Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken: Zu den Positionen von Alain Badiou und Johann Baptist Metz 9783839467756

Hat das materialistische Denken ein »Gottesproblem«? Philipp Ackermann diskutiert anhand des Tod-Gottes-Arguments die ma

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German Pages 302 Year 2023

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Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus
3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«
4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten
5. Badiou und Metz im Gespräch
6. Fazit: Gott, Emanzipation und das nachidealistische Denken
7. Literatur
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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken: Zu den Positionen von Alain Badiou und Johann Baptist Metz
 9783839467756

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Philipp Ackermann Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Religionswissenschaft Band 36

Philipp Ackermann (Dr. theol.), geb. 1988, hat am Institut für Christliche Sozialwissenschaften der Uni Münster promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind Neue Politische Theologie, Sozialphilosophie und Klimaphilosophie.

Philipp Ackermann

Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken Zu den Positionen von Alain Badiou und Johann Baptist Metz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839467756 Print-ISBN 978-3-8376-6775-2 PDF-ISBN 978-3-8394-6775-6 Buchreihen-ISSN: 2703-142X Buchreihen-eISSN: 2703-1438 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Für Dattel und die Klimagerechtigkeitsbewegung

Inhalt

Vorwort ........................................................................................9 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7

Einleitung................................................................................. 11 Der Tod Gottes im zeitgenössischen Denken ................................................ 11 Von der Metaphysikkritik zur Tod-Gottes-Aussage........................................... 14 Johann Baptist Metz’ Theologie ............................................................ 21 Forschungsstand (I): Theologie nach Johann Baptist Metz .................................. 23 Alain Badious Philosophie..................................................................27 Forschungsstand (II): Zur Rezeption der Philosophie Badious in der Theologie .............. 30 Zur Konzeption der Studie ................................................................ 33

2. 2.1 2.2 2.3 2.4

Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus.................. 37 Erste Auflösungen des Totalitätsbegriffs – Théorie du sujet (1982) ........................... 41 »Das Eine ist nicht« – L’être et l’événement (1988) ......................................... 58 »Die Inexistenz des Ganzen« – Logiques des mondes (2006) ................................ 82 Die Renaissance der Totalität – L’Immanence des vérités (2018) .............................106

3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Badiou: Nach dem »Tode Gottes« .......................................................135 »Gott« versus Atheismus .................................................................137 Vielheiten versus Totalität ................................................................153 Unendliche Unendlichkeiten versus Endlichkeit ............................................ 161 Axiomatik versus Dialektik ................................................................ 171 Ethik versus Nihilismus ...................................................................184 Zwischenfazit ............................................................................188

4. 4.1 4.2 4.3

Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten ..................................195 Die Theologie der Welt ....................................................................196 Nachidealistische Theologie .............................................................. 216 Die Rezeption moderner Religionskritik................................................... 230

4.4 Zwischenfazit: Vom absoluten Sein Gottes zum vermissten Gott der Lebenden und der Toten ........................................................................... 242 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Badiou und Metz im Gespräch ......................................................... 247 Das Theorieverständnis .................................................................. 248 Die Infragestellung des Gottesbegriffs.................................................... 253 Der Gottesbegriff ........................................................................ 259 Unendliche Unendlichkeiten versus Endlichkeit ........................................... 264 Die Überwindung des Nihilismus ......................................................... 270

6. 6.1 6.2 6.3 6.4

Fazit: Gott, Emanzipation und das nachidealistische Denken .......................... 277 Philosophie ohne Grenzen................................................................ 277 Theologie nach Badiou................................................................... 280 Eine reflektierte Theologie der Welt .......................................................281 Gott ist tot! – Ist Gott tot? ................................................................ 282

7. 7.1 7.2 7.3

Literatur ................................................................................ 285 Siglen ................................................................................... 285 Primärliteratur .......................................................................... 286 Sekundärliteratur........................................................................ 287

Vorwort

Die vorliegende Studie habe ich an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster als Dissertationsschrift eingereicht. Sie wurde im Wintersemester 2022/23 angenommen. Die Druckfassung entspricht bis auf kleinere sprachliche Überarbeitungen und Korrekturen der eingereichten Version. Obgleich solche Universitätsschriften in der Regel sehr umfassend und detailliert ein Problem behandeln, ist natürlich vieles nicht erwähnt. Meine Studie über das Tod-Gottes-Argument bei Alain Badiou und eine mögliche Antwort des Theologen Johann Baptist Metz ist über weite Strecken eine äußerst abstrakte Abhandlung, in der der Bezug zu Alltagserfahrungen weit entfernt wirken dürfte. Und dennoch habe ich sie mit dem Interesse entwickelt, Erfahrungen gegenwärtiger politischer Krisen zu reflektieren. Welche Denkformen liegen bestimmten politischen und ethischen Optionen zu Grunde? Welche – abstrakte – theoretische Ansätze erweisen sich als hilfreich, um beispielsweise der gegenwärtigen Klimakatastrophe oder dem weit verbreiteten Phänomen rechter Normalisierung begegnen zu können? Die Frage nach der Plausibilität des Todes Gottes bzw. der Gottesrede rührt fundamental an einem Verständnis von Hoffnung, an politischer Sensibilität und an einem Veränderungswillen. Auf die Reflexion dieser Zusammenhänge zielt meine Analyse. In diesem Sinne widme ich die Studie der Klimagerechtigkeitsbewegung und jenen, die die Prozesse rechter Normalisierung unterlaufen, sei es durch Seenotrettung oder andere Maßnahmen. Zahlreiche Menschen haben mich auf unterschiedliche Weise bei der Erstellung der Dissertation unterstützt. Ihnen allen gilt mein Dank. Zunächst danke ich Prof. Dr. Dr. Klaus Müller, Dr. José Antonio Zamora und Prof.in Dr. Marianne Heimbach-Steins, die meine Dissertation inhaltlich betreut haben und von denen ich vielfältige Unterstützung und Ermutigung erfahren habe. Ich danke herzlich meiner Frau Cordula Ackermann, mit der ich tags und nachts über meine Forschungsfragen diskutieren konnte, sowie meiner Tochter Paula, die auf die Abgabe der Studie gedrängt hatte. Weiterhin gilt mein Dank Martina Zuanel, Simon Langkamp, Christoph Holbein-Munske, Philip Rinkwitz, Jan-Hendrik Herbst, Andreas Hellgermann, Svenja Gehm, Christian Wimberger, Kuno Füssel, Michael Brie, Ulrich Engel, Josef Könning, Fana Schiefen, Laura Herrera, Thomas Seibert, Helen Ackermann, Bernd Ackermann und den Teilnehmer*innen der Oberseminare des Seminars für Philosophi-

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

sche Grundfragen und des Seminars für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster. Außerdem danke ich dem Bistum Münster für den Druckkostenzuschuss, der mir die Veröffentlichung ermöglichte, und Gero Wierichs vom transcript Verlag, der den Publikationsprozess engagiert begleitet hat. Münster, Februar 2023 – Philipp Ackermann

1. Einleitung

Die vorliegende Studie ist ein theologischer Versuch über die Philosophie Alain Badious. Ich setze mich aus katholisch-theologischer Perspektive mit Badious Tod-Gottes-Aussage auseinander. Das bedeutet, dass ich ihren Inhalt nachvollziehe, ihren Stellenwert für Badious Philosophie herausstelle und problemorientiert diskutiere. Meine theologische Referenz ist der Ansatz des katholischen Theologen Johann Baptist Metz. Eine Begegnung zwischen beiden hat meines Wissens nicht stattgefunden. Dennoch postuliere ich, dass beide Positionen durch ein gemeinsames Gespräch nutzbar verbunden werden können, in dem ich Gemeinsamkeiten – besser: eine gemeinsame Gesprächsgrundlage – sowie die jeweiligen Eigenheiten herausstelle. Vor allem geht es aber um die Frage, ob und in welchem Sinne Badious Tod-Gottes-Aussage plausibel ist. Als solche drängt sich die Rede vom Tod Gottes dem theologischen Denken auf, da mit ihr die Legitimität von Theologie – von Christentum und Religion überhaupt – aufs Schärfste in Frage gestellt wird. Meine zentralen Fragen sind deshalb: 1. Inwiefern trifft Badious Tod-GottesAussage auf die theologische Gottesrede zu? 2. Wie kann eine Theologie Badious TodGottes-Aussage verantwortet begegnen – und darin Theologie bleiben?

1.1 Der Tod Gottes im zeitgenössischen Denken Zu behaupten, Gott sei tot, dürfte gegenwärtig kaum mehr Aufsehen erregen. Selbst Friedrich Nietzsche, mit dem diese Behauptung häufig verknüpft wird, spielte bereits vor über 100 Jahren mit der Beobachtung, dass sich viele Menschen nicht mehr für Gott und seinen Tod interessierten. In der Konsequenz könnte man annehmen, dass heute gar nicht mehr die Notwendigkeit bestünde, eine solche Behauptung zu äußern, wenn sie sowieso zum allgemeinen Bewusstsein gehöre. Frederiek Depoortere fragt deshalb provokativ: »[I]s Nietzsche’s proclamation of the death of God not a bit pathetic and even completely passé?«1 Gleichzeitig verkompliziert sich der Anachronismus von Nietzsches Aussage angesichts des herrschenden religiösen – und fundamentalistischen – Booms

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Depoortere, Frederiek: The Death of God. An investigation into the History of the Western Concept of God, London 2008, 2.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

der letzten Jahrzehnte. Depoortere fragt weiter: »Indeed, is it not the case, while Nietzsche is definitely dead, God is still alive and even doing quite well?«2 Die Tod-GottesAussage befindet sich demnach zwischen einer längst wirksamen »Kultur ohne Gott«3 und einem »fundamentalistischen Glaubenszuwachs[]«4 . Wofür oder wogegen plädieren nun solche Positionen, die heute den Tod Gottes verkünden? Will man nicht hinter die Herausforderung Nietzsches zurückfallen, so muss die Tod-Gottes-Aussage tiefer reichen als eine bloße – wenn auch gegebenenfalls gerechtfertigte – Kirchenkritik. Nietzsche hat an ihr die Sprengung der Wahrheit festgemacht. Ihm zufolge stehe der Tod Gottes für das Ende einer ganzen Metaphysik, die die Einheit der Welt und ihr Außen ebenso betreffe, wie moralische Normen und den Wahrheitsbegriff. Mit dem Tod Gottes, der (nicht nur) für Nietzsche als das Epizentrum dieser Auffassungen gilt, zerfalle diese Metaphysik. Gleichermaßen sterbe Gott mit dem Zerfall der Metaphysik. Beides falle in eins. Jürgen Werbick pointiert diesen Zusammenhang: »Nietzsches Botschaft vom Tod Gottes konstatiert, dass die Erde von Gott – der Sonne, der Herkunft ihrer Intelligibilität – losgekettet ist. Das Ideal einer Erkenntnis, die nicht nur Erscheinungen perspektivisch objektiviert, sondern das Schöpfungs-Wesen des Wirklichen selbst erfasst, ist endgültig zerbrochen. Erkenntnisgewissheit ist eine Schimäre: Selbsttäuschung oder Lüge, die den perspektivischen Charakter allen Erfassens von Welt nicht wahrhaben will. Mit Gott sind die unbezweifelbaren Tatsachen ›gestorben‹, ist die Wahrheit gestorben, wenn man sie als das ›originalgetreue‹ Erfassen des Gegebenen versteht.«5 Doch was bedeutet der Zerfall einer Metaphysik? Was folgt daraus für das Denken der Welt und des bzw. der Menschen? Und ist der Gott der Metaphysik auch der Gott der Religion oder des Christentums, sodass mit dem Tod des Gottes der Metaphysik gleichermaßen die Religion untergehen müsse? In der katholischen wie evangelischen Theologie wurde und wird versucht Nietzsches Herausforderung sowie anderer radikaler Religions- und Metaphysikkritik Rechnung zu tragen. Werbick beispielsweise6 setzt dem radikalen Perspektivismus, der mit dem Wahrheitsverlust einhergeht, die ›Logik‹ des Gebets entgegen. Das Gebet sei kein Gegenbeweis für die Lebendigkeit Gottes, sondern eine Frage- und Suchform, die auf eine Gültigkeit jenseits der eigenen Gültigkeit ziele: »Das Gebet räumt den Verdacht, das Gegebene sei doch nur selbst-gegeben, nicht hieb- und stichfest aus dem Weg. Es setzt ihm seine Suche und seine Bitte entgegen: die Suche nach dem, was seine Gültigkeit für uns nicht unserem Gültigmachen verdankt; die Bitte darum, dass es – dass Er – sich uns schenke und uns schenke,

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4 5 6

Ebd. Vgl. den gleichnamigen Aufsatz: David, Philipp: Kultur ohne Gott? Radikale Theologien des Todes Gottes: jetzt und einst, in: David, Philipp/Käfer, Anne/Krüger, Malte Dominik/Munzinger, André/ Polke, Christian: Neues von Gott? Versuche gegenwärtiger Gottesrede, Darmstadt 2021. Ebd., 28. Werbick, Jürgen: Gebetsglaube und Gotteszweifel, Münster 2 2005, 39. Hervorhebung im Original. Eine prägnante Übersicht zur Strömung der sogenannten Tod-Gottes-Theologien (zu denen Werbick nicht zählt) bietet David: Kultur ohne Gott?.

1. Einleitung

ihm begegnen zu können. Wer von dieser Suche und Bitte lässt, der wäre definitiv ›Nihilist‹. Beten heißt in diesem Sinne, an eine Alternative – womöglich die einzige Alternative – zum Nihilismus zu glauben.«7 Das Gebet ist Werbick zufolge keine Letztbegründung, sondern soll einen Weg aus dem radikalen Perspektivismus eröffnen, ohne ihn zu leugnen. Das so verstandene Gebet sei damit auch nicht ohne Zweifel; es müsse jedoch nicht das Tod-Gottes-Postulat mittragen. Ähnlich äußert sich Johann Baptist Metz, dessen theologischer Ansatz in meiner Studie ausgeführt wird, zur Möglichkeit des Gebets. Sein Gebetsverständnis ist noch deutlich stärker von der Theodizeefrage angeschärft. Wie kann ein gerechter Gott Leiden geschehen lassen? Angesichts dieser Frage drückt sich das Gebet als Schrei aus.8 Es ist der Schrei an und möglicherweise auch gegen Gott, um seines*ihres Eingreifens willen. Auch in der Philosophie wurde und wird die Tod-Gottes-Annahme ausgeführt. Denker, wie Jean-Luc Nancy, Slavoj Žižek, Jacques Derrida und Alain Badiou, bemühen sich darum, die Denkräume, die sich nach dem Tod Gottes und nach dem Ende der Metaphysik eröffnen, zu beleuchten. Ihre unterschiedlichen Ansätze lassen sich nur dahingehend auf einen Nenner bringen, dass sie sich nicht schlicht mit der Aussage des Todes Gottes zufrieden geben, sondern diese für das Denken problematisieren. Laut Christopher Watkin handelt es sich vor allem um eine philosophische Strömung in Frankreich, die sich nicht einfach in den bisherigen Atheismus integrieren lasse: »These is a new move in French philosophy today to come to terms with the death of God more rigorously than ever, and it cannot be understood under the banner of ›atheism‹.«9 Watkin nennt diese Strömung eine »post-theologische«, insofern sie sich nicht an Gott bzw. an einem Gottesbegriff abarbeite, sondern versuche, die Konsequenzen zu erörtern, die sich »ohne Gott« für den Menschen, sein Selbst- und Weltverständnis sowie für seinen Wahrheitsbegriff, ergeben.10 In der folgenden Studie werde ich mich einem der Denker dieser Strömung zuwenden: Alain Badiou.11 Seine Tod-Gottes-Aussage steht im Zentrum meiner Analyse. Wo und wie tritt sie bei Badiou in Erscheinung? In was für einen Begründungszusammenhang ist diese Aussage eingebettet? Wie plausibel ist diese Aussage? Die theologische Perspektive, mit der ich versuche, diese Fragen zu klären, baut auf dem Ansatz des katholischen Theologen Johann Baptist Metz auf. Mein Ziel ist es, beide in ein – hypothetisches – Gespräch zu bringen. Zunächst möchte ich noch knapp auf vier Stationen der jüngeren Philosophiegeschichte, die im Hintergrund der zeitgenössischen Auseinander-

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Werbick: Gebetsglaube und Gotteszweifel, 57. JBMGS 4 (Memoria passionis), 95–107. Watkin, Christopher: Difficult Atheism. Post-Theological Thinking in Alain Badiou, Jean-Luc Nancy and Quentin Meillassoux, Edinburgh 2 2013, 1. Ebd., 12. Fana Schiefen hat in einer sehr instruktiven Untersuchung Jean-Luc Nancys Dekonstruktion des Christentums aus theologischer Perspektive analysiert. Schiefen, Fana: Öffnung des Christentums. Eine fundamentaltheologische Auseinandersetzung mit der Dekonstruktion des Christentums nach Jean-Luc Nancy, Regensburg 2018.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

setzung um den Tod Gottes stehen, eingehen. Grundzüge dieser Stationen finden sich immer wieder im Denken Badious und Metz’.

