oder Rückreise war und wo er schließlich bestattet wurde, lässt der Eintrag jedoch offen. 13
Rösener 2000, 35–55. Das älteste Aachener Totenbuch, 105 und 137. 15 Das älteste Aachener Totenbuch, 132.
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Ein anderes Beispiel für das Totengedenken zugunsten von Jerusalempilgern lässt sich dem Necrolog des Bamberger Klosters Michaelsberg entnehmen (Abb. 5), das in den frühen zwanziger Jahren des 12. Jh. wohl im Zusammenhang mit dem Neubau der Abteikirche angelegt wurde. In ihm verzeichnete die anlegende Hand zum 17. Mai einen Meginloch laicus, der dem Kloster vier Mark Silber und einen goldenen Vierling von Jerusalem aus bis nach Oberfranken sandte (misit nobis ab Ierosolimis IIII marcas et fertonem auri),16 wobei sowohl die Gründe für diese Transaktion als auch die Art und Weise, wie sie konkret vonstatten ging, im Dunkeln bleiben. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass über dem Namen ursprünglich von gleicher Hand das Attribut frater noster eingetragen wurde, wobei dieser Hinweis später einer Rasur zum Opfer fiel, zugleich aber von anderer Hand am rechten Blattrand die Gebetsleistung officium nachgetragen wurde, um nachher allerdings ebenfalls getilgt zu werden.17 Wieder ein anderes Beispiel findet sich im Lütticher Necrolog, in dem zum 5. August des Bischofs Rudolf von Zähringen (1167–1191) gedacht wird.18 Zusammen mit Barbarossa begab sich dieser im Jahr 1189 mit seinem Heer von Regensburg aus auf den dritten Kreuzzug, nachdem er bereits 1187 eine umfangreiche Memorialstiftung getätigt hatte. Anders als der Kaiser kehrte der Zähringer 1191 vom Kreuzzug in seine Heimat zurück. Sein Bistum erreichte er jedoch nicht mehr, weil er auf seinem Zug Richtung Norden im Breisgau, in der Nähe von Freiburg, starb und in der Zähringergrablege St. Peter auf dem Schwarzwald beigesetzt wurde, wo ihm im dortigen Liber vitae unter den nomina fundatorum ein Platz eingeräumt wurde.19 Das Lütticher Necrolog verzeichnet dagegen die Commemoratio (…) domini Rodulphi episcopi nostri de Jherosolima reverentis und zählt im Anschluss daran die Zuwendungen des Bischofs zugunsten des Domkapitels von Lüttich sowie zugunsten anderer Kirchen auf.20 Wie der Necrologeintrag des Meginloch in Bamberg zeigt, war es durchaus möglich, den Kontakt über weite Entfernungen hinweg aufrecht zu halten; auch war es möglich, noch nach der Abreise zugunsten eines Konvents in der Heimat zu stiften und sich damit – trotz persönlicher Abwesenheit – zuhause in das Gebetsgedenken einer geistlichen Gemeinschaft aufnehmen zu lassen. Ebenso scheint dies auch auf der Rückreise aus dem Heiligen Land möglich gewesen zu sein, auch wenn nicht ganz klar ist, ob Bischof Rudolf von Lüttich während der Heimreise seinen baldigen Tod kommen sah und vor allem deshalb, nicht 16
Das Necrolog des Klosters Michelsberg, fol. 79r. Vgl. das Necrolog des Klosters Michelsberg, 231, Anm. w) und Anm. x). 18 Vgl. zu diesem Guntermann 1893 sowie Kupper 1987, 54–63. 19 Vgl. Zettler 2001, 129–130 mit Anm. 105. 20 L’obituaire de la cathédrale de Saint-Lambert, 106: (5. August) Commemoratio (…) domini Rodulphi episcopi nostri de Jherosolima reverentis, qui dedit nobis quicquid habemus in Limont; qui etiam dedit Miremort communem nobis et omnibus conventualibus ecclesiis in Leodio tam in Corneillon quam in Publico monte. Item prepositi de Bingues pro habemus XX modios spelte in granario nostro pro nova emptione de Jupihle. 17
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aber wegen seiner glücklichen Heimkehr vom Kreuzzug, zahlreiche Stiftungen zugunsten des Lütticher Domkapitels vornahm. Die Regel dürfte aber der aus dem Aachener Necrolog rekonstruierbare Fall des Wiker sein, der – ähnlich wie der Bischof von Lüttich – kurz vor Aufbruch ins Heilige Land für sein Seelenheil Vorsorge traf.21
Piraten, Schiffbruch und Tod in Outremer in mittelalterlichen Necrologeinträgen Vorsorge zu treffen war nicht zuletzt auch für Schiffsreisen über das Meer vonnöten, die durchaus ihre Tücken hatten, und zwar nicht nur was die Zustände an Bord betraf, wie verdorbene Vorräte, fauliges Wasser und Ungeziefer.22 Obwohl man fast ausschließlich in Küstennähe segelte, stellten Wetter, Strömung und Seegang nicht selten eine große Gefahr dar. So berichtet etwa der angelsächsische Pilger Saewulf, der sich im Jahr 1102 auf den Weg ins Heilige Land gemacht hatte und im darauffolgenden Jahr wieder heimkehrte,23 in seinem Itinerarium von einem Schiff, das er in Monopoli in der Nähe von Bari bestiegen hatte24 und das sich schon bald als wenig seetauglich erwies. Durch starken Wellenschlag beschädigt, waren die Reisenden, kaum, dass sie ausgelaufen waren, gezwungen, den nächsten Hafen anzusteuern und Reparaturen durchführen zu lassen, wobei der Autor hervorhebt, nur mit Glück dem sicher geglaubten Tod durch Ertrinken entronnen zu sein. Erneut in See gestochen, erreichte man endlich den Hafen von Jaffa, wo sich Saewulf eilends an Land begab. Als dann ein Sturm aufkam, zerschellten – wie er weiter berichtet – zahlreiche, vor der Küste ankernde Schiffe, so dass nach dem Unwetter im Meer die toten Körper der Unglücklichen trieben, die es nicht mehr rechtzeitig an das rettende Ufer geschafft hatten.25 Dass eine Schiffsreise über das Mittelmeer Risiken barg, war bekannt. In den necrologischen Notizen Bernolds von Konstanz, die dieser zwischen 1074 und 1096 anglegte, findet sich beispielsweise zum 17. Februar ein Eintrag, in dem eines Mannes namens Markwart gedacht wird. Nach Ausweis des Gedenkeintrags hatte dieser zusammen mit 113 Jerusalempilgern Schiffbruch (naufragium) erlitten und war ertrunken.26 Weil aber auch der Landweg als unsicher galt, nahmen viele Pilger und Kreuzfahrer das Wagnis einer Schiffsreise notgedrungen in Kauf.27 21
Vgl. am Beispiel der Grafen von Berg jüngst Berner 2014, 238–246. Vgl. Ohler 2002, 68–69. 23 Vgl. zu diesem Schein 1999, 1249–1250. 24 Zu den italienischen Hafenstädten und ihren ökonomischen Interessen vgl. Favreau-Lillie 2004, 193–203. 25 Saewulf, 59 und 62–63. 26 Bernold von Konstanz, 657: 17. Februar (XIII kal.) (…) Marcuart cum 113 Ierusalem tendentes naufragio emundati dormierunt. 27 Vgl. Jankrift 2004, 188 f. 22
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Abb. 6: Xantener Necrolog, Universitätsund Landesbibliothek Münster, Hs. 101, fol. 54r.
Als man etwa 1147 zum zweiten Kreuzzug aufbrach, nahm in Lothringen – glaubt man den Annales Rodenses – ungefähr der zehnte Teil des gesamten Landes das Kreuz (quasi decima pars totius terre). Derselben Quelle zufolge sollen die meisten Lothringer zu Schiff aufgebrochen sein und sich zunächst an der Eroberung Lissabons beteiligt haben, um danach erst ins Heilige Land zu ziehen.28 Die Kölner Königschronik berichtet im gleichen Zusammenhang von einer Flotte, die aus 200 englischen und flämischen Schiffen bestanden habe und Anfang Juni 1147 in See gestochen sei, um zunächst Nordspanien anzulaufen. Dort ging man an Land, um Santiago de Compostela aufzusuchen, nahm anschließend an der Eroberung Lissabons teil und segelte danach erst weiter ins Heilige Land.29 Wesentlich kleiner fiel die Flotte aus, die 1188/89 Kölner, Lütticher, Flamen und Engländer ausgerüstet hatten, um zum dritten Kreuzzug aufzubrechen. Die Kölner Königschronik berichtet zu Lichtmess 1190 von vielen reich mit Beute beladenen Heimkehrern,30 die neben anderen wohl mit jenen 60 Schiffen unterwegs waren, die nach Arnold von Lübeck 1189 Akkon erreicht hatten.31 Dem lothringischen Kontingent des Jahres 1147 könnte sich ein gewisser Basilius angeschlossen haben, der im Xantener Necrolog auf fol. 36v erwähnt wird 28
Annales Rodenses, 188 und 194. Zu Heinrich von Bonn, der 1148 bei der Belagerung Lissabons fiel, vgl. Röhricht 1894/1968, 29. 29 Chronica regia Coloniensis, 84 f. (ad a. 1147/48). 30 Ebd., S. 144 (ad a. 1189). 31 Arnoldi abbatis Lubeccensis chronica, 141 f. (lib. IV, cap. 15). Zu Kreuzfahrern aus dem Nordwesten des Reiches vgl. Berner 2014, 31–64.
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(Abb. 6).32 Seinen Tod verzeichnet eine Schreiberhand, die dem paläographischen Befund zufolge um die Mitte des 12. Jh. tätig gewesen sein muss, zum 10. Juli. Der Eintrag lautet im Ganzen folgendermaßen: O(biit) Basilius acol(ytus). F(rater) n(oste)r, qui in transeundo mare Ierosolimam in navi mortuus est et presentibus matre sua et fratre suo et uxore fratris corpus eius super tabulam ligneam expositum est in mare. Hunc, Deus, abiectum celo tibi iunge recdeptum.33 Basilius war also an Bord eines Schiffes auf dem Weg nach Jerusalem gestorben, wobei seine sterblichen Überreste in Anwesenheit der Familienangehörigen dem Meer mithilfe einer hölzernen Planke übergeben wurden, wie ausdrücklich vermerkt wird. Den Eintrag beschließt der Schreiber mit einer (nicht nur) im Xantener Necrolog sonst unüblichen Fürbitte für den Verstorbenen, die auf seine Aufnahme in den Himmel abzielt. Auf fol. 42r desselben Necrologs findet sich sodann zum 30. Juli ein Priester namens Hillinus zusammen mit einem gewissen Rater von Thiel, die cum irent Iherosolimam, in mari a pyratis sunt interfecti.34 Auch Ihnen gedenkt der Schreiber angesichts des Umstands, dass sie Opfer eines Piratenangriffs geworden waren,35 mit einer eigens vermerkten Fürbitte: Herr, sei ihren Seelen gnädig (Horum spiritibus propiciare Deus). Ebenfalls mit einer Fürbitte versehen, findet sich im Xantener Necrolog zum 1. Oktober auf fol. 54r ein Eintrag für einen weiteren Kreuzfahrer oder Jerusalempilger: Heremannus acolytus f(rate)r n(oste)r dum rediret de Iherosolima o(biit) in Akers. Cui sit grata quies et sine nocte dies.36 Diesem Eintrag zufolge starb der Akolyt Hermann auf der Rückreise von Jerusalem in Akkon. Beide Einträge, sowohl der zum 30. Juli als auch der zum 1. Oktober, stammen von ein und derselben Schreiberhand, die wohl im späten 12. Jh. tätig war, so dass sich beide Einträge auf Teilnehmer des dritten Kreuzzugs beziehen könnten. Derzeit nicht genauer als auf das 12. Jh. einzugrenzen ist der Schriftduktus eines Eintrags auf fol. 44v des Xantener Necrologs, der sich ebenfalls auf Kreuzfahrer zu beziehen scheint, aber ohne abschließende Fürbitte geblieben ist. Zum 13. August heißt es dort: Godefridus laic(us) f(rate)r n(oste)r, de quo habemus X sol. gravioris monete et Meginberin minister noster iuxta Hierusalem interfecti sunt.37 Der Laie Gottfried, der dem Stift zehn Solidi schweren Geldes gestiftet hatte, war also ebenso wie Meginberin, ein Ministeriale des Stifts, bei Jerusalem getötet worden. So wie vom Schiffbruch des Basilius aus dem Xantener Necrolog zu erfahren ist, ließen sich weitere Fälle schiffbrüchiger Jerusalempilger und Kreuzfahrer an32
Zum Xantener Necrolog vgl. zuletzt Lieven 2012, 97–132. Das älteste Totenbuch des Stiftes Xanten, 56. 34 Das älteste Totenbuch des Stiftes Xanten, 61. 35 Vgl. hierzu allgemein Fuess 2013, 186–190. 36 Das älteste Totenbuch des Stiftes Xanten, 77. 37 Das älteste Totenbuch des Stiftes Xanten, 65. Ähnlich Hartmodus et Unisericus, qui a paganis interempti sunt 22. Jun. (Martyrolog von Weißenburg/Unterfranken, vgl. Röhricht 1894/1968, 62). 33
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führen. Bereits Reinhold Röhricht hat in seinem einschlägigen Werk über die Deutschen im Heiligen Land mit Blick auf den zweiten und dritten Kreuzzug viele Pilger, die sich zu Schiff auf den Weg nach Palästina gemacht haben – unter ihnen auch einige Schiffbrüchige – namentlich benannt. Darunter finden sich zum einen Personen, von denen sonst nichts oder kaum etwas bekannt ist, wie zum Beispiel ein aus Flandern (?) stammender Priester namens Arnulf oder sein Kölner Amtsbruder Winand.38 Zum anderen verzeichnet Röhricht aber auch einige prominente weltliche und geistliche Adlige, die Schiffbruch erlitten hatten und ertrunken waren oder anderweitig während der Reise auf dem Meer gestorben waren, wie etwa Abt Dodechin von Lahnstein (S. 34), Abt Hellinus von Oldisleben (S. 36), Bischof Udo I. von Zeitz (S. 41), Bischof Hermann von Hildesheim (S. 48), Graf Konrad II. von Peilstein (S. 72), Landgraf Ludwig III. von Thüringen (S. 76) und Graf Hermann von Wartstein (S. 117).39 Hinzu kommen schließlich noch Pilger und Kreuzfahrer, die Opfer von Piratenangriffen geworden sind, wie zum Beispiel Bischof Wichman von Magdeburg.
Schiffbrüchige Jerusalempilger und Kreuzfahrer außerhalb der liturgischen Gedenküberlieferung Diesen Fällen hier anhand der liturgischen Gedenküberlieferung weiter nachzugehen, ist nicht möglich und muss späteren Ausführungen vorbehalten bleiben. Sicher wird man aber schon jetzt mit der Möglichkeit rechnen müssen, dass nicht immer ausschließlich die in der Litrugie verwendete Memorialüberlieferung weiterführt, wenn es um die Rekonstruktion des Totengedenkens Schiffsbrüchiger, Ertrunkener oder von Piraten Getöteter geht. Wie das Beispiel des Ritters Heinrich von Oefte deutlich macht,40 der sich nach einem festen Haus bei Kettwig unweit von Essen benannte und in der Grafschaft Mark beheimatet war, lohnt sich gelegentlich auch der Blick in für das Thema scheinbar unergiebige Quellen. Das bewegte, an Kämpfen und Abenteuern (unglaublich) reiche Leben des Ritters schildert der Herold Gelre um 1375 in einer dem Protagonisten gewidmeten Ehrenrede, die sich im Wappenbuch des Herolds, im so genannten Wappenbuch Gelre, findet (fol. 10v). Dort heißt es unter anderem, Heinrich sei biden Greve van Cleve über das Meer gefahren, dahin wo König Alexander (der Große) so viel getan habe; dort sei er zusammen mit dem Grafen in Gefangenschaft geraten, später aber befreit worden und schließlich während der Rückreise auf dem Meer erkrankt und gestorben. Tatsächlich ist von Graf Adolf I. (1368–1394) bekannt, dass er im Heiligen Land war. Ob er dabei als erster Graf von Kleve aus märkischem Haus an die 38
Röhricht 1894/1968, 27, 41. Röhricht 1894/1968, 41, 34, 36, 48, 72, 76, 117. 40 Paravicini 2009, 7–9. 39
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„Tradition“ seiner altklevischen Vorgänger, von denen man im 14. Jh. zu wissen glaubte, dass sie an verschiedenen Kreuzzügen teilgenommen hatten,41 bewusst anknüpfen wollte oder andere Gründe ihn veranlassten, in das Heilige Land zu ziehen, bleibt ungewiss. Wohlbehalten von dort zurückgekehrt, stiftete er – soviel kann man immerhin sagen – im Jahr 1377 am Altar des heiligen Georg in der Stiftskriche zu Kleve42 die Vikarie des heiligen Nikolaus. Den künftigen Stelleninhaber verpflichtete er, täglich zwischen Mette und Prim eine Messe zu lesen, und zwar für seine Eltern und Voreltern sowie für alle diejenigen, die den Grafen über das Meer begleitet und dabei den Tod gefunden hatten. Nochmals erwähnt wird die Stiftung Adolfs I. 1391, als man die Einkünfte des Vikars erhöhte, wobei in diesem Zusammenhang nochmals ausdrücklich auf das Seelenheil jener hingewiesen wird, qui eodem comite tunc superstite in peregrinatione Jherosolomitana obierunt.43 Im Memorienbuch der Klever Stiftskirche findet sich dagegen kein Hinweis auf verstorbene Pilger, die auf dem Weg nach Jerusalem ihr Leben auf dem Meer ließen44 – weder im Fall der Pilgerreise, die Adolf I. unternahm, noch sonst irgendwie. Ähnliches gilt auch für das Schicksal Ludwigs III. von Thüringen, auf das deshalb zum Schluss wenigsten noch kurz eingegangen sei: Im Jahr 1188 hatte der Landgraf auf dem so genannten Hoftag Jesu Christi in Mainz das Kreuz genommen, favorisierte allerdings nicht wie Barbarossa den Landweg, sondern schiffte sich in Brindisi ein, um von dort aus nach Tyrus zu segeln. Im Heiligen Land machte er sich während der Kämpfe um Akkon einen Namen, entschloss sich aber nach dem Tod des Kaisers – und selbst bereits nicht mehr bei bester Gesundheit – zur Rückkehr. Auf der Heimreise, die er ebenfalls wieder zu Schiff angetreten hatte, starb er auf offener See am 16. Oktober 1190, noch bevor das Schiff Zypern erreichen konnte. Über die dann folgenden Ereignisse und Begebenheiten berichtet die Reinhardsbrunner Chronik: Seine Begleiter legten nach tränenreichen Klagen und vielem Jammern auf Zypern an, wo man die Eingeweide des Fürsten entnahm und den Leichnam in einem Kessel abkochte, worauf sein Fleisch und sein Mark in einer Kapelle dieser Insel begraben wurden. Unter wieviel Gefahren und welchen Mühen aber die Knochen dieses Fürsten durch wilde Schreckenszeichen des Meeres nach Venedig gebracht wurden, werden die weiteren Ausführungen zeigen. Das Meer hat nämlich das unangenehme Verhalten, dass es die Körper von Verstorbenen nach dem Recht seiner Natur in keiner Weise erträgt, so dass es mit wogenreichen Bedrängnissen den Schiffen, die die Leichname Verstorbener tragen, gewaltig zuzusetzen pflegt. 41
Siehe hierzu etwa die in dieser Hinsicht bislang noch nicht untersuchten Berichte in der Cronica comitum, 158–163, 169 f. und 181 f. 42 Vgl. Lieven 2015, 363–386. 43 Urkunden und Regesten des Stifts Monterberg-Kleve, Nr. 572. Vgl. hierzu auch Scholten 1879, 234 f. 44 Das Memorienbuch des Stiftes Kleve.
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Als es daher zur Kenntnis der Seeleute gelangte, dass die körperlichen Überreste des Fürsten auf das Schiff gebracht worden waren, bedrängten sie deren Begleiter verwegen und behaupteten, dass entweder diese Gebeine in der Tiefe zu versenken seien oder man sich für das Heil der Lebenden alle denkbaren Gefahren vor Augen stellen müsse. Die trauernden Hüter jener Überreste traten durch das Versprechen von Geld den drohenden Anläufen der Schiffer überlegt entgegen, so dass sie ihr böses Vorhaben zu diesem Zeitpunkt aufgaben. Dann aber als die Gefahren mächtig wurden und die Stürme wellenrauschend tobten, wiederholten die Seeleute die früheren Beschwerden und bedrängten die Bewacher mit der Drohung, die Gebeine über Bord zu werfen. Diese legten aber Steine in den Sarkophag und warfen sie, als ob es die Knochen des Fürsten wären, mit jammernden Rufen in die Wogen des Meeres. So brachten sie mit Gottes Einsicht und Güte, wenn auch schiffbrüchig und halbaufgelöst, die Gebeine des genannten Fürsten unter großen Schwierigkeiten ans venizianische Gestade, und in der Reinhardsbrunner Kirche sind sie am 24. Dezember neben den Gräbern seiner Väter mit höchster Ehrfurcht beigesetzt worden.45
Anders als dies bei Basilius der Fall war, der nach Ausweis des Xantener Necrologs auf dem Weg nach Jerusalem starb und eine Seebestattung erhielt, vermochten es die namentlich nicht genannten Begleiter Ludwigs III. mit Bestechung und Raffinesse, die Gebeine des auf der Rückreise gestorbenen Landgrafen bis nach Venedig und dann über Land weiter nach Reinhardsbrunn in die Grablege der Ludowinger zu überführen, um sie dort bestatten zu lassen: Sie hatten die sterblichen Überreste Ludwigs III. der anonymen Begräbnisstätte des Meeres entwunden und sie auf diese Weise ihrer Bestimmung im Rahmen des Totengedenkens zugeführt – nicht zuletzt wohl auch aufgrund der Bedeutung und des Ansehens, das der Verstorbene in der Heimat genoss, und aufgrund der Handlungsspielräume und der Zwänge, die damit verbunden waren. Obwohl im Gegensatz dazu die Familie des Basilius die Gebeine ihres Verwandten nicht in die Heimat überführen konnte, tat auch sie – und darauf kommt es hier an – ihr Möglichstes, um für sein Seelenheil zu sorgen. Ihnen war es gelungen, dass der Verstorbene in das liturgische Memento der Xantener Kanoniker aufgenommen wurde, die ihrem Necrolog zufolge das Totenoffizium eingedenk der Herrenworte hielten: Aus der Hand des Todes werde ich mein Volk befreien – De manu mortis liberabo populum meum.46 Hinzu traten sodann als Besonderheit im Xantener Necrolog die Fürbitten oder Segenswünsche für jene, die ihr Grab in der Fremde gefunden oder eine Seebestattung erhalten hatten.
45 46
Cronica Reinhardsbrunnensis, 546 f. Vgl. hierzu auch Petersohn, 1996, 349–357. Das älteste Totenbuch des Stifts Xanten, 45.
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Schlussbetrachtung Wie neben dem Xantener Necrolog auch andere Totenbücher erkennen lassen, wurden einige der Jerusalempilger und Kreuzfahrer als frater noster apostrophiert, das heißt, sie besaßen wohl wegen ihrer Wohltaten, die sie der entsprechenden necrologführenden Gemeinschaft vor ihrer Abreise hatten zukommen lassen, den Status eines frater conscriptus und waren damit hinsichtlich der im Rahmen des Totengedenkens zu erbringenden Fürbitten und Gebete den Mitgliedern des kommemorierenden Konvents gleichgestellt. Auch wenn dieser Status nicht allen Jerusalempilgern und Kreuzfahrern zuteil wurde, und sich damit durchaus Unterschiede erkennen lassen, blieben sie doch allesamt und gleichermaßen im Gebetsgedenken auf die Lebenden angewiesen, gleichgültig, ob sie vor Antritt der Pilgerfahrt für ihr Seelenheil noch selbst gestiftet hatten oder später Personen aus ihrem engsten Umfeld für sie tätig wurden, wie dies etwa im letzten Viertel des 14. Jh. mit Blick auf Adolf I. von Kleve und der Stiftung der Nikolausvikarie am St. Georg-Altar in der Stiftskirche zu Kleve beobachtet werden kann. Die Lebenden waren es, die den Tod und das Vergessen ihrer Verwandten, Freunde und Wohltäter vor dem Hintergrund einer religiös begründeten Ethik des „Aneinander-Denkens“ und „Füreinander-Handelns“ durch Gedächtnis und Erinnerung zu überwinden suchten, indem sie – wie die Necrologeinträge deutlich machen – auf die Pilgerreise der Verstorbenen ins Heilige Land, die an sich schon positive Auswirkungen auf das Sündenkonto besaß,47 und die näheren Umstände ihres Todes eigens hinwiesen. Dies gilt jedoch nicht nur für die auf der Pilgerreise oder dem Kreuzzug Verstorbenen, sondern auch für die glücklichen Heimkehrer. Auch sie hatten sich durch ihre Pilgerreise ins Heilige Land, durch den Besuch Jerusalems und seiner heiligen Stätten, einen besonderen Gnadenschatz erworben, auf den die Lebenden im Rahmen des Totengedenkens aufmerksam machten. Darin unterscheiden sich die Necrologeinträge für Jerusalempilger und Kreuzfahrer von den Einträgen anderer Verstorbener, die oft ohne jeden Zusatz in ein Totenbuch aufgenommen worden sind. Dass die Namen derer, die auf dem Meer oder während des Kreuzzugs im Kampf den Tod fanden und nicht in der Heimat bestattet werden konnten, zuhause in das Totengedenken aufgenommen wurden, macht indessen deutlich, dass auch sie Teil der Solidargemeinschaft der Lebenden und der Toten waren, wie sie für das liturgische Memento im Mittelalter charakteristisch ist.
47
Auffarth 2007, 76.
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… IN TRANSEUNDO MARE IEROSOLIMAM … MORTUUS
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Jürgen Hasse „Und das Meer gab die Toten heraus, die in ihm waren“ Sepulkralkulturelle Sonderwege im Umgang mit Strandleichen
Zusammenfassung Einführend werden Dimensionen der Seefahrt in der Geschichte des Mittelmeerraumes annotiert. Daraus ergibt sich die Konsequenz eines gleichsam massenhaften (anonymen) Seemannstodes auf See. Eine sichtbare Seite sollte diese Geschichte bis ins frühe 20. Jh. in der Strandung sogenannter „Namenloser“ haben. Die Hochzeit der Náufragos lag im 19. Jh. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der sepulkralkulturellen Bewältigung dieser sozialen Solitäre, die die See so zahlreich auf die Strände warf. In drei Schritten (Fund, Begräbnis, Begräbnisplätze) werden Ähnlichkeiten und Unterschiede im Vergleich zur Situation an den Atlantikküsten herausgestellt. Der Beitrag schließt mit einem Exkurs zur Philosophie des Todes, in dem mögliche Gründe für eine bemerkenswerte Unbewusstmachung des anonymen Seemannstodes sowie der spezifischen Begräbnisplätze diskutiert werden.
Am 8. Dezember 1869 erscheint in „La Correspondencia de España“ (Madrid) ein Bericht über das Scheitern eines Schiffes vor der spanischen Mittelmeerküste: „An der Küste von Cala de Arenas, Cartagena, nahe dem Dorf von Carboneras, wurde vor ein paar Tagen die Leiche eines Mannes an den Strand gespült, deren Identität nicht bestimmt werden konnte, weil die Person weder Kopf noch Arme hatte. Es ist sicherlich die Leiche eines der unglücklichen Opfer der jüngsten Vergangenheit.“1 Solchen Funden ging im Allgemeinen ein Schiffbruch voraus, der sich im Mittelmeer in ähnlicher Weise ereignete wie vor der französischen, deutschen, dänischen, englischen oder irischen Atlantikküste. Meistens sind es die Eintragungen in die lokalen Kirchen- oder Sterbebücher, die den Ertrinkungstod der Seeleute bezeugen. So findet sich im Kirchenbuch der Ostfriesischen Inselgemeinde Borkum ein Eintrag, der dem eingangs zitierten spanischen Pressebericht sehr ähnlich ist: 1
El 8 de diciembre de 1869, »La Correspondencia de España«, de Madrid, publicaba el siguiente comentario: “En la costa de Cala de Arenas, Cartagena, cerca del pueblo de Carboneras, apareció hace pocos días al cadáver de un hombre arrojado por el mar, sin que haya sido posible identificar su persona por carecer de cabeza y brazos. Es sin duda el cadáver de alguna de las infelices victimas que ocasionó el pasado temporal.” Daffós et al. o. J., 4.
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Des Verstorbenen voller Name: Ein unbekannter Mann. | Eltern: Unermittelt. | Tag und Stunde des Todes: Gefunden den 16. Oktober 1860. | Todesart: Ertrinken. | Tag des Begräbnisses: Wahrscheinlich 16. Oktober 1860. | Bemerkungen: Die Leiche war stark in Verwesung übergegangen, ohne Arme und Unterschenkel. Am Halse befand sich ein schwarzseidenes Halstuch und am Unterkörper mit einer Schnur befestigt eine Schifferhose von Öltuch.2
Wenn der „nasse Tod“ auf See – vor allem bis ins 19. Jh. – auch ubiquitären Charakter hatte und die Anspülung sogenannter Namenloser an allen Stränden vorkam, die in der Nähe einer Wasserstraße für den Seeverkehr lagen, so soll im Folgenden der Fokus auf den Küsten des Mittelmeeres liegen. Es sei an dieser Stelle aber explizit vermerkt, dass das Thema des Begräbnisses anonymer Seeleute, die als Wasserleichen auf die Strände geworfen wurden, im wissenschaftlichen Schrifttum nur selten vorkommt und dann höchst fragmentarisch bleibt. Insbesondere für die Situation an den Mittelmeerküsten ist diese epistemische Lücke noch größer.
Das Mittelmeer als Wasserweg Seit Menschen mit Schiffen die Meere befahren, ist das Mittelmeer einer der wichtigsten Wasserwege. Wegen der Hochkulturen, die f r ü h e r an das Mittelmeer grenzten, war es – insbesondere im Mittelalter – auch einer der weltweit größten Schauplätze blutiger Seeschlachten. Mit einfacher Schifffahrtstechnik verband sich aber das Risiko folgenreichen Scheiterns. Zur Seefahrt gehörte – auch auf dem Mittelmeer – nicht nur das Risiko des Schiffbruchs, sondern mehr noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit des irgendwann unmittelbar bevorstehenden nassen Seemannstodes. Grund für die Sorge um das eigene Leben war das Wüten des Leviathan und die Gefahr, mit einem einfachen Schiff ein Spielball der offenen See zu werden.3 Der Hafen von „Piräus war um 450 v. Chr. ein Schmelztiegel unterschiedlichster Nationalitäten und Charaktere, ein Tor zur Welt und ein Treffpunkt von Seefahrern und Abenteurern“4. Das deutet auf eine rege Schifffahrt hin, die zu jener Zeit mit häufigem Schiffbruch verbunden war. Im 16. Jh. häuften sich die Seeschlachten und es muss zu einem geradezu massenhaften Ertrinken von Seeleuten, vor allem von Seekriegern gekommen sein. Im Oktober 1562 ist in der Bucht 2
Kirchenbuch Borkum 1860. „Aus den damit verbundenen Risiken resultierte eine weit verbreitete und in den Quellen immer wieder thematisierte Furcht vor dem Meer, eine Furcht, die nur allzu verständlich ist, wenn man bedenkt, daß selbst Kaiser Claudius in der frühen Kaiserzeit bei einer Fahrt von Ostia entlang der Küste nach Gallien zweimal durch einen Seesturm in Lebensgefahr geriet.“ Schulz 2011, 15. 4 Schulz 2011, 103. 3
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von Herradura ein ganzes Geschwader spanischer Galeeren verlorengegangen.5 Wenig später, im Jahre 1565, stach die türkische Flotte mit dem Ziel in See, „die Tore ins westliche Mittelmeer“6 zu öffnen. Der Verband „bestand aus 170 Kriegsschiffen und mehr als 200 Transportschiffen mit 30.000 Soldaten an Bord.“7 Im Jahre 1571 stach nach der Gründung der Heiligen Liga8 eine Flotte gegen die Türken in See; das Unternehmen sollte in einem Blutbad enden. Allein auf türkischer Seite sollen 25.000 bis 35.000 Mann gefallen sein.9 Aber es waren nicht nur die in den Seeschlachten Gefallenen, die das Meer (zumindest zu einem Teil) an die Strände gespült hat. Es kamen all die noch hinzu, die nach ihrem Ableben auf See über Bord gingen. Die immense physische Belastung der Galeeren-Ruderer, ihr oft schlechter Gesundheitszustand und nicht zuletzt üble hygienische Bedingungen auf den Galeeren führten nicht nur zu hohem Verschleiß an der Mannschaft, sondern auch zu zahlreichem Tod auf See und in der Folge zur Entsorgung der Leichen über Bord. Nicht zuletzt die auf den Schiffen regelrecht zugrunde gerichteten Sklaven dürften nach ihrem einkalkulierten Tod umstandslos ins Meer entsorgt worden sein. Auch der Transport von Sklaven über das Mittelmeer ist mit Verlusten auf See einhergegangen, so dass es auch auf diesen Passagen zur Entsorgung von Leichen in die See gekommen sein muss. Angelo Cattaneo bezeichnet die Geschichte der Schiffbrüche zu Recht als eine „História trágico-marítima“10, die auf dem historischen Hintergrund der maritimen Seeschlachten besonders bizarre Konturen zeigt. So wird sicher davon ausgegangen werden dürfen, dass die Brandung nicht gerade selten Namenlose (meistens Seeleute) auf die Strände oder in die Felsen der Küsten der Mittelmeer-Anrainerländer geworfen hat.
Der maritime Tod Bis heute bedeutet die Seefahrt eine Grenzüberschreitung. Vor allem in den zurückliegenden Jahrhunderten waren die damit verbundenen Risiken hoch. Wer sich auf sie einließ oder einlassen musste, hatte damit zwangsläufig den Tod als „das denkbar Abscheulichste“11 vor Augen. Ferdinand Braudel spricht von einer „tiefen Furcht der Männer, die sich den Listen der See nie leichten Herzens ausliefern“ wollten. Die See habe erschreckend gewirkt, sie habe für die Menschen 5
Vgl. Braudel 2006, 55. Braudel 2006, 552. 7 Braudel 2006, 552. 8 Eine kreuzzugsähnliche Streitmacht bestehend aus der Kirche, Venedig und Spanien. 9 Vgl. Braudel 2006, 578. Zudem wurde die Seefahrt am Ende des 15. Jh. durch heftige Piraterie sehr unsicher. „Es gab sowohl christliche als auch muslimische Piraten.“ Braudel 2006, 532. 10 Cattaneo 2010, 283. 11 Vorgrimler 2008, 627. 6
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voller Gefahren und Überraschungen gesteckt und sei „selbst auf den vertrauten Routen oft tückisch gewesen.“12 Die Sehnsucht nach dem sicheren Hafen bildete das doppelte Zentrum der mythischen Einrichtung der Seeleute in einer schwimmenden Welt. Nicht selten kam es aber noch im Bereich der Hafeneinfahrten zum Scheitern eines Schiffes, so dass der Seemannstod nicht allein auf hoher See geschah, sondern in Sichtweite vom vermeintlich rettenden Ufer. Auch der heterotopologische Charakter des Schiffes deutet darauf hin, dass in der Welt der Seefahrt – bis heute – eigene Regeln gelten. Die Einstimmung in die Teilnahme an der Schifffahrt schloss das Wissen um den möglichen Absturz aller Utopien ins Dystopische ein. Prekär war nicht erst ein absehbar eintretendes Unwetter, sondern schon das Überleben auf dem Schiff. Die im 16. Jh. vor jeder Einfahrt in einen Seehafen übliche Quarantäne, die der Seuchenabwehr diente, endete für die Opfer einer Infektion meist mit dem Tod auf einem Schiff.13 Nicht selten über Bord entsorgt, trieben auch diese Toten eines Tages noch innerhalb der Quarantänezone an ein Ufer oder auf einen Strand. Die schnelle und sichere Entsorgung war dann geboten. Versunken im Meer oder mit der Strömung im Wasser treibend wird ein toter Körper in durchgreifender Weise zerstört und zersetzt. Das Meer ist als Ort des Todes ein aufzehrendes Milieu. In der Offenbarung des Johannes folgt dem Versinken der Toten in offener See (christlicher Utopien halber) die letztlich „rettende“ Auferstehung: „Und das Meer gab die Toten heraus, die in ihm waren; und der Tod und die Unterwelt gaben ihre Toten heraus, die in ihnen waren.“14 Indes waren a n o n y m e Tote stets sepulkralkulturelle Sonderlinge. Für sie gab es kein „gutes D a n a c h“15, kein posthumes Sein in einem zwischenweltlichen Biotop der Engel. Zwar ist das Meer nicht die Unterwelt und nicht a priori die Welt des Todes; aber es ist ein ästhetisch multipolares Milieu, dessen Eindrücke zwischen dem Erhabenen, dem Schönen und dem Grässlichen changieren. In der Ästhetik der Wasserleiche schien das reine Grauen vor – in seiner unverstellten und durch kein „Make-up des Todes“16 gemilderten Grässlichkeit. Die im Meer nach einem Schiffbruch dahintreibenden Leichen folgten der Kraft der Gezeiten und der Strömungen.17 Als Zeichen eines finalen Bankrotts menschlichen Lebens gingen sie schließlich auf ihre Weise an Land. Das Meer warf sie auf den Strand oder in einer Steilküste zwischen die Felsen. Einen bedrohlichen Angriff 12
Braudel 2006, 45. Schwara et al. 2011, 34. 14 Offb. 20, 13. 15 Vgl. in diesem Sinne Lévinas 1996, 75. 16 Baudrillard 2011, 331. 17 Wenn die Wassertemperaturen des Mittelmeeres auch deutlich die der Nordsee überschreiten, so unterscheiden sich die Berichte über den Zustand der Leichen doch nicht nennenswert. 13
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bedeuteten die Toten für das Seuchenabwehrsystem der Quarantäne.18 Kehrten die meist Ertrunkenen aus dem Wasser ans Land zurück, so wechselten sie nicht nur das Element. Sie kehrten auch aus der Unsichtbarkeit zurück in eine sinnliche Welt, in der ihre Ästhetik mit allen kulturellen Standards brach. Strandende Wasserleichen waren in besonderer Weise posthume Weltenwechsler. Auch deshalb gebot ihre erschütternde Ankunft große Eile in der Durchführung eines Begräbnisses.19
Der Fund Zumindest in Küstengegenden ist die romantische Vorstellung verbreitet, dass Seeleute einen goldenen Ohrring trugen oder etwas ähnlich Wertvolles bei sich hatten, das im Falle ihres nassen und anonymen Todes der Gegenwert für die Durchführung eines ordentlichen Begräbnisses sein sollte. Zugleich suggerierte die Wertsache eine ethische Verpflichtung des Finders, sich der Anfertigung eines einfachen Sarges anzunehmen. Der Wert hatte einen gewissen Aufforderungscharakter – Gold fungierte (als Ersatz für Geld) im Sinne eines posthumen Kommunikationsmediums. Die ungezählten Funde gestrandeter Opfer von Schiffbrüchen bestätigen diese Vorstellung sepulkralkultureller Selbstsorge indes nicht.20 Auch war die Beisetzung gestrandeter Ertrunkener in keiner Weise eine ökonomisch lukrative Angelegenheit. Im Gegenteil, sie war mit Kosten und natürlich mit einem überwindungsbedürftigen Arbeitsaufwand verbunden, den schon der Aushub eines einfachen Grabes erforderte. Und schließlich verlangte selbst der geringste Transport einer Wasserleiche von nur wenigen Metern die Zurückstellung ärgster sinnlicher Aversionen. Trotz langwieriger Recherchen sind dem Verfasser nur wenige Forschungsergebnisse zu sepulkralkulturellen Praktiken aus den Küstengebieten des Mittelmeerraumes zugänglich geworden, in deren Zentrum es um namenlose Ertrunkene gegangen wäre. Aber schon aus dem Wenigen lässt sich ableiten, dass der nasse Seemannstod im mediterranen Raum eine mindestens so große Bedeutung gehabt haben musste wie an den Küsten in den Niederlanden, in Deutschland, Dänemark, England und Irland sowie weiterer Anrainerländer aller Meeresküs18
Vgl. Müller 2011, 344. Vgl. auch das Beispiel des im Kirchenbuch der Ostfriesischen Insel Borkum vermerkten Fundes einer Wasserleiche, die noch am Tage ihrer Entdeckung begraben wurde (s. o. S. 340). Daffós et al. zitieren Berichte vom Fund zweier Leichen, die im Oktober 1927 entdeckt wurden. Das Unglück, bei dem die Seeleute umkamen, ereignete sich aber schon im April desselben Jahres. Die Leichen lagen also über mehrere Monate im Wasser bzw. waren an einem Felsen eingeklemmt, Daffos et al. o. J., 18. 20 So berichtete die Sylter Landvogtei am 23.10.1873 an den Landrat in Tondern, die Strandleichen hätten „fast nie Werthgegenstände“ bei sich geführt, zit. bei Voigt 1976, 139/149. 19
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Karte 1: Playa de los Muertos; Cartografá Militar de España (1 : 50.000) – Hoja no. 24–43; Edición 1996.
ten. Es ist insbesondere den Untersuchungen von Ángel Carralero Daffós und Mario Sanz Cruz zu verdanken, dass uns aus der Auswertung von Kirchenbüchern genaue Zahlen über die gestrandeten Ertrunkenen von Schiffbrüchen für einen recht kurzen Küstenabschnitt im Bereich des Playa de Los Muertos in der Gemeinde Carboneras (Spanien/Almería) vorliegen. Eine Liste der allein dort angespülten Toten weist für den Zeitraum von 66 Jahren (1833 bis 1899) rund 200 Funde auf (vgl. Karte 1).21 Es versteht sich von selbst, dass es auch in den Jahrhunderten davor, trotz einer strukturell anderen Schifffahrt zahlreich zum Scheitern von Schiffen gekommen sein muss und damit auch zur Strandung Ertrunkener. Allein die im 16. Jh. mit Galeeren geführten Seeschlachten haben zu einem immensen Verlust an Menschenleben geführt, und die Strandung von Toten verlangte zu allen Zeiten schon aus hygienischen Gründen ein effektives Begräbnis. Eine 1782 in der Bretagne eingeführte Norm dürfte auf die französische Mittelmeerküste übertragbar sein. Danach ordnete das bretonische Parlament an, dass Ertrunkene in den Friedhof der dem Ufer der Fundstelle am nächsten gelegenen Gemeinde zu überführen und dort zu begraben seien.22 Bis dahin war es üblich, die angespülten Toten am Strand oder in den Felsen liegen zu lassen und 21
Vgl. Daffós et al. o. J., 19–21. In der Liste steht an vielen Stellen der ergänzende Hinweis: „Varios desaparecidos“. 22 Vgl. Guillandre 1921, 638.
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der Fäulnis preiszugeben.23 Diese uns heute roh und unzivilisiert erscheinende Praxis illustriert aber nicht nur die ethische Beziehung der damaligen Menschen zu anonymen Toten; sie sagt vor allem etwas über das Ausmaß der Strandungen und eine daraus – möglicherweise durch Gewöhnung – erwachsende Anästhesie. Auch in anderen Ländern und Regionen waren vor dem frühen 19. Jh. „einfachere“ Formen der Entsorgung gestrandeter Seemannsleichen üblich. Das bretonische Beispiel zeigt aber auch die Grenzen des Regulierbaren auf. So führte die Anordnung zur Beisetzung auf dem nächstgelegenen Friedhof nämlich zu Protesten, weil die Priester, die zur Beisetzung der Ertrunkenen verpflichtet wurden, nicht auch den Transport zum Friedhof zu verrichten hatten.24 Auch gab es Vorbehalte, dass die dörflichen Friedhöfe die Vielzahl der Leichen nicht fassen können und die „eigenen“ Toten schließlich in der Nähe von Fremden (hier vor allem Engländern) liegen müssten.25 So folgte im selben Jahr eine ergänzende Anweisung, dass nach der Auffindung einer Leiche ein Bote zum Priester zu entsenden sei, welcher zwei Personen zum Abtransport des oder der Toten zu schicken habe.26 Die Entlohnung erfolgte durch die am Toten gefundenen Werte. Alle Wertsachen (Geld, Ringe, Münzen etc.) mussten zunächst bei der Admiralität der Marine abgegeben werden. Nach Ablauf eines Jahres und eines Tages, nachdem sich kein Erbberechtigter eingefunden hatte, wurden alle Wertsachen nach Abzug der Kosten für Grab, Transport und Gericht zu gleichen Teilen aufgeteilt – zwischen der Admiralität und dem, der den Toten gefunden hatte.27 Da aber bei vielen Leichen nichts Wertvolles zu finden war, kam es immer wieder zur Praxis nächstliegender Entsorgung am Strand. Sofern die Gefahr der Ansteckung durch Seuchen bestand, war es üblich, die Gefundenen auf mögliche Krankheiten zu untersuchen. Im Falle eines 1814 vor den Lissaboner Sanitätsbaracken angeschwemmten ertrunkenen Matrosen, der von einem unter Quarantäne liegenden Schiff stammte, berichtet Luise Müller: „Für den direkten Umgang mit dem Leichnam und dessen Bestattung stellte die Junta drei Tagelöhner an. Diese sollten vor dem Begraben den Körper auf etwaige Wunden und damit Todesursachen untersuchen, um den Seuchentod auszuschließen. (…) Nach Beendigung der Aufgabe mussten sie ihre Isolationszeit im Lazarett verbringen. Da am Körper der Leiche keine Anzeichen eines gewaltsamen Todes festzustellen waren, musste mit größtmöglicher Krankheitsgefähr23
„Ainsi les cadavres des noyés demeuraient sans sépulture, pour une misérable question de lucre. Ils pourrissaient sur la grève, « infectant l’air d’exhalaisons nuisibles et mortifères », sans que personne se souciât au moins de débarrasser les vivants de morts si gênants !“ Guillandre 1921, 638. 24 Vgl. Guillandre 1921, 639. 25 Vgl. Guillandre 1921, 640. 26 Vgl. Guillandre 1921, 642. 27 Vgl. Guillandre 1921, 645 mit Anm.
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dung gerechnet werden.“28 Das Beispiel lässt auch etwas von der ökonomischen Dimension erahnen, die eine den zeitgemäßen hygienischen Ansprüchen gerecht werdende Entsorgung hatte. In der psychologischen Abfederung der unerträglichen Vorstellung einer postmortalen „Ewigkeit des Nichtseins“29 haben sich die religiösen Mythen weithin bewährt. Dagegen verkörpert der anonyme und mehr oder weniger in Zersetzung übergegangene Tote, der aus dem Element des Wassers kommt, in unverstellter Weise die sich ankündigende postmortale Zeitlosigkeit des Todes – eine „weiße Zeit“ ohne Sinn. So liegt der Gestrandete – anders als jeder durch das Make-up des Todes der Welt der Lebenden noch ähnlich gemachte Tote – in einem trans-mortalen Koma. Die Ästhetik d i e s e r Leichen zog jeden Betrachter aber auch deshalb in den Sog der Abgründigkeit des Todes, weil der Tote ein Solitär war – ohne soziale, ökonomische und juristische Identität. So konnte er auch im engeren Sinne gar nicht beigesetzt werden. Und so wurden die anonymen Ertrunkenen auch bis ins frühe 19. Jh. nicht nach einem sepulkralkulturellen Ritus begraben, sondern im Sinne einer Entsorgung vergraben. Friedhöfe im Sinne des Wortes gab es erst mit der Schaffung spezieller Begräbnisplätze für Ertrunkene, sofern sie – wie mitunter an den Nordseeküsten – überhaupt eingerichtet worden sind.
Der Begräbnisakt Im Allgemeinen stellt der Begräbnisakt in der Sepulkralkultur eine normativ hoch regulierte Situation dar. Neben seiner hygienischen Funktion der Entsorgung stellt er nach Lévinas „eine Beziehung zum Toten und nicht zum Kadaver“30 her. Die Trauerfeier verwandelt den Toten in lebendige Erinnerung.31 Dazu muss der Verstorbene im Sinne von Martin Heidegger aber zunächst zum „Gegenstand des »Besorgens«“ werden. Hier hatten Totenfeier, Begräbnis und Gräberkult32 stets wichtige Funktionen, so dass das Grab schließlich zur Gedenkstätte werden konnte.33 Der Begräbnisakt setzt also eine soziale Vernetzung des Verstorbenen voraus. Ohne noch warme gelebte Netze des Sozialen gäbe es die Option der Erinnerung nicht. Oft lässt sich die Situation der Auffindung einer Strandleiche schwer vom Akt des Begräbnisses trennen. Charakteristisch ist gleichwohl der Umstand, dass sich 28
Guillandre 1921, 346. Guillandre 1921, 451. In diesem Sinne auch: „Ohne Fantasmen der Unsterblichkeit oder doch zumindest einer gewissen Fortdauer über den allzuengen Horizont unseres Erdendaseins hinaus kann der Mensch nicht leben.“ vgl. Assmann 2000, 14. 30 Lévinas 1996, 94. 31 Lévinas 1996, 99. 32 Vgl. Heidegger 1993, 238. 33 Vgl. Ariès 2009, 261.
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das Begräbnis anonymer Strandleichen jeder sepulkralkulturellen Norm entzog. Besonders darin wird deutlich, dass in der Anonymität „der wirkliche, vollständige und endgültige Tod“34 liegt. Und so gibt es streng genommen auch keinen Grund für Totenfeier, sepulkralkulturell ritualisierte Beisetzung und Gräberkult. Allein ein meist schwacher Impuls menschlicher Verpflichtung gegenüber den Toten hinter den Leichen sicherte die Abwicklung des Nötigsten. Diesseits jeder sepulkralkulturellen Rahmung gab es aber auch andere Entsorgungsmethoden. So wurden auf der Insel Madeira bis ins 18. Jh. „Begräbnispraktiken“ angewandt, die noch nicht einmal der Aushebung eines Loches bedurften. „Bis 1765 durften Protestanten nicht in der Erde der katholischen Insel beerdigt werden, und so wurden sie bis dahin bei Garajau im Meer bestattet.“35 Im Allgemeinen hatte die Kirche die Macht über die „Verwaltung der imaginären Sphäre des Todes“36. Im Falle der Namenlosen war ihr Interesse eher marginal ausgeprägt. Das hatte nicht zuletzt ökonomische Gründe. Wer als sozialer Solitär begraben werden musste, konnte der Kirche schon deshalb keinen Nutzen bieten, weil es oft keinen Kostenträger gab. Selbst wenn die Kostenübernahme staatlich angeordnet wurde, war das Engagement der Kirche reduziert, am Begräbnis eines ertrunkenen Namenlosen mitzuwirken. Es kam immer wieder zu Reibungen zwischen Staat und Kirche, wenn dem Klerus die für angemessen gehaltene Entlohnung zwar zugesichert, aber nicht ausgezahlt wurde. In der Folge gab es in der Beisetzung der Namenlosen oft keinen religiösen Beistand. Das heißt indes nicht, dass es auch an jeder Form der S o r g e mangelte. Schon ein archaisches Bedürfnis nach Abwehr der Gefahr einer Infektion sowie der Abwendung verwesungsbedingter Beeinträchtigungen drang auf EntSorgung. Gleichwohl fehlte den fiskalisch induzierten Maßnahmen jedes mythische Begleit-Konzert. In der Beisetzung anonymer Seeleute bricht die dreifache Teilung der Sorge, die dem „normalen“ Sterblichen zuteil wird, völlig zusammen (Staat als Besorger des Lebens, Kirche als Besorger des Todes und Sepulkralkultur als Besorger des Übergangs zwischen den Welten).37 In aller Regel entfiel aus Mangel an sozialer Anbindung der Begrabenen selbst die mindeste mythische Nachsorge in Form irgend einer Erinnerungskultur, etwa durch Gedenkzeichen medialisiert.38 Erst seit die ertrunkenen Namenlosen auf regulären kommunalen Friedhöfen beigesetzt werden, war auch eine sepulkralkulturelle Ausleitung (zumindest auf niedrigstem prozeduralen Niveau) gewährleistet, wenngleich hier die Frage offen bleiben muss, an welche Adressaten sich diese Rituale tatsächlich gerichtet hatten. Mehr als für alle Verstorbenen, die aus sozialen Netzen herausgefallen waren, 34
Ariès 2009, 261. Dahle et al. 1997, 222. 36 Baudrillard 2011, 260. 37 Vgl. in diesem Sinne Baudrillard 2011, 260. 38 Vgl. dazu Fischer 2012, 17–24. 35
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galt für die Namenlosen, dass sie am Ende eine „gesellschaftliche Ausgrenzungslinie“ passierten, die „die »Toten« von den »Lebenden« trennt“39 – auf welche Weise diese Grenzziehung immer auch rituell begleitet worden sein mag.
