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German Pages 192 Year 2016
Anna Gansbergen, Ludger Pries, Juliana Witkowski (Hg.) Versunken im Mittelmeer?
Kultur und soziale Praxis
Anna Gansbergen, Ludger Pries, Juliana Witkowski (Hg.)
Versunken im Mittelmeer? Flüchtlingsorganisationen im Mittelmeerraum und das Europäische Asylsystem
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Inhalt
Vorwort | 7 Einleitung
Ludger Pries | 9 Länderbericht Italien
Katrin Gredzinski, Marie Pardey, Juliana Witkowski | 29 Länderbericht Spanien
Christopher Graetz, Wibke Kordtomeikel, Katharina Werner, Juliana Witkowski | 63 Länderbericht Malta
Rafael Bohlen, Stefanie Schulte, Bahar Yeter | 91 Länderbericht Griechenland
Tobias Breuckmann, Julia Fürup, Justina Niedziela | 123 Länderbericht Zypern
Johannes König, Martha Michalak, Juliana Witkowski | 147 Ländervergleich: Asyl und Flucht in Italien, Spanien, Malta, Griechenland und Zypern
Anna Gansbergen, Juliana Witkowski | 177
Vorwort
Das hiermit vorgelegte Buch ist das Ergebnis eines von 2013 bis 2016 an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführten Lehrforschungsprojektes „MApping REfugees’ arrivals at the Mediterranean borders (MAREM)“. Es wurde am Lehrstuhl für Soziologie/Organisation, Migration, Mitbestimmung der Fakultät für Sozialwissenschaft unter der Leitung von Prof. Dr. Ludger Pries realisiert. Jeweils über zwei Semester haben Studierende unterschiedlicher Disziplinen sozialwissenschaftliche Grundlagen und Empirie der flüchtlingsbezogenen Organisationsnetzwerke und das Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vor Ort in Italien, Spanien, Griechenland, Zypern und Malta erforscht. Die in den Einzelkapiteln von Studierenden des Jahrgangs 2014/15 präsentierten Ergebnisse bauen auf den Vorarbeiten der vorhergehenden Generation auf, der an dieser Stelle ganz ausdrücklich für ihre Arbeiten gedankt sei. Wir bedanken uns auch ganz herzlich bei InStudies. Dieses Projekt dient an der Ruhr-Universität Bochum der Weiterentwicklung von Lehre und unterstützt Studierende bei der Ausbildung ihres individuellen Profils. Das Projekt konzentriert sich erfolgreich u. a. auf die individuelle fachliche Vertiefung durch forschendes Lernen und hat uns in diesem Rahmen eine sehr sinnvolle Kombination der Lehre mit der Forschung ermöglicht, auf der das vorliegende Buch basiert. Unser besonderer Dank richtet sich an die Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Ihr interdisziplinärer Ansatz, eine arbeitsfördernde Atmosphäre und ein Austausch im Kollegium haben zum Erfolg des Lehrforschungsprojektes beigetragen. Nach dem ersten, von Ludger Pries und Anna Gansbergen gemeinsam durchgeführten, Seminar lag die weitere Projektkoordination in der Ver-
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antwortung von Anna Gansbergen. Juliana Witkowski und Rafael Bohlen haben zunächst als beteiligte Studierende und dann als studentische und wissenschaftliche Hilfskräfte das Projekt sehr tatkräftig begleitet. An der Bearbeitung des Buchs waren außerdem noch Natalia Bekassow, Katrina Böse, Jana Komorowski, Tobias Breuckmann und Tristan Bauer als studentische bzw. wissenschaftliche Hilfskräfte beteiligt. Für den Aufbau der Google-Earth-Karte (http://www.ruhr-uni-bochum.de/marem/en/map.shtml), die als weltweit zugängliche kostenlose interaktive Lernplattform Lebensgeschichten von Asylsuchenden und Flüchtlingen, Beschreibung der für sie wichtigen Gesetze und Organisationen enthält, danken wir auch Mara Hasenjürgen und Georg Mratschkowski. Mit dem vorliegenden Buch wird ein Beitrag zur Schließung der Forschungslücke zu asylbezogenen Organisationen geleistet. Das kann helfen, die Flüchtlingssituation in Europa besser zu verstehen und verstehend zu verbessern. Die Herausgeber
Einleitung L UDGER P RIES
N ETZWERKE FLÜCHTLINGSBEZOGENER O RGANISATIONEN ZWISCHEN S CHUTZSUCHENDEN UND S TAATSRAISON In den öffentlichen und sozialwissenschaftlichen Diskussionen zur „Flüchtlingskrise“ oder „Flüchtlingsproblematik“ wird meistens entweder eine mikrosoziologische oder eine makrosoziologische Betrachtungsebene gewählt. Auf der Mikroebene werden das Schicksal der einzelnen Flüchtlinge1 oder auch die sich konkret vor Ort ergebenden Herausforderung ihrer
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Der Begriff Flüchtling wird hier generell in einem erweiterten sozialwissenschaftlichen Sinn verwendet und schließt auch Menschen ein, die sich als Binnenflüchtlinge im eigenen Land befinden sowie diejenigen, die aufgrund unmittelbarer Verfolgung und Bedrohung ihres Lebens aus einem Land geflohen sind, aber in anderen Ländern (noch) nicht formal als Flüchtling oder Asylberechtigter anerkannt wurden. Flüchtlinge werden hier nicht in erster Linie als Objekte und Opfer, sondern als Akteure, als eigenständig und immer in sozialen Zusammenhängen Handelnde angesehen. Sie haben die Lebensbedingung, fliehen zu müssen, nicht selbst gewählt, gestalten aber dennoch ihren Lebenslauf selbst. Im umgangssprachlichen Gebrauch wird der Begriff Flüchtling in der Regel in einer breiten und nicht nur auf anerkannte Flüchtlinge begrenzten Definition verwendet. Gerade in Deutschland haben in den letzten zwei bis drei Generationen zig Millionen Menschen Fluchterfahrungen gesammelt, die oft nicht in das
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Versorgung und Integration behandelt. Auf der Makroebene werden die strukturellen Kontexte der Fluchtursachen oder die staatlichen Politiken in den Herkunfts-, Transit- und Ankunftsländern erörtert. Vergleichsweise wenig wird über die dazwischenliegende Ebene der Netzwerke und Organisationen diskutiert, die mit Fragen der Flüchtlingsbewegungen und des Flüchtlingsschutzes befasst sind. Hierzu zählen sowohl Selbsthilfenetzwerke von Flüchtlingen und Schlepperorganisationen als auch Nicht-Regierungsorganisationen sowie kirchliche und staatliche Hilfs- und Kontrolleinrichtungen2. Diese Mesoebene der Netzwerke flüchtlings- und asylbezogen arbeitender Organisationen steht im Mittelpunkt des vorliegenden Buches. Die Auswahl dieser Betrachtungsebene begründet sich wesentlich aus drei Annahmen. Erstens wird davon ausgegangen, dass Flüchtlinge selbst nicht in erster Linie nur als Individuen in einer passiven Opferrolle gesehen werden sollten. Sie agieren in komplexen sozialen Netzwerken von großfamilialen Lebensbezügen, zivilgesellschaftlichen Unterstützergruppen und professionellen Schleuser- und Schlepperorganisationen. Zweitens existie-
spezifische Begriffsraster der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. Gerade die Chancen, die ‚Flüchtlingskrise‘ des Jahres 2015 in breitere gesellschaftliche und historische Erfahrungszusammenhänge zu stellen, werden verbaut, wenn nun der Begriff Flüchtling aus falsch verstandener ‚politischer Korrektheit‘ durch Begriffe wie „Geflüchtete“ oder „Fliehende“ ersetzt wird. Alle Begriffe können durch gesellschaftliche Diskurse spezifisch negativ oder positiv besetzt sein oder werden. Die Begriffe „Geflüchtete“ und „Fliehende“ entstammen teilweise polizeilicher Terminologie. Der Begriff Flüchtlinge kann auf Gemeinsamkeiten historischer Fluchterfahrungen und des Ankommens unterstreichen (Pries 2016). Zur allgemeinen Problematik der auf Flucht und Asyl bezogenen Begriffe vgl. etwa die differenzierten Argumente in http://www.sprachlog.de/2012/12/01/ fluechtlinge-und-gefluechtete/ und http://www.sprachlog.de/2015/12/12/fluecht linge-zu-gefluechteten/. 2
In diesem Buch werden folgende Abkürzungen für die Art der Organisation genutzt: Nichtregierungsorganisation = NRO, Regierungsorganisation = RO, Internationale Regierungsorganisation = IRO, Forschungsinstitut = FI
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ren – zum Teil schon seit Jahrzehnten – Nicht-Regierungsorganisationen mit religiösen, politischen oder sozialfürsorgerischen Orientierungen, die zwischen den direkten staatlichen Kontroll- und Verwaltungseinrichtungen und den Schutzsuchenden agieren und teilweise auch vermitteln. Drittens kann man in diesem Zusammenhang von einer zivilgesellschaftlichsozialen Bewegung für Flüchtlingsschutz und Asyl sprechen. Die Situation der Flüchtlinge, das staatliche Handeln und die Dynamik der Flüchtlingsbewegungen insgesamt können nur angemessen verstanden werden, wenn diese Mesoebene der Netzwerke flüchtlingsbezogener Organisationen in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt wird. Sie bilden die Arena, in der Flüchtlinge, Staat und Zivilgesellschaft als individuelle und kollektive Akteure zusammentreffen. Dies gilt für die Mittelmeeranrainerländer ebenso wie für Deutschland. In Deutschland wurde dieses Thema vor allem mit der massiven Einwanderung von Schutzsuchenden im Jahre 2015 zu dem die öffentlichen Diskussionen beherrschenden Gegenstand. Über die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge, ihre oft gefährlichen und immer beschwerlichen Fluchtwege, die Bedingungen ihrer Aufnahme, Unterbringung und weiteren Integration in Deutschland sowie die Rolle der zivilgesellschaftlichen Unterstützungsorganisationen wurde breit informiert und diskutiert. Eine ähnliche Aufmerksamkeit hat die Situation der Flüchtlinge und der flüchtlingsbezogen arbeitenden Organisationen in den Mittelmeeranrainerländern der EU bisher leider weder in der wissenschaftlichen noch in der allgemeinen öffentlichen Debatte erfahren. Deshalb beschäftigen sich die nachfolgenden Kapitel ausführlicher mit der allgemeinen Migrations- und Flüchtlingslage sowie mit den Netzwerken der flüchtlingsbezogenen Organisationen in Griechenland, Italien, Malta, Spanien und Zypern. In den folgenden Abschnitten wird begründet, warum diese Mesoebene der organisationalen Netzwerke zwischen den Schutzsuchenden selbst (auf der Mikroebene) und den nationalstaatlichen und EU-Politiken (Makroebene) so bedeutsam ist. Da die dann folgenden Kapitel sich jeweils auf ein EUMittelmeeranrainerland beziehen, wird hier auch der allgemeine europäische und deutsche Kontext zumindest skizziert.3
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Der folgende Text ist gekürzt und leicht verändert dem Buch Pries 2016 entnommen.
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Z IVILGESELLSCHAFTLICH - SOZIALE B EWEGUNG FÜR F LÜCHTLINGSSCHUTZ UND ASYL Die „Flüchtlingskrise“ lässt sich nur angemessen verstehen, wenn sie als eine soziale Bewegung neuen Typs wahrgenommen wird. Es handelt sich nicht einfach um das plötzliche und mehr oder weniger zufällig-erratische Handeln Hunderttausender Flüchtlinge aus Syrien und anderen Krisenländern auf der Mikroebene. Es geht auch nicht in erster Linie um ein ebenso spontan-individualistisches Reagieren Hunderttausender Hilfswilliger. Die Dynamik der „Flüchtlingskrise“ lässt sich auch nicht angemessen erklären, wenn nur auf die – zweifelsohne wichtigen und an einigen Punkten im wahrsten Sinne des Wortes wegweisenden – Interventionen von Politikern wie der Bürgermeisterin von Lampedusa oder der Bundeskanzlerin mit ihrem „Wir schaffen das“ verwiesen wird. Umgekehrt versteht die Ereignisverläufe ebenso wenig, wer nur auf makrostrukturelle Versäumnisse wie die fehlende Pazifizierung des Mittleren Ostens durch die internationale Staatengemeinschaft, auf die strukturellen Defizite von Mittelmeeranrainerländern wie Griechenland oder auf die fehlende Einigung über Verantwortungsteilung in der Europäischen Union verweist. Zwischen der Mikro- und der Makroebene, zwischen den einzelnen Akteuren und den gesamtgesellschaftlichen und globalen Strukturen entwickelt sich das Zusammenleben der Menschen in ihren Verflechtungszusammenhängen alltäglicher Lebenswelten. Bezogen auf Flüchtlings- und Asylfragen bildeten sich bereits seit etwa den 1990er Jahren in vielen europäischen Gesellschaften soziale Netzwerke, Organisationen und soziale Bewegungen als lose und nicht formalisierte, aber durchaus geordnete Aktionszusammenhänge heraus. Geleitet durch unterschiedliche politische, religiöse oder humanitäre Normen arbeiten sie in ihrer großen Mehrheit daran, den Schutz für Flüchtlinge zu garantieren beziehungsweise zu verbessern; ein Teil der Organisationen sieht sich aber auch in erster Linie nicht dem Schutz der Flüchtlinge, sondern dem Schutz vor den Flüchtlingen verpflichtet (z.B. Grenzschutzorganisationen, Polizeien). Die zivilgesellschaftlich-soziale Bewegung für Flüchtlingsschutz und Asyl unterscheidet sich dabei von klassischen sozialen Bewegungen in fünf wichtigen Punkten. Ein erstes Charakteristikum ist, dass es sich um eine plurilokale transnationale soziale Bewegung handelt, also um Aktivitäten und netzwerkförmige ‚Akteursknoten‘, die über die Grenzen von Nationalstaaten hinweg
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zusammenwirken. Direkte Strukturen von „transnationalem Aktivismus“ (Tarrow 2005) zeigen sich etwa, wenn sich NROs in Marokko und in Südspanien, in Libyen und in Süditalien, in der Türkei und in Griechenland über soziale Netzwerke und Handyverbindungen gemeinsam um die Fluchtwege und Seerettung von Bootsflüchtlingen kümmern. Der transnationale Charakter dieser Flüchtlingsbewegung zeigt sich aber auch daran, dass die Flüchtlinge sehr präzise über die Aufnahmesituation in möglichen Ankunftsländern informiert sind und ebenso die zivilgesellschaftlichen Unterstützergruppen recht genau die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge kennen. Bisher wurden als transnationale soziale Bewegungen vor allem Protestbewegungen gegen Klimaerwärmung, für Menschenrechte oder globale Gerechtigkeit behandelt. Tarrow (2012) argumentiert, dass (transnationale) Protestbewegungen weder völlig außerhalb noch gänzlich innerhalb politischer Systeme operieren, sondern zwischen Totalopposition und Einvernahme in formalisierte Politiksysteme changieren. Die transnationale Flüchtlingsbewegung geht über die bekannten Formen grenzüberschreitender sozialer Bewegungen hinaus, weil sie nicht nur Protest ausdrücken und bestehende gesellschaftliche Verhältnisse infrage stellen will, sondern unmittelbar zu praktischen Veränderungen und der Neugestaltung alltäglicher Lebenswelten beitragen will. Dabei sind – und das ist ein zweites Merkmal der Flüchtlingsbewegung als neuer transnationaler sozialer Bewegung –Flüchtlinge nicht mehr nur Adressaten von Hilfe und Solidarität, sondern aktive Mitgestalter, die sich auf globale Menschenrechte und internationales Völkerrecht berufen. Den klassischen transnationalen sozialen Bewegungen wurde unter anderem ‚Ethnozentrismus der Wohlfahrtsinseln‘ vorgeworfen: Wohlsituierte Mittelklasseschichten der reichen nördlichen Länder protestierten gegen Kinderarbeit, Waldrodungen und naturzerstörende Abfallwirtschaft in den ärmsten Ländern des Südens, ohne die dort lebenden Menschen in ihren Handlungskontexten zu verstehen und als gleichberechtigte Akteursgruppen ernst zu nehmen. Einem solchen Solidaritätspaternalismus steht die neue Flüchtlingsbewegung diametral entgegen: Flüchtlinge sind darin nicht nur Adressatengruppen transnationaler Hilfe und Solidarität, sondern selbst
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auch Aktive und Akteure dieser Bewegung.4 Auf die Frage, wie der rasche Wandel Deutschlands von einer Skepsis zu einem Willkommen gegenüber Flüchtlingen zu erklären sei, antwortet Dale (2015, nach eigener Übersetzung): „Vor allem ist es die tatsächliche Entschlossenheit der Flüchtlinge und die soziale Bewegung hinter ihnen. An bestimmten Punkten haben sie eine erstaunliche Veränderung durchgemacht von dem, was Sartre eine ‚serielle Gruppe‘ (die ihren Weg durch Europa individuell oder als Familien nimmt) nannte hin zu einer ‚verbundenen Gruppe‘ (die sich als eine soziale Bewegung bildet, um gemeinsam den Hürdenlauf der Flucht zu verhandeln).“
Ein drittes Merkmal der Flüchtlingsbewegung als neuer sozialer Bewegung ist ihr Mehrebenencharakter. Wer in Spanien, Griechenland, Italien, Malta oder Zypern direkt vor Ort aktiv ist, weiß um die spezifische Situation der Herkunftsorte und Transitwege der Flüchtlinge. Neben diesen konkreten Orten in verschiedenen Ländern sind aber auch die nationalen Politiken und Flüchtlingsregime – dieser Länder wie auch potentieller Transit- und alternativer Ankunftsländer – in den Aktivitätsverflechtungen von großer Bedeutung: In einigen Ländern war die Flüchtlingsbewegung 2015 besonders ausgeprägt, auch weil sie in anderen besonders schwach war. Flüchtlinge wählten Zielorte nicht nur danach, wo vielleicht schon Verwandte angekommen waren, sondern auch nach den wahrgenommenen nationalen Maßnahmen und Politiken der Staaten – sie mieden Ungarn und Polen und
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So hieß es bereits 2003 in der Einleitung zu einem Schwerpunktheft der Zeitschrift Refuge: „A key theme runs through each of the contributions to this volume: the question of political agency. Each piece confronts this fundamental question: When it comes to advocating for refugee and migrant rights, who is an effective political actor? Is it the UN and its agencies? Governments? NGOs? Citizen groups? What of the refugees and migrants themselves? Must they be ‚spoken for‘? Or can they speak, advocate, and organize for themselves?“ (Lowry/Nyers 2003: 2). Bzgl. der Herausbildung einer sozialen Flüchtlingsbewegung in der EU unterstreicht der Abteilungsleiter Asyl, Migration, Grenzen von FRA die wegen der vielen rechtlichen Unterscheide zwischen EU-Mitgliedsstaaten bestehenden Schwierigkeiten: https://refugeereview.wordpress.com/interviewsand-discussions/interview-forced-migration-issues-in-the-european-union/.
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konzentrierten sich auf Österreich, Deutschland und Schweden. Ebenso wuchsen flüchtlingsbezogene Solidaritätsaktivitäten in manchen Ländern an, weil die Menschen sahen, dass die Regierungen in anderen Ländern keine organisierten Hilfsangebote für Flüchtlinge machten. Menschen in Mazedonien und Ungarn wiederum wurden vor Ort durch Versorgung von Flüchtlingen mit Wasser und Nahrung auch deshalb zu einem Teil der Flüchtlingsbewegung, weil sie die Maßnahmen ihrer Regierungen und Verwaltungen für unzureichend hielten. Viele klassische soziale Bewegungen waren lokal und national ausgerichtet. Die Antiatomkraftbewegung war ‚typisch deutsch‘ und hatte keine Pendants in Frankreich oder Belgien. Neuere soziale Bewegungen hatten durchaus einen eher grenzüberschreitenden Charakter, so etwa die OccupyBewegung, die von den USA und Kanada nach Westeuropa und in andere Länder der Welt diffundierte. In der Flüchtlingsbewegung aber sind lokale, nationale, europäische und globale Dynamiken in einem Mechanismus kumulativer Verursachungen verbunden. Physische Ortswechsel und die Bezugnahme auf Orte in vielen Ländern gehören zum Bestimmungsmerkmal von Flüchtlingsbewegungen schlechthin. Die gegenwärtige Flüchtlingsbewegung in Europa hat auch deshalb einen ausgeprägten Mehrebenencharakter, weil mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) sowie den in diesem Zusammenhang sich entwickelnden Aktivitätsstrukturen und Netzwerken von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen die verschiedenen Handlungsebenen vom Lokalen über das Nationale und Supranationale bis zum Globalen eng miteinander verwoben sind. Die konkreten Zielorte für das Ankommen von Flüchtlingen werden von den allgemeinen regulativen GEAS-Bestimmungen, von den konkreten Politiken nationaler Regierungen, von flüchtlingsbezogenen Netzwerksstrukturen auf regionaler und lokaler Ebene und auch von bereits bestehenden familiären und Verwandtschaftsnetzwerken beeinflusst. Nur so erklärt sich, warum im Jahr 2015 über eine Millionen Flüchtlinge nach Deutschland wanderten und insgesamt etwa 442.000 Erstanträge auf Asyl gestellt wurden, während im selben Jahr in Polen nur 10.300 und in Frankreich nur 70.600 Asylerstanträge gestellt wurden.5 Die Flüchtlingsbewegung in Europa wurde beeinflusst von fehlender gesamteuropäischer Handlungsfähig-
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Vgl. http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Asylum_quarter ly_report und hier (migr_asyappctzm).
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keit, der abweisenden Haltung vieler EU-Mitgliedsstaaten, der vergleichsweise liberalen nationalen Aufnahmepolitik in Deutschland, den dort bestehenden stabilen und ausgebauten staatlichen und zivilgesellschaftlichen Aufnahme- und Unterstützungsstrukturen auf regionaler und lokaler Ebene und schließlich von bereits bestehenden sozialen Beziehungen von Flüchtlingen an bestimmten Orten. Ein viertes Charakteristikum der Flüchtlingsbewegung ist der Stellenwert von sozialen Netzwerken und internetgestützten Kommunikationsformen (via E-Mail, Twitter, Facebook, SMS etc.) sowie der dafür notwendigen technischen Medien, vor allem internetfähiger Handys.6 Solche modernen Kommunikationsmöglichkeiten waren schon für die Dynamik des Arabischen Frühlings in den nordafrikanischen Ländern ganz entscheidend. Zum einen verbreiten sich bewegungsrelevante Informationen in Sekundenbruchteilen, was annähernd eine plurilokale transnationale Kopräsenz schafft: Für Fluchtentscheidungen in Syrien oder einem Lager in der Türkei können über ein internetfähiges Handy sowohl Wettervorhersagen wie auch die in Echtzeit eingehenden Informationen über Routen und Barrieren sowie Aufnahme- oder Abschottungspolitiken in möglichen Zielländern relevant werden. Gleichzeitig dienen diese neuen Medien auch der Organisierung von kollektiven Aktionen zwischen Menschen, die unter Umständen Tausende von Kilometern entfernt voneinander agieren. Schließlich wurde ein Großteil der spontanen zivilgesellschaftlichen Unterstützungsarbeit über diese neuen Kommunikationsmedien organisiert. Ohne diese wäre die äußerst reaktionsschnelle Bewegung Hunderttausender Flüchtlinge auf präzise Ankommensziele hin nicht möglich gewesen. Der Ausspruch der deutschen Bundeskanzlerin „Wir schaffen das“ hatte in diesem Sinne tatsächlich unmittelbare transnationale Wirkungen. Während die neuen Kommunikationsmöglichkeiten schon vorher für nationale soziale Bewegungen sehr wichtig waren, wurden sie 2015 zum ersten Mal eine bedeutende Grundlage für die transnationale Flüchtlingsbewegung. Das fünfte und mindestens ebenso wichtige Merkmal der Flüchtlingsbewegung als neuer sozialer Bewegung ist ihr inhaltlich-normatives Mini-
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Banke (2013) argumentiert, dass gerade die prekäre Situation von Flüchtlingen, bezogen auf Herkunfts- und Ankunftsregionen, diese Gruppen für transnationale Politiken prädestiniert und zu der „paradoxen Macht von Prekarität für Flüchtlingsaktivisten“ führt.
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malprogramm. Viele soziale Bewegungen begannen als Aktivitätszusammenhänge mit inhaltlichen Kernforderungen gegen bestimmte Entwicklungen, die von den daran Beteiligten zwar als gesamtgesellschaftlich wichtig erachtet wurden, aber für viele Außenstehende zunächst – und nicht selten, wie etwa im Falle des Vietnamkrieges, der Atomkraftnutzung oder Klimaerwärmung – über Jahrzehnte als relativ unbedeutend und weit entfernt, als Luxusproblem bürgerlich-etablierter Minderheiten oder als Spielwiese linker Grüppchen abgetan wurden (Rucht/Neidhardt 2007; Tarrow 2005). Die Flüchtlingsbewegung dagegen ist transnational an dem Grundsatz orientiert, das schiere Überleben unschuldiger Menschen zu retten, die vor kollektiver Gewalt fliehen. In diesem Sinne ist die Flüchtlingsbewegung inhaltlich auf ein normatives Minimalprogramm ausgerichtet: Menschen, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ sich außerhalb des Landes befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen“, ist Schutz zu gewähren, sie dürfen nicht in das Land ihrer Verfolger zurückgeschickt werden.7 Akzeptiert man die hier skizzierten grundlegenden Merkmale der Flüchtlingsbewegung als sozialer Bewegung, dann wird verständlich, warum sie nicht auf eine bestimmte soziale Gruppe oder politische Orientierung reduziert werden kann. Soziale Bewegungen führen immer Menschen sehr unterschiedlicher Motivlagen zusammen. Das Verbindende der Flüchtlingsbewegung ist ein im Vergleich zu anderen sozialen Bewegungen recht minimalistischer Normenkonsens: Menschen auf der Flucht, die einer Gefahr um Leib und Leben ausgesetzt sind, verdienen Schutz, Aufnahme und Ankommen. Auch wenn Eigeninteressen bei bestimmten Personen eine Rolle spielen mögen: Die Flüchtlingsbewegung gründet sich vor allem auf dem verbindenden Minimalanliegen, Menschen in unmittelbarer Lebensbedrohung Schutz zu gewähren. Deshalb kann diese soziale Bewegung neben den unmittelbar Betroffenen politische Aktivisten ebenso integrieren wie religiös Motivierte oder einfach aus einem unmittelbaren moralischen Impuls heraus Handelnde.
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Vgl. zur Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, dem UN-Protokoll von 1967 und deren Bedeutung im 21. Jahrhundert http://www.unhcr.de/mandat/genferfluechtlingskonvention.html.
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Der einfache Imperativ „Flüchtlinge haben ein Recht auf Schutz“ als Kern der sozialen Bewegung für Flüchtlingsschutz und Asyl bekam im Jahre 2015 in Deutschland eine weit über Aktivistenkreise hinausgehende Bedeutung. Dies lag sicherlich daran, dass durch die realen Flüchtlingsbewegungen die Gesellschaft in Deutschland unmittelbarer als zuvor mit der Präsenz von Schutzsuchenden konfrontiert wurde. Für andere Länder wie die Mittelmeeranrainerstaaten gehört die Anwesenheit von Flüchtlingen seit Jahrzehnten zur alltäglichen Lebenswelt. Hier haben sich entsprechend bereits seit vielen Jahren zivilgesellschaftliche Strukturen der Schutzgewährung herausgebildet, die in engem Austausch mit lokalen, nationalen und internationalen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen stehen. Im Rahmen des Lehrforschungsprojektes Mapping Refugees’ Arrivals at Mediterranean Borders (MAREM) konnten diesbezüglich von 2013 bis 2016 umfangreiche Datenerhebungen und -auswertungen für Griechenland, Italien, Malta, Spanien und Zypern durchgeführt werden. Im Mittelpunkt standen dabei zwei Fragen. Zum einen sollte ermittelt werden, inwieweit das europäische Normenwerk für Flüchtlingsschutz, das im Jahre 2013 als Bündel von drei revidierten EU-Direktiven und zwei revidierten Richtlinien als Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) verabschiedet wurde, in den Ländern den relevanten Akteuren bekannt ist und inwieweit die entsprechenden Standards und Mechanismen auch tatsächlich Anwendung finden. Zum anderen sollten die Beziehungs- und Kooperationsstrukturen zwischen den mit Flüchtlings- und Asylfragen befassten Organisationen vor allem durch die Erhebung egozentrierter Netzwerke8 ermittelt werden. Einige Ergebnisse dieser Recherchen werden in den folgenden Kapiteln vorgestellt.9 In den folgenden Abschnitten soll kurz erläutert werden, dass in diesen Ländern aufgrund ihrer Lage an EU-Außengrenzen zum Teil schon seit Jahrzehnten flüchtlingsbezogene organisationale Netzwerke aktiv sind.
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Als egozentriert werden Netzwerke verstanden, die die soziale Umwelt aus der Sicht eines Akteurs widerspiegeln.
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Vgl. Gansbergen/Pries (2016) sowie die Projektwebseite http://www.ruhr-unibochum.de/marem.
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ASYL - UND FLÜCHTLINGSBEZOGENE O RGANISATIONSNETZWERKE IN S PANIEN
UND I TALIEN
So wurde in Spanien schon 1979 die Organisation CEAR (Comisión Española de Ayuda al Refugiado, Spanische Kommission der Flüchtlingshilfe) mit dem Ziel gegründet, die Einhaltung der Menschenrechte zu fördern sowie vor allem Flüchtlinge, Staatenlose und international Schutzbedürftige zu unterstützen. Im Jahr 2015 trugen etwa 150 Hauptamtliche und 450 Ehrenamtliche die Arbeit von CEAR in Spanien. Auf der Mitgliederversammlung von CEAR sind politische Parteien, religiöse Verbände (Caritas, Evangelische Kirche Spaniens, Islamische Vereinigung Spanien) und soziale Organisationen vertreten. CEAR hat neben dem Hauptsitz in Madrid insgesamt zehn Unterstützungsbüros in Barcelona, Bilbao, Málaga, Sevilla, Valencia, Ceuta und Melilla sowie auf den Kanarischen Inseln. Die lokale CEAR-Gruppe in Sevilla wurde 1992 gegründet. Sie betreut den Großteil der über das Mittelmeer von Nordafrika kommenden Flüchtlinge und unterhält Büros in Ceuta und Melilla sowie enge Kontakte zu zwei Büros auf den Kanarischen Inseln. Neben kostenloser juristischer Beratung und Betreuung von Flüchtlingen bietet CEAR auch kostenlose psychologische Dienstleistungen und Hilfe bei Unterbringung und Versorgung an. Wichtig ist nun, dass CEAR nicht nur über die eigene Mitgliederversammlung, sondern vor allem in der täglichen Arbeit lokal und national mit vielen anderen Organisationen verbunden ist (vgl. das entsprechende Kapitel zu Spanien in diesem Band). Bei der Analyse von asyl- und flüchtlingsbezogenen Netzwerken wird auf egozentrierte Netzwerke zurückgegriffen, die aufgrund von gemeinsamen Kooperationspartnern der befragten Organisationen in Visualisierungen zusammengefügt wurden. Die betrachteten Organisationen wurden anhand ihres Akteurstyps, ihrer Werte und Normen, sowie ihres Legitimationsfelds kategorisiert und ihre Kooperationen vor diesem Hintergrund sowie vor allgemeinen Informationen zur Gründung und Ressourcenausstattung interpretiert. Die MAREM-Recherchen lassen erkennen, dass viele der in der Flüchtlingsarbeit aktiven NROs bereits in den 1990er Jahren gegründet wurden. Insgesamt besteht das Netzwerk von flüchtlings- und asylbezogen arbeitenden Initiativen, Verbänden und Einrichtungen aus sehr unterschiedlichen Typen von Organisationen. Hierzu zählen freie Initiativen, von Staaten un-
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terstützte beziehungsweise unterhaltene nationale und internationale Organisationen, religiöse Vereinigungen, staatliche Einrichtungen der Sozialund Flüchtlingsarbeit bis hin zu staatlichen Sicherheitsagenturen wie die Nationalpolizei und Guardia Civil. Während einige Organisationen Singleissue-Verbände sind, sich also nur mit flüchtlings- und asylbezogenen Themen befassen, haben andere ein sehr breites Aufgabenspektrum. Das Verhältnis zwischen ehrenamtlich Tätigen und hauptamtlich Beschäftigten variiert ebenfalls bei den einzelnen Organisationen. Nicht alle diese Verbände verstehen sich selbst als Teil einer sozialen Bewegung für Flüchtlingsschutz und Asyl – für fast alle der vorrangig auf dieses Thema spezialisierten Organisationen trifft diese Charakterisierung allerdings zu. Ähnlich komplexe Kooperationsstrukturen der flüchtlings- und asylbezogen arbeitenden Organisationen lassen sich auch für Griechenland, Italien, Malta und Zypern nachweisen (vgl. die Kapitel in diesem Buch). Die Flüchtlingsbewegung, wie sie bisher für Deutschland beschrieben wurde, beschränkt sich also weder auf dieses Land noch ist sie völlig neu. Die Netzwerke der flüchtlings- und asylbezogen arbeitenden Organisationen bestehen oft schon seit Jahrzehnten, und sie reichen in einem Mehrebenensystem von lokalen Vereinigungen bis hin zu globalen internationalen Regierungsorganisationen (IROs) und internationalagierenden Nichtregierungsorganisationen. Diese Netzwerke bilden den Kern der Flüchtlingsbewegung als sozialer Bewegung. In den Aufmerksamkeitsfokus einer breiteren Öffentlichkeit kam diese Mesoebene der Netzwerke flüchtlingsbezogener Organisationen in Deutschland erst mit der Ankunft von über einer Million Flüchtlinge im Jahre 2015. Dies heißt aber weder, dass die Kernelemente dieser Flüchtlingsbewegung als sozialer Bewegung erst kürzlich entstanden sind, noch, dass sie nur oder vor allem in Deutschland präsent sind. Weder die ‚Flüchtlingskrise‘ noch die Flüchtlingsbewegung sind neu. Das lässt sich – neben dem bereits erwähnten Beispiel Spaniens – gut an Italien zeigen. Eine geradezu paradigmatische Bedeutung hat hier die Insel Lampedusa. Fast auf halbem Wege zwischen Sizilien und Tunesien und noch recht nahe an Libyen gelegen, ist die Insel seit Jahrtausenden ein Ankommens-, Durchgangs- und auch Konfliktgebiet für arabische, griechische, römische, byzantinische und andere Bevölkerungsgruppen gewesen. Aufgrund ihrer geografischen Lage ist Lampedusa traditionell ein Magnet für Flüchtlinge, die über Nordafrika nach Europa gelangen wollen. Schon seit Beginn des 21.
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Jahrhunderts kamen jährlich viele Tausende Flüchtlinge auf Lampedusa an (8.000 in 2003, 13.000 in 2004, etwa 20.000 in 2005, knapp 31.000 in 2008; nach den Umwälzungen in Nordafrika 2011 stieg die Zahl der Ankünfte auf über 50.000 an).10 Die Situation entspannte sich ganz offensichtlich nicht durch das 2003 zwischen der italienischen Regierung unter Berlusconi mit dem libyschen Diktator Gaddafi geschlossene Abkommen, womit sich Libyen zu verstärkten Grenzkontrollen und einem Zurückhalten der Flüchtlinge verpflichtete. Der Sturz vieler autoritärer Regierungen in Nordafrika, vor allem in Ägypten, Tunesien und Libyen, erhöhte seit Ende 2010 den Flüchtlingsstrom nach Lampedusa.11 Die zwei dort bestehenden Auffanglager für Flüchtlinge waren mit mehr als doppelt so vielen Menschen belegt, als die Kapazitäten eigentlich zugelassen hätten. Schon im Januar 2009 hatten dort internierte Flüchtlinge gegen die Bedingungen ihrer Unterbringung protestiert und das Lager verlassen. Die Mehrheit der Bevölkerung Lampedusas empfing die protestierenden Flüchtlinge und wandte sich selbst gegen die Abschottungspolitik der italienischen Regierung.12 Auch der Tavolo Asilo (Runder Tisch Asyl) in Rom (vgl. hierzu das entsprechende Kapitel in diesem Buch) protestierte gegen die Aufnahmebedingungen für die Flüchtlinge auf Lampedusa (siehe weiter unten). Neben einer historisch bedingten Toleranz und Offenheit gegenüber Fremden, auch Flüchtlingen, spielte bei vielen Bewohnern sicherlich die Sorge um die Touristenattraktivität der Insel eine Rolle. Zwar wurde nicht zuletzt aufgrund dieser Proteste der Weitertransport von Flüchtlingen nach Sizilien und in andere Teile Italiens beschleunigt, an der strukturellen Überforderung der Insel hinsichtlich der Flüchtlingsaufnahme änderte sich jedoch nichts. Dies zeigte sich deutlich, als 2011 Zehntausende von Flüchtlingen aus Libyen und Tunesien auf Lampedusa ankamen – trotz oder wegen der fehlenden staatlichen Aufnahmekapazitäten wurden sie von der Bevölkerung versorgt, aber durchaus mit gemischten Gefühlen willkommen geheißen (Friese 2014: 18f.).
10 Vgl. UNHCR 2009: 11ff.; https://en.wikipedia.org/wiki/Lampedusa_immigrant_ reception_center 11 Vgl. http://www.bpb.de/internationales/afrika/arabischer-fruehling/ 12 Vgl. Michael Braun: Wutausbruch auf der Gefängnisinsel, in: die tageszeitung, 26. Januar 2009; http://www.taz.de/!5168994/
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Mitte 2013 besuchte der neu gewählte Papst Franziskus – auf seiner ersten offiziellen Auslandsreise – Lampedusa und erinnerte die internationale, besonders die europäische Staatengemeinschaft an ihre moralische und menschenrechtliche Verantwortung. In die weltweiten Schlagzeilen geriet Lampedusa dann, als im Oktober 2013 ein Flüchtlingsschiff mit mehr als 550 Menschen, vornehmlich aus Somalia und Eritrea, vor den Küsten der Insel kenterte und fast 400 Menschen starben. Zwar wurde vor dem Hintergrund dieser Katastrophe das Seenotrettungsprogramm Mare Nostrum von der italienischen Regierung aufgelegt, das dann nach langwierigen Verhandlungen von der EU mit geänderten Zielsetzungen nach dessen Auslaufen 2014 weitergeführt wurde. Allerdings wurde auch dadurch das Grundproblem nicht gelöst, dass für das andauernde und hohe Flüchtlingsaufkommen die Infrastruktur der Insel nicht ausreichte und weder innerhalb Italiens noch auf EU-Ebene ein Verfahren gerechter Lastenverteilung entwickelt wurde. Angesichts dieser Lage klagte die 2012 neu gewählte Bürgermeisterin der Insel Lampedusa die zuvörderst auf Flüchtlingsabwehr gerichtete Politik der italienischen Regierung und auch der EU-Behörden an. In einem offenen Brief erklärte sie: „Ich bin die neue Bürgermeisterin von Lampedusa. Ich wurde im Mai 2012 gewählt, und bis zum 3. November wurden mir bereits 21 Leichen von Menschen übergeben, die ertrunken sind, weil sie versuchten, Lampedusa zu erreichen. Das ist für mich unerträglich und für unsere Insel ein großer Schmerz. Wir mussten andere Bürgermeister der Provinz um Hilfe bitten, um die letzten elf Leichen würdevoll zu bestatten. Wir hatten keine Gräber mehr zur Verfügung. Wir werden neue schaffen, aber jetzt frage ich: Wie groß muss der Friedhof auf meiner Insel noch werden? Ich bin über die Gleichgültigkeit entrüstet, die alle angesteckt zu haben scheint; mich regt das Schweigen von Europa auf, das gerade den Friedensnobelpreis erhalten hat, und nichts sagt, obwohl es hier ein Massaker gibt, bei dem Menschen sterben, als sei es ein Krieg. Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass die europäische Einwanderungspolitik diese Menschenopfer in Kauf nimmt, um die Migrationsflüsse einzudämmen. Vielleicht betrachtet sie sie sogar als Abschreckung. Aber wenn für diese Menschen die Reise auf den Kähnen den letzten Funken Hoffnung bedeutet, dann meine ich, dass ihr Tod für Europa eine Schande ist.
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Wenn Europa aber so tut, als seien dies nur unsere Toten, dann möchte ich für jeden Ertrunkenen, der mir übergeben wird, ein offizielles Beileidstelegramm erhalten. So, als hätte er eine weiße Haut, als sei es unser Sohn, der in den Ferien ertrunken ist. Gezeichnet: Giusi Nicolini.“13
Die Ereignisse von Lampedusa verdeutlichen viererlei. Erstens ergab sich die Herausforderung der Aufnahme und des Schutzes von Flüchtlingen hier – wie auch an vielen anderen Orten – nicht von heute auf morgen, sondern entwickelte sich über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt. Zweitens scheiterten alle Versuche, durch Abkommen mit Transitländern oder mittels verstärkter Kontroll- und Abwehrmechanismen die Flüchtlinge von der Insel fernzuhalten. Drittens demonstrierten andere Regionen Italiens und vor allem die anderen EU-Mitgliedsstaaten ihre organisierte NichtVerantwortung und ließen Lampedusa mit einem humanitären Problem globalen und europäischen Ausmaßes weitgehend allein. Viertens schließlich entwickelten sich dennoch und zum Teil wegen dieser Untätigkeit verantwortlicher Stellen unter anderem zivilgesellschaftliche Aktivitäten. Hierzu gehören die Eigeninitiativen der Flüchtlinge, die sich auf Lampedusa – wie auch an anderen Orten – gemeinsam geäußert und zur Wehr gesetzt haben. Hierzu gehört auch die Initiative einzelner Persönlichkeiten, wie in diesem Falle des Papstes und vor allem der Bürgermeisterin, die der Flüchtlingsbewegung ein Gesicht und auch Kraft gaben. Schließlich gehören hierzu ganz wesentlich die vielfältigen flüchtlings- und asylbezogenen Organisationen, die sich vor Ort, in Italien und darüber hinaus, engagierten (vgl. das entsprechende Kapitel in diesem Buch). Im Rahmen der MAREM-Recherchen ergab sich, dass in Italien neben dem UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) als offiziellen internationalen Regierungsorganisationen (IROs) viele NROs in der Flüchtlingsbewegung aktiv sind. Hierzu gehört etwa Borderline Europe als eine EU-weit handelnde NRO, die sich für Menschenrechte einsetzt. Die Geschäftsführerin des italienischen Büros kommt aus Deutschland; dies
13 http://archiv.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2013/Brief_der_Buergermeis terin_von_Lampedusa.pdf; vgl. auch das Interview mit Giusi Nicolini in der Zeit vom 2. Februar 2015: http://www.zeit.de/kultur/2015-02/lampedusa-giusi-nico lini-buergermeisterin-fluechtlinge.
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und die Tatsache, dass Deutschland ein wichtiges Zielland der von Italien weiterziehenden Flüchtlinge ist, erklärt die besonders intensiven Kontakte des Büros von Borderline Europe auf Sizilien zu deutschen Organisationen. Eine besondere Bedeutung hat in Italien der Tavolo Asilo, ein vom UNHCR gefördertes nationales Netzwerk flüchtlings- und asylbezogener Organisationen. Dieser Tavolo Asilo hatte schon 2006 angemahnt, dass Italien das einzige EU-Mitgliedsland ohne eine explizite Asylgesetzgebung sei.14 Im Februar 2009 hatte der Tavolo Asilo nach dem Ausbruch von Hunderten von Flüchtlingen aus dem Lager Imbriacola auf Lampedusa im Januar desselben Jahres in einer gemeinsamen Erklärung aller seiner Mitgliedsorganisationen auf die äußerst problematischen Bedingungen auf der Insel hingewiesen. Die eigentlich als Erste-Hilfe-Zentrum ausgestattete Einrichtung war seit Januar 2009 zum Identifizierungs- und Ausweisungszentrum (Centro di identificazione ed espulsione, CIE) umgewandelt worden, und es war – nicht zuletzt aufgrund von Überbelegung, eventuell aber auch aufgrund von Protesten (Friese 2014: 19) – zu einem großen Brand gekommen. Die Mitgliedsorganisationen des Tavolo Asilo forderten, auf der Insel Lampedusa ausschließlich Erste-Hilfe-Maßnahmen durchzuführen und die Flüchtlinge umgehend in ordentlichen Aufnahmeeinrichtungen unterzubringen.15 Es zeigt sich also, dass die soziale Bewegung für Flüchtlingsschutz und Asyl weder eine neue noch eine besonders deutsche Erfindung ist. Sie basiert gerade in Ländern wie Spanien oder Italien, die sehr viel früher als Deutschland mit dem regelmäßigen Ankommen von sehr vielen Flüchtlingen umgehen mussten, auf seit langem bestehenden und ausdifferenzierten
14 Dem Tavolo Asilo gehörten schon im Mai 2006 die folgenden Organisationen an: Associazione Nazionale dei Comuni Italiani (ANCI) – Servizio Centrale del Sistema di Protezione per Richiedenti Asilo e Rifugiati, ARCI, Caritas, Casa dei Diritti Sociali/Focus, Centro Astalli/JRS, Comunità di Sant’Egidio, Consiglio Italiano per i Rifugiati (CIR), Consorzio Italiano di Solidarietà (ICS), Servizio Rifugiati e Migranti – Federazione delle Chiese Evangeliche in Italia, Medici Senza Frontiere (MSF), Senzaconfine, Servizio Sociale Internazionale – in collaborazione con Amnesty International. Vgl. https://www.unhcr.it/cosa-faccia mo/protezione/asilo-in-italia/legislazione-nazionale und Finotelli (2013). 15 Vgl.
http://verbaniaprotestante.blogspot.mx/2009/02/lampedusa-comunicato-
stampa-tavolo.html.
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Netzwerkstrukturen. Diese Flüchtlingsbewegung ist dabei – auch das zeigte sich an den vorgestellten Beispielen – weder lokal noch national begrenzt, sondern vielmehr als transnationale zivilgesellschaftlich-soziale Bewegung zu verstehen. Diese zeichnet sich durch ereignisbezogene Mobilisierungsfähigkeit und wirksame Druckausübung im öffentlichen Raum aus. Sie ist in der Lage, die Legitimationserwartungen an Politiker, die Medien und flucht- und asylbezogene Organisationen zu beeinflussen, indem sie sowohl auf die kognitiven Rahmungen des Flucht- und Asylthemas im öffentlichen Diskurs als auch auf die normativen Handlungsorientierungen einwirkt. Diese soziale Bewegung zielt auf die Veränderung persönlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse ab. Für andere (klassische) soziale Bewegungen ist typisch, dass sie sich für oder gegen etwas einsetzen, das von der Mehrheit der Gesellschaft (noch) nicht als relevant eingeschätzt wird. Das galt für den Kampf gegen Atomkraftwerke ebenso wie den gegen die Umweltzerstörung. Das qualitativ Neue der Flüchtlingsbewegung ist, dass sie sich für die tatsächliche Beachtung und Umsetzung normativer Verpflichtungen einsetzt, über deren Bedeutung und Bindungswirkung eigentlich kein Dissens besteht. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 und das UN-Protokoll von 1967 haben theoretisch weltweite Gültigkeit: „Die GFK gilt inzwischen, direkt oder über das Flüchtlingsprotokoll, in 147 Staaten und ist, bei 192 UN-Mitgliedern, damit praktisch weltweit verbindlich“ (Markard 2012: 13f.). GEAS basiert auf diesen Bestimmungen und entwickelt sie erheblich weiter, es ist seit seiner Verabschiedung 2013 bindend für alle EU-Mitgliedsstaaten.16 Im Einzelnen besteht das GEAS aus drei Richtlinien und zwei Verordnungen, die Asylbewerbern einen einheitlichen und fairen Asylprozess garantieren sollen, unabhängig davon, in welchem Mitgliedsstaat der EU sie ihren Asylantrag stellen: „The revised Asylum Procedures Directive aims at fairer, quicker and better quality asylum decisions. Asylum seekers with special needs will receive the necessary support to explain their claim and in particular there will be greater protection of unaccompanied minors and victims of torture.