1.2 Von der Metaphysikkritik zur Tod-Gottes-Aussage Friedrich Nietzsche ließ Ende des 19. Jahrhunderts einen »tollen Menschen« den Tod Gottes verkünden. In Nietzsches Erzählung tritt der tolle Mensch vormittags mit einer Laterne auf einem Marktplatz auf und hält eine Rede, in der er fragt, wo Gott sei. Er beantwortet seine Frage selbst: »Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – Ihr und ich.«12 Die Situation, die Nietzsche vorstellt, wirkt seltsam, denn der tolle Mensch richtet seine engagierte Rede vom Tod Gottes an die Umherstehenden, die alle gar nicht mehr an Gott glauben. Trägt der tolle Mensch ›Eulen nach Athen‹? Nietzsches kurze Geschichte bietet viel mehr als eine religionskritische Polemik; sie thematisiert auf knappe und pointierte Weise, wie es zum »Tode Gottes« kommen konnte und dass sich diese Einsicht vom Gottesglauben bzw. Unglauben unterscheidet. Nietzsche beschreibt einen geistesgeschichtlichen Prozess, der den Tod Gottes als menschliche Tat mit einem veränderten und sich verändernden Weltverständnis verknüpft. Die Aussage des tollen Menschen wird, so lässt sich die Erzählung interpretieren, als Ergebnis einer umfassenden Metaphysikkritik präsentiert. Im Folgenden möchte ich vier Etappen dieser Entwicklung vorstellen, die alle auf unterschiedliche Weise eine Form der Metaphysikkritik vornehmen. Im Anschluss werde ich fragen, inwiefern diese Kritiken zur Tod-Gottes-Aussage führten? Die vier Etappen orientiere ich an den philosophischen Positionen von Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx und Friedrich Nietzsche.

1.2.1 Die Grenzen der Vernunft: Kant Immanuel Kants erste große ›Kritik‹, die Kritik der reinen Vernunft, leitet die umfassende Absage an die Metaphysik ein. Hegel kann bereits 25 Jahre nach der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft postulieren, dass die bis dahin bekannte Metaphysik mit »Stumpf und Stiel ausgerottet worden«13 sei. Kants grundsätzlicher Einspruch gegenüber der Metaphysik besteht darin, die Bedingungen von Erkenntnis kritisch zu analysieren, um zu klären, wie Erkenntnis überhaupt funktioniere und über welche Gegenstände wir gültige Aussagen treffen könnten, statt sich unmittelbar dem zu erkennenden Gegenstand zu widmen. In seiner Analyse der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis setzt sich Kant kritisch mit den philosophischen Strömungen des Rationalismus und des Empirismus 12 13

Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. Wir Furchtlosen (1887). Philosophische Werke, Bd. 5, herausgegeben von Claus-Artur Scheier, Hamburg 2013, 135. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik I (Werke 5), Frankfurt a.M. 1996, 13. Walter Jaeschke weist darauf hin, dass es sich bei der Formulierung »Stumpf und Stiel« um ein Wortspiel handelt. So wurde die Metaphysik nicht nur gründlich, sondern auch stilvoll ausgerottet. Die Formulierung der historisch-kritischen Logik-Ausgaben lautet »mit Stumpf und Styl«. Zitiert nach Jaeschke, Walter: Hegels Philosophie, Hamburg 2020, 122.

1. Einleitung

auseinander, um gegen beide Positionen seinen eigenen transzendentalen Idealismus zu entwickeln.14 Mit dem Rationalismus geht Kant von einem erkennenden Subjekt aus, das Verstandesbegriffe und Kategorien zur Verfügung haben müsse, um die Mannigfaltigkeit an Sinneseindrücken sortieren zu können. Die Verstandesbegriffe begreift Kant als Regeln, die eine Art Grammatik des Erkennens darstellen. Die Kategorien können wiederum als Regeln der Verstandesbegriffe bezeichnet werden, die in der Vernunft ihre Einheit erfahren.15 Erkenntnis ist in diesem Sinne systematisch strukturiert. Begriffe und Kategorien entstehen dementsprechend – gegen den Empirismus – im denkenden Subjekt. Mit dem Empirismus und gegen den Rationalismus hält Kant allerdings an der Notwendigkeit von Anschauungen, das heißt an der Notwendigkeit von (möglichen) Erfahrungen, fest. Die Anschauungen markieren gleichzeitig eine Erkenntnisgrenze, da kein Gegenstand außerhalb der Erfahrung gegeben sein könne. Mit der Limitation der Vernunft vollzieht Kant eine Wende von der traditionellen Metaphysik zur Erkenntniskritik bzw. zu einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Metaphysik.16 Mit der Einführung der Kategorien erlangt Kants Erkenntniskritik ontologische Bedeutung. Die Kategorien seien allgemeine (das heißt für alle Subjekte) gültige Aussageweisen.17 Auf diese Weise handle es sich bei den Kategorien nicht nur um Strukturen des Denkens, sondern auch um Strukturen der Wirklichkeit bzw. dessen, was ist. Genau darin liegt Kants kritisches Motiv: Es müsse sich klären lassen, was eine objektiv gültige Aussage sei und sie müsse klar von einer ausschließlich subjektiven Aussage unterschieden werden können.18 Damit zielt Kant auf eine Begrenzung des gültigen Objektbereichs: Dinge bzw. Gegenstände, die außerhalb des objektiven Geltungsbereichs liegen, gelten als leere Begriffe,19 über sie lasse sich keine gültige Aussage treffen.20 Kants Programm einer wissenschaftlichen Begründung der Metaphysik und damit einer Metaphysikkritik lässt sich als deutlich aufklärerisches Anliegen begreifen, insofern es sich gegen jede Form dogmatischer Metaphysik wendet. Ermöglicht wird diese Erkenntniskritik durch die Wende zum bzw. ins Subjekt.21 Dieser Perspektivwechsel

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Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1998, A 490/B 518. Vgl. zu Kants Kategorien Höffe, Ottfried: Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 2011, 117–131 sowie Schnädelbach, Herbert: Kant. Eine Einführung, Stuttgart 2 2018, 77–88. Zu Kants Kritik an einer christlich gefärbten Metaphysik vgl. Habermas, Jürgen: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. ²1988, bes. 18–34; vgl. ebenfalls Schmidinger, Heinrich: Metaphysik. Ein Grundkurs, Stuttgart 3 2010, bes. 104–163. Kreis, Guido: Negative Dialektik des Unendlichen. Kant, Hegel, Cantor, Berlin 2015, 169–177, hier 173. Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 141f. Dazu Kreis: Negative Dialektik des Unendlichen, 202. Kreis: Negative Dialektik des Unendlichen, 205. Adorno weist auf die »eigentümliche Doppelheit […] zwischen Nominalismus und Realismus« in der Kritik der reinen Vernunft im Hinblick auf die Kategorien hin: Einerseits werde die Einheit der Erscheinungen durch das denkende Subjekt gewährleistet. Andererseits könne das Subjekt nur in einer »Konstellation von an sich seienden Begriffen«, den Kategorien, denken. Deshalb impliziere das Kantische Verständnis der Subjektivität eine ontologische Dimension. Adorno, Theodor W.: Kants »Kritik der reinen Vernunft« (1959), Nachgelassene Schriften. Vorlesungen, Bd. 4, herausgegeben von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1995, 190f. Kant spricht hier von einer kopernikanischen Wende. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XVIf.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

erlaubt es Kant, von den Bedingungen des Subjekts ausgehend zu fragen, welche Gegenstände überhaupt erkannt werden können und wie es diese Gegenstände in einen Zusammenhang bringt.

1.2.2 Die Unendlichkeit der Vernunft: Hegel Hegels Wissenschaft der Logik greift den Gedanken Kants, dass Kategorien ontologische Aussagen sind, auf. In diesem Sinne ist Hegels »eigentliche Metaphysik« auch als »logische Wissenschaft« formuliert:22 Sie entwickelt die Denkbestimmungen, die dem Inhalt des Denkens »seine Grundbestimmtheit«23 geben. Wie Kant sucht auch Hegel nach einer Systematisierung der Kategorien, und dennoch unterscheidet sich seine Logik deutlich von Kants Kritik. Hegel greift eine besondere Problematik Kants heraus, um seine Kategorientheorie von derjenigen Kants abzuheben. Kant war im Bereich der Kosmologie darauf gestoßen, dass sich die Vernunft und mit ihr die Kategorien hinsichtlich des Weltbegriffs in notwendige Antinomien verstricken.24 Hegel greift diese Widersprüche auf und erhebt sie zum dynamisierenden Prinzip seiner Kategorientheorie. Doch treten die Antinomien in Hegels Logik nicht nur in einem bestimmten Erkenntnisbereich – der Kosmologie – auf, sondern sie gelten für alle Kategorien. Hegel transformiert somit Kants kosmologische Antinomien zu kategorialen Antinomien.25 An jeder von ihm aufgestellten Kategorie arbeitet er den inneren Widerspruch heraus, um diese Kategorie dann fallen zu lassen und in einer höheren Kategorie aufzuheben. Umgekehrt bedeutet das für Hegel, dass keine Kategorie für sich betrachtet Vollständigkeit bzw. Wahrheit beanspruchen kann, sondern erst die jeweils entgegengesetzten Kategorien – z.B. Endlichkeit und Unendlichkeit – in ihrer Einheit und letztendlich im gesamten Kategoriensystem – dem »Begriff«26 – als wahr bezeichnet werden können. Dieses Vorgehen nennt er »die wahrhafte dialektische Betrachtung«27 .

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Hegel: Wissenschaft der Logik I, 16. Iber, Christian: Was will Hegel eigentlich mit seiner Wissenschaft der Logik! Kleine Einführung in Hegels Logik, in: Arndt, Andreas/Ders. (Hg.): Hegels Seinslogik. Interpretation und Perspektiven, Berlin 2000, 13–32, hier 17. Vgl. Das Kapitel Die Antinomie der reinen Vernunft, in: Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 406-A 567/B 433-B595. Vgl. Hegels Anmerkung 2 zum Kapitel A. Die reine Quantität, in der er ausführlich Kants zweite kosmologische Antinomie kritisiert, Hegel: Wissenschaft der Logik I, 216–227 und dazu Kreis: Negative Dialektik des Unendlichen, 151–161. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik II (Werke 6), Frankfurt a.M. 11 2017, 243–573, hier 573. Hegel: Wissenschaft der Logik I, 225. In diesem Sinne ist auch Hegels berühmte Formulierung aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes zu verstehen: »Das Wahre ist das Ganze.« Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (Werke 3), Frankfurt a.M. 1986, 24. Vgl. Iber, Christian: Subjektivität, Vernunft und ihre Kritik. Prager Vorlesungen über den Deutschen Idealismus, Frankfurt a.M. 1999, 119–190.

1. Einleitung

Für Hegel stellen die Kategorien, die er häufiger »Denkbestimmungen«28 nennt, nicht nur die Strukturen des Denkens dar, sondern sie beanspruchen ebenfalls Geltung für die Welt überhaupt. Christian Iber charakterisiert Hegels Philosophie deshalb als »vernunftfundamentalistisch«29 , insofern die Vernunft unser Denken sowie die Welt strukturiert. Hegel formuliert in diesem Sinne die Ontologie als Logik sowie umgekehrt, die Logik als Ontologie. Auf diese Weise beansprucht Hegel die Selbstbegründung der Vernunft, die gleichermaßen weltstrukturierend sei. Die Vernunft werde unendlich und löse den Gegensatz von immanenter Welt und transzendentem Gott in sich auf.30 Damit schließt Hegel in der Logik jede äußere – göttliche/transzendente – Fundierung der Vernunft und der Wirklichkeit aus. Zwar charakterisiert er seine Logik als »die Darstellung Gottes […], wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist«31 , aber auf diese Weise entfaltet er gerade nicht die christlichen Attribute Gottes, sondern legt umgekehrt seine Vernunftphilosophie in den Gottesbegriff. Es handelt sich somit um eine enttheologisierte Theorie der unendlichen Vernunft.32

1.2.3 Die Entstehung der Gesellschaftstheorie: Marx Die elfte These über Feuerbach gehört wahrscheinlich zu den berühmtesten und folgenreichsten Sätzen der Philosophie: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.«33 Mit seinen elf Thesen über Feuerbach hat Marx eine radikale Veränderung der Philosophie eingeleitet. Philosophie solle nun zu einer Theorie der Gesellschaft werden.34 Die neue Art der Philosophie wird in ein neues Verhältnis zu ihrem Außen gesetzt. Genauer: Sie soll auf die eine oder andere Weise in Verbindung mit der bewussten Veränderung der Welt stehen. Diese Veränderung vollzieht Marx mithilfe der Kategorientheorie Hegels. Herbert Marcuse hat den Weg von Hegels Werk zur Entstehung einer Theorie der Gesellschaft bei Marx (und

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Hegel verwendet die Bezeichnungen Denkbestimmungen und Kategorien synonym, was insbesondere aus der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Logik hervorgeht, Hegel: Wissenschaft der Logik, 19–34. Vgl. auch Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 1 (Werke 8), Frankfurt a.M. 1986, 71–76 (§20). »Vernunftfundamentalistisch liegt das Ziel der Daseinslogik darin, daß aufgewiesen wird, daß letztlich die Vernunft das gründende Ganze des Daseins und dieses damit vernünftig ist.« Iber: Subjektivität, Vernunft und ihre Kritik, 120. Ich beziehe mich auf das zweite Kapitel (die Daseinslogik) von Hegels Logik, ebd., 115–173. Vgl. Kreis: Negative Dialektik des Unendlichen, 151–353 und Iber: Subjektivität, Vernunft und ihre Kritik, 119–190. Hegel: Wissenschaft der Logik I, 44. Hervorhebung im Original. Vgl. Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Darmstadt 1972, 127f.; Marcuse, Herbert: Schriften 2. Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt a.M. 1989, 67f.; Jaeschke: Hegels Philosophie, 153–158; Garaudy, Roger: Gott ist tot. Das Problem, die Methode und das System Hegels, Frankfurt a.M. 1985, 205. Marx, Karl: Thesen über Feuerbach (1845), in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 3, Berlin 1990, 7. Hervorhebung im Original. Vgl. Álvarez, Eduardo: Las ideas filosóficas de Marx, Madrid 2021; Marcuse: Vernunft und Revolution, 223–282.