Der Begräbnisplatz Friedhöfe im engeren Sinne gab es in der Bestattung anonymer Ertrunkener im Allgemeinen nicht. Allein der sogenannte Namenlosen-Friedhof näherte sich in seiner minimalistischen Gestaltung dem Raummodell des Friedhofs, wenn er auch heterotopologische Merkmale vermissen ließ. Die Begräbnisorte der Namenlosen waren meistens auch keine Orte mit numinosen Atmosphären, sondern disperse Orte des Vergessens. Sie waren Orte der Ausräumung, ohne im eigentlichen Sinne R a u m - Charakter zu haben. Die variationsreiche Geschichte der Sepulkralkultur ertrunkener Seeleute ohne feststellbare Identität bringt sie mehrheitlich als reine Ent-Sorgungsorte in den Blick. Im Juli 1377 beschloss der Große Rat von Ragusa die Einführung einer Quarantäne. Wenig später folgten Marseille, Venedig, Pisa, Genua, Mallorca und im 16. Jh. Malta.40 Bezogen auf die Häfen von Lissabon und Cádiz berichtet Luise Müller von unbekannten Toten, die „immer wieder in der Nähe beider Hafenanlagen, teils sogar in unmittelbarer Nähe der Quarantäneanlagen ans Ufer gespült“41 wurden (vgl. oben). Unter anderem weist sie auf die Anspülung einer stark durch Fischfraß und Verwesung zersetzten Leiche eines Seemanns hin, die um 1800 „im unreinen Bereich des Strandes von Mannschaftsangehörigen des Wachschiffes nahe der Stelle begraben [wurde], wo bereits ein anderer Unbekannter lag. Man merkte sich also, wo man die fremden Leichen beerdigt hatte.“42 Die anonymen Strandleichen wurden auch in anderen Fällen im Sand verscharrt, und zwar – wo immer möglich – innerhalb des Quarantänebereiches und in der Nähe der Fundstelle. Schon wegen der Menge der entsorgungsbedürftigen Leichen muss es ein System der Markierung gegeben haben, das sicherstellen konnte, dass nicht eine Stelle mehrmals aufgegraben wurde.43 Wer in der Quarantäne an einer ansteckenden Krankheit verstarb, wurde ohne kirchliches Zeremoniell begraben, „mit eisernen Haken auf einen kleinen Rollwagen gebracht, zu einer tiefen Gruft gefahren und mit Kalk zugeschüttet. Die 39
Baudrillard 2011, 228. Vgl. Müller 2011, 225. 41 Müller 2011, 344. 42 Müller 2011, 345. 43 Die Praxis des Vergrabens infolge fortgeschrittener Verwesung nicht mehr transportfähiger Leichen am Ort des Fundes oder in dessen unmittelbarer Nähe war nicht nur in Südeuropa verbreitet, sondern auch an den Atlantikküsten üblich. Offen muss indes die Frage bleiben, ob es auch – zumindest in einzelnen Regionen – an den Küsten der Nordsee ein Markierungssystem gab.
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Gruft durfte 30 Jahre nicht geöffnet werden.“44 Weitere Hygienemaßnahmen, die den Ort des Aufenthalts des Verstorbenen betrafen, folgten.45 Die Praxis des Beoder Vergrabens in der Nähe der Fundstelle war äußerst langlebig und hatte mit einer Kultur des Friedhofes nichts gemein. Müller liefert mit dem Beispiel einer Anordnung der Providencias Generales de Sanidad der Hauptstadt der Baleareninsel Menorca (Mahón) vom 3. Juni 1817 einen historischen Beleg. Danach sollten angespülte Tote (meistens Seeleute) „in dem Strandabschnitt, an dem sie angespült worden waren, sofort, direkt und tief begraben werden. Die Erde über ihren Gräbern war sodann noch festzutreten, dass die Schwimmenden Toten auch wirklich beerdigt blieben.“46 Solche Formen der unmittelbaren Beisetzung (nach der Auffindung einer Leiche) außerhalb der Friedhöfe deuten vor allem auf Eile hin.47 Die Praxis, die anonymen Strandleichen direkt am Fundort im Strand zu begraben, entsprach auch im islamischen Raum, zum Beispiel an der türkischen Mittelmeerküste, der üblichen Praxis.48 Es mag sein, dass auch hier die Angst vor ansteckenden Krankheiten der Grund gewesen ist. Vielleicht war es der ästhetisch-ethischen Extremsituation der Auffindung von Strandleichen geschuldet, dass es so viele Variationen in der Kultur der Beisetzung Ertrunkener gab. So berichtet Mario Sanz Cruz von einem Fall aus dem Jahre 1889, wo nach dem Untergang eines Fischerbootes vor der spanischen Mittelmeerküste ein identifizierter und lokal bekannter Ertrunkener, der erst einen Tag in der See lag, von der Polizei nicht für die Beisetzung auf dem kommunalen Friedhof freigegeben, sondern in der Nähe der Fundstelle begraben wurde.49 Dabei hätte der Zustand der Leiche auch nach den geltenden Vorschriften den Transport auf den Friedhof zugelassen. Auch die zweite Person, die erst einen Monat nach dem Unglück an den Strand gespült wurde, sei in einer Grube in der Nähe einer Dorfstraße begraben worden.50 Im 20. Jh. wurden dann auch an der spanischen Mittelmeerküste nicht identifizierte Leichen auf dem kommunalen Friedhof beigesetzt.51 Seit den 1920er Jahren wurden die Bemühungen intensiviert, die Identität „noch“ Anonymer aufzuklären.52 44
Müller 2011, 232. Die aus Ragusa stammenden Reinigungsbestimmungen galten noch bis ins 18. und 19. Jh. in vielen mediterranen Hafenstädten, vgl. Müller 2011, 233. 46 Müller 2011, 345, Anm. 167. 47 Zur Situation in Großbritannien und Irland merken Cherryson et al. an: „The practice of interring the drowned outside recognised burial grounds may simply represent an urgency to bury bodies that had decomposed due to prolonged periods of time in the water“ Cherryson et al. 2012, 115. 48 Mdl. Information Uni Istanbul und Sivas (je Geschichte); via Necmi Yigit am 16.02.2015. 49 Vgl. Sanz Cruz 2009, 3 f. 50 Vgl. Sanz Cruz 2009, 5. 51 Vgl. Daffós et al. o. J., 14, hier bezogen auf eine 1918 durchgeführte Beisetzung von drei aufgefundenen Toten. 52 Zu einem Hinweis auf die Einleitung einer gerichtlichen Prüfung vgl. Daffós et al. o. J., 15. 45
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Das Vergessen Im wissenschaftlichen Schrifttum spielt der individuelle Tod als Folge des Schiffbruchs keine nennenswerte Rolle. Jules Michelet beschreibt in seinem Buch über das Meer zwar dramatische Szenen des Schiffbruchs im Atlantik,53 der Seemannstod findet indes seine Aufmerksamkeit nicht. So ist es kaum verwunderlich, dass sich auch die wissenschaftliche Literatur – der Geschichte in besonderer Weise – des konkreten Seemannstodes kaum annimmt. Trotz eines äußerst großen Reichtums an historischen Details kommt das Thema der Beisetzung anonymer gestrandeter Seeleute selbst bei David Abulafia auf knapp tausend Seiten nicht vor.54 Zwar zitiert er den Sekretär des Statthalters von Granada Ibn Dschubair, der Mitte des 12. Jh. über das Leben an Bord der Schiffe berichtete, wonach es sowohl unter Christen als auch Muslimen üblich gewesen sei, sie ins Meer zu werfen, wenn sie auf einer Fahrt an Bord gestorben waren.55 Die Strandung Ertrunkener thematisiert er nicht. Das ist kein Einzelfall, sondern die bedenkliche Regel. Die beinahe systematische Ausblendung der Auffindung und Beisetzung bzw. Entsorgung anonymer Seemannsleichen ist für das wissenschaftliche Schrifttum charakteristisch und muss folglich Gründe haben, die sich nicht durch einfaches „Übersehen“ erklären lassen. Ich muss es an dieser Stelle aus Platzgründen bei einer knappen Erläuterung möglicher Gründe belassen, die ihren Ausgang in der visuell-ästhetischen Situation der Auffindung einer Strandleiche nimmt.56 Die im 19. Jh. so zahlreich gestrandeten Ertrunkenen hatten in ihrer sinnlichen Präsenz abgründige Empfindungen geweckt. Schon die Abwehr einer individuell ergreifenden Angst vor dem Tod könnte jede Thematisierung über das absolut Nötigste hinaus, das in einem Zusammenhang mit der Entsorgung der Leichen gestanden hatte, unterbunden und in die Dethematisierung und folglich in die Unbewusstmachung geführt haben. Dadurch würde sich auch erklären lassen, weshalb die Kulturwissenschaften heute über so wenig Wissen zum Thema verfügen. Das in seiner Entsetzlichkeit durch eindrucksmächtige idiosynkratische Affekte so Beeindruckende wäre so gegenüber dem Wissen abgeschirmt worden. Die unvermeidlichen sinnlichen Eindrücke wären über das pragmatisch gebotene Bedenken des entsorgungstechnisch Gebotenen hinaus der späteren Erinnerung entzogen gewesen. Diese Abscheidung lebensweltlich verfügbaren Wissens um einen sich über viele Jahrzehnte wiederholenden Sachverhalt erklärt sich nicht über einfaches Vergessen, sondern erst über den tiefenpsychologischen Prozess kollektiver Unbewusstmachung. Das Thema des Vergessen-M a c h e n s stellt sich als eines der Ethnopsychoanalyse. Ich werde diese These im Folgenden 53
Beispiel vgl. Michelet 1987, 77. Vgl. Abulafia 2014. 55 Vgl. Abulafia 2014, 410. 56 Vgl. ausführlich auch Hasse 2016.
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weiter diskutieren und Befunde aus der Geschichte der dokumentierten Funde von Strandleichen darauf beziehen. Eine Strandleiche zeigt das Gesicht eines individuellen und zweifellos konkreten Todes. Es ist d i e s e r besondere Tod e i n e s Menschen. Aber in seinem besonderen sinnlichen Erleben ist dieser Ausdruck tief und unüberschminkbar vom Tod im Allgemeinen gezeichnet. Mehr noch: Er ist das A n t l i t z des Todes, das unmittelbar in die Enge der Angst vor dem noch fernen, aber gewissen e i g e n e n Tod treibt. Was an den meisten Gestrandeten sinnlich wahrnehmbar wird, dem möchte der Lebende entfliehen. Den so immersiven Eindruck des Todes will kein Mensch erfahren, der noch Lebenszielen zustrebt. Der Tod eines Gestrandeten ist zweifach situiert; durch den Schiffbruch, der den Seemann das Leben gekostet hat und durch die Zeit des Dahintreibens im Wasser. Im Moment der Strandung verdichten sich beide Situationen im Eindruck reinen Grauens. Ein Blick in die zum Teil ausführlichen Einträge in die Kirchen- und Sterbebücher lässt die Vorstellungen erahnen, denen jene ausgesetzt waren, die die Toten fanden – und mehr noch die, die sie begraben mussten. Im Jahre 1906 wurde einen Monat nach dem Schiffbruch der Syrio am Strand vor der spanischen Mittelmeergemeinde Carboneras die Leiche einer Frau geborgen, deren Zersetzungszustand erschreckend gewesen sein muss.57 Das Grauen angesichts solcher oder ähnlicher Strandungen ist aus den lebensweltlichen Erfahrungen eines überhygienisierten Alltages in spätmodernen urbanen Gesellschaften schwer vorstellbar. Die Mächtigkeit der Erschütterung musste ästhetisch wie ethisch eine leiblich so intensive Engung bedeutet haben, dass sich das sinnlich Erlebte sprachlich nicht hat ausdrücken lassen. Auch auf dieser Grenze der Inkommensurabilität mag das in seiner abgründigen Konkretheit kaum steigerbare Bild des Grauens in den Bereich des Unbewussten verschoben worden sein. Das ganz spezifische sinnliche Erleben angetriebener Strandleichen musste die abgründige Angst vor dem Tod in einer maximalen Weise intensivieren. Eine dem Affekt der Angstabwehr folgende Abstandnahme drückt sich auch in der sprachlichen Benennung aufgefundener toter Seeleute aus. Während in der Bibel die Ertrunkenen als „Tote“ angesprochen werden, die das Meer wieder herausgibt,58 werden sie als Kandidaten der Auferstehung vorausgesetzt. In der profanen Lebenswelt der Insulaner und der Zeit des massenhaften Schiffbruchs war das anders: „Der Leichnam im Meer, eine Beute der Fische oder irgendwie an Land gespült, galt als ein Unbestatteter und damit als einer, dessen Seele die ewige Ruhe versagt blieb.“59 Und so wurden die Funde in aller Regel (in der deutschen Sprache) auch nicht als Tote, sondern als Leichen gesehen. Darin variiert sich nicht 57
Die Leiche wurde am Playa de Los Muertos gefunden: „el cadáver de una mujer en completo estado de descomposición, faltándole las orejas, partes blandas de la cara, piel de la cabeza y tronco y extremidad inferior derecha separada del tronco.“ Daffós et al. o. J., 7. 58 Offb 20, 11. 59 Richter 2014, 34.
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nur rhetorisch eine Bedeutung, die mit dem Begriff des Toten identisch wäre. Vielmehr ist der Begriff der Leiche in hohem Maße versachlicht und vergegenständlicht. Die Lebensgeschichte und Würde eines verstorbenen Individuums ist weiter von ihr entfernt als von jedem „Toten“. Ein Toter ist immer ein Mensch,60 während man auch von Leichen spricht, wenn man es mit einem Tierkadaver zu tun hat. Der Begriff der Leiche ist ein Neutrum, der allein auf die abgestorbene Substanz eines Körpers verweist.61 Ein namenloser Toter ist von Anfang nur eine Sache, ein gegenständliches Entsorgungs-Objekt. Die Distanzierung könnte kaum größer sein. Einen wichtigen Grund hat sie auch darin, dass sich mit dem fortschreitenden Verfall die spürbare Präsenz leiblicher Vitalität zurückgezogen hat. Hätte man die auf dem Strand liegenden Opfer eines Schiffbruchs als Tote angesprochen und in den Kirchenbüchern als Verstorbene vermerkt, wäre der Stachel, den „das Jenseits ins Diesseits treibt“62, noch viel angreifender und spürbarer geworden. In Großbritannien und Spanien werden die bei Schiffbrüchen Ertrunkenen als „victims“ bzw. „victimas“ bezeichnet. Auch als Opfer kommen sie in keiner leiblichen Vitalität in den Horizont der Wahrnehmung, sondern von Anfang an als schicksalhafte Objekte der Geschichte. Dagegen werden in den spanischen Listen die Opfer als „muertos“ und nicht als „cuerpos“ oder „cadáver“ angesprochen und die Fehlenden als „desaparecidos“ (Verschwundene) ergänzt. Es muss aber letztlich doch fraglich bleiben, ob die R e d e über die sich leiblich zu spüren gebende ethische Beziehung zu den Toten Auskunft gibt oder nicht viel mehr die sepulkralkulturelle Praxis. Gleichwohl drückt sich in Worten wie „Leiche“ oder „Opfer“ eine Distanz aus, die dem Wort des „Toten“ oder „Verstorbenen“ nicht in ähnlicher Weise zu eigen ist.
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Nefeli Angeliki Bami Bureaucracies of Death State and Religious Protocols in the Cemetery of Unidentified Immigrants in Sidiro (Evros Region, Greece) Abstract The purpose of this research is to describe the bureaucratic procedures that follow the death of irregular immigrants in Greece and stress the attention to a cemetery of unidentified immigrants in Sidiro, a village placed near the Greek-Turkish border. The difficulty of the identification of the buried unidentified immigrants on this cemetery results from a combination of interrelated factors which act on international, national and local level. The arbitrary identification of an irregular immigrant with a Muslim, the political indifference of the Greek state and the distance between the secular and religious perception of death are the source of this process.
“There will be no public expression of grief.” Σοφοκλής, Αντιγόνη. Η Νέα Σκηνή, Θέατρο Οδού Κυκλάδων (Athens 2006), translation by the author
Introduction I am walking in the cemetery of unidentified immigrants of Sidiro. Sidiro is a small village in Evros region in Western Thrace that lies in the north-eastern part of Greece. I try to count the graves but this is impossible as there is no end in sight to the number of simple burial plots. I begin counting again. One hundred twenty, maybe one hundred fifty … In vain, I try to recognize the hundreds of graves of the unidentified immigrants who died trying to pass into Europe through the Greek-Turkish border. Who is buried here and who remembers him? It seems to me that the invisibility of these people in life has followed them after death. The lack of the tombstones confuses my western eyes. I find it difficult to recognize this field as a cemetery. Instead, I see a sad memorial, an invisible monument of border violence, hidden as a secret inside the mountains. Next to me, the
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mufti1 of the region narrates stories about the people who have been buried here. His stories reconstruct memories of mass funerals, tragic love stories and the repulsive smell of death. His narration sometimes sounds rehearsed, as if repetition formed the phrases and the memory in preconstructed forms that lie somewhere between the common sense and the need for political correctness. He assures me that if he had his “book” with him, he could explain in detail the location of each person buried in the cemetery. This information, he says, is very important to help the relatives visit their deceased. He explains the Islamic burial ceremony and the ways in which he prays for the souls of the deceased. Again and again, the mufti affirms, “In front of the God, everyone is equal”. Earlier in the office of the mufti on Didimoticho,2 I held in my hands an inflated blue dossier full of official documents: registry death certificates, police orders, receipts, medical death certificates, documents from embassies and other bureaucratic traces are all mixed in together. They generally follow a chronological order but it is difficult to distinguish the individual cases to which the documents refer. This is the mufti’s “book” for the dead of unidentified immigrants that he has buried in Evros region. I attempt to imagine the link between a dead person, the documents that surround his death, his grave and the memory that these written and physical traces can construct. For the moment, these graves and documents appear fragmented as different scenes of the same drama that I would desire to connect. Is such a reconstruction, however, possible? Later, when I ask the mufti how he can recognize the exact place that every one of the deceased immigrants have been buried, he points to his head. He claims that he remembers every case with the help of this “book” but he advises me that “on a spiritual level” it is bad to research the cases of the dead. If necessary, the mufti can indicate them. However, he suggests the futility of such a task as, in his own words, “The dead are dead; you cannot change this”. His religious approach towards death make his words appear vague to me. On the other hand, I feel that my desire to locate these unidentified immigrants disturbs mufti’s order of things and meaning of his God’s will. Does this tension exist only as a matter of cultural misunderstanding? Or does this discordance between the bureaucratic and the religious approach of death serve as a veil to cover certain responsibilities? The chaotic archive does not provide answers to my questions nor does the Soufli municipality civil servants. The cemetery of Sidiro administratively belongs to the border municipality of Soufli, a small city of 4000 residents which is placed 500m far from Evros river, the natural border between Greece and Turkey. 1
Mufti, Arabic muftī, an Islāmic legal authority who gives a formal legal opinion (fatwā) in answer to an inquiry by a private individual or judge. A fatwā usually requires knowledge of the Qurʾān and Ḥadīth (narratives concerning the Prophet’s life and sayings), as well as knowledge of exegesis and collected precedents, and might be a pronouncement on some problematic legal matter (Britannica mufti). 2 Didimoticho is a border city of 9000 residents which is placed 2 km far from the GreekTurkish border. Its population is mixed, Christians and Muslims live together.
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Many of these civil servants have no knowledge of this cemetery and only a few have an uncertain idea about its location. This seems strange as every cemetery in Greece is placed in a prominent location. “Only the mufti can help you”, some of these civil servants reply. It seems that this cemetery belongs symbolically to him. However, the coroner, Pavlos Pavlidis, remains sceptic about the possibility of the mufti helping me or any other person, past helping the relatives of the deceased immigrants finding the graves of their lost loved ones. On our meeting at his office at the hospital of Alexandroupoli on 9/1/2014, he describes the identification of an unidentified buried immigrant in Evros region as an absurd process, which is very organized on a bureaucratic level from the state’s civil services side and very inaccessible from the mufti’s side. The mufti though is a civil servant himself. A civil servant and a religious leader at the same time. The labyrinthine identification of these graves came into the public eye after the visit of a NGO to the cemetery in 2010. Members of the organization “Welcome to Europe” traveled to the cemetery in order to find the grave of an Afghan who had drowned with 13 other people in Evros river.3 Even if their statement about the existence of a mass grave on the cemetery cannot be confirmed, this was the first time that the story and photos of this cemetery were spread in the local and national news.4 As these reports spread, the mufti of Didimoticho became a public figure. Journalists from around the world interviewed him, sometimes presenting the mufti as a good Samaritan and sometimes as someone who has to do the “dirty work” of the state. Personally, the most interesting part of his performance was his virtuosity in balancing his role as a public servant as a representative of the Greek authority with his role as a religious servant and leader. The issue of the immigrants’ cemetery near the Greek-Turkish territorial border, however, remains underresearched. The bureaucratic and societal indifference is related to the accustoming of the phenomenon of border deaths in general. Nowadays, irregular migration commonly results in with high rates of border deaths. Few scholars have asked the cause of these deaths and who is ultimately responsible. Moreover, at the present moment, the responsibility is sought to placed upon the immigrants themselves, as these deaths have been received as a natural continuation of lives traveled of the limits of control. The massiveness though of these deaths makes them a social phenomenon with specific historical causes and it is a duty to the European democratic values to denaturalize this human tragedy. The following article discusses the bureaucratic procedures that follow the death of an unidentified irregular immigrant. It argues that the creation of the cemetery of Sidiro and the difficulty of the identification of the buried unidentified immigrants results from a combination of interrelated factors which act on international, national and local level. I attempt to demonstrate that the ar3 4
w2eu 2010. Εnet 2010; Alexandroupoli 2010; Protagon 2012.
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bitrary identification of an irregular immigrant with a Muslim and the political indifference of the Greek state is the source of this process. Local administrators, in fact, create bureaucratic obstacles that serve certain national immigration policies. The contextualization of the management of these border deaths offers insight on the national and local interpretations of the immigrant as the “other” but also interpretations for the internal national “other” in Western Thrace. This article is based on my fieldwork research in Evros region from April 2014 to January 2015. This research was part of the “Human Costs of Border Control” research project, VU (University of Amsterdam). One of the aims of this project was the creation of the “Deaths at the Borders Database” which is the first collection of official, state-produced evidence on people who died while attempting to reach southern EU countries from the Balkans, the Middle East, and North and West Africa, and whose bodies were found in or brought to Europe. The only municipality in Evros region that denied the access to its registry archives was the municipality of Soufli, where Sidiro village belongs administratively. After a long effort, the registrar committed finally the number and the gender of the deceased immigrants registered but no more details.
The cemetery of unidentified immigrants on Sidiro: A discussion of its local context and a history of its creation In recent years, Greece has become a very important first country of arrival for irregular migrants and asylum seekers that wish to relocate in Europe. From 2009 to 2012, the bulk of displaced immigrants and asylum seekers have flowed towards Europe through the Greek-Turkish territorial border across from Evros river in the North-Eastern corner of Greece.5 After 2012, this migration moved towards Italy. However, as of 2015, the Aegean Sea once again has become the main passage and, ultimately, a location where many people have lost their lives. Generally, an examination of the migration movement the last decade shows that the main migration flows from Turkey to Greece are changing routes from the sea border to the land border and then again to the sea following the border control management as it attempts to constrict the flow of migration.6 Tighter controls along the Greek-Turkish territorial and naval borders have forced many people to use increasingly dangerous routes. Migrants who manage finally to reach the Greek-Turkish land border face push-backs which greatly increases the risk drowning, hypothermia, mine explosions and a host of other dangers along the border zones. Unfortunately, the response of the European 5
The external EU borders between Greece and Turkey are consisted by a land border of 203 km distance in Evros region on the North and a sea border on the Aegean Sea on the South. 6 Frontex 2014.
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Union was to strengthen the means of surveillance as the Rapid Border Intervention Team (RABIT) in the mainland region of Evros in 2010 and to construct a fence between Greece and Turkey in order to hinder migrants’ passage. A soaring increase of the migrants’ deaths on the Aegean Sea last period has lead many people and organizations to support the opening of the fence in order to reduce the number of the drownings. The most recent erection of a fence along the Greek-Turkish border is just the most recent event in a long history of border control management. After the Cyprian crisis of 1974, the Western Thrace region developed into a military zone. More and more Evrians started to feel the effects along the border, primarily because they themselves enforce the border control as employees of the Greek state.7 A large minefield8 placed along the border was one of the leading causes of death for the immigrants attempting to cross irregularly the border until 2008. The transformation of the Greek-Turkish border to an external border of Europe has reinforced its militarization and the impact of these large-scale migrations figures as a central concern in the national and local discussions about the area. The Evros region in Western Thrace lies in the north-eastern part of Greece. It borders Turkey in the East and Bulgaria in the North. Its marginality results not only from the distance from the national center, but it also is based on the multi-ethnic composition of its population, which includes Turks, Pomaks and Roma. The Turkish community, which is more often referred by the Greeks as the “Muslim minority”, has continued to live in this region, after the exclusion of Western Thrace from a population exchange organized by the Lausanne Treaty of 1923.9 In Western Thrace, Sharia,10 the sacred law of Islam, is applied to the Muslim population. The simultaneous application of this religious law and the 7
After 3 years of fieldwork in Evros region, I have met numerous cases that confirm this statement. Most of the locals that I met, they have at least one relative working at the border control. 8 Greece has signed the Ottawa Treaty (1997) for the banning of the minefields against personnel. This agreement demanded the disarmament of the minefields in Greece till 2008. The coroner of Thrace, Mr. P. Pavlidis, supported that after 2008, he hadn’t got any case of death due to mine explosion (hospital of Alexandroupoli, 9.1.2015). 9 Treaty 1923. 10 Sharīʿah, also spelled Sharia, the fundamental religious concept of Islam, namely its law, systematized during the 2nd and 3rd centuries of the Muslim era (8th–9th centuries). Total and unqualified submission to the will of Allah (God) is the fundamental tenet of Islam: Islamic law is therefore the expression of Allah’s command for Muslim society and, in application, constitutes a system of duties that are incumbent upon a Muslim by virtue of his religious belief. Known as the Sharīʿah (literally, “the path leading to the watering place”), the law constitutes a divinely ordained path of conduct that guides Muslims toward a practical expression of religious conviction in this world and the goal of divine favour in the world to come.
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Greek civil law creates an unusual legal standing, but also many problems to the Muslims that are betaking to the European Court.11 Consequently, the Greek government has no jurisdiction over the administration of Sidiro cemetery. This directly correlates with special regulations that constitute the relationship between the Greek state and the Muslim minority in Western Thrace. According to the Cemetery Service of Soufli municipality, Islamic burials remain within the jurisdiction of the Muslim community and most specifically of the mufti of the Evros region. The rights and the responsibilities of the mufti were determined by the Treaty of Athens (1913),12 the Treaty of Sevres for the minorities (1920/23)13 and the article 42.1 of the Lausanne Treaty. According to the Lausanne Treaty, the mufti acts as the highest religious leader of Islam in his prefecture and he supervises the mosques, the imams, the cemeteries and the vakifs.14 In addition, the mufti has the authority to mediate on conflicts between the members of the majority and the minority communities. The location of the cemetery in question lies in Sidiro village, 20 km outside of the city of Soufli and 22 km from the natural border between Greece and Turkey, the Evros River. The village belongs administratively to Soufli municipality, which is the only municipality in Greece that turned down my requests for access to its archives. Sidiro is a small mountain village and the majority of its population is of Pomak origin. The mufti of Didimoticho, Mehmet Serif Damadoglu, lives in Sidiro and the the cemetery was established in Sidiro primarily due to the proximity of the mufti’s residence. Actually, according to the mufti, the field on which the cemetery is established, was classified as public woodland and his father had been cultivated it over 50 years ago. The cemetery was created out of a need to bury unidentified immigrants after the local Muslim community refused to bury them in local cemeteries. According to the mufti, the deceased initially were buried in local cemeteries, but soon thereafter complaints arose. He recalls that “The locals did not want it. Not because they are foreigners but because there is not enough space”.15 Sarantis Prigas, the undertaker who has buried most of these immigrants, echoed the mufti’s claims. “In the past”, he stated, “these people were buried in different locations, although always in the Muslim cemeteries of Alexandroupoli, Didimoticho and 11
Tsitselikis, 2010. Treaty 1913. 13 Treaty 1920. 14 Vakif or waqf is an endowment made by a Muslim to a religious, educational, or charitable cause; The religious leadership of the Muslim community is a conflict point between Greece and Turkey, especially after 1990 as both of the countries are appointing their own religious representatives. The Greek state is appointing the three official muftis of Didimoticho, Komotini and Rhodes – these ones are civil servants of the Greek state – and the minority is electing its two religious leaders who are controlling the majority of the mosques in Thrace and they are getting paid from the Turkish state. 15 Interview at mufti’s house in Sidiro (14.6.2014). 12
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Lavara. The need for the creation of Sidiro cemetery arose after the refusal of previous cemeteries to bury them because of lack of space. The cemeteries were almost full and the flow of illegal immigrants did not stop. And this is how they began to be buried in Sidiro. Now, more than 400 people are buried here”.16 Around 2000, the mufti and the local Muslim commission of the mosques searched for a suitable place to convert into a cemetery for the unidentified immigrants. According to the mufti, they first thought to buy a field close to the city of Alexandroupoli where the hospital is, but as the land is more expensive in this area, he finally sold his field in Sidiro and they founded this new cemetery. The formal Greek legal procedures for the establishment of a new cemetery were not followed. No permit or approval has been issued by any of the relevant authorities, including the Urban Planning Services, the Public Health Services or the Municipality. The municipality of Soufli officially has no knowledge of the existence of a burial place of immigrants within its territory. However, according to the Mayor of Soufli, Evangelos Poulilios, no other cemetery, Christian or Muslim, within the territory of the Municipality of Soufli has any sort of permit nor does the municipality exercise any kind of authority over the administration of these cemeteries. Even when expansions of old cemeteries are needed, usually no official procedures are followed.17 S. Kofinis on his report to FRA (European Union Agency for Fundamental Rights) states that “the burial place of Sidiro is a de facto cemetery, according to art. 2 par. 3 of the Ministerial Decree (A5/1215/1978), which is run by the mufti himself. No administrative supervision or control of any kind is being exercised over him concerning the administration of the cemetery”.18 The only intervention of the state administration in Sidiro cemetery was the placement of a fence around it, in order to prevent the entrance of animals inside and a metal sign with the label “cemetery of illegal immigrants”. This sign was finally taken out after the public reaction for the label of “illegal immigrant”19 but it was not replaced by anything else.
Burial procedures of deceased immigrants The identification of the bureaucratic burial procedure of the deceased irregular immigrants became one of my crucial points of interest because I suspected that there was lying the hidden link between the different fragments of an immigrant’s death. The procedure described below is based on my fieldwork research 16
Interview in Athens (20.12.2014). Kofinis 2011. 18 Inteview in Thessaloniki (4.1.2015). 19 The label of “illegal immigrant” was the most used label in public discourse almost till 2015. After the Syrian crisis, the label started to be replaced by the label “refugee”. 17
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and it is confirmed by the report of the lawyer S. Kofinis who also visited the area with FRA in 2011. This process is identical whether it involves the case of an unidentified immigrant or the case of an unidentified Greek citizen. Upon the discovery of an immigrant’s body, the police are immediately notified. The police begin to gather the crucial evidence and photograph the scene. Subsequently, they call the undertaker, who transfers the corpse(s) to the mortuary of the General University Hospital of Alexandroupoli.20 At the mortuary, the Coroner of the Thrace region, Mr. P. Pavlidis begins to create a record of the deceased’s personal data, including their fingerprints, clothes and personal belongings with the help of the police. The coroner then takes a DNA sample, which he will send at later juncture to the Criminology Laboratory of the General Police Directorate of Attica.21 If the laboratory cannot identify the body, the coroner takes additional photographs in order to try to establish his identity with the assistance of other immigrants. By law, unidentified corpses are permitted a space of three months in the mortuary’s freezers. However, there is a lack of available space as there are only four freezers that can hold a maximum capacity of eight corpses. Consequently, almost as soon the police transfer the bodies, the coroner submits a request for an order for immediate burial from the Public Prosecutor of Alexandroupoli. If such an order is approved, the coroner places the bodies in an official body bag marked with the protocol number of the file of the deceased and returns them to the undertaker. This protocol number links the physical remains to a DNA sample and other personal data that the coroner’s office had gathered during the autopsy. After departing the mortuary, the undertaker transfers the unidentified bodies to Sidiro cemetery. Every unidentified deceased immigrant is considered to be a Muslim. Therefore, Sidiro has become, the de facto cemetery for these burials. If the coroner is able to identify the body, the police contacts the relatives, who have the right to choose the cemetery in which their deceased will be buried. According to the undertaker, some identifiable bodies are transferred to Athens when there are relatives of them staying there. However, the registry office does not record these locations on either death certificates or burial permits. In Sidiro, the mufti conducts the next step of this burial procedure, namely the actual burial performed according to Islamic ceremonial practice. Mr. S. Damadoglu makes the arrangements for the digging of the grave and the wrapping 20
In 2004 the Vice-Prefecture issued a call for tenders addressed to all the funeral undertakers of the region of Evros to provide burial services for deceased immigrants. There were ten offers and the lower bidder was S. Priggas with an offer of 450 € plus VAT per person – transfer of the body and burial procedures included (Decision 109/27.4.04). His contract has been renewed since then, with the difference that last years the police is responsible for this process. 21 The DNA test is a part of the identification procedure after 2008 according to the Coroner, Mr. P. Pavlidis (interview on Alexandroupoli hospital [9.1.2015]).
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of the corpse in a white cerecloth22 known as “kefenleriz”. Unfortunately, this ceremonial wrapping adds further confusion, as the white cerecloth replaces the body bag with its protocol number. Consequently, the body’s only connection with its DNA sample and personal effects are lost at the moment that the body bag is being threw away. The mufti then lays the deceased in their grave without a coffin on his or her right side so that they may face Mecca, as the Islamic ritual orders. Instead of a coffin, the mufti lays an inclined piece of wood over the body, so that the soil will not fall directly on the deceased. In the past, police officers, local people and imams attended the burial, but, according to the mufti, this is no longer the case. Thus, no official other than the mufti – and some imams in certain cases – are present during the burial. The lack of tombstones or any other marker at the head of these graves is a remarkable and poignant absence. The mufti claimed that he had placed metal signs with each buried person’s protocol number in the past, but these signs had quickly eroded. According to the Islamic tradition, the mufti argues, there is little need to erect tombstones or elaborate markers at the gravesite. Another imam, the imam of Didimoticho compared the lack of tombstones in Sidiro to the graves of Muslim Greeks in Didimoticho Muslim cemetery, where it is also rare to find a grave marker. He also made the point that lower income Greek Muslim citizens often do not have the disposable income necessary to pay for a tombstone or the upkeep of their relatives’ graves. The undertaker, Mr. S. Priggas, offered another explanation for the absence of the tombstones in terms of the economic and practical issues of the funerals. Priggas said that the state police only provide 580 €23 for the burial of each person. According to him, this money only covers the bare necessities of burials and nothing remains leftover for a tombstone that would require the purchase of deeper excavation and cement to secure the marker. The identification of these immigrants becomes even more complex when considering the creation of mass graves. When the mufti has to bury multiple individuals, he orders the construction of a long pit into which he places each individual with their own funeral according to Islamic ceremonial practices. According to the mufti the sum of 240 € that he takes, hardly covers the purchase of the cerecloth, the necessary timber and the digging of the grave. Thus, the mufti makes no profit out of the procedure. The “sevap”24 is the only thing that the someone gets for these funerals. According to him, the death is the worst part of the refugee issue, but their burial is his duty. In his descriptions of the horrific conditions in many bodies are found, he commented, “Don’t think that 22
Waxed cloth used for wrapping a corpse (Oxford cerecloth). The payment includes: 240 € for the mufti (mentioned in the invoice as “Cemetery fees”), 26.40 € for the preparation of the body, 300 € as undertaker’s services fee and 11% VAT. 24 Sawāb or Thawāb is an Arabic term. The meaning is “reward”. It refers to spiritual merit or reward that accrues from the performance of good deeds and piety. 23
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they died just yesterday. Sometimes they find him one week later, sometimes one month, sometimes one year and sometimes four years. But you must treat humans like humans – even when they are dead. We treat them as we treat our own people. If the body is in good condition, we wash and cover it with the white cloth we do the prayer and then we bury. But it is easy to tell, hard to do. Still one way or another we do it. We receive in return sevap”.25 The lack of tombstones erases the only marker that could easily indicate the location of a grave and provide a clear idea about how many people are interred in the cemetery. The older graves in the northern part of the cemetery are even less identifiable since the rounded pile of soil that marks each individual tomb has been diminished over time. The mufti admitted that he can only keep track of the persons buried in each row, not their exact position in the row. For this reason, problems have occurred in the past, when people search for their deceased relatives. In any case, he supported that in Islam the exhumation is not a good thing, normally it’s haram,26 adding that in many instances, Muslim relatives rarely wish to proceed to an exhumation.27
Reflections on the burial procedure The burial procedure of unidentified immigrants falls into two parts. The first encompasses the bureaucratic process performed by the police, the coroner, the public prosecutor, the funeral undertaker and the registry office. This bureaucratic part gives an impression of clarity and a defined order that corresponds to western ideals of rationality. For these officials, the bureaucratization of a person’s life and death and the medicalization of the body were the prime object of investigation. In contrast, the second and central part of the burial procedure involving the mufti has a less documented and a more spiritual character. This system’s order is not defined by a bureaucratic protocol but instead by God’s will. Consequently, the burial process has a dual character, as it is characterized on the one hand by the civic duty of civil servants and on the other by the religious duty of the mufti, who also acts as a civil servant at the same time. Even if these duties come from different cosmologies, they share a common character. They are representations and models about how things should work. In his book “The social production of indifference”, M. Herzfeld explores the symbolic routes of Western bureaucracy and gives an interesting approach to the 25
Interview at mufti’s house in Sidiro (14.6.2014). Haram or haraam is an Arabic term. The meaning is “forbidden”. It refers to something sacred to which access is forbidden to a specific group of people who are not in a state of purity or initiated into the sacred knowledge of an evil. It also refers to a sinful action that is forbidden to be done. 27 Interview at mufti’s house in Sidiro (14.6.2014).
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unquestioned rationality of the bureaucratic forms.28 He argues that “modern” bureaucratically regulated societies are no more “rational” or less “symbolic” than the societies traditionally studied by anthropologists. He suggests that we cannot understand national bureaucracies divorced from local-level ideas about chance, personal character, social relationships and responsibility. The Western obsession with numbers and categories create a “safe” context of order. “There is safety in numbers” he argues, adding that “the ideology of bureaucracy amounts principally to a set of suppositions about categorization” and “bureaucratic categories, like all classifications both include and exclude”. On the same spirit, N. Scheper-Hughes on her study for child mortality in Northern Brazil observes that “civil status documents whether they are official statistics or birth, baptism, marriage, divorce, death or burial certificates, apparently they are not ‘neutral’ documents. They are not in any sense ‘clean’ data sources. The inventories and other public records, they only count certain things and not others. They measure some things better than others (…) They reveal a specific system of social classification. So there are not just mirrors of the reality, but filters, or ‘collective representations’, as Emil Durkheim puts it”.29 With these considerations in mind, what conclusions can we draw if we analyze death certificates as a collective representation and an element of social classification? Upon viewing these death certificates, one immediately is struck by the fact that these documents are characterized by empty space. In these certificates, the deceased often has no name, no age, no sex, no time and place of death, no personal items or clear cause of death. This information is either unavailable or it is not deemed necessary for official records. What underlying circumstances, then one might ask, dictates that this information is deemed unimportant? Would such omissions frequently occur in cases of unidentified deaths in a non-border region? Would an attorney more actively search for the identity of the deceased? According my fieldwork experience, the bureaucratic process following each death in Evros region in recent memory is performed at a remarkably swift pace. By expediting the burials of unidentified immigrants, the state contributes to the routinization of border deaths through the registering practices of its civil servants. With the exception of the coroner of Alexandroupoli, who maintains a detailed and organized archive, civil servants generally rush through the bureaucratic procedure of unidentified immigrant burials. The impression that I took from their narrations about the death certificates of unidentified immigrants was they acted as if nothing has happened that deserve to leave traces behind or consequences. The routinization however of the bureaucratic management of border deaths is consequence of the accustoming of the border deaths in general. Hundreds, even thousands, of people are dying in their desperate attempts 28 29
Herzfeld 1992. Scheper Hughes, 1992.
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to reach the modern Promised Land. Ultimately, these unidentified immigrants did not die from drowning or hypothermia, but instead from war and socioeconomic exploitation. Through the rapid processing of these deaths, Greek bureaucracy in effect masks of the real cause of death, while also establishing of a classification system of the population that is based on a selective data recording. These are undoubtedly, the norms of bureaucratic indifference, which reflects an attitude of social indifference towards migration legitimized by the state. Such bureaucratic indifference towards deceased immigrants extends directly from the state’s indifference towards living immigrants. The production of an “invisible” cemetery in Sidiro recalls the “politics of invisibility” of the Greek state, as K. Rozakou quotes, toward asylum seekers and refugees. Rozakou points to Greece’s status as recording the lowest asylum recognition rates in the European Union as well as the nation’s the poor reception infrastructure that creates obstacles, delays and documented violations at every step of the asylum process.30 Interviewed registrar commented hesitant to approach passing immigrants as the majority of them are men. She also remarked that she feels unable to assist immigrants for fear that the police might suspect or even charge them with smuggling. The culture of fear persists even the death of these people, as the interviewed civil servants place as much distance between themselves and the arriving immigrants as possible. At times, they did sympathize with the plight of the undocumented immigrants, especially in regards of children and adolescents. Ultimately, however the interviewed civil servants stand to the discourse that contributes to the criminalization of the undocumented immigration.
The identification of the immigrants as Muslims The accountability of the burial process by the Muslim community of Evros region is grounded on the supposition that every immigrant is a Muslim. It is important to notice that the category of religion is constructed on the national level and on global and local ones as well. On a global perspective, there is a dynamic that connects the anti-immigrant racism with the anti-Muslim racism. As L. Fekete has shown, Islamophobia has arisen throughout Europe as evidenced by the institutionalization of anti-Muslim policies in immigration laws that largely follow the US policies.31 This discourse is so pervasive that an immediate identification of an immigrant as a Muslim frequently occurs at each bureaucratic levels, including the police, the coroner’s office, and the municipality. Of course, it’s not always possible to be sure about the religion of the deceased immigrants. Most of the time, the bodies found are at an advanced stage of de30 31
Rozakou 2012. Fekete 2009.
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composition and the soft tissue has been already disappeared. The state of these corpses prohibits the ascertainment of a circumcision and consequently, the physical markers of the immigrant’s identification with the Islamic religion. The same assumptions are applied to women as well, who cannot be religiously identified by an autopsy. According to the mufti, their religion “is hard to distinguish, unless they are with their husbands”.32 To prove this, he recounted a story about a Kenyan woman who drowned while passing Evros river. He buried her as a Muslim but when her husband came to find her, he learnt that she was a Christian. However, nothing changed after this. There are, however, rare cases of identified Christian deceased immigrants who were buried to the Christian cemeteries of the region. In the Evros region, an immigrant is primarily considered as a Muslim until proven otherwise. The local interpretation of religion plays a fundamental role in an immigrant’s burial procedure on this part of the world. In Western Thrace, the ascription of “Muslim” refers immediately to the Muslim minority. It logically follows that the burial of a Muslim is a jurisdiction of an imam or a mufti, something that is not the case in other municipalities in Greece.33 In two arbitrary steps, the state transfers its responsibility for the immigrants’ burial to the Muslim minority in this region. Of course, the state pays for these burials, but the management of the burial and the upkeep of the cemetery falls to the “internal others”.34 I would argue that other solutions to these problems exist. If a new cemetery must be created due to the lack of space in older cemeteries or the continuous deaths of immigrants, the state could organize the creation of a new cemetery for those who die on the border with respect for the laws that relate to cemeteries’ creation, the multiple religious faiths of its inhabitants and physical markers to memorialize all of the deceased. This political transfer of responsibility for unidentified immigrants to the Muslim minority permits an analysis through various perspectives. Firstly, the recognition of the immigrants as the “other” finds parallels in the local context with the segmenting recognition of the Muslim minority as the “internal others” as referred above. This symbolical discourse suggests “they are not like ‘us’, they are Muslims, they are more like ‘them’”. This segmentation permeates further as the Muslim minority in turn associates these deceased immigrants as “other”. The local Muslim community refused to bury their co-religionists in the local cemeteries because, as they said, “there was not enough space neither for our dead”. This advocation for the priority of the locals reflects the symbolic connec32
Interview at mufti’s house in Sidiro (14.6.2014). The deceased immigrants in other places in Greece are getting buried on the Christian cemeteries because there are no Muslim cemeteries. 34 The “segmenting model” of the collective identity has been observed on the ethnographies of Greece as a process where the identity of its group is constructed through its opposition to other, different neighbor groups with which they form relations of functional interdependency, counterpoint and complementarily. Campbell 1964; Herzfeld 1998; Hart 1999. 33
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tion of the grave with the land. This ethnocentric connection of an individual with their settlement persists as one of the fundamental cultural causes of the marginalization of immigrants on the West. Upon reflection of the observations above, it becomes evident that these bureaucratic processes are based in symbolical assumptions combined with national and local interpretations surrounding identity, religion and alterity. There is no rational basis for identifying undocumented immigrants as Muslims. Instead, these ascriptions stem from a cultural interpretation and, perhaps, an intentional and coherent strategy. With these considerations in mind, the vague character of the mufti’s proofs of the burials can be considered in a different light. To return to the primary questions of this paper, we have to consider what reasons lie behind the obfuscation of the identify of those buried in Sidiro. The question that we must ask is what it means to conduct a proper burial procedure. From a civil servant’s bureaucratic perspective, a protocol and a written record are required for every stage of the process. From the mufti’s perspective, the most important process of the burial is the correct performance of the religious rituals which will guarantee the preparation of the dead for the Day of Judgement. Mr. S. Damadoglu responds to his critics by arguing that “everything is done properly and the Muslim ritual is followed”.35 He readily explains the Muslims’ customs surrounding death as prescribed in Quran36 and Sunnah37. As discussed previously, he considers the burial of the Muslims to be his religious duty. According to him, this duty is of the utmost importance because on the Islamic tradition the lack of a proper funeral is among the greatest of humiliations, the ultimate marker of exclusion from the community. A. R. Gatrad argues that if Muslims die in circumstances where they do not have relatives or friends, the elders of the Muslim community of the town will arrange for the ritual washing and the costs associated with funeral at their own expense. The burial of the dead is considered as a communal responsibility regardless of whether the person is a stranger or a local member of the community.38 The mufti echoed these sentiments in his own narration of the first immigrants’ funerals, which the local community of Sidiro had paid out of their own pockets. This is how in ’90s, the first Kurdish immigrants were buried on the main cemetery of Sidiro, near his ancestors graves, as he showed to me. 35
Interview at mufti’s house in Sidiro (8.1.2015). Qurʾān, (Arabic: “Recitation”) also spelled Quran and Koran, the sacred scripture of Islam and, for all Muslims, the very word of God, revealed through the agency of the archangel Gabriel to the Prophet Muhammad (Britannica Quran). 37 Sunnah, (Arabic: “habitual practice”) also spelled Sunna, the body of traditional social and legal custom and practice of the Islamic community. Along with the Qurʾān (the holy book of Islam) and Hadith (recorded sayings of the Prophet Muhammad), it is a major source of Sharīʿah, or Islamic law (Britannica Sunnah). 38 Gatrad 1994.
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The distance between the secular and the religious approach of the burial of unidentified immigrants becomes even more apparent when considering the issue of exhumation. If a DNA sample has not been taken from the deceased, an exhumation can provide a match with the relative’s DNA. It is a process absolutely necessary for the repatriation of the bones of the deceased in cases of familial reunification– even after death. The mufti, however, prefers to avoid exhumations, often dissuading the relatives from removing the body from the cemetery. According to Islamic tradition, it is not permissible to exhume the grave and take out the bones of the deceased as the body is sacred and belongs to God. The mufti argues that “It is God who creates you and takes your soul at death and that’s why it is not good to deal with dead persons’ cases ”.39 His position though, permits him only to advise relatives and, as he said, he is open to help any relative wishing to find their family members. Since, the mufti views these burial procedures through a religious lens, he does not keep a careful archive that documents everyone that he has buried. During our last conversation, he admitted that he does not possess a map or a plan that plots where every person has been buried, as he initially claimed. Therefore, he cannot prove definitively who is buried in which plot. Such ambiguity creates problems for the process of a possible identification. The exact number of those buried in Sidiro or the date that the cemetery began its operation also elude the mufti. According to him, “We are perceiving death by different windows”. For the mufti, when a person dies, it’s God’s will and “we must not dig his grave”40 as he said. In his opinion, after a person returns to the earth, there is no need for protocols and papers. His/her identity must dissolve so that they may be reunited with God and nothing else is required apart from a proper funeral. This metaphysical aspect of death hinders the possibility of later efforts to identify the deceased. It seems unfortunate that from the moment that a body is buried, it is lost. The only fragment of that individual that might remain is a DNA sample, yet even that sample often has no match with any grave.41 Even in cases when a DNA sample has been extracted from the body before the burial, the ritual wrapping with the cerecloth and the removal of the coroner’s sack destroys the link between the identification number of the dead body and the DNA sample. After this, there is no way to link the skeleton with the DΝΑ sample and the immigrant’s living relatives unless the body is exhumed. This issue of the recognition of unidentified bodies gives interesting insights about how the bureaucratic mechanism perceives death. Mr. P. Pavlidis, the coroner, states that in his mind, the burial procedure does not end with the burial. The end and the aim of the procedure is the recognition of the body. The coroner’s office keeps the DNA sample in order to match it with the DNA of the 39
Interview at mufti’s house in Sidiro (8.1.2015). Interview at mufti’s house in Sidiro (8.1.2015). 41 A DNA sample is taken approximately the last eight years according to the coroner.
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relatives that possibly will look for their missing family member. On one hand, this suggests that the body is fundamentally recognized as a social body, while on the other, it echoes the biologization of life and death. In this case, the identity of the person no longer matters. Their identity is replaced by information in the form of a number of the DNA sample. In Mr. Pavlidis’ opinion, the mufti performs the Islamic ceremonial practices in order to cover his failure to record bureaucratic data. Consequently, Pavlidis cites such measures as the root of the mufti’s unwillingness to encourage exhumations.
Conclusions Death is the dialectic opposite of life. As life is something more than biological processes, death acquires meaning only in social contexts. The interrelation between the private and public character of death becomes apparent when considering the specific conditions imposed as one passes to the other side of existence. The time, the place and the cause of each case are definitely sites of political and social intervention, biopolitical regulation and control. So, every death is a private and a public act and consequently a personal and a social loss. The fact that the deaths in question are taking place along a restricted borderzone complicates the public-private binary. Those traveling with the deceased could die at the same moment, at a later date, or they could travel unaware and unharmed throughout Europe. Consequently, few witnesses remain in the area that could provide the police with the personal data of the deceased. The personal data and consequently the identity of the immigrants themselves fade quickly from bureaucratic memory as another striking consequence of the general inherent ambiguity of borders.42 As discussed above, the large number of border deaths gives them the character of a social phenomenon with specific historical causes. The accustoming of this phenomenon may constitutes a social genocide. To my opinion this process goes alongside the individualization of these deaths. The immigrants’ deaths, like their lives and their decision to immigrate, are considered their personal responsibility. The fact that these people do not share the same national or ethnic identity defuses the possibility of political or social control of this border massacre and makes the demand of a respectful burial an object of negotiation only for humanitarian organizations. As it is well known, the label of the “immigrant” is a label given from outside and no nation or state is claiming the national identity of those interred in these unmarked graves. As it is obvious, at the core of this issue lies the problematics of biopolitical management. Yet, the violent nature of these deaths and their political role in the modern history of the world are factors that should not be hidden. 42
Donnan et al. 1999.