16 Vgl. http://ec.europa.eu/deutschland/press/pr_releases/11459_de.htm und http:// ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/policies/asylum/index_en.htm.
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The revised Reception Conditions Directive ensures that there are humane material reception conditions (such as housing) for asylum seekers across the EU and that the fundamental rights of the concerned persons are fully respected. It also ensures that detention is only applied as a measure of last resort. The revised Qualification Directive clarifies the grounds for granting international protection and therefore will make asylum decisions more robust. It will also improve the access to rights and integration measures for beneficiaries of international protection. The revised Dublin Regulation enhances the protection of asylum seekers during the process of establishing the State responsible for examining the application, and clarifies the rules governing the relations between states. It creates a system to detect early problems in national asylum or reception systems, and address their root causes before they develop into fully fledged crises. The revised EURODAC Regulation will allow law enforcement access to the EU database of the fingerprints of asylum seekers under strictly limited circumstances in order to prevent, detect or investigate the most serious crimes, such as murder, and terrorism.“ (Europäische Kommission 2015)
Für Deutschland kommt zu diesem normativen Regelwerk der Artikel 16a des Grundgesetzes hinzu: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“17 Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges ist in Deutschland das Asylrecht als ein Grundrecht eingestuft. Der verbindende Kern der Flüchtlingsbewegung, der von den Flüchtlingen selbst und den beteiligten aktiven Einzelpersonen und Organisationen geteilt wird, nämlich „Flüchtlingen ist Schutz zu gewähren, sie können nicht in die Länder, aus denen sie geflohen sind, zurückgeschickt werden (nonrefoulement)“ ist formalrechtlich und moralisch eigentlich universell und minimalistisch. Insofern kämpft die Flüchtlingsbewegung als soziale Bewegung für das Minimalprogramm, substanzielle humanitäre Grundsätze auch praktisch einzuhalten – weil sie ansonsten auch nicht mehr als normative Leitschnur menschlichen Zusammenlebens wirken können. Das große Paradoxon der „Flüchtlingskrise“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts besteht darin, dass die regulativ-normativen Grundlagen für deren Bearbeitung nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen werden, sich aber in Krisenzeiten fast alle Staaten mit Hinweis auf Realpolitik aus der Verant-
17 Vgl. www.dejure.org/gesetze/GG/16a.html.
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wortung für deren Einhaltung stehlen. Der Prozess der Institutionalisierung einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik als notwendiges Pendant zur Personenfreizügigkeit war zwar vor allem seit den 1990er in Fahrt gekommen. Dieses zarte Pflänzchen einer europäischen Politik und Institutionenstruktur war aber zu schwach, um den enormen Herausforderungen von insgesamt etwa eineinhalb Millionen Flüchtlingen, die allein im Jahre 2015 in die EU kamen, gerecht werden zu können. Ein in sich durchaus widersprüchliches, aber insgesamt gegenüber allen nationalen Regelungen verbessertes europäisches Regelwerk zum Flüchtlingsschutz und zur Asylgewährung war in den Mitgliedsstaaten der EU normativ und kognitiv noch nicht wirklich angekommen. Auch waren die notwendigen Agenturen und Ressourcen für seine Umsetzung in gesellschaftliche Praxis bereits stabilisiert. Angesichts der ‚Flüchtlingskrise‘ setzte schon Ende 2015, vor allem aber in 2016, eine Re-Nationalisierung von Flüchtlings- und Asylpolitik ein, die sogar das erreichte Niveau der Binnenfreizügigkeit und des gemeinsamen Außengrenzschutzes gefährdete. Es ist offen, ob das Projekt GEAS in Zukunft tatsächlich ausgebaut wird zu einem regulativen, normativen und kognitiven gemeinsamen Projekt der Gewährung von Flüchtlingsschutz oder ob es eher auf die Minimierung der legalen Zugangschancen zum europäischen Flüchtlings- und Asylsystem und zur Externalisierung von EU-Grenzkontrollen reduziert wird. Hierüber werden nicht nur die Politiker auf der Makroebene der Mitgliedsstaaten und der EU entscheiden, sondern auch die Flüchtlinge selbst durch ihr Handeln auf der Mikroebene und die Netzwerke flüchtlingsbezogener Organisationen durch ihre Aktivitäten auf der Mesoebene.
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Länderbericht Italien K ATRIN G REDZINSKI , M ARIE P ARDEY , J ULIANA W ITKOWSKI
1. E INLEITUNG In der aktuellen Flüchtlingsbewegung sind die griechischen und italienischen Inseln Lesbos und Lampedusa Synonyme für humanitäre Katastrophen im Mittelmeer geworden. Als Reaktion auf das verheerende Schiffsunglück im Oktober 2013 vor Lampedusa, bei dem etwa 600 Personen ertranken, begannen die italienische Marine und der Küstenschutz mit einem einjährigen Seerettungsprogramm Mare Nostrum (zu Deutsch: ‚Unser Meer‘) im Mittelmeer. Durch diese Operation konnten mehr als 140.000 Menschen auf ihrem gefährlichen Seeweg nach Europa gerettet werden. Auch wenn der Name dies suggeriert, an der Durchführung und Finanzierung Mare Nostrums war die Europäische Union nicht beteiligt. Erst die abgespeckte und vielfach kritisierte Nachfolgeoperation Triton lag im Verantwortungsbereich der europäischen Grenzschutzagentur Frontex und wurde durch die EU-Mitgliedsstaaten finanziert (ECRE 2014). Angesichts der schwachen wirtschaftlichen Lage Italiens war allerdings schon die Finanzierung Mare Nostrums eine Leistung, die sich bis zu diesem Zeitpunkt deutlich von dem Engagement anderer EU-Mitgliedsstaaten in diesem Bereich abhob. Italien ist mit einer Bevölkerung von etwa 60 Mio. Einwohnern und einer Fläche von 301.277 km² einer der größten Mitgliedsstaaten der EU (Auswärtiges Amt 2015). Es ist zudem nach Deutschland und Frankreich die drittgrößte Volkswirtschaft im Euro-Währungsgebiet. Das BIP Italiens lag 2014 bei 1,616 Mrd. €, was ca. 11,2% des europäischen BIPs ausmacht (Eurostat 2015a). Nichtsdestotrotz ist Italien
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eines der Länder, die massiv von der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009, deren Folgen immer noch zu spüren sind, betroffen waren. Während in Bezug auf das BIP bis 2007 ein stetiger Anstieg zu verzeichnen war, sinkt es seit 2008 mit Ausnahme einer wirtschaftlichen Erholungsphase in 2010 und 2011. In den Jahren 2009 (-5,5 %) sowie 2012 (-2,8 %) brach die Wirtschaft dabei besonders stark ein (Eurostat 2015b). Zwischen 2010 und 2014 stieg die Arbeitslosenquote um 4,3 Prozentpunkte von 8,4 % auf 12,7 %. Damit liegt die Arbeitslosenquote Italiens im Jahre 2014 über dem EU-28-Durchschnitt von 10,2 % (Eurostat 2015c). Für Beginn und Umfang Mare Nostrums spielte aber nicht nur die wirtschaftliche Situation Italiens, sondern auch die politische Großwetterlage eine entscheidende Rolle. Während in der Regierungszeit der Mitte-rechtsRegierung unter Silvio Berlusconi eine eher repressive Migrationspolitik betrieben wurde, die darauf abzielte, die Grenzen undurchlässiger zu machen, setzte die Regierung ab 2013, unter Ministerpräsident Enrico Letta, ab Februar 2014 unter Matteo Renzi, auf die Rettung von Schutzsuchenden durch Mare Nostrum (Human Rights Watch 2013: 14). Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung Mare Nostrums wird in diesem Kapitel, über die allgemeine Fragestellung des MAREM-Projekts hinaus, auch darauf eingegangen, welche Veränderungen sich durch Mare Nostrum in Richtung einer (Teil-)Europäisierung der Seenotrettungen im Speziellen und der Flüchtlingspolitik im Allgemeinen ergeben haben. Hinsichtlich seiner Migrationsgeschichte weist Italien besondere länderspezifische Entwicklungen auf, die im Folgenden skizziert werden sollen. Das Land erfuhr in seiner Geschichte große Auswanderungsbewegungen. Die Jahre 1876 bis 1914 waren durch eine ständig steigende Emigrationsrate in Richtung der westeuropäischen Nachbarländer und Nordamerika geprägt (Bonifazi et al. 2009: 7). Auf dem Höhepunkt der Auswanderungswelle im Jahr 1913 verließen 873.000 Menschen Italien. Die Intensität der Emigration nahm zu Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 stark ab (ebd.: 7). Die in dieser Periode eingeführten restriktiven Migrationsgesetze bewirkten einen starken Rückgang der Ein- und Auswanderung, der bis zum Zweiten Weltkrieg anhielt (ebd.). Die Migrationsströme erhöhten sich nach dem Zweiten Weltkrieg drastisch, wobei die Zahl der Emigranten die der Immigranten deutlich überstieg (ebd.). Die meisten Emigranten waren durch die Aussicht auf Arbeit motiviert. In den 1960er Jahren handelte es
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sich dabei vor allem um Männer, die durch die Anwerbeabkommen mit Deutschland und der Schweiz Italien für begrenzte Zeit verließen. Als Teil des sogenannten „Gastarbeitersystems“ kehrte der Großteil der italienischen Staatsbürger seit den 1970er Jahren in ihre Heimat zurück. Erst in den 1970er Jahren überstieg die Zahl der Immigranten in Italien erstmals die der Emigranten. In den 1980er und 1990er Jahren war Italien durch eine Masseneinwanderung gekennzeichnet. Heute lässt sich immer noch eine positive Netto-Migration nach Italien feststellen, die jedoch deutlich schwankt. Obwohl die Netto-Migration seit nunmehr über 30 Jahren ein positives Vorzeichen trägt, nimmt die Einwanderung seit 2007 stetig ab. Dennoch wurde Italien in den letzten Jahren zu einem der sechs größten Einwanderungsländer der EU (de la Rica et al. 2013: 6). In Bezug auf die Emigration lässt sich hingegen bereits seit 2002, verstärkt nach der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2007, ein erneuter Anstieg feststellen (Eurostat 2015c; Eurostat 2015d). Im Jahr 2013 betrug die Zahl der Einwanderungen rund 307.000, während die Auswanderungen bei 126.000 lagen (Istat 2014: 1). Daraus ergibt sich eine Netto-Migration von +181.000. Zum Vergleich: Im Jahr 2007 ergab sich noch ein Überschuss an Immigranten von 493.000 (Eurostat 2015c; Eurostat 2015d). Die abnehmende Netto-Migration ist in erster Linie auf die Finanz- und Wirtschaftskrise in Italien zurückzuführen. Der Anteil von Ausländern an der Gesamtbevölkerung beträgt heute ca. 4,7%. Außerdem geben die meisten Einwanderer zurzeit an, dass ihre Migration weniger von wirtschaftlichen als von familiären Gründen beeinflusst sei (Eurostat 2015e). Als Italien Ende der 1970er Jahre eine positive Netto-Migration verzeichnen konnte, gab es noch keine kohärente Migrationspolitik, die die Einwanderung in das Land angemessen regelte. Das hatte zur Folge, dass die meisten Immigranten ohne Visum nach Italien einreisen konnten (Finotelli/Sciortino 2009: 122). Eine erste Gesetzgebung innerhalb der Migrationspolitik stellte das sogenannte legge Martinelli dar. Nach und nach entwickelte sich seit den 1970er Jahren das italienische Migrationsregime, welches im Laufe der Zeit unter politisch verschieden ausgerichteten Regierungen grundlegenden Änderungen unterlag. Das im Jahr 1998 von einer Mitte-links-Regierung erlassene legge Turco-Napolitano stellte die erste systematische Gesetzgebung im Rahmen der italienischen Migrationspolitik dar. Das Gesetz führte ein Kontingent ein, das die Zahl der Einwanderer regulierte, die Einreise von irregulären Immigranten erschwerte und auf eine
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Stabilisierung des Aufenthaltsstatus von regulär einreisenden Immigranten abzielte (ebd.: 124). 2002 wurde von der neuen Mitte-rechts-Regierung unter Ministerpräsident Berlusconi das legge Bosso Fini erlassen, welches durch striktere Grenzkontrollen und Einwanderungsvorschriften für Arbeitsmigranten den Einwanderungsfluss nach Italien zu begrenzen versuchte. Auch das 2008 erlassene Gesetz n. 125/2008, das nach der Rückkehr Berlusconis und seiner Mitte-rechts-Regierung eingeführt wurde, steht in derselben restriktiven Tradition. Parallel zu spezifischen nationalen Migrationsregulierungen, wie etwa dem jährlich festen Kontingent für Einwanderer, passte sich Italien auch europäischen Standards an. So führte das Land, wie viele andere Mitgliedsstaaten auch, die EU Blue Card ein, die qualifizierten Immigranten aus Drittstaaten eine leichtere Einwanderung nach Italien ermöglicht. Diese EU Blue Card wurde aber nie intensiv genutzt (SVR 2015: 42ff). Im Zuge der aktuellen starken Migrationsbewegungen und seit Beginn des Abkommens zwischen der EU und der Türkei bezüglich der Rückführung von irregulären Migranten, die über die Türkei nach Europa gekommen sind, verlagert sich die Route der Schutzsuchenden wieder ins zentrale Mittelmeer. Als Folge steht Italien erneut vor der Herausforderung, eine steigende Zahl von Neuankömmlingen adäquat aufzunehmen (Zeit Online 2016).
2. F LUCHT
UND
ASYL IM L AND
2.1 Geschichte und gegenwärtige Lage Wie in der Einleitung deutlich wurde, wandelte sich Italien vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland. Innerhalb eines Jahrhunderts, von 1876 bis 1976, verließen ca. 24 Millionen Italiener ihr Heimatland. Das Jahr 1973 markierte einen wichtigen Wendepunkt in der Migrationsgeschichte des Landes. Zum ersten Mal wies Italien eine positive Netto-Migration auf (ISMU 2013: 6). Darauf basierend soll nun im Folgenden ein Blick auf die Entwicklung von Flucht und Asyl geworfen werden, um den Ausbau des Migrations- und Flüchtlingsregimes nachvollziehen zu können. Das Recht auf Asyl ist in der Verfassung Italiens verankert und kommt jedem zuteil, dem in seinem Herkunftsland die effektive Anwendung de-
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mokratischer Rechte entzogen wird (EMN 2012: 7, Torre 2013: 83). Neben der Berücksichtigung von Asyl in der nationalen Gesetzgebung ist Italien eines der Länder, die die Genfer Flüchtlingskonvention und deren Ergänzung, das New Yorker Protokoll, ratifiziert haben (ebd.). Doch ähnlich wie die Einwanderungspolitik ist auch das nationale Asylsystem Italiens durch eine fragmentierte Gesetzgebung geprägt. Reguläre Migration und Asyl wurden in Italien seit 1990 durch das legge Martinelli (Law no. 39/1990) in einem gemeinsamen gesetzlichen Rahmen geregelt. Dieses Gesetz schaffte eine vorherige Beschränkung auf den geographischen Bereich Europas in der Definition von Flüchtlingen ab. Hiermit war ein erster Schritt in Richtung des Schutzes Asylsuchender aus aller Welt getan. Auch das legge Turco-Napolitano von 1998 und das im Jahr 2002 folgende legge Bosso Fini regelten sowohl internationalen Schutz, als auch reguläre Migration. Mit den Änderungen durch das legge Bosso Fini wurde das Asylsystem zunehmend dezentralisiert und das sogenannte Sistema di Protezione per Richiedenti Asilo e Rifugiati (SPRAR) eingeführt. SPRAR stellt ein Netzwerk verschiedener staatlicher und nichtstaatlicher Akteure dar, die durch dezentrale Projekte die angemessene Aufnahme von Schutzsuchenden in Italien gewährleisten sollen (ebd.). Seit jeher bemüht sich die italienische Regierung um die Harmonisierung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik und die Entwicklung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), wobei die Verordnungen und Richtlinien des GEAS nicht die Gesetze von 1998 und 2002 ersetzen, sondern diese lediglich ergänzen sollen (Torre 2013: 84). In Bezug dazu wurde 2013 ein „Special Support Plan“ (zu Deutsch: besonderer Unterstützungsplan) unterzeichnet, welcher regelt, dass Italien durch das Europäische Unterstützungsbüro für Asyl (EASO) Hilfe erhält, um wichtige Aspekte des nationalen Asylsystems, wie beispielsweise eine angemessene und rechtskonforme Aufnahme von Asylsuchenden, zu verbessern und an Standards der EU anzugleichen (UNHCR 2013: 1). Aufgrund seiner geographischen Lage wurde Italien über viele Jahre hinweg von Asylsuchenden als Transitland gesehen, welches nur eine Durchgangsstation auf der Weiterreise darstellte. Zu Beginn verlief die Aufnahme Schutzbedürftiger zunächst unorganisiert. Zusätzlich war das Asylsystem noch nicht ausgereift, sodass viele Schutzsuchende weiterhin nur die Durchreise anstrebten. Mit der Dublin-Verordnung von 1997, welche festlegte, dass man in dem Land Asyl beantragen muss, in dem man
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erstmals den Boden der EU betritt, stieg allerdings die Zahl der Asylanträge in Italien deutlich an (Swiss Refugee Council 2011: 8). 2.2 Das nationale Flucht- und Asylregime und sein Verhältnis zu GEAS Wenn ein Schutzsuchender italienischen Boden betritt, gibt es zunächst keinen genauen Zeitrahmen für die Stellung des Asylantrags. Jedoch sollten sich Migranten innerhalb von acht Tagen bei einer zuständigen Institution melden. Hierzu zählen die Grenzpolizei und das Immigrationsbüro der territorialen Polizei (Questura). In der Questura findet dabei der formale Teil der Antragsstellung statt, wozu die Abgabe von Fingerabdrücken und Lichtbildaufnahmen zählen. Jegliche Entscheidungsgewalt über die Anerkennung der Asylanträge steht beiden Polizeiinstitutionen jedoch nicht zu. Zum weiteren formalen Vorgehen gehört anschließend die Befragung der Asylsuchenden durch die Questura, insbesondere hinsichtlich der bisherigen Fluchtroute, was den Dublin-Verordnungen und somit auch dem GEAS entspricht (AIDA 2014: 14). Parallel dazu wird die Dublin-Einheit des Innenministeriums verständigt, um zu untersuchen, ob Italien für die Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Sollte der Asylsuchende in Italien erstmals EU-Boden betreten haben und der Asylantrag somit in italienische Zuständigkeit fallen, wird der Antrag an die nationalen und territorialen Ausschüsse weitergeleitet. Diese sind befugt, Gespräche mit den Antragsstellern zur Prüfung des Antrages zu führen. Zwar gehören diese Institutionen dem Innenministerium an, sind in der Entscheidungsfindung jedoch selbstständig (ebd. 2014: 16; BAMF 2014: 6). Dem Gesetz zufolge sollte das persönliche Gespräch innerhalb von 30 Tagen nach Einreichen des Asylantrags und den dazu erforderlichen Dokumenten erfolgen, und durch den territorialen Ausschuss vollzogen werden. Nach drei Werktagen sollte dem Antragsteller dann die Entscheidung des territorialen Ausschusses mitgeteilt werden. In der Realität werden oftmals jedoch mehrere Monate für diesen formalen Vorgang beansprucht, was einen Bruch zum GEAS darstellt, obwohl die Gesetze diesem entsprechen (AIDA 2014: 16f.). Die einzige Möglichkeit, dem regulären Antragsprozess zu entgehen, besteht darin, die Asylsuchenden einem „priorisierten Prozess“ zu unterziehen, welcher von kürzerer Dauer ist. Zu den Zulassungsbedingungen des Prozesses zählen: die Verletzlichkeit des jeweiligen Bewerbers, die im Vorfeld erlittenen
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Verbrechen oder eine bereits erfolgte Absage des Asylantrages an der Grenze. Die zu diesem Verfahren zugelassenen Personen werden im Centri di identificazione ed espulsione (CIE) untergebracht. Das Gesetz schreibt im priorisierten Prozess ein persönliches Gespräch innerhalb von sieben Werktagen nach dem Einreichen der benötigten Papiere und eine Entscheidung in den zwei Folgetagen vor. Bei einer negativen Entscheidung des territorialen Ausschusses besteht daraufhin die Möglichkeit, innerhalb von 30 Tagen eine Klage beim zuständigen Gericht einzureichen. Zuvor bereits an der Grenze abgelehnte Asylsuchende in CIE und CARA (Unterkunftszentren für Asylsuchende) steht nur ein Zeitraum von 15 Tagen zu, um das Urteil anzufechten. Darüber hinaus erhalten Asylbewerber eine Aufenthaltsund Arbeitsgenehmigung für sechs Monate nach Einreichen des Antrags (ebd. 2014: 17ff.). Zu den möglichen Ergebnissen nach der Bearbeitung des Antrags gehören (ebd. 2015: 21): • • • •
die Anerkennung als Flüchtling, welche eine fünf Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis beinhaltet; das Erlangen subsidiären Schutzes, ebenfalls mit einer fünf Jahre gültigen Aufenthaltserlaubnis; eine Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr, beispielsweise aus humanitären oder gesundheitlichen Gründen; die Ablehnung des Asylantrags.
Ein großer Kritikpunkt am Aufnahmeprozess Italiens betraf die Registrierungspraxis der italienischen Behörden. Demnach würde „[…] absichtlich darauf verzichtet, die Fingerabdrücke abzunehmen, damit Italien nicht als Einreiseland identifiziert werden könne, wenn die Flüchtlinge nach Deutschland oder Schweden weiterreisten“ (Pastore/Roman 2014: 21f.).
Um dieses Problem anzugehen, wurde ein neues Online-System namens VESTANET zur Beschleunigung des Registrierungsprozesses eingeführt. Problematisch war in diesem Zusammenhang die zwar vorgeschriebene Registrierung Asylsuchender, die jedoch bei Verweigerung der Abgabe der Fingerabdrücke nicht mit Gewalt durchgesetzt werden durfte. Insbesondere unter Eritreern, Somaliern und Syrern sei diese Verweigerung verbreitet, da
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Italien vornehmlich als Transitland gesehen werde (AIDA 2014: 31f). Die Internationale Organisation für Migration (IOM) beschrieb dieses Defizit als „legale Lücke“ (Interview I103). Erst 2014 ordnete das italienische Innenministerium eine verpflichtende Registrierung Asylsuchender, notfalls mit Gewalt, an. Nachdem aber unter anderem die Polizei-Gewerkschaft ihre Bedenken bezüglich dieser Anordnung äußerte, bleibt abzuwarten, wie sich die Situation weiterentwickelt (AIDA 2014: 31f.). Aufnahme von Asylsuchenden und Flüchtlingen Nach Stellung des Asylantrags ist der nächste Schritt die Verteilung von Asylsuchenden auf die Aufnahmeeinrichtungen. Italien weist hierfür kein einheitliches System auf (AIDA 2014: 51). Dennoch wird hier versucht, dieses System in seinen Grundzügen zu schildern. Einem Asylsuchenden wird der Zugang zu einem italienischen Aufnahmezentrum nur gestattet, wenn dieser bei der Asylantragsstellung in der Questura angibt, nicht die nötigen finanziellen Ressourcen für eine eigene Unterbringung zu besitzen. Jedoch ist diese Unterbringung erst nach der formalen Anmeldung und nicht schon nach der Abgabe der Fingerabdrücke gestattet. Bis es zur formalen Anmeldung kommt, können Wochen oder Monate vergehen, in denen der Asylsuchende bestenfalls in Notunterkünften, bei Freunden oder schlimmstenfalls auf der Straße leben muss. Im weiteren Verlauf des Asylantrages muss die Questura den Antrag an ein lokales Regierungsbüro schicken, welches den Asylsuchenden in eine passende Einrichtung weiterleitet. Zu diesen Einrichtungen gehören die CAS-Zentren (temporäre Aufnahmezentren für in Seenot gerettete Schutzsuchende), das SPRAR (Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge), CARA (Aufnahmezentren für Asylsuchende), CDA (Erstaufnahmezentren für irreguläre Migranten, welche jedoch auch für Asylsuchende benutzt werden), CPSA (Erste-Hilfe- und Aufnahmezentren für Migranten und Asylsuchende) und CIE-Zentren (Identifikations- und Ausweisungszentren) (ebd.: 51ff.). Die italienischen CAS-Zentren haben Kapazitäten für 35.000 Personen. Sie beherbergen vorwiegend aus Seenot gerettete Schutzsuchende über einen Zeitraum von acht bis zehn Monaten (ebd.: 58). Das 2002 errichtete SPRAR besitzt die zweitgrößte Aufnahmekapazität und wurde 2013 auf 16.000 Plätze erweitert. Asylsuchende verbleiben dort in der Regel 6 bis 12 Monate (ebd.: 58f.). Aufgrund des immensen Zustroms an Migranten wurde die Kapazität bis auf insgesamt 24.000 Plätze erweitert (Interview I104,
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Workshop-Kommentar 2015)1. Des Weiteren existieren zehn CARA- und CDA-Zentren, welche zusammengenommen Platz für ca. 8.000 Personen bieten. Der Aufenthaltszeitraum beträgt dort 20 bis 35 Tage (AIDA 2014: 56ff.). Zusätzlich bieten vier CPSA-Zentren Platz für ca. 750 Menschen und gewährleisten Ersthilfe und Identifikation, bevor die Asylsuchenden in die längerfristigen Aufnahmezentren von SPRAR etc. kommen (ebd. 2014: 52, 58). Die CIE-Zentren, von denen 2013 insgesamt 13 in Italien existierten und 2015 noch sieben aktiv waren, sind Einrichtungen für Personen, die sich in Abschiebehaft befinden und fungieren als Internierungszentren sowohl für Migranten im Allgemeinen als auch Asylsuchende im Speziellen. 2013 wurden dort insgesamt 6.016 Migranten festgehalten, von denen 150 Asylsuchende waren (ebd.: 64). Berichten zufolge sollen das Management der Zentren und die Bedingungen der Unterbringung von Zentrum und Zentrum variieren und weisen besorgniserregende Mängel auf, was nicht zuletzt an mangelnden ökonomischen Mitteln sowie einer fehlenden einheitlichen Koordinierung und unabhängige Kontrolle der Zentren liegt (AIDA 2015: 94). Probleme bei der Unterbringung Asylsuchender stellen einerseits die unterschiedliche Ausstattung und andererseits die geringe Kapazität aller Einrichtungen dar. Ein Beispiel dafür ist das SPRAR, dessen Platzangebot im Jahr 2013 offiziell auf 16.000 erweitert wurde. 2014 wurde die Kapazität auf 20.000 Plätze ausgebaut, da die bisherige Größe bei Weitem nicht genügte (ebd.: 53). Daher wurde gleichzeitig nach alternativen Möglichkeiten für eine Unterbringung gesucht, die von lokalen Amtsbezirken und von NROs gefunden werden sollten. Dazu zählen auch private Unterkünfte, deren offizielle Zahl jedoch schwer zu ermitteln ist (ebd.: 61f.). Einer Mitarbeiterin der Organisation Centro Astalli zufolge verändert sich die Situation in Bezug auf Asylsuchende zurzeit rapide. Auf Grund der hohen Zahl von Migranten sei es notwendig, strukturelle Veränderungen herbeizuführen. Zu den grundsätzlichen Problemen zähle dabei die Heterogenität der verschiedenen Unterbringungsmöglichkeiten. Es wird angestrebt, die Plätze vom SPRAR-System auf 40.000 weiter anzuheben. Des Weiteren verändert eine aktuell in Kraft getretene EU-Direktive die Lage.
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Im Rahmen des Lehrforschungsprojekts MAREM wurden insgesamt drei internationale Workshops ausgerichtet, bei denen die Forschungsergebnisse präsentiert und mit Experten aus den fünf untersuchten Ländern diskutiert wurden.
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Diese verlangt eine schnellere Identifikation der Asylsuchenden, weshalb der Vorschlag gemacht wurde, alle in Internierungseinrichtungen unterzubringen. Problematisch dabei ist, dass Italien bisher nur Asylsuchende in Internierungszentren (CIE) untergebracht hat, wenn von diesen Personen ein Risiko ausging. Die CIE-Zentren weisen daher auch nur eine Kapazität von 1.800 Plätzen auf, wohingegen für alle Asylsuchenden eine Kapazität von 100.000 Plätzen benötigt wird. In welche Richtung sich das italienische Aufnahmesystem verändern wird, kann letztlich nur die Zukunft zeigen (Interview I104; Workshop Kommentar). Folglich entsprechen die nationalen Gesetze Italiens bezüglich des Asylverfahrens den Vorgaben des GEAS. Allerdings bestehen die bereits beschriebenen Defizite in der Registrierung, Unterbringung und Verfahrensdauer, welche zeigen, dass das GEAS in Italien zwar in die Gesetze eingebracht, praktisch jedoch nur unzureichend implementiert wurde. Stimmung in der Bevölkerung Um die Haltung der italienischen Bevölkerung zum Thema Migranten zu untersuchen, sind viele Faktoren von Bedeutung, darunter die Geschichte der Bevölkerung, wichtige politische, soziale und ökonomische Ereignisse oder auch der Einfluss der Medienberichterstattung. Durch die zunehmende internationale politische Aufmerksamkeit tritt Asyl als Thema immer mehr in den Vordergrund. Bereits 2010 zeigte eine TTI-Umfrage (Transatlantic Trends: Immigration 2010) eine steigende Skepsis gegenüber Migranten bei der Mehrheit der Bevölkerung in Italien (ISMU 2013: 79; 83f.). Der Fundamental-Rights-Report von 2014 zeigte dort zudem rassistische Tendenzen. Rasse2, Ethnizität und die Hautfarbe gehörten dabei zu den Gründen, auf denen Diskriminierung basierte (FRA 2014: 50). Dem Pew Research Centre Survey zufolge wurde ein zunehmender fremdenfeindlicher Trend festgestellt, der sich gegen Muslime richtete. Der Mittelwert der Befragten, die eine anti-muslimische Einstellung aufwiesen, lag bei 46% für sieben EU-Länder, worunter auch Italien fiel. Darüber hinaus wiesen 85% der befragten Personen aus Italien auch gegenüber Sinti und Roma eine rassisti-
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Der Begriff der „Rasse“ hat sich aufgrund seiner geschichtlichen Konnotation in Deutschland nicht durchgesetzt und wird hier nur verwendet, da in der genannten Literatur auf den Begriff rekurriert wird.
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sche Einstellung auf (FRA 2014: 52.). Die Umfrage ergab in den sieben befragten EU-Ländern einen Mittelwert von 50 %. Italien versucht indes, dieser gesellschaftlichen Entwicklung entgegenzuwirken. 2010 wurde das Observatory for Security against Acts of Discrimination (zu Deutsch: Observatorium für Schutz gegen Akte der Diskriminierung – kurz: OSCAD) gegründet. Dieses hat die Aufgabe, die nationale Diskriminierung zu minimieren. Dazu werden Opfer gewaltsamer Diskriminierungsvorfälle vor Gericht unterstützt, es wird eine enge Zusammenarbeit zwischen der italienischen Polizei und zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Amnesty International sowie Trainingsprogramme für Polizisten zur Bekämpfung von Diskriminierung oder Informationsprogramme für öffentliche und private Institutionen bereitgestellt (ebd. 2014: 56). Gleichzeitig wurde eine große systematische Kampagne gegen Migration und insbesondere Flüchtlinge gestartet. Diese wird von Matteo Salvini angeführt, welcher in der rechtsorientierten Partei Lega Nord tätig ist (The Guardian 2015). Um sein Anliegen zu verbreiten, tritt er in Fernsehsendungen auf, in denen er sich gegen Flüchtlinge ausspricht. Dies führte dazu, dass das Themengebiet Migration und Flüchtlinge lange wenig reflektiert von der Bevölkerung verfolgt wurde. Mit dem Besuch des Papstes auf Lampedusa 2013 erlangte die Situation der Schutzsuchenden in Italien erstmals große Aufmerksamkeit in der italienischen Öffentlichkeit. Eine große Welle der Solidarität war die Folge. Angesichts der derzeitigen kritischen Fernsehkampagnen und Debatten scheint sich die Stimmung aber wieder ins Gegenteil zu kehren (Interview I104, Workshop-Kommentar 2015). 2.3 Asylsuchende und Asylverfahren Der Themenkomplex Asyl wurde in Italien lange Zeit im Vergleich zu Arbeitsmigration und Familienzusammenführungen als unbedeutend betrachtet. 2008 wurden dann die EU-Mindeststandards für die Bearbeitung von Asylanträgen festgelegt, um die Asylprozeduren in allen Ländern zu vereinheitlichen. Dabei lag das Augenmerk auf minimalen Standards für die Aufnahme von Asylsuchenden und die Festlegung ihres Status (ISMU 2013: 32). Nach dem arabischen Frühling kam es zu einem Zustrom von irregulären Migranten, welche hauptsächlich aus Libyen nach Italien kamen. In den Folgejahren bis 2014 riss dieser Zustrom nicht ab, sondern nahm
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weiter zu. Zusätzlich befand sich Italien innerhalb Europas nach Deutschland und Schweden an dritter Stelle der Länder mit den meisten Asylgesuchen. Betrachtet man darüber hinaus die Zahl der ausstehenden Asylanträge, befindet sich Italien EU-weit ebenfalls an dritter Stelle hinter Deutschland und Schweden (EASO 2014: 16ff.). Im Folgenden soll nun die durchschnittliche Bearbeitungsdauer eines Asylantrages, auch in Abhängigkeit vom Herkunftsland, betrachtet werden. Verfahrensdauer und Antragszahlen Wie bereits erwähnt, sollte ein Asylantrag innerhalb von 30 Tagen bearbeitet werden, damit dann nach drei Werktagen dem Antragssteller das Ergebnis mitgeteilt werden kann (AIDA 2014: 16ff.). Dies kann jedoch aufgrund der steigenden Anzahl an Asylanträgen nicht mehr fristgerecht erfolgen. Die Entscheidung der territorialen Kommission erfolgt oft Monate nach dem Eingang des Asylantrages und die Verfahrensdauer kann je nach Kommission variieren. In Rom beispielsweise dauert dieser Vorgang oft sechs bis zehn Monate. Auf Grund dessen erfolgte im Jahr 2014 eine Erweiterung der territorialen Kommissionsstellen von zehn auf 20, um die Vorgänge zu beschleunigen (ebd.: 20). Für 2014 lag die Zahl der Asylbewerber bei 64.886. Dies stellt eine Verdoppelung zum Jahr 2013 dar. So wie im Jahr 2013 erhielten 2014 die meisten Bewerber eine Ablehnung, nämlich 13.327 Personen. Den humanitären Schutz bekamen 10.091 Personen zugeteilt, gefolgt vom subsidiären Schutz mit 8.121 Personen und schließlich dem Flüchtlingsstatus, den 3.649 Personen bekamen. Die restlichen Asylbewerbungen befinden sich noch im Bearbeitungsprozess. Betrachtet man die Herkunftsländer, befinden sich auf dem ersten Platz Nigerianer mit 10.138 Bewerbern, auf dem zweiten Personen aus Mali mit 9.771, gefolgt von Gambia mit 8.556, Pakistan mit 7.191, Senegal mit 4.678, Bangladesch mit 4.582 sowie Afghanistan mit 3.180. Betrachtet man die Geschlechterverteilung unter den Asylbewerbern, so findet man 2014 mit 92,3 % vorwiegend männliche Personen vor, weiblich waren lediglich 7,7 % der Antragssteller. Die Zahl der Minderjährigen in Begleitung lag bei 3 %, während 4 % der Antragssteller unbegleitete Minderjährige waren (AIDA 2015: 6). Für das Jahr 2015 war ein erneuter Anstieg der Zahlen zu verzeichnen: Insgesamt bewarben sich in Italien 83.245 Personen um Asyl. Entscheidungen bezüglich Asylgesuchen wurden 2015 in 71.345 der Fälle getroffen,
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von denen 41.730 (58 %) eine Ablehnung erhielten. 15.770 (22 %) Bewerber erhielten den humanitären Schutz, 10.270 (14 %) den subsidiären Rechtsstatus und lediglich 3.575 (5 %) Personen den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Konvention (Eurostat 2016a). Die Herkunftsländer waren hauptsächlich Nigeria mit 17.780, Pakistan mit 10.285, Gambia mit 8.015, Senegal mit 6.370 und Bangladesch mit 6.015 Bewerbern (Eurostat 2016b). Von allen Bewerbern waren 88,5 % Männer und 11,5% Frauen (Eurostat 2016c). Wandlungstendenzen Ein Schritt in Richtung besserer Integration wurde 2010 von der italienischen Regierung mit der Einführung des sogenannten „Integrationspakts“ unternommen. Dieser sollte gewährleisten, dass jeder neue Migrant innerhalb von zwei Jahren nach Ankunft in Italien einen italienischen Sprachkurs der Niveaustufe A2 absolviert sowie einen Kurs über die nationale Gesellschaft besucht, um über das Leben in Italien informiert zu sein (ISMU 2013: 33). Auch 2011 war ein Jahr, das aufgrund der hohen Anzahl der Migranten aus Tunesien und Libyen durch Notlösungen geprägt war. Die aufkommenden Probleme deuteten sich jedoch schon früher an, als Anfang 2008 innerhalb von drei Monaten tausende Migranten irregulär nach Italien kamen. Als Lösung für das Problem wurde eine jährlich erneuerbare Aufenthaltsgenehmigung auf humanitärer Basis eingeführt, welche den Betroffenen dieselben Rechte wie legalen Migranten zusprach. Für das Problem der jährlich steigenden Asylantragszahlen mussten die vorhandenen Aufnahmekapazitäten ausgeweitet werden, um dem Zulauf gerecht zu werden. Zudem trat 2011 die EU-Richtlinie 2008/115/CE in Kraft, welche die Abschiebung irregulärer Migranten aus Drittstaaten regelte (ISMU 2013: 30). 2011 stufte Italien die Bedingungen in den nordafrikanischen Ländern, aus denen Asylsuchende auf Grund der politisch-sozialen Aufstände in Tunesien und Ägypten und dem Konflikt in Libyen nach Italien kamen, als humanitäre Notfallsituationen ein, wodurch 19.000 Personen ihre Asylanträge in Italien stellen durften. Nichtlibysche Staatsbürger, die mehrere Jahre in Libyen gelebt hatten, und/oder Opfer von Folter oder inhumaner Behandlung wurden, erhielten eine Aufenthaltsgenehmigung nach dem Vollzug des regulären Asylantrages, auch wenn diese Umstände nicht für ihre Herkunftsländer galten. Ferner erfolgte im Juni 2012, initiiert durch die ita-
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lienische Nationale Kommission für Asylrecht, der Auftrag an die territorialen Kommissionen, asylsuchenden Personen aus Mali mindestens den subsidiären Schutz zu gewähren. Die Situation dort wurde als humanitäre Krise klassifiziert, wodurch zuvor abgelehnte Asylanträge von Maliern Priorität für eine Revision erhielten. Dasselbe galt für die instabilen Umstände in Somalia und die Asylantragsteller aus diesem Land (AIDA 2013: 33). Zu einem weiteren Meilenstein in der Verbesserung des Asyl- und Aufnahmesystems Italiens zählte das Präsidium-Projekt, welches 2006 mit Unterstützung des italienischen Innenministeriums aus der Zusammenarbeit von IOM, Save the Children, UNHCR sowie des Italienischen Roten Kreuzes hervorging. Das Projekt hatte die Zielsetzung, Informationen zu bündeln, um anschließend eine Verbesserung des nationalen Aufnahmesystems zu erreichen (UNHCR 2009: 1). 2013 veröffentlichten die Organisationen IOM, UNHCR und Save the Children eine Pressemitteilung, welche die gängige Abschiebepraxis von Ägyptern und Tunesiern durch italienische Institutionen verurteilte. Diesen Staatsangehörigen wurde nicht nur die Möglichkeit auf die Einreichung eines Asylantrags verwehrt, sondern auch eine sofortige Abschiebung durchgeführt, ohne eine Chance auf eine Kontaktaufnahme mit den vorhin erwähnten Organisationen (AIDA 2014: 48). Ein weitreichendes Ereignis für Italien bezogen auf die Flüchtlingspolitik war die Umsetzung der EU-Richtlinie 2011/95 im Jahr 2014. Diese führte Schutzmaßnahmen für unbegleitete Minderjährige ein und erweiterte die Aufenthaltsgenehmigung des subsidiären Schutzes auf die gleiche Dauer wie die des Flüchtlingsstatus (drei auf fünf Jahre). Zudem stehen Personen mit subsidiärem Schutz nun auch die gleichen Rechte zu wie anerkannten Flüchtlingen, beispielsweise das Recht auf Familienzusammenführung. Fernerhin wurde innerhalb des Innenministeriums die „National Working Group“ (zu Deutsch: nationale Arbeitsgruppe) zur Verbesserung des nationalen Aufnahmesystems gegründet. Zielsetzung war ein Integrationsplan für Empfänger des internationalen Schutzes. Zu dieser Arbeitsgruppe gehören auch ein UNHCR-Vertreter sowie ein Vertreter der Zivilgesellschaft (ebd.: 11). Auch die bereits in der Einleitung erwähnte Operation Mare Nostrum spielte eine wichtige Rolle für die italienische Flüchtlingspolitik. Mit den Patrouillen, durchgeführt durch die italienische Marine, konnte die Zahl der Seeunglücke und Todesfälle deutlich reduziert werden. Insgesamt wurden
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in dem einjährigen Einsatz 156.362 Schutzsuchende aus Seenot gerettet und 366 Schleuser verhaftet. Aufgrund des geringeren Umfangs wurde Triton allerdings wiederholt kritisiert. So beschränkt sich beispielsweise der Operationsbereich auf lediglich 30 Meilen vor der Küste, während Mare Nostrum noch bis zu 175 Meilen vor den italienischen Gewässern eingriff (ebd.: 12). Darüber hinaus wird Kritik an der Arbeitsweise von Triton geäußert, da in einigen Fällen aus Seenot gerettete Personen auf den Rettungsschiffen aufgrund von Unterversorgung mit Wasser und Wärmedecken verstarben. Dies führt eine Mitarbeiterin der Organisation Centro Astalli auf die schlechte Organisation der Kampagne zurück. Mare Nostrum war demnach für dasselbe Geld effizienter in seiner Aufgabenteilung und Kommunikation (Interview I104; Workshop-Kommentar 2015). Wie bereits erwähnt, wurde des Weiteren das nationale Aufnahmesystem SPRAR wegen des immensen Zustroms an Migranten 2013 zunächst auf 16.000 Plätze und darauffolgend auf 20.000 Plätze vergrößert. Eine weitere Vergrößerung wurde für den Zeitraum von 2014 bis 2016 festgelegt. Zurzeit stehen Migranten 19.900 Plätze zur Verfügung. Hinzu kommt, dass das italienische Innenministerium die lokalen Amtsbezirke dazu aufgefordert hat, zusätzliche Aufnahmeplätze einzurichten. Dies wird durch einen Allokationsmechanismus vollzogen, welcher Migranten nach einem auf unterschiedlichen Indikatoren basierenden gleichberechtigten Schlüssel auf die italienischen Regionen aufteilt. Am 29. Dezember 2014 betrug die Zahl der Personen, die sich in solchen Zentren befanden, 34.991. Weiterhin wurde versucht, die Zahl der Entscheidungen über die Schutzbedürftigkeit zu vergrößern, wozu die Zahl der territorialen Kommissionen von 20 auf 30 erhöht und deren Entscheidungsgewalt weiter geteilt wird. Durch das neue Gesetz (Gesetz Nr. 119/2014) haben die territorialen Kommissionen zudem die Möglichkeit, persönliche Interviews mit nur einem Mitarbeiter anstatt mit dem ganzen Team durchzuführen (AIDA 2014: 13). Gleichzeitig muss die sozialdemokratische Regierung von Matteo Renzi gegen länger andauernde Korruptionsvorgänge innerhalb Italiens ankämpfen. Im Juni 2015 wurden 44 Menschen festgenommen, die zu einem Netzwerk aus korrupten Polizisten, Politikern und Geschäftsleuten gehörten. Ihnen wird unterstellt, ein Kartell (bekannt geworden unter dem Namen „Mafia Capitale“) gegründet zu haben, um Profit aus den Aufnahmezentren für Asylbewerber zu ziehen (Interview I201; Reuters 2015). Sie sollen an-
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geblich Gelder, die für italienische Aufnahmezentren gedacht waren, unterschlagen und Verträge mit Aufnahmezentren zum eigenen Vorteil manipuliert haben (Telegraph 2015).
3. K OOPERATIONEN UND N ETZWERKE ASYL - UND FLÜCHTLINGSBEZOGENER O RGANISATIONEN Während des Aufenthalts der Forschungsgruppe in Rom wurden 2014 und 2015 15 Interviews mit zwölf verschiedenen Organisationen geführt. Mit den folgenden Organisationen wurden dabei Experteninterviews durchgeführt, deren Charakteristika Tabelle 1 zu entnehmen sind: UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees), IOM (International Organisation for Migration), St. Egidio, Centro Astalli, CIR (Consiglio Italiano per i Refugiati) und Nafuma Refugee Center in 2015. In den dort durchgeführten Experteninterviews wurden von den Interviewpartnern aus den befragten Flüchtlingsorganisationen über 50 verschiedene Akteure als enge Kooperationspartner bei asyl- und flüchtlingsbezogenen Themen genannt. Es entsteht der Eindruck eines differenzierten Netzwerks, welches sich aus Organisationen mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten zusammensetzt. Die vertretenen Normen und Werte wie „Menschenrechte“, „religiöse“, „wissenschaftliche“ oder „politische“ Motive waren aus Sicht der Interviewpartner relativ ungleichmäßig verteilt (bei einer Dominanz von Menschenrechtsorganisationen) und zudem auch nicht immer genau voneinander abzugrenzen. Der Großteil der Organisationen agiert mindestens auf nationaler, oft aber auch auf internationaler, wenn nicht sogar globaler Ebene. Nichtsdestotrotz gibt es auch lokale Initiativen. Viele italienische Hilfsorganisationen im Asylbereich haben eine religiöse Basis, meist christlicher Natur.
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Tabelle 1: Asyl- und flüchtlingsbezogene Organisationen und ihre Charakteristika
2014
2015
Werte und Organisationsform Normen
LegitimationsHauptan liegen feld Asylbewerber und Flüchtlinge: Schutz, Asylprozess, Monitoring, Koordination, Aufnahme Asylbewerber und Flüchtlinge: Koordination, Orientierung, Familiennachzug, Aufnahme
UNHCR
IRO
Menschenrechte / Humanitäre Werte
IOM
IRO
Menschenrechte / Humanitäre Werte
NRO
Religiöse Werte / Menschenrechte
national
NRO
Menschenrechte
national
NRO
Religiöse Werte / Menschenrechte
international
Menschenrechte / Humanitäre Werte
lokal
Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Friedensbewegung, kirchlicher Dialog, Mission Vielfältig, u.a. Asylbewerber und Flüchtlinge: Bereitstellung von Mahlzeiten und Möglichkeiten zur Körperpflege, Sprachunterricht, Freizeitgestaltung sowie soziale und rechtliche Unterstützung
Centro Astalli CIR
St. Egidio
Joel Nafuma RefuAndere (Zentrum gee Center für Flüchtlinge)
international
international
Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Rechtsbeistand, Sensibilisierung Asylbewerber und Flüchtlinge: Rechtsbeistand, Integration, Soziales
Borderline Sicilia
NRO
Politisch / Menschenrechte
lokal
Asylbewerber und Flüchtlinge, vor allem Monitoring des Grenzschutzes
Borderline Europe
NRO
Politik / Menschenrechte
international
Asylbewerber und Flüchtlinge, vor allem Monitoring des Grenzschutzes
NRO
Religiöse Werte / Menschenrechte
lokal / regional
Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Bildung, therapeutische Unterstützung
K-Pax
NRO
Politisch / Menschenrechte
lokal
Asylbewerber und Flüchtlinge: Integration und soziale Eingliederung
Naga Har
NRO
Menschenrechte / Humanitäre Werte
lokal
Vielfältig u.A. Asylbewerber, Flüchtlinge und Migraten: vor allem Rechtsbeistand
Laici Comboniani
NRO
Religiöse Werte / Menschenrechte
lokal
Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Missionarische Tätigkeiten
Istituto Valdese
Quelle: Interviews und Homepage-Analysen im Rahmen des MAREM-Projekts 2014-2015, eigene Darstellung.