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über ihn hinaus) detailliert nachgezeichnet. Er charakterisiert die zentrale Veränderungen von Hegel zu Marx wie folgt: »Wir werden sehen, daß alle philosophischen Begriffe der Marx’schen Theorie gesellschaftliche und ökonomische Kategorien sind, während Hegels gesellschaftliche und ökonomische Kategorien allesamt philosophische sind.«35 Marcuses Formulierung ist zwar pauschal – denn natürlich verwendet Marx weiterhin philosophische Kategorien –, sie betont aber zu Recht den neuen und hervorgehobenen Stellenwert ökonomischer Kategorien für die Theorie und damit für das Außerhalb der Philosophie. Die Kategorien dienen nicht mehr der Selbstaussage dessen, was ist, sondern mit ihnen soll das durchdrungen werden, was nicht Vernunft ist. Die Vernunft nimmt ihr Außerhalb wahr. Mehr noch: Marx zeigt auf, dass und wie die Vernunft (und mit ihr das Denken) aus diesem Außerhalb entsteht. Es seien die Arbeit und bestimmte Formen von Arbeitsteilung, die ein bestimmtes Denken hervorbrächten. Denkerische Abstraktionen, wie solche der Philosophie, der Metaphysik und der Religion ließen sich auf die materiellen, gesellschaftlichen Bedingungen zurückführen, wie er zusammen mit Friedrich Engels in der Deutschen Ideologie analysiert.36 Eine auf Emanzipation zielende Theorie dürfe sich deshalb nicht mit der Kritik bestimmter Denkformen begnügen, wie dies Ludwig Feuerbach in Das Wesen des Christentums vorgenommen hatte.37 Stattdessen müssten die materiellen, gesellschaftlichen Bedingungen auf ihre freiheitsnegierenden Züge hin analysiert werden, um diese verändern zu können. Marx rezipiert deshalb ausführlich die Werke der politischen Ökonomie und unternimmt eine kritische Überprüfung ihrer Theorien. Dazu entwickelt er aus Hegels Werk die dialektische Methode zu einer materialistischen Dialektik weiter. Materialistisch ist sie, insofern sie die Widersprüche der Kategorien nicht (nur) im Begriff, sondern in den gesellschaftlichen Verhältnissen aufspürt. Marx kann auf diese Weise das Außen der Theorie – empirische Sachverhalte38 – in die Theorie integrieren, ohne eine vollständige begriffliche Identität herzustellen: Reale Widersprüche bleiben reale Widersprüche. Materialistisch ist sie auch, insofern sie alle geistigen Vollzüge (die eigene Theorie eingeschlossen) von den gesellschaftlichen Verhältnissen bedingt begreift.39 Marx’ Theorie ist einerseits als umfassende, andererseits als offene angelegt. Umfassend ist sie, weil sie beansprucht, alle gesellschaftlichen Phänomene in die Theorie aufnehmen zu können (und zu müssen), offen ist sie, da sie den Widerspruch nicht bloß als theoretisch begreift. Auf diese Weise behält sie die Nichtidentität von Begriff und Gegenstand bei. Marx vollzieht also einen Schritt, in dem die klassischen Fragen der Meta-

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Marcuse: Vernunft und Revolution, 229. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Deutsche Ideologie, Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 3, 31. Vgl. auch Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band (1867), in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 23, Berlin 22 2007, 27. Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 5, bearbeitet von Werner Schuffenhauer und Wolfgang Harich, Berlin 2006. Dazu: Arndt, Andreas (Hg.): Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums, Berlin 2020; Quante, Michael/Mohseni, Amir (Hg.): Die linken Hegelianer. Studien zum Verhältnis von Religion und Politik im Vormärz, Paderborn 2015. Vgl. Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), in: Marx-Engels-Werke (MEW) Ergänzungsband, Berlin 1973, 568–588, hier 467. Vgl. Arndt, Andreas: Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie, Berlin ²2012, 216–255.

1. Einleitung

physik und der Religion nicht bloß falsch sind, sondern ihre Relevanz verlieren, da er die ganze Ausrichtung der Theorie verändert.

1.2.4 Das Ende der Metaphysik als »Tod Gottes«: Nietzsche Neben Marx kann Nietzsche zu einem der »wirkmächtigsten Denker des 19. Jahrhunderts«40 gezählt werden. Bei großer inhaltlicher Differenz teilen beide Autoren ihre tiefe Skepsis gegenüber den Fortschritten der Aufklärung und der Moderne41 sowie gegenüber metaphysischem Denken. Nietzsches Aussage »Gott ist tot« kann in diesem Sinne als höchster Ausdruck dieser Metaphysikkritik interpretiert werden. So stehe laut Heidegger dieser Satz »für ein Stadium der abendländischen Metaphysik, das vermutlich ihr Endstadium ist«42 . Inwiefern kann Nietzsches Aussage vom Tod Gottes metaphysikkritisch oder gar antimetaphysisch und nicht ›bloß‹ antitheologisch aufgefasst werden? Nietzsches Formulierung des Todes Gottes taucht das erste Mal in seinem Buch Die fröhliche Wissenschaft (1882/1887) auf und wird in Also sprach Zarathustra (1883/1885) wieder aufgegriffen. Die berühmteste Stelle dieser Aussage dürfte der Aphorismus 125 Der tolle Mensch in Die fröhliche Wissenschaft sein.43 Der Aphorismus ist als Parabel bzw. Gleichnis geschrieben, das nicht argumentativ, sondern narrativ-metaphorisch strukturiert ist. »Gleichnisse erklären und informieren nicht; Gleichnisse treffen«44 , so charakterisiert Klaus Müller die Funktion von Gleichnissen. In diesem Sinne lässt sich das Gleichnis vom tollen Menschen zwar auslegen, aber nicht argumentativ verarbeiten. Der tolle Mensch verkündet auf einem Marktplatz an die Umherstehenden den Tod Gottes.45 Der Tod Gottes ist nicht Folge eines Unfalls, sondern eines Mordes. »Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich!« Obwohl die fröhliche Wissenschaft deutlich im Stile einer Komödie verfasst ist, enthält sie auch dramatische Elemente. Der Tod Gottes ist eines davon. »Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab?«46 Nietzsche lässt Drama und Komödie ineinander übergehen. Noch deutlicher

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Wallat, Hendrik: Das Bewusstsein der Krise. Marx, Nietzsche und die Emanzipation des Nichtidentischen in der politischen Theorie, Bielefeld 2009, 11. In seiner Studie über Marx und Nietzsche stellt Wallat die überzeugende These auf, dass »[f]ür das Denken von Marx und Nietzsche […] das Bewusstsein der Krise konstitutiv [ist].« Gemeint ist die Krise der Moderne. Wallat: Das Bewusstsein der Krise, 12. Hervorhebung im Original. Heidegger, Martin: Nietzsches Wort »Gott ist tot« (1943), in: Ders.: Holzwege. Gesamtausgabe Bd. 5, Frankfurt a.M. 1977, 209–267, hier 209. Dazu: Wendel, Saskia: Vollendung der Metaphysik. Zur Nietzsche-Kritik Martin Heideggers, in: Müller, Klaus (Hg.): Natürlich: Nietzsche! Facetten einer antimetaphysischen Metaphysik, Münster 2002, 118–137. Nietzsche: KSA 3, 480–482. Das erste Mal ist die Aussage »Gott ist todt« in Aphorismus Nr. 108 erwähnt, ebd., 467. Vgl. dazu Köster, Peter: Gott, in: Ottmann, Henning (Hg.): Nietzsche Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2 2011, 245–248; Ries, Wiebrecht/Kiesow, Karl-Friedrich: Von Menschliches, Allzumenschliches bis zur Fröhlichen Wissenschaft (1878–1882), in: Ottmann (Hg.): Nietzsche Handbuch, 91–119. Müller, Klaus: Natürlich: Nietzsche! Einführung, in: Ders. (Hg.): Natürlich: Nietzsche! Facetten einer antimetaphysischen Metaphysik, Münster 2002, 1–11, hier 5. Die folgenden Zitate stammen aus Nietzsche: KSA 3, 482–484. Hervorhebungen im Original. Nietzsche: KSA 3, 481.

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kommt dieses Ineinander von Drama und Komödie in Aphorismus 343 unter dem Titel Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat 47 zum Vorschein. Einerseits betont Nietzsche die dramatischen Folgen des Todes Gottes: »Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriethe heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsterniss, deren Gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat?«48 Andererseits eröffnet der Tod Gottes auch Perspektiven für Neues und Freude: »[S]eine Folgen für uns sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermuthigung, Morgenröthe … In der That, wir Philosophen und ›freien Geister‹ fühlen uns bei der Nachricht, dass der ›alte Gott todt‹ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ›offnes Meer‹.«49 Nietzsches Zeitdiagnose geht von Schrecken in Faszination über. Der Tod Gottes führe zu nicht näher ausgeführter Zerstörung sowie noch mehr zu Glück und Erleichterung bei den »Philosophen«. Er ermögliche wieder freies Denken. Mit diesen unterschiedlichen Aspekten deutet Nietzsche auch auf die umfassende Bedeutung des Gottesbegriffs hin. Seine Formulierungen lassen sich so interpretieren, dass Gott als grundsätzliche Erkenntnisbedingung und -grenze, als Norm, fungiert hatte. Diese Norm habe allgemein gegolten und sei nicht nur auf den Bereich der religiösen Praxis beschränkt gewesen. Mit Gottes Tod falle diese Norm nun weg. Nietzsches Aphorismen wollen auf diese neue Situation hinweisen, vorbereiten und Konsequenzen ziehen. Doch, so fragt Nietzsche, wie konnten »wir« eigentlich Gott töten? Nietzsche gibt keine Erklärung im strengen Sinne für diesen Mord, sondern Hinweise in Form von Metaphern: »Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?«50 Alle drei Tätigkeiten lassen sich als Immanentisierungen – Verinnerlichungen/Vereinnahmungen – zentraler Topoi der Metaphysik deuten. Die Sonne stehe für das Wahre, Gute und Schöne, das Meer für die Unendlichkeit (Gottes) und der Horizont für das Jenseits.51 Folglich führten die Immanentisierung des Unendlichen, die

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Nietzsche: KSA 3, 573–574. Ebd., 573. Ebd., 574. Hervorhebungen im Original. Nietzsche: KSA 3, 481. Vgl. Wallat: Das Bewusstsein der Krise, 468f. Mit Verweis auf Eugen Biser.

1. Einleitung

Auflösung der Trennung eines Diesseits und eines Jenseits sowie die Lossagung von der Wahrheit zum Tode Gottes. Welche Prozesse Nietzsche konkret im Blick hat, die zu diesen drei Ablösungen geführt haben, lassen sich dem Aphorismus nicht entnehmen. Dass mit der Philosophie der Aufklärung und der Entwicklung der Naturwissenschaften diese drei Themen bis zu Nietzsche immer stärker zur Disposition stehen, zeigen nicht zuletzt die von mir besprochenen Ansätze von Kant, Hegel und Marx. Nietzsche scheint diese Auf- und Ablösungsprozesse in der Rede vom Tod Gottes konzentrieren zu wollen. Mit diesem Gottesverständnis verknüpft Nietzsche unterschiedliche Gottesvorstellungen und -begriffe. Insbesondere führt er einen christlichen Gott der biblischen Offenbarung mit einem grundsätzlich metaphysischen Gottesprinzip zusammen.52 Inwiefern Nietzsches Gottesbegriff tatsächlich auf den christlichen Gott zutrifft, wird durchaus vielfach in Frage gestellt.53 Nichtsdestoweniger richtet sich Nietzsches Angriff auf bestimmte Weisen, Gott zu denken. Insbesondere Gott als metaphysisches Prinzip wird destruiert.

1.3 Johann Baptist Metz’ Theologie Johann Baptist Metz darf sicherlich zu den wirkmächtigsten deutschsprachigen katholischen Theolog*innen nach dem zweiten Vatikanischen Konzil gezählt werden. Mit seinem Programm der Neuen Politischen Theologie hat er, wie nur wenige andere, die theologische Auseinandersetzung mit der Aufklärung und ihrer Dialektik gesucht. Johann Baptist Metz, geboren 1928, stammt aus der Kleinstadt Auerbach in Bayern. Der bayrische Katholizismus dieser Kleinstadt hat ihm, wie Tiemo Rainer Peters schreibt, ein deutliches Maß an »Ungleichzeitigkeit« ermöglicht: »Weitabliegende Wahrheiten aufzuspüren (auch die der Religion, die selbst in Bayern längst marginal geworden ist); sie in ihrer ›produktiven Ungleichzeitigkeit‹ wahrzunehmen, weil darin noch eine Glut stecken könnte; nicht mit der Zeit zu gehen, sondern dem gängigen Rhythmus einen anderen entgegenzusetzen – kontrapunktisch, korrektivisch: Wo steht einer, der dies unternimmt?«54 Peters erkennt in Metz’ bayrischer Herkunft einen Impuls kritischen Denkens. Dem bayrischen Katholizismus verpflichtet, hat Metz die Gottesfrage entgegen allen religionskritischen Motiven der Aufklärung ins Zentrum des Denkens von Emanzipation gestellt. »Gott« wird in diesem Sinne nicht nur als Thema von Kirche oder Theologie verhandelt, sondern als »Menschheitsthema«. Metz findet im Konzilstheologen Karl Rahner seinen 52