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The case of the Sidiro cemetery shows the interaction between the global, the national and the local discourses about migration that results in the invisibility of the dead immigrants and the difficulty of the recognition of their graves. The graves of the deceased cannot be identified accurately since a theocratic system is responsible for their burial and upkeep. This system orients itself not around the maintenance of bureaucratic archives, but instead around ritual. This orientation, however, results from the local dynamics surrounding religion and migration. The migrants are considered Muslims and Islamic affairs are considered as a responsibility of the Greek Muslim community. This paradigm also indicates the legal ambivalence of Western Thrace where a theocratic and a secular system interact. The assignment of the unidentified immigrants’ burials to the Muslim community tangibly shows the political indifference of the Greek state toward migration in general. Many cultural practices reinforce the political signification of the memory of the dead for current socio-political purposes. The naming of streets, the erection of statues and the creation of political memorials keep the memory of the dead alive, but no such efforts arise after the death of these people. If there was a humanitarian interest for these border deaths, this cemetery would not be hidden inside the mountains. The control of the mufti would not face any administrative obstacles if the state or the municipality had ordered the creation of a new cemetery that respected the laws of recognized cemeteries as well as the religion and the memory of every deceased individual. Likewise, the creation and maintenance of cemeteries in the area without any administrative authority shows the survival of alternative politics in Greece. Of course, this regulation serves the interests of different agents on a political, administrative and an economic level. A small business has developed around the immigrants’ burial. As border deaths have become permanent phenomenon the last 20–25 years, a some of the agents, including the undertaker and the mufti, have received a steady income. The responsibility of the burial procedure accorded to the mufti has likely upgraded his position and that of his community, the Pomaks. This in turn serves to perpetuate antagonism between the Greek and Turkish states and the pressure which is exerted upon the Muslim minority of Western Thrace. The political gain for the Greek state and the municipality of Soufli exceeds any pecuniary or social reward, as they have every administrative right to claim that they have no knowledge about the immigrants’ cemetery, even if the vast majority of these deaths have been registered to Soufli registry office. In disguising the nature and procedure of unidentified immigrants from public critique, these border deaths have also disappeared from the public’ s consciousness and social memory. Even, if an individual cannot be determined by documents, identity or citizenship, a sign on a grave or a list of names on a cemetery map could keep the memory of a dead person alive and make his recognition
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possible. The identification of a person is important for his/her family, but it is also serves to unite this person within their own social context. The families who have suddenly lost relatives seek out their loved ones for a number of reasons. What does it really mean for a family to have a missing relative? The absence of their relative persists as an open wound that cannot close until they are found. In addition to the cultural need for mourning, there are practical issues including the transfer of inherited property and the eventual remarriage of the remaining spouse that require resolution. According to J. Butler, the violence and the concealment of migrants’ deaths are transformations of the same violence.43 She supports that the banning of mourning at the level of discourse relates with the de-humanization of the immigrants’ death and life. Butler would definitely agree with Antigone that saw Creon’s decree as an ontological crime and not as a political punishment.44 Regardless of whether whose life is worthy to be lived, whose death deserves a public display of mourning or what is the political significance of the crime of practical recantation of EU borders, border deaths set a number of questions to Fortress Europe and to the Western system of thought in general. If unidentified dead people can be likened with missing people, then we can recall P. Sant Cassia’s approach who supports that disappeared people are representations and like representations they embody messages and sets of symbolism.45 The anonymity of these people can become a symbol of an alternative political representation, one that refuses the negation of embodied experience and challenges the biopolitical schemes that Western bureaucracy confirms. After all, we must at least recognize a similarity between our bodies and the bodies of all others: Life is equally precarious and vulnerable for all. And to remember G. Agamben: “What the State cannot tolerate in any way (…) is that the singularities form a community without affirming an identity, that humans co-belong without any representable condition of belonging”.46
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BUREAUCRACIES OF DEATH
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Reiner Sörries Letzte Reise Mittelmeer Vom Umgang mit toten Migrantinnen und Migranten – Ein Kommentar
Die Zahlen der Menschen, die über das Mittelmeer eine Zuflucht in Europa suchen, sind 2015 nochmals sprunghaft angestiegen. Die Zahlen derer, für die diese Reise die letzte war, ebenfalls. Das Ritual ist dann immer dasselbe: markige Reden der Politikerinnen und Politiker und bewegende Trauerfeiern. In den Medien sieht man Bilder von Flüchtlingen, die es gerade noch geschafft haben, die Toten sieht man nicht. Die meisten von ihnen haben ein nasses Massengrab gefunden, und Bilder könnten nur Meer, Wogen und Wellen zeigen. Allerdings ist das Meer nicht nur gnadenlos im Verschlingen seiner Opfer, manchmal spült es seine Opfer auch wieder an Land. Und was dann? Wie gehen wir in Europa mit diesen Toten um? Wie sehen die Gräber der Ertrunkenen aus? Diese Frage stellte der Verfasser den zuständigen Behörden in Berlin und Brüssel. Mail an die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Frau Staatsministerin Aydan Özoğuz am 28. Januar 2015: Sehr verehrte Frau Ministerin, sehr geehrte Damen und Herren, gibt es innerhalb der EU oder einzelner Mitgliedsländer Richtlinien zu Bestattung von Flüchtlingen, die als Opfer / Bootsflüchtlinge an den Stränden angeschwemmt werden bzw. nur tot geborgen werden können, oder noch in den Auffanglagern versterben? Oder können Sie etwas zur Praxis sagen, wie man mit den Leichen und ihrer Bestattung verfährt? Für Ihre Auskunft bedanke ich mich.
Mit Datum 5. März 2015 kam folgende Antwort aus dem Ministerium: Sehr geehrter Herr Professor Dr. Sörries, die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Frau Staatsministerin Aydan Özoğuz, hat Ihre Anfrage zuständigkeitshalber an mich weitergeleitet und mich gebeten, Ihnen zu danken und Ihnen zu antworten. Bitte haben sie Verständnis, dass der Arbeitsstab der Beauftragten keine rechtsverbindlichen Auskünfte erteilen kann. Folgende Hinweise möchte ich Ihnen gleichwohl geben: Eine gemeinschaftsrechtliche Richtlinie zu Bestattung von Flüchtlin-
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gen ist mir nicht bekannt. Grundsätzlich ist jeder Mitgliedstaat, auf dessen Staatsgebiet es zu diesen tragischen Todesfällen kommt für die jeweilige Bestattung zuständig. Ich bedaure, Ihnen keine weitergehende [sic! ] Informationen zu Ihrem Anliegen geben zu können. Mit freundlichen Grüßen. Im Auftrag Mohammad Reza Wojgani
Dieselbe Frage richtete ich an den zuständigen Kommissar bei der Europäischen Kommission, den Kommissar für Migration und Inneres, Herrn Dimitris Avramapoulos, und erhielt mit Schreiben vom 13. März 2015 folgende Antwort: Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Sörries, vielen Dank für Ihr Email vom 28. Januar 2015 an den Kommissar für Migration und Inneres, Dimitris Avramopoulos. Ihr Schreiben wurde an mich weitergeleitet, um direkt darauf zu antworten. In Ihrem Schreiben erkundigen Sie sich, ob es innerhalb der EU oder einzelnen Mitgliedstaaten Richtlinien zur Bestattung von Flüchtlingen gibt, die als Bootsflüchtlinge tot geborgen werden oder in den Auffanglagern versterben. Sie erbitten Auskunft, wie bezüglich aufgefundener Leichen und deren Bestattung verfahren wird. Lassen Sie mich zunächst versichern, dass sich die Europäische Kommission stark engagiert, um das Risiko von Flüchtlingskatastrophen zu verringern (…) [es folgen Abschnitte über die Anstrengungen bei „… der Bewältigung der anhaltenden Migrations- und Asylströme …“ etc., die hier aber nicht relevant sind. Dann kommen abschließend wenige Zeilen zur eigentlichen Frage]. Was speziell Ihre Anfrage bezüglich Richtlinien zur Bestattung von Flüchtlingen innerhalb der EU anbelangt, so hat die EU insoweit keine Rechtsetzungsbefugnis. Hinsichtlich etwaiger gesetzlicher Regelungen zur Beisetzung von Flüchtlingen in den Mitgliedstaaten möchte ich Sie daher bitten, sich an die jeweiligen Mitgliedstaaten zu wenden. Matthias Oel. Referatsleiter.
Das ist nun so eine Sache mit der Rechtsetzungsbefugnis der EU. Als Bürger der EU gewinnt man den Eindruck, viele Entscheidungen, die unser tägliches Leben betreffen, werden in Brüssel getroffen. Zwar ist die berühmte Gurkenkrümmungsverordnung wieder aufgehoben worden, aber es bleiben viele Regelungen bestehen oder werden neu festgesetzt. Und so drängt sich der Eindruck auf, man versteckt sich ganz gerne hinter der fehlenden Rechtsetzungsbefugnis. Besitzt sie in diesem Fall der Bestattung von toten Flüchtlingen der „jeweilige Mitgliedstaat“, so hat aber auch die Bundesrepublik Deutschland diesbezüglich keine erkennbaren Regelungen getroffen. Deutschland grenzt zwar nicht an das Mittelmeer, aber tote Migranten gibt es auch hier. Also endet die politische Sorge um tote Flüchtlinge nach der Inszenierung medienwirksamer Trauerfeiern. Als im April 2015 vor Malta etwa 700 ertrunkene
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Migrantinnen und Migranten zu beklagen waren, berichteten die Medien unisono von einer „bewegenden Trauerfeier“ am 23. April. Im Mittelpunkt standen die Särge der 24 Toten, die man geborgen hatte, 23 schlichte braune und ein weißer für einen Jugendlichen. Der katholische Bischof von Gozo, der Nachbarinsel von Malta, Mario Grech und der Imam der muslimischen Gemeinde auf Malta, Mohamed El Sadi, zelebrierten den interreligiösen Trauergottesdienst im Beisein von EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos und Italiens Innenminister Angelino Alfano. Am Abend des Tages wurden Blumen für alle Opfer der Tragödie ins Meer geworfen. Laut Medienberichten wurden die 24 geborgenen Toten auf Maltas Zentralfriedhof Addolorata bei Paolo beigesetzt. Bilder habe ich dazu nicht gefunden. Aber zur Gestaltung der Grabstätten gibt es ja auch keine Standards. Zwei Jahre zuvor hatte sich vor der italienischen Insel Lampedusa ein ähnliches Drama abgespielt mit etwa 300 bis 400 ertrunkenen Flüchtlingen. Die italienische Regierung ordnete für die geborgenen Toten ein Staatsbegräbnis und die posthume Verleihung der italienischen Staatsbürgerschaft an. Angehörigen wurde allerdings die Einreise nach Italien zur Teilnahme an der Trauerfeier verwehrt. Da es den abgewiesenen Angehörigen deshalb nicht möglich war, die Toten zu identifizieren, wurden die Leichen anonym beigesetzt. Diejenigen, die lebend gerettet werden konnten, wurden jedoch wegen der illegalen Einreise kriminalisiert. Jedes Land, so die EU, hat seine eigenen Regeln, oder vielleicht gar keine, und entscheidet mal so, mal anders. Lampedusa steht seit langem im Fokus, weil es sich aufgrund seiner Nähe zur nordafrikanischen Küste scheinbar für Flüchtlingsüberfahrten anbietet. Immer schon gab es dort Tote, die zu bestatten waren. Ihre letzte Ruhe fanden sie zunächst auf dem Inselfriedhof Cala Pisana in einer eigenen Abteilung „zona dei senza nome“ (Abteilung ohne Namen). Die Gräber wissen von den Toten nicht viel zu berichten: sie tragen nur eine Zahl oder das Datum der Tragödie. „03 n. 5“ heißt zum Beispiel, dass hier ein unbekannter Mensch begraben wurde, der 2003 angespült wurde, der fünfte in diesem Jahr. Oder man steht vor einem Massengrab: „tre cadaveri, 8 maggio 2011“. Ein Name und ein Grab sind in der italienischen Presse bekannt geworden, das der 18jährigen Nigerianerin Esath Ekos, die am 16. April 2009 starb. Ihr mit „D 2009“ bezeichnetes Grab hat man später noch mit einer Namenstafel versehen, die zudem eine Taube mit einem Ölzweig zeigt (Abb. 1). Doch viel Hoffnung besteht nicht, dass die Verhältnisse für die Flüchtlinge besser werden, weder für die, die es schaffen, noch für die, die es mit dem Leben bezahlen. 2011 noch setzte sich Bernardino De Rubeis, der Bürgermeister von Lampedusa dafür ein, den Friedhof der namenlosen Migranten würdig zu gestalten; es fehlte ihm an Geld. Seine Nachfolgerin, Giusi Nicolini, tut sich ebenfalls schwer, und muss sich Brandanschlägen erwehren, weil sie sich für die Flüchtlinge einsetzt.
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Abb. 1: Grab der 18-jährigen Nigerianerin Esath Ekos auf dem Friedhof Cala Pisana der Insel Lampedusa. Corriere della Sera, online, 17. Oktober 2011 (http:// images.corriereobjects.it/Media/Foto/20 11/10/17/lampedusa.jpg).
Inzwischen werden immer mehr tote Flüchtlinge hinüber gebracht nach Sizilien und dort anonym beigesetzt, denn dort ist mehr Raum. Hier wie dort wirkt das alles eher wie ein Schuttplatz mit steinigem Grabhügel und manchmal einem roh gezimmerten Kreuz, das vielleicht zu dem begrabenen Muslim gar nicht passt. Wer weiß das schon (Abb. 2)? Inzwischen stranden die Migranten beinahe an allen Grenzen Europas und sterben am Grenzzaun von Ceuta oder am Evros, dem Grenzfluss zwischen Griechenland und der Türkei. Solange die Flüchtlinge leben und die Grenzen überwinden, sind sie ein Thema, nicht jedoch, wenn sie tot und zu bestatten sind. Kurz schlugen die Wellen der Empörung hoch, als 2010 von einem Massengrab in der griechischen Ortschaft Sidero nahe des Grenzflusses berichtet wurde (Abb. 3). Die Ortschaft wird überwiegend von Muslimen bewohnt, und der Mufti des Ortes, Mehmet Saramet, bestattet die Glaubensbrüder nach islamischer Manier. Für mehr als ein anonymes Massengrab reicht es jedoch nicht, und dieses entstand noch dazu ohne entsprechende Genehmigung. Inzwischen ist geregelt, dass die toten Illegalen gesetzeskonform für 80 Tage in die Kühlzelle kommen, und wenn sich in dieser Zeit keiner um sie kümmert, werden sie zur Beisetzung freigegeben. Den Auftrag erhält ein Bestatter, der pro Leiche 700 Euro bekommt. Zumindest weiß man jetzt, was ein toter Flüchtling kostet. Das Massengrab von Evros ist halb so groß wie ein Fußballfeld und liegt auf einem Hügel in Sichtweite des Dorfes. Ein drei Meter hoher Gitterzaun soll die
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Abb. 2: Abteilung ohne Namen auf dem Friedhof Cala Pisana der Insel Lampedusa (http://www.grandangoloagrigento.it/wp-content/uploads/2011/09/Lampedusa-ci mitero-dei-senza-nome-scorcio.jpg).
Abb. 3: Migrantenfriedhof in Evros, Griechenland (Wikimedia Commons, user: Ggia; Lizens: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported).
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Ruhestätte vor allzu neugierigen Besuchern schützen. Der Boden ist lehmig, die Gräber hastig aufgeschüttet. In einem Spiegelartikel von 2011 wurde der Mufti mit folgenden Worten zitiert: „Mehr können wir nicht machen. Wir wissen ja noch nicht einmal die Namen der Toten, die wir hier beerdigen müssen“ und fügt hinzu: „Die Menschen, die hier liegen, verkaufen ihr Hab und Gut. Sie geben alles den Menschenhändlern, in der Hoffnung, in Europa ein besseres Leben führen zu können. Und dann landen sie hier. Es ist beschämend.“1 Inzwischen mehren sich die offiziellen und inoffiziellen Friedhöfe für tote Flüchtlinge auf den griechischen Ägäisinseln, über die der Mantel des Schweigens und der Beschämung gelegt ist. Nur selten sind Bilder davon aufgetaucht, wie jenes von Mytiline auf Lesbos mit einem Grab, das die Aufschrift trägt „ΑΦΓΑΝΟΣ 3-10-07 NO 5“. Dutzende von Flüchtlingen, die es nicht geschafft haben, sind hier begraben. Jedes EU-Land setzt seine eigenen Regeln fest, war es aus Berlin und Brüssel zu hören, doch es gibt sie offenkundig nicht. An ihre Stelle treten engagierte Menschen oder NGOs, die mit den namenlosen Toten so nicht leben wollen. Seit 1999 schon sorgt sich der spanische Bestattungsunternehmer Martin Zamora um die Toten, die von spanischen Behörden geborgen wurden, nachdem sie vergeblich versucht hatten, die Straße von Gibraltar zu überwinden. Er konnte nicht damit leben, dass er die Toten, wahrscheinlich Muslime, auf einem katholischen Friedhof als namenlose Migranten mit der Inschrift „Immigrant Nr. X“ bestatten sollte. Er machte sich in Marokko auf die Suche nach Verwandten mit persönlichen Gegenständen der Toten, die zur Identifizierung helfen könnten. Dort kennt man ihn und hofft, dass er ihnen wenigstens die Toten zurückbringt. In 600 Fällen hat er das schon geschafft, und inzwischen kennt man in Marokko den Bestatter im kleinen andalusischen Dorf Los Barrios. Und das alles tut Zamora unentgeltlich. Manche Ertrunkene treibt es auch auf das afrikanische Festland zurück, wo im tunesischen Sfax Pfarrer Jonathan, selbst 2010 als Flüchtling aus Nigeria gekommen, jene Leichen bestattet, die die tunesische Küstenwache aus dem Meer fischt. „Wenn die Leichen, die an den Strand gespült werden, ein Kreuz tragen, dann melden sich die Behörden bei mir (…). Wir geben ihnen ein letztes Geleit, sodass sie zumindest am Ende ihres Lebens würdevoll behandelt werden“,2 sagt Jonathan. In einer Ecke des Friedhofs liegen sie dann unter grauen Betonplatten, in die hin und wieder mal ein Name eingekratzt ist. In Marokko sorgt sich die Menschenrechtsorganisation GADEM um die Bestattung der angespülten Leichen und in Nouadhibou ist es Vater Jerome mit seinem kleinen Friedhof. Dort, wo die Behörden versagen, hilft nur privates Engagement. Über das Versagen der Behörden und das Engagement von Aktivisten und NGOs von Tunesien über Marokko bis nach Mauretanien berichtet der 1 2
Hell 2011. Mersch 2015.
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Abb. 4: Migrantenfriedhof der Society for Humanitarian Solidarity an der jemenitischen Küste (https://sanaabureau.wordpress.com/2010/02/15/la-times-somaliarefugees-risk-passage-to-yemen/).
2014 fertig gestellte Dokumentarfilm „Les Messagers“ von Helen Crouzillat und Laetitia Tura. Es sei unerträglich, dass die gestorbenen Flüchtlinge am Ende namenlos verscharrt werden, dass nicht alle Möglichkeiten der Identifizierung der Toten ausgeschöpft werden, um sie in ihre Heimat zu überführen. Dass die Angehörigen mit der Ungewissheit vom Verbleib ihrer Lieben leben müssen. Es fehle ein europaweites System, um die Identität der Opfer zu klären. Dabei ist festzuhalten, dass tote Flüchtlinge beileibe kein europäisches Thema sind. Tausende versuchen jährlich, von Äthiopien, Eritrea oder Somalia aus den Golf von Aden Richtung Jemen zu überqueren und riskieren auf der rauen 200 Meilen-Passage ihr Leben. Hunderte verlieren es. Eine jemenitische NGO, die Society for Humanitarian Solidarity, sorgt sich nicht nur um die, die lebend ankommen, sondern sie patrouilliert entlang der Küste, birgt die Leichen und bestattet sie auf eigenen Friedhöfen. Auch ihnen gelingt selten die Identifizierung und die Grabstelen tragen nur eine Nummer (Abb. 4). Aber immerhin ist der Versuch erkennbar, Regeln für die Bestattung der Flüchtlinge zu finden. Auf der Website des internationalen Flüchtlingshilfswerks UNHCR wird die jemenitische Society for Humanitarian Solidarity als Partner bezeichnet,3 vor al3
http://www.unhcr.org/48fdeccaa.html [12.02.16].
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lem bei der Suche nach angeschwemmten Überlebenden oder Toten. Vielleicht sollte sich die UNHCR um solche Partner auch an Europas Küsten bemühen, solange Europa weder für die Aufnahme von Flüchtlingen noch für die Bestattung der Toten zu menschenwürdigen Regelungen gefunden hat.
Quellenverzeichnis Hell 2011: Hell, Peter, Flüchtlingsdramen – Massengrab des europäischen Traums, Spiegel vom 20.2.2011. Online: http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlingsdramen-massengrabdes-europaeischen-traums-a-745260.html [28.08.2015]. Mersch 2015: Mersch, Sarah, Der Totengräber der Schiffbrüchigen, Cicero online, 10.04.2015, http://www.cicero.de/weltbuehne/fluechtlinge-migrantenpfarrertunesien-totengraeber-der-schiffbruechigen/59107 [29.10.2015].
Das Meer als Sinnbild des Todes
Joachim Friedrich Quack Die Furcht vor dem Meer und der Tod im Nil Wasserangst im Alten Ägypten
Zusammenfassung Für Ägypten ist von der Naturräumlichkeit her Schifffahrt sowohl auf dem Nil wie auch auf dem Meer möglich. Dieser Beitrag untersucht für beide Bereiche die konzeptionellen und realen Risiken. Dabei wird von den Ägyptern das Meer grundsätzlich als furchterregend empfunden. Auch auf dem Nil gibt es Risiken, die zum Kentern oder sogar zum Tod führen können. Insbesondere anhand literarischer und religiöser Texte wird gezeigt, welche Gefahren die Ägypter angesprochen haben, welchen Schutz davor sie suchten und welches Schicksal für die im Wasser treibenden Leichen vorgestellt wurde. Abschließend werden noch Fälle präsentiert, in denen der riskante Sprung ins Wasser als Möglichkeit der Rettung vor anderen Gefahren gesucht wird.
Wenn es um die Verbindung von Tod und Nil geht, ist Agatha Christies Kriminalroman „Tod auf dem Nil“, im Originaltitel „Death on the Nile“, in der Allgemeinheit sehr gut bekannt, und die Ägyptologie ist gelegentlich der Versuchung erlegen, bewusst auf diesen Titel zu rekurrieren,1 unter anderem in einer Studie über Demographie im römerzeitlichen Ägypten. Ich möchte mit einem leicht anklingenden, aber bewusst abweichend formulierten Titelbestandteil dezidiert davon abrücken. Im Roman sind Menschen und ihre Pläne und Wünsche der Auslöser des vorzeitigen Todes, und letztlich schnöde Geldgier eine Haupttriebfeder. Der Nil als Fluß ist da zwar Bestandteil des Ambientes, aber man könnte die Handlung im Grundsätzlichen auch in andere Regionen einschließlich wasserferner verlegen. Bei mir soll es dagegen darum gehen, wie nichtmenschliche Agenten für Tod verantwortlich sind, seien es Wassertiere oder Naturgewalten. Allerdings muss man auch bei solchen Phänomenen natürlich im Blick behalten, daß sie nicht rein objektiv und der menschlichen Einflussnahme entzogen sind. Vielmehr spielt eine wichtige Rolle, wie viele Risiken Menschen einzugehen bereit sind.2 In umgedrehter Betrachtung wird 1 2
Brace et al. 1996; Scheidel 2001; Bickerstaffe 2008; Young 2012; Lewis 2013. Vgl. an Studien, welche Risikobereitschaft im Zusammenhang mit möglichen Katastrophen untersuchen, z. B. Berlejung 2012; Ehmig 2013; Vittozzi 2015; Schenk in Druck.
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man auch die Frage stellen müssen, aufgrund welcher Vorteile bzw. in Abwägung gegen welche Gefahren bei andersartigem Verhalten Menschen beschlossen haben, diese Risiken in Kauf zu nehmen. Weiterhin spreche ich in meinem Titel bewusst von „Wasserangst“, statt das geläufigere „Wasserscheu“ zu verwenden, das mir zu sehr das Risiko birgt, verharmlosend zu wirken, als ginge es nur um wasserscheue Katzen. Bei der Verbindung von Wasser und Tod3 sind für Ägypten grundsätzlich zwei verschiedene Naturräume zu differenzieren, nämlich einerseits das Meer,4 konkret Mittelmeer und Rotes Meer, andererseits das Flusssystem des Nils einschließlich größerer darin eingebetteter Binnengewässer wie des Fayumsees und der Lagunen im nördlichen Delta. Einerseits ist für uns heutige Forscher die Bezeugung für das Flusssystem aufgrund der Herkunft der meisten erhaltenen Quellen aus Oberägypten unvergleichlich viel besser als für das Meer. Andererseits ist auf dem Meer die Gefahr evident größer, bzw. es sind erheblich höhere technische Anforderungen an die Gefährte nötig, um mit gleicher Sicherheit auf ihm fahren zu können. An den Anfang meiner Darlegungen zum Meer möchte ich eine der wenigen erhaltenen diskursiv-theologischen Behandlungen stellen, in denen die Ägypter das Meer und seine Hintergründe thematisiert haben. Erhalten ist sie in einer fragmentarischen demotischen Handschrift des frühen 2. Jh. n. Chr.5 Darin geht es insbesondere um den Urozean Nun, der als wesenhafter Urgrund der Welt gesehen wird. „Das [große] Meer [von] Syrien und seine Furchtbarkeit6, der Atem des Urozeans ist es, der es erweckt, [er] ist es, der es gebiert. Der Atem des Todes, er ist es, der es versiegen lässt“ (pCarlsberg 302, Frag. 13, 2, 6–8). Hier ist also die Eigenschaft, Furcht zu verursachen, dem Mittelmeer, das die Ägypter als „Meer von Syrien“ bezeichneten, schon inhärent und wesenhaft zugeschrieben. 3
Vgl. auch Moers 2001, 192–211 und 219–232, wo allerdings des Öfteren die philologische Detailarbeit verbesserungsfähig und die Analyseschärfe nachwetzbar sind, sowie Loprieno 2005. 4 Die Vorstöße, die in neuerer Zeit insbesondere Vandersleyen 1999, Vandersleyen 2008 unternommen hat, die in der Ägyptologie allgemein als Bezeichnungen des Meeres verstandenen Lexeme wꜢč̣ wr und ym rein auf innerägyptische Landschaften zu beziehen, halte ich distinktiv für nicht haltbar, vgl. Quack 2002; Quack 2010a. Der zuletzt von Vandersleyen 2011 unternommene Verteidigungsversuch zeigt nicht nur, dass er offensichtlich in Ermangelung stichhaltiger Sachargumente zu aus der Luft gegriffenen ad-hominem-Attacken (Vorwurf der Misogynie) gegen mich greift, sondern belegt vor allem S. 103 nur endgültig, dass Vandersleyen nicht einmal über die Orthographie von Plural- und Dual-Endungen Bescheid weiß. Die Forschung der letzten Jahre hat insbesondere im Bereiche des Roten Meeres zunehmend Reste realer Häfen nachgewiesen, s. Sayed 1977; Bradbury 1988; Fattovich et al. 2006; Fattovich 2008; Bard et al. 2010; Manzo 2011; Fattovich 2012; Tallet 2012a; Tallet 2012b; Ch. Ward 2012; Tallet 2013; Ch. Ward 2013; Bard et al. 2013. 5 Edition M. Smith 2002. 6 Das in der Edition M. Smith 2002, 105 und 108, ungelesen gebliebene Wort ist snty[.t] zu lesen.
DIE FURCHT VOR DEM MEER UND DER TOD IM NIL
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„Furchtbarkeit“ ist zunächst ein Phänomen der Einstufung durch andere, die mit Furcht auf das reagieren, was sie wahrnehmen. Wenn man anders an die Dinge herangeht, kann man auch dem, was man selbst als Bedrohung wahrnimmt, seinerseits eine aktive Intention zuschreiben. In ägyptischer Idiomatik gerade der späten Zeit ist es tatsächlich nicht selten, dass man vom Zorn des Meeres spricht (Wenamun 2, 80; Krugtexte A 19; pWien D 12006 rt. 5, 29) bzw. den Wutanfall eines Menschen mit dem Zorn des Meeres vergleicht (pSpiegelberg 3, 15 f.; 13, 12 f.; pKrall 16, 13; Petese C1, 1, 2).7 Instruktiv ist in einem divinatorischen Handbuch aus dem 2. Jh. n. Chr. die Prognose des friedlichen Meeres: „Fürchte dich nicht vor dem Meer, denn [es ist ni]cht zornig, es ist besänftigt.“ (pCarlsberg 585, Fragment C, x+1, 5 f.).8 Sie steht neben Auskünften solcher Art, der Frager werde es mit seinen Gegnern aufnehmen können und sie würden vor ihm fallen – also eine Situation des Krieges oder allenfalls der juristischen Auseinandersetzung. In einem sehr fragmentarischen Text mit Anrufungen an Götter, der aus dem 2. Jh. n. Chr. stammt (pCarlsberg 417 vs.), gibt es eine einschlägige Passage, die leider nur unvollständig erhalten ist. „Ist das Meer besänftigt? Ich bin an Bord gegangen (?), denkend, es werde zornig sein [… Das Mee]r ist sehr friedlich. Ich bin an Bord gegangen (?), ich werde mich nicht fürchten. Das Sch[iff … …]. ‚Ich bin bei dir als guter Schild.‘“ (Hauptfragment, Z. 1–3).9 Der Schlusssatz könnte dabei, sofern richtig verstanden, die Heilszusage einer Gottheit zitieren. Motivisch ähnlich ist auch eine magische Anrufung auf einem Ostrakon der frühen Römerzeit (Ostrakon Strasbourg 1338, Z. 2) mit der Aufforderung „Oh Meer, schlag keine Wellen!“.10 Allerdings handelt es sich dabei nur um eines von mehreren Analoga der Natur, die in einem Spruch aufgegriffen werden, in dem es tatsächlich um die Behandlung gynäkologischer Probleme geht. Noch ein weiterer Beleg für die Wahrnehmung des Meeres durch die Ägypter lässt sich vermutlich an einer allerdings philologisch nicht leichten Stelle finden. „Lieblicher bist du in deiner Redensweise, wenn sie friedlich ist, als der sanfte Nordwind des Meeres nach langdauerndem Orkan (?).“ (Mythus Leiden 11, 17).11 Das Kernproblem ist hier die Bedeutung des Verbs č̣ cm, das man bislang unter Verweis auf koptisches ϫⲁⲙⲏ „Windstille“ als „still sein“ verstanden hat. Auch ich selbst habe früher „Flaute“ übersetzt.12 Dieser Ansatz ist schwerlich korrekt. Zunächst handelt es sich beim koptischen Wort um ein feminines Substantiv, während in den demotischen Texten eindeutig ein Verb vorliegen muss. Inhaltlich sollte, da es hier um die Besänftigung der vorher zornig wütenden Göttin 7
Ryholt 2006, 31 f. und 34. Edition Quack in Druck a. 9 Der Text ist noch unveröffentlicht; eine Bearbeitung durch Claudia Maderna ist in Vorbereitung. 10 Edition Spiegelberg 1911, 34–37, Taf. VI Nr. 1. 11 Editionen Spiegelberg 1917 (dort 32 f.) und de Cenival 1988 (dort 32 f.). 12 Hoffmann et al. 2007, 214. 8
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geht, eher ein Ausdruck für das Rasen des Sturms stehen. Zudem kann Ꜣsḳ r.ı͗ w⸗f č̣ m c, wörtlich „ein Verweilen, indem es …“ sprachlich korrekt kaum „aufhören“ bedeuten.13 Von den sonstigen Belegen für č̣ cm/č̣ m c ist 2. Chaemwese 6, 17 im Zusammenhang mit einer gefährlichen Wolke, die ein Magier bekämpft, tw⸗f lg⸗s s ı͗ (w)⸗s č̣ m c n pꜢ čꜢw bn r:wn-Ꜣ.w-ı͗ (w)⸗s n.ı͗ m⸗f überliefert, und da lg mit nachfolgendem Umstandssatz standardmäßig „aufhören, etwas zu tun“ bedeutet, dürfte eher so etwas wie „er ließ ihn (den Himmel) aufhören, mit dem üblen Wind, in dem er war, zu tosen“ zu verstehen. Der letzte eindeutige Beleg14 des Wortes pInsinger 25, 24 tm ḥyt tm č̣ m c tm ı͗ ri̯ wč̣ Ꜣ.t rwš 15 lässt viele Möglichkeiten des Verständnisses offen, auch das vorne stehende Verb ḥyt ist alles andere als sicher in der Bedeutung.16 Denkbar wäre somit „Zerfetze nicht, tose nicht, sorg’ nicht für ein Übermaß an Sorgen!“. Sehr instruktiv ist die Darstellung des Mittelmeeres in einem der wenigen ägyptischen Texte, die wesentlich im Ostmittelmeerraum spielen, nämlich dem Bericht des Wenamun.17 Darin geht es um einen ägyptischen Priester, der gegen 1070 v. Chr. von Theben nach Byblos in Phönizien reist, um Holz für die Prozessionsbarke des Amun zu holen. Im Zusammenhang mit der Audienz beim Fürsten von Byblos gibt es auch eine Passage, die eine Landschaftsschilderung bietet.18 „Und ich fand ihn in seinem Obergemach19 sitzend, während sein Rücken einem Fenster zugewandt war und die Wellen des großen Meeres (ym) von Syrien gegen seinen Hinterkopf brandeten“ (1, 48–50).20 Dabei zeigt sich übrigens die Raffinesse der Komposition sehr deutlich. Während die Brandung des Meeres an derjenigen Stelle, in der sie real erwähnt wird, zunächst nur nach Lokalkolorit wirkt, das keine wirkliche Rolle für die Erzählung spielt, wird ihre Verbindung mit der Selbstinszenierung des Fürsten um einiges später im Text in einer anderen Dialogszene zwischen Wenamun und dem Fürsten von Byblos wichtig, in der sie gerade nicht explizit thematisiert wird, aber die vorherige Schilderung dem aufmerksamen Leser / Zuhörer noch im Kopf sein sollte. Die Verhandlungen gestalten sich, bedingt durch die schlechte Zahlungsfähigkeit des Ägypters, 13
So die ad-hoc Lösung von Spiegelberg 1917, 63. Die Verbindung zwischen dem Zorn des Meeres und dem Verb č̣ cm/č̣ m c dürfte auch pWien D 12006 rt. 5, 29 f. vorliegen, wo aber der Zusammenhang schlecht erhalten ist (vgl. Stadler 2004, 72, dessen Ansatz „traurig sein“ kaum zutreffen dürfte). 15 Textedition Lexa 1926 (dort 82); dringend ersetzungsbedürftig. Vgl. die letzte deutsche Übersetzung in Hoffmann et al. 2007, 264. 16 Üblicherweise versteht man „sich fürchten“ o. ä., aber sonst ist in der ägyptischen Sprache lediglich ein Substantiv ḥty.t belegt, jedoch kein Verb von dieser Wurzel. Vgl. das Verb ḥtꜢ „zerfetzen“ o. ä. Quack 1994, 115 Anm. 109. 17 Edition des Textes Gardiner 1932, 61–76. S. an neueren Bearbeitungen besonders Schipper 2005; Di Biase-Dyson 2013, 257–343 und 401–438. 18 Widmaier 2009, 69–71 und 146 f. Vgl. auch Vandersleyen 1999, 112, und dazu Graefe 2015, 54. 19 Diese Bedeutung wurde von W. Ward 1985 bestritten, s. dagegen aber Xella 1996; Quack 2004, 136 mit Anm. 1. Vgl. Di Biase-Dyson 2013, 336 f. 20 Vgl. Gardiner 1932, 66; Schipper 2005, 186–188. 14
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ausgesprochen schwierig. Der Fürst sagt dann, offensichtlich schlechtgelaunt, zu Wenamun: „Komm nicht, um den Schrecken des Meeres (ym) zu sehen! Sowie du den Schrecken des Meeres sehen wirst, wirst du meinen eigenen sehen.“ (2, 50 f.). Derselbe Text enthält auch die explizite Evokation der Gefahren der Seefahrt, wo erneut der Fürst von Byblos zu Wenamun sagt: „Laß mir die Stricke geben, die du gebracht hast, [um die Zedernhölzer zusammenzubinden], die ich fällen werde, um sie für dich zu […] zu machen […], die ich für dich zu Segeln für deinen Frachter machen werde, und die Steven21 (?) werden allzu belastet sein, und sie werden brechen, und du stirbst aus eigener Schuld inmitten des Meeres (ym). Siehe, Amun donnert am Himmel, nachdem er Seth in sein Element22 gesetzt hat.“ (2, 16–19).23 Seth ist dabei derjenige Gott, der in Ägypten mit Unwetter verbunden ist und auch mit dem vorderasiatischen Wettergott gleichgesetzt wird. Pikant wird die Bemerkung dadurch, dass Amun einerseits in Ägypten als Windgott betrachtet wird,24 andererseits auch spezifisch derjenige Gott ist, dem Wenamun persönlich und dienstlich verbunden ist. Hier wird nicht nur Amuns Autorität subversiv gemindert, indem Seth die reale Kompetenz im Bereich Wind und Unwetter zugeschrieben wird, sondern sogar Amuns gütliche Fürsorge für Wenamun indirekt angezweifelt. Es gibt einen literarischen Text aus dem Alten Ägypten, der die Schilderung eines Schiffbruchs auf dem Meer enthält und im Fach auch allgemein als „Der Schiffbrüchige“ bezeichnet wird (pEremitage 1115).25 Die erhaltene Handschrift datiert etwa in das späte Mittlere Reich, ca. 1800–1700 v. Chr. „Ich ging herab zum Bergwerk des Herrschers, ich zog herab auf das Meer in einem Schiff von 120 Ellen Länge und 40 Ellen Breite. 120 Seeleute waren in ihm von den Erlesensten Ägyptens. Blickten sie zum Himmel, oder blickten sie zur Erde, ihre Herzen waren mutiger (?) als Löwen. Sie kündeten einen Sturm an, bevor er kam, und ein Unwetter, bevor es eintrat. Ein Sturm war aufgekommen auf dem Meer, bevor wir landen konnten. Der Wind erhob sich und bildete Wirbel (?).26 Eine Welle von acht Ellen war in ihm. Der Mast war es, der sie für mich zerschlug.27 Dann ging das Schiff unter. Diejenigen, die darin waren – nicht einer davon blieb übrig. 21
Vgl. zum vorliegenden Wort u. a. Jones 1988, 192; Düring 1995, 55 f. Die vorliegende Stelle, die eindeutig den Plural gebraucht, schließt aus, dass es sich um den Kiel handelt. 22 Wörtlich „in seine Zeit“. 23 Schipper 2005, 193–196. 24 Sethe 1929, 90–102; M. Smith 1987, 73 (mit Literatur), 104 f. und 123 f.; M. Smith 2005, 154; Klotz 2012, 61 f. 25 Edition des ägyptischen Textes Blackman 1932, 41–48. Eine substantielle neuere inhaltliche Studie fehlt, Burkard 1993 behandelt im wesentlichen nur die literarische Form. S. die Übersetzungen in Parkinson 1997, 89–101; Simpson 2003, 45–53, sowie den Überblick in Parkinson 2002, 187–192 und 298 f.; Burkard et al. 2007, 147–154. 26 Das hier verwendete, sonst nicht belegte Substantiv ist von der Wurzel „wiederholen“ abgeleitet. 27 Für die Orthographie von ḥwı͗ mit zwei ḥ-Zeichen vgl. Quack 1992, 198 Anm. a).
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Dann wurde ich von einer Welle des Meeres auf eine Insel gebracht.“ (pEremitage 1115, 23–40). Letztlich kann dieser Seefahrer nach etlichen Wendungen, insbesondere der Begegnung mit einer göttlichen Schlange, heil wieder nach Ägypten zurückkommen – aber seine 120 Kameraden bleiben tot auf dem Meeresgrund. Gerade diese Thematik des Sturmes wird offenbar bewusst in einer semiliterarischen Komposition auf einem Ostrakon der Ramessidenzeit (ca. 1150 v. Chr.) aufgegriffen, die durch die Verwendung derselben Schlüsselwörter wie eine bewusste Anspielung wirkt.28 Es handelt sich um einen Mahnbrief, den ein Umrisszeichner seinem Sohn schreibt. Darin heißt es „Dir wurde der Sturm angekündigt, bevor er kam, oh mein Schiffer, der schwach beim Landen ist“29 (HO LXXVIII, rt. 1 f.). Neben dieser expliziten Anspielung erscheint das Thema der gefahrvollen Wasserfahrt auch in weiteren Wendungen dieses Textes, so „Ich wandte die Strömung des Meeres ab“ (rt. 6),30 „Du hast dir das Boot vorgenommen, um ganz wie es zu handeln. Wenn es nach Backbord umschlägt, dann sagt man dir ‚Sei in der Gunst der Löwen‘,31 während du allein bist“ (vs. 1–2), „Du bist ohne mein Wissen mit dem Schiff losgefahren, du hast den Schilfsumpf (?) zerhackt, du bist losgestürmt, um die Tiefen zu kapern. Jetzt bist du im Wasser deiner Ruderfahrt, und wer hat zum kleinen Kadetten gesagt: ‚Geh doch zum Wasser der Wellen!‘ Siehe, du bist tief in der Unterwelt versunken, und man weiß nicht, wie man dich retten kann“ (vs. 3–5).32 Allerdings wird das Thema der gefährlichen Schifffahrt hier definitiv auf die für den Ägypter normalere Umwelt des Flusses und seiner Dauersümpfe umgeschrieben. Die potentiellen Risiken der Seefahrt illustriert auch gut ein Spruch aus einem Weisheitstext: „Ein Ausgleiten der Zunge im Königspalast ist [wie] ein Ausgleiten des Ruders auf dem Meer“ (Chascheschonqi x+23, 10).33 Beides ist offenbar höchst gefährlich. Eine falsche Äußerung angesichts des Hofstaates kann ebenso die schlimmsten, möglicherweise tödlichen Konsequenzen gewärtigen wie falsches Steuern auf dem Meer. In antiken (und mutatis mutandis auch in modernen) Kulturen spielt in Situationen latenter Gefahren grundsätzlich die Hoffnung auf den Beistand höherer Mächte eine Rolle. Entsprechend kann man auch für das Alte Ägypten die Frage stellen, inwieweit es bestimmte Gottheiten gegeben hat, von denen insbesondere Rettung aus Gefahren bei der Schiffahrt erhofft wurde. Tatsächlich gibt es einige, 28
Guglielmi 1983; Foster 1984; vgl. zuletzt Vernus 2010, 469–475. Sofern am Zeilenende ein Wort verloren sein sollte, kann auch „mein schwacher Schiffer, der […] landen“ übersetzt werden. 30 Die Übersetzung ist mit einigen Unsicherheiten verbunden; 𓏲 𓀀 erscheint für das Suffix der 1. sg. auch rt. 8 und 9. Zu nhr vgl. Hoch 1994, 191. 31 Offensichtlich ein ironischer Hinweis auf die Gefahr durch wilde Tiere, der sich der Schiffer ausgesetzt sieht. 32 Vgl. auch Fischer-Elfert 2005, 178–180, von dessen Auffassung ich in einigen Details abweiche. 33 Erstedition Glanville 1955, s. zuletzt Hoffmann et al. 2007, 274–299 und 365–368.
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aber relativ wenige Belege für ägyptische Götter im Zusammenhang von Seefahrten und ihren Gefahren. Skepsis trotz vorhandener Schutzgötter34 bezeugt ein Passus, der in einem Papyrus aus der Zeit um 1100 v. Chr. überliefert ist. „Die Mannschaften der Hochseeschiffe (mnš.w) von jeder Domäne, sie haben ihre Ladung empfangen, sie sind von Ägypten nach Syrien ausgezogen. Der Gott eines jeden Mannes ist bei ihm. Doch keiner unter ihnen kann sagen: ‚Wir werden Ägypten wieder sehen.‘“ (pLansing 4, 10–5, 2).35 Um den Text besser einzuordnen, sollte man allerdings bemerken, dass diese Passage aus einem Abschnitt stammt, in dem es darum geht, alle Berufe außer dem des Schreibers schlechtzumachen, und der somit eine klare Funktion im Rahmen der Herausbildung künftiger Verwaltungskräfte hat. Jedoch funktioniert auch eine solche tendenziöse Zugangsweise nur dann, wenn sie auf reale Erfahrungen zurückgreift. Selbst wenn hier also die positiven Chancen der Schifffahrt auf dem Mittelmeer bewusst ausgeblendet sind, was insbesondere wirtschaftlichen Gewinn betrifft, bleibt als klarer Befund, dass Seefahrt in solchem Maße als gefährlich betrachtet wurde, dass die Präsenz von Schutzgöttern als ratsam empfunden wurde. Gleichzeitig gibt es hier keinen übergeordneten Patron der Seefahrt als solchen, sondern jeder Betroffene konnte zu seinem individuellen Schutzgott greifen, den er mutmaßlich in Form einer Statuette konkret bei sich hatte.36 In einem Königshymnus der späten Ramessidenzeit (ca. 1130 v. Chr.), der sich heute in Turin befindet, erscheint sogar das Motiv, dass angesichts der Gefahr der Seefahrt die Schiffsbesatzung sich direkt von Göttern und Tempeln abwendet, also keine Hoffnung mehr auf göttlichen Beistand setzt. „Die Hochseeschiffe (mnš.w), die auf [See] sind [für] das Beste des Meeres (wꜢč̣ -wr), sie haben ihren Göttern den Rücken zugewandt, sie haben die Tempel vergessen. Er37 hat diejenigen festgehalten, die [in] deinen Namen [flehten]38 auf den Schiffen, wie Seile und Stricke. Oh König von Ober- und Unterägypten Usermaatre-Setepenre, geliebt von Amun, der das zornige […]39 besänftigt, der die Hochseeschiffe nach Ägypten bringt.“ (PR 88, 10–89, 1).40 Der direkte Zusammenhang des Textes ist 34
Vgl. dazu Vinson 1999, 101 mit Anm. 88. Textedition Gardiner 1937, 103; Bearbeitungen Caminos 1954, 384 und 387; Tacke 2001, 92– 94; Jäger 2004, 209. 36 Vgl. Quack 2010b, 18 f. 37 Condon 1978, 12 gibt mḥ⸗f, was zum alten Faksimile passt. Das publizierte Photo (Condon 1978, 88) zeigt offenbar einen Zustand, in dem ein Einzelfragment in der Position nach rechts verrutscht ist. Eigentlich erwarten würde man mḥ⸗k „du hast festgehalten“. 38 Ein Ergänzungsvorschlag, der sich aus meinem Verständnis des Zusammenhangs ergibt. Die von Condon 1978, 31 vorgeschlagene Ergänzung nꜢ nt[ı͗ m w cr] „diejenigen, die auf der Flucht sind“, der sich auch Popko 2013, 106 angeschlossen hat, scheint mir den Sinn des Textzusammenhangs zu verkennen. 39 Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist „das zornige [Meer]“ zu ergänzen. 40 Condon 1978, 12 f. und 20. Deutsche Übersetzung auch Popko 2013, 206. 35
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insofern heikel, als sich der erste Teil auf dem Rekto, der hintere auf dem Verso des Papyrus befindet und nicht absolut sicher ist, ob eine direkte Fortsetzung vorliegt oder jeweils eine Seite ganz verloren ist. Die erhaltenen Stichwörter würden aber gut zu einem fast direkten Anschluss passen. Hier ist also, der Gattung des Königshymnus entsprechend, der Pharao derjenige, welchem zugetraut wird, die sichere Rückkehr der Schiffe vom Meer auch da noch zu garantieren, wo das Vertrauen in die Götter und ihre Tempel geschwunden ist. Das ist um so bemerkenswerter, als wir uns in einer Zeit befinden, in welcher das Vertrauen in den König ab- und die politische Rolle der Gottheit zunimmt41 – einige Jahrzehnte später wird in Theben der Gottesstaat des Amun errichtet, in dem die politischen Entscheidungen vom Barkenorakel des Gottes abhängig gemacht werden.42 Auch in diesem Fall ist die Textgattung und damit ihre Einseitigkeit in Rechnung zu stellen, aber das Faktum als solches, dass die Seefahrt unsicher und Rettungsgestalten erwünscht sind, muss zutreffen, um selbst diese tendenziöse Lesart präsentationsfähig zu machen. Amun oder wohl eher Month als vertrauenswürdiger göttlicher Schützer im Sturm wird dagegen in einer Inschrift der Ptolemäerzeit im Tempel von Medamud genannt, bei der leider der Beginn jeder Kolumne zerstört ist. Erhalten ist: „[… …] Sturm, wenn er kommt – ‚Nordwind‘ ist sein Name; der die Brise (?) abwehrt; der den rettet, den er liebt, im üblen Sturm, indem er die Sandbank beseitigt (?)43 und den guten Fahrtwind jedem bringt, der in seiner Gunst ist. […] Atemnot aus Furcht vor ihm, wenn er mit Sturm und Regen (?) herabkommt in der Nacht. Er bringt die Schiffe der Frevler zum Kentern und rettet die Kähne des Rechtschaffenen, so dass er im Hafen landen kann.“ (Medamud 343, Kol. 7 f.).44 Hier dürfte man sich angesichts der Erwähnung der Sandbänke eher im Bereich der Flussschiffahrt bewegen. Zu bemerken ist, dass ein Teilbereich dieses Texts sich fast gleich in Kom Ombo findet, nämlich „er bringt die Schiffe (kb〈n〉.w)45 zum Kentern, er rettet die Kähne des Rechtschaffenen“ (Kom Ombo I Nr. 67, Kol. 3).46 Sicher auf Amun bezogen ist in zwei ebenfalls ptolemäerzeitlichen Inschriften im Tempel von Opet (Opet 123B und 166F) die Angabe, er würde auf dem Meer (wꜢč̣ -wr) angerufen, und zwar in beiden Fällen in Parallele zur Anrufung 41
Allerdings sollte man nicht unerwähnt lassen, dass dies primär für die erhaltene Handschrift mit ihrer aktuellen historischen Situierung des Textes gilt, während es keineswegs ausgeschlossen und sogar relativ wahrscheinlich ist, dass es sich um die Umschreibung älterer Vorlagen vielleicht der 19. Dynastie auf spätere Herrscher handelt, vgl. Condon 1978, 4 f.; Popko 2013, 197 f. 42 Vgl. Meyer 1928; Römer 1994; Assmann 1996, 332–345; Jansen-Winkeln 2001. 43 Ich lese das Zeichen als ṭr; vgl. dagegen Jambon et al. 2009, 64 f. Anm. c, die ḥbs „bedecken“ vorschlagen. 44 Drioton 1927, 38 f.; Sethe 1929, 94; Jambon et al. 2009, 63–65. 45 So mein Vorschlag zur Lesung. 46 De Morgan et al. 1895, 76.