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In den folgenden Abschnitten werden die Organisationen UNHCR und Centro Astalli näher vorgestellt und ihre Aufgabenbereiche, inhaltlichen Schwerpunkte und vor allem ihre Kooperationsnetzwerke sowie deren Bedeutsamkeit detailliert erläutert. Somit werden zwei unterschiedliche Organisationen mit ihren verschiedenen Herangehensweisen präsentiert und verglichen. 3.1 Beispiel 1: UNHCR UNHCR ist eine global agierende Organisation, die sich seit 1951 für den Schutz und die Rechte von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Vertriebenen – basierend auf der Genfer Flüchtlingskonvention (1951) – einsetzt (UNHCR o.J.). Am 14.12.1950 als Spezialorgan der Vollversammlung der Vereinten Nationen gegründet, ist die Hauptaufgabe von UNHCR die Koordinierung und Durchführung internationaler Hilfsmaßnahmen für Asylsuchende und Flüchtlinge sowie deren Schutz und Unterstützung bei der Rückkehr ins Heimatland. Die Arbeit der Organisation wurde durch das 1951 verabschiedete Genfer Abkommen über die Rechtstellung der Flüchtlinge sowie das Protokoll über die Rechtstellung der Flüchtlinge von 1967 bis heute von über 140 Staaten ratifiziert und legitimiert. Diese Abkommen legen fest, welche Personen als Flüchtlinge anerkannt werden sowie welche Rechtstellung diesen Personen zugesprochen wird (United Nations. 1967. Treaty Series. Nr. 606: 267; United Nations. 1951. Treaty Series. Nr. 189: 137). Die zentrale Koordination der Aktivitäten von UNHCR geschieht in den fünf Hauptsitzen (Genf, Budapest, Brüssel, Kopenhagen und New York). Neben dem 944 Personen umfassenden Koordinationsstab von UNHCR arbeiten weitere 6806 Angestellte an 462 Standorten in 127 Ländern der Welt. Die Feldeinsätze von UNHCR geschehen in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Landesregierungen sowie mit insgesamt 720 NROs, die die Organisation logistisch und personell unterstützen (UNHCR 2014: 2). In Italien und anderen europäischen Zielländern für Asylsuchende und Flüchtlinge konzentriert sich UNHCR unter anderem auf folgende Aufgaben: •
Unterstützung der Regierungen beim Aufbau effizienter und gerechter Asylsysteme,
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• • • •
Etablierung von Mindeststandards bei der Unterbringung von Asylsuchenden und Flüchtlingen, Sensibilisierung der Grenzkontrollen für den Schutz von denjenigen, die ihn suchen, Förderung des „responsibility-sharing“ innerhalb der EU-Staaten und Unterstützung des European Asylum Support Office (EASO), Förderung von Integrationsinitiativen (UNHCR o.J.).3
Neben den Hauptprogrammen zur Koordinierung direkter humanitärer Hilfseinsätze (z.B. Aufbau von Flüchtlingscamps) stehen auch Vorhaben der Rückführung von Schutzsuchenden in ihre Heimatländer oder die besondere Unterstützung von gefährdeten Flüchtlingsgruppen (z.B. Frauen und Kinder) im Arbeitsfokus von UNHCR. Zahlreiche weitere Aufgabenbereiche wie Rechtsinformation für Schutzsuchende, Beratung von Regierungen zur nachhaltigen Lösung von Flüchtlingsproblemen oder die Klärung widersprüchlicher oder illegaler Rechtsverhältnisse nationaler Gesetzgebungen der Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Genfer Flüchtlingskonvention werden ebenfalls von UNHCR betreut. UNHCR finanziert sich über direkte Beitragszahlungen der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen. Dabei führte die USA die Liste der Hauptgeldgeber mit einer Zahlung von 1.041 Mio. $ im Jahr 2013 mit großem Vorsprung an (UNHCR 2014: 22). Die Steuerung der Vorhaben von UNHCR beruht auf den regelmäßig neu formulierten Global Strategic Priorities (GSPs), den Haupt- und Unterindikatoren der Programmarbeit. Diese Indikatoren sind einerseits dem operativen Bereich (z.B. Zugang von Schutzsuchenden zu geschützten Bereichen und geregelten Asylverfahren, Schutz von gefährdeten Personengruppen, Einhaltung von Gesundheits- und Ernährungsstandards etc.) sowie andererseits dem administrativen Bereich (z. B. Sicherung permanenter Finanzierung, Einhaltung von Qualitätsstandards, ergebnisorientiertes Management etc.) zugeordnet. Die Rechenschaftsablegung über die Wirksamkeit durchgeführter Aktivitäten sowie über die Verwendung der finanziellen Zuwendungen geschieht durch die jährliche Publikation des Global Appeal und des Global Report (UNHCR 2014: 16ff.).
3
Für mehr Informationen zu UNHCR Italy siehe: http://www.unhcr.org/ pages/49e48e996.html, aufgerufen am 29.8.2015.
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Eine der Hauptaufgaben der UNHCR-Stelle in Rom ist die Begleitung der Umsetzung relevanter Verordnungen und Richtlinien der EU in Italien, vor allem bezüglich der Asylprozeduren und der Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende, die in Italien ankommen. Nach den Angaben des Interviewpartners hat die UNHCR-Stelle in Rom eine Belegschaft, die 45 Mitarbeiter umfasst. Ihre finanziellen Ressourcen bezieht die UNHCR-Stelle in Rom sowohl von der italienischen Regierung als auch von privaten Akteuren. Finanzielle Unterstützung aus dem privaten Sektor sei laut unserem Interviewpartner beim UNCHR in Rom eine relativ neue Erscheinung für UNHCR, betont gleichzeitig, dass selbst intergouvernementale Organisationen zum Teil Finanzierung aus privaten Quellen benötigen, um genug Ressourcen für ihre Arbeit zur Verfügung zu haben (Interview I010). UNHCR unterhält als international agierende Organisation ein umfassendes Netzwerk an Kooperationen mit Nichtregierungsorganisationen, staatlichen Einrichtungen und Initiativen sowie diversen anderen Institutionen, die im Asylbereich tätig sind. Zudem kann UNHCR als ein zentraler Akteur im italienischen Netzwerk für asylbezogene Organisationen gesehen werden. Unter anderem nennt UNHCR Rome UNICEF, Behörden und Agenturen der EU, Europa-Asilo, die italienische Marine und Küstenwache, Pro Asyl, Save the Children, Borderline Europe, FAO, Caritas, IOM, Rotes Kreuz Italien, das Innenministerium, ausländische Botschaften, das Ministerium für Arbeit und die National Association of Italian Municipalties (ANCI) als wichtige Kooperationspartner. UNHCR ist zudem Teil eines bedeutsamen Kooperationsprojekts („Praesidium Project“) in Italien. Relevante Partner in diesem Projekt sind die IOM, Save the Children und das Rote Kreuz Italien. Wichtige institutionelle staatliche Kooperationspartner von UNHCR sind das Innenministerium, der Küstenschutz und die Marine, welche vor allem bei der Ankunft von Schutzsuchenden an den italienischen Küsten eine große Rolle spielen. Auf der Ebene der Integrationsbemühungen ist das Ministerium für Arbeit von Bedeutung, da es für die Integration von Migranten und Flüchtlingen verantwortlich ist. Aber auch das Ministerium für Gesundheit ist ein maßgeblicher Kooperationspartner für die Integration von Flüchtlingen und deren gesundheitlicher Betreuung, wie z.B. bei der Betreuung von Opfern von Folter. Zudem arbeitet UNHCR mit dem Ministerium für Bildung zusammen, beispielsweise in einem Projekt zum Aufbau einer studentisch betreuten Website für Flüchtlinge (Interview I102).
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Mit dem italienischen Parlament unterhält UNHCR eine sehr intensive Zusammenarbeit sowie beständigen Kontakt zu politischen Parteien, Abgeordneten und politischen Gruppierungen. Zudem besteht enger Kontakt mit der Menschenrechtskommission im Senat und dem interparlamentarischen Schengen-Komitee. Ein weiterer bedeutsamer Kooperationspartner auf Staatsebene sind die Conference of Regions und die nationalen Kommissionen. Neben zahlreichen regierungsnahen und Regierungs-Kooperationspartnern unterhält UNHCR auch kooperative Beziehungen zu wissenschaftlichen Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen. Auf Ebene wissenschaftlicher Organisationen steht UNHCR in intensivem Kontakt mit der Universität von Rom, La Sapienza, beispielsweise mit Trainingskursen für Studierende (Interview I102). Die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen besteht hauptsächlich mit Organisationen, die auf nationaler und kaum auf lokaler Ebene arbeiten (ebd.). Zu lokalen Organisationen bestehen zwar Kontakte, diese sind jedoch lediglich durch lose Kooperationen gekennzeichnet (ebd.). Zudem ist die UNHCR-Vertretung in Rom in eines der größten und wichtigsten Kooperationsnetzwerke in Italien, Tavolo Asilo, eingebunden, in dem Nichtregierungsorganisationen den Großteil der Kooperationspartner bilden. Dort sind die folgenden Partner vertreten: Centro Astalli, FECEI, Caritas, Arci, CIR, Sant Edigio, ASCI, Save the Children, Doctors Without Borders, La Casa de Refugiata, ACLI, Amnesty International sowie SPRAR. SPRAR und die UNHCR-Vertretung sind hierbei die einzigen staatlichen bzw. regierungsnahen Akteure (ebd.). Gemeinsam kümmern sich die im Tavolo Asilo vernetzten Organisationen um die Belange von Flüchtlingen und vertreten ihre Interessen gegenüber der italienischen Regierung (Interview I103). Die breite Vielfalt an verschiedenen Kooperationspartnern ist charakteristisch für UNHCR, was zu einem erheblichen Teil an der Wichtigkeit dieser Organisation für flüchtlingsbezogene Angelegenheiten in vielen Ländern liegt. UNHCR ist ein global agierender Akteur, der auch in den einzelnen Ländern auf nationaler Ebene eine bedeutende Rolle übernimmt. Zudem nennt die UNHCR-Vertretung in Rom keine besonderen Auswahlkriterien als Grundlage für eine Kooperation, was eine Vielzahl von unterschiedlichen Kooperationspartnern begünstigt (ebd.). Die starke Einbindung von UNHCR in ein heterogenes Netzwerk aus Kooperationspartnern
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konsolidiert nach eigenen Angaben dessen Einflusskraft auf die nationale Gesetzgebung (Interview I103) 3.2 Beispiel 2: Centro Astalli Das Centro Astalli ist eine Einrichtung des jesuitischen Flüchtlingsdienstes Jesuit Refugee Service (JRS), der sich als internationale katholische Organisation seit über 40 Jahren in verschiedenen Ländern der Welt für die Begleitung und rechtliche Unterstützung von Flüchtlingen einsetzt. Das 1981 gegründete Centro Astalli in Rom ist primär eine Erstaufnahmeeinrichtung für in Italien ankommende Schutzsuchende und betreibt sekundär Informations- und Lobbyarbeit zu deren Unterstützung auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Neben dem Centro Astalli in Rom existieren vier weitere Erstaufnahmeeinrichtungen des JRS in Italien, die bei ausgelasteten Kapazitäten bis zu 34.000 Schutzsuchende versorgen können, davon alleine 21.000 in Rom. Die Arbeit des Centro Astalli stützt sich dabei insbesondere auf die Arbeit von circa 450 Freiwilligen (Centro Astalli 2014: 6). Weitere Aufgaben der Organisation in Rom sind der Einsatz für die Rechte von Flüchtlingen, beispielsweise durch das Einbringen von Expertise, die Dokumentation der aktuellen Lage und die Durchführung von Kampagnen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Die Organisation ist religiös motiviert, jedoch liegt darauf nicht das Hauptaugenmerk ihrer Tätigkeit. Vielmehr steht die Menschenrechtsarbeit und Unterstützung von Asylbewerbern und Flüchtlingen auf Basis christlicher Grundsätze im Fokus. Das Centro Astalli sieht die größten Herausforderungen der aktuellen Asyl- und Flüchtlingssituation in dem Fehlen sicherer und vor allem legaler Zugangsmöglichkeiten in europäische Länder (sog. humanitarian corridors). Als Konsequenz komme es zum Massensterben von Schutzsuchenden in der Wüste und im Mittelmeer. Hinzu kämen die unzulängliche Organisation des italienischen Aufnahmesystems und die kaum vorhandenen Integrationsangebote für Migranten. Der letzte Punkt wird dabei als ein besonders schwieriges Unterfangen angesehen. Die Regierung habe zumindest die Intention, einen Integrationsplan auszuarbeiten, jedoch sei sie momentan noch vermehrt auf das Management der Ankunft tausender Neuankömmlinge konzentriert und denke wenig an langfristige Lösungsstrategien, die Integrationsfragen zwangsläufig aufrufen würden. Die Ankunft
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vieler Schutzsuchenden wird nach wie vor noch von vielen Verantwortlichen als Ausnahmesituation angesehen und nicht als dauerhaftes Phänomen, welches zukunftsorientiertes Denken verlangt. Deswegen gibt es in Italien kaum Integrationsmaßnahmen und soziale Unterstützung für Betroffene. Das Centro Astalli arbeitet mit diversen Organisationen und Partnern zusammen. Dies geschieht auf unterschiedliche Weise, je nach Art des Projekts oder der Kooperation. Das Centro Astalli hat - anders als UNHCR meist sehr spezifische Kriterien und operative Aspekte, nach denen entschieden wird, in welcher Hinsicht eine Zusammenarbeit sinnvoll ist. Kriterien können beispielsweise eine ähnliche oder gleiche Arbeitsweise und ein kongruenter Themenzugang sein, aber auch die Struktur, Administration und Kapazitäten der eventuellen Partnerorganisation (Interview I104). Hierbei wird jedoch nicht in allen Fällen und nicht bei allen erwähnten Aspekten nach Partnern gesucht, die der eigenen Organisation in Bezug auf relevante Aspekte besonders ähneln. Für eines der Projekte des Centro Astalli lautete die Devise beispielsweise: „The more diverse they [the partners] are, the stronger they are“ (Interview I104). Die Organisation vermeidet es, sich auf nur ein Hauptprojekt zu konzentrieren. Am besten sei die Kooperation mit vielen unterschiedlichen Partnern über einen längeren Zeitraum hinweg (ebd.). Auch das Centro Astalli nennt als eines der wichtigsten Kooperationsnetzwerke auf nationaler Ebene den runden Tisch Tavolo Asilo, der sich vor allem auf den Arbeitsbereich „advocacy“ konzentriert. Als weiterer maßgeblicher Partner gilt zudem die scuole migrante, eine große italienische Sprachschule in der Region Lazio, die Unterstützung für alle in Italien ankommenden Migranten anbietet. Das Centro Astalli ist zusammen mit Caritas Teil des Komitees, welches die scuole migranti gründete. Der Dialog mit der Regierung und SPRAR als zentrale Aufnahmeeinrichtung sind ebenso wichtig wie die Zusammenarbeit mit anderen Nichtregierungsorganisationen. Netzwerke wie diese sind deshalb so bedeutsam, weil sie Erfahrungen und Kompetenzen aus verschiedenen Richtungen bündeln (ebd.).
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3.3 Asyl- und flüchtlingsbezogene organisationale Netzwerke in Italien Für viele NROs spielen der Kontakt und das Netzwerken mit anderen Organisationen, aber auch Privatpersonen, eine außerordentlich wichtige Rolle, oft in finanzieller Hinsicht und insbesondere auf europäischer Ebene. So sorgt beispielsweise bei der katholischen Menschenrechtsorganisation St. Egidio das Netzwerk an Kontakten und Partnern für die Finanzierung eines Tageszentrums mit einer Suppenküche, sanitären Einrichtungen und medizinischer Betreuung. Zudem ist eine ausgeprägte Öffentlichkeitsarbeit wichtig, um beispielsweise ehrenamtliche Mitglieder und Sachspenden zu akquirieren. Der Kontakt zu den Regierungsorganisationen im In- und Ausland wird als genauso bedeutend eingestuft. Eine große Herausforderung bezüglich der Kooperationen mit anderen Organisationen ist die permanente, stabile und vor allem langfristige Zusammenarbeit und der Kontakt zu Partnern in anderen europäischen Ländern (Interview I104). Generell kann festgehalten werden, dass die jeweiligen Kooperationen stark projektgebunden sind und sich häufig, je nach Kompetenzen und Fachgebieten der Organisation, auf einen spezifischen Aspekt des Themas Asyl konzentrieren. Somit sind viele Aspekte der Zusammenarbeit auch räumlich sowie zeitlich begrenzt und müssen oft immer wieder neu initiiert werden. Organisationen wie beispielsweise CIR akquirieren häufig Fachpersonal wie Psychologen, Fachärzte, Sozialarbeiter und Juristen, um Asylbewerber und Flüchtlinge besser beraten und begleiten zu können. Als besonders wertvoll wird daher in den Kooperationen auch der Austausch von Informationen und Fachexpertise eingeschätzt. Die Art der Zusammenarbeit hängt häufig vom jeweiligen Projekt ab und wird nach den speziellen Profilen der jeweiligen Organisation initiiert. Kooperation findet mit Partnern statt, die über Kompetenzen verfügen oder Dienstleistungen anbieten, welche man selbst nicht hat. Folglich ist festzustellen, dass die Arbeit ohne Kooperationsnetzwerke nicht möglich wäre und diese Netzwerke in Bezug auf die relevanten Merkmale eher als heterogen bzw. sich ergänzend einzustufen sind.
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Abbildung 1: Visualisierung der Kooperationen und Netzwerke asyl- und flüchtlingsbezogener Organisationen in Italien
Quelle: Interviews im Rahmen des MAREM-Projekts 2014-2015, eigene Darstellung mit der Software Visone.
Es war für die Organisationen generell schwierig, wichtige Partner von weniger wichtigen zu unterscheiden. Als Grund wird angeführt, dass auch dies in Abhängigkeit zu den jeweiligen Projekten stünde. Je nach Projekt und Fokus sei die eine Organisation wichtiger, für ein anderes Projekt wiederum eine andere (Interview 105). „We try to choose the partners who are located at the project place, because it’s efficient. In international projects we try to work with partners who are physically in countries that we want to work [with].“ (Interview I103)
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Andere Kooperationen und Projekte entstehen erst im Zuge einer Krise und passen sich den aktuellen Gegebenheiten der Migrations- und Flüchtlingsbewegungen an, wie zum Beispiel die vermehrte Zusammenarbeit einiger Organisationen mit Save the Children als Konsequenz der Feststellung, dass ein Großteil der Ankommenden minderjährig ist. Der Effizienzgedanke steht bei der Wahl von Kooperationspartnern im Vordergrund (Interview I103). Die meisten der interviewten Organisationen nannten das Innenministerium als wichtigsten institutionellen Kooperationspartner und staatlichen Akteur, da es für Asylfragen und die Koordinierung der Aufnahme zuständig ist. Ebenfalls wurde das staatliche Aufnahmesystem SPRAR als einflussreichster Akteur für die Umsetzung des GEAS genannt. Viele NROs setzen sich gemeinsam für eine strengere und stärkere Implementierung des GEAS ein und arbeiten mit den staatlichen Stellen zusammen. „The government has the power to change things. All the others, the independent parties, have the power to advocate. Some are in the position to advocate a bit stronger, which of course is UNHCR […]. Others are advocating more in general. […] all who are in the Tavolo Asilo […]. The strength of these advocacies is the fact that it is conducted as a single voice. Each of it, as an individual organisation has not much relevance“ (Interview I104).
Demnach haben starke Netzwerkstrukturen eine weitaus höhere Chance, Einfluss auf das Asylsystem in Italien auszuüben, als vereinzelte Stimmen. Je mehr sich diese zusammenschließen und gemeinsam auftreten, desto stärker können sie agieren (Interview I102). Überdies spielt das Arbeitsfeld eine nicht zu unterschätzende Rolle. Global oder international agierende Organisationen besitzen tendenziell mehr Kapazitäten, Prozesse mitentscheiden zu können als kleine lokale Organisationen. „What we are trying to do is to make our voices heard, also at least at the European level“ (Interview I104). Die wichtigsten und größten in den Interviews genannten Netzwerke sind die folgenden: Tavolo Asilo, European Council on Refugees and Exiles (ECRE), European Network on Statelessness und das Network for Victims of Torture (Interview I105). Das sind starke Netzwerke, die einen gewissen Einfluss auf das Asylsystem in Italien ausüben. Besonders Tavolo Asilo
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wurde als bedeutend in asyl- und flüchtlingsbezogenen Themen hervorgehoben. „The Tavolo Asilo is a network composed by the main humanitarian organisations which are working with asylum seekers and are directly linked with the Ministry of Interior. They address the main issues that the asylum seekers face in Italy to the Italian government“ (Interview I102).
Eine weitere, als zentral eingestufte Projektkoordination, ist das bereits erwähnte Praesidium Project. Dieses Projekt wurde 2006 vom italienischen Innenministerium gegründet und ist das erste seiner Art in Europa. Zum ersten Mal fanden sich ausländische internationale Organisationen auf diese Weise zusammen, um Menschen zu unterstützen, die vor Kriegen, Verfolgung und Wirtschaftskrisen flüchten. „The Praesidium Network formed by UNHCR, IOM and Save the Children is a winning network and can highlight some of the problems of asylum seekers. We can address this problem to the Italian government“ (Interview I03).
4. S CHLUSSFOLGERUNGEN : E NTSTEHUNG ORGANISATIONALER N ETZWERKE UND GEAS Die Gründung des Observatoriums für Sicherheit gegen Akte der Diskriminierung oder auch die Organisation der Mare-Nostrum-Operation 2013 sind Beispiele dafür, dass Italien versucht, sich den aufkommenden Herausforderungen in Bezug auf die Migrationsbewegungen tatsächlich zu stellen. Trotz der relativ engen Zusammenarbeit verschiedener Organisationen auf unterschiedlichen Ebenen wurde die Notwendigkeit betont, noch mehr Nichtregierungsorganisationen in diese Netzwerke zu integrieren, da diese andere Ziele als die Regierung verfolgen und an Langzeitlösungen interessiert sind. Meinungsäußerungen von Organisationen wie IOM, UNHCR und vielen mehr gegenüber der italienischen Regierung weisen auf eine angestrebte Zusammenarbeit hin. Dazu zählen das Kooperationsnetzwerk Tavolo Asilo, das Präsidium-Projekt und die Mare-Nostrum-Operation. Dadurch kann die These aufgestellt werden, dass die Bildung eines umfassenderen nationalen
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Netzwerks für das Engagement und steigende Verantwortungsbewusstsein Italiens spricht. Hierbei wird auch deutlich, dass Italiens Regierung die Verantwortung nicht auf Nichtregierungsorganisationen überträgt, sondern eine Verbesserung durch effektive Zusammenarbeit anstrebt. Einen Nachteil stellt dabei die kurzweilige Dauer der jeweiligen Regierungskonstellationen dar, welche oft nur bis zu nächsten Wahlen ihr strategisches Vorgehen in Bezug auf Änderungen im Asylsystem plant. Hierbei sind die NROs von Vorteil, da diesen an einer langfristigen Änderung liegt. Korruptionsvorfälle und die Nachwirkungen der damaligen Regierung unter Berlusconi erschüttern weiterhin Renzis Regierung und beeinträchtigen die positive Entwicklung des italienischen Asylsystems. Zur Erklärung der Veränderung eines nationalen Asylsystems sind diverse Faktoren sowie viele Akteure und Individuen zu berücksichtigen. Ebenfalls von Bedeutung sind die Wünsche und Hoffnungen von Migranten als auch die historische Entwicklung des Migrations- und Asylregimes. Die Unterbringung, Versorgung und Integration von Schutzsuchenden stellt dabei die italienische Gesellschaft, besonders in Zeiten wirtschaftlicher Probleme, vor große Herausforderungen. Gewiss ist das nationale Asylsystem Italiens nicht nur aus den genannten Gründen unausgereift und weist Lücken in Bereichen wie der Aufnahme, Unterbringung und dauerhaften Integration von Migranten auf. Diese Herausforderungen werden jedoch von der Regierung und diversen NROs angegangen, was man an der Vielfältigkeit der Programme sehen kann. Als problematisch darf jedoch nicht nur die italienische Situation in Bezug auf Migranten gesehen werden. Schlussendlich reicht selbst ein gut vernetztes System aus verschiedenen asyl- und flüchtlingsbezogenen Organisationen nur in Italien nicht aus. Vielmehr fehlt es an einem gesamteuropäischen Ansatz, um eine menschenwürdige und dauerhafte Lösung für die steigende Zahl von Asylsuchenden, Flüchtlingen und Migranten zu finden. Ein gemeinsames europäisches Verantwortungsbewusstsein, welches auch eine gerechte Verteilung der Schutzsuchenden unter den Mitgliedsstaaten einschließt, ist damit unerlässlich geworden. Insbesondere vor der aktuellen Überlastung Italiens und Griechenlands sowie der zögerlichen Umsetzung des Verteilungsplans der EU, ist ein Umdenken und Herauslösen aus nationalem hin zu einem europäischen Verantwortungsbewusstsein notwendig.
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Interviews I010 I101 I102 I103 I104 I105 Workshop-Kommentar 2015 I20
Länderbericht Spanien C HRISTOPHER G RAETZ , W IBKE K ORDTOMEIKEL , K ATHARINA W ERNER , J ULIANA W ITKOWSKI
1. E INLEITUNG Im Rahmen der Flüchtlingsbewegung nach Europa spielt Spanien aufgrund seiner geografischen Nähe zu Afrika – an der Straße von Gibraltar trennen weniger als zwanzig Kilometer den afrikanischen Kontinent vom europäischen – und seinen Exklaven Ceuta und Melilla eine bedeutende Rolle. Diese liegen in Marokko bieten meist Schutzsuchenden aus afrikanischen Staaten die Möglichkeit, spanisches Gebiet und somit Territorium der Europäischen Union (EU) zu erreichen (Koos/Thiel 2015: 378). Spanien ist mit einer Bevölkerung von rund 46 Mio. Menschen nach Italien das zweitgrößte in diesem Band betrachtete Land. Nach der für Spanien besonders verheerenden Wirtschaftskrise, die im Jahr 2008 begann, herrscht dort noch heute eine im europäischen Vergleich extrem hohe Arbeitslosigkeit von 22,1 % (Eurostat 2016a). Damit ist Spanien nach Griechenland das Land mit der höchsten Arbeitslosenquote in Europa. Besonders prekär zeigt sich diese bei jungen Leuten, hier erreicht die Quote einen Satz von beinahe 45,8 % (Eurostat 2016b). Auch das Wirtschaftswachstum sank zwischen 2008 und 2014, erlebte jedoch nach 2014 ein positives Wachstum. 2015 lag das BIP bei 1,1Mrd Euro (Eurostat 2016c). Seit 2014 ist Felipe IX. der amtierende König Spaniens. Ministerpräsident war von 2011 bis 2016 Mariano Rajoy, Mitglied der konservativen Partido Popular (PP). Damit löste Rajoy die Regierung unter dem ehemali-
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gen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero ab, der als Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei (Partido Socialista Obrero Español, PSOE) zuvor sieben Jahre lang im Amt war (Comellas García Llera 2015: 424ff.). Nach landesweiten und bereits wiederholten Wahlen im Juni 2016 gestaltete sich die Regierungsbildung sehr schwierig. Seit dem 1. Januar 1986 ist Spanien Mitglied der Europäischen Union sowie seit Anfang 1999 der Eurozone. Aufgrund seiner Geschichte ist das Land eng mit den Staaten Lateinamerikas verbunden, was sich auch in der Migrationsgeschichte widerspiegelt. Anfang des 20. Jahrhunderts begannen viele Spanier, nach Lateinamerika auszuwandern, der Anteil der emigrierenden Personen lag zwischen 1900 und 1913 bei ca. 12 % (Garcés-Mascareñas 2012: 108). Grund für die Auswanderungen war vor allem die ökonomische Produktivität in den Zielländern, die als „Pull-Faktor“ gesehen werden kann; als „Push-Faktor“ galt die Krise im spanischen Agrarsektor, die sich z.B. in der Einführung neuer Produkte, die spanische verdrängten, äußerte (ebd.). Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs brach die Migration nach Südamerika ab (Izquierdo et al. 2015: 11). Aufgrund der Stellung Spaniens im Krieg als neutraler Akteur war das Land in der Lage, andere europäische Länder mit Gütern zu beliefern. Aufgrund der hohen Exporte entstand eine erhöhte Nachfrage nach Arbeitskräften innerhalb Spaniens und in diesem Zusammenhang eine erhöhte Einwanderung in das Land, gefolgt von einer vermehrten Auswanderung in Folge des Spanischen Bürgerkriegs (Garcés Mascareñas 2012: 109). In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Arbeitsmarktsituation durch das Fortschreiten des industriellen Sektors in ganz Europa. Dies hatte zur Folge, dass neben den in den 1950er Jahren beobachteten Auswanderungsströmen nach Südamerika ab den 1960er Jahren zunehmend kontinentale Wanderungen stattfanden (Izquierdo et al. 2015: 11). Hauptzielländer waren Deutschland, Frankreich und die Schweiz (GarcésMascareñas 2012: 110). Der Wandel von einem Auswanderungs- hin zu einem Einwanderungsland begann in den 1980er Jahren. Hatte die Zahl der in Spanien lebenden Menschen mit nichtspanischer Staatsangehörigkeit 1975 noch 200.000 betragen, so waren es zum Ende des Jahrhunderts schon eine Million (Bernecker 2008: 244).
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Ab Beginn des 21. Jahrhunderts stieg die Zahl der Einwanderer erneut an. Auch das nahezu vollkommen überarbeitete Ley Orgánica 8/2000, das unter anderem einen Artikel beinhaltet, der die ausländischen Bürger von einigen Grundrechten ausschließt, wie beispielsweise das Recht auf Vereinigung und Versammlung oder die Gründung von Gewerkschaften (Bernecker 2008: 251), konnte diesen Trend nicht aufhalten. Die von 1996 bis 2004 amtierende Partei Partido Popular implementierte während ihrer Legislaturperiode noch weitere Gesetze, die Abschiebungen erleichterten (Ley Orgánica 11/2003) oder Familienzusammenkünfte erschwerten (Ley Orgánica 14/2003) (ebd.: 252). Anfang 2005 kam es aufgrund einer breiten Regularisierungskampagne, im Zuge derer den sich irregulär in Spanien aufhaltenden Personen unter bestimmten Umständen ein Bleiberecht zugesichert wurde, zu einer überdurchschnittlichen Steigerungsrate der Einwanderungen von beinahe 40 % gegenüber dem Vorjahr (ebd.). Dafür sind unterschiedliche Gründe zu nennen: Auf der einen Seite verfügte Spanien seit Mitte der 1990er Jahre bis zur Finanzkrise 2008 über ein „relativ kontinuierliches Wirtschaftswachstum“ (Bernecker 2008: 245). Ein hoher Bedarf an besonders im niederen Lohnsektor angesiedelten Arbeitskräften, der Wachstum des illegalen Teils der Schattenwirtschaft sowie eine nicht klar formulierte und wenig ausdifferenzierte Einwanderungspolitik zog Arbeiter aus dem Ausland an (ebd.). Von 2002 bis 2007 stieg die Anzahl der Einwanderer insgesamt von anfangs 443.085 auf 920.543 an, größtenteils aufgrund der liberalen Steuerungspolitik Spaniens. Ab diesem Zeitpunkt kam es zu einem Rückgang, sodass 2010 nur noch 432.334 Menschen nach Spanien kamen. Dies ist vor allem auf die ungünstige Beschäftigungssituation im Land zurückzuführen, sodass einerseits die Zahl der Zuwanderungen sank, andererseits ein Großteil der Migranten, die bereits in Spanien lebten, den Entschluss fassten, in ihr Heimatland zurückzugehen oder in ein anderes Land weiterzuwandern (OECD Statistics 2014). Von da an bis 2014 war eine negative Entwicklung zu beobachten. Somit war Spanien 2014 mit einer Zuwanderungszahl von 265.757 Personen auf dem niedrigsten Niveau seit 1999 (OECD Statistics 2014; INE 2015). Gleichzeitig wurde ein Trend zur Emigration sichtbar: 2012 lag diese Quote bei 1,2 %. In den Jahren zwischen 2008 und 2010 lag diese noch bei 0,4 % (Izquierdo et al. 2015: 7). Dies lässt sich durch einen Blick auf die NettoMigrationsrate (Immigration-Emigration) bestätigen: Seit 2010 liegen aus-
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schließlich Negativwerte dieses Index vor. Zum Vergleich: Während 2009 noch knapp 390.000 Menschen nach Spanien kamen, verließen ca. 380.000 das Land. 2013 lag die Zahl der Einwanderer nur noch bei ca. 280.000, während fast die doppelte Anzahl an Personen in diesem Jahr auswanderte (INE 2015: 6). Bezüglich der rechtlichen Grundlagen von Migration finden sich in Artikel 13.1 der spanischen Verfassung die Grundzüge der Migrationspolitik. Die Gesetzgebung folgt dem Ley Orgánica 4/2000, in dem die Rechte und Freiheiten ausländischer Bürger sowie deren soziale Integration zusammengefasst sind. Die damit verbundenen Regulierungen über den Eintritt in das Land und die Bewegungs- und Residenzfreiheit von Bürgern aus der EU und anderen Staaten wurden 2007 bewilligt. 2009 wurde das Recht auf Asyl und subsidiären Schutz implementiert (EMN 2013: 9f.; EDAL 2012).
2. F LUCHT
UND
ASYL IM L AND
2.1 Geschichte und gegenwärtige Lage Das Thema Asyl und Flucht wurde in Spanien gesetzlich erst spät geregelt. 1978 wurde das Asylrecht in der Spanischen Verfassung festgelegt und sechs Jahre später wurde es im Gesetz verankert. Dieses Recht beinhaltete großzügige Aufnahmebedingungen für die Schutzsuchenden. Dies änderte sich 1994 durch eine Asylrechtsreform, die drei wesentliche Punkte beinhaltete. Erstens wurde das Verfahren für die Anerkennung von Asylbewerbern angepasst. Es gab von dort an nur noch den Flüchtlingsstatus gemäß der Genfer Konvention von 1951. Außerdem wurde der Schutz von anerkannten Flüchtlingen erweitert. Sie erhielten automatisch Aufenthalts-und Arbeitsgenehmigungen. Als zweiter Punkt wurde ein Vorverfahren für die Prüfung von Asylanträgen eingeführt. Dadurch sollten unbegründete oder missbräuchliche Anträge aussortiert und erst gar nicht für die Prüfung zugelassen werden. Der dritte Punkt beinhaltete, dass bei einer Ablehnung des Asylantrags der Bewerber das Land verlassen muss. Bisher durften die Bewerber trotzdem in Spanien verbleiben (Bundeszentrale für politische Bildung 2008). In den frühen 2000er Jahren hatte Spanien die höchste Rate an Schutzsuchenden im EU-Vergleich, wobei die meisten davon über die Meeresenge
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von Gibraltar kamen (ca. 14.500 in 2001). Mitte der 2000er Jahre verlagerte sich der wichtigste Einreisepunk von Schutzsuchenden auf die Kanarischen Inseln Mitte der 2000er Jahre (ca. 31.700 in 2006) (Roman/Pastore 2014: 41). Durch eine strikte Grenzschutzpolitik reduzierte die spanische Regierung diese beiden Fluchtrouten erheblich. Seit 2010 kamen über die Kanarischen Inseln nur noch wenige Hundert und über die Meeresenge von Gibraltar etwa 5.000 Schutzsuchende im Jahr an (ebd.). Die Verringerung dieser Zahlen ist das Ergebnis der Doppelstrategie der spanischen Regierung, die eine Stärkung der Grenzen und die gleichzeitige Kooperation hinsichtlich Flüchtlingskontrollen mit denjenigen afrikanischen Ländern verfolgt, die südlich des Mittelmeeres liegen - Marokko, Mauretanien und Senegal (ebd.; Pries 2016:116ff). Durch diese internationalen Kooperationen hat Spanien seine Grenzpolitik auf diese Transitländer ausgelagert. Schutzsuchende, die von diesen Ländern per Boot nach Spanien kommen wollen, werden häufig bereits während des Ablegens daran gehindert, den Herkunftshafen zu verlassen. Ähnlich ist es bei den beiden spanischen Enklaven Ceuta und Melilla an der Nordküste des afrikanischen Kontinents. Dort wurden die Schutzanlagen umfangreich ausgebaut, um die Hürde für Schutzsuchende zu erhöhen, auf spanisches Territorium zu gelangen (SVR 2015: 70). Die zwei wichtigsten erlassenen Gesetze der letzten Jahre im Hinblick auf Asylpolitik sind das Immigrationsgesetz Ley Orgánica 2/2009 und das Asylgesetz 12/2009. In diesen beiden Gesetzen sind die allgemeinen Rechte von Asylberechtigten und Migranten geregelt. Hierdurch wurde das spanische Asylrecht an die europäische Gesetzgebung angeglichen, also an das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Vor allem die drei Richtlinien bezüglich der Asylverfahren, der Bedingungen für die Aufnahme und der Anerkennung von Flüchtlingen des GEAS wurden umgesetzt. Das spanische Asylgesetz 12/2009 vom 30. Oktober 2009 beinhaltet das Prinzip des subsidiären Schutzes, außerdem das Recht auf kostenfrei zur Verfügung gestellten Rechtsbeistand während des Asylverfahrens und den Zugang zur spanischen Grund- und Gesundheitsversorgung (EDAL 2015). Im Dezember 2014 hat das spanische Parlament eine Gesetzgebung erlassen, die das Zurückdrängen von Schutzsuchenden in Ceuta und Melilla erlaubt, welches stark von spanischen Juristen und anderen Akademikern kritisiert wurde (Global Detention Project 2015: 10).
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2.2 Das nationale Flucht- und Asylregime und sein Verhältnis zu GEAS Laut spanischem und internationalem Recht kann jeder nichteuropäische Bürger Asyl in Spanien beantragen. Laut dem Asylgesetz 12/2009 vom 30. Oktober 2009 ist die staatliche Organisation namens OAR (Office of Asylum and Refuge) hauptsächlich verantwortlich für das Asylverfahren. Es weist den Schutzsuchenden auch Aufnahmelager die sogenannten Centros de Acogida a Refugiado (CAR) zu (Interview S104). Die staatliche Organisation OAR hat ihren Sitz in Madrid und ist dem Innenministerium unterstellt. Sie ist nur für Anträge zuständig, die auch in Madrid gestellt werden. Außerhalb von Madrid, vor allem an den Grenzen, werden die Anträge von der lokalen Polizei aufgenommen, die für diese Aufgaben oft unzureichend ausgebildet worden ist (SVR 2015: 74) Die Prozedur des Asylverfahrens beginnt mit der Feststellung über die Zulässigkeit des Asylantrags. Wenn der Antrag für unzulässig erklärt wird, hat dies die gleiche Auswirkung wie eine Ablehnung des Antrages. Unzulässig ist ein Antrag, wenn der Antragssteller bereits in einem anderen Land Asyl beantragt hat, wenn er aus einem sicheren Drittstaat kommt oder, wenn er eine europäische Staatsbürgerschaft besitzt. Innerhalb eines Monats soll entschieden werden, ob ein Asylantrag zulässig ist. Diese Prozedur wird von OAR begleitet, welches das Innenministerium berät und die Entscheidung vorschlägt, die formale Entscheidung über die Zu- oder Unzulässigkeit eines Antrages wird anschließend vom Innenministerium getroffen. Wenn der Antrag als unzulässig entschieden wurde, gibt es zwei Möglichkeiten für Asylsuchende, dies anzufechten. Als erstes kann beim OAR oder beim Gerichtshof der Autonomen Gemeinschaften (Tribunal Superior de Justicia de las Comunidades Autónomas) Einspruch gegen diese Entscheidung eingelegt werden. Als zweites kann beim OAR eine Revision beantragt werden, wenn neue Beweise vorliegen, die einen Asylantrag unterstützen. Ist der Antrag als zulässig eingestuft worden, soll das Verfahren bis maximal sechs Monate dauern, was den GEAS-Regularien entspricht. Während dieser Zeit werden ein oder mehrere Interviews mit dem Asylbewerber und einem Vertreter von OAR geführt. Wenn der Fall als beendet erklärt wird, wird die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung des Asylantrages vor einer Zulassungskommission (Comisión Interministerial de Asilo y
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Refugio) getroffen. Diese Kommission besteht aus jeweils einem Vertreter des Innenministeriums, des Außenministeriums, des Justizministeriums, des Arbeits- und Immigrationsministeriums sowie einem Vertreter vom UNHCR. Wenn der Asylantrag von der Kommission abgelehnt wurde, kann der Antragssteller vor der Verwaltungskammer des Hohen Nationalen Gerichtshofs (Audiencia Nacional) in Berufung gehen. Das Gericht kann die Beweise, die der Zulassungskommission vorlagen, nochmals prüfen. Erkennt das Gericht die Schutzbedürftigkeit an, so ist dieser Gerichtsspruch endgültig. Wird die Berufung allerdings durch das Gericht abgelehnt, kann der Antragssteller vor das Oberste Gericht (Tribunal Supremo) treten, welches ihm den internationalen Schutzstatus gewähren kann (EDAL 2015). In Spanien gibt es – wie in den meisten anderen EU-Mitgliedsstaaten – drei verschiedene Arten von Schutz. Die erste ist Asyl laut Artikel 2 und 3 des spanischen Asylgesetzes. Jeder Mensch, der die Bedingungen laut Artikel 1A der Genfer Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen erfüllt, wird in Spanien als Flüchtling anerkannt1. Die zweite Form ist der subsidiäre Schutz. Laut Artikel 4 des Asylgesetzes wird allen Personen, die nicht die Bedingungen für das herkömmliche Asyl erfüllen, der gleiche Schutz wie bei anerkannten Flüchtlingen gewährt, wenn sie oder ihre Familie einer lebensbedrohlichen Gefahr ausgesetzt sind. Die dritte Art ist der spezielle Schutz aus humanitären Gründen nach Artikel 46.2. Der Staat kann aus anderen Gründen, die nicht auf die beiden anderen Arten zutreffen, Personen Schutz gewähren. Der spezielle Schutz aus humanitären Gründen wird in Spanien jedoch nur sehr selten gewährt (Interview S101). Aufnahme von Asylsuchenden und Flüchtlingen Das Recht für Asylbewerber, bei Mangel an eigenen finanziellen Mitteln adäquat untergebracht zu werden, findet sich in Artikel 30 des spanischen Asylrechts. Aufgrund der rasch ansteigenden Anzahl Schutzsuchender in 2014 wurde das nationale Aufnahmesystem im selben Jahr umstrukturiert. Dazu gehörte auch die Unterbringung von Asylsuchenden, die bisher noch keinen Termin beim OAR bekommen konnten, in privaten Hotels und Hostels (AIDA 2016: 36). Die Situation wurde zusätzlich noch durch wirt-
1
Für mehr Informationen zur Genfer Flüchtlingskonvention: http://www.unhcr. de/mandat/genfer-fluechtlingskonvention.html
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schaftliche Probleme Spaniens verschärft, die eine Umstrukturierung nötig werden ließen, sodass die überfüllten Aufnahmeeinrichtungen für Schutzsuchende entlastet werden konnten (CEAR 2015: 14). Die Aufnahme von Schutzsuchenden wird in Spanien in vier Phasen gegliedert, in denen sukzessive weniger finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, bis die Schutzsuchenden sich selbst versorgen können. Insgesamt werden in Spanien vier CAR betrieben, die eine Kapazität von 426 Plätzen besitzen. Neben zwei CAR in Madrid und jeweils einem in Valencia und Sevilla stehen zwei weitere sogenannte CETI (Centros de estancia temporal para inmigrantes; zu Deutsch: Temporäre Aufnahmezentren für Migranten) in Ceuta und Melilla zur Verfügung, die insgesamt Platz für 992 Schutzsuchende bieten. Nach den staatlich betriebenen Zentren sind private Hotels und Hostels die am häufigsten gewählte Form der Unterbringung von Asylbewerbern in einem regulären Verfahren. Im September 2015 wurde die letztgenannte Form der Unterbringung durch einen Königlichen Erlass ermöglicht, um auf die Verlangsamung der Asylverfahren - bedingt durch den in 2015 erneuten starken Anstieg der Asylbewerberzahlen in Spanien - zu reagieren (AIDA 2016: 37f). In Ergänzung zu den öffentlichen Aufnahmeeinrichtungen existiert eine Kooperation zwischen NROs und dem Staat. Durch die Beauftragung von NROs durch das Ministerium für Arbeit wird das nationale Aufnahmesystem in Form eines „reception and care network“ (AIDA 2016: 38) unterstützt. Dieses Netzwerk der Aufnahme und Versorgung von Schutzsuchenden besteht aus weiteren sechs Aufnahmezentren mit insgesamt 1.230 Plätzen, die von NROs geleitet und betrieben werden (ebd.). Diesen Sachverhalt kann man auch in anderen EU-Mitgliedsstaaten beobachten. Auch dort werden NROs staatlich finanziert, um die Aufnahme und die Versorgung von Schutzsuchenden in Bereichen wie medizinischer, juristischer und sozialer Hilfe gewährleiten zu können. Die Bedingungen der Aufnahme variieren zwischen den Einrichtungen, da die Aufnahme von Asylsuchenden keinem einheitlichen System folgt. Ein Vorteil davon, NROs in die Aufnahme und Versorgung von Asylsuchenden einzubeziehen, besteht darin, dass die NROs spezialisiert und ihre Mitarbeiter dementsprechend fachlich geschult sind, sodass die Verteilung der Asylsuchenden auf die Aufnahmeeinrichtungen unter Berücksichtigung kultureller, religiöser und sozialer Aspekte stattfindet und innerhalb der
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Einrichtung eine angemessene und fallbezogene Versorgung der Asylsuchenden stattfinden kann (ebd.: 39). Im Allgemeinen werden die Bedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen auf dem spanischen Festland als gut bewertet. Anders sieht es dagegen in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla aus. Die dortigen CETI sind massiv überfüllt und beherbergen statt 512 in Ceuta und 480 in Melilla 638 respektive 1.338 Schutzsuchende. Hinzu kommt der Mangel an dringend benötigten Übersetzern und Psychologen vor Ort (ebd.). Eine Inhaftierung von Asylsuchenden ist grundsätzlich nicht vorgesehen, jedoch gibt es nach EU-Recht Ausnahmen, die eine Inhaftierung begründen können. Die Richtlinie über die Aufnahmebedingungen enthält eine Reihe von Gründen, bei denen eine Inhaftierung von Schutzsuchenden zugelassen ist, jedoch nach Möglichkeit zeitlich eingeschränkt sein soll. Generell ist es nicht erlaubt, Personen, die einen Asylantrag eingereicht haben und sich demnach in einem laufenden Asylverfahren befinden, zu inhaftieren. Personen, die verhaftet wurden und anschließend Asyl beantragen, werden in Inhaftierungslagern für Ausländer, den Centros de Internamiento de Extranjeros (CIE), untergebracht. In den insgesamt sieben CIE waren 2014 8 % der Insassen Asylsuchende (ebd.: 44). Insgesamt wird deutlich, dass sich die Aufnahme von Schutzsuchenden auf dem spanischen Festland verbessert und an die Richtlinien über die Aufnahmebedingungen der EU angeglichen hat, jedoch wurde die Richtlinie noch nicht vollständig in nationales Recht überführt. Problematisch bleibt weiterhin die Lage in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Stimmung in der Bevölkerung Grundlegend gibt es in Spanien eine vergleichsweise positive Haltung gegenüber Schutzsuchenden. Fremdenfeindlichkeit ist schwächer ausgeprägt als in anderen EU-Mitgliedsländern (wie z.B. Griechenland oder auch Italien). Einwanderung wird nicht als eine Gefahr der nationalen Identität angesehen (Arango 2013: 12). Nach einer Studie des Pew Research Centers, in der unter anderem die Einstellung bezüglich Minderheiten in Deutschland, Italien, Polen, Frankreich, Großbritannien und Spanien erhoben werden, gibt es kein Anzeichen für eine Zunahme an negativen Einstellungen gegenüber Minderheiten. Besonders relevant im Fall Spanien ist, dass die Mehrheit der spanischen Befragten Muslimen gegenüber eher positiv eingestellt ist (Pew Research Center 2016: 21).