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Zum Gottesbegriff bei Nietzsche vgl. Köster: Gott; Depoortere: The Death of God, 7–23. Depoortere betont, dass die Unterscheidung vom christlichen Gott der Offenbarung und dem Gott der Metaphysik nicht tragfähig ist. Zur theologischen Einordnung vgl. Jüngel, Eberhard: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 6 1992, 55–137; Müller: Natürlich: Nietzsche! Einführung; Werbick, Jürgen: Wurzeln der Religions- und Christentumskritik Friedrich Nietzsches, in: Müller, Klaus (Hg.): Natürlich: Nietzsche! Facetten einer antimetaphysischen Metaphysik, Münster 2002, 48–71. Peters, Tiemo Rainer: Johann Baptist Metz. Theologie des vermißten Gottes, Mainz 1998, 20.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Lehrer: »Denn Gott, ich wiederhole mich im Sinn K. Rahners, ist entweder ein Menschheitsthema, oder er ist überhaupt kein Thema!«55 Gott als Menschheitsthema zu entfalten, ist Metz’ großes Programm auch über seine Lehrtätigkeit in Münster (1963–1993) hinaus. Am stärksten dürfte dieses Anliegen mit dem Programm der sogenannten Neuen Politischen Theologie verbunden sein. Seit der Begegnung mit Ernst Bloch und anderen reformorientierten Marxisten in den 1960er Jahren ist Metz darum bemüht, die Theologie als eine politische Theologie zu entwerfen. Politische Theologie ist dabei weder als Staats- oder Herrschaftsdiskurs verstanden, sondern gerade als ein herrschaftskritisches Denken. Deutlich angeregt durch die kritische Theorie der Frankfurter Schule soll die Theologie ihre gesellschaftliche Bedingtheit kritisch reflektieren und ihre Potenziale zur Emanzipation freilegen. Die so konzipierte Neue Politische Theologie tritt somit nicht nur mit bestimmten Inhalten an ›die Gesellschaft‹ heran, sondern begreift sich selbst als (kritisch-reflektierter) Ausdruck eben dieser Gesellschaft.56 Doch wie kann eine Theologie, die an eine kirchliche Institution gebunden und durch Herrschaftsgeschichte geprägt ist, an Emanzipation teilhaben? Handelt es sich nicht um eine Selbstüberschätzung oder wenigstens um einen Selbstwiderspruch, wenn gerade der Gottesbegriff zur Herrschaftskritik und zur Emanzipation in Stellung gebracht wird? Metz schlägt zwei Wege ein, um die Theologie am emanzipatorischen Denken teilhaben zu lassen. Zum einen sucht er kritische Elemente des biblischen Erbes freizulegen. In einer Vorlage für das Dokument der Würzburger Synode Unsere Hoffnung (1974), an dem Metz federführend mitgewirkt hat, erinnert er die Christ*innen daran: »Jesus war weder ein Narr noch ein Rebell; aber offensichtlich beiden zum Verwechseln ähnlich. Schließlich wurde er von Herodes als Narr verspottet, von seinen Landsleuten als Rebell ans Kreuz ausgeliefert. Wer ihm nachfolgt, wer die Armut seines Gehorsams nicht scheut, wer den Kelch nicht von sich weist, muss damit rechnen, dieser Verwechslung zum Opfer zu fallen und zwischen alle Fronten zu geraten – immer neu, immer mehr.«57 Metz weist hier auf die inhaltliche Nähe Jesu Christi zu den Rebell*innen in Palästina bzw. im Römischen Reich im ersten Jahrhundert hin. Der Kreuzestod galt als Urteil für die Widerstandskämpfer*innen gegen das Römische Reich. Doch statt hier die Verwechselung mit dem Hinweis aufzuschlüsseln, dass Jesus etwas ganz anderes im Sinne hätte, behält Metz den Verwechslungsgedanken bei, um darin auf eine Nähe hinzuweisen. Das Handeln Jesu richtete sich auf Gerechtigkeit und Befreiung und ebenso sollten Metz zufolge die Christ*innen handeln – dafür stehe der Begriff der Nachfolge. Der andere Weg, um die Theologie in das emanzipatorische Denken einzubringen, ist Metz’ Kritik an der Aufklärung und an bestimmten Emanzipationskonzepten. Wie Horkheimer und Adorno postuliert Metz eine Dialektik der Aufklärung. Die Befreiung

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JBMGS 4 (Memoria passionis), 113. Vgl. JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 69–101; 151–167. JBMGS 6.2 (»Unsere Hoffnung. Ein Glaubensbekenntnis in dieser Zeit«. Vorlage für die erste Lesung), 49.

1. Einleitung

von Herrschaft führe zu einer neuen Herrschaftspraxis. Metz’ Kritik richtet sich vor allem gegen eine Vorstellung von Emanzipation, die auf Fortschritt aufbaut. Die Befreiung von Herrschaft könne nicht erst in die Zukunft verlagert werden, da dann nur die Überlebenden »Sieger« wären. Vielmehr müssen die Vergangenen in die Emanzipationshoffnung aufgenommen werden.58 Aufgrund seiner Fokussierung auf den Gottesbegriff, der einerseits durch die christliche Tradition, aber auch durch die kritische Rezeption der Aufklärung und des Marxismus geprägt ist, halte ich Johann Baptist Metz für einen geeigneten theologischen Gesprächspartner für Alain Badiou. Metz’ Auseinandersetzung mit reformorientierten marxistischen Positionen und seine Aufklärungskritik laden dazu ein, die theoretischen Hintergründe der Gottesrede von Badiou und Metz selbst in den Blick zu nehmen. Dieser Zugang bietet sich vor allem an, wenn man den theoretischen Bruch in der Theologie von Metz von 1965 wahrnimmt. In dieser Zeit beginnt Metz, sich deutlich von seinem frühen transzendentaltheologischen und an der Ontologie orientierten Ansatz zu lösen, um eine gesellschaftstheoretisch vermittelte Theologie zu entwickeln. Mein Interesse richtet sich deshalb zunächst auf den Weg, der zum Bruch von 1965 führt und anschließend auf den Entwurf einer nachidealistischen Theologie der Welt.

1.4 Forschungsstand (I): Theologie nach Johann Baptist Metz Johann Baptist Metz gehört zu den einflussreichen Persönlichkeiten der deutschsprachigen katholischen Theologie. Insofern ist auch sein Werk viel rezipiert und grundsätzlich erschlossen. Mit ihm wird die Begründung der sogenannten Neuen Politischen Theologie verbunden. Wenn Metz’ Theologie rezipiert wird, ist damit in der Regel die Neue Politische Theologie gemeint. Seine Arbeiten, die in die Zeit vor der Wende zur Neuen Politischen Theologie fallen, sind hingegen wenig rezipiert und teilweise kaum erschlossen.59 Diese frühe Zeit lässt sich grob als Metz’ transzendentaltheologische Phase bezeichnen, die in deutlicher Nähe zu Karl Rahners Ansatz steht. Angesichts der vielen Rezeptionswege der metzschen Theologie halte ich klare Unterscheidungen von Rezeptionslinien nicht für adäquat. Eine grobe Unterteilung zweier Rezeptionsansätze, die nicht eindeutig voneinander geschieden sind, schlage ich dennoch vor. Den ersten nenne ich einen anknüpfend-erweiternden Ansatz, den ich größtenteils parallel zu Metz’ Entfaltung der Neuen Politischen Theologie verorte. Vor allem in den 1970er und 1980er Jahren, in denen Metz Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Münster ist, greifen mehrere Theolog*innen sein Programm einer Neuen Politischen Theologie auf und arbeiten an einer Weiterentwicklung. Hier zähle ich die Arbeiten unter anderem von Helmut Peukert, Kuno Füssel, Fernando Castillo, Christine Schaumberger und Tiemo Rainer Peters zu. Es handelt sich um Studien, die das gesellschaftskritische Programm der Neuen Politischen Theologie aufgreifen und eigenstän-

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JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 134–149. Metz’ frühe philosophischen Studien (seine philosophische Dissertation und ein Zeitschriftenartikel gleicher Ausrichtung) wurden nicht in die kürzlich herausgegebenen Gesammelten Schriften aufgenommen. Vgl. dazu Kapitel 4.

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dig fortführen. Ich nehme Tiemo Rainer Peters’ Einschätzungen zum Verständnis der Neuen Politischen Theologie stellvertretend für diesen Rezeptionsansatz, der im Vorwort zu den sogenannten Theologisch politischen Protokollen schreibt: »Wir stehen mitten im Prozeß dieser maßgeblich von Johann Baptist Metz und auch von Jürgen Moltmann, Helmut Gollwitzer und Dorothee Sölle vertretenen Denkrichtung, die ungewohnte praktische Perspektiven für die Theologie als ganze entwarf.«60 Die Neue Politische Theologie wird (noch) als sich entwickelnd, als sich im Prozess befindend, aufgefasst. Die Vertreter*innen dieses Rezeptionsansatzes sehen ihre Aufgabe darin, diesen Prozess weiterzuführen und mitzugestalten. Das Subjekt der Neuen Politischen Theologie ist nicht nur Metz oder Metz, Moltmann, Gollwitzer und Sölle, sondern ein »ständig wechselnde[r], zufällige[r], doch in der Gemeinsamkeit des Angestrebten konstante[r] Kreis«61 . Die Ansätze von Fernando Castillo, Kuno Füssel und Christine Schaumberger zeigen, wie sehr sich ihre Vertreter*innen vom theoretischen Rahmen der metzschen Theologie lösen können. Castillo bemüht sich um eine Verknüpfung von Neuer Politischer Theologie im Anschluss an Metz und den frühen Ansätzen der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung. In einem Vorwort zu einem Sammelband, der diese Verknüpfung aufzeigen soll, schreibt er: »Die Konvergenzen zwischen Theologie der Befreiung und politischer Theologie werden durch viele Grundrichtlinien in den Arbeiten dieses Bandes deutlich. Die Hervorhebung der politischen Dimension und Verantwortlichkeit des Glaubens, das Bestehen auf der Praxis als ›epistemologischer Wende‹ in der Theologie, die Option für eine Geschichte des Christentums als Befreiungsgeschichte der Unterdrückten, die Frage nach dem Verhältnis von Mystik und Politik und, nicht zuletzt, die Frage nach dem Volk und seinem Verhältnis zur Kirche, sind einige der besonders in den neuen Arbeiten von Johann Baptist Metz deutlich vorhandenen und hervorhebbaren Berührungspunkten [sic!] der politischen Theologie und der Theologie der Befreiung.«62 Castillo hebt einige Aspekte der metzschen Theologie, wie die politische Dimension und Verantwortlichkeit des Glaubens oder das Verhältnis von Mystik und Politik, hervor, um mit ihnen Konvergenzpunkte zur Theologie der Befreiung aufzuzeigen. Das exakte Setting dieser Aspekte in der metzschen Theologie ist für ihn dabei zweitrangig. Vielmehr entwickelt er diese Aspekte im Hinblick auf die Theologie der Befreiung weiter. Kuno Füssel geht grundsätzlich ähnlich wie Castillo vor. Auch er bemüht sich um eine Theologie »in Übereinstimmung mit dem Theologieverständnis der politischen Befreiungstheologien«63 . Füssels Ansatz ist insofern hervorzuheben, da er einige metzsche Überlegungen, die deutlich von der Philosophie der Frankfurter Schule geprägt sind, mit

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Peters, Tiemo Rainer: Schritte im Unwegsamen. Zu diesem Buch, in: Ders. (Hg.): Theologisch politische Protokolle, München/Mainz 1981, 8. Ebd., 9. Peters hat hier zunächst das Doktorandenkolloquium von 1978 von Metz im Blick. Castillo, Fernando: Vorwort, in: Ders. (Hg.): Theologie aus der Praxis des Volkes. Neuere Studien zum lateinamerikanischen Christentum und zur Theologie der Befreiung, Mainz 1978, 12. Füssel, Kuno: Sprache, Religion, Ideologie. Von einer sprachanalytischen zu einer materialistischen Theologie (1982), in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Münster/Luzern 2021, 14.

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der Philosophie des französischen Strukturalismus, insbesondere Althussers, weiterentwickelt. Füssel scheint mit seiner Vermittlung zu versuchen, die theoretischen Spannungen zwischen den Philosophien der Frankfurter Schule und dem französischen Strukturalismus zu überwinden.64 Christine Schaumbergers Ansatz interpretiere ich als eine wesentlich gebrochene Weiterführung der Neuen Politischen Theologie von Metz. Als feministische Theologin weist sie zwar auf die grundsätzlichen Möglichkeiten der Neuen Politischen Theologie hin, kritisiert sie aber zu Recht hinsichtlich ihres Desiderats, Geschlechterverhältnisse bzw. Sexismus und Patriarchat wahrzunehmen. Sie schreibt: »Meine erste Begegnung mit Politischer Theologie war wie eine Befreiung: Bei dieser Lektüre fühlte ich mich nicht unterdrückt. Ich fand viele meiner Gefühle, Ideen, Erfahrungen angesprochen, z.B. in der Kritik der Siegergeschichte und der Erinnerung an die namenlosen Verlierer in dieser Geschichte. Aber dann wunderte es mich umso mehr, daß nicht einmal hier Frauen als Unterdrückte, als Stimmlose, Namenlose benannt wurden.«65 Schaumberger kritisiert die fehlende feministische Seite – die »Frauenseite« – in der metzschen Theologie. Ihre Weiterentwicklung einer feministischen Befreiungstheologie nimmt zwar in der Neuen Politischen Theologie einen Ausgangspunkt, verlässt diese aber in weiten Teilen aufgrund dieses Desiderats.66 Alle diese anknüpfend-erweiternden Ansätze sind zwar mitunter sehr heterogen, weisen aber die Gemeinsamkeit auf, dass sie sich auf die Neue Politische Theologie im Anschluss an Metz beziehen. Das heißt, dass nicht die Theologie von Metz, weder sein gesamter Denkweg noch seine expliziten Ausarbeitungen, sondern eher bestimmte Grundanliegen, die mit dem Programm der Neuen Politischen Theologie verbunden werden, im Zentrum stehen. Es ist zu beachten, dass der Begriff der Neuen Politischen Theologie weder bei Metz selbst noch bei seinen nahen oder fernen Mitstreiter*innen exakt gefasst ist.67 So gelungen die jeweiligen Entwürfe auch sein mögen, sie eignen 64 65 66

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Mit meiner Studie teile ich dieses Anliegen. Schaumberger, Christine: Die Frauenseite: Heiligkeit statt Hausarbeit, in: Peters, Tiemo Rainer (Hg.): Theologisch politische Protokolle, München/Mainz 1981, 251f. Vgl. Schaumberger, Christine: Subversive Bekehrung. Schulderkenntnis, Schwesterlichkeit, Frauenmacht: Irritierende und inspirierende Grundmotive kritisch-feministischer Befreiungstheologie, in: Dies./Schottroff, Luise: Schuld und Macht. Studien zu einer feministischen Befreiungstheologie, München 1988, 153–288. Neuere, unterschiedlich stark ausgearbeitete, Entwürfe, die ich dem anknüpfend-erweiternden Ansatz zurechne, wären: Engel, Ulrich: Politische Theologie »nach« der Postmoderne. Geistergespräche mit Derrida und Co., Ostfildern ²2016; Geitzhaus, Philipp/Ramminger, Michael (Hg.): Gott in Zeit. Zur Kritik der postpolitischen Theologie, Münster 2018; Kreutzer, Ansgar: Politische Theologie für heute. Aktualisierungen und Konkretionen eines theologischen Programms, Freiburg i.Br. 2017; Manemann, Jürgen: Exoduspolitik. Politik ex memoria passionis, in: Kühnlein, Michael (Hg.): Das Politische und das Vorpolitische. Über die Wertgrundlagen der Demokratie, Baden-Baden 2014, 339–359; Manemann, Jürgen: Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer, Bielefeld 2021; Strobel, Katja: Zwischen Selbstbestimmung und Solidarität. Arbeit und Geschlechterverhältnisse im Neoliberalismus aus feministisch-befreiungstheologischer Perspektive, Münster 2012; Wendel, Saskia: Religiös motiviert – autonom legitimiert – politisch engagiert. Zur Zukunftsfähigkeit