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im Geburtshaus.47 Die Risiken der Seefahrt werden hier also mit Gefahren und möglichen Komplikationen bei der Geburt auf ein vergleichbares Niveau gesetzt. Da erscheint es auch folgerichtig, dass es gerade in den Geburtshäusern, in denen jährlich die Geburt des jeweiligen Kindgottes begangen wurde und die Dekoration deshalb auch substantiell auf die Thematik der Geburt eingeht, einen zweifach überlieferten Text gibt, in dem an sich Amun angerufen wird, Hathor in ihren Wehen beizustehen. Der Text führt aber das Thema des Amun als Beistand noch etwas weiter aus: „So wie er deinen Namen angerufen hat in der Gegend des Meeres, wenn es wütete, so hat er den Hafen erreicht.“ (Edfou Mammisi, 47, 18 f.; Dendara Mammisis 28, 2 f.).48 Zwar nicht direkt als Beistand, aber zumindest als derjenige, dem die Kontrolle untersteht, erscheint Amun in einer Anrufung „Er lässt den Himmel zürnen, er bringt das Meer zum Aufruhr. Sie sind friedlich, wenn er friedlich ist“ (Hibis III, Taf. 31, 26),49 zu der es in der oben angeführten Passage aus Medamud (343, 10) eine approximative Parallele gibt, wo allerdings gerade die Erwähnung des Meeres fehlt.50 Derartige Formulierungen sind wichtig, will man den ägyptischen Hintergrund der Vorstellungen verstehen, die in griechisch-römischer Zeit vor allem Isis zu einer Schützerin der Seefahrt machten.51 Nur knapp erwähnt sei eine Frage der Mythologie. Die vorderasiatischen Kulturen des Mittelmeerraumes haben einen Mythos vom Kampf der Götter gegen das Meer entwickelt, der insbesondere aus Ugarit gut bekannt ist.52 In Ägypten gibt es in Form der sogenannten Astarte-Erzählung auch eine Version davon, die allerdings eindeutig eine Adaptation vorderasiatischer Vorstellungen darstellt. Infolgedessen verzichte ich auf eine tiefergehende Diskussion, zumal der Text so fragmentarisch ist, dass eine gesicherte Interpretation aus sich heraus kaum möglich wäre.53 Ganz anders sieht die Situation auf dem Nil aus. Der Nil als natürliche Wasserstraße führt so durch Ägypten, dass er eine logische Verbindung zwischen den Orten darstellt und Straßen über Land eine deutlich geringere Rolle spielten (auch wenn sie fallweise besonders als Abkürzungen zwischen stärker gekrümmten Bereichen des Flussverlaufs durchaus eine Rolle gespielt haben).54 Im ägyptischen Kernland nördlich des bei Assuan liegenden ersten Katarakts gab es keine natürlichen Hindernisse für die Flussschifffahrt. Von daher gibt es bei den 47
De Wit 1958, 123, Kol. 2, in der Rede des Amun sowie 166, Kol. 2–3, in der Rede des Amun. Text in Chassinat 1939, 47 und Daumas 1959, 28. Übersetzung Daumas 1958, 433. Vgl. Darnell 2013, 43. 49 Davies 1953, Taf. 31. Vgl. die Bearbeitungen von Cruz-Uribe 1988, 123; Klotz 2006, 59–61. 50 Klotz 2006, Taf. 16; Jambon et al. 2009, 71 und 73 Anm. e). 51 D. Müller 1961, 61–67. 52 Vgl. etwa Haas 1994, 99 f.; M. S. Smith 1994; Schwemer 2001, 226–237, 451–453 und 534 f.; R. Müller 2008, 43–63. 53 Vgl. Collombert et al. 2000; Schneider 2011–12. 54 Vgl. Graeff 2005; Köpp-Junk 2015. 48
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Ägyptern keine apriorische Konnotation der Furcht im Zusammenhang mit der Flussschifffahrt.55 Das soll allerdings nicht bedeuten, dass Schifffahrt auf dem Nil grundsätzlich ungefährlich war. Dabei ist zu beachten, dass hier die naturräumlichen Gegebenheiten innerhalb eines Jahres sehr variabel waren, und zwar in einer Weise, wie sie sich seit der Konstruktion der großen Staudämme unserer eigenen Erfahrung komplett entzogen hat. Speziell während der Überschwemmungszeit, in welcher der Nil den größten Teil des Tales, abgesehen von den höher gelegenen Siedlungshügeln, überflutete, konnten sich sehr viel größere Wasserflächen mit entsprechend substantiellen Wellen (und weitaus intensiverer Strömung) ergeben, so dass die Gefahr des Kenterns sehr viel größer wurde.56 Tatsächlich gibt es auch einzelne Texte, welche Risiken in diesem Bereich thematisieren bzw. von gekenterten Schiffen sprechen.57 Ein erster relativ früher Fall findet sich eventuell in der Biographie des Ka-emTenenet aus der späten 5. Dynastie (ca. 2400–2300 v. Chr.).58 Leider ist der Text ausgesprochen schlecht erhalten, so dass bestehende Deutungen oft von spekulativen Ergänzungen von Lücken abhängen.59 Ich biete den Text bewusst ohne Ergänzungen im real erhaltenen Zustand: „Es geschah nun, dass […] kam, [… …] vereint, wobei ich keine Männer finden konnte,60 die auf den Wegen gingen wegen des Sturmes [… … …] während (?) er […] sah61 (?) des Flusses an jenem Tag des Unwetters, das gewaltiger war als alles andere. [… … … wie der Wunsch] seiner Majestät diesbezüglich. Du bist sein wahrer Steuermann. [… … …] du den intensiven Sturm auf dem Fluss. [… … …] sein Ende. Es war für ihn angenehmer als alle Dinge. Er litt dabei an gar nichts. Da sagte seine Majestät: ‚Es ist wie die Seefahrt des Sonnengottes auf dem großen See.‘ “ (Urk. I, 182, 14–183, 9). Der Text setzt 55
Die Behauptung von Moers 2001, 195, im Brief des Wermai 2, 13 sei davon die Rede, dass der Held die wässrigen Tiefen in ständiger Angst durchschiffe, wird durch den ägyptischen Wortlaut der Stelle nicht gedeckt, wo einfach das Verb ı͗ fṭ verwendet wird, das zwar die Konnotation der Eile, nicht jedoch der Furcht hat. Vgl. zur fraglichen Stelle zuletzt Schad 2006, 96 mit Anm. 7. 56 Nicht zutreffend ist die Behauptung von Moers 2001, 193, das Überqueren des Nils auf einem Schiff ohne Ruder sei die einzige Gefahr gewesen, die Sinuhe zu bestehen gehabt hätte. Tatsächlich ist er einerseits auf dem Sinai, wo ihm das Verdursten droht, weitaus ernstlicher gefährdet, andererseits ist die Schlüsselstelle an tapfer bestandenen Gefahren eindeutig der Zweikampf gegen den Helden von Retenu, durch den erst die Verfehlung aufgehoben wird, dass er früher in einer Gefahr davonlief, obgleich er behauptete, ein Gefolgsmann zu sein, der seinem Herren folgte. 57 Vgl. Vinson 1998, 84–90. 58 Kloth 2002, 35 und 210 f.; Darnell 2013, 40 f. 59 Dies gilt insbesondere für E. Schott 1977, 449; darauf basierend auch Gnirs 1996, 211. 60 Hier dürfte ein Umstandssatz vorliegen, anders Darnell 2013, 41 mit Anm. 273. 61 Es könnte mit Darnell 2013, 41 mit Anm. 274, eine Form des Verbs mꜢꜢ vorliegen, auch wenn die von ihm in der Umschrift angesetzte Form mꜢn für den Subjunktiv in einem Originaltext des Alten Reiches ausgeschlossen ist.
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sich noch fort, ohne dass wirklich vieles klarer wird. Zumindest kann man vage erkennen, dass der Grabbesitzer sich Verdienste im Zusammenhang mit einer Schifffahrt des Königs erworben hat, die angesichts problematischer Umstände auch weitaus schlechter hätte enden können. Auch in einer demotischen Erzählung, von der leider nur der Anfang auf dem Verso des pBN 215 aus frühptolemäischer Zeit (3. Jh. v. Chr.) erhalten ist,62 kann man erkennen, wie Wetter auch die Flussschifffahrt beeinträchtigen kann. Darin geht es um einen Schiffer, der vom König Psammetich einen Eilauftrag erhält, aber aufgrund heftigen Gegenwindes nicht imstande ist, den Zeitplan einzuhalten. Seine Frau scheint Rat zu wissen, aber gerade an diesem Punkt bricht der erhaltene Papyrus ab. Immerhin hört man aus ihrem Mund noch den Wunsch „Möge er63 unversehrt sein vor einem Schrecken (?) des Flußes!“. Zu bemerken ist auch die Textsorte der Orakelschutzdekrete, die uns vor allem aus der 22. Dynastie, um 900 v. Chr., bekannt sind.64 In ihnen versprechen Götter dem Träger detailliert aufgelistet Schutz vor allen möglichen Gefahren in allen möglichen Situationen. In einem von ihnen findet sich der Schutz vor Sturz vom Boot direkt neben dem Schutz vor Sturz vom Pferde(gespann) (pBerlin 3059, 35 f.).65 Man sollte allerdings betonen, dass es sich um einen Ausnahmefall handelt; in etwa 20 weiteren Exemplaren dieser Textsorte ist nichts exakt Gleichartiges erhalten. Immerhin findet sich sonst noch „Ich werde ihn auf dem Flusslauf erretten in jedem Schiff, in das er hinabsteigen wird, in jeder Fähre, mit der er übersetzen wird“ (L6 vs. 23–26)66 sowie „Ich werde ihn vor dem Kentern des Flusses retten“ (pBoulaq 4, Rückseite E, Z. 7).67 Der Schutz vor dem Kentern eines Bootes findet sich auch im Buch vom Tempel erwähnt, einem umfassenden Handbuch über den idealen ägyptischen Tempel, das in etwa 50 Handschriften der Römerzeit erhalten ist.68 Darin werden u. a.die Dienstpflichten aller am Tempel Beschäftigten minutiös aufgelistet. Für viele nach heutigem Verständnis „magische“ Aktionen ist der Skorpionsbeschwörer zuständig. Zu seinen Pflichten gehört auch, sich um Sicherheit bei Wasserfahrten ebenso wie bei Reisen in der Wüste zu kümmern: „Er ist es, der Schutz auf dem Wasser macht, um Wasseraggressoren69 (?) abzuwehren. Er ist es, der 62
Spiegelberg 1914, 26–28, Taf. VI; Hoffmann 1992/93; Übersetzung Hoffmann et al. 2007, 160–162 und 347. 63 Vermutlich ist der Wunsch, auch wenn er sprachlich in der 3. Person formuliert ist, inhaltlich in der 2. zu verstehen; vgl. zu ähnlichen Phänomenen Vittmann 1998, 487 f., wo auch die vorliegende Stelle berücksichtigt ist. 64 Vgl. zu dieser Textgruppe besonders Edwards 1960 und zusätzlich Quack 1994, 8; Bohleke 1997; Fischer-Elfert 2015, 82–95, 203–219 und 250–252. 65 Vgl. Fischer-Elfert 2015, 82–95. 66 Edwards 1960, 41, Taf. XIV. 67 Nach eigener Abschrift vom Original; vgl. das Faksimile in Mariette 1871, Taf. 26 links. 68 Für Vorberichte s. zuletzt Quack in Druck b mit weiteren Verweisen. 69 Das verwendete Wort ist šnty, was WB V, 520, 6 als Götterfeind in Gestalt eines Krokodils
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Abb. 1: Das Ritual zum Schutz der Barke im Grab des Ramose (Ramessidenarchiv des Ägyptologischen Instituts der Universität Heidelberg, Foto: E. Hofmann).
Schutz in der Wüste macht, um alle Löwen und alle Schlangen abzuwehren. Er ist es, der Schutz im Schiff (ṭp.t) macht, um widrige Winde abzuwehren, wenn der Gott in seine Barke (wı͗ Ꜣ) herabkommt.“ (pCarlsberg 313, 17, 4 f.). Dementsprechend gibt es auch ein spezielles „Ritual zum Schutz der Neschmet-Barke“ (Abb. 1).70 Allerdings lassen die Sprüche, soweit sie überhaupt in irgendeiner Weise spezifisch analysierbar sind, keinen Bezug zum Wetter erkennen. Vielmehr geht es wohl gegen lebende Entitäten, denen damit gedroht wird, ihnen den Kopf abzuschneiden oder sie sonstwie abzuschlachten. Am signifikantesten ist wohl, dass die Feindgestalt mehrfach als nhs bezeichnet wird, und dies ist ein Wort, das Seth in tierischer Gestalt bezeichnet, insbesondere als Nilpferd. Demnach dürften bei diesem Ritual Gefährdungen des Schiffes durch Großtiere im Zentrum stehen. Gute Wünsche gegen alle potentiellen Gefahren der Schifffahrt begegnen uns in einer Passage aus den sogenannten „Klagen des beredten Bauern“. Dort wird ein Mann vom Rande der ägyptischen Gesellschaft, der im Wadi Natrun lebt, unter fadenscheinigen Argumenten beraubt und wendet sich an den Obergütervorsteher Rensi, dem er zunächst mit freundlichen Worten schmeichelt, hinter denen natürlich letztlich die Hoffnung steckt, dass dieser auch im anstehenden Gerichtsurteil den richtigen Kurs nimmt: oder Nilpferd angesetzt wird. Vgl. weiter das etymologisch damit wohl zusammengehörige ϣⲉⲛⲏⲧ als Bezeichnung einer Haifischart, s. Westendorf 1965–77, 319. Vermutlich bezeichnet das Wort letztlich alle aggressiven aquatischen Tiere, welche dem Menschen gefährlich werden konnten. 70 Goyon 1969. Eine Neubearbeitung durch Anne-Katrin Gill ist in Vorbereitung, s. Gill 2015, 135 Anm. 23.
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Wenn du zum See der Ma’at herabkommst, dann sollst du darin im Fahrtwind segeln. Die Böe (?) soll dein Segel nicht wegreißen! Dein Schiff soll nicht steckenbleiben! Kein Unheil soll über deinen Mast kommen! Deine Rahen (?) sollen nicht brechen! Du sollst nicht überhasten (?), so dass du auf Land aufläufst! Die Flut soll dich nicht ergreifen, du sollst nicht vom Übel des Flusses schmecken, du sollst nicht das Gesicht der Furcht sehen! (Bauer B1, 85–91)71
Ungeachtet etlicher lexikalischer Probleme in den Details haben wir hier offensichtlich eine Auflistung der wesentlichsten Gefahren, die bei der Schifffahrt auf dem Nil drohen. Dabei handelt es sich, soweit man ein Urteil fällen kann, sowohl um Probleme unzureichend stabiler Ausrüstung als auch mangelhafter Segeltechnik. Als spezielles Gefahrenpotential sei auf das „Gesicht der Furcht“ hingewiesen, bei dem es sich mutmaßlich um die Begegnung mit dem Krokodil handelt – darauf soll unten noch genauer eingegangen werden. Ein interessanter Vergleich findet sich in einer demotischen Heldenerzählung, in der es darum geht, dass ein junger Priester und Anführer von „Hirten“ die beiden größten Helden Ägyptens, die sich selbst als „erster Schild“ und „großes Steuerruder“ Ägyptens bezeichnet haben, überwunden und gefesselt hat.72 Als Reaktion darauf sagt der König u. a. „Er ließ Ägypten in Unruhe sein73 wie ein gekentertes Schiff, das kein Seemann (mehr) steuert“ (pSpiegelberg 9, 19–21).74 Entsprechend kann die Schifffahrt und ihr mögliches Scheitern auch als Bild für das menschliche Schicksal gebraucht werden. Besonders schön ausgemalt findet sich dies in einer Passage aus dem sogenannten „Mythos vom Sonnenauge“, der in etlichen demotischen Handschriften insbesondere des 2. Jh. n. Chr. belegt ist. Der Mensch mit seinem Schicksal ist wie ein Boot, das im Fahrtwind [segelt]. Sein Schicksal ist wie das sichere Ufer (?) […] Bestattung. Der Wind zum Kentern (?), dessen Richtung, Farbe und […] man nicht kennt, […] Die Änderungen des Windes sind wie die Schicksalsschläge. Der Gott ist wie der Schiffer, der es steuert. Sein Herz ist sein Steuerruder […] sein […] wiederum. Wer wohltätig ist in seinem Erfolg, den läßt er an das sichere Ufer kommen. Wer aber grausam ist, der gleitet aus. Sein … ist sein … […] sofort. Der Gott ist der … der Fähre. Sein Werk ist, täglich zu 71
Edition des Textes in Parkinson 1991, 17 f.; Bearbeitung Parkinson 2012, 69–75. Vgl. Darnell 2013, 34 f. 72 Die Darstellung von Vinson 1998, 85, es ginge darum, dass Ägypten nicht mehr von seinem legitimen Herrscher beschützt werde, ist recht ungenau. 73 Gegen Spiegelberg 1910, 24, ist nicht ı͗ ri̯ nyn, sondern ẖnyn zu lesen. 74 Vgl. die Edition in Spiegelberg 1910, 24 f., sowie die neueste Übersetzung in Hoffmann et al. 2007, 99.
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leiten. Tägliche Leitung besorgt er. Derjenige, dem er zürnt, den wirft er hinaus; derjenige, dem er gnädig ist, den holt er herein. (Mythus vom Sonnenauge, Lille A 31–37).75
Amun, den wir bereits als potentiellen göttlichen Beistand auf dem Meer kennengelernt haben, erscheint auch in einigen Passagen als göttlicher Beistand, die sicher oder wahrscheinlich auf die Flussschifffahrt zu beziehen sind. Zunächst zitieren möchte ich Passagen aus einem Hymnus an Amun, der auf einem Ostrakon der Ramessidenzeit belegt ist. Amun, du Mastbaum aus zwei Hölzern, der jedem Wind standhält (?). Sein Fuß (?) ist aus Kupfer, während seine Holme76 (?) sich hingestellt haben. Er schwankt nicht vor dem Nordwind, er beugt sich nicht77 vor dem Südwind. Er segelt, und wenn es keinen Wind gibt, rudert er es. … Lotse, der die Wasser kennt,78 Amun, du Steuerruder mit erfolgreichen Einsätzen, du Scharfsichtiger, der die Untiefe kennt, der Sehnsucht nach sich auf dem Wasser bewirkt. Ganz genau jemanden wie Amun, den wünscht man auf dem Wasser. (oBritish Museum EA 29559, 3–5 und 10–13).79
Als Schützer auf dem Wasser in einem konkreten Fall wird Amun in einem Graffito des Priesters Pahu genannt, das dieser im Bereich von Qamûla in der Westwüste hinterlassen hat.80 Ich rief zu Amun, als ich in den Nöten der Wassertiefe des Flusses war und die Wellen hoch waren. Er ließ mich auf Land für meine Füße kommen.81 Der Anruf an Amun, den der Priester Pahu, Sohn des Nay machte. Der Anruf an Amun: „Ich war gekentert. Er ließ mich flattern82 (?) wie die Nilgans. Pahu, Sohn des Na[y].“ 75
Übersetzung in Hoffmann et al. 2007, 201. Ein nautischer Fachterminus unsicherer Bedeutung, s. Jones 1988, 194 f. 77 Wörtlich „wandert nicht“. 78 Ähnlich auch pAnastasi II = pBM 10243, 9, 2. Vgl. Fischer-Elfert 1997, 17 f. (mit Korrektur für ein Detail in Quack 1999, 139) und die Bibliographie in Darnell 2013, 43 Anm. 298. 79 Edition Černý et al. 1957, 24 und Taf. LXXXIX; Demarée 2002, 26 f., Taf. 86 f. Vgl. zuletzt die Übersetzung von Quack 2013, 167–169. 80 Darnell 2013, 30–45. 81 Darnell 2013, 34 mit Anm. j versteht „that I travel the land by my own volition“, für tꜢ n rṭ.wı͗ vgl. aber oDeM 1266, Z. 13 (s. u.). 82 Die von Darnell 2013, 33 f. Anm. i vorgeschlagene Deutung scheidet aus, da die Auslassung von č̣ ṭ nach ḥr auf Fälle direkt folgender wörtlicher Rede beschränkt ist. 76
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Solche Stellen werfen selbstverständlich auch die Frage nach der Schwimmkompetenz im Alten Ägypten auf, da diese essentiell war, um im Falle eines Sturzes über Bord notfalls das Ufer erreichen zu können.83 Direkte Quellen hierfür sind relativ selten. Am explizitesten in Hinsicht auf eine Ausbildung in diesem Bereich ist wohl Siut V, 22, die autobiographische Inschrift eines Gaufürsten vom Ende des 3. Jt. v. Chr., wo der König selbst in dieser Hinsicht einem jungen Gaufürsten eine Gunst erweist: ı͗ w č̣̯ i.n⸗f sbꜢ.t(w⸗ı͗ ) r nbi̯.t ḥn c msi̯.w-nsw „Er ließ mich im Schwimmen unterrichtet werden zusammen mit den Königskindern“.84 Besonders instruktiv ist ein erst kürzlich bearbeiteter Passus im Ostrakon Eremitage 1129 rt.85 Es handelt sich um die Aufzeichnung eines Traums, die aus dem mittleren 2. Jh. v. Chr. stammt. Der Träumer notiert darüber: „Das Wasser flutet vom Ort Wahibre-im-Denkmal. Meine Mutter steht auf dem Hügel. Ich lege meine Kleider ab und hebe sie hoch über mich. Ich schwimme mit ihr zur nördlichen Seite. Ich bringe sie zur Tür von Tanoupis, der Wäscherin (?). Ich rede mit ihr, sagend: ‚Siehe, dies ist das zweite Mal, dass ich mit dir den Fluß überquere. Ich habe mit dir schon früher den Fluß überquert nach … Siehe, die andere Flußüberquerung, die habe ich vollbracht und dich gerettet, um dich in Sicherheit zu deinem Haus zu bringen.‘ Sie segnet mich, sagend: ‚Wen außer dir habe ich?‘ “ (Z. 2–9). Hier hat es den Anschein, dass die Mutter selbst nicht schwimmen kann, sei es, daß sie es nie gelernt hat, sei es, daß sie schon zu gebrechlich dafür ist. Dabei sollte man sich klarmachen, dass die Hauptgefahr im Nil weniger das reine Ertrinken ist, sondern die reale Präsenz des Krokodils. Hierzu gibt es reichlich ägyptische Quellen, von denen ich aus Raumgründen die meisten nicht im Detail präsentieren werde. In einer Berufscharakteristik in der Lehre des Cheti, die wohl in die frühe 12. Dynastie (ca. 2000–1950 v. Chr.) zu datieren ist, scheinen Krokodile speziell für Fischer gefährlich (Kapitel 21).86 Allerdings ist die Übersetzung aufgrund problematischer Qualität der erhaltenen Textzeugen in verschiedenen Punkten unsicher. Ein Versuch der Wiedergabe ist: „Ich nenne dir auch den Fischer. Er ist schlechter dran als jeder andere Beruf. Sein Dienst findet auf dem Fluss statt, während er mit Krokodilen vergesellschaftet ist. Wenn ihm der Termin der Abrechnung naht, dann klagt er. Er kann nicht sagen: ‚Da sind Krokodile‘. Seine Furcht hat ihn blind gemacht. Selbst wenn er heil aus dem Wasser herauskommt, dann 83
Lohwasser 2008; vgl. auch Abdalla 2015. So mit Brunner 1937, 12. Bei Schenkel 1978, 31, findet sich die abweichende Übersetzung „Der Schwimmunterricht wurde ihm zusammen mit den Königskindern erteilt“, die aber abzulehnen ist, da es im älteren Ägyptisch keine Adverbialattribute gibt. Lichtheim 1988, 29, versteht „He received swimming instruction together with the royal children“, aber daran ist nicht nur erneut die Ansetzung eines Adverbialattributes zu bemängeln, sondern das hieroglyphische Zeichen 𓂠 ist in dieser Inschrift regulär für č̣̯ i „geben, veranlassen“ gebraucht, nicht für šsp „empfangen“. 85 Chauveau 2010. 86 Jäger 2004, 148 f. und LXX–LXXIV.
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empfand er es wie göttlichen Zorn.“ Sofern mein Verständnis des letzten Verses korrekt ist,87 hat der Fischer die Begegnung mit den Krokodilen als Beweis für göttlichen Zorn verstanden – und im Lichte der nachfolgenden Belege wäre es zumindest nicht abwegig, dass eine Naherfahrung des Krokodils als Ausbleiben göttlichen Beistandes gedeutet wurde. In einer anderen Berufscharakteristik, diesmal aus dem Neuen Reich (ca. 1200 v. Chr.) werden ebenfalls die Berufe am Wasser schlecht gemacht und dabei die Krokodile erwähnt (pChester Beatty V rt. 6, 4 f.).88 Auch hier sind die philologischen Details nicht ohne Probleme, weshalb ich auf eine genauere Analyse verzichte. Im Rahmen des sogenannten Dialogs eines Lebensmüden mit seiner Seele fordert die Seele den Mann auf, den schönen Tag zu genießen. Dazu erzählt sie auch eine Parabel. Darin geht es um einen einfachen Mann, der seinen Ernteertrag auf ein Schiff lädt, und mit Frau und Kindern losfährt, weil sein (Ernte)fest naht. Während der nächtlichen Fahrt auf dem Wasser scheitert das Boot und seine Familie findet den Tod durch die Krokodile (pBerlin 3024, Kol. 68–80).89 Sinn der Erzählung im argumentativen Zusammenhang ist wohl, zu illustrieren, wie gerade im Moment der Hoffnung auf ein zukünftiges fröhliches Fest Schicksalsschläge auftreten können, und daraus ein Argument für den Lebensgenuss im Jetzt zu ziehen. Insofern gibt es durchaus gewisse Parallelen zur Schifffahrt als Schicksalsmetapher im Mythos vom Sonnenauge. Auch auf der mythologischen Ebene erscheint die Gefahr durch Krokodile bei der Schifffahrt. Das Opfer ist Osiris, der ja ohnehin in Ägypten der geschädigte Gott par excellence ist. Konkret geht es darum, dass während der nächtlichen Wasserfahrt in Letopolis die Schulter des Gottes von einem Krokodil geraubt wird, das spezifischer als Maga, der Sohn des Seth identifiziert wird (Sarkophag der Anchnesneferibre, 56–68).90 Am größten ist die Gefahr naturgemäß für solche Gruppen, die beruflich häufig Wasserflächen überqueren müssen. Dies betrifft unter anderem Rinderhirten, da sie mit ihren Herden zur Mast in die Sümpfe ziehen.91 Entsprechend gibt es schon im Alten Reich (3. Jt. v. Chr.) etliche Szenen, in denen man die Hirten mit ihrer Herde bei der Durchquerung von Wasserläufen sieht. Das Krokodil ist präsent, und zu seiner Abwehr werden magische Aktionen durchgeführt.92 87
Bislang hat man stets anders verstanden, aber bꜢ.w-nčr bezeichnet typisch die Erfahrung von göttlichem Zorn, s. Borghouts 1982. 88 Vgl. Jäger 2004, 233. 89 Vgl. zuletzt Allen 2011, 67–75 und 148 f. 90 Sander-Hansen 1937, 31–36; vgl. Meeks 2006, 297–299; Wagner 2012, 107–112. Für ein philologisches Detail s. Posener 1969, 35 mit Anm. 51. Angespielt wird auf diese Episode wohl auch im Totenbuch Kapitel 166 (Pleyte), s. Quack 2011d, 258. 91 Herb 2001, 262–267; Nutz 2014, 107 f. 92 Ritner 1993, 225–231; Uljas 2010.
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Eine bemerkenswerte Tradierung zeigt sich dabei in einer Passage, die einerseits in einer fragmentarischen literarischen Erzählung („Hirtengeschichte“) überliefert ist, von der andererseits aber auch eine funeräre Nutzung belegt ist (Sargtext Spruch 836).93 In diesem Zusammenhang wird auch angegeben, dass die „Kundigen“ der Hirten Wassergesänge rezitieren würden, was als Bezeichnung für Schutzsprüche gegen Krokodile auch sonst belegt ist (s. u.). Die Abwehr von Krokodilen ist auch in den Sargtexten (CT IV, 346 f. Spruch 342; CT V, 265–268 Spruch 424) und im Totenbuch (Kapitel 31 und 32) präsent.94 Besonders extrem wird die fresserische Tätigkeit des Krokodils an Menschen in einem sehr späten demotischen Zauberspruch (um 200 n. Chr.) thematisiert: „Ein Spruch, der rezitiert wird, wenn man einen Menschen behandelt, dem ein Knochen in seiner Kehle steckt. Du bist Schlate Late Balate, das weiße Krokodil, das unter dem Schaum des Feuermeeres ist und dessen Leib voll mit Knochen von allerlei Ertrunkenen ist.“ (pMag. LL 19, 23). Dabei ist gerade dieses schockierende Bild der Knochen im Leib bewusst gewählt, um die Assoziation zu erreichen, dass ebenso, wie diese Knochen im Krokodilsbauch skandalös sind, auch der aktuell in der Kehle steckende Knochen herauskommen soll. Göttlicher Schutz vor dem Krokodil wird in ägyptischen Texten mehrfach thematisiert. Instruktiv ist eine Passage aus einem Hymnus an Amun (ca. 1200 v. Chr.): wnn rn⸗k r m〈k〉i̯.t ḥ cw n w c nb wč̣ Ꜣ snb n ntı͗ ḥr mw nḥm m- c ḫntı͗ sḫꜢ nfr n Ꜣ.t ḥr-n-ḥr nḥm m rʾ n šmw „Dein Name wird zu einem Schutz der Glieder für jeden Einsamen, Heil und Gesundheit für den, der auf dem Wasser ist, Rettung vor dem Krokodil, eine gute Erinnerung95 im Moment der Gefahr, Errettung aus dem Mund des Heißen“ (pChester Beatty IV rt. 8, 3–4).96 Der „Heiße“ ist dabei eine in ägyptischen Texten dieser Zeit auch sonst nicht seltene Bezeichnung des Antagonisten bzw. Rivalen,97 und insofern ist hier der Schutz vor dem Krokodil als Risiko der natürlichen Umwelt in eine Parallele zu sozialen Risiken gestellt. Noch kürzer, aber in dieselbe Richtung gehend wird im Amun-Hymnus des pLeiden I 350 rt. 3, 18 (ca. 1225 v. Chr.) der Name des Amun als Wassergesang über dem Urozean bezeichnet.98 93
Vgl. zum Text an sich zuletzt besonders Morenz 1996, 124–141; Schneider 2007; Darnell 2010, 101–118. Englische Übersetzung in Parkinson 1991, 287 f.; Besprechung der materiellen Aspekte der Handschrift Parkinson 2009, 89; speziell zur Verbindung zwischen der Hirtengeschichte und dem Sargtextspruch Gilula 1978; Ogdon 2004. Vgl. auch Goedicke 1970; Ogdon 1987. 94 Vgl. z. B. Hornung 1979a, 98–101 und 435 f. 95 Die Korrektur von sḫꜢ in sꜢḫ, die L. Popko vorgeschlagen und Lippert 2012, 221, übernommen hat, erscheint mir nicht notwendig. 96 Gardiner 1935, 32, Taf. 15 und 15A. 97 Speziell zum „Heißen“ als Bezeichnung des Antagonisten vgl. Quack 2010c, 29 f.; Quack 2011a, 50 f. und 58–60; Quack in Druck c. 98 Zandee 1948, 59.
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Die substantiellste ägyptische Sammlung von Wasserbeschwörungen99 findet sich im magischen Papyrus Harris (pBM 10042), der als Handschrift aus der späteren 20. Dynastie (ca. 1100 v. Chr.) stammen dürfte.100 Der einleitende Titel lautet „Die schönen Sprüche des Singens, welche den im Wasser Schwimmenden fernhalten.“ Zu beachten ist dabei der neutral-umschreibende Ausdruck „der im Wasser Schwimmende“, welcher statt einer eindeutigen Nennung des Krokodils gewählt worden ist. Die vorderen Textbereiche dieses Papyrus sind vorrangig Hymnen, die aus dem Tempelkult stammen dürften und insbesondere an den kampfstarken Gott Onuris-Schu sowie Amun gerichtet sind. Teilweise kann man ihre Herkunft als Exzerpte von Tempelkompositionen anhand erhaltener Parallelen in anderer Situierung (insbesondere auf Tempelwänden) positiv nachweisen.101 In sie eingeschoben ist ein kurzer Anruf „Halt ein Maga, Sohn des Seth! Ich bin Onuris, der Herr des starken Arms“ (rt. 2, 2 f.), der bereits auf das Thema des Krokodils fokussiert, da Maga in Krokodilsform verstanden wurde. Eine erste längere Anrufung, die klar auf das Thema der Krokodile fokussiert, ist in markant junger Sprachform gehalten, wozu auch die Aufnahme vorderasiatischer Gottheiten passt, die in Ägypten nicht vor dem Neuen Reich auftauchen: „Oh ihr fünf großen Götter, die aus Hermopolis gekommen sind, während ihr nicht im Himmel existiert und nicht in der Erde existiert, und es kein Licht gab, um euch zu erleuchten. Kommt zu mir, dass ihr für mich den Fluss teilt, dass ihr den verschließt, der in ihm ist. Die ihr untergetaucht seid, ihr sollt nicht auftauchen! Ihr sollt euren Mund verschließen und euren Mund im Zaum halten, wie das Fenster in Busiris geschlossen wurde, wie das Land in Busiris erhellt wurde, so wie der Mund der Gebärmutter von Anat und Astarte verschlossen wurde, den beiden großen Göttinnen, die schwanger waren und nicht gebären konnten. Sie wurden geschlossen durch Horus, sie wurden geöffnet (?) durch Seth. Es sind diejenigen, welche im Himmel sind, die euren Schutz bilden.“ (rt. 3, 5–10). Im Anschluss an weitere traditionelle liturgische Hymnen findet sich dann eine Anrufung mit klarer Fokussierung auf die Abwehr gefährlicher Tiere, insbesondere des Krokodils: „Komm doch zu mir, oh Herr der Götter! Mögest du für mich die Löwen in der Wüste abwehren und die Krokodile im Wasser, jede beißende Schlange in ihrem Loch. Zurück, Maga, Sohn des Seth! Du sollst nicht mit deinem Schwanz rudern, du sollst nicht mit deinen Armen zugreifen, du sollst dein Maul nicht öffnen! Das Wasser soll zur Feuersglut vor dir werden! Der Finger der 77 Götter ist in deinen Augen, während du an den großen Landepflock des Osiris angebunden bist, während du an die vier Pfosten aus Feldspat gebun99
Hinweise auf die Existenz solcher Kompositionen liefert auch ein Nilhymnus der Ramessidenzeit, s. Fischer-Elfert 1986, 47–49. 100 Letzte Edition Leitz 1999, 31–55, Taf. 12–25. Zur Datierung s. Quack 1998a, 311; Winand et al. 2011, 243. 101 Vgl. Quack 1998b, 87–89; Klotz 2006, 67–133. Zum auch sprachlich disparaten Bild der Sprüche vgl. Winand et al. 2011.
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den bist, die am Bug der Barke des Re sind. Halt inne,102 Maga, Sohn des Seth! Siehe, ich bin Amun Kamutef.“ (rt. 6, 4–8). Dazu gibt es die Ritualanweisung „Zu rezitieren über einem Bild des Amun mit vier Köpfen auf einem Nacken, gezeichnet auf der Erde, mit einem Krokodil unter den Füßen, die Achtheit zu seiner Rechten und seiner Linken, wobei sie ihm Lobpreis geben.“ Dabei ist die Erwähnung der Achtheit insofern stimmig, als die vorangehenden hymnischen Elemente an Amun als Rede der Achtheit stilisiert sind (rt. 3, 10 f.) – was übrigens mit der Stilisierung in Parallelen am Tempel von Hibis übereinstimmt. Das Bildmotiv des überwundenen Gegners ist unmittelbar eingängig, und die konkrete Ausführung auf dem Erdboden macht es leicht, das Ritual direkt vor einer Flussfahrt am Uferrand zu rezitieren. Ein weiterer Spruch, der als „erster Spruch des Wasserbesingens, von dem die Magier gesagt haben: ‚Offenbare nichts davon anderen!‘, ein wahres Geheimnis des Skriptoriums“ bezeichnet wird (rt. 6, 10–7, 1) operiert mit Hilfe eines aus Ton geformten Eis, das ein Mann am Bug der Barke hält und im Gefahrfall, wenn Krokodile auftauchen, ins Wasser wirft. Da der Spruch gerade von einem Ei spricht, das als Same der Achtheit stilisiert wird, soll auf diese Weise das göttliche Interesse daran geweckt werden, das Ei zu beschützen (und somit gegen das Krokodil vorzugehen). Nur noch ein weiterer Spruch dieser Handschrift sei beispielhaft vorgeführt: „Ein anderer Spruch: Ich bin der, den Millionen ausgewählt haben, der aus der Unterwelt herausgekommen ist, dessen Name unbekannt ist. Wenn sein Name am Ufer des Flusses ausgesprochen wird, dann vertrocknet er. Wenn sein Name auf der Erde ausgesprochen wird, dann wird sie zur Flamme. Ich bin Schu, das Abbild des Re, der im Inneren des Udjat-Auges seines Vaters sitzt. Wenn der, der im Wasser ist, sein Maul öffnet, wenn er mit seinen Armen zappelt, dann werde ich die Erde in den Abgrund (?) herabgehen lassen, und der Süden wird zum Norden, und das Land dreht sich um. Viermal rezitieren (über) einem Udjat, in dem ein Bild des Onuris ist, zu zeichnen auf die Hand des Mannes.“ (rt. 7, 1–4). Eine konkrete Errettung vor dem Krokodil dürfte auf der aus Assiut stammenden Stele BM EA 1632 dokumentiert sein, die in die Ramessidenzeit datiert (Abb. 2).103 Das Bildmotiv im unteren Register ist für Ägypten völlig ungewöhnlich und zeigt einen von einem Krokodil verfolgten Menschen, während ein Gott mit seiner Lanze interveniert. Dazu gibt es die Beischrift: „Der Retter104 (?) von Assiut vor dem aggressiven (Krokodil) und jedem Fisch“. Die Errettung vor den Fischen dürfte dabei im selben Zusammenhang stehen wie die Passage im 102
Die Übersetzung „rise“ (erhebe dich) durch Leitz 1999, 39, wird der Bedeutung von cḥ c n⸗ in reflexiver Konstruktion nicht gerecht. 103 Brunner 1958; Bierbrier 1993, 24 Taf. 82 f.; Meyrat 2008; DuQuesne 2009, 289–291. Vgl. auch Kessler 2001, 162–168. 104 Ich schlage für das undeutliche Zeichen vor, dass es sich einfach um ein Determinativ zu šṭi̯ handelt. Vgl. auch Meyrat 2008, 71 f., dessen Lesungsvorschlag šṭi̯-ḫrw „Unruhestifter“ mir allerdings für eine positiv bewerte Gestalt wenig plausibel scheint.
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Abb. 2: Rettung vor dem Krokodil auf einer ramessidenzeitliche Stele aus Assiut (© The Trustees of the British Museum. Creative Commons Attribution-NonCommercialShareAlike 4.0 International [CC BY-NC-SA 4.0]).
„Lebensmüden“, wo die Fische an den im Wasser treibenden Leichen knabbern (s. u.).105 Der neben Upuaut stehende Amun erhält die ebenfalls einschlägige Beischrift „Amun, der Löwe an Kraft für die junge Truppe des […].106 Gib deinen Arm dem Gebissenen!“107 Nach Plutarch, De Iside, Kapt. 18 (358A) greifen Krokodile niemanden an, der im Papyrusnachen fährt.108 Dies wird darauf zurückgeführt, dass die Göttin Isis in einem solchen nach den Gliedern des Osiris gesucht haben soll. Von einem realen Todesfall berichtet dagegen eine Stele (Hildesheim 6352), die in der Pto105
Dagegen wollte Kessler 2001, 166, darin ein Argument sehen, dass es sich nicht um eine persönliche Errettung handele, sondern um theologische Konzeptionen im Hinblick auf den Schöpfungsvorgang. 106 Das auf den Artikel folgende Substantiv ist, wohl aus Platzmangel, ausgelassen worden. 107 M. E. ist ı͗ mi̯ c⸗k 〈n〉 psḥ zu lesen. Von den verschiedenen vorgeschlagenen Lösungen ist DuQuesnes „Do not let (him) bite (you)“ ungrammatisch, Meyrats „puisses-tu immobiliser son agresseur“ ist syntaktisch und lexikalisch bedenklich. 108 Griffiths 1970, 144 f. und 339 f.
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lemäerzeit für eine junge Frau angefertigt wurde.109 Darin heißt es „ich war ein erwachsenes Mädchen mit kurzer Lebenszeit. Ein Krokodil ergriff mich in meinem Papyrusnachen“. Zumindest sofern die nicht ganz sichere Deutung des letzten Wortes zutrifft,110 wäre dies ein scharfer Kontrast zu Plutarchs Angabe, und sofern Plutarch tatsächlich ägyptische Vorstellungen wiedergibt, wohl sogar absichtlich betont. Gerade wenn das Krokodil im Wasser eine reale Gefahr darstellt, kann es auch literarisch thematisiert werden, um im Kontrast zu seiner Furchtbarkeit die noch größere Macht anderer Motivationen zu betonen. Eben dies findet sich in einem Liebeslied der Ramessidenzeit ausgedrückt: „Die Liebe zu meiner Schwester ist auf der anderen Seite, der Fluss ist um meine Glieder. Das Urwasser ist mächtig zur Zeit der [Überschwemmung,] das Krokodil steht auf der Uferbank. Ich ging herab ins Wasser, ich watete in der Flut. Mein Herz war mutig aufs Ufer gerichtet. Ich fand das Krokodil wie eine Maus, die Flut wie Erde für meine Füße. Es war ihre Liebe, die mir Kraft gab. So bildet sie für mich einen Wasserzauber,111 wenn ich die Geliebte meines Herzens sehe, wie sie mir gegenüber steht.“ (oDeM 1266, Z. 11–13).112 Fast schon wie eine Illustration dazu – allerdings mit umgekehrten Geschlechterrollen – wirkt es, wenn auf einer Goldschale aus Nimrud in relativ ägyptisierendem Stil eine Schwimmerin im Wasser dargestellt ist, aber auch ein Krokodil (Abb. 3).113 Dabei ist zu beachten, dass Tote im Wasser keineswegs ausschließlich auf Ertrinken zurückgehen müssen. Eine einschlägige Passage findet sich in einer Klage, die ausführlich die Leiden des Landes in einer Zeit chaotischer Unruhen und Umstürze schildert. „Wahrlich, viele Tote sind im Fluss bestattet. Die Welle ist ein Grabschacht, während es so ist, dass die Balsamierungswerkstätte zur Welle wird.“ (Admonitions 2, 6 f.).114 Soweit man dieser Passage über das Thema der verkehrten Welt hinaus noch eine realweltliche Erfahrung geben will, dürfte es eher so sein, dass es bei Auftreten großer Mengen von Leichen für die Bevölkerung der schnellste und arbeitssparendste Weg war, sie in den Fluß zu werfen und darauf zu vertrauen, dass die Strömung sie vom eigenen Ort entfernte. In dieselbe Richtung geht wohl auch eine Passage im sogenannten Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. „Die in Granitstein bauten, die Kammern in schönen Pyramiden errichteten in schöner Arbeit – wenn die Bauherren zu 109
Jansen-Winkeln 1997, 95 und 99 Anm. ah). Vgl. Derchain 2000. Sie geht auf Derchain 2000, 49 f., zurück. Das von Jansen-Winkeln 1997, 95, angesetzte „als Kind“ ist kaum möglich, da ı͗ np als Altersstufenbezeichnung nur vom König im Rückblick auf die Zeit vor seiner Thronbesteigung gebraucht wird, s. Vandersleyen 1992. 111 Wörtlich „Wassergesang“, s. o. 112 Vgl. Mathieu 1996, 98. Letzte deutsche Übersetzung Schlögl 2014, 72, wo aber eine kleine Textlücke nicht beachtet wird und die Übersetzung mehrfach grammatisch ungenau ist. 113 Wicke et al. 2010. 114 Letzte Textedition Enmarch 2005, 23. Übersetzung Enmarch 2008, 76.
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Abb. 3: Schwimmerin und Krokodil auf einer Goldschale aus Nimrud mit ägyptisierender Darstellung (mit frdl. Genehmigung von Prof. Dr. Dirk Wicke, Institut für Archäologische Wissenschaften, Abt I, Vorderasiatische Archäologie, Goethe-Universität Frankfurt).
Göttern geworden sind, sind ihre Opfertafeln leer wie die der Matten, die am Ufer starben aus Mangel an einem Hinterbliebenen. Wie die Flut sich ihr Ende genommen hat, und das Sonnenlicht ebenso, so reden die Fische des Uferrandes mit ihnen.“ (pBerlin 3024, 60–67).115 Das „Reden“ der Fische steht dabei evident übertragen für eine ganz andere Tätigkeit, die sie mit ihrem Mund ausüben.116 115 116
Letzte Textedition Allen 2011, 63–67 und 280–283. Vgl. Quack 2011b, 675. Seibert 1967, 62 f.
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Noch handgreiflicher kann die Sache werden, wenn das Wasser als bequeme Möglichkeit dient, Leute zu beseitigen und die Spuren zu verwischen.117 Ein bekanntes Beispiel ist ein Ereignis, das im Fach bei seiner Erstveröffentlichung als „Fall abgekürzter Justiz“ bezeichnet wurde.118 Der Ausgangspunkt ist, dass der Briefschreiber, der als General des Königs gerade in Nubien auf Feldzug ist, an seine Vertrauensleute (zwei Männer und eine Frau) schreibt, die in Theben seine Anordnungen umsetzen. Es geht um zwei nubische Söldner, die offenbar unerwünschte Reden in Theben führen, wobei die Texte sich um genauere Angaben herumdrücken. Die Empfänger der drei Briefe sollen sich zusammentun, den Dingen auf den Grund gehen und, sofern die Vorwürfe zutreffen, die beiden Nubier in Säcke stecken und nachts ins Wasser werfen, ohne dass jemand es bemerkt. In eine ähnliche Richtung geht auch eine fast zeitgleiche Passage in einem Prozess gegen Grabräuber (ca. 1080 v. Chr.): „Und Amenchau, Sohn von Mutemheb sagte ihm: ‚Oh Tattergreis mit schlechtem Alter! Wenn du getötet und ins Wasser geworfen wärest, wer würde dich suchen‘“ (pBM 10052, 3, 15–17).119 Ebenso als bequeme Methode zum Verwischen aller Spuren ist zu beachten, was dem schon erwähnten Wenamun als Gefahr ausgemalt wird. Der Fürst von Byblos sagt ihm nämlich auch: „Wo ist das Schiff aus Zedern, das Smendes dir gegeben hat? Wo ist seine syrische Besatzung? Hat er dich diesem fremden Schiffskapitän anvertraut, um ihn dich töten zu lassen, und man würde dich ins Meer werfen? Bei wem würde man den Gott suchen? Und auch du, bei wem würde man dich denn suchen?“ (Wenamun 1, 54–57).120 Weitaus unsicherer ist, ob Ertränken auch als offiziell anerkannte oder sogar öffentlich präsentierte Form der Todesstrafe im Alten Ägypten existiert hat.121 Es gibt einige Texte, welche davon sprechen, dass Leichen von Verbrechern (oder bei Verbrennung deren Asche) ins Wasser geworfen werden,122 aber dabei ist das Wasser nie für die Tötung selbst eingesetzt. Sicher bezeugt ist das Ertrinken lediglich im Rahmen einer literarischen Erzählung als göttliche Bestrafung. In der ersten Setne-Erzählung123 geht es darum, dass Prinz Naneferkaptah das versteckte Buch des Thot sucht. Er tötet die Wäch117
Möglicherweise wird eine solche Handlung auch im pLythgoe vs., Kol. 6 f. erzählt, s. Simpson 1960, 67 und 70. Vgl. Loprieno 2005, 28, der aber die auf dem Rekto berichtete Schiffahrt m. E. zu direkt mit der Episode auf dem Verso verbindet. 118 Erstedition Erman 1913, vgl. Gardiner 1912–13 sowie die neuere Publikation des ägyptischen Textes durch Černý 1939, 36 f. und 53 f. und die philologische Bearbeitung in Wente 1967, 53 f. und 69; Übersetzung Wente 1990, 183 f.; inhaltliche Bemerkungen Quack 2015b, 31 f. 119 Peet 1930, 145 f., Taf. XXVII. 120 Vgl. Schipper 2005, 63 f. und 187–190. 121 Vgl. auch Grimm 1989, der sich zum Gutteil auf in der philologischen Interpretation ausgesprochen unsichere Passagen in den Pyramidentexten stützt, sowie Muhlestein 2005; Muhlestein 2011, 20–22 (der Grimm folgt); Theis 2014, 97–99. 122 Zusammengestellt in Quack 2000–01, 8–10. 123 Letzte Bearbeitung Goldbrunner 2006, 13 f.; Übersetzung Hoffmann et al. 2007, 143 f.
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terschlange und nimmt das Buch an sich. Thot aber klagt beim Sonnengott und erhält die Genehmigung, den Räuber mitsamt seinen Angehörigen zu bestrafen. Ein Dämon wird ausgeschickt und sorgt dafür, dass erst der kleine Sohn des Prinzen und dann seine Schwestergemahlin über Bord fallen und ertrinken (pKairo CG 30646, 4, 5–17). Bei Frau und Kleinkind wird offenbar vorausgesetzt, dass sie, einmal in den Fluss gefallen, nicht die nötigen Fähigkeiten haben, sich durch Schwimmen über Wasser zu halten. Der Prinz selbst meint, seinem Vater nicht mehr vor Augen treten zu können und lässt sich darauf ein, ebenfalls im Nil zu ertrinken. Im Dekret für den Totentempel des vergöttlichten Amenhotep, Sohn des Hapu (BM EA 138),124 findet sich unter den Drohungen, welche gegen diejenigen ausgesprochen werden, die sich Übergriffe gegen den Tempel erlauben, auch: „Sie sollen auf dem Meer kentern, und es soll ihre Leichname verbergen“ (Z. 8 f.).125 Auch dies kann aber kaum als offizielle staatliche Strafe verstanden werden, sondern vielmehr als Entzug göttlichen Schutzes in Gefahrensituation, vielleicht sogar aktive Zornesäußerung. Eine Reihe von Texten, in denen das Schicksal der Toten, die im Wasser enden, thematisiert wird, finden sich in verschiedenen Unterwelts- und Himmelsbüchern, in denen die nächtliche Fahrt des Sonnengottes in seiner Barke durch die Gefilde der Unterwelt behandelt wird, meist in stundenweiser Strukturierung. Erhalten sind sie in Gräbern vorzugsweise von Königen ab dem Neuen Reich (ca. 1500 v. Chr.), es gibt jedoch gute Gründe dafür, dass die Kompositionen chronologisch erheblich weiter zurückreichen.126 Gerade diese Texte wurden in der Forschung gerne als früheste Belege für eine angebliche ägyptische Vorstellung angesehen, dass Ertrunkene zu Göttern würden.127 Ich möchte an dieser überkommenen Meinung dezidiert zweifeln. Im sogenannten Amduat, also dem Buch von dem, der in der Unterwelt ist, gibt es eine einschlägige Passage in der fünften Stunde im oberen Register. Der Text lautet: „Worte sprechen seitens des großen Gottes: ‚Tretet hin zu eurem Wasser, hütet doch eure Ufer! Möget ihr die Flut beseitigen von128 (?) denen, die im Wasser treiben, die sich im Urozean befinden. Möget ihr sie an Land bringen an 124
Die Niederschrift datiert in die 21. Dynastie; inwieweit sie auf ältere Vorlagen der späten 18. Dynastie zurückgeht (sie datiert sich selbst in das 31. Regierungsjahr Amenhoteps III.), ist in der Forschung umstritten, wird jedoch zunehmend als wahrscheinlich angesehen (Wildung 1977, 282). 125 Varille 1968, 71 und 74. 126 Vgl. besonders Quack 2000. Mit den abweichenden Positionen von zuletzt Jansen-Winkeln 2012 und Werning 2013 werde ich mich an anderer Stelle auseinandersetzen. 127 So Hornung 1963, 95 und 172; ähnlich Roulin 1996, 280 f. 128 Die Übersetzung von Hornung 1963, 95, „und die Flut den Ertrunkenen geben“ ist weder sprachlich noch inhaltlich plausibel. Inhaltlich passt das angebliche Geben der Flut nicht zur anschließenden Aufforderung, die betreffenden Gestalten ans Ufer zu bringen, und sprachlich steht in sämtlichen Versionen m, nicht n. Ich emendiere zu {č̣̯ i}〈ṭr〉⸗čn; Fluktuation von č̣̯ i und ṭr in der Überlieferung ist auch sonst belegt, s. Quack 2005, 75.
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die Ufer. Fülle sei für eure Wasser,129 sie sollen nicht austrocknen! Höhe sei für eure Ufer, sie sollen nicht130 kahlrasiert sein! Beugung sei für die Arme des Wasserfahrers, bis er an euch in Frieden vorbeizieht.‘131 Sie sind Zugehörige zur Flut der im Wasser Treibenden in der Unterwelt. Was sie machen, ist, das Schreiten der Barke 〈…〉132“. De facto geht es hier lediglich darum, dass bestimmte Gestalten der Unterwelt einerseits üppige Wasserversorgung und weitere Vorteile haben, sich dabei aber darum kümmern, eventuell im Wasser treibende Leichen (s. o.) an Land zu bringen, statt sie weiter dem Fluss zu überlassen. Noch relevanter und auch bildlich anders ausgearbeitet ist eine Szene in der zehnten Stunde im unteren Register (Abb. 4).133 Worte sprechen durch Horus zu den im Wasser Treibenden (mḥy.w), den auf dem Bauch Treibenden (ı͗ gy.w), den auf dem Rücken Liegenden (sčꜢsy.w), den im Nun Befindlichen, den Unterweltsbewohnern: Oh im Wasser Treibende, die ihr im Nun finster seid, deren Arme im Bereich ihrer Gesichter sind! Oh mit dem Gesicht nach unten bäuchlings in der Unterwelt Treibende, deren Rückgrat zur Wasseroberfläche ist! Oh die ihr den Urozean durchpaddelt als auf dem Rücken Treibende, deren Gesichter hinter ihren Ba’s her sind! Atemluft sei euren Ba’s, sie sollen nicht beengt sein! Ruderfähigkeit sei euren Armen, sie sollen nicht zurückgehalten werden! Ihr sollt den Weg im Urozean mit euren Füßen bahnen! Eure Knie sollen nicht festgehalten werden! Ihr sollt zur Wasseroberfläche herauskommen, ihr sollt herauskommen zu den Wellen! Ihr sollt im Wasser treiben zur großen Überschwemmung! Ihr sollt landen für die Ufer! Eure Glieder sollen nicht verfaulen! Euer Fleisch soll nicht verwesen!134 Ihr sollt Macht über euer Wasser haben! Ihr sollt atmen, was ich euch bestimmt habe! Ihr seid diese im Urozean Befindlichen, die hinter meinem Vater her treiben. So sei auch euren Ba’s Leben! 129
Hornung 1963, 95 beachtet nicht, daß zwischen Ꜣgb und mw noch ein n steht. Die Konstruktion nicht durch ı͗ w eingeleiteter Adverbialsätze mit Präposition n als Wunschsätze „… soll euch / euren … zuteil sein“ ist in den Unterweltsbüchern generell häufig. 130 In allen Texten ist einfaches n für die Negation geschrieben. 131 Verstehe ich die Stelle richtig, so ist gemeint, dass alle auf dem Wasser Fahrenden die Ufersiedler höflich grüßen sollen, wenn sie vorbeifahren. Ich lese nach der Version bei Thutmosis III. ḳ cḥ.w n rmn n č̣ Ꜣ̯ i-mw; Amenhotep II. hat offenbar ḳ cḥ n⸗čn rmn č̣ Ꜣ̯ i-mw „Gebeugt für euch sei der Arm des Wasserfahrers“. Hornungs Übersetzung „Möget ihr euren Arm beugen dem Wasserdurchfahren“ (1963, 95) ist abzulehnen, das würde ḳ cḥ〈⸗č 〉n rmn⸗čn 〈n〉 č̣ Ꜣ̯ i-mw erfordern. 132 Hier scheint ein Verb zu fehlen. 133 Vgl. den inhaltlichen Kommentar von Hornung 1963, 169–173. Kurzbemerkungen in Quack 2015a, 400. 134 Gegen Hornungs Übersetzung in der Vergangenheit liegt futurisches n sč̣ m(.w)⸗f vor.
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Abb. 4: Darstellung von im Wasser Treibenden in der zehnten Stunde im unteren Register des sog. Amduat (nach Hornung 1963, Übersichtstafel, zehnte Stunde).
Abb. 5: Die nni̯.w „Trägen“ im Buch von der Nacht, im unteren Register der zweiten Nachtstunde, sind in einzelnen Versionen von einer Wasserlinie umgeben (nach Roulin 1996, Taf. I).