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Vielerorts in Spanien haben sich die Städte darauf vorbereitet, Asylsuchende aufzunehmen, die unter einem Verteilungsplan der EU nach Spanien einreisen sollen. Doch die Regierung in Madrid ist bei der Ausführung dieses Verteilungsplans sehr zögerlich vorgegangen, was in manchen spanischen Städten wie beispielsweise Barcelona zu Unverständnis führt. Die dortige Bürgermeisterin beklagte im Februar 2016 im Gespräch mit einer Zeitung: „This fills us with rage […] The city is ready at the technical level, all our services , are ready and residents are waiting with open arms. But they don t arrive“ (Ada Colau, zit. nach The Local 2016)
In Spanien scheint es, eine zivile Hilfsbereitschaft zu geben, die das Gegenteil zur staatlichen Position und Untätigkeit repräsentiert. Während die Regierung eine Strategie der Abschottung verfolgt, ist ein Großteil der Bevölkerung bereit, Schutzsuchende aufzunehmen und in ihrem Land zu integrieren. Dieser Sachverhalt lässt sich in abgeschwächter Form auch in den anderen untersuchten Mittelmeerländern feststellen. 2.3 Asylsuchende und Asylverfahren Nur wenige Schutzsuchende, die in Spanien ankommen, beantragen dort auch Asyl. Spanien ist für sie ein Transitland. Die meisten bleiben dort oft nicht länger als 15 Tage, bevor sie in das nächste Land weiterreisen. In 2014 haben in Spanien nur 24 von 1.000 ankommenden Schutzsuchenden Asyl beantragt (Interview S105). Sie kennen die wirtschaftliche Situation und die hohe Arbeitslosigkeit im Land. Deswegen reisen ca. 90 % der in Spanien angekommenen Personen weiter zu mittel- bzw. nordeuropäischen Ländern (z.B. Deutschland, Schweden, Niederlande), um dort Asyl zu beantragen (Interviews S104; Interview S105). Verfahrensdauer und Antragszahlen Die Dauer von Asylverfahren in Spanien soll laut Gesetz eine Frist von sechs Monaten nicht überschreiten. In der Praxis wird sie jedoch bei einem Großteil der Asylanträge nicht eingehalten. Stattdessen müssen Asylbewerber in einigen Fällen bis zu zwei oder drei Jahre warten, bis sie eine Entscheidung über ihren Antrag erhalten. Es wird zudem von Personen berich-
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tet, bei denen sich die Entscheidung über den Asylantrag bis zu acht Jahren hinzieht. In einigen Fällen beträgt die Wartezeit für das erste Interview der Asylsuchenden bis zu sechs Monaten (EASO 2016: 99). Laut einem Interviewpartner könnte der Grund für die lange Verfahrensdauer darin liegen, dass die zuständigen Personen der spanischen Regierung z.B. auf eine Beendigung des syrischen Bürgerkriegs hoffen, sodass das Land zu einem sicheren Staat erklärt werden kann, bevor der Asylantrag angenommen wurde. Der betroffene syrische Antragssteller kann so wieder zurück in sein Heimatland geschickt werden. Außerdem zielt die lange Verfahrensdauer laut zwei Interviewpartnern darauf ab, dass die Asylbewerber Spanien lediglich als Transitland nutzen und in ein anderes Land der Europäischen Union weiterreisen (Interview S101; Interview S110). Problematisch sei zudem auch die Tatsache, dass viele Asylbewerber keine hinreichenden Beweise vorlegen können, dass sie die Bedingungen für die Gewährung von Asyl erfüllen. Oft ist ihre Flucht mit dem Verlust der Dokumente, die ihre Identität erfassen, verbunden. Die Ausstellung neuer Dokumente ist im Fall von Verfolgung im Herkunftsland unwahrscheinlich bzw. nahezu unmöglich (Interview S101). Die restriktive Grenzpolitik, durch die der Zugang für Schutzsuchende über die Kanarischen Inseln und die Meerenge von Gibraltar stark eingeschränkt wurde, bewirkte nach 2001 eine Reduktion der gestellten Asylanträge. Waren es 2001 noch 9.490 eingegangene Asylanträge, sank diese Zahl 2002 um ein Drittel auf nur noch 6.310. Die geringste Anzahl von Anträgen in den letzten 15 Jahren gab es 2012, als nur 2.565 Personen Asyl beantragten. Danach stieg die Zahl wie in vielen anderen Ländern der EU rasch an. Hauptgrund dafür sind die bewaffneten Konflikte im Nahen Osten (ebd.), jedoch auch die Verlagerung der Einreiserouten von Schutzsuchenden von den Kanarischen Inseln und der Straße von Gibraltar in die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Dort ist trotz massiven Ausbaus der Grenzschutzanlagen die Zahl der Schutzsuchenden deutlich gestiegen (Zeit Online 2016). In Ceuta wurde im November 2014 am Grenzposten BeniEnzar ein neues Amt für Asyl eröffnet. Seitdem steigt die Zahl der Asylanträge dort enorm. Während 2013 lediglich 381 Asylanträge in Ceuta eingereicht wurden, lag die Zahl ein Jahr später bei 1.033 (CEAR 2015: 10). Die langen Wartezeiten im Asylverfahren werden 2015 durch die steigende Zahl an Asylbewerbern zusätzlich verstärkt. 2015 waren in Spanien 14.780 Personen als Asylbewerber registriert. Im Vorjahr betrug die Zahl
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der Asylbewerber lediglich ein Drittel dieses Wertes (Eurostat 2016d). Obwohl 2015 ein so starker Anstieg der Antragszahlen in Spanien verzeichnet wurde, lag die Zahl der getroffenen Entscheidungen über Asylgesuche noch niedriger als 2014. Im Jahr 2014 wurden 3.620 Entscheidungen über Asylanträge getroffen, davon 1.585 für die Antragstellenden positiv. Das ist das Dreifache an positiven Entscheidungen verglichen mit 2013 (535 positive Entscheidungen). Damit sind im Jahr 2014 seit Beginn des Jahrtausends im Vergleich zu den Vorjahren die meisten Anträge positiv entschieden worden. In 2001 wurden nur 430 Anträge positiv entschieden, obwohl es dort die meisten erstmaligen Asylanträge und die meisten Entscheidungen (8.955) gab. 2006 gab es die wenigsten positiven Beschlüsse (205 von insgesamt 4.065 Entscheidungen) (Eurostat 2015). Bis auf das Jahr 2011 liegen die spanischen erstinstanzlichen positiven Entscheidungen leicht unter dem europäischen Durchschnitt. Ab 2013 ließ sich ein deutlich erkennbarer Anstieg der positiv beschiedenen Anträge beobachten. Im Jahr 2014 wurde über 44 % der Asylanträge erstinstanzlich positiv entschieden. Der starke Anstieg der Rate an positiven Entscheidungen lässt sich vor allem auf die hohe Anerkennungsrate von asylsuchenden Syrern zurückführen (Interview S104). Diese ist nicht nur in Spanien, sondern in Gesamteuropa am höchsten. Im Jahr 2014 wurden rund 95 % der Asylanträge von Menschen aus Syrien positiv entschieden. Syrier erhielten in Spanien zum größten Teil den Status des subsidiären Schutzes (EASO 2015: 26, 44). Obwohl Spanien in Bezug auf seine Gesamtbevölkerung das fünftgrößte Land der EU ist, gehört es hinsichtlich der Gesamtzahl von Asylanträgen nicht zu den Top-10-Ländern Europas. Nicht nur in absoluten Zahlen liegt Spanien sehr weit hinter anderen EU-Ländern wie z.B. Deutschland oder Italien, sondern auch gemessen an der spanischen Bevölkerung und seiner wirtschaftlichen Stärke. 2015 kommen in Spanien auf 1000 Einwohner lediglich 0,3 Asylbewerber (Eurostat 2016d). Im Vergleich zu den hier betrachteten Ländern liegt Spanien damit hinsichtlich der relativen Zahl an Asylbewerber mit Abstand an letzter Stelle. In 2015 kamen die meisten Asylanträge von Schutzsuchenden aus Syrien (5.720). Das macht rund 39 % aller Anträge in Spanien aus. Danach kommen die Anträge der Personen aus der Ukraine (3340 Anträge) und den Palästinensischen Autonomiegebieten (795 Anträge) (Eurostat 2016e). Die Zuspitzung des Bürgerkrieges in Syrien und der russisch-ukrainische Kon-
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flikt sind Gründe für die hohen Antragszahlen von Syrern und Ukrainern im Vergleich zu anderen Ländern. In 2013 hingegen sah das noch ganz anders aus. Damals kamen die meisten Anträge von Asylsuchenden aus Mali mit 1.482, danach Syrien mit 725 Anträgen und Algerien mit 351 Anträgen. Im Jahr 2001, als es wesentlich mehr Asylanträge gab, wurde die Mehrzahl der Anträge von Personen aus Kolumbien (2.532), Kuba (2.371) und Nigeria (1.350) gestellt. In 2006 kamen die meisten Asylanträge von Schutzsuchenden aus Kolumbien (2.239), aus Nigeria (632) und Marokko (281) (UNHCR 2015). Wandlungstendenzen Seit etwa 2010 zeigen sich nicht nur auf der Ebene der EU, sondern auch im spanischen Asylgesetz und in dessen Umsetzung einige Entwicklungen. Da auf dem spanischen Festland die Zahl der Schutzsuchenden aufgrund einer rigorosen Grenzpolitik, einer modernen Überwachungstechnologie sowie einer Reihe von Abkommen mit wichtigen Herkunftsländern nicht derart drastisch ansteigt, wie in anderen EU-Ländern, hat Spanien auch keine großen Probleme mit der Unterbringung der Asylbewerber, da die Kapazitäten der Aufnahmelager durch die geringe Anzahl der Asylbewerber nicht überschritten werden. Eine Ausnahme bleibt die Situation in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, in denen die dortigen CETI massiv überfüllt sind (SVR 2015: 72). Bezüglich der Übernahme europäischer Standards sind keine gravierenden Mängel in Spanien zu beobachten. Die Übernahme und Umsetzung der drei Richtlinien des GEAS wurden Schritt für Schritt durchgeführt, wenngleich noch nicht völlig abgeschlossen. Während sich die Lage auf dem spanischen Festland zu normalisieren scheint, bleibt die Situation in Ceuta und Melilla angespannt. Die Legalisierung der Zurückdrängung von Schutzsuchenden in Ceuta und Melilla in 2014 ist der größte Einschnitt in die Asylpolitik Spaniens. Durch diese Entscheidung rückt Spanien langsam mehr in die Öffentlichkeit Europas. Laut dem seit April 2015 rechtskräftigen Gesetz über die öffentliche Sicherheit werden Personen, die versuchen, die Grenze von Ceuta und Melilla ohne Genehmigung zu überqueren, zurückgedrängt, um damit die illegale Einwanderung nach Spanien zu verhindern (AIDA 2016: 16). Dieses Verfahren stellt eine ernsthafte Bedrohung für das Asylrecht dar, weil es die sofortige Zurückdrängung aller rechtfertigt. Es findet keinerlei Überprüfung statt, ob es sich dabei um besonders
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schutzbedürftige Personen handelt. Darüber hinaus werden die Abgewiesenen nach Marokko zurückgedrängt, ein Land, das weder Menschenrechte noch den Zugang zu internationalem Schutz garantieren kann. Diese spanische Grenzpolitik lässt Ceuta und Melilla – die als einzige Landesgrenzen der EU zum afrikanischen Kontinent zur Sicherung der europäischen Außengrenze einen Sonderstatus im Rahmen des Schengen-Abkommens einnehmen – zu einer „Festung Europas“ werden, die als sogenannte Transitzone einen unklaren Rechtsstatus aufweist. Das faktische Betreten des spanischen Territoriums führt hier nicht zur Einreise nach Spanien und somit auch nicht zum Eingang in die nationale Rechtsordnung. Es handelt sich dabei um die Abtrennung eines geografischen Gebietes aus dem Hoheitsgebiet eines Staates (Koos/Thiel 2015: 380). Diese Grenzpolitik führt zu einem schwerwiegenden Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung, der besagt, dass kein Staat eine schutzsuchende Person in ein Land abschieben darf, in dem ihr Leben und die körperliche Unversehrtheit gefährdet werden könnten. Deshalb wird die Entscheidung der spanischen Regierung und vor allem der Erlass dieses Gesetztes international sehr stark kritisiert (Council of Europe 2015). Insgesamt entsteht der Eindruck, dass sich die spanische Regierung beim Thema Flucht und Asyl international sehr zurückhält und ihre Verantwortung der Flüchtlingsbegrenzung auf die nordafrikanischen Länder Senegal, Marokko und Mauretanien überträgt. Die Situation für Schutzsuchende, die den Weg bis nach Spanien schaffen, hat sich trotz der anhaltenden wirtschaftlichen Krise und der hohen Arbeitslosenzahlen im Allgemeinen verbessert. Die Aufnahme und Unterbringung ist gut geregelt und es gibt keine logistischen Probleme, was vor allem an der geringen Anzahl von Asylbewerbern liegt. Jedoch hat sich die Situation außerhalb der europäischen Grenze von Spanien, in den beiden Enklaven Ceuta und Melilla, kaum gebessert, sondern durch die Legalisierung der Zurückdrängung von Schutzsuchenden eher verschlechtert. Dort werden Menschen immer noch davon abgehalten, nach Spanien zu reisen. In diesem Abschnitt wurde das Thema Flucht und Asyl in Spanien behandelt. Als nächstes wird auf asylbezogene organisationale Netzwerke in Spanien eingegangen. Zunächst werden zwei Organisationen vorgestellt, mit denen im März 2015 ein Interview geführt wurde. Danach wird auf eine Netzwerkvisualisierung eingegangen, die auf Basis der erhobenen Daten aus den Interviews erstellt wurde.
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3. K OOPERATIONEN UND N ETZWERKE ASYL - UND FLÜCHTLINGSBEZOGENER O RGANISATIONEN Im März 2014 und im März 2015 wurden in Sevilla und Umgebung insgesamt 14 Interviews mit neun asyl- und flüchtlingsbezogenen Organisationen geführt (s. Tabelle 1). Darunter waren sechs Nichtregierungsorganisationen (Asociacíon Comisiós Católica Española de Migración (ACCEM), Acoge Algeciras, Asociacíon Pro Derechos Humanos de Andalucúa (APHDA), Andalucía Acoge, Comisión Española de Ayuda al Refugiado (CEAR) Sevilla, Acción Integral con Migrantes (CEPAIM) Sevilla), deren Verantwortungsbereiche im Wesentlichen im Bereich der Hilfestellungen in Bezug auf gesetzliche, finanzielle sowie soziale Nöte von Schutzsuchenden liegen. ACCEM ist eine national arbeitende Organisation, Acoge Algeciras, APHDA, Andalucía Acoge, CEAR Sevilla und CEPAIM Sevilla sind lokale Organisationen. Weitere Interviews fanden mit Regierungsorganisationen und einer intergouvernementalen Organisation statt (ACNUR - UNHCR, Cruz Roja, CAR Sevilla und der Policía Nacional) statt, deren Aufgabenbereiche sich im Allgemeinen auf die Unterstützung von Schutzsuchenden sowie im Falle von Cruz Roja (Rotes Kreuz) auf allgemeine Gesundheits- und Sozialhilfe beziehen. Hierbei sind ACNUR und Cruz Roja international arbeitende Organisationen, CAR Sevilla ist hingegen eine nationale Organisation. Tabelle 1: Asyl-und flüchtlingsbezogene Organisationen und ihre Charakteristika
2014
2015
Organisationsform
CEAR Sevilla
NRO
ACCEM
NRO
APDHA
NRO
Acoge Algeciras
NRO
Werte und Normen Menschenrechte/ Humanitäre Werte Menschenrechte/ Humanitäre Werte; religiös
Menschenechte/ Humanitäre Werte Menschenrechte / Humanitäre Werte
Legitimationsfeld
Hauptanliegen
lokal
Asylbewerber und Flüchtlinge: Aufnahme, Rechtsbeistand, Soziales
national
lokal
lokal
Asylbewerber und Flüchtlinge: Integration, Soziale Teilhabe Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Publikationen zu Menschenrechtsverletzungen, Bildung Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Humanitäre Hilfe
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Cruz Roja
sowohl NRO als auch regierungsnah
Entlastung/ Schutz/ Humanitäre Werte international
Policia Nacional RO
Sicherheit/ Schutz
CAR
Schutz/Humanitäre Werte national
RO
CEPAIM
NRO
ACNUR
IRO
Humanitäre Werte/ Solidarität Menschenrechte/ Humanitäre Werte
national
lokal
international
Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Humanitäre Hilfe Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: (Grenz-) Schutz, Sicherheit Asylbewerber und Flüchtlinge: Unterbringung, Integration Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Entwicklungshilfe Asylbewerber und Flüchtlinge: Schutz, Asylprozess, Monitoring, Koordination, Aufnahme
Quelle: Interviews und Homepage-Analyse im Rahmen des MAREM-Projekts 2014-2015.
Im Folgenden werden zwei Organisationen vorgestellt: CEAR Sevilla und CAR Sevilla. CEAR ist eine Nichtregierungsorganisation und unterstützt Schutzsuchende vor allem in Bezug auf juristische Fragen. CAR ist eine Regierungsorganisation und gibt den Menschen in erster Linie Schutz und einen Aufenthaltsort für die Dauer der Bearbeitung des Asylantrages. Somit werden im Folgenden zwei verschiedene Typen von Organisationen vorgestellt. Zum einen eine staatliche Organisation, die als erste Anlaufstelle für Schutzsuchende dient und vor allem auf die Grundbedürfnisse der Menschen eingeht, sowie eine NRO, an die sich Schutzsuchende mit speziellen Fragen wenden können. 3.1 Beispiel 1: CEAR in Sevilla CEAR ist eine asyl- und flüchtlingsbezogene NRO mit Hauptsitz in Sevilla. Sie wurde 1992 gegründet und hat zudem drei weitere Anlaufstellen in Ceuta, Melilla und auf den Kanarischen Inseln. Ihre Arbeit fokussiert sich insbesondere auf rechtliche Fragen. Insgesamt besteht diese NRO aus einem „Job-Team“, dem „Social-Team“ und dem „Lawyer-Team“ (Interview S101). Die Organisation versucht, in Bezug auf diese drei Arbeitsbereiche durch interdisziplinäre Arbeit die Situation für Betroffene zu verbessern. Während die Menschen auf der Suche nach internationalem Schutz sind, sorgt CEAR während dieses Prozesses für rechtliche Beratung und Unterstützung. Außerdem kümmert sie sich um die soziale Situation der Men-
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schen wie beispielsweise die Unterstützung bei der Suche nach einer Unterkunft, dem Transport etc. sowie Hilfe bei der Arbeitssuche (das Sammeln von Stellenangeboten oder die Hilfe beim Schreiben der Bewerbung wie z.B. bei der Erstellung des Lebenslaufs). Darüber hinaus hat die Organisation einen psychologischen Service für besonders gefährdete Frauen. CEAR kooperiert mit vielen anderen Organisationen in Spanien. Als Partner wurden genannt: Caminando Fronteras, CEAPAIM, Movimiento contra la intolerancia, APHDA, Red Acoge, ACNUR, Cruz Roja und ACCEM. Zu der Frage, wie das Asylsystem in Spanien wahrgenommen wird, wurde vor allem betont, dass die Situation vor Ort nicht gut sei. Zum einen ginge es hierbei um das Problem, dass die Behörden zu viel Zeit benötigen, um festzustellen, welchen Status eine geflüchtete Person erhalten soll. Oft müssten die Menschen vier bis fünf Jahre warten, bis sie eine Antwort erhalten. Wenn Menschen aus einer Region kämen, in der zurzeit Krieg sei, wird oft die Regel angewandt: „Warten, bis der Krieg zu Ende ist, und dann schicken wir sie zurück“ (Interview S101). Zum anderen wurde das Problem genannt, dass die Menschen in den ersten sechs Monaten, in denen sie sich in Spanien aufhalten, nicht arbeiten dürften. Am Ende des Interviews wurde der Vorschlag von CEAR genannt, dass es eine Regelung geben solle, bei welcher die Menschen direkt als Flüchtlinge anerkannt werden und sie solange diesen Status haben, bis das Gegenteil bewiesen werde (Beweisumkehr). Außerdem wurde über das Asylsystem auf europäischer Ebene gesprochen. CEAR äußerte dazu, dass das System in Ordnung sei, jedoch die Interpretation und Umsetzung fraglich wären. Asylsuchende müssten Dokumente vorlegen, welche beweisen, dass die entsprechende Person schutzbedürftig sei. Häufig kämen die Menschen jedoch aus Ländern, in denen Krieg herrscht, weswegen diese aufgrund von oft direkter spontaner Flucht nicht alle erforderlichen Dokumente hätten (Interview S101). 3.2 Beispiel 2: CAR in Sevilla CAR ist eine öffentliche Organisation, in der Schutzsuchende leben, die bereits einen Asylantrag gestellt haben bzw. noch einen stellen werden. In erster Linie sorgt die Organisation für den Schutz, die Integration und die Bildung der dort lebenden Menschen. Im Jahr 2014 lebten dort 331 Perso-
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nen. CAR hat vier Zentren in ganz Spanien, die insgesamt Platz für 500 Menschen zur gleichen Zeit zur Verfügung stellen, welche dort maximal sechs Monate untergebracht werden können. Insgesamt ist die Organisation in Sevilla in drei große Bereiche gegliedert: Erstens der Servicebereich, zuständig für das Essen und Reinigungsarbeiten. Zweitens die Verwaltung, zuständig für die finanzielle Unterstützung wie das „Taschengeld“, das pro Person gezahlt wird, Kosten, die für den Transport anfallen, sowie Kosten, die für die Bildung aufkommen. Und drittens der Sozialbereich, welcher aus Sozialarbeiter, einem Psychologen, einem Arzt, dem Bildungsmanager sowie dem Arbeitsmanager und dem Teamkoordinator besteht. Im Interview mit CAR ging es auch darum, inwieweit es Kooperationen mit anderen Organisationen gibt. Die Antwort lautete, dass es eine sehr gute Kooperation zwischen den staatlichen Organisationen und den NROs gibt. CAR ist in diesem Netzwerk die erste Instanz, um den Menschen Schutz zu bieten. Wenn es allerdings um eine besonders gefährdete Person geht (wie z.B. Schwangere oder Kinder), werden NROs hinzugezogen (zweite Instanz). Als wichtigste Kooperationspartner wurden ACCEM, CEAR, ACNUR, CARITAS, ACOGE, Cruz Roja und die Stadtverwaltung genannt. Häufig wurde in den Organisationen, mit denen gesprochen wurde, berichtet, dass die Zeit, in der die Entscheidung über einen Asylantrag getroffen wird, länger als sechs Monate dauert. CAR erklärte dazu, dass das vor einer gewissen Zeit noch so gewesen sei, mittlerweile diese Frist aber eingehalten oder die Entscheidung sogar noch schneller getroffen werde. Dies liege daran, dass die Situation einfacher als vorher sei, da sehr viele Menschen aus Syrien kommen und die Asylanträge für diese meistens positiv ausfallen. Außerdem interessierte uns, wie das spanische Asylsystem wahrgenommen wird. Es sei an sich gut, jedoch nur auf dem Papier. Man bräuchte für die Menschen ein Recht zu bleiben und zu arbeiten, nicht vorrangig sei dafür der „Flüchtlingsstatus“ oder der Status des „subsidiären Schutzes“. Mehr Verbesserungen, schnellere und ökonomische Entscheidungen sowie schnellere Lösungen wurden als Veränderungsvorschläge genannt. Zu der Frage, warum in Spanien vergleichsweise wenige Asylanträge gestellt werden, wurde im Interview als Erklärung angeboten, dass es zum einen sehr schwierig sei, per Boot nach Spanien zu kommen. Es gäbe ein
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Radar-System, welches die Straße von Gibraltar kontrolliere sowie Vereinbarungen zwischen der EU, Marokko und anderen nordafrikanischen Ländern, um die Küste des Mittelmeers abzusuchen. Zum anderen spiele die prekäre ökonomische Situation in Spanien eine wichtige Rolle. Viele Antragsteller versuchen direkt, in andere europäische Ländern wie Deutschland, Dänemark, Niederlande und Schweden zu reisen und nicht in Spanien zu bleiben. 3.3 Asyl- und flüchtlingsbezogene organisationale Netzwerke in Spanien In den Interviews, die im März 2014 und 2015 durchgeführt wurden, wurde nach den Kooperationspartnern der Organisationen gefragt. Diese Daten wurden 2014 ausgewertet und in einer Netzwerkvisualisierung dargestellt, die 2015 ergänzt wurde. In der Abbildung 1 sind die egozentrierten Netzwerke der interviewten NROs und staatlichen Organisationen dargestellt. Dort sind auch die nichtstaatliche Organisation CEAR und die staatliche Organisation CAR zu finden, die im vorherigen Abschnitt näher beleuchtet wurden. Es wurden mit denjenigen Organisationen, von denen Pfeile auf andere Organisationen gerichtet sind, Interviews geführt, und jene haben die Organisationen, auf die diese Pfeile hinführen, als Kooperationspartner genannt. Die am stärksten vernetzten Organisationen in dieser Darstellung sind Cruz Roja, ACNUR und Acoge. Diese drei Organisationen wurden von den interviewten Organisationen am häufigsten als Kooperationspartner erwähnt und sind ihrerseits die Organisationen, die die meisten Kooperationspartner nennen und damit das größte egozentrierte partielle Netzwerk aufweisen.
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Abbildung 1: Visualisierung der Kooperationen und Netzwerke asyl- und flüchtlingsbezogener Organisationen in Spanien
Quelle: Interviews im Rahmen des MAREM-Projekts 2014-2015, eigene Darstellung mit der Software Visone.
Die spanischen asyl- und flüchtlingsbezogenen Organisationen und deren Netzwerke fördern Schutzsuchende auf mehreren Ebenen; diese Organisationen bieten vielfältige Hilfeleistungen, sowohl in rechtlichen als auch in sozialen Bereichen. Dies trifft insbesondere auch auf zivilgesellschaftliche kollektive Akteure zu. NROs sind beispielsweise wichtige Akteure im spanischen Aufnahmesystem und in der Integration von Flüchtlingen. Zwischen den Organisationen bestehen teilweise enge Verbindungen, die einen stetigen Informationsfluss fördern und die Debatte über gemeinsame Probleme und Fragen in Bezug auf die Flüchtlingsthematik anregen. Die verschiedenen Typen von asyl- und flüchtlingsbezogenen Organisationen haben jedoch unterschiedliche Herangehensweisen und Einstellungen bezüglich des Umgangs mit Asyl und Flucht. Offizielle Exekutivorgane
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wie die Policìa Nacional oder Guardia Civil stehen in einer zweispaltigen Beziehung zu diesem Thema. Sie müssen einerseits die Sicherheit und das Recht der Schutzsuchenden, Asyl zu beantragen, garantieren. Andererseits sind sie als offizielles Exekutivorgan für die Wahrung nationaler Grenzen zuständig, woraus zum Teil ein praktischer Konflikt erwächst. Insbesondere in Ceuta und Melilla sehen sich diese Akteure als überfordert, um mit der steigenden Anzahl an Schutzsuchenden umgehen zu können und sehen eine stärkere europaweite Kooperation als notwendig an, da sie neben spanischen nationalen Grenzen auch die der Europäischen Union sichern (Interview S010). Bei anderen regierungsnahen Organisationen wie beispielsweise CAR und ACNUR ergibt sich kein Konflikt zwischen nationalen Grenzen und internationalen Verpflichtungen. Regierungsorganisationen sind wichtige Akteure im spanischen Asylsystem. Sie bieten Schutzsuchenden Hilfestellungen, sodass diesen ein Zugang zu Asylverfahren geboten wird. Zudem unterstützen und beraten sie die Regierung bei den Entscheidungen über die Asylanträge. Sie arbeiten zudem eng mit allen im Asylsystem relevanten Akteuren zusammen. Sie zeigen sich jedoch kritisch gegenüber der Effektivität der Arbeit von NROs (Interview S007; Interview S008). ACNUR betont beispielsweise die starke Abhängigkeit der NROs von staatlichen finanziellen Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Arbeit, zudem sei laut ACNUR die Präsenz von NROs im Bereich Asyl und Flüchtlingen mit einigen Ausnahmen wie beispielsweise den NROs, die Aufnahmezentren leiten, nicht sehr hoch. ACNUR macht jedoch gleichzeitig deutlich, dass NROs oftmals kleiner und spezialisierter sind, was sie flexibler macht und eine persönlichere sowie zielgerichtete Betreuung von Asylsuchenden und Flüchtlingen erlaubt (Interview S008). NROs wie CEAR und ACCEM beziehen eine sehr kritische Position gegenüber dem Status quo in Sachen Asyl und Flüchtlinge in Spanien. Diese Kritik richtet sich vornehmlich auf das zentralisierte und aufgrund dessen sehr langsame spanische Asylsystem und den Umgang mit Schutzsuchenden in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla (Interview S001; Interview S002; Interview S003; Interview S004, Interview S011). Während regierungsnahe Organisationen die Regierung wo nötig diskret kritisieren, ohne sie öffentlich an den Pranger zu stellen, wie Cruz Roja betont (Interview S007), tun NROs, auch wenn sie zum Teil finanziell von der Regierung unterstützt werden, auf eine offensive Weise Sie fordern ein flexibles
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Asylsystem sowie mehr Möglichkeiten der legalen Einreise nach Spanien und Aufenthaltstitel für Migranten. Zusätzlich sind die Asylverfahren zu verkürzen und einfacher zu gestalten, sodass der Zugang zu diesen erleichtert wird (Interview S002; Interview S104). Ähnlich wie Policía Nacional und Guardia Civil befürworten sie eine effiziente Kooperation zwischen den EU-Mitgliedsstaaten. In diesem Zusammenhang werden einheitliche und für alle EU-Mitgliedsstaaten verbindliche Normen im Bereich Asyl und Flüchtlinge befürwortet, GEAS wird jedoch mit ein paar Ausnahmen nicht explizit erwähnt. Einige Organisationen geben sogar an, kaum bis gar nicht mit GEAS vertraut zu sein (Interview S110; Interview S107).
4. S CHLUSSFOLGERUNGEN : E NTSTEHUNG ORGANISATIONALER N ETZWERKE UND GEAS Nach Versuchen, auf die gegenwärtige Flüchtlingsbewegung in einer angemessenen Weise zu reagieren, bedarf es ohne Frage eines funktionierenden Asylregimes. In einer politischen Gemeinschaft wie der EU sind zudem eine enge Kooperation und die Umsetzung verbindlicher Regulierung unabdingbar. Im Fall von Spanien lässt sich erkennen, dass die Umsetzung und Einhaltung mit Ausnahme der Asylverfahrensdauer und der Situation in Ceuta und Melilla keine gravierenden Mängel aufweisen. Spanien hat zudem die Rolle als wichtiges Eingangstor in die EU über die Jahre verloren. Nur noch wenige Schutzsuchende erreichen das spanische Festland, um Asyl zu suchen. Dies ist das Resultat einer restriktiven Grenzschutzpolitik, durch die nach und nach versucht wurde, wichtige Einreisepunkte nach Spanien für Schutzsuchende undurchlässig zu machen. Durch diese Kontroll- und Schutzmechanismen kann jedoch das Problem einer steigenden Zahl von Schutzsuchenden, die nach Europa strömen, nicht gelöst werden. Die Routen der Schutzsuchenden verschoben sich, wie im Fall der Kanaren und der Straße von Gibraltar, lediglich entweder in andere Staaten der EU oder in Nordafrikanische Staaten. In Sachen Asyl scheint bei den Mitgliedsstaaten der EU und auch Spanien die Sicht vorzuherrschen, dass es sich hierbei um eine nationale Angelegenheit handele. Verpflichtungen gegenüber anderen Mitgliedsländern wie etwa Italien und Griechenland, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen, werden nur zögerlich eingehalten und umgesetzt. Es findet in diesem Zusammenhang eine Exter-
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nalisierung der Verantwortung gegenüber Schutzsuchenden auf zwei Ebenen statt: Zum einen wird die Verantwortung als Teil der EU an andere Mitgliedsstaaten und aus dem eigenen nationalen Bereich geschoben. So wird häufig darauf verwiesen, dass unter dem Dublin-Verfahren das Land der ersten Einreise für die Aufnahme zuständig ist. Zum anderen findet auf einer zweiten Ebene die Externalisierung europäischer Grenzen statt. Ausdruck dafür sind die von Spanien getroffenen Abkommen mit wichtigen Herkunfts- und Transitländern von Schutzsuchenden. Die zivilgesellschaftliche Sicht unterscheidet sich jedoch deutlich von dieser Strategie der Abschottung und organisierten Nicht-Verantwortung der spanischen Regierung. Die Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung ist groß. Die asyl- und flüchtlingsbezogenen Organisationen übernehmen dabei eine herausragende Rolle, indem sie das nationale Asylsystem durch Aufnahmezentren sowie Angebote sozialer, juristischer und medizinischer Beratung ergänzen. Die zivilgesellschaftliche Organisation von Flüchtlingshilfe ist also ein wichtiges Korrektiv zum staatlichen Handeln im Bereich der Asylpolitik. Wie bereits erwähnt, lassen sich im spanischen Asylverfahren und in der Umsetzung von GEAS keine gravierenden Mängel feststellen. Für die Arbeit der befragten Organisationen ist die einheitliche Regulierung der EU nicht in jedem Fall richtungsweisend wie es beispielsweise für Organisationen wie ACNUR der Fall ist. Einige befragte asyl- und flüchtlingsbezogene Organisationen schienen nur wenig mit GEAS vertraut zu sein. Vielmehr spielen Menschenrechte die Hauptrolle in der Motivation relevanter Organisationen. Nichtdestotrotz werden einheitliche und für alle Mitgliedsstaaten verbindliche Regulierung begrüßt. Für andere Organisationen wie beispielsweise die NROs, die im spanischen Aufnahmesystem aktiv sind, sind die EU-Standards indirekt handlungsrelevant, da sie durch die Aufnahmerichtlinie von ihnen betroffen sind. Dennoch sind alle NROs und ihre Kooperationsnetzwerke in das spanische Asylsystem eingebunden und tragen maßgeblich dazu bei, dass das Asylsystem und alle damit verbunden Bereiche funktionieren können. Das Problem der derzeitigen Flüchtlingsbewegung und der Reaktion darauf liegen jedoch nicht nur an den nationalen Asylsystemen oder der Umsetzung verbindlicher und einheitlicher Standards der EU. Diese können ein Asylsystem zwar verbessern, bewirken jedoch nicht, dass die Mitgliedsstaaten ihrer Verantwortung gegenüber Schutzsuchenden, aber auch anderen
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Mitgliedsstaaten auf politischer Ebene, gerecht werden. Die Strategie der Abschottung, die in der Vergangenheit an den Kanarischen Inseln und der Straße von Gibraltar deutlich wurde und später auch im Fall von Ceuta und Melilla sichtbar wird, ist bezeichnend für die spanische und europäische Asylpolitik und ist auch neben mangelnder Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der Kern des Problems. Während sich für das spanische Festland vergleichsweise gute Bedingungen für Schutzsuchende beobachten lassen, herrscht in Ceuta und Melilla eine Notsituation. Hohe Zäune und Abkommen mit umliegenden Staaten der Europäischen Unionen sollen Schutzsuchende an der Einreise nach Spanien und in die EU hindern. Ein einheitliches europäisches Asylsystem kann auch das Problem eines nichtvorhandenen politischen Willens nicht beheben.
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Länderbericht Malta R AFAEL B OHLEN , S TEFANIE S CHULTE , B AHAR Y ETER
1. E INLEITUNG Die Republik Malta ist ein Inselstaat, der etwa 90 km südlich von Sizilien und 300 km nördlich der Libyschen Küste liegt. Mit einer im europäischen Vergleich sehr kleinen Fläche von ca. 316 km2 und einer Bevölkerungszahl von rund 430.000 Einwohnern verfügt die Republik über eine der höchsten Bevölkerungsdichten unter den EU-Mitgliedsstaaten (1361 Einwohner pro km2) (Auswärtiges Amt 2015). Aufgrund der geografischen Lage und vor allem der Landfläche der Republik ist der nationale Arbeitsmarkt eingeschränkt. Beschäftigungsmöglichkeiten finden sich u.a. in der Tourismusbranche sowie im öffentlichen Dienst, welche mit ihrem Beschäftigungsstand gemeinsam mehr als 40% der Arbeitsplätze decken (ebd.). Im Jahre 2014 betrug die Arbeitslosenquote 5,7 % und lag somit weit unter der EU-Durchschnitt (EU-28) von 9,7% (Eurostat 2015b). Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrug für das gleiche Jahr 7,89 Milliarden Euro. Bezüglich der Arbeitsmarktsituation betonte einer unserer Interviewpartner, Alexander Tortell, Leiter der Agency for the Welfare of Asylum Seekers (AWAS), dass es keine großen Probleme mit der Arbeitslosigkeit gebe, jedoch biete der Arbeitsmarkt nur eine begrenzte Anzahl an Arbeitsplätzen (Interview M106). Die Republik war bis zu ihrer Unabhängigkeit 1964 eine britische Kolonie und galt ab dem 20. Jahrhundert aufgrund steigender Arbeitslosigkeit als ein Auswanderungsland (PFC Malta 2013: 11). Ziele der Auswanderer waren im frühen 20. Jahrhundert aufgrund sprachlicher und traditioneller
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Beziehungen Länder an der Küste Nordafrikas wie Ägypten, Algerien oder Tunesien (ebd.). Im Laufe des 20. Jahrhunderts wanderten Malteser vermehrt in Staaten wie Kanada oder auch Australien aus, da zu diesen aufgrund der Kolonialgeschichte Maltas ebenfalls (sprachliche) Verbindungen bestehen. Unter anderem ist diese vermehrte Emigration einer der Gründe, weshalb in der Vergangenheit kein Gesetz die Immigration nach Malta regelte; es gab keine offiziellen Einrichtungen in Malta, die sich mit dem Fall von Flucht und Asyl beschäftigten (Interview M103). Dies änderte sich mit der Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 im Jahre 1971, in der erstmalig Rechte und Pflichten in Bezug auf Schutzsuchende und der involvierten Staaten festgelegt wurden. Mit dem Beitritt Maltas in die Europäische Union (EU) 2004 war eine signifikante Zunahme der Zahl der Asylsuchenden zu verzeichnen. Vor allem ist die irreguläre Migration angestiegen, was vor allem an der Zahl der sogenannten „boat arrivals“ abzulesen ist (UNHCR 2014). Insbesondere der EU-Beitritt führte zu einer Erweiterung und Ergänzung der maltesischen Gesetze, um den Anforderungen und Standards der EU gerecht zu werden. Eine wichtige Rolle im Migrationsregime spielen das 2001 verabschiedete Chapter 420, Refugees Act sowie das 1970 verabschiedete Chapter 217, Immigration Act der Laws of Malta. Der Refugees Act regelt im Hinblick auf das Asylverfahren nahezu alle Bereiche: Es beinhaltet hinsichtlich der Genfer Flüchtlingskonvention wesentliche Punkte zur Bestimmung des Flüchtlingsstatus, sämtliche Einrichtungen sowie deren Vorgehensweisen im Asylprozess werden in diesem Teil des Gesetzes festgelegt. Hierzu gehören u.a. das Amt des Flüchtlingsbeauftragten und seine Befugnisse (Chapter 420, Part II) und die Einrichtung der Beschwerdekammer für Flüchtlinge, welche im weiteren Verlauf näher beschrieben wird. Chapter 217, Immigrations Act spielt eine wichtige Rolle hinsichtlich der Entstehung sogenannte Internierungslager (Detention Centres), in denen Personen ohne eine gültige Befugnis zur Einreise inhaftiert werden, da sie als „prohibited immigrants“ (Chapter 217, Part IV), d.h. als unzulässige Immigranten gelten. Dieser Aspekt wird im Zusammenhang mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) im weiteren Verlauf des Kapitels erläutert. Die Zuständigkeit für die Steuerung des Asylprozesses – von der Ausführung der Dublin-Verordnung bis hin zur Entscheidung über einen Asyl-
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antrag – obliegt dem Ministry for Home Affairs and National Security. Dieses deckt mit seinen einzelnen Abteilungen sämtliche Bereiche im Asylsystem ab, damit werden die entsprechenden Gesetze implementiert. Hinsichtlich der Zusammensetzung der maltesischen Bevölkerung lassen sich die folgenden Aussagen treffen: Der Anteil der ausländischen Bevölkerung, d.h. Personen ohne maltesische Staatsbürgerschaft, betrug im Durchschnitt des Jahres 2015 mit 27.500 Personen ca. 6,4 % der Gesamtbevölkerung Maltas. Es werden diejenigen Personen miteinbezogen, die eine Aufenthaltsdauer von mindestens zwölf Monaten oder länger aufweisen können (Eurostat 2015c). 14.900 Personen sind Staatsangehörige eines EU-Mitgliedsstaats (EU-28) und stellen somit ca. 3,5 % der Gesamtbevölkerung dar, 2,9 % der Gesamtbevölkerung stammen aus Staaten außerhalb der EU (ebd.). Für das Jahr 2014 ist eine Einwanderung von 8.900 Personen verzeichnet worden, von denen 1.800 die maltesische Staatsbürgerschaft, 2.700 eine Staatsbürgerschaft eines Staates außerhalb der EU besitzen, 4.400 Personen sind Bürger aus anderen Mitgliedsstaaten der EU. Der prozentuale Anteil immigrierter Personen mit einer anderen Staatsbürgerschaft beträgt somit 78,4 % der Einwanderer, von denen ca. 41 % keine Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedsstaates besaßen (ebd.).
2. F LUCHT
UND
ASYL
IN
G RIECHENLAND
2.1 Geschichte und gegenwärtige Lage Die Migrationssituation im Land unterlag in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder Veränderungen und Wandlungsprozessen, welche in der Summe Malta von einem Emigrations- zu einem Immigrationsland werden ließen. Insbesondere mit Beginn des 20. Jahrhunderts waren Emigrationsbewegungen in den nordafrikanischen Raum und in Teile des damaligen britischen Empires zu beobachten (PFC Malta 2013: 11), die Emigration setzte sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts weiter fort und gewann insbesondere in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch Spannungen zwischen maltesischen Nationalisten und Großbritannien politische Schärfe (ebd.: 11f.). Ab den 1970er-Jahren, nach seiner Unabhängigkeit von Großbritannien, wurde Malta wiederholt zum Ziel humanitärer Verteilung Schutzsuchender durch den UNHCR: 1972 für Teile der asiatischen Min-
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derheit Ugandas, 1991 für Iraker im Zuge des Golf-Kriegs und 1999 für Kosovo-Albaner durch den Kosovo-Krieg (ebd.: 12). Diese Entwicklung hin zum Immigrationsland beschleunigte sich in den 1990er Jahren mit den Verhandlungen zum EU-Beitritt Maltas bis zum eigentlichen Eintritt am 1. Mai 2004 (ebd.). Ab diesem Zeitpunkt war ein deutlicher Anstieg der Zahl Asylsuchender, insbesondere aus subsaharischen Regionen, zu verzeichnen (Karén 2008: 16). Gleichzeitig muss betont werden, dass sich im Zuge von Sicherheitsbestrebungen Spaniens und Griechenlands viele Migrationsbewegungen auf Malta fokussierten und so die Lage zusätzlich verschärften (PFC Malta 2013: 12). Die Republik Malta wird nicht zwingend als Zielland gewählt, da die geografische Lage des Landes offensichtlich mit Restriktionen verbunden ist. Ein- und Ausreisemöglichkeiten sind in Malta auf den Luftverkehr sowie die Schifffahrt beschränkt. In der Vergangenheit erreichten Schutzsuchende den Inselstaat vor allem auf dem Seeweg, diese lebensgefährlichen Überfahrten lösten immer wieder Rettungsaktionen durch die maltesische und italienische Marine aus (Times of Malta 2016; Times of Malta 2015; UNHCR 2015). Diese Szenerien folgen im Allgemeinen einem wiederkehrenden Muster: Schutzsuchende wählen zunächst mehrheitlich Italien als Destination, da es vom Festland aus einfacher ist, in andere EU-Mitgliedsstaaten weiterzureisen (Interview M103). Obwohl meist nicht als Ziel gewählt, eignet sich der Inselstaat aufgrund seiner Lage im Mittelmeer, vor der Küste Siziliens, für unbeabsichtigte Ankünfte, z.B. bei Problemen mit dem Wetter oder den Booten. Dies stellt sowohl die Schutzsuchenden als auch Malta vor große administrative und gesellschaftliche Herausforderungen. 2.2 Das nationale Flucht- und Asylregime und sein Verhältnis zu GEAS Um das Verhältnis des nationalen Asylregimes zum GEAS zu untersuchen, ist es notwendig, dessen Bestandteile im nationalen Asylsystem zu ermitteln und auf Abweichungen zu überprüfen. Wesentlich für das maltesische Asylverfahren ist die administrative Differenzierung zwischen einer „gültigen“ (regulären) und einer „ungültigen“ (irregulären) Einreise (Laws of Malta 2001: Immigration Act). Aus diesem Grund soll zunächst nur das Verfahren beginnend mit einem Antrag auf Asyl in seinen wichtigsten
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Punkten erläutert werden. Die oben genannte Differenzierung bezüglich der Art der Einreise wird im Anschluss erläutert. Asylverfahren und Verfahrensdauer Für Asylsuchende besteht die Möglichkeit, innerhalb von 60 Tagen nach ihrer Ankunft auf Malta einen Antrag zu stellen. Ein Antrag, der außerhalb dieser Frist eingereicht wird, hat keine Gültigkeit, sofern keine behindernden Gründe wie z.B. die gesundheitliche Verfassung nachgewiesen werden können (AIDA 2014: 14). Ein Antrag auf Asyl kann nur im Büro des Flüchtlingsbeauftragten (Office of the Refugee Commissioner) gestellt werden, da er dem maltesischen Gesetz entsprechend über die alleinige Befugnis verfügt, Anträge zu entscheiden und diesbezüglich Empfehlungen abzugeben (Laws of Malta 2001: Refugees Act). Bei einem Gesuch in den Räumlichkeiten des Flüchtlingsbeauftragten (Refugee Commissioner) wird zunächst ein vorläufiger Fragebogen ausgehändigt, der so genannte Preliminary Questionaire, welcher zur Registrierung des Gesuchs dient (AIDA 2014: 12). Dieser Fragebogen beinhaltet zudem einen Fragebogen bezüglich des Dublin-Verfahrens, anhand dessen die Zuständigkeit im Sinne der Dublin-Verordnung ermittelt wird (ebd.: 20). Obliegt die Zuständigkeit im Asylverfahren einem anderen Staat, so ist es die Aufgabe der Einwanderungspolizeibehörde (Immigration Police Office), die Verordnung durchzusetzen und den betroffenen Asylsuchenden an den zuständigen Staat zu überführen (ebd.: 20f.). Im Falle der Zuständigkeit des maltesischen Staates wird der nächste Schritt des Asylantrags eingeleitet, der einem persönlichen Interview des Asylsuchenden entspricht (Interview M105) und als eigentlicher Antrag gilt (AIDA 2014: 12). Im Interview sollen die Gründe und Umstände der Flucht ermittelt werden; es wird vom Flüchtlingsbeauftragten persönlich durchgeführt, in Fällen mit sprachlichen Barrieren wird ein Übersetzer zur Verfügung gestellt (ebd.: 17; Interview M105). Das maltesische Gesetz sieht vor, dass der Asylsuchende, sobald sein Antrag registriert wurde, innerhalb eines möglichst kurzen Zeitraums vom Flüchtlingsbeauftragten interviewt wird (Laws of Malta 2001: Refugees Act, Artikel 13). Der zuständige Beauftragte, Mario Friggieri, betonte 2015 im persönlichen Interview, dass Malta hinsichtlich des vorhandenen Systems fortschrittlich sei, da alle Interviews gründlich dokumentiert würden und diese den Antragstellern selbst zur Verfügung stünden:
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„We are kind of ahead for other countries with our system. For example we record all the interviews with the asylum applicants. So we could always check the recording if it comes to a reply. We have a transcript of all the interviews, other countries will make a report of the interview, sometimes they even not do this. And we give a transcript of the interview to the client when we give him the decision papers. So if he goes to appeal to the lawyer, he got his own data. Since CEAS, the refugees are aiming that goal of reply, so we are save with our data“ (Interview M105).