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sich nur in einem begrenzten Maße der Analyse der metzschen Theologie als ganzer. Denn zum einen sind diese Entwürfe weniger Analysen, denn explizite und eigenständige Weiterentwicklungen der Neuen Politischen Theologie, zum anderen umfasst die metzsche Theologie mehr als nur die Phase der Neuen Politischen Theologie. Zu ihr gehören natürlich ebenfalls Metz’ Studien vor 1965, die eher transzendentaltheologisch genannt werden können. Neben dem anknüpfend-erweiternden Rezeptionsansatz gibt es noch einen, den ich nachvollziehend-interpretierend nennen möchte. Zu diesem nachvollziehend-interpretierenden Ansatz zähle ich solche Studien, die auf Metz’ Theologie bzw. seinen Denkweg selbst zielen. Im Unterschied zum anknüpfend-erweiternden Ansatz liegt sein Fokus nicht in der Weiterführung des Programms der Neuen Politischen Theologie, sondern im analysierenden Verstehen der metzschen Theologie. Beide Ansätze sind jedoch nicht als Alternativen aufzufassen und die Unterscheidung dient auch nicht der qualitativen Bewertung der jeweiligen Ansätze. Es geht vielmehr darum, unterschiedliche Zielsetzungen in den beiden Ansätzen wahrzunehmen. So lassen sich in den meisten Studien, die ich dem anknüpfend-erweiternden Rezeptionsansatz zuordne, auch nachvollziehend-interpretierende Elemente finden, wie umgekehrt eine nachvollziehend-interpretierende Analyse das Ziel verfolgen kann, das (vermeintliche) Anliegen der Neuen Politischen Theologie weiterzuführen. Zum nachvollziehend-interpretierenden Rezeptionsansatz zähle ich solche Studien, die einzelne Aspekte der metzschen Theologie analysieren oder sogar eine Werkinterpretation vornehmen. Werkinterpretationen haben bereits früh eingesetzt. 1976 veröffentlichte Gerhard Bauer eine umfangreiche Studie unter dem Titel Christliche Hoffnung und menschlicher Fortschritt. Die politische Theologie von J.B. Metz als theologische Begründung gesellschaftlicher Verantwortung des Christen. Bauers Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie auch die theologische Produktion von Metz vor seiner politischen Wende berücksichtigt. Dazu zieht er Metz’ Veröffentlichungen zwischen 1962 und 1966/67 heran, vornehmlich seine theologische Dissertation Christliche Anthropozentrik (1962) und die Aufsätze in Zur Theologie der Welt (1962–1967). Bauer begründet sein Vorgehen und seinen Umgang mit diesen Veröffentlichungen folgendermaßen: »Neben der wachsenden Verschiedenartigkeit zum transzendentalen Ausgangspunkt seines [Metz, P.A.] Denkens soll dennoch in diesem einführenden Kapitel gerade die innere Konsequenz der Entwicklung von Metz dargestellt werden. Unter dieser leitenden Absicht ist es wohl auch legitim, die früheren Schriften von Metz bereits im Lichte der späteren zu lesen, ohne dabei die wesentlichen Unterschiede zu verwischen.«68 Bauer zeigt die Genese des Programms der Neuen Politischen Theologie anhand von Metz’ früheren Veröffentlichungen auf. Obwohl er die politische Wende in Metz’ Denken

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Politischer Theologie angesichts der Debatte um den öffentlichen Status religiöser Überzeugungen, in: Könemann, Judith/Dies. (Hg.): Religion, Öffentlichkeit, Moderne. Transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, 289–306. Bauer, Gerhard: Christliche Hoffnung und menschlicher Fortschritt. Die politische Theologie von J.B. Metz als theologische Begründung gesellschaftlicher Verantwortung des Christen, Mainz 1976, 9.

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in ihrer zentralen Bedeutung wahrnimmt, hält er es für geboten, bereits im transzendentaltheologischen Ansatz Anfänge der Neuen Politischen Theologie auszumachen. Dieser Schritt ermöglicht Bauer, die Begriffe Welt, Geschichte und Zukunft bzw. das Verhältnis von Gott, Welt und Zukunft bei Metz deutlich herauszuarbeiten. Es gelingt ihm, diese Begriffe in ihrer metaphysikkritischen Bedeutung nachzuvollziehen.69 Nedjeljko Ančić bestätigt in seiner fünf Jahre später erschienen Studie Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz als Antwort auf die Herausforderung des Marxismus (1981) Bauers Ansatz, insofern er einen gleichen wählt und Metz ähnlich interpretiert.70 Waren frühere Studien zu Metz größtenteils an seinem Verhältnis zum kritischen Marxismus Blochs und der Frankfurter Schule interessiert, sind nach und nach auch andere Schwerpunktsetzungen ausgewählt worden. Rudolf Langthaler veröffentlichte im Jahr 2000 seine Studie zur metzschen Theologie im Verhältnis zur kantischen Religionsphilosophie71 und Karsten Kreutzer zwei Jahre später über das Verhältnis von Rahners religionsphilosophischem Ansatz und seiner Rezeption durch Metz. K. Kreutzers Analyse der Religionsphilosophie Rahners und ihrer metzschen Rezeption behandelt umfangreich ihre jeweilige Heideggerinterpretation. Damit wagt sich K. Kreutzer an Metz’ sehr frühe philosophische Arbeiten über Heidegger von 1951 und 1953 heran.72 Kreutzers Analyse dürfte die umfangreichste und detaillierteste zu Metz’ Heideggerinterpretation darstellen. Zwar hat seine Analyse das Ziel, Metz’ Rezeption der Religionsphilosophie Rahners zu rekonstruieren. Sie ermöglicht aber gleichzeitig, zentrale Begriffe des metzschen Denkens wie Welt, Gott, Geschichte sowie das Verhältnis von Philosophie und Theologie in ihrer Genese nachzuvollziehen. Insofern in meiner Studie Badious Ontologieverständnis im Zentrum steht, versuche ich ebenfalls Metz’ Verhältnis zur Ontologie herauszustellen. Dementsprechend sind für meine Untersuchung solche Analysen, wie diejenige K. Kreutzers, von Interesse, die die frühen Veröffentlichungen von Metz thematisieren.

1.5 Alain Badious Philosophie Alain Badiou, 1937 in Rabat (Marokko) geboren, ist Philosoph, Mathematiker, Romancier und politischer Aktivist. Neben philosophischen Büchern veröffentlichte er Romane, Theaterstücke, politische Texte und solche, die man an der Schnittstelle von Philosophie und Mathematik verorten könnte. Zwischen 1969 und 1999 war Badiou Professor an der Reformuniversität Paris VIII und später an der berühmten École normale supérieure, an der auch bereits Louis Althusser und Jacques Lacan gelehrt hatten.

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Ebd., 22ff. Ančić, Nedjeljko: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz als Antwort auf die Herausforderung des Marxismus, Frankfurt a.M./Bern 1981, 27–76. Langthaler, Rudolf: Gottvermissen – Eine theologische Kritik der reinen Vernunft? Die neue Politische Theologie (J.B. Metz) im Spiegel der kantischen Religionsphilosophie, Regensburg 2000. Auch Martin Thiele geht knapp auf die beiden Heideggerstudien von Metz ein. Thiele, Martin H.: Gott. Allmacht. Zeit. Ein theologisches Gespräch mit Johann Baptist Metz und Eberhard Jüngel, Münster 2009, 11–21.

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Badious Denken lässt sich nur schwer einer bestimmten Denkschule zuordnen. Es weist deutliche Einflüsse von Sartres Existentialismus, Althussers marxistischem Strukturalismus und Lacans Psychoanalyse auf. Hinzu treten der Maoismus und weitere marxistische Strömungen sowie die Mathematik, insbesondere die Mengenlehre. Bereits die ›rein‹ philosophischen Ansätze sind von starken Differenzen geprägt. Legte beispielsweise Sartres Existentialismus den Fokus auf die Entfaltung eines freien Subjekts73 , wurde dessen Freiheit im Strukturalismus Althussers weitgehend negiert74 . Und dennoch: Badiou bemüht sich um die Verknüpfung vieler unterschiedlicher, sehr heterogener Denkströmungen und Positionen. Inhaltlich versucht Badiou diese Strömungen auf ihre grundsätzlichen philosophischen Fragen hin zu interpretieren. So kreist sein Denken in erster Linie um die Begriffe Sein, Nicht-Sein, Subjekt, Wahrheit. In seiner letzten umfangreichen Abhandlung L’Immanence des vérités. L’être et l’événement 3 (2018) fragt sich Badiou, was seine philosophische Strategie der letzten dreißig Jahre gewesen sei, und er antwortet: »Sie ist die Etablierung dessen, was ich die Immanenz der Wahrheiten nenne. Anders gesagt, sie ist die Rettung der Kategorie der Wahrheit […].«75 Mit der Fokussierung auf die Wahrheitsfrage und mit ihr auf die Begriffe des Seins und des Subjekts behandelt Badiou das, was man die traditionellen Themen der Philosophie nennen könnte.76 Diese Hinwendung zum traditionell Anmutenden kann als Badious Versuch, ein Gegenkonzept zum ›postmodernen‹ Denken zu etablieren, interpretiert werden. Entgegen den Auffassungen ›der‹ Postmoderne, dass es weder Wahrheiten noch Subjekte, weder System noch Tradition gebe, entwirft Badiou eine systematische Philosophie der Wahrheiten und des Subjekts, die ihre Begriffe durch die gesamte Philosophiegeschichte durchbuchstabiert. Neben Sartre, Althusser und Lacan sind seine philosophischen Referenten Platon, Leibniz, Descartes, Spinoza, Kant, Hegel und viele mehr. Die Mathematik nimmt in Badious Werk eine besondere Rolle ein. Zwar ist sie keine ungewöhnliche Referenz für die philosophische Tradition – Platon, Aristoteles, Leibniz und andere haben mathematische Erkenntnisse umfangreich in die Philosophie integriert –; für das zwanzigste und einundzwanzigste Jahrhundert gilt diese Verbindung jedoch nicht mehr selbstverständlich. Insbesondere die Strömungen, die wie Badiou im weitesten Sinne vom Marxismus geprägt sind, greifen selten auf die Mathematik zurück. In seinem großen Werk L’être et l’événement aus dem Jahr 1988 hat Badiou das Unternehmen einer mathematischen Wende in der Philosophie begonnen.

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Vgl. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 11 2005. Vgl. Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. 1. Halbband. Hgg. von Frieder Otto Wolf, Hamburg 2 2016. »Quelle est, depuis maintenant une trentaine d’années, ma stratégie philosophique? C’est d’établir ce que j’appelle l’immanence des vérités. Autrement dit, de sauver la catégorie de vérité […].« ABIV, 13. In einem Interview mit Gernot Kamecke sagt Badiou: »›Wahrheit‹ ist der Name, den die Philosophie den wichtigen Dingen gibt. […] Dies ist der Grund, warum ich das Wort ›Wahrheit‹ wieder aufgreife, das in der Geschichte der Philosophie letztlich der traditionelle Begriff ist, um anzuzeigen, was wichtig ist.« Badiou, Alain: Bedingungen und Unendlichkeit. Ein Gespräch mit Gernot Kamecke, Berlin 2015, 52.

1. Einleitung

Von einer mathematischen Wende kann deshalb gesprochen werden, da Badiou spätestens seit 1988 nicht mehr bloß mathematische Erkenntnisse rezipiert, um diese als Beispiele für bestimmte Problemstellungen zu verwenden, sondern seine ganze Philosophie auf mathematische Erkenntnisse aufbaut. In L’être et l’événement stellt Badiou die These auf, dass Mathematik Ontologie sei, das heißt, dass die Mathematik – Badiou meint die Disziplin der Mengenlehre – das Sein als Sein begrifflich expliziere. Um diese zu erläutern, referiert er ausführlich einige Grundlagen der Mengenlehre. Später zieht er in seine Überlegungen noch die Disziplin der Topologie77 und aktuelle Debatten der Mengenlehre78 hinzu. Nicht erst die Diskussion der mathematischen Erkenntnisse, sondern bereits die Darstellung ihrer Grundlagen stellt meines Erachtens die*den Leser*in, die*der nicht mathematisch geschult ist, vor erhebliche Herausforderungen und Schwierigkeiten. Zwar bietet Badiou tatsächlich in L’être et l’événement Schritt für Schritt eine Einführung in die Mengenlehre an. Diese erleichtert den Zugang zu seinem Werk allerdings nur marginal. Dennoch ist der Zugang zu seinem Werk für Nicht-Mathematiker*innen möglich. Meine folgende Analyse ist ebenfalls aus der Perspektive eines Nicht-Mathematikers verfasst. Die wenigen Darstellungen der mathematischen Sachverhalte in meiner Analyse habe ich besten Gewissens vorgenommen. Sie bleiben aber Darstellungen eines fachfremden Laien. Badious Werk L’être et l’événement ist eine Trilogie, die ihren Namen vom ersten Band erhalten hat. Das erste Buch L’être et l’événement erschien 1988 in Paris und hat längere Zeit nur wenig Aufmerksamkeit erfahren. 2006 folgte der zweite Teil Logiques des mondes. L’être et l’événement 2 und 2018 der dritte Teil L’Immanence des vérités. L’être et l’événement 3. Beide wurden ebenfalls in Paris veröffentlicht. Die ersten beiden Bände liegen in zahlreichen Übersetzungen, unter anderem auf Deutsch, vor. Die Übersetzungen von L’Immanence des vérités sind noch in Arbeit und dementsprechend noch nicht zugänglich. Badious Trilogie betrachtet auf unterschiedliche Weise das Verhältnis von Sein und Ereignis. Auf den ersten Blick mag es überraschen, dass im Titel der Trilogie statt der Begriffe Wahrheit oder Subjekt, derjenige des Ereignisses auftaucht. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass Badiou unter einem Ereignis das versteht, was nicht das Sein ist und einen Handlungsspielraum für ein Subjekt eröffnet. Mit dem Ereignis tritt die Möglichkeit des Subjekts und der Wahrheit ins Sein ein. Mit dem Begriff des Ereignisses in Badious Verständnis gehen deshalb auch diejenigen des Subjekts sowie der Wahrheit einher. Badious erster Band ist sehr grundsätzlich dem Verhältnis von Sein und Ereignis gewidmet. Hier geht es um die ontologische Möglichkeit von Ereignissen, Subjekten und Wahrheiten. Der zweite Band thematisiert Ereignisse, Subjekte und Wahrheiten nicht mehr ontologisch, sondern als Erscheinungen (phänomenologisch). Im letzten Band widmet sich Badiou nun wesentlich stärker als bisher dem Begriff der Wahrheit. Alle drei Bände zeichnen sich durch einen großen Anteil philosophischer Reflexionen über mathematische Erkenntnisse sowie zahlreiche philosophiegeschichtliche Abhandlungen aus.

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In ABLM. In ABIV.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Das, was mein theologisches Interesse an Badious Trilogie weckt, ist seine Tod-Gottes-Aussage, die mit der Entfaltung seiner Ontologie einhergeht. Badiou entwirft eine Ontologie des unendlichen Vielheit-Seins, das nicht mehr dem klassisch-philosophischen Verständnis einer Totalität entsprechen soll. Mit der Infragestellung einer Ontologie der Totalität bzw. des Einen, lässt Badiou auch den Gottesbegriff fallen. Die Ontologie des unendlichen Vielheit-Seins bedeutet für Badiou den Tod Gottes. Wie funktioniert dieses Argument? Wie plausibel ist es? Was für einen Gottesbegriff insinuiert Badiou mit seiner Tod-Gottes-Aussage? Diesen Fragen gehe ich in den Kapiteln 2 und 3 meiner Untersuchung nach.