Abb. 6: Die Personifikation des Erkennens, Sia, spricht die verschiedenen Kategorien der Verstorbenen an. Buch von der Nacht, neunte Stunde, unteres Register (nach Roulin 1996, Taf. XIV).
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Abb. 7: Die „Trägen“ im Pfortenbuch, unteres Register der zweiten Stunde (nach Hornung 1980, Übersichtstafel erste und zweite Nachtstunde).
Abb. 8: Darstellung des „im Urozean Befindlichen“ Gottes sowie von „Untergetauchten“, „auf dem Bauch Treibenden“, „Schwimmenden“ und „Ausgebreiteten im Pfortenbuch, Szene im mittleren Register der neunten Stunde (nach Hornung 1980, Übersichtstafel neunte Nachtstunde).
Zweifellos kümmert sich Horus in dieser Szene um diejenigen, deren Leichname im Wasser treiben, aber von einer „Vergöttlichung“ kann man keineswegs sprechen. Vielmehr geht es primär darum, den betreffenden Gestalten die Möglichkeit zu geben, aus dem Wasser herauszukommen, an die Oberfläche zu gelangen und letztlich an Land zu kommen, so daß sie sonstigen Verstorbenen gleichgestellt sind. Vergleichbare Passagen bietet auch das Buch von der Nacht.135 Im unteren Register der zweiten Nachstunde sind die nni̯.w „Trägen“ dargestellt, die in einzelnen Versionen von einer Wasserlinie umgeben dargestellt sind (Abb. 5). Noch bemerkenswerter ist die neunte Stunde, unteres Register (Abb. 6). Dort spricht Sia, die Personifikation des Erkennens, die verschiedenen Kategorien der Verstorbenen an. Dabei findet sich auch die Anrede: „Träge, im Wasser Treibende! Möget ihr im Wasser treiben mit der Überschwemmung, möget ihr anlanden mit den …“ Die Bedeutung des letzten Wortes ist dabei leider ausgesprochen unsicher. Auch hier kann man nicht von einer speziellen Vergöttlichung reden, die allein den Ertrunkenen zuteil würde. Im Pfortenbuch finden sich im unteren Register der zweiten Stunde erneut die „Trägen“ dargestellt (Abb. 7). Substantieller und strukturell der entsprechenden Passage im Amduat ähnlich ist eine Szene im mittleren Register der neunten Stunde (Abb. 8). Dargestellt ist dort zunächst ein auf einen Stab gelehnter Gott, 135
Roulin 1996, 90–100 und 276–287.
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der als „Im Urozean Befindlicher“ bezeichnet wird. Vor ihm sind die vier Gruppen „Untergetauchte“ (hrp.yw), „auf dem Bauch Treibende“ (ı͗ gy.w), „Schwimmende“ (nb.yw) und „Ausgebreitete“ (pgꜢ.w). Zur Szene selbst findet sich die Beischrift: „Gelangen zu den im Wasser Treibenden, die sich im Urozean befinden. An ihnen vorbeifahren. Der, der im Urozean ist, spricht zu ihnen: ‚Oh136 im Wasser treibende, die ihr im Urozean seid, Schwimmende, die in der Flut sind, die den Sonnengott sehen, der in seinem Schiff mit dem großen Geheimnis fährt! Er trifft Anordnungen für die Götter, er trifft Vorsorge für die Verklärten. Oh, steht auf, ihr Trägen! Seht, der Sonnengott trifft Anordnungen für euch.‘ Der Sonnengott spricht zu ihnen: ‚Herauskommen werde euren Köpfen zu teil, Untergetauchte! Rudern werde euren Armen zuteil, auf dem Bauch Treibende! Eiliger Lauf werde eurem Gang (?) zuteil, Schwimmende! Atemluft werde euren Nasen zuteil, Ausgebreitete! Macht über euer Wasser werde euch zuteil, so daß ihr mit euren Libationen zufrieden seid! Euer Gehen gehöre dem Urozean, euer Schreiten der Flut! Eure Seelen, die auf Erden sind, sie seien zufrieden mit dem, was sie atmen, ohne daß sie doch untergehen.‘ Ihre Opfergaben seien die Opfergaben des Landes. Wer ihnen auf Erden opfert, ist einer, der Macht über die Opfergaben auf Erden hat.“ (Szene 58).137 Auch in diesem Fall sehe ich zwar klar das Zeugnis, dass die Götter sich auch um das nachtodliche Schicksal der Leichen kümmern, die im Wasser treiben und sie den sonstigen Verstorbenen angleichen, eine spezielle und höherwertige Vergöttlichung vermag ich aber nicht zu erkennen. Dies führt sofort zur zentralen Fragestellung, inwieweit es in Ägypten die Vorstellung von einer Vergöttlichung durch Ertrinken gegen hat, wie es zuerst Griffith postuliert hat, dem manche Forscher gefolgt sind, während andere eher skeptisch waren bzw. allenfalls eine sekundäre späte Entwicklung sehen wollten.138 Eindeutig ist, dass das ägyptische Wort ḥsy „der Gepriesene“139 einerseits für besonders herausragende Personen gebraucht wird, andererseits teilweise zweifelsfrei „Ertrunkener“ bedeutet.140 Ebenso kann in griechischsprachigen magischen Papyri aus Ägypten „vergöttlichen“ bei Tieren gelegentlich als Beschreibung für eine Handlung dienen, die realiter ein Ertränken darstellt. 136
Für die Emendation s. Zeidler 1999, 261 Anm. 3. Vgl. Hornung 1979b, 312–317 (Edition); Hornung 1980, 214–219 (Übersetzung und Kommentar); Zeidler 1999, 260–263. 138 Griffith 1909–10, und darauf aufbauend von Bissing 1912, Murray 1913; zustimmend auch noch Pestman 1993, 470–473; skeptisch dazu dagegen Kees 1932, der derartige Vorstellungen als junge Produkte gelehrter Priester nachweisen will. 139 Vgl. M. Smith 2005, 246 (Anm. b zu Z. 16), mit Verweisen sowie die ausführliche Diskussion in von Lieven in Druckvorbereitung. 140 Potentiell von einiger Relevanz für die Frage der Bedeutung ist der noch unpublizierte pBM 10378, vs. x+4, x+12–x+19, in dessen Verständnis ich jedoch derzeit noch nicht weit genug bin, um hier eine belastbare Übersetzung vorlegen zu können. Ebenso möchte ich einige kürzlich veröffentlichte Tonschalen aus Saqqara (Ray 2013, 35–45) aufgrund von Unsicherheiten in der Deutung vorerst nicht im Detail heranziehen. 137
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Bemerkenswert ist hier auch das Zeugnis des griechischen Historikers Herodot: „Wenn ein Ägypter oder ebenso ein Fremder durch ein Krokodil geraubt wird oder offenbar durch den Fluß selbst zu Tode gekommen ist, müssen ihn die Einwohner der Stadt, bei der er an Land getrieben worden ist, einbalsamieren, aufs Schönste schmücken und an geweihter Stelle bestatten lassen. Keiner seiner Angehörigen und Freunde darf ihn berühren. Die Priester des Nilgottes begraben ihn selbst, indem sie Hand anlegen, als wäre er mehr als ein Mensch.“ (Herodot II, 90). Ohne dass dies direkt als Vergöttlichung bezeichnet werden kann, werden somit Menschen, die im Wasser zu Tode gekommen sind, als ungewöhnlich und oberhalb von Normalmenschen angesehen. An diesem Punkt sollte man aber eine möglicherweise ganz andere Bewertung Ertrunkener bzw. im Wasser treibender Leichen durch die Ägypter wenigstens kurz ansprechen. Es gibt aus der Ptolemäerzeit die Textsorte der „Self-dedications“, d. h. Verträge, in denen sich Menschen zu Sklaven eines Gottes machen und der Gottheit monatlich eine gewisse Summe zahlen, um vor einer Reihe gefährlicher Entitäten übernatürlicher Art geschützt zu sein.141 Unter diesen finden sich auch „Menschen des Flusses“ und „Menschen des Ufers“.142 Ob es sich um Geister von Ertrunkenen bzw. am Ufer angetriebenen Leichen handelt, vor denen sich Lebende fürchten? Ein wichtiger Punkt in dieser Diskussion ist natürlich der Mythos von Osiris, der im Wasser treibt. Dabei ist zu betonen, dass das ägyptische Verb mḥi̯ tatsächlich „im Wasser treiben“ und nicht „ertrinken“ bedeutet.143 Die häufig zu lesende Angabe, Osiris sei im Nil ertrunken, ist in dieser Form weder durch die ägyptischen Quellen noch durch die griechischen Texte bei Diodor und Plutarch gedeckt. Ohne dies hier in den Details durchargumentieren zu können, möchte ich thesenhaft formulieren, dass es im Hinblick auf den Tod des Osiris und das Schicksal der Leiche zwei Punkte gibt, die zu trennen sind, und für die auch zumindest im späten Ägypten unterschiedliche Kalenderdaten nachweisbar sind. Das eine ist die Tötung durch Seth an sich. Nach der Version bei Plutarch wird Osiris in eine Kiste gelockt, die Seth dann mit Metall verschließt (De Iside, Kap. 13) – es gibt einen vagen und schwerverständlichen ägyptischen Text, der auf ein gleichartiges Ereignis abheben könnte.144 Dieses Ereignis ist spezifisch mit dem Monat Athyr verbunden. 141
H. Thompson 1940, 77 f.; Ryholt 2015. H. Thompson 1940, 77 versucht sich an einer m. E. abwegigen Deutung von ct; die Orthographie ist für „Ufer“ ganz normal, und neben „Fluss“ ist dies auch inhaltlich plausibel. 143 Vernus 1991 (in dieselbe Richtung bereits Hornung 1963, 95), s. auch ablehnend dazu Griffiths 1996, 115; Theis 2014, 99 mit Anm. 150 (die von ihm genannten angeblichen Anspielungen in PT 24a-b und 765a. b scheinen mir nicht stichhaltig). S. zum Treiben der Glieder des Osiris im Wasser auch Burkard 1995, 71 f. mit Anm. 63 (das ḥꜢ⸗k gehört wohl als „zurück“ bereits zum Beginn des nächsten Satzes). 144 Quack 2011c, 135 f. 142
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Einzelne ägyptische Textquellen könnten in dem Sinne zu verstehen sein, dass Seth in Gestalt eines Stieres Osiris mit den Hufen die Brust eingetreten hat.145 Besonders bemerkenswert ist dabei Dendara Choiak Kol, 52 = Dendara X, 34, 11 f., wo es für die Platzierung einer großen Bandage auf der Osirisfigurine heißt, sie solle gelegt werden „auf seiner Brust, an der Stelle, wo das große Übel geschah“.146 Vermutlich wird der Leichnam von Seth ins Wasser geworfen, in dem er dann stromab treibt, und auf diese Situation sind diejenigen Stellen zu beziehen, aus denen man früher auf ein Ertrinken des Osiris schließen wollte.147 Daneben gibt es als zweites Thema, dass Seth den Leichnam des Osiris zerstückelt. Dieses Ereignis und die letztlich erfolgreiche Suche der Isis nach den Einzelteilen werden im Monat Choiak situiert. Zumindest teilweise treiben auch hier die Glieder im Wasser bzw. werden vom Fluss hier und da ans Ufer gespült. Die ausführlichste ägyptische Beschreibung für die Suche und Auffindung der Gottesglieder findet sich im Papyrus Jumilhac, einer frühptolemäischen Handschrift, welche die lokale Mythologie und religiöse Geographie des 17. oberägyptischen Gaues schildert.148 Kennen der Erklärung der 12 Tage des Erdhackens, die man im ganzen Land vollzieht; die Tage des Zusammenfügens der Gottesglieder, die in den Städten und Gauen gefunden wurden. 19. Choiak, Tag des Auffindens des Kopfes des NN149 auf dem westlichen Berg durch Anubis, Thot und Isis in der Nekropole, während ein Rabe und ein Wolf ihn bewachten. Thot hob den Kopf hoch und fand einen Skarabäus unter ihm und ließ ihn in der Nekropole von Abydos ruhen bis zum heutigen Tage. Deshalb spricht man von „Stadt des Skarabäus“ als Name von Abydos. Betreffend den Raben, so ist das Horus, der Herr von Letopolis. Betreffend den Wolf, so ist es Anubis. 20. Choiak, Tag des Auffindens der Augen des NN auf dem Ostberg. Ein …-Insekt150 kam aus ihnen heraus. Sie sind eine Frauengestalt mit Löwengesicht,151 die stillsteht. Man bezeichnet sie als „Herrin des Aufgangs“. 21. Choiak: Tag des Auffindens der Kiefer (?). 145
Vgl. S. Schott 1959, 328; te Velde 1967, 86–91. Vgl. auch Chassinat 1966–68, 478 f., der m. E. zu Unrecht vermutet, es seien mehrere Worte im Text vergessen worden. 147 Vernus 1991. 148 Edition des Textes Vandier 1961; vgl. Quack 2008a. 149 Hier und im Folgenden wird „NN“ als Ersatz für den konkreten Namen des Osiris verwendet; vgl. Quack 2008a, 212 f. 150 Die genaue Bedeutung von ı͗ bnn ist unsicher. Da sie aus den Augen eines Toten herauskommen, wird es sich aber eher um eine Art Fliegen, als um einen Vogel handeln. 151 Für m ḥr n pꜢḫ.t, das von Vandier 1961, 136 verkannt wurde, vgl. etwa TB 164, 12 sowie pBrooklyn 47.218.84, VII, 11 und dazu Meeks 2006, 91 Anm. 239. S. auch Wagner 2015, 453, die für die vorliegende Stelle irrig Vandier folgt.
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22. Choiak: Tag des Auffindens des Nackens des NN auf dem Westberg, während ein Rabe und ein Wolf bei ihm ihren Standort hatten auf einem Hügel mit den Geheimnissen der Nephthys vom Felskliff – nach anderer Tradition die Oberschenkel. 23. Choiak: Tag des Auffindens des Herzens des NN in den Klauen eines Krokodils, das es bewachte – das ist Chentechtai,152 wie er es verbirgt unter seinem Herzen in Athribis – nach anderer Tradition die Därme. 24. Choiak: Tag des Auffindens der Därme des NN in Tjeku, wobei sich lebendes Gewürm in ihnen gebildet hatte, dort bis zum heutigen Tage. Man nennt es Atum von Tjeku – nach anderer Tradition die Lunge. 25. Choiak: Tag des Auffindens der Lunge des NN in den Papyrusstauden der Sümpfe – nach anderer Tradition der Phallus. 26. Choiak: Tag des Auffindens der Rippen des NN in einem Büschel Nußgras (?), wobei Anubis sie bewachte – nach anderer Tradition die Unterschenkel. 27. Choiak: Tag des Auffindens der Schienbeine des NN auf dem östlichen Weg, wobei sich eine silberne Made gebildet hatte, und man fixierte sie auf einem Rinderkopf und sprach davon als „Nemti“153 – nach anderer Tradition die Finger. 28. Choiak: Tag des Auffindens des Phallus des NN auf dem mittleren Weg, und man setzte ihn ein im Haus des weißen Bockes – nach anderer Tradition die Oberarme. 29. Choiak: Tag des Auffindens der Haut des NN, wobei sie vergraben war. Die vier Götter kamen aus ihr heraus. Man spricht von ihr als „Herrin des Charakters (?)“ – nach anderer Tradition das Herz. 30. Choiak: Tag des Auffindens der Oberarme des NN, wobei ein Löwe über ihnen war, und nicht zuließ, daß man sie fand. Zwei Falken kamen. Der eine packte die Pfote des Löwen, der andere nahm die Arme – nach anderer Tradition die „Horuskinder“,154 vier Gefäße mit allem was in Ober- und Unterägypten entstanden war. (pJumilhac, TB III, 19–IV, 28).155
An dieser Stelle sollte man ein Problem des wissenschaftlichen Umgangs mit derartigen Passagen klar ansprechen. Ägyptologen sind an die Konzeption von den Körperteilen des Osiris so sehr gewöhnt, dass sie derartige Texte gleichsam aseptisch klassifizieren und hauptsächlich notieren, an welchen Orten zu welchem Datum welche Körperteile gefunden wurden, und dann vielleicht noch nach Abhängigkeiten der Überlieferung Ausschau halten.156 So ein Vorgehen ist durch152
Eine falken- oder krokodilgestaltige Form des Horus, die mit der Stadt Athribis verbunden ist, s. Vernus 1978, 307. 153 Der Gott wird als Falke auf einem Untersatz (gelegentlich einem Rinderschädel) dargestellt. 154 D. h. Eingeweide. 155 Vandier 1961, 136 f. Es folgt eine Art rekapitulatives Tableau, bei dem der jeweilige Körperteil groß dargestellt ist, während Funddatum, oft auch noch die Ortschaft daneben geschrieben ist. 156 Vgl. an neueren Studien insbesondere Coulon 2005.
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aus wissenschaftlich legitim; allein, man sollte darüber einen wesentlichen Punkt nicht vergessen: Liest man diese Texte unvoreingenommen, geht es um das Antreiben mehr oder weniger verwester Leichenteile, die entweder schon von Maden, Aaskäfern und ähnlichem Gewürm okkupiert sind oder von größeren Aasfressern beansprucht werden. Zudem ist diesen Körperteilen auch nicht inhärent eingeschrieben, dass sie solche des Osiris sind. Dies bringt einen Punkt auf, bei dem gerade die Konzeption dieser Tagung mir einen neuen Deutungshorizont eröffnet hat. Konkret geht es darum, dass Osiris in einigen Texten, welche seine Glieder thematisieren, als mn „NN“ bezeichnet wird, und zwar am intensivsten in der eben zitierten Passage aus dem Papyrus Jumilhac. Bislang war dies in der Ägyptologie nur unter dem Aspekt eines religiösen Tabus betrachtet worden, vergleichbar damit, dass Herodot in seinem Ägyptenbuch meist nicht explizit von Osiris spricht, sondern von dem, dessen Namen er aus religiöser Scheu nicht ausspricht.157 Alternativ sollte man viel stärker bedenken, dass ein angetriebener Körperteil zunächst nur das Schicksal eines namenlosen Toten dokumentiert, den als zivilisationsbringenden Gott Osiris zu erkennen bereits eine erste Ebene der Deutung und Sinnstiftung darstellt. Obgleich die Leichenteile des Osiris primär in Ägypten lokalisiert werden, wo sie an verschiedenen Orten im Lande aufgefunden bzw. ans Ufer des Flusses getrieben werden, gibt es auch eine gewisse Komponente des Meeres, zumindest in einigen sehr späten Quellen, die alle in die römische Kaiserzeit datieren.158 Ein griechischsprachiges magisches Handbuch aus dem römerzeitlichen Ägypten (4. Jh. n. Chr.) gibt an, dass der Osiris-Leichnam drei Tage und drei Nächte im Fluss blieb und dann von der Strömung ins Meer getrieben wurde; sein Bauch sei von den Fischen gefressen worden (PGM V, 269–277). Ein spätes demotisches magisches Handbuch (ca. 200 n. Chr.) spricht vom syrischen Meer als Meer des Osiris sowie Osiris auf seinem Papyrusboot (pMag LL. 6, 30 f.).159 Eine Inschrift in Thessaloniki berichtet über eine wohl lokale Tradition, der Kasten mit dem Leib des Osiris sei zu diesem Ort getrieben.160 Von einem Kopf, der jährlich aus Ägypten nach Byblos treibt und mit Osiris verbunden wird, erzählt Lukian (De dea syria, Kap. 7).161 Bislang bin ich nur auf Gefahren eingegangen, welche Leute erleben, die das Wasser überqueren wollen, ohne jedoch in es hineinzugeraten, bzw. die nur durch Unfälle hineingeraten. Nunmehr möchte ich zum Abschluss meines Beitrags noch die Frage aufgreifen, wie Leute es riskieren, ins Wasser zu springen, da 157
Meeks 2006, 236 f.; Quack 2008a, 212 f.; Coulon 2013, 176 f. Vgl. übergreifend Quack in Druck d. 159 Griffith et al. 1904–09, 56 f., s. Hani 1976, 67; s. auch Vandersleyen 2005; Koemoth 2010, 472 Anm. 55. 160 RICIS 113/0506; s. Alvar 2008, 301; Bingen 1972; s. auch Koemoth 2005; Koemoth 2010, 465– 467. 161 Soyez 1977, 44–75; Soyez 1978; Lightfoot 2003, 250 f. und 305–328. 158
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ihnen andernfalls noch schlimmere Gefahren entgegenstehen. Dabei möchte ich darauf zurückgreifen, wie vor einigen Jahren die Papyrologin und Althistorikerin Dorothy Thompson bei einer von mir gemeinsam mit meiner papyrologischen Kollegin Andrea Jördens organisierten Tagung in Heidelberg im Abendvortrag ihre Synthese zur Geschichte Ägyptens im 2. Jh. v. Chr. an drei Fallstudien orientiert hat, deren gemeinsames Thema der Sprung in den Nil war, der als Versuch diente, sich zu retten.162 Der erste Fall ist der des hochrangigen Rebellen Dionysios Petosorapis, der gezwungen ist, sich auf der Flucht nackt in den Fluss zu stürzen, aber zumindest vorerst realiter entkommen kann (Diodor XXXI 15a, 1–4). Zweiter Fall ist ein einfacher Ägypter, dessen Frau sich auf eine Liebesaffäre mit einem Griechen einlässt, der den lästigen Nebenbuhler kurzerhand mit dem Schwert erledigen möchte. Dieser kann sich zwar dem unmittelbaren Angriff durch einen Sprung in den Nil entziehen, stirbt aber bald darauf vor Gram (UPZ I, 18, 1–15). Der dritte Fall betrifft eine Situation inner-ägyptischen Zwists, bei welcher die Angreifer – nach Lesart der letztlich überlegenen Partei die Ungerechten – im Kampf unterliegen und schließlich gezwungen sind, ihr Heil im Sprung in den Fluss zu suchen, wo eine große Menge von ihnen umkommt (Wilcken, Chrestomatie 11 A und B) – wie es Thompson plausibel formuliert „a feast one assumes for the crocodiles“.163 Zusammengenommen ist also von diesen Versuchen, sein Heil im riskanten Sprung ins Wasser zu suchen, bestenfalls einer erfolgreich, und auch dieser allenfalls vorübergehend, denn der Rebell Dionysios scheitert letztlich doch vollständig. Allerdings hätte ich dieses brillante Vorbild kaum aufgegriffen, wenn ich als Ägyptologe nicht noch einen Schritt weitergehen möchte. Hier möchte ich auf ein göttliches Modell für diesen Fluchtversuch hinweisen, wie wenig es auch den konkreten Flüchtlingen bewusst gewesen sein mag. Dabei geht es um den Sonnengott Re, der nach der Schilderung des Buchs vom Fayum, eines Handbuches der lokalen Mythologie und religiösen Geographie, gezwungen ist, auf der Flucht vor seinen Feinden sein Heil im Schwimmen zu suchen. Der relevante Passus findet sich im Rahmen der Schilderung des Mythos von der Rebellion der Menschen gegen den Sonnengott.164 „Sie kamen heraus mit einer großen Übeltat, sie waren zu zahlreich für ihn in der Feuerinsel. Sie kämpften gegen die, die gegen sie antraten. Es entstand sein Name Pa-aha,165 was in Herakleopolis ist, im vierten Monat der Sommerzeit, Tag 15. Er zog sich vor ihnen zurück zum großen See im Seeland im ersten Monat der Überschwem162
D. Thompson 2011. D. Thompson 2011, 18. 164 Vgl. dazu weit über die Edition eines einzelnen Textzeugen hinaus relevant M. Smith 2000; zusätzlich Backes 2010; Stadler 2012, 51–56. 165 Das bedeutet „das Antreten“. 163
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Abb. 9: Darstellung des Gottes Re „als er schwimmen musste“ im Buch von Fayum (mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Horst Beinlich, Ägyptologisches Institut der Universität Würzburg).
mungszeit, Tag 23. Und zwar als …166 der Achtheit; er durcheilte das Versteck seiner Väter und Mütter. Die Ihet-Kuh setzte ihn auf ihren Rücken. Sie ist seine Mutter von Anbeginn. Sie rettete ihn vor seinen Feinden. So kam es, dass ihr Name Schedet entstand. Sie belebte ihn mit ihrer Milch. Es entstand der See, es entstand der Sonnengott, es entstand Mehet-Weret, es entstand Schedet, die im „Großen Grünen“, dem Fayum entstanden. Re lebt von seinen Rebellen, er speit von ihnen aus dauernd an diesem Ort in Ewigkeit.“ (Z. 116–144).167 Direkt dahinter findet sich bildlich die Darstellung des Gottes, der abwärts nur bis zur Hüfte dargestellt ist (Abb. 9) – der Rest ist als vom Wasser verdeckt zu verstehen. Dazu gib es die Beischrift „Das ist Re, als er schwimmen musste“ (Z. 150).168 Auf den ersten Blick erstaunt hier vermutlich die Aussage, der Sonnengott lebe von seinen Rebellen. Sie wird hier nur änigmatisch knapp angerissen, findet sich aber auch noch in einer anderen Stelle des Textes (Z. 827–838), wo man versteht, dass der Sonnengott, der im Fayum mit dem Krokodilgott Sobek verbunden wird, sich in ein Krokodil verwandelt hat, seine Feinde dagegen in Fische. So dienen sie ihm in seinem natürlichen Element als Nahrung. Noch ein anderer 166
Das hier vorliegende Wort sḥ/s cḥ ist ausgesprochen unklar; die Deutung „Ort des Umhüllens“ durch Beinlich 2014, 436, dürfte kaum zutreffen. 167 Letzte Edition Beinlich 2014, 319–321 und 436 f. 168 Zur Deutung vgl. Quack 1993, 76 – bei Beinlich 2013, 63; Beinlich 2014, 437, übersehen, dessen Interpretation entsprechend zu modifizieren ist.
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Abschnitt (1167) zeigt, dass mit dem Datum des ersten Monats der Überschwemmungszeit, Tag 23 eine triumphale Rückkehr des Sonnengottes verbunden ist. Ein ähnlicher Sprung des Sonnengottes ins Wasser ist auch in einem Mythos überliefert, der auf einem steinernen Naos der 30. Dynastie aus Saft el-Henne im Ostdelta erhalten ist.169 „Nun kämpfte die Majestät des Re-Harachte mit Rebellen an diesem Wasser des Messer-Sees. Die Rebellen hatten nicht170 die Oberhand gegenüber seiner Majestät. Seine Majestät sprang in den Messersee, nachdem er die Gestalt eines Krokodils mit dem Kopf eines Falken und den Hörnern eines Stieres auf seinem Kopf angenommen hatte. Er schlug die Rebellen im Messersee im Hügel des Christusdorns.“ (C 21–23).171 Mit diesen beiden mythologischen Episoden werden die Verhältnisse endgültig umgekehrt. Aus dem Flüchtling, der die Gefahren des Wassers auf sich nimmt, um seinen Feinden zu entkommen, wird gerade die Gefahr des Wassers selbst, die sich gegen seine Gegner richtet.
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Goyon 1936. Die Negation könnte einen bewussten Euphemismus darstellen. Vgl. für einen möglichen ähnlichen Fall Quack 2008b, 9. 171 Goyon 1936, 17 f. und 36.
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Joanna Töyräänvuori The Symbolic Ambiguity of the Mediterranean Sea in Ancient Semitic Mythology Abstract The god of the Mediterranean Sea in ancient Semitic texts of the Levantine littoral is Yamm, adversary of the Storm god, infamous as the antagonist of the Ugaritic Baal Cycle. Like the sea itself, its god displayed an inherent ambivalence: he was a source of death and life, the provider of bounty and the cause of wreckage, the master of monsters and the protector of domesticated beasts. Depicted in Syrian iconography as a winged deity, Yamm was capable of traversing the distance between his two watery realms. Yamm had a complex relationship with other gods, borne in part from the dichotomies in his character. For all its ambiguity, this symbol for the Mediterranean was immensely important to the coastal kingdoms.
The divinity associated with the Mediterranean Sea in ancient Semitic texts of the Levantine littoral is known by the name of Yamm. An adversary of the Storm god Baal, the god is infamous as the antagonist in the Baal Cycle, the Late Bronze Age poetic epic discovered in the city of Ugarit.1 But upon closer inspection, a much more variegated picture of the divinity emerges. Like the sea itself, its god displayed an inherent ambivalence: he was both a source of death and of life, the provider of bounty and the cause of wreckage, the master of monsters and the protector of domesticated beasts. Depicted in Syrian iconography as a winged deity, Yamm was capable of crossing between his two realms: the ocean encircling the earth disk and the vast sea above the dome of the sky.2 Yamm seems also to have had a complex and complicated relationship with the other divinities of the Northwest Semitic pantheon, born at least in part of the dichotomies in his character and function in the religion of the cities of the Eastern Mediterranean.3 I begin the article with some background information on how and why we have come to know about these Bronze Age conceptions of the sea, followed by an overview of the mythic texts which are the major source of information on the sea among the Northwest Semitic peoples, and finish with 1
Bordreuil et al. 1993; Smith 1994, 1997. Yamm as a winged deity was recognized by Matthiae 1992. 3 Stoltz 1999.
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a discussion on the ambiguity and ambivalent character of the sea that emerges from both the textual and the iconographic witnesses. The city of Ugarit is located on the coast of the modern day Syrian governorate of Latakia, and a repository of Northwest Semitic texts written on clay tablets were found there in archaeological excavations in the 1930s. These texts were written in a previously unknown script, in a language that turned out to be related to Biblical Hebrew. They included many different types of texts, from economic tablets to epistolary correspondence to mythology.4 The texts of the Baal Cycle, in which the dynastic Storm god of the city battles the sea, is one of the three major poetic epics found in the excavations. These texts have been compared to the texts of the Hebrew Bible, because in addition to linguistic similarities, it is commonly accepted that the Bronze Age texts give us insight into the intellectual world in which the later Biblical texts were conceived. The Ugaritic texts give us hints of a pre-Biblical religion and mythology.5 But the texts from Ugarit are also interesting in and of themselves, providing us with a wealth of information on life on the Eastern Mediterranean in the Late Bronze Age up until the so-called Bronze Age system collapse.6 This time of profound changes in the region is often blamed on the migrations of the socalled “Sea Peoples”, some of whom are named in the inscriptions of the Egyptian pharaoh Ramesses III in Medinet Habu, who are supposed to have originated somewhere around the Aegean and Anatolian areas.7 The city of Ugarit is thought to have been one of the cities destroyed by these migratory raiders of the coastal area, and in fact one of the last tablets written in the city mentions a fleet of 20 ships approaching its vicinity.8 While, in light of cultural and material continuity in the ancient Near East, the system collapse was probably not quite as cataclysmic or total as is often believed, the Ugaritic texts do lend a certain amount of credence to these Sea Peoples. The city of Ugarit, which had been a part of the Amorite conquest of the Levant – which is to say, the people living in the city were likely of an Amorite extraction and had been a part of the loose network of Amorite kingdoms in the Middle Bronze Age – was for almost the entire duration of its history contested between the Egyptian and the Hittite empires, functioning as a cultural melting pot.9 Importantly, it also lay directly across from Cyprus (Alashia), so while it 4
Most of the texts have been published in Keilalphabetische Texte aus Ugarit (KTU) by Manfried Dietrich, Oswald Loretz, and Joaquín Sanmartín. The third and most recent edition was released in 2014. 5 Astour 1981. 6 Drews 1995; Chase-Dunn et al. 2005. 7 The sea peoples on the Medinet Habu inscriptions were initially identified by Emmanuel de Rougé in Notice de quelques textes hiéroglyphiques récemment publiés par M Greene in 1855 (Paris). For more recent discussion, see Roberts 2008. 8 Singer 1999. 9 Tugendhaft 2013; De Moor 1996, 227.
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is often overlooked, Ugarit was also very much a part of the Aegean system, as witnessed for example by the presence of Argive pottery in the city.10 The sphere of influence of the city itself was also broader than is often conceded, and at its largest, the kingdom could be interpreted as having formed a small maritime empire. During the Hittite empire period, the kingdom reached from Mount Casius (modern Jebel el-Aqra) all the way down to Tell Sukas from which one of its occasional vassal kingdoms, Siyannu, began. There were many small ports and coastal towns under its aegis and from its four major harbors there were maritime connections to Egypt, Anatolia, and Cyprus.11 Mahadu, the city’s main harbor and the port closest to the city, is also archaeologically interesting. The tombs of the city are intramural, inside the houses, and consisted of stone built family tombs. A cult of the dead had been posited based on the shafts leading to the tombs, but it is uncertain whether these were actually meant for food and drink offerings or are evidence of later looting. Intramural burials were rare in the Northwest Semitic cultural area in the Late Bronze Age, so the archaeology of the city cannot be taken as a representative example of burials on the Eastern Mediterranean. A Mycenaean or general Aegean origin of the burial practices at Ugarit was suggested early on – in the 1930s – but it has also been proposed that the style of burial would have preceded widespread Aegean influence in the Levant. And yet there are similarities with Ugarit and the Aegean on the one hand, and differences between Ugarit and the rest of the Levantine area, on the other.12 As mentioned previously, the divinity associated with the sea in the texts from Ugarit is called Yamm, meaning the sea in the Ugaritic language. The Northwest Semitic Storm god, Baal, actually battles two separate antagonists in the myth: the sea, and death – called Mot. In the first part of the epic, the sea and the Storm god vie for the kingship of the gods, which was held by the father of the gods, El, and had been challenged by the sea at the assembly of the gods. The Storm god wins with the help of weapons forged by a smith god from Memphis and Crete (Caphtor). In the second part of the myth, the new king of the gods is challenged by death, loses and is taken to the underworld, and both he and languishing, suffering nature must be rescued by the maiden goddess, Anat. Although both death and the sea are adversaries of the Storm god, these stories seem to consist of originally separate myths that were later joined together into an epic cycle.13 Since the sea is the opponent of the dynastic god who was considered the protector of the city, it would be easy to interpret Yamm as an evil divinity. Often the god is indeed seen embodying chaos.14 But this is only one facet of the divinity. Like the sea itself, its god displayed an inherent ambivalence: he was a source of 10
Langdon 1989. Watson et al. 1999. 12 Van der Toorn 1996. 13 Smith 1994, 1–28, discusses the composition of the Baal Cycle. 14 Benz 2013. 11
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death – in one of the other epics from the city (Keret) the sea is named as the cause of death of one of the sons of King Keret (KTU 1.16). But he was also the source of life, because in another myth (The Birth of the Gracious Gods), the manhood of the father of the gods is “like the sea” (KTU 1.23). The sea caused death but was also associated with the literal source of life. While they were antagonistic toward one another in the myth, the desires of the sea and the Storm god were also the same: both wanted a palace for themselves, and neither desired to be subjected. The only difference between the contestants is that Baal had the help of the smith god Kothar-wa-hasis and of the maiden Anat, and that Baal ultimately wins the contest (KTU 1.1–1.2). The god of the sea, like the sea, seems also to have been considered a provider of bounty, especially for fishermen and merchants – and the cause of wreckage. There is indication in the sacrificial lists from the city that the god of the sea was the recipient of public sacrifices, particularly rams.15 As an adversary of the Storm god, the bringer of ill weather, the sea also would have been the natural deity to turn to for safe passage across the seas. But while the sacrificial lists tell us that sacrifices were made to the sea, it is not entirely clear whether the sacrifices were entreaties to the god of the sea or the Storm god, through whom the sea would have been calmed.16 But there are also arguments for the god having been worshiped and sacrificed to in the texts, as the name of Yamm is used as a theophoric element in personal names, and this would not have been the case with a divinity that was considered wholly negative.17 Mot (death), Baal’s other adversary, is in fact the only Ugaritic divinity that was not worshiped, sacrificed to, or used as a theophoric element in names in the city.18 Death was certainly a character in the myth, but is he a god? The sea, however, seems to have functioned as an actual god, not merely as an adversarial character in the mythic tradition.19 Yamm was depicted in Bronze Age Syrian iconography as a winged deity, and this seems to hark back to the ancient Northwest Semitic world view.20 In the pre-Ptolemaic conception of the world, the earth disc was surrounded by the sea. But there was another vast ocean, and this second ocean was thought to reside on top of the dome of the sky. There was some correspondence between this supercaelian ocean and the sea, or sources of water, beneath the sky in that stellar constellations and rivers often carried the same names (e.g. bašmu – Serpens, mušḫuššu – Hydra) which indicates that the constellations may have been con15
The sea is mentioned in the sacrificial lists KTU 1.39, 1.46, 1.48, 1.162, 1.118. Malamat 1998, 28. Also Smith 1994b, 151, who suggests that the “cult of Yamm may have continued in the first millennium Phoenician cities”. 17 Malamat 1998, 28; Tugendhaft 2013, 195. 18 Longman III et al. 2008, 52. 19 Cornelius et al. 2004, 43. 20 Matthiae 1992. 16
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ceived of as heavenly rivers.21 The ancient Mesopotamians also counted seven seas altogether around the earth, and these seven seas (likely corresponding to the Adriatic, the Aegean, the Caspian, the Black Sea, the Persian Gulf, the Arabian Sea and the Red Sea) had an analogue in the seven (by their count) moving or nonfixed stars, which were also called the “seven heavens”.22 So there appears to have been a correlation between the vast blue that was above and the vast blue that was below the earth. And Yamm, the god whose dominion was the sea, was winged, having to move between his two realms. In Syrian iconography wings often mark celestial deities, and while sea gods are often considered terrestial divinities (as is the Storm god) this two-fold character of the sea explains why the god is winged.23 The iconography of the sea god is interesting because it seems that it can illustrate concepts that are not explained in the texts. The other characteristic features of Yamm are his two weapons. One of them is nearly always a spear and the other a curved scimitar or an Egyptian style sickle sword.24 Although the weapons may be held lowered or raised, he is never depicted without them. In addition, his iconography features a conical cap with two horns marking him as a divinity, and a long or a short skirt revealing the front leg.25 Unlike the other divinities, the sea god does not seem to have a signature animal. But he did nonetheless have a connection with animals, especially the horse. In addition, unlike the other gods, the sea god did not have a mountain of his own – and mountains seem to have been considered the abodes of the gods, the seats of their power. One explanation might be in the suggestion that after their battle, the Storm god would have carved his mountain throne out of the carcass of the sea.26 Yet there is little textual evidence for this suggestion. The god of the sea was also considered both the master of monsters and the protector of domesticated beasts. There are two passages in the Baal Cycle that have been connected to what is believed to have been a widespread hymn in the Bronze Age, called the hymn of Anat, the maiden goddess that saved Baal in the epic. In this song, the goddess lists monsters that she had defeated on behalf of the Storm god, and the sea is among these monsters.27 Some of the monsters, like Leviathan and Tannin, are also known from the later Hebrew traditions. It is possible that the text of the Hebrew Bible has actually retained several different traditions of this hymn (e.g. in the Book of Isaiah, Psalms 74 and 104). Yamm heads the list of monsters, so it appears that at least on some occasions, he was 21
Horowitz 1998. Dalley 1998, 171. 23 Matthiae 1992. 24 Töyräänvuori 2012. 25 Matthiae 1992, 169–170. 26 Wyatt 2005, 112–113. 27 Hutton 2007. 22
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considered a creature – but whether this entailed a theriomorphic character is unknown.28 But in addition to these negative characteristics, it also appears that Yamm had some apotropaic functions. The sea seems to have featured in spells or incantations against snakebites, and especially incantations that were meant to protect horses against snakebites.29 The connection of the horse and the sea was also a feature of the Hellenistic cultural sphere, for example in the character of Poseidon. Since the sea horse bears resemblance to a horse and the horse may remind one somewhat of the untamed sea, the association of the sea and the horse may be natural.30 But because the sea, and especially the conquest of the sea, was associated with kingship among the Northwest Semitic peoples which may be related to the conquest of the Mediterranean by Sargon the Great, the close connection of horse and sea also comes from the status of the horse as a royal animal among the Amorites.31 We have an example of the connection of the horse and the sea in the Argive pottery found at Ugarit. Susan Langdon identified the motif of the “Horse-Leader” (an anthropomorphic figure flanked by two equine ones), widespread in the Aegean, as representing not Poseidon, but an ancient Semitic sea deity. Of course not everyone agreed with her assessment due to her use of diachronic parallels, but at least the Ugaritic crater RS 24.440 probably represents a sea-god, even if not all the Mycenaean style examples of this type do.32 In Syrian iconography, the god of the sea is found in three distinct types of scenes. The one that helped identify the god as the god of the sea is the scene in which he is engaged in combat with the Storm god. He is in fact one of the few – if not indeed the only one of the characters in Syrian glyptic – that is presented as facing off with the Storm god, while the other gods usually face in the same direction as Baal. The god of the sea has also borrowed some iconographic elements from the Storm god, specifically from the Storm god of Aleppo who was the major Storm god in the ancient Near East. These elements borrowed from the Storm god’s iconography included the scabbard at his belt. This borrowing from the iconography of the Storm god places the god of the sea in this iconographic constellation of the combat myth.33 But the other two types of scenes are unexpected in terms of textual evidence (which is to say, there is nothing in the myths to explain these scenes): one is a cultural scene of one to three supplicants before the god, and the other features the sea god in front of the throne of a seated deity, most likely the father of the gods, El, in a mediating position between the god and a supplicant figure, prob28
Matthiae 1992, 177. Bowman et al. 1980; Wyatt 1996, 97. 30 Mylonopoulos 2013. 31 Malamat 1965; Salonen 1955. 32 Langdon 1989. 33 Matthiae 1992, 170.
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ably the mortal king (the supplicant figure bears no divine characteristics).34 It is especially in this mediating position that the god’s weapons are lowered. The iconography of the sea god bears some similarity to the later iconography of the goddess Ishtar – Astarte in the Northwest Semitic area – often considered a forerunner of Aphrodite.35 Yamm seems to have had a complex and contradictory relationship with the other divinities of the Ugaritic pantheon, born at least in part of the inherent dichotomies in his character and the function of the deity in the cults of the Eastern Mediterranean. The most interesting of these relationships, with regards to the ambiguity of the sea, is his relationship with the goddess Astarte. A Northwest Semitic goddess of the Ishtar-type, the goddess, who is connected with the planet Venus, displayed many inherent dichotomies herself. The myth of the sea and the goddess Astarte is known from most of the coastal cities of the Eastern Mediterranean, starting from Ugarit and extending as far as Gaza – and in fact, all the way to Memphis.36 While the cast of characters in these regional myths seems to have been inherited from the Bronze Age mythology, most of the myths were written down by later Hellenistic historiographers like Pseudo-Hyginus (Astronomica 2, 30, Fabulae 197) and Diodorus Siculus (Bibliotheca Historica 2.4.2). Peter Walcot actually suggested that the final battle between Zeus and Typhon in Hesiod’s Theogony recalled the struggle between a god and “a kind of dragon” in the literatures of the ancient Near East, referring to the combat myth.37 In fact, according to Felix-Marie Abel, all of these Hellenistic Typhon traditions – Typhon is the name that the Hellenistic writers seem to have used of the Northwest Semitic Yamm – ultimately belie a Syrian origin.38 The oldest of these myths was recorded on the Astarte Papyrus which is rather fragmentary and thus it has been difficult to come to any consensus as to exact nature of the narrative. In the text of the papyrus, the sea appears to make demands on the “ennead of the gods”, which is the Egyptian equivalent of the assembly of the gods, and one of the demands concerns the goddess. The relationship of the sea and the goddess is not entirely clear and many interpretations have been offered over the years. One of the more popular ones casts the goddess as the object of the sea’s lust, describing him as a “lascivious sea monster”.39 While that may not be an entirely fair reading of the text, most of the iterations of the myth do seem to feature the sea pursuing the goddess or the goddess being the prize for which two gods compete. In the papyrus, the sea may have battled with Seth who was associated with Baal in the Egyptian area (as an interpretatio aegyp34
Matthiae 1992, 172–173. Matthiae 1992, 172. In mainland Greece, Aphrodite was seen as the Western equivalent of Astarte, Atargatis, Anaitis, Ishtar, Mylitta (Mullissu), Isis and al-Uzza. 36 Redford 1992. 45–46. 37 Walcot 1956, 199–201 38 Abel 1933, 153–154. 39 Redford 1992, 234. 35
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tiaca of the god), but the text breaks off before any action takes place.40 In most of the regional variations of the myth the sea or the sea monster loses the contest between the gods, but for reasons unknown, in the city of Beirut it was the sea god that won the goddess over.41 Like the sea, Ishtar was also an ambivalent divinity. The goddess was associated both with warfare and with love. She also displayed female and male characteristics. The name of the Babylonian Ishtar is male, and appears to be a cognate of the Northwest Semitic god Ashtar, even though in other regards Ishtar more resembles Astarte (Ugaritic Ashtart), with much influence from the Sumerian goddess Inanna. It is tempting to see the Mesopotamian Ishtar as an amalgamation of Ashtar and Inanna.42 The evidence of the Ugaritic pantheon, in which we find both the male Ashtar and the female Astarte, and inscriptions from ancient Mari, a Northwest Semitic or Amorite city on the Euphrates, where we find epithets like “male Ishtar” (dMÙŠ.UŠ or dINANNA.NITA cf. E1.10.17.1), “Ishtarthe-king” (dINANNA-LUGAL, A.0.39.6) side by side with “female Ishtar” (dMÙŠ.ZA.ZA), clearly show that Astarte and Ashtar could exist at the same pantheon in the same area at the same time. The evidence is inconclusive as to whether there were originally two divinities of different genders, one divinity with both genders, or a male divinity that accumulated female characteristics over time (or vice versa, although most early commentators saw the male god as the original), but it does not seem impossible that Astarte-Ashtar, whether understood as a divine pair or a single bi-gendered, hermaphrodite divinity later split into two beings, was an ambiguous divinity from its very inception due to the inherent ambiguity of the planet Venus, functioning as it did as the evening and the morning star.43 The twin deities have been interpreted as the two “hypostases of the one divine figure”, suggesting that the burning morning star represented the masculine side and the milder evening star the feminine.44 Stephen Langdon also suggested that Ishtar of Uruk represented Venus as the effeminate evening star and Isthar of Agade represented Venus as morning star and a war goddess, both appearing one after the other in a Sumerian text from the Nippur temple (BM 6060:24–25).45 Ishtar’s cult also famously featured castrate clergy and Babylonian followers of the goddess exhibited various forms of transgressive sexuality, including a sort of androgyny. Ishtar was believed to possess the awesome or frightening power to 40
Published by Gardiner 1932. I have discussed the text at some length in Töyräänvuori 2013. Jidejian 1992, 58. 42 Contra Budin 2004, 104, “It is generally accepted that Ashtart emerged out of an amalgamtype syncretism between the Sumerian goddess Inanna and the Semitic god Ashtar – the male Venus god became the gender-ambiguous but essentially female Ishtar”. Albright 1932, 194–195, also saw the goddess as originally male. 43 Gray 1949, 73. 44 Gray 1949, 73. 45 Langdon 1919, 338. 41
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“turn men into women”, which may have been played out in cultic practices. This ambiguity of gender may also have played out in the characters of the Northwest Semitic Astarte and Ashtar. Such bi-gendered divinities or divinities displaying both male and female sexual characteristics are of great antiquity, and it must be noted that the star Venus held an inherent ambiguity, likely pre-dating anthropomorphic divinities altogether.46 This ambiguity of gender also connects the goddess to Aphrodite, whose origins are often sought in the Dea Syria, the archetypal “Syrian goddess”. Philo of Byblos actually associates the Astarte of Sanchuniathon’s Phoenician History explicitly with the Greek Aphrodite.47 William Sale also discussed the androgynous or bi-gendered Aphrodite of the Cyprian cult (which he called Venus barbata, or the bearded Venus), predating Hesiod. He briefly mentioned the Eastern origin of Aphrodite, referring to the possibility that the Cyprian androgynous Aphrodite, later introduced to mainland Greece, was actually a form of the Dea Syria.48 Astarte or Ishtar has also been proposed as the origin of Aphrodite by Walter Burkert.49 Sale further suggested a connection between Aphrodite’s birth from the castration of Uranus and the castrated priests of the cult of the Magna Mater in Asia Minor.50 This androgyny, having characteristics of both the male and the female, is a feature that Astarte shared with the sea. In fact, in the ancient Semitic cultural sphere the god of the sea could be male – Yamm, especially on the Mediterranean coast – or female, like the Babylonian Tiamat, the adversary of the Storm god Marduk in the Babylonian epic Enuma Elish.51 The Ugaritic language actually has two words for the sea: ym, which likely predominately referred to the Mediterranean, and thm, which may have been some kind of primordial sea, not unlike Oceanus and Tethys of Hellenistic mythology.52 To summarize the ambivalent characteristics of the sea in Northwest Semitic mythology: it embodied and provided both life and death, it was both terrestial and celestial, it was both masculine and feminine, it was both a protective deity and a threatening monster, it was conceived as anthropomorphic and likely also 46
Heimpel 1982, 12. The Sanchuniathon myth has been preserved through the translation of Philo of Byblos, surviving only in the quotations of Eusebius of Caesarea in his Praeparatio evangelica (1.9.21– 1.10.). 48 Sale 1961, 512, 515–519. He also mentioned a 7th century BCE Corinthian terracotta figure found on Cyprus which Riis 1949, 69–90, has connected to Syrian Astarte plaques. 49 Burkert 1985, 152–153. 50 Sale 1961, 515. 51 The first translation of Enuma Elish was by G. Smith in 1876 (published in 1878). The most famous version was translated by L. W. King in 1902, and although all of the text fragments that are now considered to belong to the narrative had not been discovered at the time that he was translating, it is still widely used. The text of the tablets was collated by Philippe Talon in SAACT IV. 52 Sale 1961, 513. Some of the earliest comparative studies between Ugaritic and Hellenistic mythologies were made by Walcot 1969. 47
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theriomorphic, it was both untamed and conquered, an enemy and a benefactor. Many of the god’s roles probably came about due to the nature of the sea itself. But for all the polysemy surrounding the god and his element, one thing is clear: the god that functioned as the symbol for the Mediterranean Sea was immensely important to the inhabitants of the ancient Semitic coastal kingdoms. The mythology surrounding the god of the sea, of which the Ugaritic texts are merely the oldest and best preserved example, was spread over a wide area, from Ugarit all the way to Memphis. And the latest examples of this mythology come not from the Hellenistic writers, nor from Medieval romances like the Legenda aurea by Jacobus de Voragine in which St. George conquers the dragon of Ashkelon – but quite possibly from the itineraries of explorers such as Sir Walter Drummond, who reported a local, annual commemoration of the battle of the Storm god on the banks of the Lebanese Abraham river as late as 1826.53 While the details changed over the centuries, and the characters of the mythic constellation were given new names in subsequent retellings, the persistence of the tradition of the Storm god’s battle against the Mediterranean Sea in the cities of the Levantine littoral is testament to the importance of the mythology – and of the sea itself.
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Constance von Rüden Ins Meer gebettet Einblicke in die nachpalastzeitlichen Bestattungssitten Kretas
Zusammenfassung In der kretischen Nachpalastzeit tauchen im Osten der Insel nicht nur wie sonst üblich Larnakes mit Meeresbezug im Allgemeinen, sondern vermehrt Wannenlarnakes mit Darstellungen von Unterwasserlandschaften im Inneren auf. Sie werfen die Frage auf, was die dort lebenden Menschen dazu brachte, ihre Sarkophage auf diese Weise zu gestalten und damit ihre Verstorbenen quasi ins Meer zu betten. Der Artikel versucht den Bewegnissen dieser Menschen nachzugehen, indem er die Bestattungssitten von mehreren Seiten betrachtet: Sowohl von der Perspektive der Affordanz dieser Larnakes, der in Ostkreta vorherrschenden Bestattungspraktiken und deren Bezug zur Vergangenheit als auch der nachpalastzeitlichen Ikonographie wird sich dieser Sitte im Folgenden angenähert.
Ostkretische Larnakes oder die Frage nach dem Fisch in der Wanne Im Umland der heutigen Stadt Sitia an der Nordostküste Kretas (Abb. 1) wurden drei äußerst ähnliche nachpalastzeitliche Larnakes aus dem Ende des 2. Jt. v. u. Z.1 geborgen, die Athanasia Kanta schon 1980 derselben Werkstatt zugeordnet hat;2 eine Idee, die 1997 Metaxia Tsipopoulou und Lucia Vagnetti erneut aufgriffen und erweiterten.3 In allen drei Fällen handelt es sich um Wannensarkophage, die sich während der Nachpalastzeit (vom 14. bis zum 12. Jh. v. u. Z., vor allem SM IIIB und SM IIIC)4 in Ostkreta ganz besonderer Beliebtheit erfreuten. Ihre Form ist mit einer klein geratenen Badewanne durchaus vergleichbar 1
Pini 1968, 52. Kanta 1980, 292. 3 Tsipopoulou et al. 1997, 474–474; Kanta 1980, Abb. 55, 9. 56, 2 (von Pacheia Ammos). 63, 6 (von Episkopi-Ierapetra) sowie ein sekundär genutztes Beispiel aus Kavousi-Kastro, das Tsipopoulou und Vagnetti durch eine persönliche Kommunikation mit William Coulson anführen konnten. Mit der Werkstatt in Verbindung stehen könnte auch eine Larnax, die irgendwo im Stadtbereich von Sitia gefunden wurde (Tsipopoulou et al. 1997, 474). 4 Tonlarnakes der Nachpalastzeit im Allgemeinen werden in SM IIIA2 bis IIIC, also vom Ende des 14. bis ins 12. Jh. v. u. Z., datiert (Watrous 1991, 289). 2
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Abb. 1: Verbreitungskarte Bestattungsbehältnisse nach Preston 2004, 191, Abb. 8. Abdruck mit frdl. Genehmigung des Oxford Journal of Archaeology, John Wiley & Sons Ltd.