Im weiteren Verlauf wird über den Antrag entschieden, hierzu wird vom Flüchtlingsbeauftragten erwartet, dass er alle ihm verfügbaren Mittel aufwendet, um eine entsprechende Entscheidung fällen zu können (Laws of Malta 2001: Refugees Act, Artikel 20). Hinsichtlich der Verfahrensdauer wurde im selben Interview mit dem Flüchtlingsbeauftragten betont, dass vor diversen Fortschritten im System ein Jahr benötigt wurde, um eine Entscheidung über den Asylantrag zu fällen. Heute schließe man die Fälle in zwei Monaten ab (Interview M105). Im Verlauf des Interviews wurden die Besserungen durch den Flüchtlingsbeauftragen näher erläutert: Zum einen überprüfen sie die Pässe und führen detaillierte Interviews. Des Weiteren ist die Anzahl der Sachbearbeiter seit Amtsantritt im Juni 2007 von vier auf 24 erhöht worden, zudem erhielten diese fortlaufend Schulungen (ebd.). Auch der Leiter der Agentur für die Wohlfahrt von Asylsuchenden (Agency for the Welfare of Asylum Seekers, kurz: AWAS) gab an, dass auf Malta ein gutes Asylverfahren bestehe: Man habe ein gutes Tempo, kompetentes Verfahren, gut geschulte Personen und ein gutes Gesetz (Interview M106). Jedoch ist es kaum möglich, eindeutige und endgültige Aussagen bezüglich der Verfahrensdauer zu treffen. Zum einen stehen keine präzisen Informationen über die durchschnittliche Dauer der Verfahren zur Verfügung, da sie auch stark durch die Anzahl von ankommenden Asylsuchenden beeinflusst wird (AIDA 2013: 15). Zum anderen beinhaltet die Entscheidungsgewalt auch die Verantwortung des Flüchtlingsbeauftragten, die zum jeweiligen Zeitpunkt aktuellen und relevanten Informationen zu sammeln, die für die jeweilige Entscheidung von Bedeutung sind. Laut Artikel 20 des Refugees Acts seien hierbei Rücksicht auf allgemeine Umstände im Herkunftsland des Asylsuchenden und seine persönlichen Umstände zu nehmen. Des Weiteren solle seitens des Flüchtlingsbeauftragten gewährleistet werden, dass aktuelle Informationen von relevanten Quellen, wie
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dem UNHCR und EASO, erhalten und diese zur Beurteilung genutzt werden (Laws of Malta : 2015: Refugees Act, Artikel 20). Da nach Angaben des Flüchtlingsbeauftragten Pässe der Asylsuchenden kontrolliert würden (Interview M105), liegt die Vermutung nahe, dass auch im Interview angegebene Informationen einer genaueren Untersuchung unterliegen, wodurch ein größerer Zeitaufwand entstehen kann. Somit ist die Verfahrensdauer auch fallabhängig; in Anbetracht der jährlichen Schwankungen der Antragszahlen kann die Dauer eines Entscheidungsverfahrens stark variieren. Nach dem Refugees Act ist dieser Schritt der Überprüfung jedoch unausweichlich, da die vorhandenen Informationen und Umstände die Grundlage der Entscheidung und somit des Schutzes bilden. In einem letzten Schritt wird über eine Annahme oder eine Ablehnung eines Antrags entschieden. Im Falle einer positiven Entscheidung in der ersten Instanz empfiehlt der Flüchtlingsbeauftragte im Ermessen der Umstände die Vergabe des Flüchtlingsstatus im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention, einen subsidiären Schutz bzw. in bestimmten Fällen einen temporären Schutz (Temporary Humanitarian Protection) (UNHCR Malta 2011; Interview M105). Ein subsidiärer Schutz wird gewährt, wenn kein Anspruch auf einen Flüchtlingsstatus nachzuweisen ist, betroffene Personen jedoch auch nicht in ihr Heimatland oder ihrem ursprünglichen Aufenthaltsort zurückgeführt werden können, sofern sie dort ernsthaften Gefahren ausgesetzt sind (Laws of Malta 2001: Refugees Act, Artikel 17). Bei der Vergabe dieser Schutzform werden u.a. auch Ereignisse im Herkunftsort in Betracht gezogen, die erst nach der Ankunft der antragstellenden Person in Malta eingetreten sind und die diese bei einer Zurückweisung gefährden würde. Ein Anspruch auf einen temporären Schutz entfällt, wenn eine schwere Straftat des Antragsstellers vorliegt. Hierzu zählen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weitere schwere Verbrechen, welche auch in Malta unter Strafe stehen, und eine Flucht aus dem Herkunftsland dadurch begründet wurde, der Bestrafung dieser Verbrechen zu entgehen (Laws of Malta 2001: Refugees Act, Artikel 17). Eine weitere Möglichkeit, Zuflucht in Malta zu erhalten, besteht mit der Vergabe eines temporären Schutzes, einem administrativen Status für diejenigen Fälle, in denen der Antragssteller nicht als Flüchtling anerkannt werden kann und kein Anspruch auf einen subsidiären Schutz besteht, für diese Person jedoch ein Schutz aus humanitären Gründen notwendig ist:
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„The Office of the Refugee Commissioner can also recommend another regime of protection that is Temporary Humanitarian Protection, an administrative procedure which is granted in special and extraordinary cases where applicants are found not to be eligible for recognition as refugees or beneficiaries of subsidiary protection, but who are nonetheless considered to be in need of protection due to special humanitarian reasons“ (Ministry of Home Affairs and National Security o.J.).
Ein temporärer Schutz wird denjenigen gewährt, die bei einer Antragsstellung als unbegleitete Minderjährige gelten, als Personen, die aus medizinischen sowie anderen humanitären Gründen nicht in ihr Herkunftsland zurückgeführt werden können oder als nicht anerkannte Flüchtlinge, die aus rechtlichen oder anderen Gründen nicht in ihr Herkunftsland zurückgeführt werden können, wobei dieser Umstand nicht ihr Verschulden ist (UNHCR Malta 2011). Bei einem negativen Entscheid, einer Ablehnung des Antrags in erster Instanz, besteht für die betroffenen Personen die Möglichkeit, in einem Zeitraum von 15 Tagen nach Erhalt eines Bescheids Berufung einzulegen. Eigens hierfür ist eine Beschwerdekammer für Flüchtlinge, das sog. Refugee Appeals Board, eingerichtet worden (Laws of Malta 2001: Refugees Act, Artikel 5), welches die Befugnis besitzt, über die einzelnen Berufungsverfahren zu entscheiden: „The Board shall have power to hear and determine appeals against a recommendation of the Commissioner” (Laws of Malta 2001: Refugees Act, Artikel 7). Das Gesetz sieht zudem vor, dass der jeweilige Kläger im Berufungsverfahren das Recht auf einen kostenfreien juristischen Beistand hat, und zwar unter den gleichen Bedingungen wie maltesische Bürger, jedoch mit der in Artikel 7, Absatz 9, genannten Einschränkung, dass die Entscheidung der Beschwerdekammer für Flüchtlinge eine endgültige ist und es keine Möglichkeit gibt, gegen diese Entscheidung Berufung einzulegen (Laws of Malta 2001: Refugees Act, Artikel 7). Es besteht zudem noch eine weitere Möglichkeit des Berufungsverfahrens, in dem nicht die antragsstellende Person selbst, sondern der Ministerpräsident Berufung gegen die Empfehlung des Refugee Commissioners einlegt, sofern er mit dieser nicht einverstanden ist (ebd.). Eine kostenlose juristische Beratung zu Beginn des gesamten Asylverfahrens ist nicht vorgesehen. In Interviews und Dokumenten wurde in Erwägung gezogen, ob diese nicht während des gesamten Verfahrens von Be-
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deutung wäre, zumal es unwahrscheinlich ist, dass alle betroffenen Personen hinsichtlich ihrer Rechte aufgeklärt sind (AIDA 2014; Interview M101). Es besteht die Möglichkeit, mit eigenen Mitteln einen Rechtsbeistand aufzusuchen, jedoch ist diese Möglichkeit vor allem durch die Finanzierung eines solchen Rechtsbeistands eingeschränkt. Es gibt NROs, welche mit Anwälten zusammenarbeiten, und eine geringe Anzahl an Anwälten in NROs, sodass eine rechtliche Beratung theoretisch in allen Instanzen des Asylverfahrens gewährt werden könnte, dieser Service ist aber auch mit hohen Kosten verbunden (AIDA 2014: 19) und somit begrenzt zugänglich. Schlussendlich machen daher nur sehr wenige Personen von diesem Recht Gebrauch. Diese Praxis wurde von NROs, aber auch von der Europäischen Kommission, scharf kritisiert (Hammarberg 2011). Es wurde immer wieder eine kostenlose Rechtsvertretung gefordert und der Umstand bemängelt, dass NROs diese Aufgabe übernehmen müssten. Aufnahme von Asylsuchenden und Flüchtlingen Sowohl staatliche als auch private Angebote hinsichtlich der Unterkunftsmöglichkeiten werden den Schutzsuchenden zur Verfügung gestellt. Den persönlichen Mitteln der Asylsuchenden und Flüchtlingen entsprechend besteht die Möglichkeit, auf dem maltesischen Wohnungsmarkt eine Unterkunft zu finden oder das Angebot der verfügbaren offenen Einrichtungen (Open Centres) in Anspruch zu nehmen (UNHCR Malta 2011). Die offenen Einrichtungen in Malta können in drei verschiedene Arten unterteilt werden: Es gibt Einrichtungen, die direkt von der Regierung betrieben werden, Einrichtungen, welche sich in staatlichem Eigentum befinden und von anderen Einrichtungen verwaltet werden, sowie private Einrichtungen, die finanzielle Unterstützung des Staates erhalten (Interview M106). Als ein Beispiel dient das Marsa Open Centre, welches sich in staatlichem Eigentum befindet, jedoch von der NRO Foundation for Shelter and Support to Migrants (FSM) verwaltet wird (Interview M101). Die offene Einrichtung erhält ein staatliches Budget, welches für die Verwaltung und Bedürfnisse der Bewohner verwendet wird, während die Regierung die Ausgaben überprüft. Des Weiteren besteht für solche Einrichtungen die Möglichkeit, Unterstützung beim European Refugee Fund (ERF) zu beantragen (ebd.). Die Einrichtungen sind zudem nur für bestimmte Gruppen zugänglich, d.h., dass
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einzelne Anlagen für alleinstehende Männer oder Frauen, Familien oder unbegleitete Minderjährige bestehen; gegenwärtig sind über 2000 Betten verfügbar (Interview M106). Hinsichtlich des Asylverfahrens lassen sich folgende Punkte vermerken: Es wird deutlich, dass Personen und Behörden, die in dem Verfahren involviert sind, gezielt geschult werden, sodass das nationale Asylverfahren hinsichtlich seiner Effizienz und Qualität verbessert wird. Vor allem der Flüchtlingsbeauftragte betonte die Verbesserungen im Ablauf, die auf gezielte Schulungen zurückzuführen seien. Es sei vor allem von Vorteil, dass die Schulungen der Sachbearbeiter seitens EASO in Malta stattfinden (Interview M105). Der Leiter der AWAS betonte zudem, dass ein zügiges Verfahren unabdingbar sei. Der Erfolg der Organisation messe sich an der Schnelligkeit des Asylprozesses, und somit daran, wie schnell Asylbewerber die nächsten administrativen Schritte durchliefen. Eine lange Verweildauer in den Aufnahmeeinrichtungen von AWAS würde im Gegensatz dazu nur zeigen, dass Prozesse nicht ausreichendend funktionieren (Interview M106). Inhaftierung Bei einer Einreise mit gültigen Dokumenten und „legalen“ Mitteln, d.h. mittels Ankunft über die (Flug-)Häfen Maltas, können diese Personen auf direktem Weg den zuständigen Flüchtlingsbeauftragten kontaktieren und einen Antrag stellen (Interview M103). Personen, die nicht unter diesen Umständen einreisen, d.h. kein gültiges Recht der Einreise, des Aufenthalts oder der Durchreise besitzen und denen keine Genehmigung seitens des Hauptbeauftragten für Einwanderung (Principal Immigration Officers) erteilt wird, gelten dem Gesetz entsprechend als „unzulässige Immigranten“ (Laws of Malta 2001: Immigration Act, Artikel 5). Dies sind vor allem diejenigen Schutzsuchenden, die Malta auf Booten erreichen. Hierbei spielt es keine Rolle, ob sie auf Malta eigenständig ankommen oder im Mittelmeer durch die maltesische Armee (Armed Forces of Malta) aufgefangen werden (Interview M103). Hinsichtlich Artikel 10 des Immigration Acts werden die zuständigen Autoritäten ermächtigt, Personen, die keine gültige Aufenthaltsgenehmigung nachweisen können, vorläufig zu inhaftieren, bis diese aus dem Land ausgewiesen werden (Laws of Malta 2001: Immigration Act, Artikel 14). Die vorläufige Inhaftierung dient dem Interesse der nationalen Sicherheit
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(Interview M103) und der öffentlichen Ordnung (MJHA & MFSS 2005: 11; zit. nach: AIDA 2014: 48). Schutzsuchende verbleiben in eigens dafür vorgesehenen Einrichtungen, den so genannten Internierungslagern (Detention Centres), bis sie ausgewiesen werden oder über ihren Antrag auf Asyl – sofern ein Antrag eingereicht wurde – entschieden wird (ebd.). Auf Malta befinden sich hierzu zwei Einrichtungen, die öffentlich betrieben werden: Der B-Block in Safi Barracks sowie der Hermes-Block in Lyster Barracks (ebd.: 47). Eine Inhaftierung kann maximal für eine Dauer von zwölf Monaten vorgenommen werden, sofern nach diesem Zeitraum noch eine Entscheidung in erster Instanz aussteht, muss der betroffenen Person der Zugang zum Arbeitsmarkt gewährleistet werden (ebd.: 50) und folglich eine Entlassung aus der Haft. Im Falle eines Berufungsverfahrens (Zweite Instanz) kann der Zeitraum der Haft jedoch auf bis zu 18 Monate verlängert werden (People for Change Foundation 2013: 45). Gemäß den Angaben von AWAS betrage die aktuelle Dauer der Inhaftierung höchstens drei Wochen, sofern keine besonderen Umstände vorherrschten (Interview M106). Dieser Umstand der Inhaftierung war und ist ein großer Kritikpunkt im Asylverfahren Maltas. Eine vorläufige Inhaftierung verstoße gegen Artikel 5 der europäischen Menschenrechtskonvention. Die maltesischen Behörden sollen Alternativen hinsichtlich der Inhaftierungsprozedur in Erwägung ziehen (Hammarberg 2011), zumal in der Vergangenheit auch unbegleitete Minderjährige und schwangere Frauen inhaftiert wurden (Interview M101). Aufgrund der Kritik der EU und diverser NROs ist im Februar 2015 eine Alternative zu den Inhaftierungslagern errichtet worden (Interview M106). Es handelt sich dabei um das sogenannte Initial Reception Centre, welches sich in Hal Far befindet und einer Erstaufnahmeeinrichtung gleichkommt. Diese von AWAS getragene Erstaufnahmestelle wurde für diejenigen Personen installiert, die als gefährdet eingestuft werden. Hierzu zählen unbegleitete Minderjährige sowie Familien mit minderjährigen Angehörigen, die in einem Zeitraum von wenigen Tagen nach ihrer Ankunft medizinisch untersucht und dementsprechend in das Asylsystem eingegliedert werden (ebd.). Akteure im Maltesischen Asyl- und Flüchtlingsregime Im Hinblick auf die Asylverfahren lassen sich grob staatliche und zivilgesellschaftliche Akteursgruppen unterscheiden. Im Hinblick auf erstere agiert das Ministerium für Inneres und Sicherheit (Ministry for Home Affa-
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irs and National Security) als repräsentative staatliche Behörde in allen Belangen des Verfahrens. Für die Umsetzung der Verordnungen und Gesetze stehen diverse Abteilungen zur Verfügung: Polizei in Malta (Malta Police Force): Die maltesische Polizei spielt eine wichtige Rolle in der Ausführung des maltesischen Migrationsgesetzes und der Ausführung der Dublin-Verordnung. Personen, die einen Antrag auf Asyl stellen, werden systematisch dokumentiert, um personenbezogene Informationen (u.a. Fingerabdrücke) an die EURODAC-Datenbank weiterzugeben. Des Weiteren ist sie für die Umsetzung der Dublin-Verordnung zuständig (AIDA 2014: 20f.). Das Amt des Flüchtlingsbeauftragten (The Office of the Refugee Commissioner): Das Amt des Flüchtlingsbeauftragten bildet die wichtigste Autorität im gesamten nationalen Asylverfahren. Das Amt allein entscheidet über eingehende Asylverfahren und führt die notwendigen Schritte durch, zudem ist es die leitende Autorität der Dublin-Verordnung (ebd.). Beschwerdekammer für Flüchtlinge (Refugee Appeals Board): Das Appeals Board ist eine Institution zweiter Instanz, welche bei einem Gesuch die Entscheidungen des Flüchtlingsbeauftragten überprüfen kann (Laws of Malta 2001: Refugees Act, Part III). Die Möglichkeit, Berufung einzulegen, besteht für die betroffene Person selbst, aber auch für den Ministerpräsidenten (Laws of Malta 2001: Immigration Act, Part IV). Agentur für die Wohlfahrt von Asylsuchende (Agency for the Welfare of Asylum Seekers; kurz: AWAS): AWAS bezeichnet sich selbst als eine „reception agency“ mit drei wesentlichen Arbeitsbereichen: der Verwaltung der Unterkünfte, der Implementierung der Gesetze sowie der Bereitstellung eines Zugangs zu Maßnahmen und Informationen im Bereich der Integration (Interview M106). Die zweite Gruppe bilden zivilgesellschaftliche Gruppen und NROs, mit Hilfe derer die unterschiedlichen Bedürfnisse von Asylsuchenden und Flüchtlingen gedeckt werden sollen. Der Arbeitsbereich variiert von humanitären Bedürfnissen, der Bereitstellung von Bildung und Informationen, Unterkünften bis hin zur Rechtsberatung.
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2.3 Asylsuchende und Entscheidungen über ihre Anträge Antragszahlen und Herkunftsländer Die Zahl der gestellten Asylanträge in Malta unterliegt zwischen 2004 und 2015 teilweise starken Schwankungen. Es zeigt sich ein Anstieg der Antragszahlen zwischen 2004 und 2005 von anfänglich 997 auf 1.666 Anträge. Nach einer Abnahme der Anträge um etwa ein Viertel im Jahr 2006 ist im Jahr 2008 ein rasanter Anstieg auf ca. 2.600 Anträge erkenntlich. Dieses Phänomen ist auf die Rettungsaktionen der maltesischen Streitkräfte im Mittelmeer zurückzuführen, da eine Mehrheit der im Mittelmeer geretteten Schutzsuchenden einen Antrag auf Asyl in Malta gestellt hat: Etwa 2.700 der sogenannten „illegal boat arrivals“ sind auf Malta registriert worden (UNHCR 2014). In 2010 ist seitens der italienischen Regierung eine Strategie der „Push Backs“ verfolgt worden, d.h., dass Schutzsuchende bzw. Migranten auf Booten schon im Mittelmeer – und nicht erst nach Ankunft in Mitgliedsstaaten der EU – zurückgewiesen worden sind (ECRE 2011). Laut UNHCR sind diese Operationen des Zurückdrängens einer der Hauptgründe für die vergleichsweise niedrige Zahl von Anträgen in Italien und auf Malta im Jahr 2011 (UNHCR 2014). Ausgelöst durch die Ereignisse des arabischen Frühlings ist ab dem Jahr 2011 ein erneuter Anstieg der Asylanträge in Malta zu verzeichnen. Insgesamt sind in diesem und den folgenden zwei Jahren 6.122 Anträge registriert worden. 2014 ist erstmals seit den „push-back-Operationen“ der italienischen Marine eine Verminderung der Asylanträge in Malta um ca. 40% im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen, was vermutlich auch mit der Seerettungsaktion Italiens zusammenhängt. Innerhalb Mare Nostrums wurden zwischen 2013 und 2014 150.000 Menschen, die über das Mittelmeer in die EU einreisen wollten, durch die italienische Marine gerettet (Pro Asyl 2014). In 2015 sind die eingereichten Asylanträge erneut gestiegen, das Niveau aus den Jahren 2008 und 2013 wurde jedoch bisher nicht erreicht (UNHCR 2016). Im Vergleich mit anderen EU-Mitgliedsstaaten wird deutlich, dass auf Malta eine wesentlich kleinere Zahl an Asylbewerbern registriert wird. Betrachtet man die Zahlen aus dem Jahr 2014, waren auf Malta ca. 1.300 Bewerber zu verzeichnen, während es in Ländern wie Frankreich eine ca. 60
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mal höhere Anzahl an Bewerbern (62.735 Bewerber) gab, in Deutschland war die Anzahl der Bewerber mit über 200.000 nahezu um das 150fache höher als in Malta (Eurostat 2015a).Verglichen mit der Anzahl von 626.065 Bewerbern, die sich über die gesamte EU (EU-28) verteilen, befinden sich auf Malta 0,2 % aller in der EU registrierten Bewerber, auf Deutschland verteilen sich 32 % (ebd.). Trotz dieses zunächst geringen Anteils sind die Herausforderungen für Malta nicht zu unterschätzen, da pro 1.000 Einwohner 3,2 Bewerber registriert werden – für die gesamte EU ergibt sich bei einer Bevölkerung von etwa 500 Millionen eine Quote von etwa 1,25 Bewerbungen auf 1.000 Einwohner. Der zuständige Flüchtlingsbeauftragte betont 2015, dass Malta nur eine kleine Insel von 300 km² sei und das BIP nicht dem von Deutschland entspräche. Die Auswirkungen dieser Zahlen auf die maltesische Gesellschaft seien offensichtlich stärker als in einem wohlhabenderen und größeren Land (Interview M105). Aufgrund seiner geografischen Lage im Mittelmeer ist Malta ein frequentiertes Ankunftsland von Menschen aus Nord- und Subsahara-Afrika. So kamen die Personen, die im Jahre 2014 einen Asylantrag in Malta stellten, mehrheitlich aus Libyen, Somalia, Eritrea, dem Sudan, aber auch aufgrund der Kriegshandlungen aus Syrien (Eurostat 2015d). Auch 2015 ist die Struktur der Herkunftsländer ähnlich, mit der Ausnahme, dass zunehmend auch Personen aus der Ukraine in diesem Jahr Asyl in Malta beantragten. 2015 stellten Personen aus Libyen mit 53% die größte Gruppe der Asylantragsteller auf Malta. Ihnen folgen Syrer mit 23%, Ukrainer mit 4% sowie Personen aus Eritrea und Somalia mit 3% respektive 2%. Der restliche Anteil verteilt sich auf Personen anderer Staatsangehörigkeiten (Eurostat 2016). Antragsbewilligungen Für das Jahr 2014 sind insgesamt 2.315 Anträge entschieden worden, von denen in 223 Fällen der Flüchtlingsstatus zugesprochen wurde. 968 Personen wurde ein subsidiärer Schutz gewährt, somit besteht hinsichtlich eines internationalen Schutzes eine Anerkennungsrate von insgesamt 51 %. Innerhalb dieser Quoten sind Schutzsuchende aus Syrien mit einem Anteil von 31% vertreten, 25 % stammen aus Somalia sowie 17 % aus Libyen (UNHCR 2014).
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Insgesamt sind zusammen mit der Form des temporären humanitären Schutzes (THP) 65 % der Entscheide positiv ausgefallen, 17 % der Anträge sind abgelehnt worden und 18 % wurden aus administrativen Gründen geschlossen (ebd.). 2015 wurde in Malta über insgesamt 1.970 Asylanträge entschieden. 1.247 Antragsstellern wurde ein Aufenthaltsstatus erteilt, was eine Anerkennungsrate von 63 % darstellt (ebd.). Allerdings wurde auch 2015 mehrheitlich der subsidiäre Schutzstatus erteilt. NROs kritisieren hier häufig, dass auf Malta ein Subsidiärtitel gleichbedeutend mit einer Ablehnung sei, da die Menschen massiver Perspektivlosigkeit ausgesetzt werden und ihre Rechte kaum definiert sind (JRS Europe 2012). Lediglich 316 Personen, umgerechnet 16% der Antragssteller, wurden als Flüchtlinge nach der Genfer Konvention anerkannt (UNHCR 2016). Betrachtet man die Entscheidungen von 2004 bis 2015, ist in 53 % die Fälle entschiedener Anträge ein internationaler Schutz gewährt, jedoch ist nur in 4 % aller Anträge der Flüchtlingsstatus erteilt worden, die Mehrheit der Bewerber erhielt subsidiären Schutz. Der Flüchtlingsbeauftragte verweist darauf, dass Malta eine relativ hohe Anerkennungsrate habe (Interview M105). Betrachtet man die Schutzformen jedoch im Einzelnen, so ist zu vermerken, dass eine Anerkennungsrate von lediglich 4 % hinsichtlich der Vergabe des Flüchtlingsstatus eine niedrige Quote ist. Trotz bestehender Anerkennungsrichtlinien kann keine vollständige Objektivität im Entscheidungs- und Anerkennungsverfahren gewährleistet werden, weil diese von der Beurteilung einzelner Person abhängig sind und Richtlinien im eigenen Ermessen angewandt werden. Ein durch EASO vereinheitlichtes Training des Personals, das für die Untersuchung von Asylgesuchen zuständig ist, schafft einen gewissen Grad an Objektivität innerhalb der EU. Anerkennungsraten können allein durch die Tatsache der Herkunftsländer beeinflusst werden. In diesem Zusammenhang verwies der Flüchtlingsbeauftragte auf die Regelung des „save country of origin“ (Interview M105): Gemäß der Europäischen Kommission gelten diejenigen Staaten als sicher, in denen demokratische Systeme existieren und ein Bürger dieses Staates keiner Verfolgung, unmenschlicher Behandlung und Bestrafung oder einem bewaffneten Konflikt ausgesetzt ist (Europäische Kommission, o.J.). Es kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass Antragssteller auf Malta zurückgewiesen werden, sofern sie aus einem als sicher deklarierten Staat geflüchtet sind (Interview M105).
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Wandlungstendenzen Wichtige Wandlungstendenzen innerhalb der Asylpolitik betreffen die Umsetzungen europäischer Verordnungen und Richtlinien in den Mitgliedsstaaten der EU, zum Beispiel hinsichtlich der Inhaftierung von irregulären Migranten. Der Einfluss von GEAS hinsichtlich der Praktiken in den Mitgliedsstaaten der EU sei sehr signifikant für einige, vor allem staatliche, Akteure wie AWAS, denn diese müssten sich und ihre Tätigkeiten dauernd an sich verändernde europäische Gesetze und Richtlinien anpassen (Interview M106). Eine signifikante Veränderung in diesem Zusammenhang ist die Einführung einer Erstaufnahmeeinrichtung, welche seit Februar 2015 in Malta aktiv ist und dort in diesem besonderen Fall als Alternative zu den beiden Inhaftierungslagern dient (ebd.). Dies zeigt sich vor allem dadurch, dass sich in Malta Ende 2013 etwa 500 Asylsuchende in Haft befanden und mehr als 1900 Personen aus der Haft entlassen wurden (UNHCR 2013). Gegen Ende des Jahres 2014 sank diese Zahl wesentlich, zu dieser Zeit befanden sich nur noch etwa 30 Asylsuchende in Haft (UNHCR 2014). Die von EU-Einrichtungen und NROs kritisierte Inhaftierungspraktik Maltas wird also zunehmend durch offenere Einrichtungen ersetzt. Des Weiteren bereitet man sich – angesichts der anhaltenden Konflikte in Syrien und in einigen Staaten Nordafrikas – auf einen größeren Zustrom von Migranten vor. Es sollen hierzu mehr Unterkünfte ermittelt und zur Verfügung gestellt werden, im Bereich der medizinischen Versorgung erarbeitet man neue Maßnahmen, um dem erwarteten Anstieg der Zahl Asylsuchender gerecht zu werden. Zudem finden Schulungen in Bereich interkultureller Kompetenzen für Angestellte im öffentlichen Dienst statt (Interview M104). Wichtig für den maltesischen Kontext der Asyl- und Flüchtlingspolitik ist die Tatsache, dass keine konstante Situation existiert. Man arbeitet in sich ständig verändernden Bedingungen. Dies stellt neue Herausforderungen bezüglich der Verwaltung, der Entscheidungen und der Bereitstellung von kompetentem Personal dar (Interview M106).
3. K OOPERATIONEN UND N ETZWERKE ASYL - UND F LÜCHTLINGSBEZOGENER O RGANISATIONEN Die Kooperation bzw. stellenweise Nicht-Kooperation von staatlichen, nichtstaatlichen und überstaatlichen Organisationen hat erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der Umsetzung des GEAS. Die meisten beteilig-
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ten asyl- und flüchtlingsbezogenen Organisationen in Malta sind auf nationaler Ebene tätig. Dies gilt selbstverständlich für staatliche Organisationen wie zum Beispiel Primary Health Care, das Amt des Flüchtlingsbeauftragten (The Office of the Refugee Commissioner) oder die Agency for the Welfare of Asylum Seekers (AWAS) und auch für die meisten NROs: KOPIN, Aditus, Emigrants Commission, SOS Malta und Foundation for Shelter and Support to Migrants (FSM). Eine Ausnahme bildet hier lediglich der global agierende Jesuit Refugee Service (JRS). Abschließend nimmt der United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) als internationale Organisation eine vermittelnde und vernetzende Position ein und steht in aktiver Zusammenarbeit mit den staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Asyl- und flüchtlingsbezogene Organisationen und ihre Charakteristika Organisationsform
Werte und Normen
Emigrants Commission
NRO
Menschenrechte / Humanitäre Werte national
Jesuit Refugee Service
NRO
Religiös / Humanitäre Werte national
Primary Health Care
RO
Menschenrechte / Humanitäre Werte national
Malta Universität
sowohl FI als auch andere (Universität) Objektivität
2014
2015
Amt des Flüchtlingsbeauftragten RO Aditus
NRO
FSM Malta
NRO
UNHCR
IRO
AWAS
RO
Legitimationsfeld
national
Politisch / nationale Gesetze national Menschenrechte / Humanitäre Werte national
Religiös / Humanitäre Werte national Menschenrechte / Humanitäre Werte international Politisch / nationale Gesetze national
Hauptanliegen Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Integration, Soziales, Information Asylbewerber und Flüchtlinge: Rechtsbeistand, Soziales Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Medizinische Versorgung Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Forschung Anhörungen und Entscheidungen im Asylprozess Rechtsbeistand für Asylbewerber und Flüchtlinge Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge, Humanitäre Hilfe Unterstützung für Asylbewerber und Flüchtlinge Unterbringung und Unterstützung für Asylbewerber und Flüchtlinge
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People for Change
KOPIN
NRO
Menschenrechte / Humanitäre Werte national
Vielfältig u.A. AntiRassismusKampagnen Asylbewerber und Flüchtlinge,
NRO
Menschenrechte / Humanitäre Werte national
Vielfältig u.A. Bildung, Humanitäre Hilfe Asylbewerber und Flüchtlinge,
Quelle: Experteninterviews und Homepage-Analysen im Rahmen des MAREMProjekts 2014-2015, eigene Darstellung mit der Software Visone.
Im Folgenden werden eine staatliche und eine nichtstaatliche Organisation beleuchtet, die aufgrund ihrer Einbindung in das maltesische Asylsystem in einem besonderen Verhältnis zueinanderstehen. Zunächst wird auf die staatliche Organisation AWAS eingegangen, welche eine Schlüsselposition zwischen Regierung und Dienstleistung (z.B. Erstaufnahme) innehat, anschließend wird auf FSM eingegangen, die in Kooperation mit der Regierung unmittelbar an der Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden beteiligt ist. 3.1 Beispiel 1: Agency for the Welfare of Asylum Seekers (AWAS) AWAS ist eine staatliche Behörde, die dem Ministerium für Innere Angelegenheiten und nationale Sicherheit (MHAS) unterstellt ist. Als im Zuge des Eintritts Maltas in die EU im Jahr 2004 die Zahl der Asylsuchenden anstieg, etablierte die Regierung im Jahr 2009 AWAS mittels der Subsidiary Legislation 217.11 (Laws of Malta 2009: Immigration Act, 217.11). Diese bildet das Mandat bzw. definiert die Handlungsgrundlage von AWAS (Interview 106). AWAS wird als eine „reception agency“ (deutsch: Aufnahmeagentur) bezeichnet und teilt sich gemäß ihrem Mandat in drei wesentliche Arbeitsbereiche: Diese beinhalten die Verwaltung der Unterkünfte, die Implementierung der Gesetze sowie die Bereitstellung eines Zugangs integrativer Maßnahmen und Informationen (Laws of Malta 2009: Immigration Act, 217.11). Der Leiter von AWAS ist verantwortlich für die Informationsweitergabe an die jeweiligen staatlichen Einheiten und die Verteilung der Schutzsuchenden auf die Unterkünfte. Zusätzlich berät er den Minister für Asylpolitik laut Subsidiary Legislation 217.11 zu neuen Entwicklungen in Asylfragen und gibt hinsichtlich der Dienstleistungsorientierung von AWAS Bera-
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tung zu Gesetzesnovellierungen. Er zeigte sich auf Nachfrage zu diesen Aspekten in unserem Interview allerdings eher defensiv: „Political Suggestions? I am not going into that. I am a technical person and I prefer to leave the political aspect to the politicians“ (Interview M106). Generelle Hilfsmittel wie Trainings, Bildungsprojekte, Sprachunterricht und Material jeglicher Art werden Schutzsuchenden zur Verfügung gestellt. Die Hilfe von AWAS besteht darüber hinaus aus der Bereitstellung genereller Informationen in Bezug auf Aufenthaltsgenehmigungen, das Verfahren und den Status des Asylantrages, die ausgewogene Zuteilung von Schutzsuchenden auf die Unterkünfte und die stetige Verfügbarkeit der Einrichtungen für den Asylantrag. In Zusammenhang mit der Bereitstellung von Unterkünften, Rechtsbeistand und Ähnlichem stellt der Leiter von AWAS die Wichtigkeit von Kooperation heraus. Zusammenarbeit sei immer von Vorteil, unabhängig vom Einfluss einer globalen, nationalen oder einer regionalen Organisation. Kollaboration zeige Professionalität und eine effiziente Arbeitsweise: „I won’t go into judging other organisations in terms of weakest or strongest. Everyone is important in the European Asylum System“ (Interview M106). Hinsichtlich der Verortung von AWAS in Kooperationsnetzwerken von Flüchtlingsorganisationen auf Malta ist festzustellen, dass AWAS von NROs häufig als Kooperationspartner genannt wird, aber selbst in erster Linie die Kooperation auf europäischer Ebene betont. In seinen Ausführungen betonte der Leiter der Behörde in diesem Zusammenhang vor allem die Bedeutung der beiden Netzwerke ENARO (European Network of Asylum Reception Organisations) und EPRA (European Platform of Reception Agencies): „If I need to take a policy decision, I often send an E-mail to these organisations, say: ‚Look, we have this situation, have you ever had this situation?‘ For Example: Child marriage, how do you deal with two people, that come to your service, who are minors, and tell you they are married, what is their experience? That is very useful“ (Interview M106).
In ähnlicher Weise äußert er sich zu international Regierungsorganisationen wie UNHCR oder der International Organisation for Migration (IOM). Hinsichtlich der Zusammenarbeit mit EASO wird deutlich, dass AWAS, im
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Gegensatz zu vielen NROs, aktiv mit EASO arbeitet und z.B. gemeinsame Trainings und Workshops abhält (Interview M106). 3.2 Beispiel 2: Foundation for Shelter and Support to Migrants (FSM) FSM Malta ist ein nichtstaatlicher katholischer Akteur, der allerdings teilweise mit staatlichen Aufgaben betraut ist. FSM betreut und organisiert seit 2010 das Marsa Open Centre, eines von fünf offenen Zentren auf der Insel. Zusätzlich ist dieser Akteur im Bereich des sozialen Projektmanagements aktiv, um Schutzsuchende sozial, psychisch und auch rechtlich zu unterstützen. Der tägliche Betrieb des Marsa Open Centres wird zwar von FSM getragen, dennoch obliegt die Leitung und Finanzierung weiterhin dem Ministerium für Innere Angelegenheiten und Nationale Sicherheit (MHAS) bzw. Teile der Finanzierung dem ERF Zu Beginn des Jahres 2015 lebten im Marsa Open Centre ungefähr 500 männliche Asylsuchende aus 19 unterschiedlichen Ländern (FSM 2015). Die Organisation selbst finanziert sich durch EU-Gelder und dem ERF, zusätzlich stehen Spendengelder der Zivilbevölkerung und der Kirche zur Verfügung (Interview M101). FSM Malta bietet den Asylsuchenden neben materieller Hilfe auch Teilhabe an der maltesischen Zivilgesellschaft: Es werden Projekte initiiert und gefördert, welche beispielsweise den Zugang zu Bildung ermöglichen bzw. erleichtern. Dem Vorsitzenden der Organisation, Dr. Ahmed Bugri, geht es im Wesentlichen um die Integration und den legalen und bedingungslosen Aufenthalt eines Menschen in der europäischen Gesellschaft. FSM Malta steht für „cultural diversity and cross cultural bridge building“ (Skop 2016), diese Selbstbeschreibung spiegelt zusätzlich den Human-Rights-Ansatz der Organisation wider. Eine Sozialwissenschaftlerin und derzeitige Projektmanagerin bei FSM Malta argumentiert: unabhängig von der Herkunft eines Menschen stände in der Kirche die Tür für jedermann offen (Interview M101). Der kirchliche Hintergrund der Organisation gäbe Migranten eine enorme moralische Unterstützung, so die Projektmanagerin. Daran anschließend kritisiert sie die europäische Asylpolitik hinsichtlich ihrer Ausrichtung bzw. ihres Grenzregimes: „The EU has to become more about development, prevention, peace building and less about control“ (Interview M101).
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Hinsichtlich der Kooperation und Verteilung der Aufgaben spielt FSM Malta durch seine enge Anbindung an Regierungsorganisationen eine Schlüsselrolle. Daten und Projekte können so effizienter realisiert und umgesetzt werden. Besonders auf Malta sei es hinsichtlich der Kooperation mit sämtlichen Organisationen wichtig, dass man Informationen und Daten offenlege und teile, um so nicht isoliert zu werden. „Cooperation creates added value“ (Interview M101). Durch die (Ankündigung der) Veränderung von einer „Inhaftierungspolitik“ zu einer „Aufnahmepolitik“ werden Organisationen wie FSM weiter gefördert und gewinnen für den Staat Malta und die EU wesentliche Bedeutung. 3.3 Flüchtlings- und asylbezogene Netzwerke in Malta Die oben beschriebenen Organisationen AWAS und FSM Malta unterscheiden sich stark. AWAS als Regierungsbehörde agiert nicht nur politisch, sondern auch serviceorientiert, ist für die Allokation der Ressourcen für die Asylsuchenden auf Malta zuständig und bedient somit weitgehend administrative Aufgabenfelder. Im Gegensatz dazu steht FSM Malta als eine im weiten Sinne religiöse Organisation, die sich aus Spenden, Eigeneinnahmen und dem ERF finanziert. Basierend auf christlichen Werten versucht FSM Malta, die Schutzsuchende aktiv mit Nahrung und Unterkunft zu versorgen und sie durch verschiedene Projekte in die Gesellschaft zu integrieren. Besonders hervorzuheben ist, dass mit der Integration von FSM, also der Aufgabe, ein sogenanntes „Open Center“ zu leiten, FSM ein Stück weit in staatliche Felder eintritt und somit eine übergreifende Kooperation zwischen NRO und Regierung entwickelt werden kann. Schlussfolgernd lässt sich anhand dieser beiden Beispiele ableiten, dass diese verschiedenen Organisationen aufgrund der geringen Kapazitäten Maltas gemeinsame Arbeitsfelder besitzen. Beide Institutionen agieren aufgrund von unterschiedlichen Handlungsmotivationen, teils politisch und teils an Menschenrechten orientiert, jedoch arbeiten beide für das gemeinsame Ziel, Schutzsuchende angemessen unterzubringen. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, wie intensiv Kommunikation, Koordination und Kooperation zwischen unterschiedlichen Partnern auf Malta genutzt werden. Es entsteht fast automatisch ein Netzwerk zwischen den verschiedenen Organisationen. Besonders im Fokus stehen hier UNHCR, Primary Health Care, Jesuit Refugee Service, Malta Emigrants
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Commission, Aditus und das Amt des Flüchtlingsbeauftragten. Anhand dieses Netzwerkes wird erkennbar, welche Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Organisationen entstanden sind, aber nicht, welche Bedeutung diese für den Asylprozess auf Malta an sich haben. Einerseits gibt es das Projektmanagement und die Unterstützung von kleineren, nicht so einflussreichen Organisationen, bei denen es nicht um Dienstleistungen für Schutzsuchende geht, sondern beispielsweise um Aufklärung der Gesellschaft oder freiwillige Spendenaktionen. Andererseits gibt es die Koordination von Daten über Schutzsuchende und über Arbeitsmethoden zwischen verschiedenen Akteuren. Auf Malta ist diese Art der Kooperation meist zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Organisation vorzufinden, da der Staat gegen den Austausch der Daten finanzielle Unterstützung bietet und zeitintensive Datenerhebungsmethoden auslagert, sodass neue Kapazitäten generiert werden können. Auch durch das Outsourcing des Marsa Open Centers an FSM Malta wird die Wichtigkeit solcher Kooperationen für die beteiligten Akteure deutlich. Besonders ist auf Malta die Stellung des Amts des Flüchtlingsbeauftragten, das nach außen hin angibt, nicht in Beziehung mit anderen asylbezogenen Organisationen zu stehen, allerdings Daten und Berichte von Institutionen wie Primary Health Care oder dem Jesuit Refugee Service erhält, um diese weiter zu verarbeiten und zu staatlichen Zwecken innerhalb von GEAS zu nutzen. Staatliche Organisationen und UNHCR stehen im maltesischen Kooperationsnetzwerk von Flüchtlingsorganisationen weitgehend im Fokus, da diese Organisationen ausreichend Ressourcen und finanzielle Kapazitäten besitzen und somit die Unterstützung in jeglicher Hinsicht für nationale und selbstfinanzierte Institutionen gewährleisten. Es ist auf Grundlage des untersuchten Ausschnittes des Kooperationsnetzwerkes zu vermuten, dass Maltas Akteure im Vergleich zu den anderen untersuchten Ländern besser vernetzt sind, da die Mittelmeerinsel weder eine große Anzahl an Einwohnern noch an Fläche besitzt. Eine mögliche Kontaktaufnahme der Organisationen untereinander scheint einfacher zu sein als in Ländern wie Spanien oder Italien. Die Erreichbarkeit und Interaktion auf engstem Raum ist ein gegebener Einflussfaktor hinsichtlich einer effizienten Zusammenarbeit.
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Abbildung 1: Visualisierung der Kooperationen und Netzwerke asyl- und flüchtlingsbezogener Organisationen in Malta
Quelle: Interviews im Rahmen des MAREM Projekts 2014-2015, eigene Darstellung mit der Software Visone.
Um weitergehend noch einige Spezifika des maltesischen Netzwerkes zu erläutern, muss über die oben genannte Kooperationsstruktur am Beispiel AWAS – FSM hinausgegangen werden. Man erkennt anhand der Abbildung 1 eine, mit Ausnahme des Amts des Flüchtlingsbeauftragten, starke Kooperationsstruktur zwischen den zentralen Akteuren (JRS, UNHCR, Kopin, AWAS, Integra, SOS Malta, Emigrants Commission, Aditus, FSM). In Hinblick auf die Zusammenarbeit von staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen zeigt sich, dass die staatlichen Behörden AWAS und auch das Amt des Flüchtlingsbeauftragten von Organisationen als Kooperationspartner genannt wurden. Dagegen nennt das Amt des Flüchtlingsbeauftragten keine Kooperation mit den meisten der aufgeführten Organisationen, was auf das
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Selbstverständnis dieses Akteurs zurückzuführen ist. Unterstrichen wird dies vom Leiter der Behörde, der dazu angibt: „No, we don’t have partners. This is the point I’m trying to make. Our work is asylum determination; we are not in partnership with anybody“ (Interview M105). Auffällig ist zudem, dass das European Asylum Support Office (EASO) kein zentraler Akteur ist und eher abseits des Kooperationsnetzwerks operiert, auf explizite Nachfrage antworteten die interviewten Organisationen häufig, dass sie (a) mit EASO nicht / kaum kooperieren, (b) nicht wussten, dass EASO überhaupt seinen Hauptsitz auf Malta hat und daher ebenfalls nicht kooperieren oder (c) EASO in seiner Arbeit nach außen sehr intransparent ist. In Hinblick auf die Ausarbeitung und Weiterentwicklung des GEAS ist das eine Beobachtung, die stark überrascht. Sein Mandat bezieht EASO aus der REGULATION (EU) No 439/2010 OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL, dort ist u.a. festgelegt: „The Support Office should be established in order to strengthen and develop […] cooperation measures” (Artikel 6), “The support Office should also act in close cooperation with the UN High Commissioner for Refugees (the UNHCR) and, where appropriate, with relevant international organisations in order to benefit from their expertise and support” (Artikel 10) und “The Support Office should be a European centre of expertise on asylum, responsible for facilitating, coordinating and strengthening practical cooperation among Member States on the many aspects of asylum“ (Artikel 13).
Anhand der Netzwerkstruktur in Malta kann man erkennen, dass EASO bezüglich dieses Artikels (zumindest in Malta) nicht hinreichend funktioniert. Eingrenzend muss an dieser Stelle aber betont werden, dass sich dies auf die Kooperation mit NROs beschränkt, Aussagen hinsichtlich internationaler Organisationen können an dieser Stelle nicht gemacht werden. Die möglichen Erklärungen hierfür sind (a) die Arbeitsweise von EASO selbst, die sich nicht mit den Arbeitsweisen der Organisationen deckt. Ein Verantwortlicher des Amts des Flüchtlingsbeauftragten lobt EASO zwar als Organisation, die generelle Abläufe der flüchtlingsbezogenen Zusammenarbeit effizienter macht, kritisiert aber weitergehend die unüberschaubare Masse der von EASO produzierten Statistiken (Interview M105). Eine andere Erklärung im Anschluss an (a) ist, dass (b) auf Malta die Netzwerke auch ohne EASO bereits gut genug funktionieren und es keinen Bedarf an einer über-
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geordneten europäischen Instanz gibt. Schlussendlich ist es auch möglich, dass (c) EASO noch einige Zeit braucht, um sich zu etablieren, da es sich mit der Gründung 2011 um eine sehr junge Organisation handelt.