1.6 Forschungsstand (II): Zur Rezeption der Philosophie Badious in der Theologie Bislang erfährt Alain Badious Philosophie in der deutschsprachigen Theologie nur geringe Aufmerksamkeit. Zwar gibt es Auseinandersetzungen mit seinem Denken in einigen Aufsätzen79 und als einzelne Kapitel in umfangreicheren Studien80 , explizite theologi-

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Vgl. Füssel, Kuno: Ontologie, Mathematik, Theologie. Die Offenbarung einer profanen Trinität durch Alain Badiou, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Münster/Luzern 2021, 292–318; Geitzhaus, Philipp: Paulus und das Ereignis. Alain Badious Apostel, in: Geitzhaus Philipp/Ramminger, Michael (Hg.): Ereignis, Freiheit, Transzendenz. Auseinandersetzungen mit Alain Badiou, Münster 2020, 49–70; Hellgermann, Andreas: Badiou und der politische Kampf gegen die Gesellschaft der Ableitung, in: Geitzhaus, Philipp/Ramminger, Michael (Hg.): Ereignis, Freiheit, Transzendenz. Auseinandersetzungen mit Alain Badiou, Münster 2020, 93–114; Lis, Julia: Von der Möglichkeit emanzipatorischer Politik heute. Was uns Badious Idee des Kommunismus zu sagen hat, in: Geitzhaus, Philipp/Ramminger, Michael (Hg.): Ereignis, Freiheit, Transzendenz. Auseinandersetzungen mit Alain Badiou, Münster 2020, 147–166; Ramminger, Michael: Ereignis, Treue, Unterbrechung. Badiou und die politische Theologie, in: Geitzhaus, Philipp/Ders. (Hg.): Ereignis, Freiheit, Transzendenz. Auseinandersetzungen mit Alain Badiou, Münster 2020, 29–47; Zeilinger, Peter: Zeugnishaftes Subjekt. Jacques Derrida und Alain Badiou, in: Schmidinger, Heinrich/Zichy, Michael (Hg.): Tod des Subjekts? Poststrukturalismus und christliches Denken, Innsbruck 2005, 243–262; Ders.: Theologie-Kritik und implizite Fundierung des Theologischen in der zeitgenössischen französischen Philosophie (Levinas, Derrida, Badiou …), in: Nagl-Docekal, Herta/Wolfram, Friedrich (Hg.): Jenseits der Säkularisierung. Religionsphilosophische Studien, Berlin 2008, 257–280; Ders.: Dem Ereignis nach-denken. Hat Badious Philosophie eine Zukunft?, in: Knipp, Jens/Meier, Frank (Hg.): Treue zur Wahrheit. Die Begründung der Philosophie Alain Badious, Münster 2010, 221–238; Ders.: Ist es möglich, vom Ereignis zu sprechen? (Ist es möglich, ein Vom-»Ereignis«-sprechen zu vollziehen?). Ereignis und Performativität bei Jacques Derrida, Emmanuel Levinas und Alain Badiou, in: Gondek, Hans-Dieter/Klass, Tobias Nikolaus/Tengelyi, László (Hg.): Phänomenologie der Sinnereignisse, München 2011, 391–405. Finkelde, Dominik: Politische Eschatologie nach Paulus. Badiou, Agamben, Žižek, Santner, Wien 2007, 19–39; Nagel, Rasmus: Universale Singularität. Ein Vorschlag zur Denkform christlicher Theologie im Gespräch mit Ernesto Laclau, Alain Badiou und Slavoj Žižek, Tübingen 2021, 209–301; Rosenhauer, Sarah: Die Unverfügbarkeit der Kraft und die Kraft des Unverfügbaren. Subjekttheoretische und gnadentheologische Überlegungen im Anschluss an das Phänomen der Kontingenz, Paderborn 2018, 257–272.

1. Einleitung

sche Monografien zu Badious Philosophie sind bislang noch nicht veröffentlicht.81 Das größte Interesse der theologischen Beiträge richtet sich auf die Ereignistheorie bzw. der mit ihr verknüpften Paulusinterpretation Badious. Peter Zeilinger kommt der Verdienst zu, schon früh – seit 2005 – das Denken Badious für den theologischen Diskurs zu erschließen und damit eine gewisse Pionierarbeit geleistet zu haben. In verschiedenen Aufsätzen rekonstruiert er vornehmlich die Ereignistheorie Badious im Vergleich mit anderen ereignistheoretischen Ansätzen (Derrida, Levinas). Zeilinger arbeitet den Zusammenhang von Ereignis- und Subjekttheorie bei Badiou heraus. Ein zentrales Motiv ist das Zeugnis. Ein Ereignis müsse bezeugt werden. Zwar deutet Zeilinger an, dass Badious Zeugnisbegriff sein kritisches Potenzial im Vergleich zu Metz, Benjamin oder Derrida nicht voll ausschöpfe.82 Eigene theologische Auseinandersetzungen gehen jedoch noch nicht über Andeutungen hinaus. Finkelde, der sich in seiner Analyse der Paulusinterpretation Badious ähnlich wie Zeilinger auf den Subjektbegriff konzentriert, beginnt eine theologische Auseinandersetzung. Darin kommt er zu dem Schluss, dass es Badiou grundsätzlich gelingt, »die Bekehrung des Paulus ohne theologische Prämissen als eine Form der politischen Tathandlung zu denken«83 . Finkelde folgt in seiner Analyse Badious Ontologie, die der Ereignistheorie zugrunde gelegt ist. Das Ereignis werde durch die Ontologie unendlicher Vielheiten ermöglicht, die auf Georg Cantors mathematischer Mengenlehre aufbaue. Finkelde argumentiert wie Badiou: »Was somit Cantors Mengenlehre leistet, ist eine Säkularisierung des Unendlichen. Cantor holt dieses Unendliche aus dem Bereich des Göttlichen in die Welt der finiten Dinge herüber und dekonstruiert somit die Opposition zwischen finit-innerweltlich und infinit-überirdisch.«84 Der Mathematiker Georg Cantor entwarf Ende des 19. Jahrhunderts die sogenannte Mengenlehre, eine Grundlagentheorie, die jegliche mathematische Sachverhalte als Mengen und Elemente darstellt.85 Eine der zentralen Errungenschaften Cantors besteht in der Pluralisierung des Unendlichkeitsbegriffs. Seitdem kann mit vielen Unendlichkeiten, statt nur mit einer Unendlichkeit gerechnet werden. Auf diese Weise ist das bisher göttliche Attribut der Unendlichkeit berechenbar geworden und aus dem »göttlichen Bereich« genommen worden. Badiou baut seine Ontologie auf Cantors Mengenlehre und insbesondere auf seinen Erkenntnissen zur Unendlichkeit auf. Finkelde übernimmt diese Annahme: Die mengentheoretische Immanentisierung des Unendlichen führe zu seiner Enttheologisierung. Somit sei auch Badious Ereignistheorie, die auf dieser Annahme aufbaut, ein gelungener Versuch, der ohne theologische Prämissen auskomme. Anders verhält es sich bei Rosenhauer. Sie scheint nicht Finkeldes Auffassung, dass Badiou ohne theologische Prämissen auskomme, zu teilen. Stattdessen versucht sie die theologischen Implikate in Badious Ereignisbegriff herauszuarbeiten. Sie schreibt: 81 82 83 84 85

Meine eigene kleine Monografie ist eine Ausnahme: Geitzhaus, Philipp: Paulinischer Universalismus. Alain Badiou im Lichte der Politischen Theologie, Münster 2018. Zeilinger: Zeugnishaftes Subjekt, 260. Finkelde: Politische Eschatologie nach Paulus, 38. Ebd., 25. Einführend in die Mengenlehre im Anschluss an Georg Cantor: Deiser, Oliver: Einführung in die Mengenlehre. Die Mengenlehre Georg Cantors und ihre Axiomatisierung durch Ernst Zermelo, Berlin/Heidelberg 2002.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

»Einen Vorschlag, wie ein solches kontingentes Ereignis universellen Glückens gedacht werden kann, formuliert Alain Badiou in Form eines Materialismus der Gnade. Er zielt damit auf eine Konstellation, in der ein Subjekt ereignishaft, weil unableitbar, von einer Wahrheit betroffen wird, die die bestehende und das Subjekt bestimmende Ordnung unterbricht und so die Möglichkeit ihrer Überschreitung und Neufassung eröffnet. Die Konstellation formuliert einen Materialismus der Gnade, insofern das Ereignis gerade in seiner unableitbaren Ungeschuldetheit den Gehalt universeller Wahrheit haben kann.«86 Die Formulierung »Materialismus der Gnade« kann Rosenhauer von Badiou selbst übernehmen.87 Der Gnadencharakter des Ereignisses bestehe darin, dass das Ereignis für den bzw. die Menschen unverfügbar sei. Es geschehe einem Menschen ohne sein eigenes Zutun und bedingungslos. Insofern geschehe es ungeschuldet. Zur Verdeutlichung dieses Geschehens greift Rosenhauer auf Badious Paulusinterpretation zurück. Badiou sieht im plötzlichen Wandel vom ›Saulus zum Paulus‹, der durch die Begegnung mit dem auferstandenen Christus initiiert wurde, das Grundmotiv des Wirkens eines Ereignisses.88 Rosenhauer befragt Badious materialistische Ereignistheorie jedoch darauf, ob sie materialistisch »genug« sei. Gnade, so Rosenhauer, »müsste nicht nur formal, sondern material gedacht werden: als Heilshandeln eines personalen Gottes, das jeden einzelnen Menschen und die Menschheit als ganze – die Gemeinschaft der Lebenden und Toten – adressiert, das singulär und universell ist«89 . Die Fokussierung der drei deutschsprachigen Ansätze auf Badious Ereignistheorie90 dürfte die breitere Rezeption des badiouschen Werks sowie die Übersetzungen seines Werks spiegeln. Noch vor der Übersetzung von Théorie du sujet oder L’être et l’événement erschien Badious Paulusbuch 2002 in deutscher Sprache. Das Paulusbuch funktioniert als eine Exemplifizierung seiner Ereignis- und Subjekttheorie und hat international große Resonanz erfahren.91 Eine tieferreichende und kritische Auseinandersetzung mit seiner Ontologie findet in den drei Studien nur in Ansätzen statt. Andere Themen Badious, wie sein Wahrheitsbegriff, sein Geschichtsverständnis, seine kommunistische Hypothese, sein Politikbegriff und vieles mehr, sind bisher für die Theologie wenig erschlossen. In meiner Studie schlage ich vor, Badiou theologisch nicht auf der Ebene der Ereignistheorie, sondern unmittelbar auf der Ebene der Ontologie zu begegnen. Meines Erachtens ist seine zentrale Aussage, die die Theologie betrifft – die Tod-Gottes-Aussage – in seiner Ontologie verortet. Mein Anliegen ist es nicht nur, Badious Ontologie nachzuvollziehen, sondern kritisch zu würdigen.

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Rosenhauer: Die Unverfügbarkeit der Kraft und die Kraft des Unverfügbaren, 260. Hervorhebung im Original. Vgl. ABSP 80 [84]. Ebd., 266 sowie ABSP. Ebd., 261. Nagels informierte Studie zum Begriff der »universalen Singularität« legt ebenfalls den inhaltlichen Fokus auf die Ereignistheorie Badious. Diese analysiert er, ausführlicher als Rosenhauer, auf Grundlage von Badious Ontologie. Nagel: Universale Singularität, 209–301. Vgl. dazu meine Auseinandersetzung in Geitzhaus: Paulinischer Universalismus.

1. Einleitung

1.7 Zur Konzeption der Studie Mit der vorliegenden Studie verfolge ich das Interesse, die existentialistisch und strukturalistisch geprägte Philosophie Badious mit der gesellschaftstheoretisch und transzendentalphilosophisch geprägten Theologie Metz’ ins Gespräch zu bringen. Es handelt sich um ein Gespräch, das zwischen beiden nicht stattgefunden hat. Das Gespräch soll nicht zur Harmonisierung unversöhnlicher Ansätze führen, sondern die jeweiligen Ansätze in ihrer Eigenheit besser begreifbar machen. Um ein solches Gespräch führen zu können, stelle ich zunächst beide Ansätze im Hinblick auf ihren Gottesbegriff ausführlich vor. Die Philosophie und die mengentheoretisch inspirierte Ontologie Badious gehören, bis auf wenige Aspekte, bislang nicht zum wissenschaftlichen Repertoire. Sie bedarf deshalb einer ausführlichen Darstellung. Mit der Theologie von Metz verhält es sich anders. Unter dem Namen Neue Politische Theologie hat sie große Bekanntheit – zumindest in der theologischen Welt – erlangt und dürfte als weitgehend erschlossen gelten.92 Doch auch solche bekannten Werke bedürfen der Relecture, um neue Sinngehalte für neue Diskussionskonstellationen zu heben. Methodisch orientiere ich meine Studie im weiteren Sinne an dem, was Manfred Frank eine »konstruktive Hermeneutik«93 genannt hat. Frank charakterisiert damit seine Auseinandersetzung mit Positionen des Neostrukturalismus, die oftmals auch poststrukturalistisch genannt werden. Diese Positionen zeichnen sich mitunter durch ihre Vernunftkritik und damit durch das bewusste Verlassen argumentativer Strukturen aus. Konstruktiv ist Franks Methode, insofern er versucht, die jeweiligen neostrukturalistischen Ansätze in einer argumentativen Struktur darzustellen, das heißt, ihre jeweilige argumentative Struktur (wieder-)herzustellen. Erst in einem zweiten Schritt unterzieht er diese Ansätze einer Kritik. Badiou vertritt zwar keine vernunftkritische Position und ist auch grundsätzlich an einer argumentativen Darstellung interessiert. Es gibt jedoch ein Charakteristikum seiner Philosophie, das sich in einem ersten Schritt einer argumentativen Struktur entzieht. Es ist das Moment der Entscheidung bzw. des Axioms. Badious Philosophie integriert ein axiomatisches Denken. Axiome meinen in diesem Zusammenhang freie Setzungen von Grundannahmen, die nicht noch einmal hinterfragt werden (sollen). So begreift Badiou beispielsweise den Satz »Gott ist tot« als ein Axiom.94 Solche Setzungen lassen Badious philosophische Präsentation zuweilen voluntaristisch und apodiktisch wirken. Wenn ich meine Analyse an Franks konstruktiver Hermeneutik orientiere, versuche ich Badious Axiome in einer argumentativen Struktur darzustellen und sie erst anschließend einer Kritik zu unterziehen. Da Badiou selbst seine Axiome häufig argumentativ einholt, geht es mir auch darum, festzustellen, wann es sich um ein Axiom handelt und ob es in einem Begründungszusammenhang steht.

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Der große Kreis der Mitwirkenden an der Festschrift zu Metz’ 90. Geburtstag deutet auf die Bekanntheit hin. Janßen, Hans-Gerd/Prinz, Julia D. E./Rainer, Michael J. (Hg.): Theologie in gefährdeter Zeit. Stichworte von nahen und fernen Weggefährten für Johann Baptist Metz zum 90. Geburtstag, Berlin 2018. Frank, Manfred: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt a.M. 1984, 39. Badiou, Alain: L’Éthique, Paris 1993, 25 [40].