Abb. 2: Wannenlarnax aus Petras, Tsipopoulou et al. 1997, 181 a–c.
Abb. 3: Wannenlarnax aus Piskokephalo, Tsipopoulou et al. 1997, 182 a–c.
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und auch manch domestischer Kontext ließ Archäolog_innen eine solche Funktion annehmen,5 was ihnen schließlich im Englischen auch die etwas lapidare Bezeichnung bathtubs einbrachte. Daneben verbindet sie vor allem die sowohl motivisch als auch stilistisch vergleichbare Bemalung: Die Wandungsaußenseiten der Funde aus den Gebieten Petras östlich des Stadtkerns6 und Tourtouli südlich davon7 werden vollständig von einem stilisierten Oktopus mit großen Augen aus konzentrischen Kreisen und zwei Reihen wellenförmiger Tentakeln gefüllt (Abb. 2a).8 Dasselbe Motiv scheint auf der Larnax aus Piskokephalo nur verkürzt wiedergegeben worden zu sein (Abb. 3a).9 Man beschränkte sich hier nur auf die Wellenbänder und überließ es wohl der Phantasie der Betrachter_innen, sich den zugehörigen Oktopus vorzustellen. Für uns von zentraler Bedeutung ist aber ihre Bemalung mit Meeresszenen im Inneren und somit an einem Ort, der für die Bestattungsgemeinschaft nur unter gewissen Umständen sichtbar gewesen sein kann – eine Eigenheit, die bei den wesentlich weiter verbreiteten Truhenlarnakes nicht anzutreffen ist.10 In allen drei bekannten Fällen ziert der Körper eines nach oben gebogenen, wohl im Sprung begriffenen Fischs oder Delphins im sogenannten free field style und damit ohne Rahmungen und Begrenzungen die inneren Langseiten der Wandungen (Abb. 2b. 3b). Darüber verläuft ein mit mehreren Konturlinien versehenes Wellenband, das wohl entsprechend der in dieser Zeitstellung üblichen Darstellungskonvention die das Tier einbettende Unterwasserlandschaft andeutet. Auch die Böden sind im Inneren mit feineren Wel5
Einige Behältnisse dieser Form wurden auch in domestischen Kontexten gefunden (z. B. Palaikastro und Knossos) und dort zum Teil auch wirklich als Badewannen angesprochen (Pini 1968, 54). Aufgrund ihrer spezifischen Bemalung und ihrer Ausflusslöcher – eine Installation, die für Larnakes verschiedener Formen gut bekannt ist – muss man hier zwar von einer typologischen Verwandtschaft ausgehen, aber wohl von einer spezifisch für Bestattungen produzierten Form (Pini 1968, 54, Anm. 624, gerade auch hinsichtlich der Bemalung eines später zu nennenden Beispiels aus Pachyammos). 6 Kanta gibt dieses Beispiel als von Praesos stammend an (Kanta 1980, 177, Abb. 73, 8–10), dies wird aber von Tsipopoulou et al. in ihrem Artikel von 1997 berichtigt. 7 In Tourtouloi-Volakas wurden mehrere LMIII Gräber geplündert. Yannis Sakellarakis hat ein Teil ihres Inhaltes sichergestellt, darunter auch zwei Wannensarkophage, jedoch stellt Kanta keinen Bezug zu dem Sarkophag her, der für Piskokephala als Parallele genannt wird (Kanta 1980, 177–178). 8 Ein weiteres Exemplar mit unbekannter Herkunft befindet sich im Museum von Sitia (6883) und ist das einzige dieser Gruppe, das auf jeder Seite die in der Natur anzutreffende Anzahl von vier Tentakeln darstellt, Tsipopoulou et al. 1997, 476. 9 Kanta 1908, 177, Abb. 66, 1–2. Aufgrund der ikonographischen Ähnlichkeiten mit einem Sarkophag aus Kritsa im östlichen Hinterland des Golfes von Mirabello, der anhand der vergesellschafteten Keramik von Tsipopoulou und Vagnetti in eine frühe Phase von Spätminoisch IIIC datiert wird, müsste das Beispiel aus Piskokephalo in denselben Rahmen eingeordnet werden, s. Tsipopoulou et al. 1997, 476 Punkt 4. 10 Eine Ausnahme bildet eine leider aus dem Schweizer Kunsthandel stammende kistenförmige Larnax mit der Abbildung eines Bootes im Inneren direkt unterhalb des Randes, die erstmals bei Dorothea Gray (1970/1971, 47, Abb. 11) später bei Robert Laffineur (1991, Taf. 61 b) abgebildet ist.
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lenbändern verziert: Die Larnax aus Petras schmücken zahlreiche länglich laufende Wellenbänder, während die beiden aus Piskokephalo und von Tourtouloi sternförmig arrangiert sind. Letzteres könnte nach Watrous Seegras darstellen,11 während im Falle des ersteren durchaus auch an die wellenförmige Struktur eines sandigen Meeresbodens gedacht werden könnte. Vergleichbare Beispiele sind auch andernorts zu finden und wurden auch schon von Tsipopoulou und Vagnetti in Anbetracht ihrer möglichen Relation zu der von ihnen postulierten Werkstatt ins Feld geführt. Darunter fallen insbesondere die Stücke, deren Außenwandungen von einer vergleichbaren Oktopusdarstellung ausgefüllt wird, während aber ihre Innengestaltungen eine deutlich größere Variabilität aufweisen. Das Innere einer vom Musée d’Art et d’Histoire in Genf 1980 erworbenen Larnax (leider ohne Angaben zum Fundort oder Herkunft)12 ist den Beispielen aus Sitia stilistisch sehr ähnlich, jedoch werden hier vier statt zwei Fische abgebildet.13 Zwei weitere Larnakes aus Kritsa im östlichen Hinterland des Golfes von Mirabello,14 die anhand der damit vergesellschafteten Keramik in Spätminoisch IIIC (also etwa ins 12. Jh. v. u. Z.) datiert werden,15 bieten zwei weitere Varianten: In einem Fall birgt das Innere einen von Wellenbändern, vermutlich Oktopustentakeln, gerahmten Fisch, während die andere eine ganze Unterwasserlandschaft mit mehreren schlangenartig stilisierten Fischen und einem Wasservogel aufweist (Abb. 4).16 Aus einem Grab bei Alatsomouri in Pachyammos17 stammt eine weitere Larnax mit Oktopoden auf der Außenseite, nun aber in Registereinteilung arrangiert.18 Ihr Innendesign ist in der Thematik jedoch durchaus vergleichbar und setzt sich aus drei sorgsam gruppierten, in dieselbe Richtung schwimmenden Fischen zusammen, die nahezu wie das Zitat eines Fischschwarms wirken (Abb. 5).19 Das motivische Spektrum wird durch eine weitere Larnax unbekannter Herkunft aus dem Museum von Sitia erweitert. Auch in diesem Fall ist wieder die Außenseite in vertikale Register unterteilt und mit einem Wellenband/Tentakel (?) und geometrischen Mustern versehen, aber im Inneren schwimmen anstatt der üblichen Fische sechs länglich ovale Körper mit kleinen Köpfchen und je vier winzigen Beinen oder Flossen frei schwebend über der Wandung und werden m. E. zu Recht von Tsipopoulou und Vagnetti als Wasserschildkröten ange11
Watrous 1991, 289. Mottier 1982. 13 Tsipopoulou et al. 1997, 474, Taf. 184 a–b. 14 Auch wenn die Anzahl der Tentakeln zum Teil variiert, s. Tsipopoulou et al. 1997, 476, Taf. 186 a–c. 15 Tsipopoulou et al. 1997, 476 Punkt 4. 16 Tsipopoulou et al. 1997, 476, Taf. 185 c; 187 a–b. 17 Aus dem Grab wurden insgesamt drei Larnakes geborgen, Alexiou 1954, 399–412. 18 Kanta 180, Taf. 56, 4–5, Museum von Heraklion Nr. 9499 (Alexiou 1954, Taf. E), 9500 (Alexiou 1954, Taf. ST, 1). 19 Kanta 1980, Abb. 56, 3, Museum von Heraklion Nr. 9499 (Alexiou 1954, Taf. E). 12
INS MEER GEBETTET
Abb. 4: Wannenlarnax aus Kritsa, Tsipopoulou et al. 1997, 186, b; 187 a–b.
Abb. 5: Wannenlarnax aus Pachyammos, Kanta 1980, Abb. 56, 3.
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Abb. 6: Wannenlarnax, Museum Sitia, Tsipopoulou et al. 1997, 188.
sprochen (Abb. 6).20 Ebenso wurden auch Argonauten auf die Innenseite von Wannensarkophagen gemalt, wie ein Beispiel aus einem Grab bei Papoures am Hafen von Sitia zeigt.21 Dass sich die Funde solcher Larnakes nicht auf die beiden Regionen um Sitia und den Golf von Ierapetra konzentrieren, sondern auch die ganze dazwischen befindliche Region betreffen, zeigt ein weiterer Fund aus einer ins 12. Jh. v. u. Z. (SM IIIC) datierenden Tholos aus Mouliana, auf halbem Weg von Pachyammos nach Sitia: Ihr Äußeres wurde durch Tentakel und Schachbrettmuster, ihr Inneres mit Fischen dekoriert.22 Aus der Nähe von Milatos und damit schon auf dem Weg nach Zentralkreta wurden ebenfalls zwei sehr ungewöhnliche Wannensarkophage geborgen. Ein sehr aufwändiges und anhand der ikonographischen Merkmale als besonders früh einzuordnendes Exemplar (SM IIIA) stammt aus dem Felskammergrab 1 der Nekropole (Abb. 7).23 Die Außenseite ist fast vollständig mit einem engen Netz aus vierblättrigen Rosetten versehen, während im 20
Tsipopoulou et al. 1997, 476. Leider ohne Abbildung, die Larnax wurde mit zwei weiteren bei einer Notgrabung geborgen (Kanta 1908, 176–177). 22 Xanthouides 1904; Kanta 1980, 175, Abb. 61, 5–6; 114, 2. 23 Das Stück wurde bereits am Ende des 19. Jh. vom dortigen Bischof an das Museum von Heraklion gegeben. Kanta 1980, 125, Abb. 52, 5. 21
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Abb. 7: Wannenlarnax aus Milatos, Kanta 1980, 125, Abb. 52, 5.
Abb. 8: Wannenlarnax aus Milatos, Kanta 1980, 128, Abb. 52, 6; 133, 2.
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Inneren eine komplexe Unterwasserszenerie mit kleinen, in nahezu natürlicher Weise angeordneten Fischen oberhalb eines mehrfach konturierten Wellenbands präsentiert wird. Nach oben hin abgeschlossen wird das Ganze durch ein von Bändern gerahmtes Muschelfries.24 1910 wurde dort ein weiteres Felskammergrab gefunden, aus dem eine etwas spätere wannenförmige Larnax geborgen wurde (SM IIIB), die sowohl außen als auch innen mit Papyruspflanzen bemalt ist. Für uns von Interesse ist aber, dass auf der Außenseite zusätzlich kleine Fische zwischen den Pflanzen schwimmen (Abb. 8). Ungewöhnlicherweise bediente sich der/die Handwerker_in auf der Außenseite des sogenannten free field style, während das Innere in Paneele unterteilt ist und keine Fische aufweist.25 Unweigerlich stellt sich natürlich die Frage, was die Menschen in Ostkreta dazu brachte, ihre Sarkophage nicht nur außen,26 sondern gerade eben auch im Inneren mit Meereswesen und regelrechten Unterwasserszenen zu gestalten und damit ihre Toten quasi ins Meer zu betten. Welche Aspekte der Bestattungspraktiken werden hier durch die materielle Kultur zum Ausdruck gebracht, und wie stehen diese vielleicht in Zusammenhang mit Jenseitsvorstellungen oder der Konstruktion von Identitäten in den jeweiligen Gemeinschaften? Ellen Davis formulierte in dieser Hinsicht einmal die These, dass sich in diesen Darstellungen die frühere palastzeitliche Sitte, die Toten zur See zu bestatten, widerspiegelt. Eine sehr inspirierende Idee, die nicht nur die zahlreichen Meerestierdarstellungen auf Larnakes erklären könnte, sondern auch die viel zu geringe Anzahl von Gräbern aus der Palastzeit.27 Bis auf diese wenigen knappen Verweise zur Ikonographie und zu den darin vermuteten Jenseitsvorstellungen konzentrierte sich 24
Watrous interpretiert dies als stilisierte Version eines Seegrases (Watrous 1991, Taf. 85 f.). Kanta 1980, 128, Abb. 52, 6; 133, 2. 26 Natürlich sind in dieser Region Kretas noch weitere interessante Wannensarkophage mit Meeresbezug bekannt. Häufig wird aber nur auf ihre Außenseite Bezug genommen, während es über eine etwaige Bemalung der Innenseite leider oft keine eindeutigen Angaben gibt. Darunter fallen mehrere Exemplare mit Oktopusdarstellungen aus dem Gräberfeld von Episkopi bei Ierapetra, weiterhin eine Larnax aus einer 1906 von Seager ergrabenen Tholos, deren Form aber nicht genannt wird (Seager 1906, 130), sowie zwei Wannensarkophage aus einem 1919 bei Bauarbeiten gefundenen Kammergrab mit einem seitlich und einem vertikal arrangierten Oktopus (Archaeologikon Deltion 1920–1921, 157–162; Kanta 1908, 150, Abb. 63, 6: Heraklionmuseum Nr. 7623). Eine weitere wird von Kanta aus der Ierapetrasammlung erwähnt, aber ohne Inventarnummer oder Abbildung (Kanta 1908, 158). Zu dieser Gruppe des Isthmus von Ierapetra kommt wohl ein sekundär genutztes Beispiel aus Kavousi-Kastro hinzu, das Tsipopoulou und Vagnetti durch eine persönliche Kommunikation mit W. Coulson anführen konnten, sowie ein weiteres Beispiel aus einer rechteckigen Tholos von Arfanoperivolia bei Praesos (Tholos B: Kanta 1908, 179; Bosanquet 1901–1902, 245–248). 27 Die Idee von Ellen Davis wird 1997 von Nanno Marinatos in einem Aufsatz zitiert (Marinatos 1997, 282), die den Gedanken etwas weiterführt und eine unpublizierte Larnax von Pigi bei Rethymnon mit Aufbahrungsszene hinzuzieht, die mit einem Wellenband übermalt wurde: Marinatos interpretiert dies als Seebestattung und damit als Bestätigung dieser These, jedoch lässt sich diese Darstellung aufgrund der Publikationslage leider immer noch nicht überprüfen (Kanta 1980, 296; Marinatos 1997, 282). 25
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die bisherige Forschung zu den genannten Larnakes meist auf die Suche nach deren Produktionsort und den damit einhergehenden Herstellungsumständen.28 Zweifellos muss dies als wichtiger Ansatz zum Verständnis ostkretischer Handwerksnetzwerke gelten, für die Auseinandersetzung mit ihrem funerären Kontext, den Bestattungspraktiken und ihrer Zusammenhänge mit dieser auffälligen Ikonographie ist er aber eher von sekundärer Bedeutung. Dass letztere Fragen gerade hinsichtlich der Wannenlarnakes bisher nur am Rande behandelt wurden, mag auf verschiedene forschungsgeschichtliche Aspekte zurückzuführen sein. Ein Problem liegt sicherlich in der unzureichenden Publikationslage und der damit einhergehenden schlechten Kenntnis der Fundkontexte der zumeist früh ausgegrabenen Stücke. Außerdem kam ihnen in der Forschungsgeschichte im Gegensatz zu den gleichzeitigen Truhenlarnakes und deren Skeuomorphismus einer hölzernen Materialität keine besondere Rolle bei der Verbreitung bestimmter Bestattungssitten zu,29 so dass sie in dieser Hinsicht keine allzu große Aufmerksamkeit genossen. Zentral für die Marginalisierung wannenförmiger Larnakes ist aber sicherlich, dass im Vergleich zu den truhenförmigen häufig eine etwas einfachere Gestaltung gewählt wurde.30 Den Darstellungen auf den berühmten Truhensarkophagen aus Agia Triada und Episkopi wird zumeist eine komplexe Narration zugeschrieben, so dass ihre ikonographische Bearbeitung und Diskussion eine besondere Anziehungskraft auf Archäologen und Archäologinnen auszuüben scheint.31 Mit dem vorliegenden Versuch sollen nun eben gerade die Besonderheiten der Bestattung in einer Wannenlarnax und deren ganz spezifischer Bezug zum Meer ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden und damit dieses Desiderat der Erforschung nachpalastzeitlicher Bestattungspraktiken zumindest angegangen werden.
Die Affordanz eines ostkretischen Designs Bei einer eingehenderen Betrachtung der Wannensarkophage ergeben sich allein aus ihrer Form heraus einige wichtige Aspekte, die zeigen, dass sie gerade im Gegensatz zu den gleichzeitigen Truhensarkophagen eine ganz spezifische Affordanz32, einen Angebotscharakter, besitzen. Schon bei der Betrachtung ihres längsovalen Grundrisses und ihrer darauf aufbauenden, leicht ausladenden Wandung (Abb. 2–8) wird ein zentraler Aspekt ihres Designs deutlich: Diese grundsätzlichen Aspekte ihrer Form resultieren in einer eckenlosen Wandung, die sich als ideale Fläche für eine umlaufende und damit endlos erscheinende Ikonographie 28
S. v. a. Tsipopoulou et al. 1997, 476–477. Z. B. Pini 1968, 53; Rutowski 1968; Hägg et al. 1982. 30 S. auch Preston 2004, 178. 31 S. beispielsweise die berühmten Sarkophage von Episkopi oder Agia Triada, Watrous 1991, 290–291. 302; Marinatos 1993, 236–239. 32 Gibson 1977.
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Abb. 9: Truhenlarnax aus Palaikastro, Watrous 1991, Taf. 82 b.
anbietet.33 Dass diese Möglichkeit auch genutzt wurde, zeigen sowohl das oben bereits mehrfach beschriebene umlaufende Oktopusmotiv als auch die das Innere schmückende Unterwasserlandschaften. Die darin deutlich werdende Neigung zum sogenannten free field style ist ein zentraler Unterschied zu den Bildfeldern der Truhensarkophage und ihren häufig zumindest emblematisch wirkenden Darstellungsweisen. Zwar sind auch dort Meerestiere ein wichtiger Bestandteil der Ikonographie, nur sind ganze Unterwasserszenen oder -landschaften eher selten. Es ist vielleicht kein Zufall, dass eine Ausnahme gerade aus Palaikastro ganz im Osten Kretas stammt (Abb. 9). Trotz des geringen Platzes zeigt eines der Paneele einen von sternförmigen Gebilden (Seeigel?) und wellenförmiger Landschaftsangabe umgebenen Fisch. Dasselbe Prinzip wurde auch in den benachbarten Bildfeldern mit weiteren Tieren und Pflanzen angewandt.34 Es schien hier wohl relevant gewesen zu sein, die Lebewesen in ihrem natürlichen Kontext darzustellen, 33
Wie auch oben schon genannt, wird in einigen Fällen auch die gerundete Wandung der Wannenlarnakes in einzelne Register unterteilt. 34 Mavriyannaki 1972, Taf. 12; Watrous 1991, Taf. 82 b.
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so dass trotz der Platzschwierigkeiten keine Verkürzungen der Szene vorkamen. Ähnliches gilt auch für eine weitere Ausnahme, einen Larnaxdeckel mit Fischen in einer Unterwasserlandschaft aus Messi in Westkreta.35 Ansonsten beschränkte man sich gewöhnlich bei Truhenlarnakes auf die separierten Darstellungen von Meerestieren wie Oktopoden oder Fischen, die manchmal geradezu in die rechteckigen Bildfelder gezwängt wurden.36 Damit setzen sich die meisten Darstellungen auf Truhenlarnakes deutlich von den eher raumgreifenden und umfassenden Oktopoden und Unterwasserszenerien der Wannensarkophage ab. Während sich die gerundete Wandung der Wannenlarnakes anscheinend für ein umlaufendes und damit unbegrenzt wirkendes ikonographisches Konzept anbot, behinderten der Skeuomorphimus der Truhensarkophage und die sich daraus ergebenden Bildfeldbegrenzungen eine solche Darstellungsweise. Dennoch scheint man in West- und Zentralkreta sowie zu Teilen auch im Osten der Insel diesem Typus den Vorzug gegeben zu haben. Der beobachteten unterschiedlichen Verwendung der oftmals selben Motive muss also nicht unbedingt ein vollkommen unterschiedliches Bildverständnis zugrunde liegen, sondern dies kann auch auf die Potentiale des jeweiligen Mediums zurückgeführt werden. Interessanterweise treffen wir in Ostkreta nun auf die Verwendung beider Larnaxformen, und dies zum Teil sogar in denselben Gräbern. Unweigerlich stellt sich also die Frage, wann man wohl dem einen und wann dem anderen Typus den Vorzug gab und ob für eine solche Wahl nicht auch der Wunsch einer umlaufenden Ausgestaltung ausschlaggebend gewesen sein kann. Vielleicht war es für einige Menschen in Ostkreta, insbesondere zwischen dem Golf von Ierapetra und Sitia, eben gerade von großer Bedeutung, manchen Toten in die Tentakel eines Oktopus zu geben oder in eine Unterwasserlandschaft mit Fischen, Argonauten und Schildkröten zu betten.37 Die leicht ausladende Wandung einer Wannenlarnax wird nach oben hin durch eine breitere Lippe begrenzt. Dort finden sich gewöhnlich aber keine Anzeichen für eine Deckelfalz, und bisher konnte auch nur in Ausnahmefällen ein Deckel für diesen Typus nachgewiesen werden.38 Dies setzt sie erneut in Kontrast zu dem truhenförmigen Typus mit seinen walmdachförmigen Bedeckungen. Für uns stellt sich vielmehr die Frage, ob es bei der Wahl einer verschließbaren Larnax um den Wunsch der Bestattungsgemeinschaft ging, den oder die Tote(n) den Blicken der Lebenden zu entziehen? Sollte man im Gegenzug den Leichnam in einer Wannenlarnax während der Bestattung und vielleicht auch bei nachfolgen35
Marinatos 1993, 231, Abb. 235. Watrous 1991, Taf. 83 b (Rethymnon Museum), Taf. 85 e (aus Adele), Taf. 86 a–b (aus Maroula, Rethymnon Museum), Taf. 87 a (Rethymnon Museum), Taf. 90 e–f (Gazi, Heraklion Museum). 37 Dennoch muss angemerkt werden, dass die Einteilung in Bildfelder anhand einer Registereinteilung zum Teil auch auf Wannenlarnakes übergreift, dort aber lediglich gemalt wurde und nicht den starren Vorgaben der Truhe folgt. 38 Preston 2004, 183.
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den Ritualen eben gerade sehen können? War dieser Leichnam, vielleicht auch gerade gebettet in die sich im Inneren befindliche Unterwasserlandschaft, ein ganz unmittelbarer Bezug für die Bestattungsgemeinschaft? Sollte er vielleicht sogar nicht nur visuell, sondern auch haptisch und olfaktorisch wahrgenommen werden können? Abschließend ist zudem anzumerken, dass Wannenlarnakes gewöhnlich in der Mitte der Längs- und Schmalseiten über gegenüberliegende Horizontalhenkel verfügen. Die kräftigen Henkel erlauben es einer Hand problemlos hineinzugreifen, so dass der Sarg im Zuge seiner Niederlegung in der Grabkammer vergleichsweise leicht von vier Personen getragen werden konnte. Truhenlarnakes hingegen verfügen häufig nur über kleine, vertikale Henkel oder manchmal auch nur Löcher in der Wandung, die wohl in erster Linie zur Befestigung ihrer Deckel dienten. Das Design der letzteren war also weniger zum Tragen geeignet, ermöglichte dafür aber ein leichtes Verschließen, während hingegen die wannenförmigen Larnakes getragen werden konnten, aber gewöhnlich keine explizite Vorrichtung zum Verschließen hatten.
Das Meer und der Tod Eine Annäherung an die Bestattungspraktiken Ostkretas Die eingehende Betrachtung der Affordanz einer Wannenlarnax soll im nun folgenden Abschnitt in die Bestattungspraktiken Ostkretas eingebettet werden. Die Publikationslage erlaubt leider vielfach keine Mikrostudien einzelner Gräber, so dass unter Annahme einer gewissen regionalen Vergleichbarkeit die Informationen aus verschiedenen Gräberfeldern zusammengetragen werden müssen. Nach der späteren Palastzeit, in der Bestattungen auf Kreta kaum zu fassen sind,39 verbreiten sich zu Beginn der Nachpalastzeit (SM IIIA) neue Grabformen über nahezu die gesamte Insel. Wohl inspiriert durch die im Gebiet um Knossos schon längere Zeit beheimateten Sitten, scheinen nun auch die Bewohner Ostkretas Aspekte davon in ihre Bestattungspraktiken einzubetten. Neben den zum Teil weiter bestehenden Bestattungen in Felsspalten und Abris40 beginnen sie nun, ihre Toten auch in Felskammergräbern und gelegentlich Tholoi niederzulegen.41 Beide Arten von Kammergräbern waren meist über einen Dro39
Wenige aus SM IA und keine aus SM IB, Watrous 1991, 286; Preston 2004, 179–180. Wie auch Preston bereits formuliert, mag dieser Anschein eines extremen Rückgangs noch durch schwer einzuordnende, da beigabenlose Gräber und durch in den Gräbern gewöhnlich fehlende Keramikleitformen von SM IB verstärkt werden (s. dazu auch Driessen et al. 1997a, 241). Trotzdem bleibt diese Lücke kaum zu schließen, und wir können bisher nur Vermutungen anstellen, was in der späteren Palastzeit, einer Phase äußerst dichter Besiedlung, mit einem Großteil der Toten passierte. 40 Wie beispielsweise in Gournia und Palaikastro (s. dazu Pini 1968, 36; Kanta 1980, 140). 41 Preston 2004, 187; s. dazu auch das oben genannte Tholosgrab aus Mouliana.
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Abb. 10: Kammergrab von Pachyammos, Alexiou 1954, Abb. 1.
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Abb. 11: Kammergrab von Gypsades, Hood et al. 1958–1959, 203, Abb. 5.
mos zugänglich, dessen Öffnung nach der Bestattung durch Steinanhäufungen verschlossen wurde (Abb. 10. 11).42 Gewöhnlich handelt es sich in Ostkreta dabei um Gräber mit Mehrfachbelegungen, deren Bestattungsweise aber keineswegs einheitlich ist. Die Toten wurden mal in ausgestreckter Lage auf dem Boden der Kammer oder des Dromos, seltener auch in Gruben gebettet oder eben als Hocker in Bestattungsbehältnissen wie Pithoi und Larnakes untergebracht. Die genannten Bestattungsbehältnisse müssen sicherlich als ein zentraler Aspekt einer Bestattung betrachtet werden. Durch ihre enge physische Verbindung mit dem Körper des/r Verstorbenen bilden sie nicht nur ein zentrales Utensil im Ablauf einer Bestattung, sondern auch ihren emotionalen Fokus.43 Im Zuge der immer wiederkehrenden Bestattungsrituale werden sie mit einer Bedeutung aufgeladen und somit zum materialisierten Ausdruck der gemeinschaftlichen Praktiken und damit der Haltung einer Gemeinschaft zum Tod. Trotz ihrer im Vergleich zu den Kistensarkophagen (476) weit geringeren Gesamtzahl von 58 Exemplaren, sind wannenförmige Larnakes im östlichsten Abschnitt der Insel das häufigere Bestattungsbehältnis (Abb. 1 und 12. 13 Tabellen nach Preston).44 Bei einer intraregionalen Betrachtung wirkt diese Vorliebe wenig aussagekräftig, da sich in Ostkreta der Anteil aller drei Behältnistypen weitgehend die Waage hält 42
S. Alexiou 1954, 400, Abb. 1, zum Verschließen des Stomion s. beispielsweise Grab 4 in Gypsades, Hood et al. 1958–1959, 203, Abb. 5. 43 Preston 2004, 178. 44 Preston 2004, 186.
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Abb. 12: Relative Nutzung der verschiedenen Bestattungsbehältnisse, Preston 2004, 189, Abb. 6. Abdruck mit frdl. Genehmigung des Oxford Journal of Archaeology, John Wiley & Sons Ltd.
Abb. 13: Relative Nutzung der verschiedenen Bestattungsbehältnisse nach Regionen, Preston 2004, 190, Abb. 7. Abdruck mit frdl. Genehmigung des Oxford Journal of Archaeology, John Wiley & Sons Ltd.
und darüber hinaus auch einfache Inhumationen mehr als ein Drittel aller Bestattungen ausmachen.45 Der Versuch, die in Ostkreta so beliebte Wannenlarnax zur Rekonstruktion einer Regionalidentität heranzuziehen, muss also scheitern.46 Zudem sprechen die wenigen anthropologischen Daten aus Mochlos gegen eine Auswahl der Bestattungsweise nach Alter oder biologischem Geschlecht.47 Auch die Überlegung, auf individueller Ebene einen Zusammenhang zwischen der Bestattungsweise in einer Wannenlarnax und der dem Verstorbenen zugewiesenen Identität zu konstruieren, birgt zahlreiche Fallstricke. Auch wenn ein persönlicher Bezug des/der Verstorbenen zur Unterwasserwelt – mag es in der Tendenz eher profan oder kultisch sein – denkbar ist, macht uns der archäologische Befund deutlich, dass eine Larnax und ihre Benutzung nicht unbedingt an einen bestimmten Verstorbenen gebunden war. Zwar kann in manchen Fällen jedem Bestattungsbehältnis eine einzelne Bestattung zugeordnet werden,48 jedoch gibt es auch Beispiele von bis zu fünf Körperbestattungen in nur einer einzigen Larnax,49 und auch die Kombination einer Körperbestattung mit einer Brandbestattung in einem Sarkophag ist aus den späteren Phasen (SM IIIC) belegt.50 45
Vgl. hierzu die Tabellen in Preston 2004, 188, Abb. 5, zur relativen Häufigkeit von Bestattungen mit oder ohne Behältnis, geordnet nach Regionen, mit Preston 2004, 190, Abb. 7, zur relativen Popularität der Bestattungsbehältnisse im äußersten Osten Kretas. 46 S. dazu auch Preston 2004, 186. 47 Soles et al. 1996; Preston 2004, 193. 48 Zum Beispiel in Kateri Koumos bei Pachyammos (Kanta 1980, 144). 49 S. z. B. das Kammergrab bei Adrymyloi, Kentemi Kefali (Kanta 1980, 185). 50 Ein Grab bei Praesos, in dem in einer Larnax auf eine schon bestehende Körperbestattung
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Abb. 14: Delphin in Meereslandschaft auf einem Gefäß der Nekropole von Pachyammos, Seager 1916, Taf. 8 unten. 9. 14.
Ebenso wurden Larnakes vollkommen leer geborgen, vielleicht ausgeräumt im Zuge einer Sekundärbestattung, oder auch gefüllt mit Knochen sekundärer Bestattungen und damit als Ossuarien dienend.51 Ein Zusammenhang zwischen der individuellen Identität einer Person und des für ihre Bestattung verwendeten Sarkophags ist also eher unwahrscheinlich und könnte höchstens für die allererste Bestattung in Betracht gezogen werden. Insgesamt macht es einem die Heterogenität der Nutzungsweisen sehr schwer, ein Schema zu finden, das sich mit der Identität einer Bestattungsgemeinschaft, einer spezifischen Gruppe oder gar von Individuen in Einklang bringen ließe. Vieles lässt einen vermuten, dass es sich hier ebenso wie bei den früheren Bestattungspraktiken auf Kreta52 um eine Abfolge von Primär- und Sekundärbestattungen handelt und damit ein potentieller Bezug der Larnax zu einer spezifischen Person spätestens im Zuge der späteren Rituale aufgelöst wird. Diese heterogene Larnaxnutzung macht es besonders interessant, dass es sich gerade eben bei den Bestattungen in Pithoi und Larnakes nicht um eine absolute Neuheit in Ostkreta handelt, sondern vielmehr um ein Wiederaufleben vereine Brandbestattung in einer Pyxis auf den Füßen niedergelegt wurde (Kanta 1980, 181). Auf eine vollkommen leere Larnax aus Pachyammos verweist Ingo Pini (Pini 1968, 60), ebenso auf den Fund einer Larnax aus Palaikastro, in der nur Arm- und Beinknochen geborgen werden konnten, sowie zwei weitere Wannenlarnakes aus derselben Region, innerhalb derer und in ihrem direkten Umfeld nicht weniger als 20 Tote festgestellt werden konnten, und die wohl im Sinne eines Ossuariums verwendet wurden (Pini 1968, 60). 52 Panagiotopoulos 2001; Panagiotopoulos 2001/2002. 51
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gangener Bestattungsformen,53 die in ähnlicher Weise bereits in den nahegelegenen palastzeitlichen Gräberfelder von Pachyammos oder Sphoungaras zu finden sind.54 Als eine Art Neuerfindung alter Praktiken, vielleicht sogar Traditionen, ist dieser Rückgriff gerade in dieser Phase umfassender politischer und sozialer Veränderungen auf Kreta als ein möglicher Aspekt einer Erinnerungskultur von besonderer Relevanz. Ein Hinweis darauf mag vielleicht gerade auch die Ikonographie dieser früheren Bestattungen liefern. Unter den großen Gefäßen und Pithoi des Gräberfeldes von Pachyammos sind zwar nur sehr wenige Beispiele mit figürlicher Bemalung zu finden, darunter aber vier bisher einzigartige Gefäße: Drei davon zeigen aufwändig gestaltete springende Delphine in einer Unterwasserlandschaft (Abb. 14)55 und einen Oktopus, dessen Tentakel eine gesamte Gefäßhälfte einnehmen.56 Leider wird auf ihre genaue Fundlage und Verwendung in der Publikation nicht Bezug genommen, aber aufgrund ihrer anzunehmenden Größe57 ist es sehr wahrscheinlich, dass sie als Bestattungsgefäße fungierten. Es scheint, als wären demnach wenigstens einige Verstorbene des palastzeitlichen Pachyammos in Meeresszenen und Unterwasserlandschaften gebettet worden. Dass das Gräberfeld von Pachyammos tatsächlich direkt am sandigen Strand angelegt wurde,58 kann vielleicht als eine vergleichbare Einbettung der Toten in eine tatsächliche Küstenlandschaft gewertet werden.59 Diese tatsächliche als auch ikonographische Einbettung der Toten in Meereslandschaften scheint nun in der Nachpalastzeit in etwas standardisierter Form in den Wannenlarnakes wieder aufzukommen – inwieweit es sich um einen bewussten Rückgriff und Neuerfindung oder um eine eher habitualisierte Fortsetzung dieses Meeresbezugs handelt, lässt sich bisher kaum herausarbeiten. Zu Beginn der Nachpalastzeit scheint auf der Ebene der Bestattungen und des Umgangs mit den Toten in Ostkreta ein Aushandlungsprozess initiiert worden zu sein. Verschiedene aus der Vergangenheit inspirierte Bestattungsweisen ver53
Rutowski 1968, 223, Abb. 1. 3–7; Preston 2004, 186. In Pachyammos konnten insgesamt 213 Pithosbestattungen und sechs Larnakes geborgen werden, und ein ähnliches Bild ergibt sich in Sphoungaras (Seager 1916, 9). Insgesamt sind diese früheren Larnakes wesentlich einfacher gestaltet und selten mit Bemalung, aber gerade die ovalen Beispiele (Seager 1916, Taf. 5. 7. 12) können durchaus als Vorgänger der Wannenlarnakes betrachtet werden. 55 Seager 1916, Taf. 8 unten. 9. 14. 56 Seager 1916, Taf. 13 unten. 57 Leider ohne Angaben und Maßstab. 58 Seager 1916, 8. 59 Andere Bezüge zur Vergangenheit könnten auch in der Nutzungsweise der Sarkophage erkannt werden. Im Falle der Pithoi der palastzeitlichen Gräber wurden die Toten kopfüber in diese Gefäße geschoben und letztere dann mit dem Boden nach oben in der Erde deponiert (Seager 1916, 11). Eigenartigerweise passierte dasselbe mit den länglicheren Sarkophagen, die ebenfalls umgekehrt deponiert wurden (Seager 1916, 13) – ein Aspekt, der auch an einzelnen Fundplätzen der Nachpalastzeit beobachtet werden kann und vielleicht ebenfalls als Rückgriff oder Neuerfindung einer lokalen Tradition verstanden werden muss.
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binden sich mit den neuen Grabformen der Felskammer- und Tholosgräber zu einer neuen Bestattungspraxis. Larnakes scheinen dabei neben Niederlegungen in ausgestreckter Rückenlage auf dem Kammerboden sowohl bei primären Hockerbestattungen als auch bei Sekundärbestattungen eine Rolle gespielt zu haben. Aufgrund der Heterogenität und der vermuteten Abfolge aus Primär- und Sekundärbestattungen kann ein Zusammenhang zwischen der Wahl der Begräbnisweise und den potentiellen Identitätszuweisungen der Bestattungsgemeinschaft nur schwer aufgezeigt werden, und dabei muss man sich natürlich die Frage stellen, ob dieser überhaupt gewünscht war. Inwiefern ist es vielleicht nicht wahrscheinlicher, dass die Auswahl der Larnax und ihre bildliche Ausgestaltung ihre Ursache vielmehr in der Ritualpraxis als in der Konstruktion von Identitäten in den Gemeinschaften der (Über)Lebenden hatte?
Die Unterwasserwelten der Nachpalastzeit als rituelles Medium Meerestiere und -szenen fanden Eingang in ganz unterschiedliche Bereiche nachpalastzeitlicher Lebenswelten, aber sicherlich in ganz besonderem Maße in Darstellungen auf Larnakes. Es ist daher sehr naheliegend, ihnen einen direkten Bezug zu den nachpalastzeitlichen Bestattungspraktiken und Jenseitsvorstellungen zu unterstellen. Dahingegen lenkt ein Vorschlag von Robert Laffineur unsere Aufmerksamkeit auf die regenerativen Fähigkeiten von Oktopoden, deren Fangarme bei einer Verletzung oder beim gezielten Abwerfen in Gefahr nachwachsen. Diese Fähigkeit könnte nach Laffineur im Sinne einer symbolischen Überhöhung als Garant für ein Leben im Jenseits stehen.60 Eine sicherlich sehr spannende Vorstellung, jedoch müssen wir uns dabei die Frage stellen, ob diese faszinierende Fähigkeit der Kopffüßler wirklich so leicht zu beobachten war, wie es Robert Laffineur annimmt. Ohne Zweifel kann beim Jagen, Fischen oder Tauchen festgestellt werden, dass einem solchen Tier hin und wieder ein Arm fehlt. Jedoch ist es ungemein schwieriger daraus auch zu schließen, dass dieser wieder nachwächst. Dafür ist eine langfristige Beobachtung nötig, wie sie heutzutage Aquarien ermöglichen, die in freier Wildbahn aber nur selten gemacht werden kann. Selbst wenn einem das Habitat eines Oktopus bekannt ist und man diesen dort über einen längeren Zeitraum hinweg aufsucht, gelingt es einem nur selten, das Tier mit ausgebreiteten Fangarme aufzufinden; meist trifft man es lediglich gut versteckt in den Höhlen der Felsen an und somit einer genaueren Inspektion weitgehend entzogen. Natürlich ist es nicht auszuschließen, dass diese Beobachtung dennoch gemacht wurde, aber es muss darauf hingewiesen werden, welch intime Kenntnis es hinsichtlich seiner Lebensweise bedürfte. So etwas wäre eventuell bei Gruppen wie Schwammtauchern oder Speerfischern zu erwarten, die 60
Laffineur 1991, 231.
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immer wieder in einem spezifischen Revier aktiv sind. Als Grundvoraussetzung zur Interpretation des Motivs auf Larnakes eignet es sich nur schwer. Auf Truhenlarnakes sind in erster Linie eher emblematisch wirkende Meerestierdarstellungen zu finden.61 Dennoch wird immer wieder auf einige wenige komplexere Kompositionen Bezug genommen, von denen man sich Aufschluss über Jenseitsvorstellungen und den potentiellen Zusammenhang von Tod und Meer erhofft. Auf für unsere Sehgewohnheiten eher unerwartete Weise werden hier Meereswesen in weitreichendere Szenen integriert. Auf einem Beispiel aus Armenoi wird am unteren Rand einer terrestrischen Jagdszene ein Argonaut gezeigt (Abb. 15),62 und eine vergleichbare Anordnung ist bei anderen Larnakes desselben Fundortes zu beobachten.63 Für uns vielleicht noch unerwarteter ist die Langseite einer Larnax aus Kavrochori, auf der ebenfalls terrestrische und marine Aspekte vermengt werden.64 In einem einzigen Bildfeld werden ein Fisch und ein Argonaut unterhalb eines in Draufsicht dargestellten Wagens gezeigt, während links davon ein Vogel auf einer Palme sitzt. Eine in ihrer motivischen Syntax vergleichbare Komposition von Motiven findet sich auch auf der Vorderseite der viel diskutierten Larnax von Episkopi (Abb. 16),65 auf der ein Oktopus unterhalb von drei im Wagen befindlichen Männern abgebildet wird. Die gängigste Interpretation dieser außergewöhnlichen Kombinationen ist, die Meereswesen selbst als Symbol für das Meer und damit als eine Art Chiffre zu verstehen.66 In den Beispielen aus Armenoi wäre dies demnach ein Verweis darauf, dass sich eine Szene auf der anderen Seite des Meeres in einer Art paradiesischem Jenseits abspielt,67 während es in den beiden letzteren Fällen die Überfahrt des Toten über das Meer in ein weit entferntes Jenseits andeuten soll.68 Ingo Pini diskutierte die Möglichkeit einer Jenseitsvorstellung auf der anderen Seite des Meeres bereits 1968 in Anlehnung an ägyptische Vorstellungen,69 eine Idee, die später immer wieder aufgegriffen wurde.70 Dazu bemerkte er aber schon damals, dass man in einem solchen Falle wohl mit mehr Bootsdarstellungen oder -modellen in Gräbern rechnen müsste. Auch nach dem heutigen Publikationsstand ist die Ausbeute diesbezüglich vergleichsweise gering und geht über die berühmte Schiffsdarstellung auf einer Larnax von Gazi71 und der Abbildung eines Bootes im Inneren einer 61
Vgl. beispielsweise Watrous 1991, Taf. 83 d; 85 e; 86 b; 87 a. Larnax 1 von Grab 24 in Armenoi, Watrous 1991, 294, Taf. 87 f. 63 S. z. B. Watrous 1991, Taf. 87 e. 64 Watrous 1991, Taf. 89 c; Marinatos 1993, 233, Abb. 238. 65 Marinatos 1993, 236, Abb. 242. 66 Rutowski 1968, 226–227; Watrous 1991, 294. 299; Marinatos 1993, 236. 67 Watrous 1991, 294 „the argonaut tells us that this scene (…) takes place across the sea, in the Afterworld“. 68 Marinatos 1993, 236. 69 Pini 1968, 74. 70 S. u. a. Laffineur 1991, 234. 71 Watrous 1991, Taf. 90 e. 62
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Abb. 15: Larnax aus Armenoi, Watrous 1991, 294, Taf. 87 f.
Abb. 16: Larnax aus Episkopi, Marinatos 1993, 236, Abb. 242.
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Larnax aus dem Kunsthandel kaum hinaus.72 Wenn man aber in der damaligen Vorstellung das Meer nicht in einem Boot, sondern tatsächlich auf einem Wagen überqueren musste – wie man dies ja aus den beiden genannten ikonographischen Beispielen lesen könnte, stellt sich ebenso wie bei den Booten die Frage nach der geringen Anzahl der Wagenmodelle und -darstellungen in den Gräbern dieser Phase. Den Wagen wie bei Homer als einen Hinweis auf ein Bestattungsritual oder den tatsächlichen Transport der ‚Seele‘ ins Jenseits zu betrachten wie dies Watrous73 und Marinatos74 vorschlagen, ist sicherlich verführerisch, aber aus denselben Gründen schwierig. Eine Anlehnung an ägyptische oder homerische Narrationen ist sicherlich methodisch ein nicht ganz einfaches Unterfangen, und wir müssen uns vielleicht eingestehen, dass anhand dieser wenigen Beispiele eine Annäherung an die Ikonologie der Bilder kaum zu erreichen ist. In einem weiteren Sinne ist aber vorstellbar, dass ein solch prestigeträchtiges Vehikel auch im Sinne einer Selbstdarstellung Eingang in die Bestattungspraktiken einer Elite finden kann. Trotz all dieser Ausführungen, die um diese wenigen Beispiele kreisen, bleibt es weiterhin verwunderlich, warum hier Meereswesen als angebliche Chiffre für das Meer dienen sollen75 und nicht eines der zahlreichen Wassermotive, die Watrous so akribisch für die nachpalastzeitlichen Larnakes herausgearbeitet hat.76 Warum ging es darum, eben nicht die Wasseroberfläche, die mit Hilfe von Spiralen oder Wellenbändern viel leichter hätte dargestellt werden können, sondern die sich im Wasser befindlichen Lebewesen zu zeigen? Bei aller Konzentration auf Bezüge zum Meer darf an dieser Stelle nicht vergessen werden, dass Unterwasserszenarien nicht die einzigen Darstellungen auf Larnakes sind. Darüber hinaus sind es gerade terrestrische Landschaften, ob mit einem ‚exotischen Nilbezug‘ oder nicht, die ein weiteres zentrales Thema bilden. Für unsere Seegewohnheiten ungewohnt werden vielfach auch beide Themen vermengt, wie im Fall der Larnax von Vasilika Anogia (Abb. 17)77 oder auch bei der bereits besprochenen Wannenlarnax aus Milatos, auf der kleine Fische zwischen den Papyruspflanzen schwimmen (S. 453 Abb. 8)78 – eine Beobachtung, die von Nanno Marinatos vielleicht treffend als „Octopus Garden“ angesprochen wird.79 Egal ob über oder unter Wasser sind es immer wieder Landschaften, die eine zentrale Rolle spielen, und in dieser Hinsicht scheint sich die Neupalastzeit von 72
Gray 1974, 47, Abb. 11. Watrous 1991, 301. 74 Marinatos 1993, 234, folgt dabei der Interpretation von Rethymniotakis 1979, 252. 257–58. 75 Beispielsweise Marinatos 1993, 236 „Beneath the vehicle is an octopus, the significance of which is symbolic; I would suggest that the octopus acts as a sign suggesting the sea and the beyond“. 76 Watrous 1991, 289–290. 77 Marinatos 1993, 232, Abb. 237. 78 Kanta 1980, 128, Abb. 52, 6; 133, 2. 79 Marinatos 1997, 288. 73
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Abb. 17: Larnax aus Anogia, Marinatos 1993, 232, Abb. 237.
der Nachpalastzeit nicht allzu sehr zu unterscheiden. Die Beobachtung, dass sowohl die stilistische Ausführung als auch die Motivauswahl der Pflanzen- und Tierdarstelllungen auf den nachpalastzeitlichen Larnakes eng mit der Palaststilund Meeresstilkeramik in Verbindung stehen,80 spricht trotz der unterschiedlichen Medien ebenfalls für gewisse Kontinuitäten sowohl im Handwerk als auch in der Konsumption dieser Bilder. Diese beschränken sich in der Nachpalastzeit nicht nur auf den Bereich der Bestattungssitten, sondern werden in verkürzter Darstellungsweise auch auf Keramik abgebildet und finden somit eine weite Verbreitung in die unterschiedlichsten Lebensbereiche. Dies macht es sehr wahrscheinlich, dass Meereswesen und Unterwasserlandschaften nicht exklusiv dem Tod oder dessen Kontext zugewiesen wurden, sondern sie in einem weiteren Zusammenhang verstanden werden müssen. Werfen wir deshalb abschließend einen kurzen Blick auf eines der spannendsten Beispiele nachpalastzeitlicher Ikonographie, das uns zwar vielleicht nicht die Bedeutung, aber der Wahrnehmung von Unterwasserszenerien etwas näher bringen kann: der Fußboden des Schreins von Agia Triada (Abb. 18).81 Der komplette Boden des kleinen nachpalastzeitlichen Schreins zeigt eine Unterwasserlandschaft mit Fischen, Delphinen und einem großen Oktopus. Die präzisen Darstellungen dieser Unterwasserszenerie und ihrer Lebewesen lädt den/die Betrach80 81
Watrous 1991, 303. Zum Schrein selbst: la Rosa 1991, 256–257, Abb. 8; zum Freskofußboden: Militello 1998, Taf. 13.
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Abb. 18: Fußboden des Schreins von Agia Triada, Militello 1998, Taf. 13.
ter_in ein, direkt unter die Wasseroberfläche zu blicken und nicht auf der Oberfläche zu verharren. Sie evozieren weniger das Gefühl, über das Wasser hinwegzufahren – mag dies nun in einem Boot oder einem Wagen sein –, sondern vermitteln vielmehr den Eindruck, beim Betreten des Schreins direkt in das Medium einzutauchen und schon bald vollkommen davon umgeben zu sein. Aber warum hat man sich hier das Meer in die Siedlung „geholt“? Zu welchen Anlässen und wem mag das Eintreten erlaubt gewesen sein? Welche Rituale fanden in diesem Schrein – oder sollte man vielleicht besser sagen in diesem „Meer“ – statt? Ein Vergleich mit den ostkretischen Wannenlarnakes liegt hier natürlich nahe: In Agia Triada wurde eine Unterwasserlandschaft in den architektonischen Kontext eines Schreins integriert und in Ostkreta auf sehr ähnliche Weise in die beschrie-
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benen wannenförmigen Larnakes. Tim Ingold weist zurecht darauf hin, dass solche Darstellungen hier nicht im Sinne einer modernen Kunstbetrachtung als eine Reflektion auf einem symbolischen Niveau verstanden werden sollten, nicht im Sinne eines bewussten, kartesischen Lösens von einer gelebten Erfahrung, sondern als tieferes Eintauchen in diese Erfahrung, um deren darin liegende Bedeutung zu erfassen.82 Während die PriesterInnen oder die AdorantInnen der Gottheit sich beim Eintreten ins Meer begeben, wird der/die Verstorbene Ostkretas ins Meer gebettet. In beiden Fällen spricht die Darstellungsweise, die einbettende Art ihrer Kompositionen, weniger für eine externalisierte, intellektuelle Reflektion eines Symbols, sondern eher für eine sinnliche und damit unmittelbare Erfahrung im Kontext dieser Rituale. Die Meereswesen können aus dieser Perspektive keine Chiffre, kein symbolischer Verweis auf etwas anderes, nicht unmittelbar Greifbares sein, wie dies so oft gedeutet wird. Sie sind kein Symbol für das Meer, sondern als Teil einer Unterwasserlandschaft sind sie das Meer.
Fazit In der ostkretischen Nachpalastzeit verbinden sich einige wohl als Rückgriff auf vergangene Zeiten zu verstehende Bestattungspraktiken mit den sich verbreitenden Kammergräbern zu einer neuen Grabsitte, die sich aber gerade durch ihre Heterogenität in den Bestattungsweisen auszeichnen. Dies macht es schwer oder gar unmöglich, einen Zusammenhang zwischen der Wahl des Bestattungsbehältnisses und einer potentiellen Identitätszuweisung der Bestattungsgemeinschaft herauszuarbeiten, wirft aber zugleich die Frage auf, inwiefern eine solche Zuweisung von den Gemeinschaften dieser Region überhaupt intendiert war. Vielleicht sollte die Bestattung beispielsweise in einer Wannenlarnax eben nicht in erster Linie eine Funktion in der Gemeinschaft der Überlebenden haben, nicht dem/der Verstorbenen oder seiner/ihrer Familie eine Rolle oder ein Status in der Gemeinschaft zuordnen, sondern eine ganz andere rituelle Erfahrung evozieren. Dass es trotz der gravierenden Neuerungen gerade die Pithoi und Wannenlarnakes samt ihrer ikonographischen Gestaltung mit Unterwasserszenarien sind, die als Rückgriff verstanden werden können, ist unter Anbetracht ihrer engen physischen Verbundenheit mit dem Leichnam und der daraus resultierenden Bedeutung als emotionaler Fokus eines Begräbnisses vielleicht nicht verwunderlich. Trotz all der einhergehenden Veränderungen im Ort ihrer Niederlegung erlaubten die eingangs beschrieben Wannenlarnakes weiterhin eine Bettung der Toten in eine Unterwasserlandschaft. Die Bettung der Verstorbenen im Meer und das Tragen der Larnax in die Kammer war sicherlich ein zentraler Bestandteil des Begräbnisrituals, das unter den Augen der Bestattungsgemeinschaft performiert 82
Ingold 2000, 112.