4. S CHLUSSFOLGERUNGEN : E NTSTEHUNG ORGANISATIONALER N ETZWERKE UND GEAS Die maltesische Situation im Umgang mit Flucht und Asyl ist zu komplex, um an dieser Stelle schlussfolgernd ein einfaches Urteil über die Funktionsweisen von GEAS und organisationalen Netzwerken zu treffen. Es lässt sich allerdings in Hinblick auf das Verhältnis von GEAS und den partiellen Kooperationsnetzwerken der Organisationen eine eindeutige Aussage treffen: Netzwerke funktionieren in Malta besonders dann, wenn Akteure die gleichen oder zumindest ähnlichen Aufgaben und Ziele teilen. Wird diese erste Bedingung erfüllt, sind der Akteurstyp (NRO, Regierungsorganisation etc.) sowie die Werte und Normen zweitrangig. Deutlich wird dies insbesondere in den Netzwerken der oben genannten Organisationen FSM und AWAS. Erstere übernimmt als NRO mit der Verwaltung des Marsa Open Centres einen wesentlichen Teil staatlicher Aufgaben und verfügt somit über sich überschneidender Aufgaben mit der letztgenannten RO. Der Wille zu einer maltaweiten Kooperation konnte bei durchgehend allen interviewten NROs und internationalen Organisationen sowie bei serviceorientierten Regierungsorganisationen beobachtet werden. Der Wille zum gegenseitigen Informations- und Expertisenaustausch sowie zur klaren Absprache in Handlungsfeldern und in der Ressourcenteilung ist ungebrochen. Insbesondere auf Malta, einem der kleinsten Staaten der EU, scheint diese Art der Kooperation unerlässlich: Alleine limitierte Kapazitäten und der relativ kleine Handlungsrahmen einerseits sowie der relativ hohe Anteil an Asylsuchenden machen Kooperation unverzichtbar, zudem kreiert Kooperation zusätzlichen Nutzen und stärkt die Organisationen. Bei der Umsetzung von GEAS scheinen Netzwerke ein offensichtlicher Erfolgsfaktor zu sein. GEAS beginnt durch Vernetzung und Aufgabenteilung zwischen NROs, intergouvernementalen Organisationen und Regierungsorganisationen in Teilen zu funktionieren. Betont sei an dieser Stelle aber auch, dass es sich lediglich um Anfänge handelt, sodass NROs in unseren Interviews die Bedeutung des GEAS bisher oft als marginal darstel-
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len. Auf Malta zeigt sich insbesondere bezüglich der Richtlinie über Aufnahmebedingungen ein Umdenken: Auf Druck vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und diverser NROs plant Malta eine Reform im Bereich Service und Unterbringung, um nach massiver Kritik europäischen Standards gerecht zu werden. Aufgrund der Knappheitssituation auf Malta ist man im Besonderen auch von Regierungsseite bemüht, diese Kooperation in Hinblick auf Servicestandards weiter auszubauen, um so knappe Ressourcen möglichst effizient einzusetzen. Die im Rahmen des MAREM-Projektes geführten Interviews bestätigen dies und zeigen auch, dass maltesische Behörden wie AWAS durchaus eine ähnliche Zielsetzung wie NROs haben können (menschenwürdige Unterbringung Asylsuchender, angemessene Versorgungslage etc.). Allerdings zeigt sich die Regierungshaltung bezogen auf die Implementierung von GEAS als sehr ambivalent. Insbesondere im Feld der unmittelbaren Bereitstellung von Unterbringung und Service besteht ein großer Wille zur Kooperation, anders verhält sich die Situation bezogen auf die Asylverfahren und die Anerkennung von Flüchtlingen. Während bei der Einhaltung der Asylverfahrensrichtlinie von Regierungsseite zumindest Wille zur Kooperation signalisiert wird, scheint dieser Wille zur Kooperation spätestens mit der Anerkennungsrichtlinie sein Ende gefunden zu haben. In Malta obliegt die Bewertung von Asylanträgen dem Amt des Flüchtlingsbeauftragten, dieser betonte im Interview immer wieder seine alleinige Entscheidungsgewalt. bzw. beschränkt seine Kooperation nach eigenen Angaben auf den UNHCR. Gleichermaßen gibt es kaum Möglichkeit, gegen die Entscheidungen des Flüchtlingsbeauftragten anzugehen: Juristischer Beistand ist mit hohen Kosten verbunden und die Unterstützungsmöglichkeiten von NROs sind stark begrenzt. Es zeigt sich der klare Wunsch der Regierung, im Hinblick auf Asylverfahren sich nicht weitergehend auf Kooperation in Netzwerken zu orientieren. Das Netzwerken mit anderen würde an dieser Stelle lediglich einen Machtverlust für die staatlichen Entscheidungsstellen bedeuten, eine Anreizsituation für Kooperation im Feld der Asylverfahren ist – wie in den meisten EU-Mitgliedsstaaten – nicht gegeben. Die unzureichende Umsetzung von GEAS zeigt sich wohl am drastischsten in der spezifischen und kritisch zu hinterfragenden Implementierung der Anerkennungsrichtlinie. Eine überwältigende Mehrheit der Asylsuchenden auf Malta ist – ähnlich
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wie in anderen EU-Mitgliedsstaaten – lediglich subsidiär geschützt, d.h. genießt kein Asyl, sondern kann jederzeit wieder in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden. Malta verfügt über eine hohe Prozentzahl an anerkannten Flüchtlingen, um sich etwaiger Kritik zu entziehen, nutzt dabei jedoch in den meisten Fällen den subsidiären Schutzstatus. Zusammenfassend ist die tatsächliche Implementierung von GEAS auf Malta noch in der Entwicklung. Beobachtete Reformen gingen häufig auf Initiativen von NROs zurück, was wiederum die positive Wirkungsweise und den Mehrwert von Vernetzung unterstreicht. Offen bleibt an dieser Stelle die Frage, ob das GEAS selbst eine Handlungsmotivation für NROs darstellt oder ob es nur indirekt von diesen Initiativen profitiert. Gleichzeitig zeigen sich auch starke Beschränkungen des Netzwerkpotenzials: Die Regierung kooperiert zwar in den Bereichen Service und Unterbringung, zeigt aber – wie die meisten europäischen Regierungen - kein Interesse für Zusammenarbeit hinsichtlich der Transparenz von Entscheidungen. Dieses Verhalten ist in Hinblick auf die Dublin-Verordnung als Bestandteil des GEAS in Kombination mit den Einschränkungen hinsichtlich Ressourcen, Fläche und Handlungsfähigkeit Maltas keineswegs verwunderlich. Insbesondere an der maltesischen Situation zeigt sich, dass die wesentliche Frage nicht ist, ob GEAS überall umfassend funktioniert. Dass das MAREM-Projekt leitende Erkenntnisinteresse ist vielmehr, an welchen Stellen es zu funktionieren beginnt, welche Bestandteile nicht funktionieren und warum sie dort nicht funktionieren. In Teilen lässt sich dies nun relativ leicht beantworten: GEAS funktioniert vor allem dort, wo Zielsetzungen geteilt werden: Dies findet in Malta in erster Linie innerhalb der Richtlinie zu Aufnahmebedingungen statt und spiegelt sich in diversen Reformen wider. Hier lassen sich die große Bedeutung organisationaler Netzwerke sowie das Teilen von Verantwortung und Aufgaben in Malta beobachten. Allerdings zeigt sich auch, dass die Dublin-Verordnung, angewandt auf einen Staat wie Malta, eine Dysfunktionalität entwickelt, mit welcher auch die Implementation weiterer Bestandteile des GEAS in Gefahr geraten. Auf Malta zeigt sich insbesondere, dass das Fehlen von EU-weiten Mechanismen der Ressourcen- und Verantwortungsteilung vor allem kleinere und von Schutz suchenden überproportional häufig aufgesuchte Staaten vor solch große Probleme stellt, dass alle wesentlichen Elemente des GEAS nur mehr halbherzig oder gar nicht umgesetzt werden (können). Wird das Prinzip einer europäischen Aufgabenverteilung im Flüchtlingsschutz nicht im
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Konsens weiterentwickelt und übernehmen andere Staaten weiterhin nur unzureichend maltesische Lasten, so wird auch in Zukunft eine Vereinheitlichung der Verfahren und die damit verbundene Implementierung von GEAS mehr „talk“ als „action“ bleiben.
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Interviews M101 M102 M103 M104 M105 M106 M107
Länderbericht Griechenland T OBIAS B REUCKMANN , J ULIA F ÜRUP , J USTINA N IEDZIELA
1. E INLEITUNG Das vorliegende Kapitel widmet sich dem griechischen Asylsystem und den daraus folgenden Implikationen für die Arbeit und Netzwerke dort ansässiger asylbezogener Organisationen. Durch seine geografische Lage nimmt Griechenland eine besondere Stellung ein, da viele Migranten sowie Asylsuchende über Griechenland in die Europäische Union einreisen, das Land jedoch meist als Zwischenstation auf ihrer Reise in nördliche EUMitgliedsstaaten nutzen (ECHO 2016). Griechenland ist eine Republik in Südosteuropa und erstreckt sich über eine Gesamtfläche von 131.957 km². Auf dieser Fläche leben ca. 11 Millionen Menschen (Eurostat 2016a). Der Tourismus ist für Griechenland der wichtigste Wirtschaftsfaktor (16,4 % des BIP), gefolgt von der Industrie (12,6 %). Im Zeitraum von 2008 bis 2013 weist die griechische Wirtschaft aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise ein negatives Wachstum auf. Der Tiefpunkt ist 2011 mit einem Wirtschaftswachstum von -8,9 % erreicht. Seit 2008 ist das BIP im Jahr 2014 erstmals wieder positiv. Für 2015 wird erneut eine leicht negative Wachstumsrate des BIP verzeichnet (-0,2 %) (Eurostat 2015a). Aufgrund der Finanz- und Schuldenkrise seit 2008 sind aktuell ca. 27 % der Gesamtbevölkerung erwerbslos, wobei hervorzuheben ist, dass die Jugenderwerbslosigkeit bei ca. 58 % liegt (Eurostat 2015b). Im Jahr 2015 lebten 822.000 ausländische Staatsangehörige in Griechenland, diese machen 7,6% der Gesamtbevölkerung aus (Eurostat 2016b).
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Seit Januar 2015 stellt die Regierung des Landes die Partei Syriza mit Ministerpräsident Alexis Tsipras. Im August wurde seine Amtszeit aufgrund seiner Rücktrittserklärung kurzzeitig unterbrochen, in den Neuwahlen konnte er sich jedoch durchsetzen und wurde erneut griechischer Ministerpräsident (Bpb 2015). Vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise und deren Folgen steht Griechenland insbesondere angesichts steigender Flüchtlingszahlen vor immensen Herausforderungen (ebd.). Neben der allgemeinen Frage nach den Kooperationsnetzwerken der flüchtlings- und asylbezogenen arbeitenden Organisationen und deren Beurteilungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wird im vorliegenden Kapitel untersucht, welche Änderungen durch die neue Regierung bereits vorgenommen wurden, wie sich diese auf das griechische Asylsystem auswirken und wie mit Migranten, Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlingen auf politischer sowie gesellschaftlicher Ebene umgegangen wird und wie diese sozial und finanziell unterstützt werden.
2. F LUCHT
UND
ASYL IN G RIECHENLAND
2.1 Geschichte und gegenwärtige Lage Die Entwicklung der Ein- und Auswanderungszahlen in Griechenland zeigt, dass das Land lange Zeit ein Auswanderungsland war. In der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierten griechische Staatsbürger vor allem nach Nordeuropa, in die USA und nach Australien. Während in den 1950er Jahren etwa 220.000 Personen Griechenland verließen, stieg diese Zahl in den 1960er Jahren auf 406.000 Personen an. Erst ab den 1970ern zeigte sich eine positive Migrationsbilanz (Triandafyllidou 2014: 1). Bis Anfang der 1990er Jahre gab es keinen Rechtsrahmen, der die Migration in Griechenland regelte. Als dann in dieser Zeit die Zahl der Einwanderer vor allem aus den Nachbarstaaten und von Menschen mit griechischen Vorfahren aus der ehemaligen Sowjetunion stark anstieg, wurde 1991 erstmalig ein Gesetz zur Steuerung der Migration verabschiedet. Dieses schrieb strengere Grenzkontrollen vor und erschwerte arbeitssuchenden Ausländern die Einreise. Trotz dieser strengen Gesetze setzte sich die Einwanderung fort. So stieg Mitte der 1990er Jahre die Zahl der nichtdoku-
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mentierten Ausländer geschätzt auf 500.000 an. Aufgrund der nun meist irregulären Migration wurde 1997 das erste Regulierungsprogramm verabschiedet, welches 1998 in Kraft trat. 2001 folgte ein Migrationsgesetz (Triandafyllidou 2014: 2f). Auch aktuell erfährt Griechenland größere Migrationsbewegungen, wobei weiterhin die irreguläre Migration von großer Bedeutung ist. Laut Eurostat (Eurostat 2015c) wurden 2013 ca. 42.615 „Drittstaatenangehörige mit illegalem Aufenthalt“ in Griechenland registriert, im Jahr 2014 sind mit 73.670 mehr als 30.000 Menschen hinzugekommen. Die Zahl der „Drittstaatenangehörigen, denen die Einreise an der Außengrenze verweigert wurde“, hat sich von 2008 bis 2014 von 2.055 auf 6.500 Menschen nahezu verdreifacht (Eurostat 2015d). Hingegen hat sich die Zahl der zur „Ausreise aufgeforderten Drittstaatenangehörigen“ seit 2008 (146.335 Menschen) bis 2014 (73.670 Menschen) so gut wie halbiert, wobei die Zahl nach einem Rückgang in 2012 und 2013 erneut kontinuierlich ansteigt (Eurostat 2015e). Griechenland hat im Vergleich zu den anderen abgebildeten Ländern mit Abstand die niedrigste Anerkennungsquote. Da Griechenland für seine schlechten Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen und die niedrige Anerkennungsquote bekannt ist, nutzen viele Schutzsuchende das Land lediglich als Eingangstor und Transitland zur Europäischen Union, um in andere europäische Länder zu gelangen und dort Asyl zu beantragen (Echo 2016). Während die Anerkennungsquote von 2008 bis 2012 auf niedrigem Niveau stagnierte, steigt sie seit 2013 an. Dies könnte auf die leichte Verbesserung des Asylsystems ab 2013 zurückzuführen sein. Bis Mitte des Jahres 2015 stieg die Anerkennungsquote auf 50 %, dabei handelte es sich vor allem um Asylsuchende aus Syrien (Hellenic Republik 2015). Die Entwicklung dieser Zahlen hängt insbesondere mit rechtlichen und politischen Dynamiken innerhalb des griechischen Staates zusammen. Im Folgenden werden sie näher betrachtet.
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2.2 Das nationale Flucht- und Asylregime und sein Verhältnis zu GEAS Für die Geschichte des Asylsystems in Griechenland ist das Jahr 2011 von großer Bedeutung, denn vorher gab es faktisch kein Asylsystem. Schutzsuchende waren mit schweren Menschenrechtsverletzungen konfrontiert. Es fehlte an Einrichtungen, um einen Asylantrag zu stellen und Asylsuchende wurden systematisch inhaftiert und in unangemessenen Haftanstalten, sogenannten Detention Camps, untergebracht (HRW 2011: 1; ECHR 2011: 8). Bereits 2007 berichtete PRO ASYL über die fragwürdigen Bedingungen für Schutzsuchende in Griechenland. Auch andere NROs, Gerichte und die Öffentlichkeit übten Kritik und Druck aus. Infolgedessen beschäftigten sich das griechische und das Europäische Parlament mit der Situation (HRW 2011: 1). Dabei wurden systematische Mängel festgestellt. Da der griechische Staat die Dublin-Richtlinien im Hinblick auf die rechtliche Garantie einer sorgsamen Überprüfung der Asylanträge nicht ausreichend umgesetzt hat und es Missstände im Asylsystem gab, leitete die Europäische Kommission im Jahr 2009 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland ein, ein Fall gelangte zum Europäischen Gerichtshof (Triandafyllidou 2014: 9). Nach dessen Entscheidung wurden Rücküberstellungen von Schutzsuchenden nach Griechenland entsprechend der Dublin-Verordnung ausgesetzt, da Griechenland die Sicherheit der Betroffenen nicht gewährleisten konnte (ECHR 2012: 27). Griechenland ist somit seit 2011 von dem Dublin-System ausgeschlossen. In Deutschland traf ein Verwaltungsgericht in Frankfurt am Main bereits 2009 eine Einzelfallentscheidung, nach der ein über Griechenland nach Deutschland eingereister Iraner, dessen Asylgesuch mit Verweis auf das Dublin-System in Deutschland zurückgewiesen wurde, nicht nach Griechenland überführt werden durfte. Das Frankfurter Verwaltungsgericht begründete seine Entscheidung damit, dass in Griechenland keine gesetzeskonformen Asylverfahren garantiert werden können (FAZ 2009). Das griechische Parlament reagierte 2011 auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs mit der Verabschiedung des Gesetzes 3907/2011. Es soll das griechische Asylsystem in Einklang mit internationalem und eu-
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ropäischem Recht bringen. Zudem regelt es die Implementierung von zwei getrennten Asylbehörden, einem Hauptzentrum in Athen, dem Asylservice und regionalen Erstaufnahmezentren in den Grenzgebieten sowie mobilen Erstaufnahmeeinheiten. Seit 2013 ist das neue Verfahren in Kraft getreten und seither operiert das erste Erstaufnahmezentrum in der Evros-Region. Zudem regelt das Gesetz die Prozedur und Dauer des Asylverfahrens (Triandafyllidou 2014: 9). Ferner ist die Ausgliederung der Polizei aus dem Asylverfahren elementarer Bestandteil des verabschiedeten Gesetzes (AIDA 2015: 21). Sie wurde größtenteils durch professionelles Personal ersetzt, das vom United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) und European Asylum Support Office (EASO) ausgebildet wird und im Rahmen des Asylservice die eingereichten Asylanträge bearbeitet (ebd.: 27). Die Veränderung des Asylsystems wird durch den Ausbau der Grenzkontrollen an der griechisch-türkischen Grenze begleitet. Im Rahmen der „RABIT-Operation“ (Rapid Border Intervention Teams) wurde eine Interventionstruppe der europäischen Grenzagentur FRONTEX von November 2010 bis März 2011 an der griechisch-türkischen Grenze eingesetzt, um die griechischen Behörden bei der Grenzkontrolle zu unterstützen und Analysen über die Migrationsströme und -routen zu erstellen. Der Interventionstrupp besteht aus 175 speziell ausgebildeten Grenzschützern aus verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten. Des Weiteren wurde mit der „Aspida“Operation (Schutzschild-Operation) im Jahr 2012 die Grenzkontrolle als Reaktion erhöhten Drucks seitens der EU erneut verstärkt. 1.800 zusätzliche Grenzschützer wurden an die Grenze zur Türkei entsendet (Triandafyllidou 2014: 9), hinzu kommt das Fertigstellen eines 12,5 km langen Grenzzauns zwischen der Türkei und Griechenland in der Evros-Region im Jahr 2012. Diese Maßnahmen führten dazu, dass die Zahl der irregulären Grenzübertritte an der Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei zurückgingen, die sich anschließend jedoch lediglich auf den deutlich risikoreicheren Seeweg in der Ägäis verlagerten (fr-online 2014: o. S.). Eine weitere Maßnahme zur Vorbeugung gegen irreguläre Migration wurde im August 2012 mit der Operation „Xenios Zeus“ durchgeführt. Diese bezog sich jedoch zu einem großen Teil auf die Situation im Inland. Dabei wurden fünf Abschiebelager errichtet, die maximale Haftdauer erhöhte sich von den im GEAS vorgeschriebenen sechs Monaten auf 18 Monate. Im Großraum Athen und der Evros-Region fanden von der Polizei durchge-
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führte Razzien mit dem Ziel statt, Asylsuchende und irreguläre Migranten, die keine oder ungültige Dokumente besitzen, festzunehmen und abzuschieben (Pro Asyl 2014:17). „Die riesige ‚Säuberungsaktion‘ gegen Geflüchtete hat zu Verhaftungen von tausenden unerwünschten Ausländern und Massendeportation von Migranten und Asylsuchenden in ihre Herkunftsländer geführt. Das dabei oft gewaltbereite Vorgehen der griechischen Polizei und die menschenverachtenden Bedingungen in den Auffanglagern wurde von vielen Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert“ (Cardoso 2013: 1).
Aufnahme von Asylsuchenden und Flüchtlingen Im Jahr 2015 ist die Zahl ankommender syrischer Flüchtlinge, bedingt durch den anhaltenden Konflikt im Herkunftsland, massiv gestiegen und verschärft damit die griechische Asylsituation. In 2015 kamen täglich ungefähr 1.000 Schutzsuchende auf den griechischen Inseln an. Aus Syrien stammen 60 % der Personen, der Rest aus anderen Krisengebieten, vor allem Afghanistan, Irak, Eritrea und Somalia. Im Jahr 2015 sind insgesamt 856.723 Schutzsuchende in Griechenland angekommen (UNHCR 2016). Obwohl sich die Aufnahme- und Unterbringungssituation von Asylsuchenden und Flüchtlingen seit 2011 langsam verbessert, überfordern diese hohen Zahlen das unzureichend ausgestattete griechische Asylsystem. Die griechische Regierung kann auf diese Situation kaum angemessen reagieren, da auch die Finanzkrise das Land stark belastet. Besonders auf den griechischen Inseln - dort, wo Schutzsuchende hauptsächlich ankommen herrscht eine humanitäre Krise: „Die meisten der 61.474 auf den Inseln ankommenden Migranten haben begrenzten Zugang zu medizinischer oder humanitärer Versorgung und sehen sich mit überfüllten und unhygienischen Bedingungen in den Aufnahme- und Abschiebelagern konfrontiert […]. Die Zustände in den Einrichtungen wie z.B. verschmutzte Betten und überlaufende Toiletten, Stromausfälle und fehlendes heißes Wasser, befinden sich deutlich unter internationalen und nationalen Standards und münden in inhumanen und erniedrigenden Lebensbedingungen […]. Es existieren lediglich zwei Aufnahmeeinrichtungen, auf den Inseln Lesbos und Samos, wo die Migranten registriert sowie medizinisch und psychisch betreut werden können. Die Dienstleistungen sind
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unterbesetzt und am Wochenende, bis auf die Polizei, überhaupt nicht mit Personal ausgestattet […]“ (Westscott 2015: o.S., nach eigener Übersetzung).
Humane Aufnahmebedingungen für Asylsuchende sind in den Unterbringungslagern meistens nicht gegeben. So zum Beispiel die zuvor erwähnte Unterbringung in Haftanstalten, obwohl die GEAS-Richtlinien vorsehen, „dass die Inhaftierung nur als letztes Mittel zum Einsatz kommt“ (Europäische Kommisson 2014: 3). Da die hygienischen Bedingungen und die Luftzirkulation in diesen Unterbringungen sehr schlecht sind und es kein heißes Wasser gibt, sind die Menschen von Erkrankungen der Atemwege, des Magen-Darmtraktes und der Haut betroffen (MSF 2015a: o. S.). Außerdem sind die Menschen dort Gewalt und Misshandlungen durch das unausgebildete Personal ausgeliefert. Die lange Inhaftierung bis zu 18 Monate sowie die schlechten Bedingungen führen zu schweren physischen und psychischen Schäden bei den Inhaftierten.1 Stimmung in der Bevölkerung Vermutlich bedingt durch die Operation „Xenios Zeus“ und die daraus resultierende Dynamik in Griechenland stiegen rassistisch motivierte Angriffe auf Asylsuchende und Migranten durch private Personen an. Die Situation verschlechterte sich seit 2008 weiter durch die anhaltende Wirtschaftskrise (Cabot 2014: 18). Das harte Durchgreifen der griechischen Regierung gegenüber Schutzsuchenden und die fremdenfeindliche Haltung der Öffentlichkeit bedingen sich gegenseitig. Rassistische Ressentiments und Handlungen in der Bevölkerung wurden durch griechische Politiker befeuert, die beispielsweise von einer „Invasion“ durch Flüchtlinge sprachen (Pro Asyl 2012). Auch bei der Wahl 2012 spiegelt sich der gestiegene Rechtsextremismus wider: Zum ersten Mal gelang es der rechtsextremen Partei Goldene Morgenröte, in das griechische Parlament einzuziehen, sie erhielt sieben Prozent der Stimmen (Cardoso 2013: o. S.). Vor allem Asylsuchende aus Syrien, die teilweise in Schnellverfahren eine Anerkennung als Flüchtlinge erhalten, sehen sich Anfeindungen durch andere Asylsuchende ausgesetzt, wie Mogiani (2016) beschreibt: 1
Für mehr Infos zum Thema Detention: Bericht von MSF „Invisible Suffering“: http://www.msf.org/sites/msf.org/files/invisible_suffering.pdf
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„Seit Dezember 204 profitieren syrische Asylsuchende von einem Schnellverfahren, welches den Asylantrag innerhalb eines Tages bearbeitet. Es ist nicht überraschend, dass dies Vorurteile unter den Menschen erzeugt, die in Griechenland um Asyl bitten“ (Mogiani 2016: 51, nach eigener Übersetzung).
Seit die linke Partei SYRIZA die Politik im griechischen Parlament bestimmt, ändert sich jedoch der Diskurs und die Stimmung gegenüber Schutzsuchenden in Griechenland. Dies impliziert sowohl die konkreten Maßnahmen wie das Asylverfahren, jedoch auch die Kommunikation über und gegenüber Migranten und Asylsuchenden (Katsiaficas 2015: 2 f.). Dass es durchaus auch andere Meinungen in der griechischen Bevölkerung gibt, beweist die Solidarität und Hilfsbereitschaft im griechischen Idomeni oder auch auf Inseln wie Kos und Lesbos, nachdem dort Schutzsuchende aus der Türkei über die Ägäis angekommen sind. 2.3 Asylsuchende und Asylverfahren Verfahrensdauer, Antragszahlen und Wandlungstendenzen Nachdem die Asylbehörde in Athen und neun weitere Außenstellen seit über einem Jahr tätig sind, wurden Anfang 2015 schon Erfolge wahrgenommen: Die Verfahrensrichtlinie wurde besser beachtet, Schutzsuchende erhalten rechtliche, soziale und psychologische Unterstützung. Es standen mehr Dolmetscher zur Verfügung, wenn auch noch nicht ausreichend viele. Konnte das Asylverfahren vorher bis zu 18 Monate betragen, dauert es 2015 durchschnittlich 79 Tage bis zur Entscheidung in erster Instanz, und im Fall eines Widerspruchs gegen den Entscheid wurde nach 45 Tagen eine zweite Entscheidung getroffen (SVR 2015: 73f.). Die Verbesserungen spiegeln sich auch auf lange Sicht wider: Insgesamt beherbergt Griechenland im Jahr 2015 13.205 Asylbewerber (Eurostat 2016c: 2). Die absolute Zahl ist im Vergleich zu den anderen Mittelmeeranrainerländern wie Zypern und Malta hoch (in Spanien besitzt sie ein ähnliches Niveau), in Italien wurden 2015 deutlich mehr Anträge (83.245) gestellt. 5.875 Anträge wurden positiv beschieden, dabei bekamen 5.020 Personen einen Flüchtlingsstatus, 705 erhielten subsidiären Schutz, 150 wurden aufgrund von humanitären Gründen aufgenommen. Die Anerkennungsrate lag somit bei rund 42 %. Die meisten anerkannten Flüchtlinge im gesamten Jahr 2015 kamen mit 3.160
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angenommenen Anträgen aus Syrien, danach aus Afghanistan mit 800 Anträgen und Irak mit 370 Anträgen. Die Anerkennungsquoten lagen bei 53,8 % (Syrien), 13,6 % (Afghanistan) und 6,3 % (Irak) (Eurostat 2016d: 2 ff.). Die neue Regierung möchte dem langen Trend der politischen Untätigkeit und des Desinteresses gegenüber Asylsuchenden und Migranten etwas entgegensetzen. Dabei ist ein übergeordnetes Ziel, die Inhaftierungslager zu schließen, sie hat bereits im März begonnen, Menschen aus der Haft zu entlassen. Zudem haben sie die sogenannten „Push-Backs“ gestoppt. Sie waren in den letzten Jahren ein Beispiel für die Abwehrpolitik Griechenlands gegenüber Schutzsuchenden, bei der auch nicht auf Gewalt verzichtet wurde (AIDA 2015: 14).
3. K OOPERATIONEN UND N ETZWERKE ASYL - UND FLÜCHTLINGSBEZOGENER O RGANISATIONEN Jeweils im März 2014 und 2015 wurden in der griechischen Hauptstadt Athen Interviews mit Experten verschiedener Organisationen geführt. Vier davon wurden mit Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen (AITIMA, Medecins Sans Frontiers (MSF), Amnesty International und ein soziales Zentrum) geführt, weitere mit einer zwischenstaatlichen Organisation (IOM) und einem Forschungszentrum (Antigone). Der Großteil der Organisationen operiert international, die meisten agieren im vorliegenden Fall jedoch lokal durch die in Griechenland ansässigen Zweigstellen. Weitere Charakteristika können der Tabelle 1 entnommen werden. Zunächst werden zwei Organisationen und deren Arbeit vorgestellt und im zweiten Teil alle sechs Organisationen in Bezug auf die Aspekte GEAS und Kooperationen verglichen. Im Anschluss wird das Kooperationsnetzwerk analysiert. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) ist eine der führenden Organisationen im Migrationsgeschehen weltweit. Als zwischenstaatliche Organisation kann sie uns andere Einblicke bieten, als NROs alleine. Des Weiteren haben wir uns entschieden, die Organisation MSF näher zu beschreiben, da man an deren Arbeit erkennen kann, dass NROs eine wesentliche Rolle bei der Implementierung von GEAS-Normen spielen.
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Tabelle 1: Asyl- und flüchtlingsbezogene Organisationen und ihre Charakteristika
2014
2015
AITIMA
Organisationsform
Werte und Normen
NRO
Menschenrechte / Humanitäre Werte lokal
IRO IOM
Legitimationsfeld
Menschenrechte / Humanitäre Werte international
Amnesty International
NRO
Menschenrechte / Humanitäre Werte international
Afghan Community
NRO
Menschenrechte / Solidarität regional
IMEPO
NRO
Objektivität
national
Social Center
NRO
Politisch
lokal
NRO
Menschenrechte / Humanitäre Werte international
NRO
Menschenrechte / Humanitäre Werte international
Ärzte ohne Grenzen
Antigone
Hauptanliegen Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Rechtsbeistand, Monitoring, Bildung Asylbewerber und Flüchtlinge: Koordination, Orientierung, Familiennachzug, Aufnahme Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Humanitäre Hilfe, Monitoring Hilfe, Monitoring Asylbewerber und Flüchtlinge: Integration & Soziales Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Bildung, Forschung, Aufklärung Asylbewerber und Flüchtlinge: Integration & Soziales Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Humanitäre Hilfe, Medizinische Versorgung Vielfältig u.A. Asylbewerber und Flüchtlinge: Aufklärung, Rassismus- und Gewaltprävention
Quelle: Experteninterviews und Homepage-Analysen im Rahmen des MAREMProjekts 2014-2015, eigene Darstellung mit der Software Visone.
3.1 Beispiel 1: International Organisation for Migration (IOM) Das erste Experteninterview, das in Athen geführt wurde, fand mit der internationalen zwischenstaatlichen Organisation IOM statt. Sie ist die führende Organisation im Bereich Migration, wurde 1951 gegründet und kooperiert eng sowohl mit der griechischen Regierung, als auch mit Nichtregierungsorganisationen. Sie ist weltweit in 150 Ländern mit 480 Einsatzorten und mehr als 9.000 Mitarbeitern vertreten. Ein Hauptbestandteil ihrer
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Arbeit ist es, Menschen, die aufgrund von Konflikten im Heimatland auf der Flucht sowie auf der Suche nach Schutz sind, humanitäre Hilfe anzubieten. IOM setzt sich für die internationale Kooperation im Migrationsgeschehen ein und versucht, Lösungsansätze für die damit verbundenen Probleme zu finden. Ihre Arbeit wird sowohl aus staatlichen als auch privaten Mitteln finanziert. Zusätzlich wirbt IOM „für internationale Kooperation in Migrationsangelegenheiten, fördert die Suche nach praktischen Lösungsansätzen bei Problemen mit Migration und setzt sich für Migrantinnen und Migranten in Not ein, indem sie ihnen humanitäre Hilfe zukommen lässt, einschließlich Flüchtlingen und intern Vertriebenen“ (IOM 2015: o.S.). Das Büro in Athen verwaltet Sonderfinanzierungshilfen der Aufnahmestellen für Asylbewerber. An erster Stelle steht dabei die Bereitstellung von Fachwissen im Bereich Migration und Asyl für Menschen in Not. Mit dem Projekt „SOAM“ (Supporting Organisation that Assists Migrants asylum seeking population in Greece) möchte IOM die Zusammenarbeit zwischen Hilfsorganisationen und den nationalen Behörden stärken sowie zwischen ihnen vermitteln (Interview G101). Mit dem Projekt „SOAM“, welches stark auf die Einhaltung und Umsetzung der Dublin-Verordnungen orientiert ist, versucht IOM, Minderjährige, die auf der Flucht ihre Familien verloren haben, mit diesen wieder zusammenzubringen sowie dafür standardisierte Abläufe zu schaffen. IOMs weltweite Position begünstigt sie in diesem Prozess. Sie haben die Möglichkeit, Daten zu erheben und somit die Situation umfangreich zu analysieren sowie die Bedingungen der ankommenden Menschen ausführlich zu erfassen. Mit diesem Beitrag ist IOM bemüht, das Asylsystem zu verbessern. Die interviewte Expertin beschreibt, wie im Rahmen des Projektes „SOAM“ das Asylverfahren idealerweise abläuft: Sobald eine schutzsuchende Person in einer so genannten „Erstaufnahmeeinrichtung“ als „unbegleiteter Minderjähriger“ oder „Asylsuchender“ identifiziert wurde, wird diese Information von der zuständigen Behörde zur weiteren Bearbeitung an Ekka (nationales Zentrum für Solidarität) weitergeleitet, die unter anderem dafür zuständig ist, eine Unterkunft für die Antragssteller zu finden. Während des ganzen Prozesses ist der Informationsaustausch essentiell. Nicht nur die Kooperation mit der hier beschriebenen staatlichen Struktur ist für die Organisation von großer Bedeutung, sondern auch die Zusammenarbeit mit NROs ist für die Umsetzung des Projekts „SOAM“ ausschlaggebend, da diese die dazugehörigen Maßnahmen, die für Schutz, Un-
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terstützung und Hilfe notwendig sind, abdecken. Die Menschen bleiben solange in der Obhut der Organisation, bis sie den Status eines anerkannten Flüchtlings haben. Währenddessen werden die Individuen bei der Beantragung der Arbeitserlaubnis und der Suche nach einer Unterkunft unterstützt, danach besteht kein weiterer Kontakt zu den Betroffenen (Interview G101). 3.2 Beispiel 2: Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) Ein weiteres Interview wurde mit der Organisation MSF geführt. MSF ist eine international aktive medizinische und humanitäre NRO. Sie ist selbstverwaltet und nicht gewinnorientiert. Gegründet wurde sie 1971 von Ärzten und Journalisten in Frankreich. Seit 1996 bietet MSF medizinische und humanitäre Hilfe für Migranten und Asylsuchende in Griechenland. Das griechische Büro in Athen bezieht seine Ressourcen vollständig aus privaten Quellen, um unabhängig arbeiten zu können (MSF 2015b: o. S.; Interview G103). Hauptsächlich leistet MSF medizinische Hilfe für Menschen in Not, insbesondere Migranten, Asylsuchende und Flüchtlinge. Dabei unterscheiden MSF-Mitarbeitenden nicht zwischen diesen Kategorien, sie bezeichnen all diese Menschen als „People on the Move“ (Menschen in Bewegung). Diese Menschen werden nicht nur im Ankunftsland, sondern auch in den Herkunfts- und Transitländern von MSF unterstützt. Während sie auf der einen Seite medizinische, psychische, juristische und soziale Unterstützung für die aufgezählten Personengruppen bereitstellen, üben sie andererseits auch Druck auf die griechische Regierung aus, damit diese die Verantwortung für die Menschen übernimmt, beispielsweise veröffentlichen sie Berichte über die Zustände in den Haftanstalten oder über Push-Backs (wobei es sich um eine völkerrechtswidrige Praktik von Grenzschutzakteuren, Schiffe bei Eintritt in das Hoheitsgebiet des jeweiligen Landes zum Umkehren zu zwingen, handelt). Seit der Schließung der griechischen Landgrenzen im Jahr 2012 stieg die Zahl der auf den griechischen Inseln ankommenden Menschen um 300 bis 700 % an. Der größte Teil der Schutzsuchenden kommt aus Syrien, darunter auch immer mehr Familien und ältere Menschen. Entsprechend der GEAS-Verordnungen sind die Mitgliedsstaaten zur Bereitstellung von Erstaufnahmeeinrichtungen verpflichtet, damit alle Asylsuchenden einen Asylantrag stellen können. Dabei sollen
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„humane materielle Aufnahmebedingungen für Asylsuchende“ gewährleistet sein (Europäische Kommission 2014: 3). Dies schließt auch das sogenannte „Screening“ ein, also die medizinische Untersuchung der Menschen. Da jedoch im Jahr 2014 lediglich 20 Prozent der ankommenden Personen in Griechenland in einer Erstaufnahmeeinrichtung registriert und untersucht wurden (Interview G103), ist es deutlich, dass die staatlichen Kapazitäten nicht ansatzweise ausreichen. Deshalb hat MSF auf den griechischen Inseln, den Hauptankunftsstellen der Schutzsuchenden, mobile Kliniken eingerichtet. Dort bieten sie den Menschen medizinische Soforthilfe an und versorgen sie mit den nötigsten Hilfsgütern: Zahnbürsten, Seifen, Handtücher und Schlafsäcken, um ein Mindestmaß an Hygiene zu ermöglichen (MSF Deutschland 2015: o.S.). MSF ist spezialisiert auf medizinische Hilfe, jedoch, um eine vollständige Versorgung bereitstellen zu können, auf die Kooperation mit anderen Organisationen angewiesen. Um den Menschen einen guten Service zu bieten, sind der Informationsaustausch zwischen den Organisationen und die Pflege des Kooperationsnetzwerkes elementar. Da die Kooperationspartner von MSF zu 99 Prozent lokal sind, wünschen sie sich mehr internationale Kooperation, was für Griechenland als Mitgliedstaat der EU mit einem angestrebten gemeinsamen Asylsystem unverzichtbar ist. Aktuell sind die einzigen international vernetzten Kooperationspartner von MSF IOM und UNHCR (Interview G103). MSF kooperiert ebenfalls mit staatlichen Organisationen, da der Staat die Hauptrolle im Asylsystem spielt. Einerseits muss MSF deshalb mit dem Staat zusammenarbeiten, andererseits ihn auch kritisieren und Druck ausüben, um Veränderungen im Asylsystem zu erwirken: „Die Kooperation mit staatlichen Organisationen bringt uns in einen Konflikt, denn zunächst wollen wir kein Teil des Systems sein, das wir für die schlechte Situation in dem Land verantwortlich machen. Die Schwierigkeit ist für uns, festzulegen, wie weit wir Teil des Systems sind“ (Interview G103, nach eigener Übersetzung).
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3.3 Flüchtlings- und asylbezogene Netzwerke in Griechenland Prinzipiell nehmen IOM und MSF unterschiedliche Rollen in der Implementierung und vor allem in der Durchführung des griechischen Asylsystems und des GEAS ein. Während IOM maßgeblich an der Durchführung der Registrierung und nachstehenden organisatorischen Tätigkeiten wie der Bereitstellung von Unterkünften und dem Vermitteln von Arbeitsplätzen beteiligt ist, macht MSF sich zum Ziel, grundlegende medizinische und weitere Versorgung bereitzustellen, die der griechische Staat in vielen Fällen nicht leistet. Dabei spielen in beiden Fällen die Kooperationsnetzwerke eine große Rolle, in denen die beiden herausgestellten Organisationen eine entscheidende Rolle zur Implementierung und Aufrechterhaltung einnehmen. IOM agiert dabei eher auf internationaler und staatlicher Ebene, während MSF in lokalen Netzwerken involviert ist. Während sich IOM weniger kritisch gegenüber dem griechischen Staat und der EU äußert, sieht sich MSF grundlegend in der Position, eine durchaus kritische Haltung demgegenüber einzunehmen. Durch ihre finanzielle Unabhängigkeit von staatlichen Organisationen ist MSF in der Lage, politischen Druck auszuüben und grundsätzlich auf Missstände aufmerksam zu machen, was zum politischen Prozess innerhalb des organisationalen Feldes und der Öffentlichkeit beiträgt. Abschließend lässt sich sagen, dass die beiden in den Blick genommenen Organisationen einen entscheidenden Beitrag im griechischen Asylsystem und vor allem beim Ausgleich von dessen ressourcentechnischen Unzulänglichkeiten leisten. Ihre Netzwerke sind für eine erfolgreiche Arbeit ausschlaggebend. Trotz der knappen Ressourcen und der fehlenden Unterstützung der griechischen Regierung (Interview G101; Interview G102; Interview G103) arbeiten und kooperieren die asylbezogenen Organisationen miteinander und kreieren ihr eigenes Netzwerk. Mitarbeiter von Amnesty International zum Beispiel bieten schutzbedürftigen Menschen keine rechtliche Unterstützung, weil sie nicht die Mittel dazu haben, aber vermitteln diese zur weiteren Hilfe an eine Organisation, die dafür zuständig ist, in diesem Beispiel The Group of lawyers (Juristengruppe), mit denen sie kooperieren. Dazu gehören unter anderem UNHCR, AITIMA, GCR und LATHRA. Auch MSF betont, dass die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen sehr
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wichtig sei. MSF versucht, auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen, doch liegen die Aufgabenbereiche der Organisation in erster Linie in der medizinischen Versorgung. Darüber Hinausgehendes leiten sie ebenfalls an andere Organisationen weiter, wie zum Beispiel The Greek Council for Refugees, der sich um den rechtlichen Handlungsrahmen für Flüchtlinge kümmern. So entstehen hauptsächlich nur auf kommunaler Ebene Kooperationsnetzwerke. Die Netzwerke der interviewten Organisationen sind in der folgenden Visualisierung dargestellt (s. Abb. 1). Abbildung 1: Visualisierung der Kooperationen und Netzwerke asyl- und flüchtlingsbezogener Organisationen in Griechenland
Quelle: Interviews im Rahmen des MAREM Projekts 2014-2015, eigene Darstellung mit der Software Visone.
In der Visualisierung wird deutlich, dass IOM die meisten Kooperationspartner nennt. Dabei handelt es sich insbesondere um staatliche Einrichtungen wie Ministerien: Das Außen- und Innenministerium (Ministry of Foreign Affairs und Ministry of Interior). Des Weiteren werden einige Gemeinden und auch die beiden Asylbehörden First Reception Service sowie Asylum Service als Kooperationspartner genannt. Die eben genannten Ein-
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richtungen werden ausschließlich von IOM als Kooperationspartner genannt, sie stehen damit eher außerhalb des Kooperationsnetzwerkes. Wie bereits erläutert wurde, ist es aber gewünscht, dass die staatlichen Einrichtungen sich mehr in das gesamte Asylsystem einbringen und auch mit den NROs kooperieren. Die NRO Praksis wird sowohl von NROs wie MSF, Antigone sowie Red Cross Greece genannt als auch von IOM und ist somit eine Schnittstelle zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen. Sowohl AITIMA als auch MSF sprechen Praksis eine wichtige Rolle im griechischen Asylsystem zu (Interview G102; Interview G103). In der Netzwerkvisualisierung tauchen auch einige selbstorganisierte Foren und Gemeinden auf, wie zum Beispiel die United African Women und Afghan Comunity. Neben den typischen Organisationsformen (NROs und ROs) stellen sie eine andere Form der Organisation dar. Für viele Schutzsuchende sind sie eine wichtige Anlaufstelle (Interview G102; Interview G104). Als Key-Player sind sowohl UNHCR als auch GCR (Greek Council for Refugees) auszumachen. GCR deckt alle nötigen Bereiche im Asylverfahren ab. Sowohl in wissenschaftlichen, rechtlichen wie auch in humanitären Angelegenheiten stehen sie den Flüchtlingen zur Seite. Die im Januar 2015 neu gewählte Regierung hat begonnen, die systematische Inhaftierung von Asylsuchenden zu beenden, und Schritt für Schritt die Inhaftierungslager zu leeren. Ab März 2015 wurden bereits Menschen aus den Haftlagern entlassen und die maximale Haftdauer auf sechs Monate verkürzt (Interview G103). Damit ist eine tendenzielle Angleichung der Unterbringungsbedingungen von Asylsuchenden im Sinne des GEAS zu beobachten. Geplant sind ebenfalls neue Unterbringungen mit besseren Lebensbedingungen für die Betroffenen in Griechenland. Abkommen mit Inhabern von Hotels und leerstehenden Gebäuden werden bereits getroffen. Sie sollen ausgebaut und zur vorläufigen Unterbringung von Menschen genutzt werden. Dieses Vorhaben wird noch einiges an Zeit und vor allem Geld in Anspruch nehmen (Interview G106). Angesichts der hohen Anzahl von Schutzsuchenden, die aktuell in Griechenland ankommen, ist es jedoch schwierig einzuschätzen, ob sich die Praktik der Verlegung von Flüchtlingen aus den Gefängnissen endgültig durchsetzt. Bezüglich der Asylsituation in Griechenland wird vor allem bemängelt, dass sich Europa und die griechische Regierung der Verantwortung der angemessenen Versorgung von Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlinge bisher entziehen. Die NROs bemühen sich, einen Teil dieser Verantwor-
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tung zu übernehmen, doch dazu reichen ihre Ressourcen, die sie zum Großteil aus privaten Geldern beziehen, bei Weitem nicht aus. Sie bekommen keine Unterstützung vom Staat, außerdem findet auch kein ausreichender Informationsaustausch zwischen ihnen statt (Interview G104; Interview G106), was die Arbeit der NROs sehr erschwert, was diese durch die Bildung von Netzwerken auszugleichen versuchen. IOM hingegen äußert sich als einzige interviewte Organisation gegenteilig. Laut ihren Informationen funktioniert die Kooperation zwischen staatlichen Organen und NROs sehr gut (Interview G101). Die Einschätzungen über das Gemeinsame Europäische Asylsystem reichen von „Es gibt kein Asylsystem in Griechenland und erst recht keins mit der Unterstützung von Europa“ (Interview G104, nach eigener Übersetzung) bis hin zur Meinung, dass es schon ganz gut funktioniert, aber noch einiger Veränderungen bedarf (Interview G101, Interview G106) bzw. dass es sich aktuell um einen „Totalausfall der europäischen Asylservices und Aufnahmeservices“ handelt (Interview G103, nach eigener Übersetzung). Es gibt zwar seit 2011 eine Verbesserung, es existiert jedoch immer noch kein ausreichend funktionierendes Asylsystem. Die Ursache wird vor allem darin gesehen, dass lange der politische Wille zur Veränderung des Asylsystems nicht vorhanden war. Es gibt auch Kritik daran, dass die EU mehr finanzielle Mittel für die Abschottung Europas in Form von Zäunen und Grenzkontrollen aufbringt als für humanitäre Unterstützung (Interview G103). Um die Gesamtsituation der Schutzsuchenden zu verbessern, ist die Gewährleistung legaler Wege der Einreise nach Europa im Sinne eines ganzheitlich europäischen Asylsystems erforderlich. So wäre zum Beispiel die kontrollierte Öffnung des Landweges ein probates Mittel (Interview G106). Darin wird die Chance gesehen, die Erstaufnahme zu verbessern, indem die Menschen noch an der Grenze registriert und von da aus in entsprechende Unterbringungen weitergeleitet werden. Nach Meinung vieler Interviewpartner sollte das griechische Asylsystem in vielen Punkten verbessert werden (Interview G104, Interview G105; Interview G106). Für diese Veränderungen müssen finanzielle Mittel aufgewandt werden, die Griechenland fehlen. Deshalb ist es wichtig, dass die griechische Regierung an die EU appelliert und diese zur Verantwortung zieht, denn Europa ist für die aktuelle Lage Griechenlands mitverantwortlich (Interview G106). Dabei ist die Situation unter anderem von Ressourcen und der Bereitschaft Griechenlands und der EU abhängig, die aktuelle Situation der Asylsuchenden
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zu verbessern (Interview G105). Die Betreuung der Menschen muss unter dem Einsatz von mehr Sozialarbeitern, Dolmetschern, Ärzten, Psychologen und Juristen professionalisiert werden (Interview G104). Darüber hinaus wird das europäische Asylsystem von Experten als nicht fair angesehen, da die Lasten nicht gerecht geteilt werden. Ein möglicher Verbesserungsvorschlag ist, ein Büro in Griechenland zu eröffnen, welches ausschließlich dafür sorgt, die Menschen auf Europa zu verteilen, um sie vor den Gefahren auf irregulären Routen zu schützen und so ein gemeinsames Asylsystem zu etablieren, welches auch praktisch funktioniert (Interview G104). Damit sich die Situation in Griechenland verbessert und die Asylbehörden auch richtig funktionieren, wird es als wichtig erachtet, dass die Europäische Gemeinschaft sich solidarisch mit Griechenland zeigt und die Lasten geteilt werden (Interview G103). Solidarität soll aber mehr als finanzielle Hilfestellung bedeuten. Es muss darum gehen, gemeinsame Lösungsansätze zu finden und diese gemeinsam zu verwirklichen. Außerdem sei es notwendig, dass die europäischen Länder sich auf gleicher Augenhöhe begegnen und Griechenland als gleichberechtigter Akteur wahrgenommen wird. Griechenland besitze aufgrund seiner schwachen wirtschaftlichen Lage nicht die gleiche politische Macht wie andere Länder. Die griechische Regierung wird für die Abwälzung ihrer Verantwortung gegenüber den Asylsuchenden auf die NROs kritisiert, da sie als die Institution mit den größeren Ressourcen und der Verantwortung gesehen wird (Interview G103). Die Arbeit der NROs und andere soziale Aktivitäten sollten komplementär zu der Arbeit des Staates sein, und der Staat sollte der Hauptakteur im Asylsystem sein. Eine Verbesserung von GEAS und somit auch eine Verbesserung der Gesamtsituation in Europa seien nur durch Kooperation und Koordination von kommunalen, nationalen und internationalen Akteuren erreichbar. Dabei ist Rücksicht auf die länderspezifischen Situationen zu nehmen. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Flüchtlingsströme sollte die Dublin-Verordnung nochmals überdacht werden (Interview G101; Interview G104), um die Lasten, die ganz Europa betreffen und für die jedes Mitgliedsland mitverantwortlich ist, gerecht und fair aufzuteilen und dadurch ein gemeinsames Miteinander zu schaffen (Interview G103).