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Die vorliegende Studie ist in sechs Kapitel gegliedert, von denen die beiden Kapitel zu Alain Badiou den Schwerpunkt darstellen. In diesen beiden Kapiteln analysiere ich zentrale Veröffentlichungen Alain Badious im Hinblick auf die Tod-Gottes-Aussage. Dabei gehe ich zuerst (Kapitel 2) chronologisch vor und rekonstruiere die Argumente für den Tod Gottes in den Büchern Théorie du sujet (1982), L’être et l’événement (1988), Logiques des mondes. L’être et l’événement 2 (2006) und L’Immanence des vérités. L’être et l’événement 3 (2018). Weitere Veröffentlichungen ziehe ich hinzu, sofern sie für die Rekonstruktion der Argumente hilfreich sind. Die Chronologie ermöglicht es, die Entwicklung der Argumente nachzuvollziehen und bestimmte Argumente und Problemstellungen bestimmten Phasen von Badious Denkens zuordnen zu können. Diese Zuordnung wird dort relevant, wo bestimmte Begriffe von Badiou in einer anderen Phase andere Bedeutungen zugewiesen bekommen. Im dritten Kapitel betrachte ich ausgewählte Begriffe, die sich aus der chronologischen Rekonstruktion ergeben haben, in systematischer Perspektive. Viele von Badious Veröffentlichungen sind mittlerweile ins Deutsche übertragen worden. In meiner Analyse greife ich dennoch auf die französischen Originale zurück, um ein größeres Bedeutungsspektrum bestimmter Begriffe oder Formulierungen auszuleuchten. Für meine eigenen Übersetzungen habe ich, da wo es möglich war, die Versionen der deutschsprachigen Veröffentlichungen konsultiert.95 Dort, wo ich die deutschen Übersetzungen für adäquat halte, habe ich diese aufgrund der Zugänglichkeit und Vergleichbarkeit zitiert. Das vierte Kapitel ist der Theologie Johann Baptist Metz’ gewidmet. In meiner Darstellung der Theologie von Metz fließen eine chronologische und eine systematische Perspektive zusammen bzw. die systematische Perspektive bedient sich über weite Strecken der chronologischen Entwicklung des Denkens von Metz. Dabei geht es mir darum, zu zeigen, wie sich die metzsche Theologie in Auseinandersetzung mit der Ontologie Heideggers entfaltet. Der Gedanke ist für mich leitend, dass die Neue Politische Theologie, die Metz seit 1965 entworfen hat, durch die Kritik an Heideggers Ontologie und der Transzendentaltheologie ihre spezifische Form angenommen hat. Metz’ Ontologiekritik stellt auch eine erste Grundlage für ein Gespräch zwischen Badiou und Metz dar. In Kapitel 5 organisiere ich ein Gespräch zwischen Badiou und Metz. Es handelt sich notwendigerweise um ein hypothetisches Gespräch, da es meines Wissens keine Begegnung zwischen beiden gab. In diesem Gespräch geht es nicht darum, beide Ansätze zu harmonisieren oder Übereinstimmungen zu suchen. Letztere finden sich nur wenige. Vielmehr dient das Gespräch dazu, die jeweiligen Ansätze durch die Konfrontation mit einem Gegenüber besser nachzuvollziehen und auf ihre innere Kohärenz hin zu überprüfen. Auch geht es darum, zu verstehen, warum sich beide Ansätze an bestimmten Punkten gegenseitig ausschließen. Bei aller Unterschiedlichkeit kann dennoch für beide festgehalten werden, dass es sich um zwei innovative Ansätze handelt, die auf die Grundlagen ihrer eigenen Disziplinen einwirken (wollen), um diese zu verändern. Und beide beanspruchen, dies im Sinne der Emanzipation zu tun. Doch die zentrale Kontroverse liegt im Gottesbegriff.

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Ich gebe in der Regel das französische Original als Quelle an und füge in eckigen Klammern die Seitenzahlen der deutschen Übersetzungen, soweit vorhanden, zu.

1. Einleitung

Im sechsten Kapitel ziehe ich ein Fazit. Wie für umfangreiche Studien üblich, fasse ich keine abschließenden Ergebnisse zusammen, sondern stelle weitere Diskussionspunkte und Fragen, die sich aus der Analyse ergeben haben, heraus. In diesem Sinne versteht sich die Untersuchung als ein Beitrag in der wissenschaftlichen Bearbeitung der Philosophie Alain Badious, der Theologie Johann Baptist Metz’ und der verantworteten Rede von Gott.

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2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Die These des Todes Gottes gehört zu den zentralen der Philosophie Alain Badious. Aus ihr heraus entwickelt Badiou ein Denken, das die Welt nicht mehr als eine, sondern als unendlich viele auffasst. Mit dieser These konstatiert er weiterhin, dass die Welten notwendig unabgeschlossen und unvollständig seien. Wenn Badiou vom Tode Gottes spricht, zielt seine Rede weniger auf einen religiösen, sondern vielmehr auf einen philosophischen Diskurs über das Denken der Welt bzw. der Welten. Insbesondere sind es bestimmte Ansätze marxistischen Denkens, denen er die These des Todes Gottes und dem damit verbundenen Weltenpluralismus entgegenhält. Dieser Zusammenhang mag auf den ersten Blick irritieren. Warum sollte man eine marxistische Philosophie oder Theorie mit dem Tod Gottes konfrontieren? Zeichnet sich das marxistische Denken grundsätzlich nicht durch seinen expliziten Atheismus aus? Badiou setzt sich in den 1970er und 1980er Jahren äußerst kritisch mit der Tradition des Marxismus-Leninismus auseinander. Es ist vor allem die Verbindung von Staat und (revolutionärer) Politik, die in Badious Interpretation an ihr Ende gekommen ist. Badiou entlarvt in dieser Zeit den Marxismus-Leninismus aufgrund der Verstaatlichung der revolutionären Politik als »die metaphysische Epoche der politischen Ontologie«1 . Die Herausforderung bestehe nun darin, »eine gewagte Lücke in das metaphysische Dispositiv des marxistischen Wissens [zu] schlagen«2 . Diese gewagte Lücke besteht für Badiou einerseits in der Auflösung des staatlichen Denkens, das für ihn immer ein statisches Denken ist, und andererseits in der Kreation eines Denkens und Handelns, das auf Zufälle, Unvollständigkeiten und Beweglichkeit setzt. Die These des Todes Gottes fasst die Auflösung des staatlichen und statischen Denkens zusammen. Die Kreation eines dynamischen Denkens findet Badiou – vielleicht überraschenderweise – in den neuen mathematischen Errungenschaften der 1960er Jahre. Vor allem eine Erkenntnis der jungen mathematischen Disziplin der Mengenlehre spielt für Badious Philosophie eine zentrale Rolle: Die russellsche Paradoxie. Die russellsche Paradoxie, die auf Bertrant Russel und Georg Cantor zurückführt, sagt, dass die 1 2

Badiou, Alain: Ist Politik denkbar? 72. Ebd., 73.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Bildung einer Menge aller Mengen widersprüchlich und damit inkonsistent ist. Der Mathematiker Oliver Deiser gibt in seiner Einführung in die Mengenlehre ein anschauliches Beispiel dieser Paradoxie: »Eine einprägsame Version der Russell-Antinomie ist der ›fleißige Barbier‹: In einem Dorf lebt ein Barbier, der folgende Aussage macht: ›Ich schneide genau denjenigen Dorfbewohnern die Haare, die sich ihre Haare nicht selbst schneiden.‹ Nun ist der Barbier aber selber ein Dorfbewohner. Er muß sich also nach seiner Aussage die Haare genau dann schneiden, wenn er sie sich nicht selbst schneidet. Widerspruch! Der Barbier kann also sein Versprechen nicht in die Tat umsetzen, seine Aussage ist eine Lüge.«3 Dieses Beispiel weist auf Widersprüche in der Mengenbildung hin. So lassen sich alle Dorfbewohner in zwei Mengen hinsichtlich des Haareschneidens unterteilen: 1. Die Menge derjenigen, die sich nicht selbst die Haare schneiden, 2. die Menge derjenigen, die sich selbst die Haare schneiden. Zu welcher Menge gehört nun der Barbier? Dieses Beispiel, das zunächst eines für Widersprüche in logischen Aussagen ist, ist für die Mengenlehre alles andere als trivial, denn es führt zu der Erkenntnis, dass eine Menge aller möglichen Mengen nicht gebildet werden könne, da sie inkonsistent wäre. Seit dem ersten Band L’être et l’événement der gleichnamigen Trilogie ist diese Paradoxie zu einer zentralen Fragestellung für Badiou geworden. In seiner Terminologie folgert Badiou aus dem Satz der Mathematik »Die Menge aller Mengen ist inkonsistent.«: »Die Eins ist nicht.« bzw. »Das Eine ist nicht.«4 Das heißt für Badiou, dass es weder ein einziges Universum, eine einzige Welt, eine einzige Totalität, eine einzige Materie, noch ein einziges Prinzip gibt. Die Aussage »Das Eins ist nicht.« richtet sich zunächst gegen das staatliche und statische Denken des Marxismus-Leninismus. Es steht aber auch zu weiten Teilen der Philosophiegeschichte im Widerspruch, insofern dort oftmals das eine Prinzip, die eine Welt, die Materie oder die eine Substanz der fundamentale Ausgangspunkt war. Dieser Satz lässt sich ebenfalls gegen solche theologischen Ansätze gerichtet interpretieren, die das Einssein Gottes annehmen. In seiner kleinen Schrift L’Éthique, das Anfang der 1990er Jahre veröffentlicht wurde, formuliert Badiou programmatisch: »Stellen wir unsere eigenen Axiome auf. Es gibt keinen Gott. Dies kann auch so ausgedrückt werden: Das Eine ist nicht. Das Vielfache ›ohne Eins‹ – jedes Vielfache ist immer nur seinerseits ein Vielfaches von Vielfachen – ist das Gesetz des Seins. Der einzige Haltepunkt ist die Leere.«5 Badiou verknüpft hier »Gott« unmittelbar mit dem Begriff »Eins« und folgert daraus, dass es keinen Gott geben könne, wenn keine Eins möglich sei. Die Eins bzw. das Eine steht hier, wie bereits erwähnt, für die Menge aller Mengen. Der Begriff der Eins oder des Einen wurde in der Philosophiegeschichte auch oft für die Begriffe des Ursprungs, des Seins, der Physis oder des Kosmos und in der frühen christlichen Theologie seit Plotin für

3 4 5

Deiser, Oliver: Einführung in die Mengenlehre, 115. »l’un n’est pas.« ABEE 31 [37]. Hervorhebung im Original. Badiou : L’Éthique, 25 [40].

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Gott verwendet. Mag seine an die Mathematik angelehnte Sprache auch für viele philosophische oder theologische Leser*innen ungewohnt sein, so ist diese Verknüpfung von Gott und Eins vor dem Hintergrund der Philosophie- und Theologiegeschichte durchaus typisch. Folglich ist es auch nur konsequent, aus der Ablehnung dieser Eins, den Gottesbegriff in Frage zu stellen. Badiou spricht deshalb auch vom Tod Gottes, der durch die Auflösung der Eins durch Cantors Mengenlehre verursacht wurde. Badious Philosophie lässt sich vor diesem Hintergrund als Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus (und ihm verwandten marxistischen Ansätzen), weiten Teilen der Philosophiegeschichte und der Mathematik (insbesondere der Mengenlehre) verstehen. In diesem Kapitel werde ich mich vier umfangreichen Abhandlungen Badious widmen und dem Zusammenhang der Eins und Gott nachgehen. Meine Frage ist, wie Badiou begründet, dass es keine Eins geben könne und welche Konsequenzen er daraus zieht. Es wird sich zeigen, dass Badiou am Ende seiner Trilogie L’être et l’événement mit der Negation der Eins in Schwierigkeiten gerät. Meine These ist, dass es Badiou nicht gelingt, den Satz »Das Eins ist nicht.« konsequent aufrechtzuerhalten und in L’Immanence des vérités, dem letzten Teil der Trilogie, sogar gegen seine eigene Intention das Gegenteil belegt. Statt die Eins aufzulösen, liefert Badiou durch die Begründung einer absoluten Ontologie Argumente für das Denken einer Eins – einer Totalität. Das Kapitel ist chronologisch entlang vier zentraler Bücher Badious konzipiert. Im ersten Kapitel 2.1 analysiere ich Badious frühes großes Werk Théorie du sujet, das 1982 veröffentlicht wurde, hinsichtlich der Auflösung des Begriffs der Eins. Im Unterschied zu den darauffolgenden Büchern thematisiert Badiou das Problem der Eins zunächst nicht über die Mathematik, sondern über eine Interpretation von Hegels Daseinslogik aus seiner Wissenschaft der Logik. Das mengentheoretische Argument kommt erst an zweiter Stelle und tritt wesentlich weniger prominent auf. Théorie du sujet lässt sich aufgrund der dort durchgeführten Hegelinterpretation noch deutlich als Beitrag innerhalb des marxistischen Diskurses Frankreichs auffassen. Zurecht wird dieses Buch deshalb Badious sogenannten roten Jahren zugeordnet. In den folgenden drei Kapiteln (2.2 bis 2.4) analysiere ich die Bücher der Trilogie L’être et l’événement. Der Titel dieser Trilogie geht auf den gleichnamigen ersten Band zurück, der zur Zeit seiner Veröffentlichung 1988 noch nicht als Trilogie geplant war. In vielen Interpretationen von Badious Werk wird Théorie du sujet in eine Linie mit den darauffolgenden Bänden gesetzt. Der dritte Teil der Trilogie erschien erst 2018 und konnte deshalb noch nicht systematisch in die Badiou-Rezeption aufgenommen werden. Insofern werden in den meisten Interpretationen Théorie du sujet, L’être et l’événement und Logiques des mondes. L’être et l’événement 2 als Zusammenhang analysiert. Auch vor dem Hintergrund der vollständigen Trilogie halte ich diese Interpretationsweise für gerechtfertigt, da Théorie du sujet bereits viele Fragestellungen, die in den späteren Büchern systematisiert werden, eröffnet. So die Negation der Eins, die Darlegung des Subjekts, das Ereignis, das Verhältnis von Philosophie und dem, was nicht Philosophie (z.B. Politik) ist, um nur einige zu nennen. In Kapitel 2.2 widme ich mich Badious äußerst komplexem Werk L’être et l’événement. Die Komplexität besteht vor allem darin, dass Badiou mathematische Erkenntnisse und Argumentationen in den philosophischen Text einwebt und diese Erkenntnisse und Argumentationen von fundamentaler Bedeutung für dieses Buch sind. Die Leser*in ist

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deshalb herausgefordert, sich in die Grundlagen der mathematischen Mengenlehre, die Badiou in seinem Buch vorlegt, einzuarbeiten. Trotz – Badiou würde vielleicht sagen: wegen – der enthaltenen Mathematik richtet sich das Buch in erster Linie an Philosoph*innen (und nicht an Mathematiker*innen). Es ist an eine Leser*innenschaft gerichtet, von der auch Badiou ausgeht, dass für diese die mathematischen Erkenntnisse Neuland sind. Dieses Neuland erzeugt für Nicht-Mathematiker*innen deutliche Interpretationsschwierigkeiten, wenn auch keine notwendigen fundamentalen Interpretationshindernisse oder gar Interpretationsverbote. In diesem Sinne ist auch meine Interpretation von L’être et l’événement ungewollt mit mathematischen Oberflächlichkeiten und Ungenauigkeiten ausgestattet, insofern ich kein ausgebildeter Mathematiker bin. Und dennoch ist es mein Versuch, besten Gewissens Badious mathematische Erkenntnisse Ernst zunehmen, zu verstehen und kritisch zu interpretieren. So frage ich nach der Kohärenz von Badious Übertrag mathematischer Erkenntnisse auf philosophische, aber auch politische Fragestellungen. Mit welchem Recht kann Badiou die mathematische Erkenntnis, dass die Menge aller Mengen inkonsistent ist, auf philosophische und politische Probleme hinsichtlich des Begriffs des Einen bzw. der Totalität übertragen? Ist dieser Übertrag plausibel? Dem zweiten Teil der Trilogie mit dem Titel Logiques des mondes widme ich mich in Kapitel 2.3. In dieser Schrift, die wie auch L’être et l’événement von mathematischen Argumenten durchzogen ist, postuliert Badiou einen Weltenpluralismus. Es gebe nicht eine, sondern unendliche viele Welten. Gleichzeitig gibt er seinem philosophischen Ansatz einen neuen – alten – Namen: Materialistische Dialektik. Alt ist der Name, da er in der Tradition der marxistischen Philosophie, insbesondere derjenigen Althussers6 , steht. Neu ist er für Badious Unternehmen seit L’être et l’événement. Neu ist allerdings auch sein Inhalt, denn dieser unterscheidet sich meines Erachtens fundamental von dem, was Badiou in Théorie du sujet unter Dialektik wie unter Materialismus, aber auch, was sein Lehrer Althusser und die Tradition der marxistischen Philosophie darunter verstand. Letzteres stellt zwar kein Argument gegen die Verwendung dieser Bezeichnung »materialistische Dialektik« dar. Mir geht es aber darum, Badious materialistischer Dialektik nicht eine andere Bedeutung materialistischer Dialektik unterzuschieben wie umgekehrt.7 Eines der zentralen Themen von Logiques des mondes ist das Unendliche. Die Diskussion zur Unendlichkeit spielte bereits in seinen früheren Veröffentlichungen eine zentrale Rolle, jetzt erhält sie jedoch eine wesentlich ethisch-politische Dimension, da sie in der Frage danach, was ein gutes Leben sei, Anwendung findet. Die klassische philosophische Frage nach einem guten Leben beantwortet Badiou in Logiques des mondes damit, sein Leben an einer unendlichen Wahrheit auszurichten und auf diese Weise als »Unsterblicher« zu existieren. In meiner Analyse setze ich mich kritisch mit Badious Anwendung dieses Unendlichkeitsbegriffs und vor allem mit seiner ethisch-politischen Dimension auseinander. Dabei zeige ich, dass sein Konzept des unsterblich Existierens gefährliche Hierarchien zwischen Menschen einführt, insofern Endlichkeitserfahrungen systematisch entwichtigt werden.