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Abb. 19: Lage einer Hockerbestattung in einer Larnax, Pini 1968, Abb. 113.
wurde. Aufgrund der fehlenden Deckel der Wannenlarnakes war es dabei immer auch möglich, den Toten im Meer zu sehen, denn die Hockerlage erlaubt es durchaus, zwischen Beinen und Kopf einen Blick auf die Fische, Schildkröten und Delphine zu erhaschen, in deren Gesellschaft der/die Tote sich befand (Abb. 19). Die Lage des/der Toten in einer Larnax zeigt, dass im Falle eines offenen Sarkophages während der Bestattungsriten die auf der Wandung befindlichen Unterwasserdarstellungen gut sichtbar waren. Ob es sich dabei um einen Widerhall früherer Seebestattungen handelt, wie Ellen Davis dies bereits als These formuliert hat,83 ist schwer zu beweisen. Sicherlich ging es dabei aber nicht um einen entrückten symbolischen Bezug zum Meer, sondern um das unmittelbare Evozieren einer sinnlichen Erfahrung, wie sie auch im Falle des Schreins von Agia Triada nachvollzogen werden kann. Dem Meer kann in der Nachpalastzeit vielleicht kein exklusiver Bezug zum Tod konstatiert werden, aber eine Rolle als zentrales Medium in den Kultpraktiken der damaligen Gemeinschaften.
Literaturverzeichnis Alexiou 1954: Alexiou, Stylianou, Υστερομινωικός τάφος Παχυάμμου, Kritika Chronika 1954, 399–412. Boyd-Hawes 1908: Boyd-Hawes, Harriet, Gournia, Vasiliki and Other Prehistoric Sites on the Isthmus of Hierapetra, Crete; Excavations of the Wells-Houston-Cramp Expeditions 1901, 1903, 1904 (Philadelphia 1908). 83
Zitiert bei Marinatos 1997, 282.
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Anja Bettenworth Der elegische Tod und das Meer Die Todesszene im Brief des Leander (Ovid, epist. 18) und die Tradition der Grabinschriften in der römischen Elegie
Zusammenfassung Ovids 18. und 19. Heroidesbrief sind zentrale Zeugnisse der Hero-und-LeanderSage. Der Tod Leanders auf See wird eng mit der gefährdeten Liebe verknüpft, wie es in der römischen Elegie oft geschieht, etwa bei wörtlich zitierten Grabinschriften. Der elegische Sprecher stellt sich z. B. vor, dass er aus Liebeskummer sterben und ein aufschlussreiches Epitaph erhalten werde. Auch Leander malt sich in Ov. epist. 18 seinen Tod aus und verwendet dabei Motive, die häufig in Grabepigrammen vorkommen. Allerdings fehlt ein wörtlich zitiertes Epitaph. Dies lenkt den Blick auf die Besonderheiten der Sage, die sie von anderen Heroidesbriefen unterscheiden. Eine Untersuchung dieser Eigenheiten erlaubt neue Rückschlüsse auf die umstrittene Funktion von (Grab-)Inschriften in der römischen Elegie.
In der antiken Literatur finden sich zahlreiche Auseinandersetzungen mit dem Meer als Länder und Menschen verbindendem, andererseits aber auch gefährlichem und potentiell todbringendem Element. Zahlreiche mythische Helden wie Jason, Odysseus und Aeneas bestreiten ihre Abenteuer über weite Strecken auf See oder gelangen wenigstens mit Schiffen zum Ort des epischen Geschehens wie die Teilnehmer des Trojanischen Krieges. In der Komödie wie auch im antiken Roman werden Liebespaare durch einen Schiffbruch getrennt oder Händler durch den Untergang ihrer Schiffe in den Ruin getrieben. Der Tod auf See ist wegen der fehlenden Bestattungsmöglichkeit schon in den frühsten Zeugnissen gefürchtet (s. Hom. Od. 5, 306–12: der schiffbrüchige Odysseus preist die Gefährten glücklich, die an Land vor Troja gefallen sind), und die hellenistischen Epigrammatiker spielen in zahlreichen Gedichten mit diesem Thema.1 In der römischen Literatur wiederum ist der Gedanke, dass die Ausbeutung des Meeres oder gar die Seefahrt generell für die auf dem Land lebende 1
Dazu U. Gärtner 2009, 36 f. (mit einer Einordnung der Motive in den generellen Tadel von Schiffen und Schiffahrt) und der Beitrag von L.-M. Günther in diesem Band.
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Menschheit einen Frevel darstelle, weit verbreitet.2 Andererseits werden die eigenen seefahrerischen Leistungen oftmals stolz hervorgehoben.3 Die Reise auf dem unberechenbaren Meer kann auch generell als eine Metapher für die Reise des Lebens oder den Fortgang der eigenen literarischen Produktion verwendet werden,4 und nicht zuletzt dient das auf dem Meer fahrende Schiff bei Cicero als Bild für den Staat, der durch geeignete Lenker auf rechtem Kurs gehalten werden muss.5 Ein konkreter Bezug auf das Mittelmeer spielt bei diesen Überlegungen vor allem dann eine Rolle, wenn bestimmte Ausgangs- oder Zielorte für die Reise genannt werden, d. h. streng genommen steht in diesen Fällen nicht das Meer als solches im Blickpunkt, sondern das umliegende Land, von dem aus oder zu dem hin sich die seefahrenden Personen bewegen. Ausnahmen bilden Stellen, in denen z. B. einzelne Meeresregionen wegen der dort befindlichen Untiefen oder häufig auftretender Stürme als besonders gefährlich eingestuft werden, wie etwa die Adria zu bestimmten Jahreszeiten6 oder die wegen ihrer wechselnden Strömungen tückischen Syrten vor der Küste Nordafrikas.7 Solche Meeresgebiete können dann sogar als Metaphern für abstrakte Gefahren dienen.8 Eine Kombination all dieser Elemente findet sich im Briefwechsel von Hero und Leander in Ovids Heroides (epist. 18 und 19). Die Erzählung von den beiden Liebenden aus Sestos und Abydos, die nicht nur durch die Meerenge zwischen Europa und Kleinasien, sondern auch durch die Ablehnung ihrer Familien getrennt sind und sich daher nur begegnen können, wenn Leander die Meerenge heimlich durchschwimmt, enthält eine Reihe von Anspielungen auf den stets drohenden Tod des jungen Mannes. Leander malt sich sogar explizit aus, wie er ertrinkt und sein Leichnam sodann an den Strand von Sestos gespült und von Hero gefunden wird – eine Vorstellung, die er gleich darauf als Vorzeichen (omen) seines Untergangs bezeichnet. (Ov. epist. 18,193–202). Fantasien des elegi2
S. z. B. Horaz, carm. 1,3. Tibull (1,1,49–50) lehnt zwar den entbehrungsreiche Seereisen einschließenden Lebenswandel der Kaufleute für sich selbst ab, verbindet dies aber nicht mit einem generellen Tadel der Seefahrt. 3 S. z. B. Tac. Agr. 10,5 über die seefahrerischen Pionierleistungen des Agricola in Britannien: hanc oram novissimi maris tunc primum Romana classis circumvecta insulam esse Britanniam adfirmavit, ac simul incognitas ad id tempus insulas, quas Orcadas vocant, invenit domuitque. 4 S. z. B. Catull 68,13: accipe, quis merser fortunae fluctibus ipse, zum Seesturm in der antiken Literatur allgemein s. Kahlmeyer 1934 und zum Sturm als Metapher Mertens 1987, speziell zum Bild des Seesturms als Lebenskrise bei Ovid s. Klodt 1996 und Bettenworth 2011. 5 Cic. in Pis. 9,20. Zur Tradition dieses Bildes s. Schäfer 1972. 6 S. Ov. trist. 1,11,1–4: Littera quaecumque est toto tibi lecta libello, / est mihi sollicito tempore facta viae. / Aut haec me, gelido tremerem cum mense Decembri, / scribentem mediis Hadria vidit aquis. Es folgt eine Beschreibung der ebenso unruhigen Weiterfahrt durch die Ägäis. 7 Verg. Aen. 1,110–2 (Aeneas berichtet über seine im Seesturm verlorenen Schiffe): tris Eurus ab alto / in brevia et Syrtis urget, miserabile visu, / inliditque vadis atque aggere cingit harenae. 8 S. Prop. 3,24,15 f. (über das Ende einer stürmischen Liebesbeziehung): ecce coronatae portum tetigere carinae, / traiectae Syrtes, ancora iacta mihi est.
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schen Ichs über den eigenen Tod oder den des Partners oder der Partnerin sind in der römischen Elegie insgesamt häufig9 und werden nicht selten mit einem Grabepigramm kombiniert, das der Sprecher oder die Sprecherin für sich oder die geliebte Person entwirft.10 Diese Tendenz wird durch die traditionelle thematische und metrische Nähe der Gattungen Elegie und Epigramm begünstigt, die dazu führt, dass die römischen Elegiker insgesamt oft ‚Inschriften‘ verschiedener Art in ihre Gedichte einbauen.11 Allein in den Heroides finden sich neun Beispiele (den in seiner Echtheit umstrittenen Sapphobrief eingerechnet).12 Da gerade in den Heroides das Motiv des Meers als trennendes Element häufig anzutreffen ist13 und der Tod auf See, wie er Leander der Sage nach ereilt, zugleich ein beliebtes Motiv der Epigrammatik darstellt, hätte es nahegelegen, in den elegischen Briefwechsel von Hero und Leander ebenfalls ein Epitaph einzuflechten. Dies ist jedoch nicht der Fall. Keiner der beiden Briefe erwähnt eine Inschrift oder führt sie wörtlich an, weder in der Imagination der Schreiber, noch als reales Objekt innerhalb der erzählten Welt.14 Warum dies nicht geschehen ist, soll durch 9
S. dazu Rosati 1992, 75–79 und 139 mit einem Verweis auf den Brief der verlassenen Ariadne an Theseus, Ov. epist. 10. Die Situation ist hier jedoch eine andere. In der kurzen Darstellung ihres möglichen eigenen Todes geht Ariadne davon aus, dass sie auf der Insel einsam sterben und unbegraben bleiben werde (epist. 10,119–124), weshalb sie auch keine Grabinschrift für sich entwirft. In den letzten Versen der Elegie wiederum, in denen sie den davonsegelnden Theseus noch einmal nachdrücklich zur Rückkehr auffordert, dient der Gedanke, er könne sie, wenn schon nicht retten, so doch wenigstens begraben, als Trost, epist. 10,149–50: flecte ratem, Theseu, versoque relabere velo; /si prius occidero, tu tamen ossa feres. Der Gedanke an den Tod ist in dem Brief jedoch nicht vorherrschend, zumal dem mit dem Mythos vertrauten Leser klar ist, dass Ariadne nicht sterben, sondern von Bacchus gerettet werden wird. Auch aus diesem Grund wäre eine Grabinschrift am Ende des Briefs hier denkbar unpassend. 10 S. z. B. Tib. 1,3,53–8; Ov. trist. 3,3,65–80, dazu Bettenworth 2016, 88–197. 11 In der römischen Elegie finden sich insgesamt über dreißig Beispiele, dazu Bettenworth 2016 mit entsprechenden Interpretationen. Alföldy 1991 und Nelis-Clément et al. 2013 führen diese Vorliebe der augusteischen Dichter unter anderem auf das Bauprogramm des Augustus zurück, das die Etablierung zahlreicher neuer Inschriften im Stadtbild nach sich zog und die Dichter so für die darin liegenden literarischen Möglichkeiten sensibilisiert haben könnte. 12 Ov. epist. 2,74 (Inschrift für die Statue des Demophoon), Ov. epist. 2,147–8 (Autoepitaph der Phyllis), Ov. epist. 5,22 und epist. 5,29–30 (in Baumrinde geritzte Liebesbekundungen des Paris an Oenone), Ov. epist. 7,195–6 (Autoepitaph der Dido), Ov. epist. 14,129–30 (Autoepitaph der Hypermestra), Ov. epist. 15,183–4 (Weihinschrift der Sappho), Ov. epist. 17,87–8 (mit Wein geschriebene Liebesbotschaft des Paris an Helena), Ov. epist. 20,239–40 (Weihinschrift des Acontius). 13 Außer Hero und Leander werden in den Heroides auch Penelope (epist. 1), Phyllis (epist. 2), Hypermestra (epist. 6), Dido (epist. 7) und Hypsipyle (epist. 14) durch eine Seefahrt von ihren Geliebten getrennt. Bei Medea (epist. 12) wird ihre persönliche Situation dadurch verschärft, dass sie nach der Flucht auf der Argo auch von ihrer Familie getrennt ist. 14 Auch das wohl aus dem 5. Jh. stammende Epyllion des Musaios enthält keine Grabinschrift. Dagegen entwirft der wie Ovid in augusteischer Zeit schreibende Antipater von Thessalonike ein Epigramm, das auch ein gemeinsames Grab von Hero und Leander erwähnt und als eine Variante eines Epitaphs aufgefasst werden kann (Gow et al. 1968, II 29 glauben allerdings, das Gedicht sei deiktisch zu verstehen und „intended for inscription on a landscape professing
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die Textanalyse im Vergleich mit anderen Heroidesbriefen geklärt werden, um so einen besseren Blick auf den Umgang Ovids mit dem Thema der vom Meer getrennten Liebenden zu gewinnen. Zugleich werden sich dadurch Aufschlüsse über die Technik ergeben, die die Elegiker sonst bei der Verwendung von eingelegten Inschriften anwenden. Über die Vorläufer der Geschichte von Hero und Leander lassen sich nur ungefähre Aussagen treffen. Ovids Darstellung geht vermutlich auf hellenistische Vorbilder zurück, die jedoch nicht erhalten sind.15 Wichtigster Hinweis vor Ovid ist eine Bemerkung in Vergils Georgica, wo Leanders Schicksal als Beispiel für die destruktive Kraft der Liebe dient.16 Vergil benutzte, wie die Art der Zitiertechnik vermuten lässt, wahrscheinlich ein alexandrinisches Vorbild, und auch für Ovid selbst ist dies anzunehmen. Die vor längerer Zeit gefundenen hexametrischen Papyrusfragmente SH adesp. Pap. 901A und 951 könnten zu einem verwandten Traditionsstrang gehören,17 sind aber wegen ihres stark fragmentierten Zustandes, der zwar einzelne, durchaus zum Mythos passende Worte, aber keine konkreten Anklänge an Ovid erkennen lässt, für die Quellenfrage der Heroides wenig aufschlussreich. Ein Spiel mit dem Mythos findet sich sonst nur in dem oben erwähnten Epitaph des Antipater von Thessalonike und einem weiteren seiner Epigramme, in dem er den Tod der Helle und das Schicksal von Hero und Leander unter den tragischen Vorläufern eines jüngeren Unglücks auf dem Hellespont anführt.18 Strabo erwähnt einen „Turm der Hero“ als Landmarke in Sestos, ohne to represent it, for the subject was treated in more than one Roman fresco“). Der Gedanke, den Mythos mit einer Inschrift und dem Verweis auf ein Grab zu verknüpfen, lag jedenfalls schon in augusteischer Zeit nicht fern. Der Text lautet (AP 7,666 = Garland of Philip 129–34): Οὗτος ὁ Λειάνδροιο διάπλοος, οὗτος ὁ πόντου / πορϑμὸς ὁ μὴ μούνῳ τῷ φιλέοντι βαρύς•/ ταῦϑ’ Ἡροῦς τὰ πάροιϑεν ἐπαύλια, τοῦτο τὸ πύργου / λείψανον, ὁ προδότης ὧδ’ ἐπέκειτο λύχνος. / κοινὸς δ’ ἀμφοτέρους ὅδ’ ἔχει τάφος, εἰσέτι καὶ νῦν / κείνῳ τῷ φϑονερῷ μεμφομένους ἀνέμῳ. 15 Auf Tetradrachmen von Abydos erscheint der Mythos in den Prägungen aus der Zeit nach 196 v. Chr., womöglich aus augusteischer Epoche, kaiserzeitliche Prägungen aus Sestos zeigen entsprechende Bilder. Zu sehen ist jeweils Leander, der das Meer durchschwimmt und sich dabei an Hero orientiert, die ihm von einem Turm aus mit ihrer Fackel leuchtet, s. Head 1963, 539–540 (zu Abydos) und 261 (zu Sestos). Zu den bildlichen Darstellungen des Mythos, die seit dem 1. Jh. v. Chr. greifbar sind, s. Kossatz-Deissman 1997. 16 Verg. georg. 3,258–263: quid iuuenis, magnum cui uersat in ossibus ignem / durus amor? nempe abruptis turbata procellis / nocte natat caeca serus freta, quem super ingens / porta tonat caeli, et scopulis inlisa reclamant / aequora; nec miseri possunt reuocare parentes, / nec moritura super crudeli funere uirgo. Zur Sage von Hero und Leander in der lateinischen Literatur s. Bajard 2002. Ältere, aber nützliche Überblicke über den Mythos bieten Färber 1961 und Jellinek 1890. 17 S. dazu Thomas 1988, 89 und Snell 1939, 540–542. Für die Editio princeps des Fragments SH 901A s. Maehler 1982; für die Editio princeps von Fragment SH 951 Roberts 1938, nr. 486 S. 98. 18 AP 9,215 = Garland of Philip 215-20. Αἰεὶ ϑηλυτέρῃσιν ὕδωρ κακὸν Ἑλλήσποντος, / ξεῖνε· Κλεονίκης πεύϑεο Δυρραχίδος. / πλῶε γὰρ ἐς Σηστὸν μετὰ νυμφίο, ἐν δὲ μελαίνῃ / φορτίδι τὴν Ἕλλης
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aber näher auf die Sage einzugehen.19 Beide wirkten in augusteischer Zeit, so dass sie für die Frage nach möglichen Vorbildern Ovids höchstens indirekt relevant sind. Den einzigen ausführlichen antiken Vergleichstext bietet erst das Epyllion des spätantiken griechischen Dichters Musaios.20 Ob außer Antipater auch andere Autoren das Thema unter Rückgriff auf die Tradition von Grabepigrammen gestaltet haben, lässt sich aus den erhaltenen Fragmenten nicht erschließen, so dass die Analyse sich zunächst auf den Ovidtext konzentrieren muss. Das Schreiben Leanders weist im Vergleich zu den übrigen Heroidesbriefen mehrere Besonderheiten auf. Es schreibt nicht eine liebende Frau an den lange verschollenen oder im Streit von ihr getrennten Partner, sondern die Verfasser sind zwei Liebende, die sich ihrer gegenseitigen Zuneigung sicher sind und den Aufenthaltsort des jeweils anderen kennen.21 Sie sind erst seit wenigen Tagen getrennt (epist. 18,25–6: septima nox agitur (…) sollicitum raucis ut mare fervet aquis) und planen, bei der nächstmöglichen Gelegenheit wieder zusammenzuμοῖραν ἀπεπλάσατο. / Ἡροῖ δειλαίη, σὺ μὲν ἀνέρα, Δηίμαχος δὲ / νύμφην ἐν παύροις ὠλέσατε σταδίοις. Th. Gärtner 2009 diskutiert eine mögliche Beziehung eines hellenistischen Epigramms, das entweder Poseidipp oder Asklepiades zugeschrieben wird, zum Hero und LeanderMythos (AP 5,209 = HE 980–7 GP [dort dem Asklepiades zugerechnet] = Poseidipp epigr. 128 Austin/Bastianini = Asklepiades epigr. 36 Clack). Der Text bietet tatsächlich einige Motive, die auch in der Erzählung von Hero und Leander erscheinen, zeigt aber auch deutliche Abweichungen. So wird in dem Epigramm der Mann von Liebe ergriffen, als er die Frau durch die Wellen an der Küste der mit dem Beinamen Παφίη bezeichneten Göttin Aphrodite (also wohl in der Nähe von Paphos auf Zypern) schwimmen sieht. Das Schwimmen ist nicht eine Notlösung, um den Geliebten sehen zu können, sondern löst die Liebesbeziehung erst aus. Der Vergleich des liebeskranken Mannes mit einem Schiffbrüchigen ähnelt zwar oberflächlich einem Gedanken in Ovid epist. 18,119–122 (dazu u. Anm. 27), ist aber bei näherem Hinsehen ganz auf den Gegensatz von Land und Meer bezogen, der bei Ovid keine Rolle spielt. Der Text lautet: Σήν, Παφίη Κυϑέρεια, παρ’ ἠιόν’ εἶδε Κλέανδρος / Νικοῦν ἐν χαροποῖς κύμασι νηχομένην· / καιόμενος δ’ ὑπ’ Ἔρωτος ἐνὶ φρεσὶν ἄνϑρακας ὡνὴρ / ξηροὺς ἐκ νοτερῆς παιδὸς ἐπεσπάσατο. / χὠ μὲν ἐναυάγει γαίης ἔπι, τὴν δὲ ϑαλάσσης / ψαύουσαν πρηεῖς εἴχοσαν αἰγιαλοί. / νῦν δ’ ἴσος ἀμφοτέροις φιλίης πόϑος· οὐκ ἀτελεῖς γὰρ / εὐχαὶ τὰς κείνης εὔξατ’ ἐπ’ ἠιόνος. 19 Strabo 13,1,22 = p. 591C: ἔστι δὲ ἡ Σηστὸς ἐνδοτέρω κατὰ τὴν Προποντίδα ὑπερδέξιος τοῦ ῥοῦ τοῦ ἐξ αὐτῆς διὸ καὶ εὐπετέστερον ἐκ τῆς Σηστοῦ διαίρουσι παραλεξάμενοι μικρὸν ἐπὶ τὸν τῆς Ἡροῦς πύργον, κἀκεῖϑεν ἀφιέντες τὰ πλοῖα συμπράττοντος τοῦ ῥοῦ πρὸς τὴν περαίωσιν τοῖς δ’ ἐξ Ἀβύδου περαιουμένοις παραλεκτέον ἐστὶν εἰς τἀναντία ὀκτώ που σταδίους ἐπὶ πύργον τινὰ κατ’ ἀντικρὺ τῆς Σηστοῦ, ἔπειτα διαίρειν πλάγιον καὶ μὴ τελέως ἐναντίον ἔχουσι τὸν ῥοῦν. 20 Zu den Beziehungen zwischen den Heroidesbriefen 18 und 19 und dem Epyllion des Musaios s. Schott 1957. Zu den Besonderheiten von Musaiosʼ Version der Hero und LeanderErzählung, insbesondere zu den Beziehungen zum griechischen Roman vgl. Dümmler 2012 mit weiterführender Literatur. 21 Diese für die Heroides durchaus ungewöhnliche Situation wird von Volk 1996, 98–99 zu Recht stark hervorgehoben. Hintermeier 1993, 75 betrachtet die Überlegungen der beiden Liebenden und den in den Briefen nicht mehr dargestellten Entschluss Leanders, trotz Sturm den Hellespont zu durchqueren, als Ergebnis typisch elegischer Verhaltensmuster.
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kommen. Räumlich sind sie sich so nah, dass sie dasselbe Unwetter beobachten und daraus ihre Schlüsse ziehen können (epist. 18,7–8: ipsa vides caelum pice nigrius et freta ventis / turbida perque cavas vix adeunda rates).22 Anders als in den meisten anderen Heroidesbriefen, in denen die Schreiberin gewöhnlich ihren verletzten Gefühlen Luft macht und die Treulosigkeit des Geliebten beklagt (oder sie zumindest befürchtet), ohne dass der Kontext Aufschluss darüber gibt, wie der Brief den Adressaten erreichen oder was er genau bewirken soll, haben die Briefe des Leander und der Hero die Aufgabe, die Wartezeit zu verkürzen und die Gegenwart des anderen notdürftig zu ersetzen (epist. 18,217–8: interea pro me pernoctet epistula tecum, / quam precor ut minima prosequar ipse mora! ). Diese sehr konkrete Funktion, die auch in der antiken Brieftheorie öfter thematisiert wird,23 wird dadurch unterstrichen, dass Leander ausdrücklich darauf eingeht, warum zwar der Brief, aber nicht er selbst zu Hero gelangen kann: Die Überquerung des Hellespont ist bei dem herrschenden Seesturm nur für einen besonders mutigen Seemann möglich, aber nicht für noch so geübte Schwimmer. Eine Überfahrt mit dem Schiff kommt wiederum für Leander nicht in Frage, weil er damit bei den Einwohnern von Abydos Verdacht erregt und seine Liebe, die von seinen Eltern missbilligt wird, möglicherweise verraten hätte (epist. 18,9–14). Die für die römische Liebeselegie typische schwierige Ausgangssituation der Beteiligten ergibt sich hier also aus einer Kombination verschiedener widriger Faktoren. Das Meer ist dabei das trennende und potentiell gefährliche, aber an sich nicht unüberwindliche Element. Seine hauptsächliche Wirkung besteht darin, dass die Liebenden sich zugleich nah und fern sind, aber durch menschlichen Mut und menschliche Fertigkeiten wie die Seefahrt zueinanderfinden können. Es lässt daher die Gefährdung menschlichen Lebens als auch die Erfindungsgabe und die Risikobereitschaft der Betroffenen hervortreten und eignet sich deshalb gut als Sinnbild menschlicher Existenz überhaupt. Die Ablehnung der Eltern spielt demgegenüber in der konkreten Situation eine ungeordnete Rolle. Sie liefert einstweilen nur die Begründung dafür, warum die Überwindung der Meerenge auf eine besonders gefährliche Weise (durch Schwimmen) erfolgen muss und nicht mit dem Schiff bewerkstelligt werden kann. Weitere Konsequenzen dieser Ablehnung, die z. B. bei Liebesbeziehungen in der antiken Komödie eine wichtige Rolle spielen, werden im Kontext des Briefwechsels ausgeblendet.24 Präsent sind dagegen die Gefahren, die sich aus dem stürmischen Meer ergeben. Sie lassen sich grob in drei Kategorien einteilen: 22
Die Sturmbeschreibung selbst weist, wie oft bemerkt wurde, Parallelen zur Darstellung des Unwetters in der Ceyx und Alcyone-Erzählung der Metamorphosen auf. S. dazu z. B. Bate 2004, 303 f., Griffin 1981, 151 und Hardie 2002, 140. 23 Vgl. Ciceros prägnante Formulierung, Briefe seien amicorum conloquia absentium (Cic. Phil. 2,7). 24 Zu diesem Motiv vgl. Rosati 1996, 50 f. Bei Musaios sind es die reichen Eltern der Hero, die Leander als Schwiegersohn ablehnen, s. Musaios 179–80 und 190.
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1. Gefahren, die vom Meer generell ausgehen, besonders dann, wenn es durchschwommen und nicht mit dem Schiff durchfahren wird (z. B. Ov. epist. 18,83–4; Ov. epist. 19,165–166: Gefahr der Erschöpfung); 2. Gefahren, die speziell von einem stürmischen Meer ausgehen, vor allem durch Wind, Regen und Wellen (z. B. Ov. epist. 18,137–8; Ov. epist. 19,71– 78); 3. Gefahren, die speziell vom Hellespont ausgehen (z. B. Ov. epist. 18,139–142; Ov. epist. 19,123–128). Alle drei Kategorien werden sowohl von Hero, als auch von Leander thematisiert und mit der drohenden Todesgefahr verbunden. Am häufigsten erscheinen, bedingt durch die besondere Situation der Liebenden, die durch den Seesturm hervorgerufenen Gefahren, die gegen die Liebessehnsucht und die schwimmerischen Fähigkeiten Leanders abgewogen werden. Seine Schwimmkünste hebt Leander gleich zu Anfang seines Briefes hervor, indem er betont, die schon für sich genommen gefährliche Meerenge mehrfach durchquert zu haben.25 Sein Körper ersetze ihm das Schiff, und solange er Kurs auf Sestos halte, sei er trotz der Anstrengung stark und kräftig,26 wenn er sich von Hero entferne, fühle er sich wie ein naufragus, d. h. wie ein Mensch, der nach Verlust des sicheren Schiffs dem Tode nahe ist.27 Schon früher hatte er Hero gleichsam als orientierungs- und lebensspendende Kraft dargestellt: Sie sorgt mit ihrer Fackel dafür, dass er Kurs auf Sestos halten und die traditionellen Sternbilder, die anderen Seefahrern den Weg weisen, verschmähen kann (Ov. epist. 18,149–160). Sie flößt ihm neue Kraft ein, wenn die Erschöpfung ihn zu übermannen droht und erscheint ihm so als gleichsam himmlische Gestalt.28 Die glückbringende Wirkung der Hero entfaltet sich überdies an einer Meerenge, die zuvor viele unschuldige Leben gefordert 25
Ov. epist. 18,5–6: cur mea vota morantur [sc. di] / currere me nota nec patiuntur aqua? Ov. epist. 18,148: idem navigium navita vector ero; Ov. epist. 18,83–88: Iamque fatigatis umero sub utroque lacertis / fortiter in summas erigor altus aquas. / ut procul aspexi lumen, ’meus ignis in illo est: / illa meum,’ dixi, ’litora lumen habent!’ / et subito lassis vires rediere lacertis, / visaque, quam fuerat, mollior unda mihi. 27 Ov. epist. 18,119–122: siqua fides vero est, veniens hinc esse natator, / cum redeo, videor naufragus esse mihi. / hoc quoque, si credes: ad te via prona videtur; / a te cum redeo, clivus inertis aquae. Die Verse sind allerdings textkritisch umstritten. Housman 1897, 414–415 betrachtet sie als Interpolation, Palmer 1898 dagegen hält sie für genuin, konjiziert aber für das bei Ovid ungewöhnliche credis mit metrischer Dehnung der zweiten Silbe die unauffällige Form credes. Umstritten ist auch die Konjektur hinc (statt huc), s. dazu Rosati 1996, 105. Zuvor war der Schiffbruch nur indirekt thematisiert worden, als Leander sich an die Eisvögel erinnert, die er bei früheren Durchquerungen des Hellespont beobachtet habe und in deren Rufen er die Klage der Alcyone um ihren geliebten, bei einem Schiffbruch ums Leben gekommenen Ceyx erkannte, Ov. epist. 18,81–2: Alcyones solae, memores Ceycis amati, / nescio quid visae sunt mihi dulce queri. Zu den Zweifeln, die an der Echtheit der Heroidesbriefe 18 und 19 insgesamt geäußert wurden (so z. B. auch von Gow et al. 1968, II 29), vgl. Beck 1996. 28 Ov. epist. 18,169–70: digna quidem caelo es—sed adhuc tellure morare, / aut dic, ad superos et
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und sogar nach einem ihrer Opfer den Namen Hellespont erhalten hat. Auf diese Namensetymologie spielen sowohl Hero als auch Leander an, und strenggenommen sind diese mythischen Bezüge, neben kurzen Erwähnungen der jeweiligen Heimatstädte und ihrer kurzen Distanz, die einzigen konkreten Hinweise auf den spezifischen Schauplatz und ein spezifisches Meer.29 Es ergibt sich, dass die Überquerung der Meerenge von beiden Partnern zwar als potentielles, aber doch kalkulierbares Risiko aufgefasst wird. Schwierigkeiten bereitet nicht so sehr das Meer an sich, als vielmehr der Wind, der die Wellen aufwühlt und entsprechend von den Liebenden getadelt wird.30 Diese Konstruktion ist erforderlich, weil nur so das für die Elegie grundlegende Dilemma – soll Leander die mehrfach geglückte Überquerung auch im Seesturm wagen? – überhaupt erst entstehen kann. Eine unmöglich zu überwindende Entfernung oder ein unbekannter Aufenthaltsort der Geliebten würde dagegen ganz andere Fragen aufwerfen, wie es beispielsweise der Brief der Penelope an den auf See verschollenen Odysseus (Heroides 1) illustriert. Indem der Seesturm den Gedanken an einen Tod auf See wahrscheinlich macht, treten auch die Opfer ins Bewusstsein, die gerade dieses Meer früher gefordert hat. Das gilt sogar für Erzählungen, in denen überhaupt kein Seesturm vorkommt, und die daher nur indirekt vergleichbar sind. Ausgerechnet die namengebende Helle ertrinkt nämlich nicht aufgrund der unruhigen See, sondern weil sie sich beim Flug über das Wasser nicht mehr auf dem Rücken des Goldenen Widders halten kann.31 Dem Meer wird hier also eine in gewisser Weise mihi qua sit iter! Der Vergleich Heros mit einer Göttin oder einem götternahen Wesen wird bei Musaios breit ausgemalt, allerdings äußert Leander diese Schmeicheleien bereits beim ersten Treffen mit Hero während des Kypris-Festes, wo er Hero als Κύπρι φίλη μετὰ Κύπριν anredet, s. Musaios 134–40. 29 Ov. epist. 18,139–142: hoc mare, cum primum de virgine nomina mersa, / quae tenet, est nanctum, tale fuisse puto. / est satis amissa locus hic infamis ab Helle, / utque mihi parcat, nomine crimen habet. Ov. epist. 19,123–128: forsitan ad pontum mater pia venerit Helles, / mersaque roratis nata fleatur aquis / an mare ab inviso privignae nomine dictum / vexat in aequoream versa noverca deam? / non favet, ut nunc est, teneris locus iste puellis; / hac Helle periit, hac ego laedor aqua. 30 Ov. epist. 18,131–138, wo Leander hervorhebt, dass er den unbequemen Weg durchs Meer so oft zurückgelegt habe, dass sich gleichsam ein abgenutzter Pfad im Wasser gebildet habe und seine Liebschaft sogar den Delphinen bekannt geworden sei. Erst der Sturm konnte ihn von einer weiteren Durchquerung abhalten: iam nostros curvi norunt delphines amores, / ignotum nec me piscibus esse reor. / iam patet attritus solitarum limes aquarum, / non aliter multa quam via pressa rota. / quod mihi non esset nisi sic iter, ante querebar; / at nunc per ventos hoc quoque deesse queror. / fluctibus inmodicis Athamantidos aequora canent, / vixque manet portu tuta carina suo. Zum Vorwurf an den Windgott Boreas, der an die eigenen Liebschaften erinnert wird und den Leander schließlich vergeblich um Milde bittet, s. epist. 18,37–46. Vgl. dazu im Antwortbrief der Hero 19,120–122: quoque (…) minus venias, invida pugnat hiems. / me miseram, quanto planguntur litora fluctu / et latet obscura condita nube dies. Es folgen Überlegungen, welche Gottheit dem Liebespaar feindlich gesonnen sein könnte, und ein Vorwurf an Neptun, der in Erinnerung an seine eigenen Liebschaften den Leander nicht hätte aufhalten dürfen, epist. 19,123–150. 31 S. Ov. fast. 4,713–716, wo die Schuld an Helles Unglück dem Goldenen Widder zugeschrieben
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diffus bleibende Schuld am Tod von Menschen und damit eine sinistre Wirkung zugesprochen, die sich jederzeit auch an Leander erweisen könne. Gegenüber diesen äußeren Gefahren tritt individuelles Verschulden als potentielle Todesursache zurück. Beide Sprecher erwähnen zwar zuweilen Unbesonnenheit (temeritas) und Wagemut (audacia), die zu Fehleinschätzungen führen könnten, doch werden diese Eigenschaften stets mit der Übermacht des Eros entschuldigt.32 Umso auffälliger ist daher die Szene, die sich Leander für den Fall seines Todes ausmalt. Er werde am Fuße des von Hero bewohnten Turms angespült und von ihr gefunden werden. Sie werde weinen, seinen Leichnam berühren und sich vorwerfen, seinen Tod verursacht zu haben.33 Der Textzusammenhang (Ov. epist. 18, 193–200) lautet: sit tumidum paucis etiamnunc noctibus aequor, ire per invitas experiemur aquas; aut mihi continget felix audacia salvo, aut mors solliciti finis amoris erit! optabo tamen ut partes expellar in illas, et teneant portus naufraga membra tuos; flebis enim tactuque meum dignabere corpus et ’mortis,’ dices, ’huic ego causa fui!’ Wenn das Meer jetzt noch für wenige Nächte hohen Wellengang hat, werde ich versuchen, durch die widerstrebenden Wogen zu schwimmen. Entweder geht mein Wagemut glücklich aus, und ich bleibe unversehrt, oder der Tod wird das wird: Proxima cum veniet terras visura patentes / Memnonis in roseis lutea mater equis, / de duce lanigeri pecoris, qui prodidit Hellen, / sol abit: egresso victima maior adest. 32 Ov. epist. 18,195–6: aut mihi continget felix audacia salvo, / aut mors solliciti finis amoris erit! Ov. epist. 18,189 f.: aut ego non novi, quam sim temerarius, aut me / in freta non cautus tum quoque mittet amor; Ov. epist. 19,87–94: sic tu temerarius esto, / ne miserae virtus sit tua flenda mihi! / unde novus timor hic, quoque illa audacia fugit? / magnus ubi est spretis ille natator aquis? / Sis tamen hoc potius, quam quod prius esse solebas, / et facias placidum per mare tutus iter— / dummodo sis idem, dum sic, ut scribis, amemur, / flammaque non fiat frigidus illa cinis. 33 Die Vorstellung, nach dem Tod im Meer gerade an den Strand des oder der Geliebten gespült zu werden, findet sich in den Heroides auch im Brief der Phyllis an den vermeintlich untreuen Demophoon. Die Schreiberin malt sich aus, wie ihr Leichnam in Attika angetrieben und unbegraben vor den Augen Demophoons daliegen werde, Ov. epist. 2,135 f.: ad tua me fluctus proiectam litora portent / occuramque oculis intumulata tuis. Der Verweis auf die fehlende Bestattung spiegelt hier das in den Augen der Phyllis zerstörte Liebesverhältnis wider. Näher verwandt mit den Ausführungen des Leander sind die Gedanken des ertrinkenden Ceyx in den Metamorphosen, der sich eine liebevolle Beisetzung durch seine Frau Alcyone erhofft, Ov. met. 11,563–5: illam meminitque refertque [sc. Ceyx], / illius ante oculos ut agant sua corpora fluctus / optat et exanimis manibus tumuletur amicis, vgl. auch Prop. 3,7,63–64 (letzte Worte des nach einem Schiffbruch ertrinkenden Paetus, der hofft, am Strand des heimatlichen Italien angespült zu werden): at saltem Italiae regionibus evehat aestus: / hoc de me sat erit si modo matris erit.
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Ende meiner sorgenbringenden Liebe sein. Ich wünsche mir aber, dass ich in jener (d.h. der gegenüberliegenden) Gegend an Land gespült werde, und dass Dein Hafen meine schiffbrüchigen Glieder aufnimmt. Du wirst nämlich weinen und meinen Leib durch Deine Berührung ehren, und Du wirst sagen: Für diesen hier war ich die Ursache seines Todes.34
Im Kontext der Elegie ist vor allem die wörtliche Rede der Hero auffällig, war sie bisher doch gerade als Garantin für Leanders Leben dargestellt worden. Die Formulierung et ‚mortis‘ dices ‚huic ego causa fui‘ weist Berührungspunkte zu drei wörtlich zitierten Grabinschriften auf, die sich in anderen Heroidesbriefen finden, und in denen jeweils ein anderer Mensch für den Tod des Verstorbenen verantwortlich gemacht wird. So malt Dido sich in ihrem Brief an Aeneas aus, dass sie sich aus Liebeskummer umbringen und daraufhin ein Epitaph erhalten werde, in dem Aeneas als Schuldiger an ihrem Tod erscheine (epist. 7,195–6: praebuit Aeneas et causam mortis et ensem. / Ipsa sua Dido concidit usa manu).35 Auch Phyllis imaginiert ihre eigene Grabinschrift, in der Demophoon die Schuld für ihren aus Liebeskummer begangenen Selbstmord gegeben wird (epist. 2,147–8: Phyllida Demophoon leto dedit, hospes amantem: / ille necis causam praebuit, ipsa manum). Schließlich bittet Hypermestra ihren Cousin und Ehemann Lynceus, dem sie das Leben gerettet hatte, sie nun ihrerseits aus der Gewalt ihres Vaters zu befreien, der sie eingekerkert habe und zu töten beabsichtige. Komme Lynceus seiner Pflicht zur Hilfeleistung nicht nach, so werde er auf ihrem Epitaph als Schuldiger für ihren Tod benannt werden (Ov. epist. 14,125–129).36 Ähnliche Schuldzuweisungen werden auch von Männern imaginiert: So malt sich der Sprecher von Properz 2,1, der vor Liebeskummer zu sterben glaubt, einen Besuch des Maecenas an seinem Grab aus und lässt ihn rufen: Huic misero fatum dura puella fuit (V. 78).37 Angesichts der Ähnlichkeit in der Formulierung ist also auf den ersten Blick nicht recht einsichtig, warum nicht auch Leander sich sein Grab 34
Bei Musaios 338–343 erblickt Hero den ertrunkenen Leander, der tatsächlich vor ihrem Turm angespült wurde, zerreißt in Trauer ihr Gewand und stürzt sich in die Tiefe, so dass sie am Strand in seiner Nähe ums Leben kommt. An diese Situation ist in Ovids Leanderbrief offenbar nicht gedacht, denn die Wortwahl impliziert eine vorsichtige Berührung des toten Leander, die mit einem gewaltsamen Sturz der Hero nicht vereinbar ist. In der neuzeitlichen Kunst ist die Szene mehrfach aufgegriffen worden, s. dazu Mertens 1987, 107. 35 In der Aeneis verwendet der in die Unterwelt hinabgestiegene Aeneas ganz ähnliche Formulierungen, als er unerwartet auf Dido trifft und sie fragt: funeris heu tibi causa fui?, (Verg. Aen. 6,458). Der Kontext zeigt jedoch, dass hier kein Selbstvorwurf, sondern Erstaunen und Bedauern zugrundeliegen, so auch Rosati 1996, 140 f. 36 Ein ähnlicher Gedanke erscheint auch in den bekanntlich oft elegisch gefärbten Metamorphosen, wo Byblis ihren Brief, in dem sie Caunus ihre Liebe gesteht, mit den Worten beendet: miserere fantentis amorem / (…) / neve merere meo subscribi causa sepulcro (Ov. met. 9,561–563). Der Wortlaut der imaginierten Inschrift wird jedoch nicht mitgeteilt. 37 Der auf Kerkyra erkrankte Sprecher in Tibull 1,3 nennt in seinem Autoepitaph, das er für den Fall seines Todes entwirft, eine Reise im Gefolge des Messalla als Grund für seine Bestattung fern der Heimat, verzichtet aber darauf, Messalla die Schuld an seinem Verscheiden zu geben,
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ausmalen und eine dazugehörende Inschrift imaginieren könnte. Hero ist ja tatsächlich – wenn auch unfreiwillig – die Ursache für seinen Untergang, und die Verewigung seines todesmutigen Versuchs, die Geliebte trotz des Sturms zu erreichen, könnte den Ruhm Leanders zweifellos erhöhen und ihn in eine Reihe mit zahlreichen anderen Personen stellen, die aus edlen Motiven ihr Leben verloren. Auch die Theorien, die bisher über die Funktion der in die Elegien eingelegten Inschriften vorgebracht wurden, helfen hier nicht recht weiter. Für zahlreiche Kommentatoren sind sie einfach ein „elegisches Motiv“, das sich aus der Nähe von Elegie und Epigramm ergeben hat, ohne dass die Art ihrer Verwendung näher analysiert wird.38 Für Ramsby bilden die wörtlich zitierten Inschriften ein Streben nach Dauerhaftigkeit ab, indem sie ein bestimmtes Ereignis für die Ewigkeit festhalten.39 Beide Theorien sprechen eher für als gegen die Verwendung einer Grabinschrift im Brief des Leander. Denn natürlich möchte er von Hero nicht vergessen werden,40 und gerade die Vorstellung, er werde von ihr persönlich gefunden, beweint und bestattet, verlangt eigentlich nach einer angemessenen Verewigung seines Schicksals durch die Geliebte selbst, so wie z. B. auch der ans Schwarze Meer verbannte Ovid seine eigene Grabinschrift bei seiner Ehefrau und nicht bei irgendeiner anderen Person in Auftrag gibt.41 Wie sich bei näherer Betrachtung zeigt, sind jedoch die drei Fälle trotz oberflächlicher Ähnlichkeit nicht direkt mit der Situation der Hero und LeanderGeschichte vergleichbar. Die von Phyllis und Dido geplanten Grabinschriften beruhen auf der Voraussetzung, dass ihr Liebhaber die Beziehung beenden wolle und dadurch die Partnerin in den Tod treibe; das Gedankenspiel der Hypermestra setzt voraus, dass Lynceus seine pietas vernachlässigt und sie der Hand ihrer Mörder überlässt. Von all dem kann in der eigentlich glücklichen Beziehung zwischen Hero und Leander nicht die Rede sein. Beide wünschen ein baldiges Wiedersehen, vermissen einander, und bemühen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten, die Trennung aktiv zu überwinden.42 Tib. 1,3,55–6: Hic iacet immiti consumptus morte Tibullus, / Messallam terra dum sequiturque mari. 38 S. z. B. Smith 1913, 375: „The votive inscription, like the epitaph (…), is a regular motif of the elegy“, ganz ähnlich Putnam 1973, 145; und Murgatroyd 1980, 277: „The votive inscription was a common elegiac motif.“ 39 Ramsby 2007, 1 u. ö. 40 Dies zeigt sich schon im Verhältnis zum Medium ‚Brief‘: Der Beginn des Schreibens zeigt die Hoffnung, Hero werde den Brief, weil er ja nur ein schwacher Ersatz für die tatsächliche Gegenwart Leanders sein könne, nur widerwillig lesen: Ov. epist. 18,1–2: si mihi di faciles et sunt in amore secundi, / invitis oculis haec mea verba leges. Die Ersatzfunktion des Briefs tritt außerdem im oben zitierten letzten Distichon hervor, Ov. epist. 18,217–8: interea pro me pernoctet epistula tecum, / quam precor ut minima prosequar ipse mora! 41 Ov. trist. 3,3,71–76: quosque legat versus oculo properante viator, / grandibus in tumuli marmore caede notis: / ,Hic ego qui iaceo tenerorum lusor amorum / ingenio perii Naso poeta meo. / At tibi qui transis ne sit grave quisquis amasti / dicere: Nasonis molliter ossa cubent.‘ 42 Den gemeinsamen Wunsch beider hebt Leander in den Versen 18,125–128 hervor: Ei mihi!
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In eine andere und vielversprechendere Richtung zielt eine kürzlich von Houghton vorgebrachte These, wonach die in den Elegien wörtlich zitierten Grabinschriften gleichsam die „Essenz“ des jeweiligen Gedichts oder zumindest eines bestimmten Abschnitts zum Ausdruck bringen.43 Mit diesem Ansatz lassen sich zahlreiche eingelegte Inschriften plausibel erklären, doch scheint er nicht recht hilfreich, um das Fehlen eines Epitaphs im Leanderbrief zu begründen. Schließlich ist der antizipierte Tod ein durchgehendes Motiv dieser Elegie, und der Kern der Hero und Leander-Sage besteht, wie noch die kurzen Andeutungen bei Vergil zeigen, ja gerade darin, dass der mutige Liebhaber sein Leben auf dem Weg zur Geliebten verliert. Es hätte daher auch nach Houghtons Theorie vieles dafür gesprochen, eine wörtlich zitierte Grabinschrift in die Elegie einzubauen. Unbestritten ist natürlich, dass es methodisch stets leichter ist, den Einsatz eines bestimmten Motivs zu begründen, als das Fehlen eines erwartbaren Details plausibel zu motivieren. Die dichterische Freiheit, das Streben nach Varianz und ein möglicher Überraschungseffekt durch die enttäuschte Erwartung des Lesers können gute Gründe sein, auf etablierte Darstellungsformen zu verzichten. Da diese legitimen, wenn auch resignierenden Erklärungen aber wenig zu einer differenzierten Betrachtung des zugrundeliegenden Phänomens beitragen, soll hier der Versuch unternommen werden, zu einer Begründung zu kommen, die sowohl die Verwendung von Epitaphen in anderen Elegien als auch ihre Vermeidung im Leanderbrief kohärent erklärt. Wenn dies gelingen soll, muss zunächst genauer bestimmt werden, wodurch sich die Situation des Leander von der anderer elegischer Sprecher unterscheidet. Ausgeschlossen werden können zunächst gendertypische Verhaltensweisen. Autoepitaphe werden in der römischen Elegie sowohl von Männern wie von Frauen imaginiert, und die entsprechenden Vorstellungen werden oft in einem elegischen Brief an den Partner oder die Partnerin niedergelegt, wie ihn auch Leander schreibt. Gelegentlich kann ein solcher Wunsch auch an eine andere nahestehende Person gerichtet werden (so scheint z. B. der erkrankte Tibull in Tib. 1,3 darauf zu hoffen, dass Messalla im Fall seines Todes für einen Grabstein sorgen werde). Ob die Beziehung glücklich oder unglücklich ist, spielt dabei zunächst keine Rolle: Phyllis und Dido schreiben an Liebhaber, von denen sie sich entfremdet glauben, der elegische Sprecher in trist. 3,3 richtet seine Bitte jedoch an seine von ihm zwar räumlich getrennte, aber innerlich mit ihm verbundene Ehefrau, ganz so wie auch Leander an die ihn liebende Hero schreibt. Was aber ist dann das Motiv für die besondere Gestaltung seines Briefs? cur animis iuncti secernimur undis, / unaque mens, tellus non habet una duos? / vel tua me Sestos, vel te mea sumat Abydos; / tam tua terra mihi, quam tibi nostra placet; vgl. Heros Antwort Ov. epist. 19,5: urimur igne pari. 43 Houghton 2013.