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4. S CHLUSSFOLGERUNGEN : E NTSTEHUNG ORGANISATIONALER N ETZWERKE UND GEAS Die EU betitelt sich als „Raum des Friedens, der Sicherheit und des Rechts“ (Artikel 3 Absatz 2 EUV). In Griechenland erleben Schutzsuchende allerdings ein grundlegend anderes Europa. In den Auffanglagern herrschen durch eine hohe Anzahl an Schutzsuchenden sowie Überforderung des Staats katastrophale Lebensbedingungen mit fraglichen hygienischen Zuständen. Asylsuchende und Flüchtlinge sind mit rassistischen Attacken auf der Straße konfrontiert. Vor nicht allzu langer Zeit mussten Schutzsuchende zudem gewalttätige Übergriffe bereits an der türkisch-griechischen Grenze, insbesondere durch die Push Backs fürchten. Andererseits gab es in der Bevölkerung jedoch auch Bekundungen der Solidarität und Stimmen, die die Ankunft von Schutzsuchenden nicht als Last empfinden, sondern ihre Unterstützung anbieten. Am Fall Griechenland wird deutlich, dass eine Harmonisierung der Asylpraxis und damit einhergehend eine gleiche, angemessene Behandlung aller Asylsuchenden in allen Mitgliedsländern der EU noch nicht umgesetzt worden sind. Die Aussetzung der nach den Dublin-Richtlinien eigentlich vorgesehenen Rückführung von Asylantragstellern in das DublinErsteintrittsland, welche im Falle Griechenlands durch ein deutsches Gericht und dann durch den EuGH verfügt wurde, zeigt, dass die geforderten GEAS-Standards in Griechenland lange Zeit sehr weit unterschritten wurden. Es ist deutlich, dass es eine Lücke zwischen „talk“ und „action“ gibt. Zwar existieren die GEAS-Richtlinien und auch entsprechende nationale Gesetze und Richtlinien, aber bisher werden diese allenfalls teilweise von staatlicher Seite umgesetzt. Asylbezogene Organisationen spielen bei der Implementierung der Richtlinien eine wichtige Rolle, besonders bezüglich humanitärer Aufgaben wie der Erstaufnahme oder Versorgung von Schutzsuchenden im späteren Asylverfahren. In vielen Bereichen übernehmen die NROs Aufgaben des Staates. Aus den Interviews wird deutlich, dass die Mitarbeiter der NROs vor allem den Staat in der Handlungspflicht sehen, das heißt, in der Verantwortung, mit den NROs zu kooperieren und sie auch finanziell zu unterstützen. Die Kooperation zwischen den Organisationen funktioniert schon vergleichsweise gut und ist ein Schlüsselelement für deren Arbeit; jedoch müssen die Netzwerke noch weiter unter Einbeziehung des Staates ausgebaut und gestärkt werden.
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Da lange der politische Wille und schlicht das Interesse der Regierung fehlten, die Asylsituation zu verbessern, kann hier von einer organisierten Nicht-Verantwortung gesprochen werden. Auch zeigte sich in den Interviews, dass aus der Sicht der Organisationen die EU ihrer Verantwortung nicht ausreichend nachkommt und es keinen gerechten Lastenausgleich in Bezug auf die Situation gibt. Da allerdings die asylbezogenen Organisationen und ihre Kooperationsnetzwerke so eine außerordentlich wichtige Rolle im Asylsystem spielen, kann auch von emergenten organisationalen Netzwerken gesprochen werden, die die Implementierung von GEAS unterstützen. Diese müssen aber laut der Interviewpartner noch verbessert und intensiviert werden, vor allem unter Einbindung der politischen Institutionen. Durch die Unterstützung von EASO, UNHCR und anderen europäischen Organisationen hat sich schon eine Verbesserung im griechischen Asylsystem eingestellt. Dies zeigt, wie wichtig die internationale Kooperation ist, deren Ausweitung ausdrücklich von den NROs gewünscht wird. Für ein gemeinsames europäisches Asylsystem ist es wichtig, dass sich alle Akteure auf Augenhöhe begegnen und auch als solche anerkannt werden. Den asylbezogenen Organisationen muss eine wichtige Rolle im Asylsystem zugestanden und dies auch in den GEAS-Richtlinien berücksichtig werden.
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Länderbericht Zypern J OHANNES K ÖNIG , M ARTA M ICHALAK , J ULIANA W ITKOWSKI
1. E INLEITUNG Die Republik Zypern ist einer der kleinsten EU-Mitgliedsstaaten überhaupt und gehört zusammen mit Malta zu den kleinsten Staaten der Mittelmeerregion. Völkerrechtlich gehört die gesamte Insel zur Republik Zypern, praktisch ist die Insel seit 1974 geteilt, und nur die südliche Hälfte macht die Republik Zypern1 aus. Diese hat eine Bevölkerung von etwa 847.000 Personen und erstreckt sich über eine Fläche von 9.251 km².2 Wie Spanien, Griechenland, Portugal und viele andere südliche EU-Mitgliedsstaaten war auch Zypern von der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 betroffen und leidet heute noch unter einem negativen Wirtschaftswachstum und hoher Arbeitslosigkeit. Bis kurz nach dem EU-Beitritt Zyperns im Jahre 2004 konnte auf der Insel ein positives Wachstum des Pro-Kopf-BIPs verzeichnet werden, das mit der Finanzkrise im Jahr 2008 negativ wurde. Hatte Zypern von 2007 auf 2008 noch ein reales Wirtschaftswachstum von 3,7 %, sank ein Jahr später das BIP um 2 %. Nach einem leichten Aufschwung in 2010 und 2011 stellte sich bis 2014 erneut ein negatives Wirtschaftswachstum
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Im Folgenden ist mit „Zypern“ wenn nicht weiter spezifiziert der südliche Teil der Insel, also die „Republik Zypern“ gemeint.
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Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Zypern; Republic of Cyprus – Statistical Service 2015; Die Bundesregierung 2014.
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ein.3 Mit dem wirtschaftlichen Auf und Ab schwankte auch die Zahl der Arbeitslosen in Zypern. Im Jahr 2015 gingen 15,6 % der Erwerbspersonen keiner geregelten Beschäftigung nach. Damit liegt der Anteil der Arbeitslosen in Zypern 6,2 Prozentpunkte über dem EU-Durchschnitt mit einem Anteil von 9,4 % Arbeitslosen (Eurostat 2015b). Im Zuge der wirtschaftlichen Instabilität verschlimmerte sich ebenso die Situation für viele Asylsuchende und Flüchtlinge. Neben Kürzungen der öffentlichen Versorgungsleistungen verstärkten sich dabei innerhalb der Bevölkerung xenophobe Tendenzen. Die Angst vor Überfremdung stammt nicht zuletzt aus der historischen Entwicklung des Inselstaats. Nachdem Zypern für mehr als drei Jahrhunderte Teil des Osmanischen Reichs war, wurde es 1878 zu einer britischen Kolonie. Nach mehr als 80 Jahren endete 1960 die britische Kolonialherrschaft, unter der sich auf Zypern sowohl griechisch-zyprischer als auch türkisch-zyprischer Nationalismus entwickelt hatte. Mit unterschiedlichen Vorstellungen, welche Richtung Zypern in der Zukunft einschlagen sollte, bildete sich ein Konflikt aus, der sich unter Beteiligung von Griechenland und der Türkei gewaltsam entwickelte. 1974 besetzte die Türkei den Nordteil der Insel. Dies führte zu internen Vertreibungen und Umsiedlungen von griechischen und türkischen Zyprern und zu Auswanderungsbewegungen in Folge des wirtschaftlichen Niedergangs nach diesem Schicksalsjahr (Papadakis et al. 2006: 2ff.). Gleichzeitig gab es in der türkisch besetzten Region auch Einwanderungsbewegungen als Teil einer Siedlungskampagne der Türkei; dies prägt bis heute eine Angst vor Überfremdung in der griechisch-zyprischen Bevölkerung (Interview C003). Aus diesem Grund behandelt dieser Beitrag die Situation von Asylsuchenden und Flüchtlingen auf Zypern unter Berücksichtigung des Zypernkonfliktes. Ähnlich wie Italien, Griechenland und Spanien entwickelte sich auch Zypern von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland. Basierend auf der Geschichte Zyperns stellten insbesondere Großbritannien, aber auch Australien und die USA wichtige Auswanderungsländer für Zyprer dar (Trimikliniotis 1999: 2). Besonders die verheerenden politischen und ökonomischen Folgen der Invasion Zyperns 1974 führten zu Vertreibung griechischer Zyprer aus den besetzten Gebieten und löste neben der inter-
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Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Zypern#Wirtschaft_und_Verkehr; Eurostat 2015a.
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nen auch eine internationale Migration aus (Gregoriou et al. 2010: 65f.). Aus dem nördlichen Teil der Insel flohen etwa 160.000 griechische Zyprer in den Süden. Weitere 40.000 türkische Zyprer wanderten freiwillig in den türkischen Teil oder sahen sich aufgrund der neuen politischen Lage zu diesem Umzug gezwungen (Loizides 2011: 393). Im Zuge der Verhandlungen zum EU-Beitritt und der damit einhergehenden Liberalisierung des Marktes nach EU-Vorgaben verbesserte sich die wirtschaftliche Lage auf der Insel (Gregoriou et al. 2010: 65). Zypern wirkte zunehmend als Magnet für ausländische Arbeitnehmer, die in verschiedenen Positionen beschäftigt sind – von einfachen Arbeitern bis hin zu gut ausgebildeten Fachkräften (Trimikliniotis 1999: 2). In Bezug auf die Entwicklung von Migrationsbewegungen nach und aus Zypern konnten seit dem EU-Beitritt der Republik 2004 zwei Trends beobachtet werden, die im Zusammenhang mit dem hier behandelten Thema relevant sind. Zunächst fällt auf, dass die Zahl der Migranten aus Drittstaaten, hauptsächlich Sri Lanka und Ländern des Nahen Ostens, gegenüber Einwanderern aus EU-Mitgliedsstaaten sehr viel höher liegt (Thomson 2006: 7ff.). Relevanter für die Fragestellung dieses Beitrags ist aber der zweite Befund, dass die irreguläre Migration und der Zustrom von Schutzsuchenden in den letzten Jahren stark zugenommen haben. In den 1990er Jahren handelte es sich bei den irregulären Migranten noch zum Großteil um libanesische Bürgerkriegsflüchtlinge, die Zypern über das Mittelmeer erreichten. Heute findet der Grenzübertritt zumeist auf dem Landweg statt. Die Schutzsuchenden erreichen den südlichen Teil der Insel dabei über das türkische Festland und die innerzyprische Grenze (ebd.: 9ff.). Basierend auf diesen beiden Entwicklungen besaß Zypern in 2014 mit 18,6 % nach Luxemburg den zweithöchsten Anteil an ausländischer Bevölkerung unter den EU-28-Staaten (Eurostat 2015c). Obwohl in Zypern ein hoher Anteil an ausländischen Arbeitnehmern beschäftigt ist, verfolgt die Regierung eine weitgehend restriktive Migrationspolitik, die darin besteht, Migranten aus Drittstaaten lediglich eine kurzfristige Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen. Während Zypern einerseits alle Migrationshemmnisse für EU-Bürger abgeschafft hat, sodass diese sich ohne Visum in Zypern aufhalten können, erlaubt die protektionistische Migrationspolitik für Nicht-EU-Bürger andererseits nur eine zeitlich eng befristete Arbeitserlaubnis von maximal sechs Jahren, welche jährlich erneuert werden muss und zudem auf einige wenige Wirtschaftssektoren be-
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grenzt ist (Trimikliniotis/Demetriou 2005: 8). Generell müssen ausländische Arbeitnehmer für die Aufenthaltsbeantragung in Zypern eine Bescheinigung des entsprechenden Arbeitsgebers darüber vorweisen, dass eine Beschäftigung erfolgen soll, weil sich kein einheimischer Arbeitnehmer findet und ein Stellenwechsel nur schwer vollzogen werden kann (Thomson 2006: 7). Andererseits ist es seit einigen Jahren möglich, die zyprische Staatsbürgerschaft durch Investitionen, z.B. den Erwerb einer Immobilie auf Zypern, zu erhalten. Die physische Anwesenheit des Antragstellers ist dabei nicht erforderlich (Savva 2015). Zusammenfassend lautet die Zielsetzung der zyprischen Migrationspolitik, einerseits ausländische Investoren aus Drittstaaten vielversprechende Anreize zu setzen, um die wirtschaftliche Lage des Landes zu verbessern und andererseits durch restriktive politische Maßnahmen in der Migrationspolitik ausländischen Arbeitnehmern aus Nicht-EU-Ländern keine Aussicht auf einen langfristigen Aufenthalt zu geben. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass auch die Asyl- und Flüchtlingspolitik Zyperns darauf abzielt, die Insel von Schutzsuchenden abzuschotten.
2. F LUCHT
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2.1 Geschichte und gegenwärtige Lage In der jüngeren Vergangenheit hatte Zypern die Erfahrung von Vertreibung und Flucht unter anderen Umständen gemacht als es in den übrigen EUMittelmeerstaaten der Fall war. In Zentrum dieser Erfahrungen stand der in der Einleitung beschriebene Zypern-Konflikt, der in den 1970er Jahren zu interner Vertreibung und Flucht führte. Er prägt bis heute das Leben und die Politik des Staates sowie auch den Umgang mit Asylsuchenden und Flüchtlingen. Bis heute ist die Insel geteilt. Der Norden wird von einer Regierung gelenkt, die der Türkei nahesteht, der Süden von der Zyprischen Republik, die seit 2004 Mitglied der Europäischen Union (EU) ist. De Jure ist jedoch das gesamte Inselgebiet Teil der EU (Europäische Union o.J.). Für den nördlichen Teil der zyprischen Insel lässt sich das Asylregime einfach zusammenfassen: Es gibt kein reguläres Asylsystem (Polili 2009). Informationen zur Asylsituation sind nur schwer zu bekommen, und es lässt sich auch
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nicht sagen, wie viele Asylsuchende und Flüchtlinge in Nordzypern leben. Es existiert eine Flüchtlingsorganisation in Nordzypern, zu der jedoch im Rahmen des Projektes kein Kontakt aufgenommen werden konnte. Entscheidend wird Nordzypern, wenn es um die Routen von Schutzsuchenden geht. Nachdem die Trennungslinie der beiden Konfliktparteien 29 Jahre lang eine offiziell unpassierbare Grenze darstellte, wurde diese 2003 teilweise geöffnet. Und während an den offiziellen Grenzposten Asylbewerber und Flüchtlinge in den jeweiligen anderen Landesteil nicht übertreten dürfen, ist die Bewachung des 170 km langen Grenzbereichs nach einer so langen Zeit des Waffenstillstandes nur noch an wenigen Stellen gewährleistet und wird oder kann nicht vollständig durch die Republik Zypern bewerkstelligt werden (Interview C008; Interview C103; Interview C106). Als Folge wird diese innere Grenze genutzt, um entweder in die Republik Zypern in Richtung Süden und damit auch in Richtung EU zu gelangen (Interview C002; Interview C003; Interview C011) oder um Südzypern wieder verlassen zu können. Dies geschieht teilweise in der Hoffnung, über andere Wege in weitere Länder der EU zu gelangen, wenn sich Zypern mehr als Sackgasse denn als Tor nach Europa erweist. Wunschrichtung sind oft Dänemark oder Schweden, wo man sich eine offenere Gesellschaft erhofft (Interview C002; Interview C003). Andere nennen auch Deutschland, das Vereinigte Königreich und die Niederlande als weitere eigentliche Wunschziele von Asylsuchenden (Interview C003; Interview C008). Zypern selber wird häufig als Falle beschrieben, da es keine Lebensperspektive für Asylsuchende und Flüchtlinge bieten kann (Interview C001, Interview C006; Interview C102; Interview C007). Zypern wird – wie die meisten anderen hier betrachteten Mittelmeerstaaten – eher als Transitland eingestuft. Der Bericht von Asylum Information Database (AIDA) gibt an, dass insgesamt 90 % der Asylbewerber, die in die Republik Zypern einreisen, über Nordzypern kommen (AIDA 2015: 15). Die diffuse Beziehung von Nord und Süd in Bezug auf Asyl und Flüchtlinge zeigte sich auch, als es öffentliche Beschwerden und Medienaufmerksamkeit zu Fällen gegeben hat, bei denen Flüchtlinge im Süden Sozialhilfe bekamen, aber im Norden lebten (Interview C104). In Zypern zeigt sich ebenfalls das Problem, die Routen von Asylsuchenden und sonstigen Migranten eindeutig zu trennen. Nachdem Zypern für viele Jahrzehnte Erfahrungen mit größeren Auswanderungsbewegungen
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machte, vor allem in Richtung des Vereinigten Königreichs und anderen Staaten des Commonwealth, wurde es in den 1990ern und 2000ern zu einem Einwanderungsland (Trimikliniotis 1999: 2). Um den Verlust von jungen Arbeitnehmern auszugleichen, hat man unkompliziert mehrjährige Visa mit Arbeitserlaubnis ausgegeben. Eine Notwendigkeit, überhaupt Asyl zu beantragen, war deswegen für viele Menschen nicht vorhanden. Viele nutzten die legale Einreise mit einem Visum, um entweder nach dessen Ablauf im Land zu verbleiben und Asyl zu beantragen oder einen Asylantrag zu stellen, weil die Verlängerung ihres legalen Aufenthaltsstatus zeitlichen Verzögerungen unterlag (Interview C002; Interview C008). Zwischen 2001 und 2011 hat sich die Anzahl der Einwohner ohne zyprische Staatsbürgerschaft von 64.000 bzw. 9,4 % auf 170.000 bzw. 20,3 % mehr als verdoppelt. Dies liegt teilweise am Zuzug aus dem Bereich der EU und teilweise an der Flucht oder Arbeitseinwanderung aus Drittstaaten. So hat sich die Anzahl von Menschen philippinischer Staatsbürgerschaft von 2011 bis 2014 fast verdreifacht, die von Indern verdoppelt und die Anzahl von Vietnamesen um 50 % zugenommen. Auch die Anzahl von Menschen aus Osteuropa ist deutlich angestiegen (Republic of Cyprus – Statistical Service, 2014). 2.2 Nationales Flucht- und Asylregime und sein Verhältnis zu GEAS Theoretisch können Asylsuchende ihren Antrag in den Einrichtungen der Ausländer- und Einwanderungsabteilung der Polizei (Aliens and Immigration Unit) sowie an Flughäfen und Grenzposten stellen (KISA 2009). Sollte die Person vor der Antragstellung schon von der Polizei aufgegriffen werden, kann sie wegen illegaler Einreise oder Aufenthalt festgenommen werden, selbst wenn sie sich erst seit wenigen Tagen im Land befindet und die Absicht hat, einen Antrag zu stellen. In Gefängnissen und vergleichbaren Einrichtungen kann jedoch auch ein Antrag auf Anerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt werden (ebd.). In beiden Fällen geht der Antrag in erster Instanz zum Asylservice (Asylum Service) und wird dort bearbeitet. Nur in dieser Instanz findet ein Interview der Asylsuchenden zu ihrem Fall statt (Interview C011). Bei der folgenden Entscheidung sind drei Ergebnisse möglich: 1. der Bewerber wird als Flüchtling anerkannt; 2. der Flüchtlingsstatus wird nicht erteilt,
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aber subsidiärer Schutz gewährt; 3. der Antrag wird allgemein abgelehnt. Im Fall von 2. oder 3. kann der Antragsteller Einspruch einlegen.4 Der Einspruch („administrative appeal“) wird als zweite Instanz von der sogenannten Refugee Reviewing Authority überprüft, und es kann wieder über die Anerkennung eines Flüchtlingsstatus, die Gewährung des subsidiären Schutzes oder die völlige Ablehnung entschieden werden. Es wird jedoch nur geprüft, ob in der ersten Instanz ein Verfahrensfehler begangen wurde, die Gründe für die Flucht werden nicht erneut untersucht (AIDA 2015: 22, Interview C011). Auch dagegen können die Antragsstellenden über ein Gerichtsverfahren beim Obersten Gerichtshof Einspruch einlegen, sie haben zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits ihr Aufenthaltsrecht verloren und können in das jeweilige Herkunftsland rückgeführt werden (AIDA 2015: 23, Interview C011). Der Oberste Gerichtshof entscheidet daraufhin, ob das Verfahren zurück zur ersten Instanz, dem Asylservice, geht oder zurück zur zweiten Instanz, der Refugee Reviewing Authority. Bei Folgeanträgen wird zunächst geprüft, ob neue Elemente hinzugekommen sind, die für die Entscheidung relevant sind, worüber sowohl der Asylservice als auch die Refugee Reviewing Authority jeweils entscheiden können. Sollten die neuen Elemente als ausreichend für eine neue Begutachtung des Falles erscheinen, wird der Fall wieder im zuvor beschriebenen Verfahrensablauf bearbeitet. Sollte die Refugee Reviewing Authority die neuen Hinweise als ausreichend für eine Neubearbeitung erachten, wird das Verfahren an der Stelle der zweiten Instanz begonnen. In der ersten Instanz ist eine Einmischung durch das Innenministerium möglich, was von Zeit zu Zeit geschieht (AIDA 2015: 23). In der Theorie gibt es für die verschiedenen Verfahrensabschnitte auch beschleunigte Verfahren. Diese Möglichkeit findet jedoch in der Praxis bisher keinerlei Anwendung (AIDA 2015: 17). Das Europäische Unterstützungsbüro European Asylum Support Office (EASO) ist eine Institution, mit der die EU versucht, den Mitgliedsstaaten im Bereich von Asylbewerbern und Flüchtlingen durch Trainings und Informationen Hilfestellungen zu geben. Auch für Zypern wurde im Juni 2014 ein maßgeschneiderter Hilfsplan (EASO Special Support Plan) ausge-
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Unter gewissen Umständen kann dies auch bei der Gewährung von subsidiärem Schutz sinnvoll sein, da dieser Aufenthaltsstatus keine Familienzusammenführung einschließt.
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arbeitet, der die Unterstützung des zyprischen Asyl- und Aufnahmesystems durch EASO regelt und bis Februar 2016 erweitert wurde5. Materielle und finanzielle Versorgung von Asylbewerbern und anerkannten Flüchtlingen Während der Verfahrensdauer in der ersten und zweiten Instanz haben Asylbewerber ein Anrecht auf materiellen Unterhalt, wenn sie nicht selbst die nötigen Mittel für eine angemessene Versorgung besitzen. In der Phase des Einspruches vor dem Obersten Gerichtshof haben die nun abgelehnten Asylbewerber jedoch kein weiteres Anrecht auf Versorgung. Ähnliches trifft zu, wenn bei einem Folgeverfahren noch geprüft wird, ob neue Elemente vorliegen, die zu einem neuen Verfahren berechtigen (AIDA 2015). Mit Ausnahme des Zugriffes auf die Aufnahmeeinrichtung sind jedoch eine Vielzahl von Dokumenten von verschiedenen Behörden pro Antragsteller nötig, bevor ein Antrag vom Sozialen Wohlfahrtsdienst (Social Welfare Service) angenommen wird, was den Anspruch auf Übernahme weiterführender Hilfe in Form von Miete und Grundversorgung durch den Social Welfare Service stark erschwert (ebd.; Interview C011). Auch eine Verweigerung, das Angebot eines Reception Centres bei vorhandenen Kapazitäten zu nutzen, gibt dem Social Welfare Service die Möglichkeit, eine weitere Versorgung abzulehnen (ebd.: 53; Interview C001; Interview C011; Interview C004), unabhängig davon, ob die Aufnahmeeinrichtung in der Lage ist, die nötigen Bedürfnisse der Asylsuchenden oder Flüchtlinge abzudecken. Das Ablehnen von Arbeitsstellen, die durch das Arbeitsamt angeboten wurden, hat ebenso eine Beendigung der Versorgung zur Folge, selbst wenn fehlende Transportmöglichkeiten oder fehlende Versorgung von Kindern die Ursachen sind (AIDA 2015: 45f; Interview C011). Es existiert eine materielle Versorgung für Asylsuchende und Flüchtlinge, der Zugang zu dieser ist aber durch bürokratische Hindernisse stark erschwert (Interview C003). Der Zugang zu weiteren sozialen Versorgungen, wie zum Beispiel Kindergeld, Studierendenförderung, Gelder für Alleinerziehende und ähnliche Leistungen, ist nicht möglich (AIDA 2015: 48f.). Während vor der Krise die Auszahlung von sozialen Leistungen in Geldbeträgen stattfand, werden nun Gutscheine verwendet, die die Mög-
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https://www.easo.europa.eu/news-events/easo-and-cyprus-sign-agreement-con tinue-easo-support-cyprus-until-february-2016.
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lichkeiten stark einschränken, sich selbstbestimmt zu versorgen (Interview C002; Interview C003). Eine zentrale Änderung der letzten Jahre seit der Wirtschaftskrise für Flüchtlinge waren Verschärfungen, was den Zugang zum Sozialsystem angeht. In Anbetracht der Finanzkrise wurden Leistungen gestrichen oder gekürzt und mögliche Leistungen werden nun restriktiver als früher vergeben (Interview C011). Derzeit betreibt die Republik Zypern eine Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende und Flüchtlinge, mit einer Kapazität von 400 Plätzen, von denen jedoch nur 120 Plätze belegt sind. Die Aufnahmeeinrichtung in Kofinou befindet sich mehr als 20 Kilometer von der nächsten Stadt Larnaca entfernt. Die Meinungen der befragten Experten gehen bei der Bewertung der Lebensbedingungen teilweise auseinander. In der Einschätzung einer NRO im Rahmen der Interviews wurde Kofinou als Einrichtung gesehen, die Schutzsuchende nicht unterstützen, sondern von Zypern abschrecken soll (Interview C001).6 Es wird auch berichtet, dass Flüchtlinge die Aufnahmeeinrichtung in Kofinou als getarntes Gefängnis (detention centre) wahrnehmen (Interview C002). Zumindest bis 2014 waren die Lebensbedingungen, zum Beispiel im Bereich der Hygiene, auf einem niedrigen Niveau. Es wurde in den Interviews von Küchenschabenbefall und kontaminiertem Wasser berichtet. Ebenso fehlt es trotz klimatischer Notwendigkeit an Klimaanlagen oder Ventilation. Auch dies führt dazu, dass viele bevorzugen, lieber ohne Obdach zu sein als in Kofinou zu leben (Interview C003). Eine der befragten Expertinnen äußert sich basierend auf ihr zugetragene Berichte einerseits zustimmend, andererseits hat sie auch andere Meinungen zu Kofinou gehört. Sie gibt an, dass Kofinou von einer Angehörigen einer NRO als „schöner Ort“ bezeichnet worden sei und dies die erste Meinung über Kofinou war, die ihr zugetragen wurde. Auf der anderen Seite sind ihr Berichte einer Freiwilligen ihrer Organisation bekannt, die sich ebenfalls sehr negativ über die Lebensverhältnisse in Kofinou äußert (Interview C003). Amnesty International hat 2014 berichtet, dass in gefängnisähnlichen Anstalten in Zypern hunderte Migranten und Asylbewerber unter Umgehung von EU-Gesetzen ohne Beachtung von Schutzbestimmungen festge-
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Ein Video der Organisation KISA zu der Situation in der Einrichtung in Kofinou lässt sich auf Youtube finden: http://www.youtube.com/watch?v=UVjHC3ZqC nI
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halten werden, teilweise bis zu 18 Monaten. Auf acht Quadratmetern sollen sechs Personen untergebracht sein mit nur 2 ½ Stunden Hofgang pro Tag (Amnesty International 2014). Ein Großteil der Asylbewerber sucht sich selbst eine Wohnung oder ein Haus, die bzw. das teilweise aufgrund von fehlenden gesetzlichen Bestimmungen in einem sehr schlechten Zustand ist. Viele leben ohne Wasser, Elektrizität, oder es fehlt ihnen Geld für das Nötigste (Interview C006, Interview C106). In Folge eines Baubooms in der Innenstadt von Nikosia, wo Asylsuchende und Flüchtlinge noch in ghettoähnlichen Strukturen leben (die durch Neubauten ersetzt werden sollen), existiert eine große Nachfrage nach Wohnungen, sodass ein Interesse besteht, sie umzusiedeln. Aufgrund von hohen Mieten in anderen Stadtteilen von Nikosia haben sie jedoch nur wenige Alternativen, von dort wegzuziehen (Interview C008). Stimmung in der Bevölkerung Die Stimmung in der Bevölkerung ist Flüchtlingen gegenüber eher als negativ zu beschreiben. In den Interviews begegnete uns wiederholt die Aussage, dass alle Zyprer Rassisten seien (Interview C107; Interview C006). Auch wenn diese Aussage nicht als realistische Einschätzung, sondern eher als Ausdruck persönlicher Frustration zu bewerten ist, brachten auch andere Organisationen und Personen zum Ausdruck, dass es Probleme mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in Zypern gibt (Interview C002; Interview C006; Interview C007). Problematisch für die genaue Einschätzung ist jedoch, dass es seit 2011 keine belastbaren Statistiken zu rassistisch motivierten Straftaten gibt (Chowdhury/Kassimeris 2011: 3). Ausgangspunkt für xenophobe Tendenzen auf Zypern scheint dabei eine extreme Form des anti-türkischen Nationalismus in Folge der Besatzung von Nordzypern zu sein. Nachdem lange Zeit gezielt gegen türkeistämmige Menschen agiert wurde, griffen viele Organisationen und Parteien bei der Europa-Wahl 2009 und in Folge der Finanzkrise 2008 auch allgemeine xenophobe bis hetzerische Themen im öffentlichen Diskurs auf (Interview C002; Interview C006), die vor allem auf Migranten, Asylsuchende und Flüchtlinge zielte. Mehr als 50 % der Schüler sollen Migranten als „dreckig“, „gefährlich“ oder „unzivilisiert“ ansehen (ECRI 2011: 26). Für die folgenden Jahre wird eine deutliche Zunahme von rassistisch motivierten Gewalttaten gegenüber Migranten berichtet (ebd.: 27), und
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auch in einem Bericht für das Jahr 2012 wird ein zunehmender Rassismus beklagt (ENAR 2013: 7). Selbst die griechisch-orthodoxe Kirche von Zypern soll offen eine neo-nationalsozialistische Gruppierung unterstützt haben (Interview C008). Gleichzeitig sind Antisemitismus, Islamophobie und Feindlichkeit gegenüber Roma in Zypern verbreitet (ECRI 2011: 27). 2.3 Asylsuchende und Asylverfahren Von 2008 bis 2013 ist die Anzahl von Asylerstanträgen in Zypern gesunken. Während 2008 die Asylbewerberzahl noch bei 3.920 Personen lag, drittelte sich die Anzahl der Bewerbungen annähernd bis 2013 auf 1.255 Asylbewerber. Erst im Jahr 2014 gab es wieder einen Anstieg auf 1.745 Asylbewerber (Eurostat 2016a). Im Zuge des stark zugenommenen Druckes auf die EU-Außengrenze in den Sommermonaten 2015 ist auch die Zahl der Asylbewerber in Zypern angestiegen, wobei der Anstieg von 1.745 Asylbewerbern in 2014 auf 2.265 Asylbewerber in 2015 im Vergleich zum durchschnittlichen Anstieg in den EU-28-Staaten gering ist (ebd.). 2014 kamen bei insgesamt 1.728 Bewerbungen 983 Antragsteller aus Syrien, also 57 % der Bewerber. Damit ist Syrien das Herkunftsland, aus dem die meisten Asylbewerber kommen. Die zweitgrößte Gruppe von Asylbewerbern, Ägypter, sind lediglich mit 82 Antragstellern vertreten, was einen Anteil von weniger als 5 % ausmacht. Weitere Herkunftsländer sind Bangladesch, Vietnam, Pakistan, Sri Lanka, Somalia, Indien, die Philippinen, Iran, Afghanistan und Russland. In 2015 ergibt sich bezüglich der Herkunft der Asylbewerber ein ähnliches Bild. Auch 2015 stellen Asylbewerber aus Syrien den größten Anteil, gefolgt von Palästinensern, Vietnamesen, Pakistani und Indern (Eurostat 2016b). Insgesamt wurde in 2015 über 2065 Asylanträge in erster Instanz entschieden. Die Anerkennungsquote lag in diesem Zeitraum bei etwa 76,8 %. Der Anteil derer, die als Flüchtlinge nach der Genfer Konvention anerkannt wurden, liegt jedoch lediglich bei etwa 9,4 %. Deutlich häufiger wird Asylantragsstellern ein subsidiärer Schutzstatus verliehen. In 67,3 % der Asylgesuche erhalten die Antragssteller subsidiären Schutz, alle anderen Asylanträge werden abgelehnt. Die höchste Anerkennungsquote hatten Antragssteller aus Syrien und aus dem Autonomen Palästinensischen Gebiet: In 100 % der Fälle bekamen Syrer und Palästinenser einen Schutzstatus in Zypern. Allerdings wurden nur 1,8 % der Syrer, deren Antrag bearbeitet
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wurde, in der ersten Instanz als Flüchtlinge anerkannt. Die große Mehrheit wurde unter subsidiären Schutz gestellt. Palästinenser erhielten in 50 % der Fälle den Flüchtlingsstatus. Für viele andere Staaten jedoch gibt es Ablehnungsquoten von bis zu 100 %. Dies betrifft z.B. Asylbewerber aus Ägypten, Bangladesch, Vietnam, Pakistan, Philippinen, Afghanistan und Serbien (Eurostat 2016b). Dass eine ausführliche Prüfung der Anträge unter Beachtung der Einzelfälle aktuell in Zypern stattfindet, scheint bei solchen Quoten in Kombination mit den Herkunftsländern als unwahrscheinlich, und es lässt sich vermuten, dass viele Entscheidungen rein nach Herkunftsland pauschal getroffen werden. Die Steigerung der Gesamtzahl von Asylbewerbern in den Jahren 2014 und 2015 lässt sich vor allem durch den Syrien-Konflikt erklären. Durch seine geographische Nähe zu Syrien und die Möglichkeit, über den türkisch-kontrollierten Nord-Korridor in den Südteil der Insel überzutreten, bietet sich Zypern als Anlaufstelle für syrische Schutzsuchende an. Im Vergleich zu der großen Anzahl von syrischen Flüchtlingen – es sollen sich über 4 Millionen Syrer weltweit auf der Flucht befinden (UNHCR 2015) – sind die Zahlen von Zypern verschwindend gering. Auch in Relation zu der übrigen Migration nach Zypern sind die Zahlen sehr niedrig, da sich über 180.000 dokumentierte (etwa 19,2 % der Gesamtbevölkerung) und schätzungsweise 40.000 undokumentierte Migranten auf Zypern befinden sollen (Eurostat 2015c). Verfahrensdauer Laut der Verfahrensrichtlinie der EU soll die Bearbeitungszeit eines bei der entsprechenden Behörde eingegangenen Asylgesuchs sechs Monate nicht überschreiten oder aber der Antragsteller soll zumindest über die Verzögerung informiert werden und die Möglichkeit erhalten, eine Antwort bezüglich der verbleibenden Länge des Entscheidungsprozesses einzufordern. Dies entspricht in einigen Fällen jedoch nicht der Realität. Gerade in Fällen, bei denen eine positive Entscheidung wahrscheinlich ist, kann das Verfahren fünf bis sechs Jahre dauern. Im Durchschnitt liegt die Verfahrensdauer bei etwa zwei bis drei Jahren (AIDA 2015: 18). Für die zweite Instanz im Verfahren, sollte in der ersten Instanz eine negative Entscheidung vorgelegen haben, liegt die durchschnittliche Verfahrensdauer zwischen sechs Monaten und drei Jahren. Zusammengerechnet sind also Verfahrensdauern von sechs Jahren sowohl für Fälle mit einer hohen Wahrscheinlich-
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keit einer positiven Entscheidung als auch bei Fällen mit höherer Wahrscheinlichkeit der Ablehnung möglich (ebd.: 21). Es wird jedoch auch von Extremfällen mit Verfahrensdauern von bis zu zwölf Jahren berichtet (Interview C011; Interview C102). Gleichzeitig schildern einige NROs, dass sich in letzter Zeit die Verfahrensdauer verkürzt habe, was teilweise auch auf die zurückgegangenen Asylbewerberzahlen zurückzuführen sei (Interview C102; Interview C103). In Fällen, bei denen sich der Antragsteller in haftähnlichen Bedingungen befindet, findet seit 2014 ein Fast-Track-Verfahren statt, bei dem innerhalb von 30 Tagen die erste Instanz und innerhalb von 15 Tagen die zweite Instanz zu einer Entscheidung kommen soll, ansonsten ist der Asylbewerber aus der Haft zu entlassen. Diese Fristen sollen jedoch auch nicht immer eingehalten werden (AIDA 2015: 11). Erwerb der Staatsbürgerschaft In Zypern gibt es bisher keine Gesetze, die die Änderung des eigentlich temporären Flüchtlingsstatus in dauerhaftes Aufenthaltsrecht oder nationale Staatszugehörigkeit regelt. Das Ergebnis ist, dass anerkannte Flüchtlinge trotz vieler in Zypern verbrachter Lebensjahre und Identifikation mit dem Land nicht oder nur mit sehr hohem Aufwand die Staatsbürgerschaft der Republik Zypern bekommen können. Die vorliegenden Zahlen unterstreichen dies: Hauptherkunftsländer für neue zyprische Staatsbürger sind Russland, Südafrika, Australien, Ukraine und die Türkei. Keines dieser Länder ist ein für langjährige Flüchtlinge typisches Herkunftsland (Eurostat 2015d). Wer genug Geld besitzt, kann sich seit einigen Jahren in Zypern das dauerhafte Aufenthaltsrecht oder sogar die volle Staatsbürgerschaft kaufen bzw. mittels sehr hoher Investitionen von 2,5 bis 5 Millionen Euro das Anrecht darauf erwerben. Eine Notwendigkeit, in Zypern zu leben, existiert für die Antragssteller in diesen Fällen nicht. Internetseiten der zyprischen Regierung informieren über diese Möglichkeit und den Verfahrensablauf sowie die Anforderungen, geschmückt mit offiziellen Logos der Bank of Cyprus oder der zyprischen Industrie- und Handelskammer (Cyprus Alliance 2015). Möglichkeiten, einen dauerhaften Aufenthaltsstatus zu erhalten, gibt es auch für diejenigen, die die Staatsbürgerschaft eines Landes des Commonwealth haben. Auch für Sportler und Manager besteht die Möglichkeit, die
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Staatsangehörigkeit zu erwerben. Ansonsten ist jedoch die Staatsbürgerschaft – in Anlehnung an das alte System des Ius Sanguinis - nur für diejenigen vorgesehen, die zyprische Eltern haben (Cyprus Companies Portal, 2011). Einen Elternteil zu haben, der illegal Zypern betreten und/oder ohne reguläres Aufenthaltsrecht war, kann sich allerdings sogar für Kinder von Nachteil erweisen, deren anderer Elternteil regulär zyprischer Staatsbürger ist. In diesem Fall wird die Staatsbürgerschaft nicht mehr automatisch erteilt, wie sonst bei Kindern von mindestens einem zyprischen Elternteil vorgeschrieben, sondern kann nur noch per Dekret durch den Ministerrat gewährt werden (ENAR 2013: 10). Regeln, wie z. B. das Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit (SEV Nr.166), die die generelle Möglichkeit zum Erwerb der Staatsbürgerschaft für Flüchtlinge vorschreiben (Council of Europe 1997, Chapter 3, 4 g.) und nach denen der nötige Zeitraum zum Erwerb der Staatsbürgerschaft für Menschen mit dauerhaftem Wohnsitz nicht zehn Jahre überschreiten soll (Council of Europe, 1997, Chapter 3, 3.), werden in Zypern nicht im Sinne des Übereinkommens umgesetzt (Charalambidou 2013: 10). Erst innerhalb des Jahres 2014 soll es zu ersten Fällen gekommen sein, bei denen die Staatsangehörigkeit an langjährig anerkannte Flüchtlinge vergeben worden ist (Interview C107).
3. K OOPERATIONEN UND N ETZWERKE ASYL - UND FLÜCHTLINGSBEZOGENER O RGANISATIONEN Im Rahmen des MAREM-Projekts wurden auf Zypern 2014 und 2015 insgesamt 15 Interviews mit 10 Organisationen geführt, die sich in ihrer Organisationsform, ihren Werten und Normen sowie ihrem Legitimationsfeld unterscheiden (siehe Tabelle 1). In der ersten MAREM-Runde in 2014 fanden Interviews mit KISA, Future Worlds Cente (FWC), Volunteer Doctors of Cyprus, Red Cross Cyprus (RCC), Center for the Advancement of Research and Development in Educational Technology (CARDET), Caritas Cyprus, Mediterranean Institute for Gender Studies (MIGS) und einem Repräsentanten der University of Technology statt. 2015 wurde eine Wiederholungsbefragung mit dem FWC, RCC, Caritas Cyprus, CARDET und Volunteer Doctors of Cyprus durchgeführt. Außerdem erfolgten Erstinterviews mit Opinion and Action und der Association of Recognized Refugees.
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Die aus den Interviews gewonnenen Daten wurden in Form mehrerer Netzwerke visualisiert, die egozentriert, d.h. aus der Perspektive der befragten Akteure selbst, aufgebaut sind. Die egozentrierten Einzel-Netzwerke wurden anschließend aufgrund gemeinsamer Kooperationspartner zu einer Visualisierung zusammengefügt. Tabelle 1: Asyl- und flüchtlingsbezogene Organisationen und ihre Charakteristika Organisationsform
Werte und Normen
Legitimationsfeld
NRO
Menschenrechte / Humanitäre Werte
national
Objektive Berichterstattung
global
Red Cross Cyprus
sowohl FI als auch NRO sowohl NRO als auch regierungsnah
Hauptanliegen Verbesserung der Asylsituation und rechtliche Unterstützung von Asylsuchenden Bildung und Forschung zu Migration
Menschenrechte / Humanitäre Werte
global
Humanitäre Hilfe
Caritas
NRO
Religiös
national
Volunteer Doctors of Cyprus
NRO
Menschenrechte / Humanitäre Werte
global
KISA
NRO
Menschenrechte / Humanitäre Werte
national
Humanitäre Hilfe Medizinische Versorgung von Menschen in besonderer Lage Vielfältige Unterstütztung und Versorgung von Flüchtlingen
University of Technology
sowohl FI als auch andere (Universität)
Objektive Berichterstattung / Lehre
europaweit
MIGS
FI
Menschenrechte / Humanitäre Werte
national
Andere (Unternehmen)
Objektive Berichterstattung
national
Bildung und Forschung Forschung zur Stellung von Frauen in der Gesellschaft Forschung, Beratung, Förderung von Projekten in Bereichen wie EU Politik und Soziale Medien
Menschenrechte / Humanitäre Werte
national
Integration von Flüchtlingen
2014
2015
Future Worlds Center CARDET
Opinion and Action Association of Recognised Refugees
De facto NRO
Quelle: Interviews und Homepage-Analysen im Rahmen des MAREM-Projekts 2014-2015.
Durch Zyperns spezifische Geschichte (s. o.) sind NROs als Vertreter der Zivilgesellschaft ein relativ neuer Akteurstypus in asylbezogenen organisationalen Netzwerken. Bis heute bindet die Regierung diese in wichtige Ent-
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scheidungen nicht aktiv ein (Interview C004). NROs als Teil dieser Gesellschaft sehen sich – trotz ihres Expertenwissens und viel praktischer Erfahrung in der Flüchtlingsarbeit – nicht ausreichend in die auschlaggebenden Verhandlungen miteinbezogen. Dies äußert sich in Frustration und Hoffnungsverlust auf Besserung der Situation seitens der Mitarbeiter (Interview C101). Das Gefühl, bei der Umsetzung der Asyl- und Flüchtlingspolitik einbezogen zu werden, weist auf die Herausforderungen in der Kooperation, vor allem zwischen staatlichen Akteuren und NROs, hin. Oberflächlich betrachtet existiert Kooperation, jedoch werden bei näherer Betrachtung deren Beeinträchtigungen sichtbar. Es soll Defizite im Austausch von Information sowie Erfahrung geben: Eine der interviewten Organisationen erwähnte, dass staatliche Mitarbeiter nicht ausreichend über die Möglichkeiten informiert waren, als zwei unbegleitete minderjährige Flüchtlinge untergebracht werden mussten (Interview C101). Dies weist auf eine wenig gefestigte Durchsetzung von supranationalen Gesetzen hin und kann als Unterschied zwischen GEAS in der Theorie und seiner Umsetzung in der Praxis gedeutet werden. Diese Diskrepanzen scheinen das Resultat einer unzureichenden Kooperationsarbeit zwischen verschiedenen Organisationen zu sein. Es gilt zu untersuchen, wie diese Lücke in einem Bereich entstehen kann, in dem Nicht- und Fehlentscheidungen besonders schutzbedürftigen Gruppen erheblichen Schaden zufügen können. In Kapitel 3.1 und 3.2 werden zunächst zwei Interviewpartner, CARDET und das FWC, als Akteure im Asylbereich in Zypern vorgestellt. Als Think-Tank spielt CARDET eine besondere Rolle für das Asylsystem. Dieser Akteur betreibt Forschung in unterschiedlichen Bereichen und drängt durch wissenschaftliche Untersuchung auf Lösungen (Interview C102). Das FWC ist ein bedeutender Akteur in Zypern und wird von den meisten Interviewpartnern ebenfalls als Kooperationspartner erwähnt. Die zentrale Rolle des FWCs wird ebenfalls durch die Kooperationsbeziehungen zum UNHCR, dessen Projekt „Strengthening Asylum“ sie implementieren, deutlich und zeigt sich zudem in einer als gut beschriebenen Beziehung zu staatlichen Akteuren (Interview C011).