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Betrachtet man die in die römischen Elegien eingelegten Inschriften als Gruppe, so fällt auf, dass die Mehrzahl von ihnen in der erzählten Welt des Gedichts noch nicht realisiert sind, sondern von den Sprechern und Sprecherinnen für die Zukunft imaginiert werden. Dies gilt nicht nur für Epitaphe, sondern auch für andere Inschriftentypen, vor allem für Weihinschriften. Eine Ausnahme bilden zwei in den Fasti erwähnte Bauinschriften an stadtrömischen Tempeln, die im Fall des Mars Ultor-Tempels (Ov. fast. 5,567–8) sicher und bei dem in seiner Lage umstrittenen Hercules-Custos-Tempel (Ov. fast. 6,209–12) wahrscheinlich ein historisches Vorbild haben,44 sowie Inschriften und Aufschriften aus oder auf vergänglichem Material, wie eine heimlich mit Wein auf den Tisch geschriebene Liebeserklärung des Paris an Helena (Ov. epist. 17,87–8) und die in Baumrinde geritzten Liebesbezeugungen des Paris an die Nymphe Oenone (Ov. epist. 5,22 und 5,29–30), die jeweils aus der Erinnerung der Betroffenen referiert werden. Selten kommt etwa eine Person an einer bereits existierenden, wörtlich zitierten Inschrift vorbei, die sie liest und deutet, und wo dies ausnahmsweise doch geschieht, wird aus dem Kontext sofort deutlich, dass die Inschrift eben erst gesetzt wurde und damit in die unmittelbare Gegenwart des Betrachters gehört.45 Dies bedeutet: Aus der römischen Elegie erfahren wir nicht, ob eine Inschrift tatsächlich die dauerhafte Erinnerung an ein Ereignis gewährleisten kann, und von der Mehrzahl der wörtlich zitierten Inschriften wissen wir nicht einmal, ob sie in der erzählten Welt überhaupt realisiert werden, weil sie bis dato nur in der Vorstellung der Sprecher existieren.46 Wenn die Sprecher sich überhaupt zu dem von ih44
S. die auf eine schon einige Jahrzehnte zurückliegende Vergangenheit verweisende Bauinschrift am Hercules-Custos-Tempel, Ov. fast. 6,212. Hier wird allerdings nicht eine Person der erzählten Welt bei der Lektüre der Inschrift gezeigt, sondern ihr Inhalt wird dem Leser direkt mitgeteilt. Zum Mars Ultor-Tempel s. Ganzert 1996 und Ganzert et al. 1988; zum Hercules Custos-Tempel s. Viscogliosi, LTUR 3 (1996) 13 s. v. Hercules Custos. Aedes. Zur Verwendung der betreffenden Inschriften in der römischen Elegie vgl. Bettenworth 2016. 45 Bettenworth 2016, 79 und 86 f. So ist der Papagei, dem Amores 2,6, gewidmet ist, offenbar eben erst verstorben, denn der Leichenzug steht noch bevor, am. 2,6,1–2: Psittacus, Eois imitatrix ales ab Indis, / occidit; exsequias ite frequenter, aves; der Mars Ultor-Tempel, dessen Inschrift der Kriegsgott liest, wird eben eingeweiht, Ov. fast. 5,551–2: Ultor ad ipse suos caelo descendit honores / templaque in Augusto conspicienda foro (wobei honores hier prägnant für den Tempel und die Einweihungsfeierlichkeiten steht, vgl. das Ende der Elegie: 5,595–598: rite deo templumque datum nomenque bis ulto, / et meritus voti debita solvit honor. / sollemnes ludos Circo celebrate, Quirites: / non visa est fortem scaena decere deum), und Anna liest unmittelbar vor ihrer Flucht aus Nordafrika die Grabinschrift, die sie ihrer Schwester Dido erst kürzlich selbst gesetzt hat, fast. 3,547–51: compositusque cinis, tumulique in marmore carmen / hoc breve, quod moriens ipsa reliquit, erat: / Praebuit Aeneas et causam mortis et ensem. / Ipsa sua Dido concidit usa manu. / protinus invadunt Numidae sine vindice regnum. 46 Didos imaginiertes Epitaph wird in den Fasti als tatsächlich auf dem Grab angebrachte Inschrift wörtlich wiederholt, doch knüpft die dort beschriebene Handlung unmittelbar an die Situation in den Heroides an, wie unter anderem der ausdrückliche Verweis auf Didos letzten Wunsch zeigt, Ov. fast. 3,547–8: tumulique in marmore carmen / hoc breve, quod moriens
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nen imaginierten Publikum für die Inschrift äußern, so sind die meistgenannten Kriterien eine zahlreiche Leserschaft und die leichte Zugänglichkeit der Inschrift, die entsprechend groß, entsprechend kurz, an günstiger Stelle oder in praktischer Höhe auf dem Denkmal angebracht werden soll.47 Davon, dass auch künftige Generationen als Leserschaft in Frage kämen, oder gar von einer „ewigen“ Erinnerung ist dagegen in den römischen Elegien nirgends die Rede, obwohl dieser Gedanke in anderen Gattungen durchaus vorkommt.48 Diese Beobachtung spricht dagegen, dass die Inschriften in der römischen Elegie tatsächlich für das Streben nach ‚Dauerhaftigkeit‘ stehen, wie Ramsby annimmt.49 Welche Funktion aber haben sie dann, und was lässt sich daraus für den Leanderbrief gewinnen? Analysiert man den Kontext der imaginierten Inschriften der römischen Elegie genauer, so zeigt sich, dass mit ihnen zwar keine Aussagen zu ihrer Dauerhaftigkeit verbunden sind, dass sich aber dennoch eine gewisse Tendenz ablesen lässt: Sie werden vom Sprecher oder die Sprecherin oft in einer unangenehmen Situation imaginiert, wie sie für die Elegien gattungstypisch ist. Bei ihren Erwägungen über die jeweilige Situation gelangen die Sprecher nicht selten zu einem Szenario, von dem sie sich ein endgültiges Ende ihres gegenwärtigen Dilemmas erhoffen. Diese Lösung kann in der Imagination positiv ausfallen und wird dann gern in Gedanken mit einer Weihinschrift verbunden, mit der man den Göttern Dank für die geleistete Hilfe abstatten will und die z. B. die gelungene Verbindung mit der Geliebten markieren soll.50 Fällt das vorgestellte Szenario negativ ipsa reliquit, erat, vgl. Ov. epist. 7,195–6, wo die Inschrift denselben Wortlaut hat). Das Grab mit dem Epitaph wird von Didos Schwester Anna unmittelbar vor dem Einfall der Numider, die das entstandene Machtvakuum ausnutzen, aufgesucht (Ov. fast. 3,551: protinus invadunt Numidae sine vindice regnum). Die Inschrift ist folglich eben erst eingemeißelt worden, und der Kontext sagt daher nichts darüber aus, ob sie tatsächlich ein dauerhaftes Andenken gewährleisten kann. 47 S. Tib. 3,2,28: in celebri fronte (d. h. die Grabinschrift soll an der belebten Straßenseite angebracht werden); Prop. 4,7,83–4: hic carmen media (…) scribe columna, / sed breve, quod currens vector ab urbe legat; Ov. trist. 3,3,71–2: Quosque legat versus oculo properante viator / grandibus in tumuli marmore caede notis. 48 Ein wegen seiner inhaltlichen Nähe zur Elegie häufiger als Kontrastfolie zitiertes Beispiel ist der Wunsch der von Cato an seinen Freund Hortensius übergebenen Marcia, wieder in die Ehe mit Cato einzutreten und auf ihrem Grabstein auch als seine Frau verewigt zu werden, damit spätere Generationen sie in dieser Rolle in Erinnerung behalten, Lucan. 2,343–5: liceat tumulo scripsisse ‚Catonis / Marcia‘ nec dubium longo quaeratur in aevo / mutarim primas expulsa an tradita taedas. S. dazu Bettenworth 2016, 79–80 mit weiterer Literatur zum geschichtlichen Hintergrund. 49 Ramsby 2007 und Ramsby 2004/05. 50 S. Tib. 1,9,81–84 (Weihung einer goldenen Palme für den Fall, dass der Sprecher sich aus einer trügerischen Liebe lösen kann); Prop. 4,3,71–72 (Arethusa verspricht eine Weihgabe mit Inschrift, falls Lycotas unversehrt zu ihr zurückkehrt); Ov. epist. 20,239–40 (Acontius verspricht eine Weihgabe für den Fall, dass Cydippe sein Liebeswerben erhört); Ov. am. 1,11,27– 28 (der Sprecher gelobt, seine für den Liebesbrief verwendeten Schreibtäfelchen als Votivgabe zu stiften, falls es zu einem ersten Rendezvous kommt und damit ein wichtiger Schritt
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aus, weil der Sprecher oder die Sprecherin wenig oder keine Hoffnung auf ein glückliches Ende hegt, so kann dieses negative Ergebnis im Extremfall mit einem Epitaph verbunden werden, das dann ebenfalls das Ende des gegenwärtigen Leidens bezeichnet und den Sprechern damit Erlösung und Erleichterung verschafft.51 Diese Szenarien sind tatsächlich nicht mit dem imaginierten Tod des Leander vergleichbar. Für Leander wäre das Ertrinken nicht die Lösung seiner gegenwärtigen Situation, sondern deren Verschärfung: Es würde nicht die Befreiung vom gegenwärtigen Trennungsschmerz bedeuten, sondern die temporär durch den Seesturm verursachte Trennung verstetigen. Als Vergleich interessanter sind daher die relativ seltenen Fälle, in denen sich imaginierte Grabinschriften als Teil einer Abwägung zwischen zwei möglichen Szenarien finden: Der auf einer Seereise mit Messalla krank auf Kerkyra zurückgebliebene Tibullus bittet z. B. darum, entweder gesund zu werden oder im Falle seines Todes einen Grabstein zu erhalten, der seine Treue zu Messalla bekunde (Tib. 1,3,51–4: Parce pater! (…) / quod si fatales iam nunc explevimus annos, / fac lapis inscriptis stet super ossa notis). Der exilierte Ovid hofft zu überleben, bittet aber darum, ihm im Fall seines Todes eine Grabinschrift zu setzen (s. Ov. trist. 3,3,29–32: si tamen inplevit mea sors, quos debuit, annos, / et mihi vivendi tam cito finis adest, / quantum erat, o magni, morituro parcere, divi, / ut saltem patria contumularer humo? und den dazugehörigen Text der gewünschten Inschrift, Ov. trist. 3,3,73–76: ,Hic ego qui iaceo tenerorum lusor amorum / ingenio perii Naso poeta meo. / At tibi qui transis ne sit grave quisquis amasti / dicere: Nasonis molliter ossa cubent.‘ ). Hypermestra fleht ihren Ehemann Lynceus in einem Brief an, sie entweder aus den Händen ihres mordlustigen Vaters zu befreien, oder ihr, wenn er sie ihrem Schicksal überlasse, einen Grabstein zu setzen, auf dem dann allerdings sein eigenes Versagen angedeutet würde (Ov. epist. 14,125–130: vel fer opem, vel dede neci defunctaque vita / corpora furtivis insuper adde rogis / et sepeli lacrimis perfusa fidelibus ossa, / sculptaque sint titulo nostra sepulcra brevi: / ,Exsul Hypermestra pretium pietatis iniquum / quam mortem fratri depulit ipsa tulit.‘ ). Diese Fälle wären tendenziell mit der Situation Leanders vergleichbar. Wie Leander wünschen auch der in der Liebesbeziehung genommen ist); Ov. am. 2,13,25 (der Sprecher gelobt eine Votivgabe, falls Corinna eine misslungene Abtreibung überlebt). In Prop. 2,14,23–32 ist der erhoffte Liebeserfolg bereits eingetreten, die Weihgabe, die mit einer Inschrift versehen werden soll, aber noch nicht gestiftet. Auch hier liegt also der Akzent darauf, dass der lang ersehnte Ruhepunkt in einer stürmischen Beziehung gerade erst eingetreten ist und daher noch nicht feststeht, ob er von Dauer sein wird. 51 Besonders deutlich wird dies in den Todesgedanken der Phyllis: Sie beschließt, sich eine Schlinge um ihren Hals zu legen, den sie zuvor Demophoons „trügerischer“ Umarmung dargeboten hatte, und mit dem Tod durch Erhängen die durch die unglückliche Liebesbeziehung bewirkte Verletzung ihres Schamgefühls „aufzuwiegen“, Ov. epist. 2,141–3: colla quoque, infidis quia se nectenda lacertis / praebuerunt, laqueis inplicuisse iuvat. / Stat nece matura tenerum pensare pudorem. Die Todesgedanken münden schließlich in V. 147–8 in das oben zitierte Autoepitaph.
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kranke Tibullus, der exilierte Ovid (der sich hier mit seinem Cognomen ,Naso‘ bezeichnet) und die gefangene Hypermestra nichts sehnlicher als ihr Überleben und damit die Vereinigung mit ihren Lieben. Alle drei sind nach ihrer eigenen Darstellung ihren Bezugspersonen trotz der Entfernung zugetan. Ein entscheidender Unterschied zum Brief des Leander liegt jedoch in dem spezifischen Kontext, in dem die Todesgedanken jeweils stehen. Bei Tibullus, Naso/Ovid und Hypermestra werden jeweils zwei gegensätzliche Schicksalsverläufe einander gegenübergestellt. Der Sprecher in Tibull 1,3 wünscht zu überleben, kann aber auch seinen Tod nicht ausschließen, der Exilant in Ovid trist. 3,3 möchte lebend nach Rom zurückkehren, kann aber nicht ausschließen, im Exil zu sterben, und Hypermestra in Ov. epist. 14 möchte lebend gerettet werden, kann aber nicht ausschließen, dass sie in der Gefangenschaft ermordet wird. In allen drei Fällen kann die Lage in der Imagination der Sprecher nur durch Leben oder Sterben beendet werden. Bei Leander dagegen geht es in der Situation, in der der Brief geschrieben wird, zunächst nicht unmittelbar um eine Frage von Leben und Tod, sondern darum, ob er versuchen soll, durch eine Überquerung des Meeres im Sturm die Trennung von Hero möglichst schnell zu beenden, oder ob er die sichere Lösung wählen und warten soll, bis das Unwetter sich gelegt hat. Es stehen für Leander also genaugenommen drei mögliche Szenarien zur Wahl: 1. verzögerte Vereinigung mit Hero unter guten Wetterbedingungen, 2. rasche Vereinigung mit Hero unter schlechten Wetterbedingungen, 3. baldiger Tod im Seesturm, wobei die vierte denkbare Möglichkeit, ein späteres Ertrinken trotz günstigen Wetters, nicht ernsthaft in Betracht gezogen wird, selbst wenn Leander mehrfach auf die Gefahr der Erschöpfung hinweist, die einen Schwimmer im Hellespont schon bei guten Bedingungen bedroht. Während sich die Sprecher in den drei anderen Fällen darüber klar sind, wie ihr künftiges Verhalten gegenüber den primären Adressaten aussehen soll und die Lösung des Dilemmas überdies nicht von ihnen abhängt, sondern von einer übergeordneten Kraft (dem Willen der Götter in Tib. 1,3 oder dem des Kaisers in Ov. trist. 3,3) oder vom Adressaten (dem flüchtigen Lynceus in Ov. epist. 14) bestimmt wird, steht Leander selbst in einer Entscheidungssituation, die wiederum eng mit der Frage verbunden ist, wie er sein Verhältnis zu Hero deutet. Ist sein Verlangen nach ihr so stark, dass er sich trotz Sturm in die Wellen stürzen würde? Und wäre eine solche Entscheidung tatsächlich von Liebe diktiert oder von temeritas? Wäre Mut hier eine Tugend, oder eher ihr Gegenteil?52 Dass es im Kern um die Frage der eigenen Beziehung 52
Das wiederholte Schwanken der Liebenden zwischen den verschiedenen Alternativen analysiert Volk 1996, die die retardierende Funktion des Schreibens hervorhebt: „Solange Hero und Leander Briefe schreiben, solange sie sich mit dieser Alternative zum Schwimmen zu-
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zur Geliebten geht und nicht darum, das Ende der gegenwärtigen unglücklichen Lage zu markieren, zeigt sich auch an der Ausgestaltung der Todesszene. Tibullus (Tib. 1,3), Ovid/Naso (Ov. trist. 3,3) und Hypermestra (Ov. epist. 14) gehen nicht näher auf die Umstände ihres imaginierten Todes ein: Wenn bestimmte äußere Umstände ungünstig bleiben, werden sie ungeachtet ihrer persönlichen Beziehung zu der nahestehenden Person sterben. Dieses von ihnen nur noch bedingt beeinflussbare Ende einer unglücklichen Lage wird mit der imaginierten Grabinschrift markiert. Leander dagegen malt seine Todesumstände in zahlreichen Einzelheiten aus, von denen solche, die Hero betreffen, den größten Raum einnehmen. Hero werde ihn finden und beweinen, seinen Leib berühren und sich die Schuld an seinem Tod geben. Ein vergleichbares Szenario finden wir nicht in den bisher herangezogenen Parallelstellen, sondern in Tib. 1,1, wo sich der Sprecher ebenfalls ausführlich ausmalt, wie seine Geliebte Delia, mit der er bis ins hohe Alter glücklich zusammenzuleben hofft, ihm zunächst im Sterben beistehen, ihn nach dem Tod beweinen und ihn bestatten werde.53 Trotz dieser detailreichen Darstellung fehlt auch hier, wie bei Leander, eine wörtlich zitierte Grabinschrift. Kernpunkt der Überlegungen ist nämlich auch an dieser Stelle nicht das Ende einer unglücklichen Situation, sondern die eigene Beziehung zur Geliebten, die zum Zeitpunkt der Erzählung noch wenig gesichert ist.54 Ungewöhnlich ist es in der römischen Elegie auch, dass eine nahestehende Person sich in irgendeiner Form selbst für den Tod des Geliebten verantwortlich machen soll. Allenfalls imaginiert der Sprecher eine allgemeine Klage der Partnerin, oft verbunden mit entsprechenden körperlichen Reaktionen.55 Im Kontext von Heroides 18 ist der Gedanke vor allem auffällig, weil stets dem Meer und den übrigen Naturgewalten, nicht aber Hero (etwa durch ihr Drängen) die Schuld an friedengeben, kann das von der Sage vorgesehene tragische Ende nicht eintreten“ (Volk 1996, 105 f.). 53 Tib. 1,1,59–68: Te spectem, suprema mihi cum venerit hora, / te teneam moriens deficiente manu. / Flebis et arsuro positum me, Delia, lecto, / tristibus et lacrimis oscula mixta dabis. / Flebis: non tua sunt duro praecordia ferro / vincta, neque in tenero stat tibi corde silex. / Illo non iuvenis poterit de funere quisquam / lumina, non virgo, sicca referre domum. / Tu Manes ne laede meos, sed parce solutis / crinibus et teneris, Delia, parce genis. 54 S. Tib. 1,1,55–56, wo die Geliebte noch keineswegs erobert ist, sondern sich der Liebhaber in der typisch elegischen Situation vor der verschlossenen Tür des Mädchens portraitiert: me retinent vinctum formosae vincla puellae, / et sedeo duras ianitor ante fores. 55 Tib. 1,1,57–64: Non ego laudari curo, mea Delia; tecum / dum modo sim, quaeso segnis inersque vocer. / te spectem, suprema mihi cum venerit hora, / te teneam moriens deficiente manu. / Flebis et arsuro positum me, Delia, lecto, / tristibus et lacrimis oscula mixta dabis. / Flebis: non tua sunt duro praecordia ferro / vincta, neque in tenero stat tibi corde silex. Im oben erwähnten Brief der Hypermestra wird Lynceus zwar aufgefordert, seiner Ehefrau und Cousine im Fall ihrer Ermordung selbst eine Grabinschrift zu setzen, die sein undankbares Verhalten entlarven würde, doch dient diese absurde Vorstellung hauptsächlich dazu, Hypermestras eigentlichem Wunsch Nachdruck zu verleihen und Lynceus dazu zu bewegen, sie aus der Todesgefahr zu retten.
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einem möglichen Untergang des Leander gegeben worden war. Tatsächlich geht es Leander, wie der Zusammenhang des Briefes belegt, nicht darum, die Geliebte durch seine Todesfantasie unter Druck zu setzen. Zum Zeitpunkt der Abfassung steht er zudem in keinem direkten Kontakt mit ihr, so dass sie ihn nicht zu seiner gefährlichen Entscheidung treiben könnte, selbst wenn sie es wollte.56 Vielmehr zeigt die Selbstbeschuldigung, die Leander Hero in den Mund legt, dass er ihre Beziehung als intakt und auf gegenseitiger Liebe beruhend einstuft: Seine Geliebte wünscht ihm nichts Böses und würde sich Vorwürfe machen, wenn ihm etwas zustieße.57 Schließlich bleibt noch ein weiteres, mehrfach anzutreffendes Szenario zu überprüfen, in dem eingebettete Grabinschriften eine spezifische Funktion erfüllen: Wenn es sich bei der Schreiberin eines elegischen Briefs um eine Person handelt, deren unausweichlicher Tod durch den Mythos bereits feststeht, wie es bei Phyllis und Dido der Fall ist, so kann die imaginierte und wörtlich zitierte Grabinschrift dieses dem Leser bekannte Ende gleichsam vorwegnehmen. In diesen Fällen bildet das Epitaph den Abschluss des Gedichts, so dass der Leser am Ende der Elegie gleichsam das Grab der Hauptperson vor Augen hat (Ov. epist. 2,147–8 und Ov. epist. 7,195–6). Die Inschrift überbrückt damit den Teil der mythischen Handlung (den Selbstmord der Sprecherin), der nicht aus der Ich-Perspektive geschildert werden kann.58 Eine solche Konstellation liegt grundsätzlich auch im Leanderbrief vor. Der Tod des jungen Mannes ist durch den Mythos festgelegt, doch kann er ihn ebenso wenig wie Phyllis und Dido in seinem Brief aus der IchPerspektive schildern. Dass der Elegiker dennoch darauf verzichtet, diesen Teil der Handlung durch eine wörtlich zitierte Grabinschrift zu überbrücken, ergibt sich daraus, dass es sich um einen zur Erzählzeit noch offenen, nicht primär auf die Wahl zwischen Tod und Leben hinauslaufenden Entscheidungsprozess handelt. Zudem bildet der Leanderbrief, anders als die Schreiben von Phyllis und 56
Tatsächlich zeigt der folgende Brief Heros, dass sie selbst von Sehnsucht und Furcht hinund hergerissen ist und Leander neben einigen Aufforderungen, endlich zu ihr zu kommen, mehrfach davor warnt, die Durchquerung der Meerenge im Seesturm zu versuchen. Die Verbindung beider Tendenzen zeigt Ov. epist. 19,83–8: quid tamen evenit, cur sis metuentior undae / contemptumque prius nunc vereare fretum? / nam memini, cum te saevum veniente minaxque / non minus, aut multo non minus, aequor erat; / cum tibi clamabam: ‘sic tu temerarius esto, / ne miserae virtus sit tua flenda mihi!’ 57 So auch Rosati 1996, 140: „Nelle parole di L.[eandro] tuttavia, non c’è alcuna pressione psicologica su E.[ro], (…) ma solo la compiaciuta autocommiserazione tipica degli elegiaci.“ 58 Aufschlussreich ist hier die Stellung des wörtlich zitierten Grabepigramms im Brief der Hypermestra. Es befindet sich fast am Ende der Elegie (Ov. epist. 14,129–30: ’exul Hypermestra, pretium pietatis iniquum, / quam mortem fratri depulit, ipsa tulit‘ ), doch folgt noch ein Distichon, in dem die Schreiberin den Abbruch des Briefes mit ihrer Erschöpfung und Furcht entschuldigt (Ov. epist. 14,131–2: Scribere plura libet, sed pondere lapsa catenae / est manus, et vires subtrahit ipse timor). Die Position der Inschrift spiegelt hier Hypermestras Schicksal wider: Sie ist in akuter Todesgefahr, doch wird sie dem Mythos zufolge überleben. Das Bild des drohenden Grabes ist daher nicht der Schlusspunkt der Handlung.
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Dido, den ersten Teil eines Briefpaars, so dass die endgültige Entscheidung auch deshalb offengehalten werden muss, um die Antwort Heros zu motivieren und ihr Raum zu geben. Die Art der Darstellung im Leanderbrief legt also sowohl in den elegischen Motiven, die verwendet, als auch in denen, die nicht verwendet werden, den Akzent auf den Entscheidungsprozess, mit dem Leander seine eigene Beziehung zu Hero und deren mögliche Kosten aushandelt. Hierin liegt die eigentliche elegische Situation, die der Dichter kunstvoll ausgestaltet. Trotz dieser zumindest theoretisch noch offengehaltenen Situation hat er aber genügend Anzeichen für das unglückliche Ende der Liebesbeziehung in seine elegische Erzählung eingeflochten. Während die von Leander imaginierte Todesszene und die Anspielungen auf den Ceyx und Alcyone-Mythos als Teil des sorgenvollen Abwägens gedeutet werden können und daher zwar an das bekannte Ende des Mythos erinnern, aber doch primär andere Funktionen erfüllen, findet sich im Brief der Hero eine bezeichnende Szene: Hero berichtet von einem unheilverkündenden Traum, in dem ein Delphin aufs Land geworfen wird und dort stirbt.59 Dieses Traumbild ist nicht einfach ein individueller Ausdruck der Sorge um den Geliebten, sondern es handelt sich um ein traditionelles, auch aus der antiken Traumdeutung bekanntes Traummotiv, das nach gängiger Vorstellung den Tod eines geliebten Menschen ankündigt (s. Artemidor 2,16: δελφὶς δὲ ἔξω ϑαλάσσης ὁρώμενος οὐκ ἀγαϑός· τῶν γὰρ φιλτάτων τινὰ ἐπιδεῖν ἀποϑανόντα σημαίνει). Konnte der Leser also Leanders Imagination der Todesszene zwar als eine Erinnerung an den traditionellen Ausgang des Mythos auffassen, die aber deutlich individuelle Züge trug, so nimmt der Traum vom gestrandeten Delphin für jeden bewanderten Zuhörer eindeutig den Tod des Leander vorweg und erfüllt damit eine Funktion, die sonst oft ans Ende einer Elegie gesetzte Grabinschriften übernehmen.60 Dass der bevorstehende Tod auf See hier mit einem aus dem marinen Bereich stammenden, aber eigentlich nicht auf den Tod im Wasser beschränkten unheilverheißenden Traumbild angekündigt wird, ist ein geschickter Kunstgriff: Im Bild des Delphins wird die Geschicklichkeit und Klugheit Leanders noch einmal gewürdigt, bevor er – allerdings außerhalb der Briefkontextes – dem Hellespont zum Opfer fällt und damit den in der Antike wie in der Moderne so zahlreichen mythischen und historischen Todesfällen auf See einen weiteren hinzufügt. Einer in die Elegie eingefügten Grabinschrift bedarf es dazu nicht.
59
Rosati 1996, 235 verweist auf die inhaltlichen Entsprechungen zwischen der Beschreibung des durch den Sturm an Land geworfenen Delphins und Leanders Wunsch, im Falle seines Todes an Heros Strand angespült zu werden. 60 S. dazu Bettenworth 2016, 396.
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Achim Lichtenberger Glück und Gefahr Ambivalente Meereserfahrung in der Bildwelt römischer Sarkophage
Zusammenfassung In der Bildwelt römischer Sarkophage finden sich gelegentlich Meeresthemen. Die Mehrzahl unter diesen zeigt den fröhlichen Reigen von Meerwesen, während eine kleine Gruppe auch Gefahren des Meeres thematisiert. Die ältere Forschung wollte in den Meerwesenbildern Hinweise auf die „Inseln der Seligen“ sehen, doch scheint eher allgemeine Unbeschwertheit als ein Jenseitsbezug ins Bild gesetzt zu sein. Diese glückselige Unbeschwertheit steht in einem ambivalenten Verhältnis zu den Bildern der Meeresgefahren, doch gehen beide Darstellungsmöglichkeiten auf reale Erfahrungen mit dem Mittelmeer zurück. Gerade die Gefährlichkeit des Meeres lässt es auch zu einer Projektionsfläche der unbeschwerten Beherrschbarkeit werden.
Einleitung In den 1960er Jahren des 20. Jh. flammte in der Klassischen Archäologie eine Kontroverse bezüglich der Ausdeutung von Meeresmotiven in der Ikonographie römischer Sarkophage auf. Wichtige Vertreter zweier divergierender Meinungen waren in Deutschland Bernard Andreae und Hugo Brandenburg.1 Die Diskussion war aber nicht neu, sie berührte Probleme, die zuvor am ausführlichsten schon Andreas Rumpf 1939 angesprochen hatte,2 dessen Argumentationslinie Brandenburg weitgehend folgte, während die Position Andreaes 1942 von Franz Cumont formuliert worden war.3 Im Kern der Auseinandersetzung ging es um die Frage nach dem Jenseitsbezug von Darstellungen von Meerwesen auf Sarkophagen, Meerwesen, die immer wieder auch Schilde (clipei) oder Muscheln mit Porträts Verstorbener in ihrem fröhlichen Meeresreigen tragen (Abb. 1–2. 4–5). Handelt es sich dabei, wie etwa Cumont, Andreae und die ältere Forschung4 annahmen, um Darstellungen der Reise der Verstorbenen (deren Bilder getragen 1
Andreae 1963; Brandenburg 1967. Rumpf 1939. Vgl. auch Brandenburg 1967, 196–197 zu weiteren kritischen Stimmen. 3 Cumont 1942. 4 Vgl. zur Forschungsgeschichte Brandenburg 1967, 195–196. 2
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Abb. 1: Meerwesensarkophag in Rom, Konservatorenpalast (nach: Rumpf 1939, Taf. 8 oben).
Abb. 2: Meerwesensarkophag in Rom, Catacombe di Pretestato (nach: Rumpf 1939, Taf. 6.61).
Abb. 3: Sarkophag mit Meerszene im Vatikan, Museo Chiaramonti (nach: Andreae 1963, Abb. 73).
werden) zu den „Inseln der Seligen“ oder geht diesen Bildern jeglicher Jenseitsbezug ab und sie sind bloß Darstellungen der Unbeschwertheit, Glücksvisionen also, wie Rumpf, Brandenburg sowie zuletzt auch Paul Zanker und Björn Christian Ewald meinten?5 5
Zanker et al. 2004, 132–134.
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Abb. 4: Meerwesensarkophag in Rom, Thermenmuseum (nach: Rumpf 1939, Taf. 20.70).
Abb. 5: Meerwesensarkophag in Rom, Lateran (nach: Rumpf 1939, Taf. 49.122).
Abb. 6: Ausschnitt aus der Stuckdecke des Valeriergrabs in Rom mit Apotheosedarstellung der Verstorbenen (rechts) und Nereide mit Meerwesen (links) (nach: Mielsch 1975, Taf. 85 oben).
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Diese Diskussion ist paradigmatisch für die Interpretation römischer Sepulkralikonographie, bei der sich zwei Meinungen gegenüberstehen: die ältere Meinung, wonach man aus der Interpretation der Ikonographie römischer Sarkophage Vorstellungen über das Jenseits, eine Weiterexistenz nach dem Tode ableiten könne, und die jüngere Position, die meint, die Darstellungen sagten nichts über einen Zustand nach dem Tode aus, sondern formulierten vielmehr repräsentativ Vorstellungen und Wünsche an das Leben. Letztere Position kann mittlerweile als communis opinio angesehen werden, und für sie spricht auch einiges.6 Denn eine solche eher nüchterne Interpretation geht nicht von christlich geprägter Eschatologie aus und setzt zwingend Erwartungen an und Vorstellungen über ein Leben nach dem Tode voraus. Stattdessen berücksichtigt sie eher weit verbreitete skeptisch-nihilistische römische Vorstellungen über den Tod7 und passt dazu, dass der römischen Sepulkralikonographie insgesamt ein prospektiv jenseitiger Charakter (mit wenigen Ausnahmen8) abgeht und stattdessen vielmehr die Lebensleistungen des Verstorbenen, Trost über den Tod und allgemeine positive Daseinswünsche formuliert werden. Im Folgenden soll als Ausgangspunkt noch einmal zurückgegangen werden zu der Diskussion um die Interpretation von Meerwesensarkophagen, bevor weitere maritime Themen in der römischen Sarkophagikonographie betrachtet werden.9
Meerwesensarkophage und die „Inseln der Seligen“ Zunächst ist es aber notwendig, die antiken Vorstellungen von den „Inseln der Seligen“ kurz anzusprechen. Bei Homer (Od. 4,561–568) wird als jenseitiger Ort der Heroen die „Elysinische Ebene“ am Rande der Welt im Okeanos genannt. Bei Hesiod (erg. 167–173) wird dieser Ort erstmals als „Inseln der Seligen“ bezeichnet. Diese Vorstellung findet sich auch bei Pindar (ol. 2,70–80) und hält sich im klassischen Griechenland, wobei immer mehr auch andere Rechtschaffende, nicht nur Heroen, Zugang zu den „Inseln der Seligen“ hatten.10 Jene „Inseln der Seligen“ liegen am Rande der Welt, im Okeanos, somit außerhalb des eigentlichen Mittelmeers. Diese Vorstellung lässt sich in Griechenland gut fassen, doch spielen in der römischen Kaiserzeit die „Inseln der Seligen“ faktisch keine Rolle mehr in der lateinischen Literatur.11 6
Zanker et al. 2004. Vgl. auch Koortbojian 1995; Hölscher 2008, 138–139. Vgl. dazu u. Anm. 11. 8 Vgl. etwa den Unterweltsarkophag aus Velletri: Andreae 1963, 11–87. 9 Zu den Meerwesensarkophagen siehe Rumpf 1939; Brandenburg 1967; Koch et al. 1982, 195– 197; Koch 1993, 81–82. 10 Waser 1905, 2470–2476; Sourvinou Inwood 1997, 1004–1005 (jeweils mit nachhomerischen Schriftbelegen). Insgesamt zur Vorstellung vom Elysion und den „Inseln der Seligen“ vgl. Nilsson 1955, 672–678; Gelinne 1988. 11 Brandenburg 1967, 202–204. Zu den Vorstellungen vom Jenseits in römischer Zeit vgl. den Überblick bei Nilsson 1961, 543–558 sowie Toynbee 1971, 33–39. 7
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Aus dieser Beobachtung entwickelten Rumpf und Brandenburg ein erstes wichtiges Argument für eine Ablehnung eines Jenseitsbezugs von Meerwesensarkophagen12 wie jenem in Rom, im Konservatorenpalast, bei dem Meerwesen einen Schild halten, unter dem eine Maske des Okeanos ist (Abb. 1).13 Dasselbe gilt für einen Sarkophag des 4. Jh. n. Chr. in der Catacombe di Pretestato in Rom, bei dem in dem von Meerwesen getragenen Schild das Porträt des Verstorbenen eingeschrieben ist (Abb. 2).14 Auch Darstellungen von Eroten und Psyche in einer Meeresszene auf einem Sarkophag im Museo Chiaramonti im Vatikan, bei der im Zentrum zwei Personen lagern, darunter wohl ein Verstorbener, könnten dementsprechend nicht als Darstellung der „Inseln der Seligen“ verstanden werden (Abb. 3).15 Da in der zeitgenössischen Literatur die „Inseln der Seligen“ keine Rolle spielen, ist es folgerichtig unwahrscheinlich, dass der Meerthiasos auf Sarkophagen eine Reise zu ihnen in Szene setzte. Als weiteres Argument für diese ablehnende Haltung führte Rumpf an, dass solche Themen in vielen anderen Gattungen römischer Dekorationskunst vorkommen, Gattungen wie etwa Mosaiken in Badeanlagen, bei denen ein Sepulkralkontext ausgeschlossen ist.16 Und schließlich wird als drittes Argument gegen einen Jenseitsbezug eine weitere wichtige Beobachtung ins Feld geführt: Bei einigen Sarkophagen wird zwar das Porträt des Verstorbenen von den Meerwesen getragen (so etwa bei jenem im Thermenmuseum in Rom, bei dem der Kopf des Verstorbenen noch nicht endausgearbeitet ist [Abb. 4]17), doch die Mehrzahl der Sarkophage (wie bei einem Beispiel im Lateran in Rom [Abb. 5]18) hat eben gerade nicht das Bild des Verstorbenen integriert, sondern nur den Zug der Meerwesen. Daher kann von einer Reise der Seele zu den „Inseln der Seligen“ allein von der inneren Bildlogik her nicht die Rede sein. Dementsprechend muss nach einer anderen Interpretation solcher Bilder gesucht werden, und sowohl Brandenburg als auch Zanker und Ewald deuten diese Darstellungen des Meerthiasos als Glücksvisionen. Zanker und Ewald weisen zudem darauf hin, dass im Sepulkralkontext Bilder des zärtlichen Verliebtseins der Meerwesen und Nereiden betont werden und damit vielleicht besonders auf das private Glück der Verstorbenen hingewiesen werden sollte.19 Allerdings haben Zanker und Ewald auch darauf aufmerksam gemacht, dass eine zu rigorose Ablehnung eines Jenseitsbezugs Assoziationsmöglichkeiten von vorneherein ausschließt, obwohl sie für antike Betrachter möglicherweise eine Option waren. So verweisen sie auf die Stuckdecke des Valeriergrabs in Rom 12
Rumpf 1939, 131–134; Brandenburg 1967. Rom, Konservatorenpalast – Rumpf 1939, 10 Nr. 29. 14 Rom, Catacombe di Pretestato – Rumpf 1939, 21 Nr. 61. 15 Vatikan, Museo Chiaramonti – Andreae 1963, Abb. 73. 16 Rumpf 1939, 132–133. Vgl. auch Muth 2000, 473–488. 17 Rom, Thermenmuseum Inv. Nr. 104478 – Rumpf 1939, 26–27 Nr. 70. 18 Rom, Lateran Inv. Nr. 968 – Rumpf 1939, 50–51 Nr. 122. 19 Zanker et al. 2004, 132. So bereits Muth 2000. 13
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(Abb. 6).20 Dort sind auf Bildfeldern Nereiden und Meerwesen dargestellt. Im zentralen Bildfeld findet sich dann die Verstorbene, wie sie auf einem Greifen sitzend nach oben getragen wird. Diese Apotheosedarstellung – sie folgt einem geläufigen römischen Typus21 – ist eindeutig prospektiv und nicht retrospektiv zu deuten, und die Meerwesen gehören zu der Bildkonzeption. Dementsprechend sollte auch den Meerwesensarkophagen nicht von vorneherein jede prospektive Dimension abgesprochen werden, auch wenn festgehalten werden muss, dass sie eine solche nicht explizieren. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass es selbstverständlich fehlgeleitet wäre, von den Römern eine einheitlich gefasste dogmatische Lehre dessen, was nach dem Tod kommt, zu erwarten.22 Wir müssen hier mit einer Pluralität von Vorstellungen rechnen, und es ist durchaus davon auszugehen, dass Vorstellungen, wie sie von der griechischen Literatur formuliert wurden, auch in der Kaiserzeit noch in einigen Kreisen vorhanden waren.
Weitere Meeressymbolik in der römischen Sepulkralikonographie Der bislang diskutierte Meerthiasos war geprägt von männlichen Mischwesen und weiblichen Nereiden, die vollständig menschengestaltig sind. Sie gehören zu einer mythologischen Welt, und diese Sphäre ist von der Sphäre der Menschen deutlich abgegrenzt. Die Verstorbenen erscheinen nur als Bild auf dem Schild oder in der Muschel, doch sind sie in den allermeisten Fällen nicht Teil des Thiasos. Es findet also eine deutliche Trennung der mythologischen von der menschlichen Welt statt. Diese Trennung wird gelegentlich durchbrochen bei einigen Darstellungen von Eroten auf dem Meer (Abb. 3). Hier kann eine Durchmischung der Welt der Eroten und der Menschen stattfinden,23 doch ist diese Mischung bzw. Parallelisierung von Erotenwelt und Menschenwelt auch bei anderen Themen von Erotensarkophagen zu finden, und bei ihnen dürfte, wie bei den meisten Meerwesensarkophagen, der Aspekt des unbeschwerten Glücks im Vordergrund gestanden haben.24 Sowohl bei Meerwesen als auch bei Eroten auf dem Meer finden wir also die Darstellung von unbeschwerter Glückseligkeit, bei der es zunächst einmal unerheblich ist, ob sie retrospektiv oder prospektiv gemeint ist. Zentral ist, dass das Meer mit positiven Vorstellungen verbunden wird und selbst die wilden Seekentauren keinen großen Schrecken ausstrahlen, sondern höchstens einen Kontrast 20
Zanker et al. 2004, 133–134. Zum Grab vgl. Griesbach 2007, 174–175 Nr. 42 und zur Stuckdecke Mielsch 1975, 95–96. 177–179 K 124 (dort jeweils mit weiterer Literatur). 21 Am besten lassen sich solche Bilder auf numismatischen Zeugnissen nachhalten: Schulten 1979. Siehe auch Zanker 2004 sowie Lichtenberger 2006 zu dem Bildschema. 22 Siehe dazu o. Anm. 10. 23 Z. B. (Abb. 3) Vatikan, Museo Chiaramonti – Andreae 1963, 158–159; (Abb. 9) Vatikan, Hafensarkophag im Belvedere: Andreae 1963, 153–158. 24 Vgl. etwa die Zirkusrennen mit Eroten: Schauenburg 1995.
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zu den schönen menschengestaltigen Nereiden bilden, mit denen sie einträchtig daherziehen. Anders stellt sich das Meer bei einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Sarkophagen dar. Sie gehören zu den sogenannten Vita Privata-Sarkophagen und stellen Szenen aus dem Menschenleben dar.25 Darunter gibt es auch Bilder der Seefahrt, die nicht in einer mythologischen Sphäre spielen, sondern als realistische Darstellungen der Seefahrt und der Meereserfahrung gedacht sind.26 Beginnen wir mit einem Sarkophag in Kopenhagen aus dem letzten Viertel des 3. Jh. n. Chr. (Abb. 7).27 Er zeigt drei Schiffe mit Besatzung in bewegter See. Am rechten Bildrand sehen wir einen Leuchtturm und am linken Bildrand eine Aussichtsplattform, von der ein Mann mit Begleitern herunter zu den Schiffen schaut. Es scheint sich um die Szene eines Schiffseigners zu handeln, der stolz auf seine Schiffe ist, die im Hafen (Leuchtturm) manöverieren. Auch wenn die Besatzungen nackt sind, ist deutlich, dass es sich um echte Menschen und nicht um Eroten handelt. Die ganze Szenerie ist allerdings von höchster Dramatik begleitet, denn die beiden rechten Schiffe sind in Gefahr, sie drohen aufeinander zu stoßen und die Besatzungen manövrieren hektisch, um dies zu verhindern. Doch auch die Besatzung des dritten Bootes ist in eifriger Aktivität begriffen, ein Beiboot wird ausgesetzt, um einen Ertrinkenden in der Bildmitte zu retten. Auch wenn bei diesem Sarkophag wohl die Repräsentation des Schiffseigners im Vordergrund steht und dieser die Basis seines Wohlstands zeigt, nämlich den Warentransport über das Meer, so wird doch deutlich die Ambivalenz des Meeres betont, das zugleich auch gefahrvoll und todbringend sein kann. Diesem Thema begegnen wir dann noch expliziter auf einem mittelantoninischen Sarkophag in London, von dem nur eine Schmalseite erhalten ist (Abb. 8).28 Gezeigt werden drei Fischer, die in ihrem Netz einen Ertrunkenen finden und in Entsetzen und Trauer zurückweichen. Ein Windgott über der Szene, der in ein Muschelhorn bläst, deutet vielleicht die Ursache des Ertrinkens, einen Sturm, an. Leider sind die anderen Seiten des Sarkophags nicht erhalten, doch wird deutlich, dass bei diesem Schmalseitenbild die Todesgefahren des Meeres drastisch betont werden. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass wir kein Indiz dafür haben, dass die Bestatteten Ertrunkene sind. Der Kopenhagener Sarkophag (Abb. 7) spricht sogar dagegen, da dort wohl der Mann ganz links der bestattete Tote ist. Ein solcher dokumentarisch-biographischer Charakter der Bildwelt wäre auch eher ungewöhnlich für römische Sarkophage. Nach diesen beiden Bildern, welche die Gefahren der Seefahrt herausstellen, wenden wir uns nun anders akzentuierten Darstellungen zu. Der große Sarkophag im Belvedere des Vatikans kann kurz nach der Mitte des 3. Jh. n. Chr. datiert 25
Amedick 1991. Amedick 1991, 55–58. 27 Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek Inv. Nr. 1299 – Amedick 1991, 58. 130–131 Kat. Nr. 57. 28 London, British Museum Inv. GR 1896.6–19.3 – Amedick 1991, 56. 131 Kat. Nr. 61.
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Abb. 7: Sarkophag mit Hafenszene in Kopenhagen (nach: Amedick 1991, Taf. 47.1).
Abb. 8: Sarkophagnebenseite mit Ertrunkenem in London (nach: Amedick 1991, Taf. 46.1).
Abb. 9: Sarkophag mit Hafenszene im Vatikan (nach: Amedick 1991, Taf. 47.2).
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Abb. 10: Mosaik aus Grab 43 in der Nekropole der Isola Sacra, Ostia mit Leuchtturm (nach: Becatti 1961, Taf. CLXXXIII).
Abb. 11: Grabplatte in Rom (nach: Amedick 1991, Taf. 47.3).
Abb. 12: Sarkophag mit Hafenszene in Rom (nach: Amedick 1991, Taf. 51.1).
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werden (Abb. 9).29 Wir sehen im Zentrum die beiden Verstorbenen mit bossierten, noch nicht individuell ausgearbeiteten Köpfen stehen, der Mann als Liber Pater, die Frau als Venus. Sie stehen in einem Stadtprospekt, in dem sich weitere Gestalten befinden, darunter mythologische Figuren und Personifikationen. Dass es sich um eine Hafenstadt handelt, wird aus den Booten am unteren Bildrand ersichtlich. Wir sehen hier Boote ankommen, zum Teil mit Eroten, zum Teil mit menschlichen Gestalten, und in dem großen Boot links sitzt sogar Odysseus. Andreae hat diesen Sarkophag ausführlich besprochen, wollte den Ort als eine der „Inseln der Seligen“ erkennen.30 Diese Interpretation fand keine allgemeine Akzeptanz, doch hat Andreae die literarischen Zeugnisse zusammengestellt, aus denen ersichtlich wird, dass das Leben als eine Seefahrt gesehen und der Tod durch die Einkehr in den Hafen symbolisiert wird.31 Solche Vorstellungen finden sich bereits bei Platon (leg. 803B) und sind dann in der Kaiserzeit vielfach bezeugt, so etwa in zeitlicher Nähe zu den Sarkophagen bei Mark Aurel (reg. 161–180 n. Chr.) in seinen Selbstbetrachtungen. Darin sinniert er über Leben und Tod: „Was bedeutet das alles? Du gingst an Bord, fuhrst über See und erreichst den Hafen.“ (3,3,6). Hier können wir also eine spezifische Vorstellung fassen, welche eine Fahrt über das Meer mit dem Leben und die Einfahrt in den sicheren Hafen mit dem Tod vergleicht. Expliziert wird diese Vorstellung auf einem Mosaik in der Nekropole der Isola Sacra von Ostia (Abb. 10): In Grab 43 fand sich das Schwarz-Weiß-Mosaik zweier Schiffe, die auf einen Leuchtturm als Symbol des Hafens zusteuern.32 Darüber steht auf Griechisch ὣδε παυσίλυπος, „dies ist der Ort der Ruhe von den Sorgen“. Wir dürfen davon ausgehen, dass diese Vorstellung nicht allein aus abstrakter stoischer Kontemplation wie bei Mark Aurel rührt, sondern ganz lebensweltlich zu dem Erfahrungsschatz der Bewohner der Hafenstadt Ostia gehörte. Solche Vorstellungen könnten auch den Darstellungen auf einer Grabplatte aus der zweiten Hälfte des 3. Jh. n. Chr. in der Catacombe di Pretestato in Rom zugrunde liegen (Abb. 11):33 Hier sehen wir zwei schwer beladene Frachtschiffe, die an einem Leuchtturm liegen. Hier dürfte wieder eine Mischung aus lebenszeitlicher Repräsentation (der Bestattete hatte vielleicht durch solche Schiffe sein Auskommen) und dem Bild des Todes als Hafen vorliegen. Und auch ein ungewöhnlicher Sarkophag in Rom im Giardino des Palazzo Colonna könnte eine solche Vorstellung wiedergeben (Abb. 12):34 Dieser Sarkophag aus der Mitte des 3. Jh. n. Chr. kombiniert das Thema der glücklichen Heimkehr in den Hafen mit einer Wagenfahrt. Es ist denkbar, dass auch hier das Bild der Ankunft in den Ha29
Vatikan, Cortile del Belvedere Inv. Nr. 973 – Amedick 1991, 57. 162–163 Kat. Nr. 256. Andreae 1963, 153–158. 31 Andreae 1963, 136–139. 32 Becatti 1961, Tf. CLXXXIII; Andreae 1963, 136–137; Brandenburg 1983, 252. 33 Rom, Catacombe di Pretestato, Inv. Nr. 925 – Amedick 1991, 58. 145 Kat. Nr. 143. 34 Rom, Palazzo Colonna, Giardino – Amedick 1991, 58–59. 155 Kat. Nr. 204
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Abb. 13: Sarkophag mit Hafenszene in Ostia (nach: Amedick 1991, Taf. 49.1).
fen für den Tod steht, auch wenn bei diesem Sarkophag ganz klar auch die Statusrepräsentation des Verstorbenen im Vordergrund steht.35 Die Vorstellung, im Hafen Ruhe und Glückseligkeit zu finden, begegnet auch auf einem Sarkophag in Ostia im Museo delle Navi (Abb. 13):36 Dieser um 300 n. Chr. zu datierende Sarkophag zeigt auf der Front eine zweigeteilte Szenerie. Links fährt ein Schiff in einen Hafen ein und ein Mann rudert bereits durstig auf einen Leuchtturm zu. Rechts sieht man dann eine Szene in einer Hafenkneipe, in der eine Frau und ein Mann Wein serviert bekommen. Hier sehen wir den Kontrast von unruhiger Seefahrt und sicherer Ankunft in einer Hafenkneipe.37 Eine symbolische Interpretation im Sinne Mark Aurels muss man in diesem Fall nicht überstrapazieren, doch dürfte sie auch hier zugrunde liegen, kombiniert mit einem sehr lebensweltlichen Erfahrungshorizont in der Hafenstadt Ostia. Das Meer ist auch hier als ein Ort konnotiert, der unruhig ist und dem man entkommen muss. Es ist dies der stärkste Kontrast zu den mythologischen Meerwesensarkophagen, bei denen das Meer ein Ort der Glückseligkeit ist – hier ist die Hafenkaschemme der Ort der Glückseligkeit, nachdem man die Gefahren des Meeres gemeistert hat. Vielleicht ist es gerade die in den Mythos verlegte mühelose Beherrschung des gefährlichen Meeres, die Grund und Ausdruck der Glückseligkeit ist und damit eine Gegenwelt kreiert.38 Grundlegend verschiedenere Auffassungen über das Meer konnte man nicht formulieren, und doch wurden beide nebeneinander in sepulkralsymbolischen Zusammenhängen als sinnstiftend angesehen und beide zeugen von einem gemeinsamen Erfahrungshorizont, nämlich dem des Mittelmeeres. Es ist dabei sicher kein Zufall, dass eine Reihe der Belege mit lebensweltlichen Szenen in der Hafenstadt Ostia gefunden wurden. 35
Brandenburg 1983, 252. Ostia, Museo delle Navi, Inv. Nr. 1340 – Amedick 1991, 57–58. 138 Kat. Nr. 97. 37 Zu solchen Wirtshausbildern, bei denen Männer und Frauen zusammen dargestellt werden konnten, vgl. Clarke 2003, 160–180; Ritter 2011 (dort auch weitere Literatur zu dem Thema). 38 Muth 2000.
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Abb. 14: Jonasarkophag, Abguss eines Sarkophags im Vatikan, Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum (Foto: M. Benecke).
Jona Nur als kurzer Seitenblick seien noch die frühchristlichen Jonasarkophage angesprochen (Abb. 14):39 Das Thema geht auf das Alte Testament zurück.40 Jona, der von Gott nach Ninive geschickt wird, um die Bewohner der sündhaften Stadt zu ermahnen, entzieht sich diesem Auftrag und besteigt stattdessen ein Schiff, um nach Tarsis an einen weit entfernten Ort zu fahren. Gott schickt jedoch einen Sturm auf das Mittelmeer, und als Jona begreift, dass dieser von Gott gesandt ist, lässt er sich von den Schiffern ins Meer werfen, wird von einem großen Fisch verschluckt, bleibt drei Tage im Bauch des Tieres, bevor er dann an Land ausgespien wird. Jona geht nun nach Ninive und predigt den Bürgern, diese tun Buße und Gott zerstört die Stadt nicht, worüber Jona zornig wird, aus der Stadt auszieht und sich in eine Kürbislaube vor der Stadt setzt. Gott lässt den Kürbis verdorren und Jona verzweifelt darüber. Daraufhin konfrontiert Gott Jona damit, dass dieser mehr Sorge um seinen Kürbis als die Bewohner der Stadt habe. In der frühchristlichen Sarkophagkunst ist der Jonazyklus sehr beliebt, und er wird in drei Szenen dargestellt: dem Meerwurf, dem Ausgespienwerden und dem entspannten Liegen Jonas in der Kürbislaube. Gerade Jonas Ruhe in der Kürbislaube ist ein besonders prominentes Bild. Diese Prominenz steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dem „Motiv“ im Bibeltext, wo es keineswegs so zentral ist, wie etwa Meerwurf und das Ausgespienwerden. Außerdem setzt dieses Bild in der Kürbislaube nicht eine Kernaussage der Erzählung in Szene. Offenbar ist es aber in der Bildkunst besonders akzentuiert worden und es ist vorstellbar, dass es gerade in Kontrast zu dem dramatischen Geschehen des Sturms auf dem Mittelmeer gewählt wurde. Das Meer wäre auch hier der Ort der Gefahr, 39
Zum Jonaszyklus siehe Wilpert 1932, 201–222; Paul 1970; Engemann 1973, 70–74; Sichtermann 1983; Koch 2000, 154–155. Das abgebildete Exemplar (Abb. 14): Vatikan, Museo Pio Cristiano 119 – Bovini et al. 1967, 30–32 Nr. 35. 40 Buch Jona; vgl. auch Mt 12,39–41; 16,4; Lk 11,29–32.
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während auf Land Ruhe und Sicherheit ist. Es ist nicht abwegig, hier eine ähnliche Vorstellung von den realen Gefahren des Meeres und der Sicherheit auf dem Land zu sehen, wie auf dem Ostienser Kneipensarkophag (Abb. 13).
Schluss Die „Inseln der Seligen“ werden wir bei den meisten Darstellungen von Meeresthematik im Sepulkralkontext vergeblich suchen. Was wir aber finden, sind Bilder, die davon zeugen, dass das Mittelmeer zum Erfahrungshorizont der Menschen gehörte und daher auch in der Sepulkralikonographie verarbeitet wurde.41 Dabei begegnet uns das Meer in einer ambivalenten Form. Sowohl die Bedrohlichkeit des Meeres als Ort der Gefahr und des Todes wird thematisiert als auch das Meer als Sehnsuchtsort und Ort des Glücks. Auf kaiserzeitlichen Zeugnissen können wir sehen, dass die eine Sphäre in realistischen Darstellungen auftaucht, während die andere mythologisch verklärt wird. Beide Sphären werden aber nicht miteinander kombiniert, nur bei dem Sarkophag in Kopenhagen ist bei aller Gefahr ein positiver Grundton zu erkennen, denn der Schiffseigner schaut wohlhabend und stolz auf seine Schiffe herab. Es ist sicher kein Zufall, dass unter den wenigen Sarkophagen, welche die Gefährlichkeit des Meeres und die Sicherheit des Hafens betonen, mehrere Stücke aus der Hafenstadt Ostia kommen und somit ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Lebensumwelt und sepulkraler Ikonographie hergestellt werden kann.
Literaturverzeichnis Amedick 1991: Amedick, Rita, Die Sarkophage mit Darstellungen aus dem Menschenleben IV. Vita Privata. Die Antiken Sarkophagreliefs I.4 (Berlin 1991). Andreae 1963: Andreae, Bernard, Studien zur römischen Grabkunst. Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts Rom Ergänzungsheft 9 (Heidelberg 1963). Becatti 1961: Becatti, Giovanni, Mosaici e pavimenti marmorei. Scavi di Ostia IV (Rom 1961). Bovini et al. 1967: Bovini, Giuseppe – Brandenburg, Hugo, Repertorium der christlichantiken Sarkophage I. Rom und Ostia (Wiesbaden 1967). Brandenburg 1967: Brandenburg, Hugo, Meerwesensarkophage und Clipeusmotiv. Beiträge zur Interpretation römischer Sarkophagreliefs, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 82, 1967, 195–245. Brandenburg 1983: Brandenburg, Hugo, Die Darstellungen maritimen Lebens, in: Spätantike und frühes Christentum. Ausstellung im Liebieghaus Museum alter Plastik Frankfurt am Main. 16. Dezember 1983 bis 11. März 1984 (Frankfurt 1983) 249–256. 41
Vgl. auch allgemein Muth 2000, 467.
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