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3.1 Beispiel 1: Center for the Advancement of Research and Development in Educational Technology (CARDET) CARDET ist, wie der Name bereits andeutet, eine Organisation, die wissenschaftliche Untersuchungen und Bildungsmaßnahmen organisiert und auch selbst durchführt. Bei dem Think-Tank handelt es sich um eine unabhängige Non-Profit-Organisation mit über 500 Partnern in über 20 Ländern weltweit. 45 Projekte fanden zum Zeitpunkt des Interviews in 2015 auf der EU-Ebene statt. In 20 von ihnen liegt der Schwerpunkt auf Migration und Asyl. Die Organisation befasst sich im Bereich von Asyl und Flüchtlingen hauptsächlich mit Screening aller zugänglichen Informationen zu Asylsuchenden und einer genaueren Identifikation der Bedürfnisse von Schutzsuchenden (CARDET 2015). Etwa ein Fünftel von CARDETs Arbeit im Asylbereich ist Basisarbeit, wie zum Beispiel die Betreibung des Assisted Voluntary Return (AVR)Zentrums und von Trainings für Flüchtlinge (Interview C102). Außerdem gehören Capacity-Building und Informationsverteilung zu den Aufgaben der Organisation sowie speziell ausgewählte Projekte. Darunter fallen beispielsweise „Migration and Integration and Co-Development in Europe“ sowie das genannte AVR-Zentrum (CARDET 2015). CARDET verfügt über ein weitverzweigtes Netzwerk von Kooperationspartnern, das vorrangig aus zentralen nationalen Akteuren besteht und sowohl staatliche Organisationen als auch NROs umfasst (siehe Abbildung 1). Im Hinblick auf die Wahl der Kooperationspartner versucht CARDET, eine Vielfalt an Akteurstypen in ihr Netzwerk einzubeziehen. Dabei werden Flexibilität, Wissensmanagement und ähnliche Werte als Kriterien für eine Kooperation genannt. Innerhalb der asylbezogenen Netzwerkarbeit versteht sich CARDET als Akteur, der auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen politischen Entscheidungsträgern Instrumente für die Bewältigung von Herausforderungen und die Evaluation von bestehenden Maßnahmen im Bereich der Integration von ausländischen Mitbürgern liefert (Interview C002). Bei CARDETs Vorgehensweise soll ein besonderes Augenmerk auf das Umsetzen von „talk“ in „action“ gelegt werden: „Everything we do is to understand how we can transform policies, initiatives and directives into real actions“ (Interview C102).
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Abbildung 1: Visualisierung der Kooperationen und Netzwerke asyl- und flüchtlingsbezogener Organisationen in Zypern
Quelle: Interviews im Rahmen des MAREM-Projekts 2014-2015, eigene Darstellung mit Visone.
In den Interviews mit CARDET wird deutlich, dass staatliche Akteure den höchsten Grad an formalem Einfluss in asylbezogenen Angelegenheiten haben. Die Kooperation mit der lokalen Regierung wird jedoch von CARDET aufgrund von fehlendem praktischen Expertenwissen von Seiten der Autoritäten als schwierig geschildert: „Civil Society can do something to influence, but if the public administration does not want to open the door, they do not open it. We have seen that in Cyprus“ (Interview C103). Wenn die öffentliche Administration keinen Grund zum Handeln sieht, fühlen sich die anderen Akteure oft machtlos. Wäre die NRO mit der Ent-
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scheidung nicht einverstanden, gäbe es nur wenige Möglichkeiten für sie, für die Asylsuchenden Veto einzulegen. Lediglich die Verordnungen und Richtlinien der EU könnten – so in dem Interview mit einem CARDETVertreter – als Gegenkraft fungieren und bei der öffentlichen Verwaltung die Einbeziehung der Zivilgesellschaft durchsetzen (Interview C102). 3.2 Beispiel 2: Das Future Worlds Center (FWC) Das Future Worlds Center (FWC) ist eine nichtstaatliche Organisation, die 1991 zunächst unter dem Namen Cyprus Neuroscience and Technology Institute gegründet wurde und ihren Wirkungsbereich in den späten 1990er Jahren auf humanitäre und multikulturelle Aktivitäten ausweitete (FWC, 2015). Im Rahmen des Projekts „Strengthening Asylum“ beschäftigte sich das FWC zum Zeitpunkt des Interviews in 2015 mit der rechtlichen und sozialen Beratung von Asylsuchenden und Flüchtlingen in Zypern. Das Projekt wird seit Beginn 2006 mit Mitteln der UNHCR-Vertretung in Zypern finanziert und hat zum Ziel, Schutzsuchenden in Zypern den Zugang zu einem fairen und effizienten Asylverfahren zu ermöglichen (Interview C011). Ebenso wie CARDET ist auch das FWC ein zentraler Akteur in der Arbeit mit Asylsuchenden und Flüchtlingen in Zypern. Es verfügt dementsprechend über ein weitreichendes Kooperationsnetzwerk, das sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure umfasst (siehe Abbildung 1). Aufgrund der knappen finanziellen Ressourcen, die jeder Organisation zur Verfügung stehen, sieht das FWC seine Kooperation mit anderen Organisationen im Hinblick auf gemeinsame Ziele und komplementäre Strategien und Fähigkeiten als fundamental an (Interview C011). Bei der Wahl seiner Kooperationspartner achtet das FWC im Besonderen auf die Bereitschaft zur Kooperation sowie die Aussicht auf eine effektive Zusammenarbeit und eine gemeinsam geteilte Überzeugung (Interview C104). Innerhalb des Kooperationsnetzwerks nimmt das FWC eine Art Vermittlerrolle zwischen Flüchtlingen und den lokalen Behörden ein und betont, dass es in diesem Bereich nur wenige Hindernisse für seine Arbeit gibt, welches insbesondere seiner Art der Kommunikation geschuldet ist: „If you become aggressive in a negative […] way, doors will close in front of you!“ (Interview C011). Zusätzlich zu wenig vorhandenem praktischen Expertenwissen, wie es CARDET anmerkt, beschreibt das FWC den fehlen-
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den politischen Willen der Behörden, Asylsuchende aufzunehmen und Flüchtlinge zu integrieren: „The authorities of the migration department want to keep the borders as closed as possible and the desicions to deport people are made very quickly. Asylum seekers often have to wait a long time for their residence permits and it is very hard to extend them, also for recognised refugees“ (Interview C011).
In Bezug auf die Umsetzung der Richtlinien und Verordnungen im Rahmen von GEAS sieht das FWC zunächst die Kooperation mit staatlichen Organisationen als wichtig an. Gäbe es eine stärkere Kooperation, könnte GEAS auch besser umgesetzt werden (Interview C104). Obwohl die Kooperation mit anderen Akteuren im Bereich von Asyl und Flüchtlingen als fundamental beschrieben wird und die Organisationen wenig Probleme haben, ihre Kooperationspartner zu benennen, gibt es laut FWC kein richtiges Netzwerk in Zypern, das durch eine konsistente Zusammenarbeit der Akteure gekennzeichnet wäre. Zur Konsolidierung der Kooperationsstrukturen schlägt das FWC UNHCR als Koordinator von Aktivitäten aller relevanten Organisationen vor, sodass alle Akteure eine gemeinsame starke Stimme für Asylsuchende und Flüchtlinge bilden können (Interview C104). 3.3 Asyl- und flüchtlingsbezogene organisationale Netzwerke in Zypern Wie in der Tabelle 1 sehr gut sichtbar ist, gibt es in Zypern viele Akteure, deren Aufgabenbereiche sich überschneiden. Jede einzelne der Organisationen bietet den Asylsuchenden Hilfestellungen und Serviceleistungen an. Dabei haben einige Organisationen ein sehr breites Tätigkeitsportfolio, während andere eher spezialisiert arbeiten. Angesichts dessen ist einigen Interviewpartnern zufolge eine stärkere Koordinierung der Aufgaben erforderlich, um das bestehende Potential zu nutzen und die Hilfeleistungen effizienter bereitstellen zu können (Interview C104; Interview C106). Betrachtet man die in den Interviews aufgezählten Kooperationspartner und die daraus entstandene Netzwerkvisualisierung, so wird der Eindruck erweckt, dies sei ein Netzwerk aus stabilen, bereits existierenden Verbindungen, Kooperationen und Projekten zwischen Partnerorganisationen. Zieht man jedoch die Aussagen der Art „there is no network“ (Interview
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C107) heran, so widersprechen sie diesem ersten Anschein. Den Angaben der Interviewpartner nach existiert ein stabiles Kooperationsnetzwerk (noch) nicht. Bei den bisherigen Kooperationen handelt es sich eher um meist temporäre und lose Beziehungen. Der Wunsch der Organisationen nach einem stabilen Netzwerk zeigt, dass es den Beziehungen noch an Intensität fehlt (Interview C104). Bisher stehen Teilstücke für eine Vernetzung der Akteure bereit. Ein wesentlicher Grund für die noch verbesserungsfähige Kooperation könnte darin liegen, dass alle flüchtlings- und asylbezogenen Themen und Aktivitäten sich erst in den letzten zwanzig Jahren entwickelt haben. Die interviewten NROs, die eine Tätigkeit im Bereich von Asyl und Flucht in Zypern aufweisen, sind alle nicht vor 1997 gegründet worden. FWC wurde 1997 gegründet7, KISA 19988. CARDET wirbt mit zehnjähriger Tätigkeit auf seiner Homepage9 und das RCC wurde erst 2012 offizielles Mitglied des International Red Cross and Red Crescent Movement10 und beschreibt sich in dem Interview selbst als im Aufbau begriffen. Die zentralen Akteure des heutigen Asylsystems in Zypern sind also, wie auch die gesamten asylbezogenen Einrichtungen und Behörden des Staates, erst seit weniger als 20 Jahren in dem Bereich aktiv. Das FWC sieht konkrete Anweisungen und jemanden, der die Aktivitäten der Organisationen koordiniert, als eine Möglichkeit an, das Netzwerk der asyl- und flüchtlingsbezogenen Organisationen in Zypern zu stärken (Interview 104). Auch wenn die meisten Beziehungen eher als lose Kooperationen betrachtet werden, wird deutlich, dass eine Reihe von Organisationen trotz sich unterscheidender Merkmale hinsichtlich ihrer Organisationsform, Werte und Normen, sowie ihrer geografischen Ebene miteinander zusammenarbeitet. Die aus den MAREM-Interviews entnommenen Informationen zeigen, dass es zwischen sehr unterschiedlich ausgerichteten Organisationen Verknüpfungen gibt, was auf ein komplementäres Kooperationsnetzwerk hindeutet. Einige Flüchtlingsorganisationen suchen sich andere Organisationen auf derselben Ebene, jedoch gibt es auch Verbindungen, die mit völlig unterschiedlichen Partnern entstehen. Viele Organisationen haben eine
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Für mehr Informationen: http://www.futureworldscenter.org/
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Für mehr Informationen: http://kisa.org.cy/mission-objectives/
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Für mehr Informationen: http://www.cardet.org/
10 Für mehr Informationen: http://www.redcross.org.cy/en/about-us/history-of-establishment
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Tendenz, mit anderen auf ihrer Ebene (lokal, national, EU, Global) zu kooperieren. RCC arbeitet bereits stark mit der Regierung zusammen und hat ein großes Spektrum an Kooperationspartnern. Jedoch ist das zyprische Rote Kreuz als in vielen Bereichen international arbeitende NRO und als Zweig des Internationalen Roten Kreuzes nicht allein auf Zyperns Asylsektor fokussiert. Das FWC ist ähnlich wie RCC weitflächig vernetzt. Es kollaboriert ebenfalls mit der Regierung, kann aber als unabhängige, auf den Asylbereich spezialisierte NRO intensiver auf die Bedürfnisse der Flüchtlinge und Asylsuchenden eingehen. Die Mitarbeiter selbst sagen über sich, sie hätten einen „guten Gesamtüberblick“ über die Situation (Interview C104). Viele der zyprischen flüchtlingsbezogenen Organisationen sprechen über eine unzureichende Umsetzung von GEAS. Die Aussagen der Experten machen deutlich: Die Standards und Prozeduren der gesetzlichen Richtlinien der EU, speziell des GEAS, finden auf Zypern nur teilweise Anwendung in der Praxis. In den Bereichen, in denen die Umsetzung des GEAS stattfindet, wird bemängelt, dass lediglich die minimalen Standards übernommen werden: „The migration policy is very poor. […] It doesn’t give options to migrants. It takes the minimum standards in the (European) directives. […] We want a more generous transposition of the liabilities“ (Interview C104). Einige Interviewpartner nannten als Hindernis für Flüchtlinge auf Zypern den „konstitutionellen Rassismus“ (Interview C102; Interview C106; Interview C107). Dadurch erschließt sich nicht nur eine Diskrepanz zwischen GEAS in Theorie und Praxis, sondern auch die politischen Leitlinien der Charta der Grundrechte in Europa werden in der Praxis nur mangelhaft umgesetzt, obwohl diese Charta durch den 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon von den Organen und Mitgliedstaaten der EU rechtlich umgesetzt werden muss (Europäische Union 2000). Nicht nur eine der befragten Organisationen berichtet, dass die Regierung Zyperns die Finanzkrise und die noch bis heute andauernde Teilung Zyperns nutzt, um Flüchtlinge zu diffamieren. Besonders NROs kritisieren den Umgang der Regierung mit der Situation (Interview C104). „The main thing that should change in Cyprus is the way law becomes practice. […] The situation […] needs a lot of improvement“ (Interview C104). Die Mehrheit der befragten Experten nannte eine stärkere Kooperation der Mitgliedsstaaten der EU in Bezug auf die faire Verteilung von Flücht-
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lingen und die flächendeckende Umsetzung der Verordnungen und Richtlinien im Rahmen von GEAS als wesentlichen Schritt zur Verbesserung der Situation von Flüchtlingen in der EU (Interview C001; Interview C011; Interview C008): „Measures on the national and the EU level have to go together. To separate these two levels does not make any sense“ (Interview C001).
4. S CHLUSSFOLGERUNGEN : E NTSTEHUNG ORGANISATIONALER N ETZWERKE UND GEAS Im Fall von Zypern existiert eine Reihe von Besonderheiten, die die Migrationspolitik im Allgemeinen und die Asylpolitik im Besonderen prägen. Durch GEAS und andere EU-Vorschriften gibt es zwar Regeln zum Umgang mit Asylbewerbern und Flüchtlingen, die seit der EU-Mitgliedschaft Zyperns auch Ratifizierung und Umsetzung in zyprisches Landesrecht fanden, aber Konzepte und Anforderungen werden oft nur teilweise oder zu Lasten von Asylbewerbern und Flüchtlingen umgesetzt. Generell ist zu beobachten, dass nur die minimalen GEAS-Standards erfüllt werden. Ein Aspekt, der auf eine solche Problematik hinweist, ist die Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen in der derzeit einzigen aktiven Aufnahmeeinrichtung Kofinou, die es Zypern ermöglicht, auf dem Papier die Anforderung einer vollständigen Versorgung von Asylbewerbern zu erfüllen. Dadurch aber, dass als Standort ein abgelegenes Gebiet gewählt worden ist, das von Städten und zentralen Transportmöglichkeiten weit entfernt ist, bietet dieser keine Perspektive für die Suche nach Arbeit oder für gesellschaftliche Teilhabe. Stattdessen müssen Schutzsuchende die Entscheidung treffen, ob sie ohne jede Chance auf finanzielle Selbstständigkeit Bewohner der Aufnahmeeinrichtung bleiben oder ob sie das Risiko eingehen, auf staatliche Versorgung zu verzichten und in der Hoffnung auf einen Arbeitsplatz in die Städte zu ziehen. Betrachtet man die offiziellen Regelungen, scheinen Versorgung von Schutzsuchenden und Arbeitsmarktzugang in Zypern abgesichert zu sein, die Realität weicht jedoch teilweise davon ab. Ähnliches trifft zu, wenn man den theoretischen Zugang zum Sozialsystem betrachtet und in Kontrast zu Berichten aus der Praxis setzt. Zwar besteht in der Theorie Anrecht auf Leistungen, jedoch ist das Verfahren durch
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eine Vielzahl von nötigen Behördengängen und Dokumenten so verkompliziert, dass es von Schutzsuchenden oft nicht in Anspruch genommen werden kann, insbesondere, wenn diese sich erst kurz im Land befinden. Ein weiteres Beispiel für die Diskrepanz zwischen „talk“ und „action“ ist die Verfahrensdauer, die eigentlich auf sechs Monate beschränkt ist, aber regelmäßig wesentlich ausgedehnter ist. Stattdessen erstreckt sich diese in einigen Fällen über mehrere Jahre. Eine der grundsätzlichsten Fragen für ein Asylsystem und seine Funktionsfähigkeit dürfte sein, ob es die Aufgabe erfüllt, Asyl Menschen zu gewähren, die es benötigen, und diejenigen abzulehnen, die es nicht benötigen. Auch dies kann jedoch in Zypern angezweifelt werden. Wenn Ablehnungsquoten von bis zu 100 % für einige Herkunftsländer vorliegen, die für gewaltsame Konflikte und Menschenrechtsverletzungen bekannt sind, lässt sich vermuten, dass Entscheidungen teilweise nicht auf Basis des Einzelfalls getroffen werden. Demzufolge verkommt das offizielle Verfahren, das vorgibt, Entscheidungen auf Basis der individuellen Flüchtlingsgeschichte zu treffen, zu etwas, das lediglich auf dem Papier behaupten kann, die Verordnungen und Richtlinien im Rahmen von GEAS zu erfüllen. Fehler im System wirken sich in Zypern wiederum aktuell stärker als nötig aus. Korrektive Funktionen könnten von der Zivilgesellschaft und von NROs übernommen werden. Diese werden aber durch staatliche Regeln und fehlenden politischen Willen seitens der Regierung in ihrer Arbeit behindert. Sich erst langsam entwickelnde und nicht immer effizient koordinierte Kooperationen und Netzwerke befeuern diese Problematik zusätzlich. Es besteht zudem der Verdacht, dass zu deutliche Beschwerden über Vorgehensweisen der Behörden die Türen der Behörden ganz verschließen (Mackay 2012). Trotz aller Hindernisse sind NROs das zentrale Korrektiv im System. Mit unterschiedlichen Ansätzen federn die verschiedenen Organisationen Schwächen in der Versorgung und Beratung der Asylsuchenden und Flüchtlinge ab, können dies aber aktuell nicht zur eigenen Zufriedenheit vollständig erfüllen. Die Probleme in Zypern sind auf viele verschiedene Ebenen im System verteilt und oft ergibt sich erst aus der Kombination das große Problem, dass für viele Länder eine so hohe Ablehnungsquote vorliegt. Die abgelegene Lage der Aufnahmeeinrichtung Kofinou wäre bei einem funktionierenden Sozialwesen für Schutzsuchende kein großes Problem. Da viele ver-
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schiedene Probleme gleichzeitig existieren und miteinander verknüpft sind, ist es weder auf der institutionellen noch der menschlichen Ebene möglich, einen speziellen ‚Schuldigen‘ auszumachen. Stattdessen müsste an vielen Stellen angesetzt werden. Auch für die EU wird es bei der Betrachtung des zyprischen Asylsystems in Zukunft sehr wichtig sein, dem Alltag der Asylbewerber auf Zypern mehr Aufmerksamkeit zu schenken, aus diesen Erfahrungen heraus Lücken in den Vorschriften zu schließen sowie auf sinngemäße Erfüllung und nicht nur worttreue Übernahme der Regeln zu beharren. Die Tatsache, dass einzelne Mitgliedsstaaten die Hilfe von EASO anfordern können und diese dann unter anderem die Weiterbildung von Personal im Bereich von Asyl und Flüchtlingen übernimmt, könnte auf lange Sicht eine Angleichung der Asylverfahren und Entscheidungen anstoßen oder beschleunigen. Dies ist jedoch nur eine der möglichen Betrachtungsweisen. Gerade bei Zypern ist es möglich, in Anbetracht der jüngeren Geschichte einen Standpunkt einzunehmen, bei dem sich das zyprische Netzwerk von asyl- und fluchtbezogenen Organisationen erst noch weiterentwickelt. Der zyprische Staat ist verhältnismäßig jung und noch jünger ist die zyprische Zivilgesellschaft, die durch Jahrzehnte eines Belagerungszustandes bis in die jüngere Zeit deutliche Entwicklungshindernisse hatte. Aufgrund der Bedrohung durch die Türkei war es für lange Zeit schwierig, Kritik an Staat und Gesellschaft zu äußern, ohne damit auch als Gegner des Staates zu gelten, der auch die allgemeine Legitimität der Republik Zypern unterminieren will. Generell scheinen es NROs schwer zu haben, ihrer Arbeit nachzugehen, was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet ist, dass sie unabhängig vom Staat agieren. Es erscheint dabei als wahrscheinlich, dass sich dauerhafte und produktive Strukturen erst über einen langen Zeitraum entwickeln können. Auffällig bei der Betrachtung von Kooperationen ist unter anderem, dass zwar Verbindungen zu europäischen und internationalarbeitenden Organisationen bestehen, aber keine Organisation auf nationaler Ebene bisher dauerhaft die Aufgabe übernommen hat, die Kooperation der Organisationen im Bereich von Asyl und Flüchtlingen mittels kontinuierlichen Treffen zu festigen. Ähnlich, wie für die staatlichen Behörden beschrieben, wird sich Expertise noch für längere Zeit weiter entwickeln müssen. Auch für die nichtstaatlichen Organisationen fehlt es noch an vielen Stellen an Erfahrung,
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welche Strategien bei bestimmten Problemen zu einer guten Lösung führen können. Bestimmte Wege, z. B. im Bereich Xenophobie und Rassismus, die Menschen erreichen zu können oder Verständnis für Migration und Asyl zu schaffen, müssen sich wahrscheinlich erst im Kontext der jeweiligen Gesellschaft entwickeln. Davon ausgehend könnten sich dann auch direkte Verbesserungen im Bereich der Asylverfahren und in der Versorgung von Schutzsuchenden ergeben. Fasst man beide hier besprochenen Ansätze zusammen, ergibt sich ein zutreffendes Bild: Während Aspekte einer organisierten Nicht-Verantwortung eindeutig fehlen, lässt sich einerseits an vielen Stellen sehr deutlich eine restriktive staatliche Flüchtlingspolitik beobachten. Andererseits gibt es in Zypern sehr viele Anhaltspunkte für sich entwickelnde Netzwerke des Flüchtlingsschutzes. Durch diese noch wenig gefestigten Netzwerke können Probleme nicht so gut erfasst und nicht mit einer ausreichend starken Stimme in Richtung Bevölkerung, Regierung und EU kommuniziert werden. Gleichzeitig besteht die Hoffnung, dass sich die Netzwerke in Zypern in alle Richtungen weiterentwickeln und vertiefen und dass so in Zukunft auch zumindest einige der hier kritischen Aspekte in der Versorgung von Asylsuchenden und Flüchtlingen beseitigt werden können. Es existiert aber auch der Auftrag an die EU und den zyprischen Staat, die eigenen Kompetenzen im Sinne des GEAS zu entwickeln und die NROs bei der Bewältigung der entsprechenden Aufgaben intensiv einzubeziehen.
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11ff1c7b1c/zahl-der-syrien-fluechtlinge-uebersteigt-4-millionen.html, Zugriff: 31.05.2016. Interviews C001 C002 C003 C004 C005 C006 C007 C008 C011 C101 C102 C103 C104 C105 C106 C107
Ländervergleich: Asyl und Flucht in Italien, Spanien, Malta, Griechenland und Zypern A NNA G ANSBERGEN , J ULIANA W ITKOWSKI
Im vorliegenden Buch gelingt es, die Forschungslücke in Bezug auf die Arbeit und Kooperationen asyl-und flüchtlingsbezogener Organisationen in Europa teilweise zu schließen. Dazu wurde die Mesoebene von Organisationen und Netzwerken im Asylsystem erforscht, die im Allgemeinen weniger Beachtung findet. So wird der Blick auf Akteure geworfen, die in Zeiten starker Migrationsbewegungen von Schutzsuchenden gemeinsam einen wertvollen Beitrag zur Aufnahme und Integration von Asylsuchenden und Flüchtlingen leisten können. Als Erstes konnte anhand mehrerer Merkmale festgestellt werden, dass es sich bei der Flüchtlingsbewegung um eine neue Art der sozialen Bewegung handelt. Diese ist in Deutschland zwar erst seit 2015 wirklich sichtbar geworden, in den europäischen Mittelmeerländern spielt sie hingegen seit mehreren Jahren eine große Rolle. Basierend auf dieser Feststellung wurde anhand der in den untersuchten Mittelmeerländern erhobenen Daten analysiert, wie verschiedene Organisationen dieser neuen Bewegung begegnen und welche Rolle ihre Kooperationsnetzwerke dabei spielen. Im Folgenden wird die asylbezogene Situation in den untersuchten Ländern, gestützt von den Ergebnissen aus den einzelnen Buchkapiteln, vergleichend betrachtet. Dabei wird auf relevante Merkmale, wie die geographische und wirtschaftliche Lage des Landes, Migrationsgeschichte, Zahl entschiedener Anträge und Anerkennungsraten von Schutzsuchenden,
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Umgang mit ihnen sowie die Rolle von flüchtlingsbezogenen Organisationen und ihren Kooperationsnetzwerken eingegangen.
L ÄNDERSPEZIFISCHE C HARAKTERISTIKA Hinsichtlich ihrer allgemeinen Eckdaten unterscheiden sich die in diesem Band beobachteten Länder unverkennbar. Eine Ausnahme ist ihre geografische Lage. Was diese betrifft, haben sie die Grenze zum Mittelmeer als eine wichtige Gemeinsamkeit, die zu einer mehr oder weniger hohen Zahl von Schutzsuchenden führt, die den Seeweg nach Europa nutzen. So ist Italien von Tunesien, Libyen und Algerien besonders gut erreichbar. Malta ist nah zur lybischen und tunesischen Küste gelegen; Zypern zu den Küsten der Türkei, Syriens, des Libanon, Israels und Ägyptens; Spanien am nächsten zur nordafrikanischen Küste (Straße von Gibraltar), und hat zusätzlich die Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko. Griechenland zeichnet sich vor allem durch die Nähe zur Türkei aus. Die meisten dieser Wege werden von den Schutzsuchenden, die nach Europa einreisen, aktiv genutzt, oft auch irregulär. Ihre Ankunft zeigt sich hauptsächlich auf dem Seeweg, alle betrachteten Länder teilen eine geographische Nähe zu Konfliktregionen bzw. sind von nicht EU-Staaten aus das nächste erreichbare europäische Land. Die geografische Lage der Länder beeinflusst die Zusammensetzung der Schutzsuchenden hinsichtlich ihres Herkunftslandes, wirkt sich aber auch auf ihre Routen aus. So ist es wenig verwunderlich, dass während des Bürgerkriegs in Syrien in allen hier thematisierten Ländern Antragssteller aus Syrien unter den fünf am häufigsten auftauchenden Nationalitäten vertreten sind. Deutliche Unterschiede lassen sich in der Größe und Einwohnerzahl der Länder ausmachen (s. Tabelle 1). Flächenmäßig am größten ist dabei Spanien mit 505.970 km², gefolgt von Italien (301.277 km²) und Griechenland (131.957 km²). Zypern (9251 km²) und Malta (316 km²) sind als Inselstaaten besonders klein, was die Kooperation der dort ansässigen Organisationen mit anderen Organisationen im selben Land erleichtert und theoretisch ein umfassendes nationales Netzwerk begünstigt.
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Tabelle 1: Relevante asylbezogene Zahlen zu Italien, Spanien, Malta, Zypern und Griechenland 2015 Länderspezifikation
Italien
Spanien
Malta
Griechenland
Zypern
Größe
301.277 km²
505.970 km²
316 km²
131.957 km²
9251 km²
Einwohnerzahl
60 Mio.
46 Mio.
430 Tsd.
11 Mio.
1,1 Mio.
Bevölkerungsdichte (Einwohner pro km2)
201
92
1346
82
121
Arbeitslosenquote
12,7 %
22,08 %
5,7 %
27 %
15,6 %
BIP/Kopf
26.900
23.300
20.400
16.200
20.600
Asylbewerber
84.085
14.780
1.845
13.205
2.265
Asylbewerber pro 1000 Einwohner
1,4
0,3
4,3
1,2
2,1
Anerkennungsquote1
41,5 %
31,5 %
83,9 %
41,8 %
76,8 %
Asylspezifische Zahlen
Quelle: Eurostat 20162 sowie eigene Berechnung und Zusammenstellung aus den Kapiteln für das Jahr 2015.
In Bezug auf die Einwohnerzahlen stellt Italien mit ca. 60 Mio. Menschen das größte Land dar, gefolgt von Spanien mit ca. 46. Mio. und Griechenland mit ca. 11. Mio. Auch hier sind Zypern mit ca. 1,1 Mio. und Malta mit ca. 430 Tsd. die Schlusslichter. Die unterschiedlichen Einwohnerzahlen implizieren unterschiedliche Kapazitäten und Infrastruktur, die den jeweiligen Ländern zur Aufnahme und Integration von Asylsuchenden und Flüchtlingen zur Verfügung stehen. Unter diesem Aspekt ist auch die Anzahl der Asylbewerber zu beurteilen, Länder wie Spanien beherbergen vergleichsweise weit weniger Asylbewerber als das kleine Malta, obwohl ihnen mehr Ressourcen zur Verfügung stehen.
1
Die Anerkennungsquote beinhaltet alle positiv entschiedenen Asylanträge in erster Instanz unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Anzumerken ist jedoch, dass ein Flüchtlingsstatus seltener vergeben wird als subsidiärer Schutz.
2
Eurostat 2016, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab= table&init=1&language=de&pcode=tps00191&plugin=1
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Die Kapazität und die vorhandenen Ressourcen werden auch von der wirtschaftlichen Lage eines Landes beeinflusst. Die Arbeitslosenquote ist in den untersuchten Ländern auf einem unterschiedlichen Niveau. Besonders negativ betroffen sind vor allem Griechenland mit 27 % und Spanien mit 22,1 %. Zypern mit 15,6% und Italien mit 12,7 % stehen in dieser Hinsicht wesentlich besser da und Malta mit 5,7 % weist die geringste Arbeitslosenquote auf. Bis auf Malta weisen alle Länder eine hohe Arbeitslosigkeit auf und liegen über dem EU-Durchschnitt von 10%. Damit werden ebenfalls unterschiedliche ökonomische Voraussetzungen für die Aufnahme und Integration von Schutzsuchenden gegeben, die vor allem in Griechenland eine große Herausforderung darstellen. Die Integration der Asylbewerber und Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt erweist sich bei einer hohen Arbeitslosigkeit als besonders schwierig. Das BIP pro Kopf in Euro ist in Italien am höchsten (26.900), gefolgt von Spanien mit 23.300, Malta mit 20.400 und Zypern mit 20.600. Griechenlands BIP pro Kopf ist im Vergleich das niedrigste (16.200 Euro) und liegt damit 10.700 Euro unter dem von Italien. Das BIP pro Kopf liegt in allen Ländern unter dem EU-28-Durchschnitt. Dementsprechend können Italien und Spanien theoretisch eher finanzielle Ressourcen für Schutzsuchende zur Verfügung stellen als Griechenland und die Inselstaaten. Auch dieser Umstand im Zusammenhang mit den relativen Asylbewerberzahlen macht deutlich, dass ein Aufnahmesystem wie das Dublin-Verfahren keine adäquate europäische Lösung in der aktuellen Flüchtlingssituation bietet.
E UROPÄISCHE ASYLPOLITIK – GEAS UND SEINE U MSETZUNG Alle fünf Länder machten in den letzten Jahrzehnten starke Veränderungen im Hinblick auf Einwanderung, Auswanderung und Transitmigration durch. Während in Spanien und auch Italien schon in den 1990er Jahren eine beachtliche Infrastruktur an asyl- und fluchtbezogen arbeitenden Organisationen entstand, vollzog sich ein ähnlicher Prozess in Griechenland, Malta und Zypern erst später. Alle betrachteten Länder hatten lange keine oder nur eine unzureichende und fragmentierte Migrationsgesetzgebung, erste Änderungen traten erst ab den späten 1980er Jahren, substantieller dann in der Regel erst mit EU-Beitritt und entsprechenden europäischen Regulie-
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rungen auf. Auch die Asylgesetzgebung wies starke Mängel auf, war nicht vorhanden oder lediglich Teil der allgemeinen Migrationsgesetzgebung. Ab 2000 wurde das GEAS und ab 2013 das überarbeitete GEAS schrittweise eingeführt und in nationale Gesetze aufgenommen. Die Zahl der Asylanträge und Anerkennungsquoten schwankt zwischen den beobachteten Ländern. Wurden im betrachteten Jahr 2015 in Italien 84.085 Anträge gestellt, waren es in Griechenland 13.205, in Spanien 14.780, in Zypern 2.265 und in Malta 1.845. Diese Zahlen können jedoch nur in Relation zur jeweiligen Einwohnerzahl sinnvoll interpretiert werden. In Italien wurden 2015 mit Abstand die meisten Asylbewerber registriert, gemessen an der Einwohnerzahl nahm aber Malta die meisten Schutzsuchenden auf. Zwar gibt es in den betrachteten Ländern (außer in Griechenland) relativ hohe Anerkennungsquoten, dabei handelt es sich aber meist nur um subsidiären Schutz, die Flüchtlingsquote liegt oft im einstelligen Bereich. Die Schwachstellen von GEAS werden anhand dieser Zahlen deutlich: Das Land der ersten Ankunft allein in die Verantwortung für den Schutz und die Versorgung von ankommenden Schutzsuchenden zu ziehen erweist sich als äußerst problematisch und funktioniert in der Praxis nicht, wie der Fall Griechenland vor Augen führt. In allen Ländern wurde das GEAS zumindest auf dem Papier in die nationale Gesetzgebung eingebunden, jedoch faktisch unterschiedlich gut implementiert. Alle betrachteten Länder überschreiten die vorgeschriebene maximale Verfahrensdauer von sechs Monaten in mehr oder weniger signifikantem Ausmaß. Auch Standards in der Unterbringung, Registrierung und Versorgung werden unzureichend umgesetzt, lediglich in Spanien werden hierfür nach Angaben von Experten die meisten Standards erfüllt, was angesichts der enorm eingeschränkten Anzahl behandelter Asylanträge vielleicht weniger verwunderlich erscheint. Während in Griechenland entsprechend der EU-Richtlinie die Polizei aus dem Asylverfahren ausgegliedert wird, sind Asylanträge in Spanien außerhalb Madrids weiterhin nur bei der Polizei zu stellen, was einen Bruch zum GEAS darstellt. Griechenland hat in letzter Zeit Schritt für Schritt begonnen, das GEAS besser umzusetzen, jedoch bestehen noch gravierende Mängel in der Registrierung und Aufnahme Schutzsuchender. In den meisten Ländern wie in Italien oder Zypern werden lediglich die minimalen Standards des GEAS umgesetzt. Im Umgang mit Schutzsuchenden zeigen sich zwischen den Ländern stellenweise Unterschiede. In Griechenland, den spanischen Exklaven und
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Zypern kommt es zu Menschenrechtsverletzungen. Die Situation in Malta und auf dem spanischen Festland scheint in Bezug darauf akzeptabel zu sein. Erstarkende rassistische und fremdenfeindliche Tendenzen in den Medien, der Bevölkerung und partiell auch auf staatlicher Seite finden sich in nahezu allen untersuchten Ländern. Die Gründe sind meist die Angst vor ökonomischer Deprivation oder Verlust der nationalen Identitäten. In Griechenland und Italien zeigt sich nach Angaben unserer Interviewpartner ein Anstieg fremdenfeindlicher Vorurteile gegenüber Schutzsuchenden nach der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise. In Zypern kommt hinzu, dass durch die lange Zeit der Existenz als Kolonie und der Besetzung des Nordens der Insel die nationale Identität der Republik von vielen als gefährdet angesehen wird. Es gibt jedoch auch gegenteilige Positionen zur Flüchtlingsbewegung. In Spanien sind fremdenfeindliche Einstellungen lediglich in geringem Maße festzustellen, hier gibt es Vielerorts Solidaritätsbekundungen der Bevölkerung mit Schutzsuchenden und eine ausgeprägte Hilfsbereitschaft. Die Asylpolitik der EU-Mitgliedsstaaten und der EU als Ganzes steuert mit wenigen Ausnahmen jedoch in eine andere Richtung. Die Strategie der Abschottung und Abschreckung äußert sich in der Errichtung von Grenzschutzanlagen – wie vor ein paar Jahren in Griechenland und Spanien sowie zuletzt in den Balkanländern. Abkommen mit wichtigen Transit- und Herkunftsländern entweder durch die EU als Ganzes oder zwischen EUMitgliedsstaaten und europäischen Nachbarstaaten verdeutlichen zudem die Externalisierung des Schutzes der EU-Außengrenzen und damit auch der Verantwortung gegenüber Schutzsuchenden.
D IE R OLLE
DER O RGANISATIONEN UND DEREN N ETZWERKE Im vorliegenden Buch werden egozentrierte Netzwerke von Flüchtlingsorganisationen betrachtet, was mehrere Implikationen hat. Einerseits kann die Analyse egozentrierter Netzwerke im Unterschied zur Gesamtnetzwerkanalyse ohne weiteres angewendet werden, auch wenn nicht alle relevanten Akteure erreicht werden können. So kann das eigene Netzwerk des jeweiligen Akteurs – zumindest aus seiner Sicht – realitätsgetreu abgebildet werden. Es wird ersichtlich, welche Verbindungen zwischen Organisationen
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existieren. Jedoch ist nicht feststellbar, zwischen welchen Akteuren keine Verbindungen bestehen, was ja durchaus von Interesse sein könnte und nur in Gesamtnetzwerken abgebildet werden kann. Aufgrund mehrerer Verbindungen zwischen den erhobenen egozentrierten Netzwerken haben wir uns dafür entschieden, sie in Visualisierungen miteinander zu verknüpfen. So entsteht ein – wenn auch nicht ganz lückenloses – Gesamtbild, das auf eine starke Vernetzung von Organisationen im Asylbereich hinweist, die unterschiedliche Organisationen in Bezug auf Akteurstyp, Normen und Werte sowie auf Aktivitätsebene integriert. In allen untersuchten Ländern spielen asyl- und flüchtlingsbezogene Organisationen in der Aufnahme und Integration von Asylsuchenden und Flüchtlingen eine bedeutende Rolle. Es lassen sich zudem entstehende oder bereits bestehende Kooperationsnetzwerke beobachten, innerhalb derer die Arbeit und der Austausch von Informationen jedoch zum Teil sehr unterschiedlich sind. Der Kooperation untereinander wird von allen befragten Organisationen eine große Bedeutung beigemessen, wobei meist betont wurde, dass eine Sortierung der Kooperationspartner nach deren Wichtigkeit die Alltagspraxis der befragten Organisationen nicht realitätsgetreu widerspeigelt. Vielmehr sind alle Kooperationspartner für das Wirken der einzelnen Organisationen wichtig. Die Struktur der Netzwerke lässt sich dabei als eher heterogen beschreiben, was bedeutet, dass nicht nur Organisationen, die sich besonders ähnlich sind, miteinander kooperieren. Bezeichnend für diese heterogenen Netzwerke ist einerseits, dass die Kommunikation nicht immer reibungslos verlaufen muss (in homogenen Netzwerken dagegen, in denen Akteure einander in Bezug auf relevante Merkmale besonders ähnlich sind, muss normalerweise nicht immer alles neu ausgehandelt werden, und man bezieht sich auf die gemeinsamen Normen, Werte und Praktiken). Die eher heterogene Zusammensetzung der untersuchten Netzwerke kann zum Dialog sehr unterschiedlicher Akteure beitragen, die im Gespräch oft kritisch sind und so auf neue Ideen bzw. Lösungswege kommen können. Diese sind im Asylsystem Europas heutzutage besonders gefragt. Im Einzelnen beschreiben viele Organisationen diese Heterogenität als gegenseitige Ergänzung ihrer Aufgabenbereiche und Ressourcen. Die Organisationen nutzen diese komplementären Strukturen aktiv und vermitteln Schutzsuchende bei Bedarf an andere Organisationen, die ihren jeweiligen
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Anliegen besser entsprechen, wie es beispielsweise in Griechenland beschrieben wurde. Nicht selten ergänzen oder übernehmen dabei zivilgesellschaftliche Organisationen staatliche Aufgaben, wie beispielsweise die medizinische Versorgung sowie rechtliche und soziale Beratung. In manchen Ländern werden NROs auch in der Aufnahme von Asylsuchenden und Flüchtlingen eingesetzt und zu diesem Zweck mit staatlichen Mitteln finanziert, wie es in Spanien der Fall ist. Eine Kooperation zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen ist in jedem der untersuchten Länder unterschiedlich ausgeprägt. In Spanien und Malta besteht eine gute Kooperation zwischen diesen beiden Akteurstypen. In Zypern sind NROs auf Grund der Landesgeschichte meist relativ jung und werden von der Regierung mit Skepsis betrachtet. So gibt es eine eher unzureichende Kooperationsarbeit zwischen NROs und regierungsnahen Akteuren - mit Ausnahme der IROs. Dies ist aber auch auf die Einstellungen der NROs gegenüber der Regierung und staatliche Institutionen zurückzuführen. Einige Organisationen streben die Kooperationen mit staatlichen Akteuren aus pragmatischen Gründen an. Andere hingegen pflegen keine Kooperation mit ihnen oder kritisieren diese massiv aufgrund der nationalen Asylpolitik und dem Umgang mit Schutzsuchenden in ihrem Land. Ähnlich wie in Spanien gibt es aber auch eine gute Zusammenarbeit zwischen den NROs, ROs und IROs in Malta, wobei in allen Ländern IROs wie UNHCR und IOM zentrale Akteure und oftmals auch Vermittler zwischen NROs und ROs sind. Obwohl die Kooperationen durchweg als entscheidend für die Arbeit der Organisationen beschrieben werden, ist die Zusammenarbeit innerhalb der Netzwerke unterschiedlich stark ausgeprägt. In Italien werden die Kooperationen eher als lose und projektgebunden beschrieben, eine langfristige Zusammenarbeit bleibt eher die Ausnahme. Gleichzeitig ist mit dem Tavolo Asilo, innerhalb dessen die meisten Kooperationspartner NROs sind, ein bedeutendes nationales Netzwerk entstanden, das in dieser Form nicht in den anderen untersuchten Ländern vorzufinden ist. Die Logik dieses Netzwerks unterliegt dem Prinzip, dass eine gemeinsame Stimme lauter klingt, als viele einzelne. In Zypern wird von einer Organisation in derselben Rhetorik argumentiert, was jedoch mehr als Wunsch zu sehen ist. Denn in Zypern wird wiederholt betont, dass es noch kein ausgereiftes Kooperationsnetzwerk gibt. Die Netzwerke in den untersuchten Ländern unterscheiden sich demnach deutlich hinsichtlich ihres Konsolidierungsgrads.
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Vergleichsweise gut vernetzte Akteure können in Malta, Spanien und Griechenland beobachtet werden. In Ländern wie Griechenland und Zypern wird zudem die stärkere Einbindung der NROs in die nationalen Flüchtlings- und Asylregime als vorteilhaft beschrieben, sodass diese Einbindung gefestigt werden sollte. In Spanien werden ebenfalls die Vorteile der Partizipation von NROs im Hinblick auf die Aufnahme von Schutzsuchenden betont. NROs erweisen sich oftmals als flexibler und spezialisierter. Die Beauftragung von NROs kann also als Ergänzung zu staatlichen Einrichtungen und Aufgaben öffentliche Ressourcen schonen, indem diese an spezialisierte NROs zur Betreuung der Schutzsuchenden weitergeleitet und durch die NROs effizient eingesetzt werden. Dadurch ist es wahrscheinlich, dass sich die Situation der Asylsuchenden und Flüchtlinge deutlich verbessert. Die NROs verfügen über großes Potential in Zeiten starker Flüchtlingsbewegungen, staatliches Handeln in Bezug auf die Aufnahme, Versorgung und Integration von Schutzsuchenden zu ergänzen und somit auch zu verbessern. Der stärkere Einbezug und Austausch von Informationen zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren ist dabei eine Grundvoraussetzung, die in einigen hier betrachteten Ländern noch grundlegend ausgebaut werden muss, während sie in anderen Ländern lediglich gefestigt werden sollte. Diese Kooperation setzt einen politischen Willen der jeweiligen Staaten voraus, die Situation von Schutzsuchenden im eigenen Land zu verbessern und im Austausch mit den europäischen Partnern ein gemeinsames asylbezogenes Regelwerk umsetzen zu wollen. Die Zukunft des europäischen Systems der Schutzgewährung für Flüchtlinge und Asylsuchende wird sehr stark – dies kann als ein wesentliches Ergebnis der hier vorgelegten empirischen Befunde angesehen werden – von der weiteren Entwicklung und vor allem dem weiteren Verhalten der kollektiven und korporativen, privaten und öffentlichen Akteure in den organisationalen Netzwerken abhängen. Umgekehrt hat die jeweilige nationale, aber besonders die europäische Normenbildung mit dem GEAS und entsprechenden Organisationen (wie EMN, ECRE, EASO) die Arbeits- und Entwicklungsbedingungen der flüchtlingsbezogenen Netzwerke befördert. Die Zukunft wird zeigen, ob der eigentlich recht weit entwickelte legale Ordnungsrahmen des GEAS mit mehr praktischem Leben auf der lokalen, regionalen, nationalen und transnationalen Ebene gefüllt wird oder ange-
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sichts von rechtspopulistischen und nationalistischen Tendenzen in Politik und Zivilgesellschaft eher austrocknet und an realer Bedeutung verliert.
Kultur und soziale Praxis Christian Lahusen, Stephanie Schneider (Hg.) Asyl verwalten Zur bürokratischen Bearbeitung eines gesellschaftlichen Problems Januar 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3332-0
Daniel Kofahl, Sebastian Schellhaas (Hg.) Kulinarische Ethnologie Beiträge zur Wissenschaft von eigenen, fremden und globalisierten Ernährungskulturen Januar 2017, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3539-3
Christian Lahusen, Karin Schittenhelm, Stephanie Schneider Europäische Asylpolitik und lokales Verwaltungshandeln Zur Behördenpraxis in Deutschland und Schweden Dezember 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3330-6
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Kultur und soziale Praxis Bärbel Völkel, Tony Pacyna (Hg.) Neorassismus in der Einwanderungsgesellschaft Eine Herausforderung für die Bildung Dezember 2016, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3454-9
Maren Ziese, Caroline Gritschke (Hg.) Geflüchtete und Kulturelle Bildung Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld Oktober 2016, 448 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3453-2
Marie-Theres Modes Raum und Behinderung Wahrnehmung und Konstruktion aus raumsoziologischer Perspektive September 2016, 246 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3595-9
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Kultur und soziale Praxis Judith Kestler Gefangen in Kanada Zur Internierung deutscher Handelsschiffsbesatzungen während des Zweiten Weltkriegs März 2017, ca. 500 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3619-2
Maria Lidola Intime Arbeit und migrantische Unternehmerschaft Professionalität, Körperlichkeit und Anerkennung in brasilianischen Waxing Studios Berlins November 2016, 374 Seiten, kart., z.T. farb. Abb., 47,99 €, ISBN 978-3-8376-3648-2
Wolfgang Stark, David Vossebrecher, Christopher Dell, Holger Schmidhuber (Hg.) Improvisation und Organisation Muster zur Innovation sozialer Systeme November 2016, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2611-7
Christoph Bareither Gewalt im Computerspiel Facetten eines Vergnügens Juni 2016, 368 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3559-1
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Julia Koch Migration und religiöse Praxis Gujarats sunnitische Muslime in den ehemaligen »Homelands« Südafrikas Mai 2016, 336 Seiten, kart., farb. Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3320-7
Donja Amirpur Migrationsbedingt behindert? Familien im Hilfesystem. Eine intersektionale Perspektive Mai 2016, 312 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3407-5
Dieter Haller Miriam Yildiz Tanger Hybride Alltagswelten Lebensstrategien und Diskriminierungs- Der Hafen, die Geister, die Lust. Eine Ethnographie erfahrungen Jugendlicher der 2. und 3. Generation aus Migrationsfamilien April 2016, 356 Seiten, August 2016, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3353-5
kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3338-2
Meggi Khan-Zvornicanin Kultursensible Altenhilfe? Neue Perspektiven auf Programmatik und Praxis gesundheitlicher Versorgung im Alter Juni 2016, 320 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3476-1
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