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Althusser, Louis : Sur la dialectique materialiste, in : Ders. : Pour Marx, Paris 1973, 161–224. Vgl. Kapitel 3.4.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Der dritte und letzte Teil von L’être et l’événement trägt den Titel L’Immanence des vérités. Wesentlich intensiver als in allen vorherigen Büchern setzt sich Badiou dort mit dem Gottesbegriff bzw. verschiedenen Gottesbegriffen auseinander. Sein Anliegen ist es, einen philosophischen Begriff des Absoluten zu entwickeln, der als Garant für absolute Wahrheiten fungieren kann und gleichzeitig nicht in das Denken der Eins zurückfällt. Insofern der Begriff des Absoluten in der Philosophie (und der Theologie) in enger Verbindung mit dem Gottesbegriff stand und steht, sieht sich Badiou verpflichtet, die Nähe seines Begriff des Absoluten zum Gottesbegriff zu klären. In Kapitel 2.4 rekonstruiere ich Badious Unternehmen und stelle die These auf, dass ihm die Unterscheidung zwischen dem Absoluten und der Eins und damit auch zwischen dem Absoluten und einem Gottesbegriff gegen seine Intention nicht gelingt. In diesem umfangreichen Kapitel habe ich eine chronologische Darstellungsweise gewählt, die sich an vier großen Veröffentlichungen Badious orientiert. Die meisten, der zahlreichen kleineren Schriften Badious, werden nur dann in die Argumentation einbezogen, sofern sie den Argumentationsgang fördern. Hervorzuheben ist Badious knappe, aber inhaltlich wichtige Schrift Court traité d’ontologie transitoire, die 1998 in Paris erschienen ist. In diesem kleinen Buch behandelt Badiou Fragen nach dem Verhältnis von Philosophie, Mathematik und Logik, die für die Diskussion nach der Möglichkeit eines Übertrags von mathematischen Erkenntnissen in die Philosophie hilfreich sind. Der Argumentationsgang, den ich hier verfolge, hat noch einen stark rekonstruierenden und analysierenden Charakter, insofern ich die einzelnen Schriften Badious vorwiegend werkimmanent untersuche und ihre jeweiligen Besonderheiten nachvollziehe und auf ihre Konsistenz hinsichtlich des Themas der Auflösung der Eins und des Todes Gottes überprüfe. Im folgenden Kapitel 3 werde ich anhand ausgewählter Kategorien und Problemstellungen eine schriftenübergreifende Interpretation von und eine Kritik an Badious Werk hinsichtlich der Auflösung der Eins und des Todes Gottes vornehmen.

2.1 Erste Auflösungen des Totalitätsbegriffs – Théorie du sujet (1982) Badious Théorie du sujet fällt in die Phase seiner sogenannten »roten Jahre«8 . Die »roten Jahre« umfassen sein Wirken der 1960er bis zu den frühen 1980er Jahren9 , in denen er sich in erster Linie unmittelbar politisch-strategischen Fragestellungen des Marxismus und speziell des französischen Maoismus10 widmet. Ein Teil der Schriften dieser Phase

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Vgl. Bosteels, Bruno: Badiou and Politics, Durham/London 2011, 110–156. In Les Années Rouges datiert er seine »roten Jahre« zwischen 1965 und 1980. Badiou, Alain: Les Années Rouges, Paris 2012, 8. Die Funktion des Maoismus in der (marxistischen) Philosophie Frankreichs ist facettenreich und kann hier nicht erläutert werden. Martin Jay stellt in seiner Studie über Althusser heraus, dass Mao unabhängig von seinen eigenen Intentionen im marxistischen bzw. kommunistischen Milieu Frankreichs als Repräsentant der linken Kritik an Stalin aufgefasst wurde. Die linke Kritik zeichnete sich durch die Ablehnung einer humanistischen Interpretation des marxschen Werks, die aus dieser Perspektive als rechte Kritik an Stalin betrachtet wurde, aus. Jay, Martin: Louis Althusser and the Structuralist Reading of Marx, in Ders.: Marxism and Totality, Berkeley/Los Angeles 1984, 385–422, hier 394.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

ist 2012 unter dem Titel Les Années Rouges11 neu aufgelegt worden. Auch der frühe Aufsatz Le (re)commencement du matérialisme dialectique12 von 1967, der Althussers Veröffentlichungen Pour Marx und Lire le Capital kommentiert, darf aus inhaltlichen Gründen zu dieser Phase gezählt werden. In den Schriften der »roten Jahre« setzt sich Badiou kritisch mit Louis Althussers strukturalen Marxismus, mit einer (vor allem von Althusser entwickelten) Ideologietheorie und mit Hegels Dialektik auseinander.13 Théorie du sujet ist das umfangreichste Werk dieser Phase, in dem viele der Themen der anderen Texte weiterentwickelt werden. Im Unterschied zu seinen späteren Monografien ist dieses Buch als Seminar konzipiert und knüpft damit an den typischen Stil Jacques Lacans, der größtenteils Seminare veröffentlichte, an. Es handelt sich um ein »ideales Seminar«14 , das nachträglich überarbeitet wurde, und nicht um ein Protokoll15 . Badious Théorie du sujet beinhaltet ein Seminar, das von Januar 1975 bis Juni 1979 stattgefunden hat. Damit lässt sich diese Veröffentlichung inhaltlich sowie zeitlich eindeutig Badious »roten Jahren« zuordnen. Die einzelnen Sitzungen sind in sechs Sektionen unterteilt: 1. »Der Ort des Subjektiven«, 2. »Das Subjekt unter den Signifikanten der Ausnahme«, 3. »Mangel und Zerstörung«, 4. »Die materialistische Wende des Materialismus«, 5. »Subjektivierung und subjektiver Prozess«, 6. »Topiken der Ethik«. Alle Sektionen zielen auf die Entfaltung einer Theorie des Subjekts. Dies geschieht explizit in deutlicher und kritischer Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus Althussers und der psychoanalytischen Subjekttheorie Lacans. Badiou geht der Frage nach, wie sich philosophisch ein Subjekt denken lässt, das nicht hinter den Strukturalismus zurückfällt und umgekehrt, welche Möglichkeiten sich aus einer solchen Subjekttheorie für das Denken der Struktur ergeben. Badiou verknüpft beide Fragen mit dem Problem der Veränderung. Gibt es qualitative Veränderung (in) der Gesellschaft oder (in) der Welt oder – abstrakter – (in) der Struktur? Und falls ja, wer oder was bewirkt diese Veränderung? In der folgenden Analyse widme ich mich in erster Linie Badious Überlegungen zur Struktur. Meine These ist erstens, dass Badious Subjekttheorie in Théorie du sujet eine Kritik an den althusserschen Begriffen »Struktur« und »Totalität« impliziert. Diese Kritik geschieht in Form der Auflösung des Totalitätsdenkens. Meine zweite These ist, dass Badiou auf diese Weise den christlichen Gottesbegriff in seinem Verständnis obsolet werden lässt. Ich konzentriere mich auf zwei Argumente, mit denen Badiou das Denken der Totalität in Frage stellt. Das erste Argument (2.1.1), das direkt am Anfang von Théorie du sujet entwickelt wird, ist Badious These des »Primat der Zwei«, die er dem »Primat der Eins« entgegenstellt. Das zweite Argument (2.1.2) ist die These von der »Inkonsistenz der

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Badiou : Les Années Rouges. Badiou, Alain : Le (re)commencement du matérialisme dialectique, in : Critique 240 (mai 1967), 438–467. Unter leicht verändertem Titel Louis Althusser. Le (re)commencement du matérialisme dialectique wieder veröffentlicht in : Ders. : L’aventure de la philosophie française, Paris 2012, 111–142. Die inhaltlich stärkste Analyse der »roten Jahre«, die auch den politischen Hintergrund dieser Zeit beleuchtet, bietet Bosteels: Badiou and Politics, 1–156. Außerdem: Feltham, Oliver: Alain Badiou. Live Theory, London/New York 2008, 1–83. »séminaire idéal«, ABTS 12 [14]. Seit 2013 veröffentlicht Badiou auch Seminare, die Transkriptionen von Audiokassetten sind. In dieser Seminarreihe wurden darüber hinaus auch Teilnehmer*innenfragen aufgenommen.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Menge aller Mengen« im Anschluss an die Mengenlehre Georg Cantors. In einem weiteren Schritt zeige ich, wie Badiou diese Argumente einerseits mit dem Gottesbegriff bzw. seiner Auflösung verknüpft (2.1.3) und andererseits, inwiefern die Kritik am Totalitätsdenken für Badious materialistische Theorie Relevanz entfaltet (2.1.4). Im letzten Schritt meiner Auseinandersetzung mit Théorie du sujet versuche ich eine Differenzierung derjenigen Begriffe, die unter den der Totalität fallen (können), wie das Eine, die Struktur, die Einheit und weitere.

2.1.1 »Primat der Zwei«: Badious Hegelrezeption Badious erster Weg das Totalitätsdenken aufzulösen, geschieht mit der These des sogenannten »Primats der Zwei«, die er in Diskussion mit Hegels Wissenschaft der Logik entwickelt. In der ersten Seminarsitzung vom 7. Januar 197516 widmet sich Badiou der Analyse einiger Passagen aus Hegels Logik, insbesondere aus der Daseinslogik zu den Kategorien des Etwas und des Anderen. Angesichts des theoretischen Umfelds Badious ist die Beschäftigung mit Hegels Logik – unter bestimmten Aspekten sogar die positive Beschäftigung mit Hegel selbst – ein untypisches Vorgehen, denn dort wurde Hegels Logik kaum rezipiert und teilweise sogar seine ganze Philosophie explizit abgelehnt. In der Einleitung Hegel en France für das gemeinsam mit Joël Bellassen und Louis Mossot 1977 herausgegebene Buch Le Noyau Rationnel de la Dialectique Hegelienne17 beschreibt Badiou die Situation der Hegelrezeption in Frankreich. Laut Badiou war die damalige Hegelrezeption einerseits durch die von Alexandre Kojève und Jean-Paul Sartre vorgenommene Fokussierung auf Hegels Phänomenologie des Geistes (und vor allem auf das Kapitel Herr und Knecht) und andererseits durch Althussers komplette Ablehnung der hegelschen Philosophie bestimmt. Für Erstere stand die Kategorie der Entfremdung im Fokus, die einen idealistischen Subjektbegriff förderte. Letzterer hingegen wandte sich entschieden gegen einen subjektiven Idealismus bzw. einen subjektiven und idealisierten Marxismus. Badiou fasst Althussers Anliegen wie folgt zusammen: »Es war bekanntlich Althusser, der den idealisierten Marxismus der frühen Periode unter Beschuss nahm, den jungen Marx der Manuskripte von 1844 ausklammerte und aus Hegel das absolute Schreckgespenst machte, wobei er so weit ging, die These einer radikalen Diskontinuität [discontinuité] zwischen Hegel und Marx aufzustellen, von der aus sich alles klären lasse.«18 Tatsächlich hat Althusser die These einer radikalen Diskontinuität bzw. eines Bruchs oder Einschnitts zwischen Marx und Hegel formuliert. Der späte Marx des Kapitals habe mit der hegelschen Dialektik nichts mehr gemein. Marx habe den Inhalt (sein 16 17

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ABTS 21–30. Da Hegel einer der zentralen Referenten in Théorie du sujet ist, geht Badiou in vielen Seminarsitzungen auf ihn ein. Das Buch inklusive Einleitung wurde neu veröffentlicht in: Badiou: Les Années Rouge, 201–274. Die Einleitung wurde auch unter dem Titel »Alexandre Kojève. Hegel en France« aufgenommen in Badiou: L’aventure de la philosophie française, 57–64 [57-63]. Badiou : Hegel en France, 208; Badiou : Alexandre Kojève. Hegel in Frankreich, 61. Hervorhebung im Original. Paul Maercker übersetzt in der deutschen Ausgabe »discontinuité« mit »Bruch«, was inhaltlich ebenfalls zutreffend ist.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Gegenüber) komplett gewechselt und statt der hegelschen Dialektik jetzt die Ökonomie von Smith und Ricardo zum Objekt. Badiou führt diese These Althussers in Louis Althusser. Le (re-)commencement du matérialisme historique aus.19 Für Badiou werden beide Hegelrezeptionen weder Hegel noch Marx gerecht. Gegenüber Althusser betont er die Notwendigkeit des dialektischen Denkens, gegenüber Kojève und Sartre eine materialistische Hegellektüre. In Übereinstimmung mit Lenin erkennt Badiou eine materialistische Dialektik in der Wissenschaft der Logik, deren Ausarbeitung er sich in seinen Hegelanalysen hauptsächlich widmet. Doch um zur materialistischen Dialektik zu gelangen, sei eine »Teilung« Hegels notwendig, die bereits Marx vollzogen habe: »In Wahrheit muss man wieder bei Null anfangen und letztendlich sehen, dass philosophisch Marx weder das Andere Hegels noch sein Gleiches ist. Marx ist der Teiler [diviseur] Hegels.«20 Die beiden Seiten der hegelschen Teilung seien die materialistische Dialektik und die idealistische Dialektik. Mit dieser These verlegt Badiou die These der radikalen Diskontinuität zwischen Marx und Hegel bzw. zwischen Materialismus und Idealismus in Hegels Philosophie selbst: »Man muss im Herzen der hegelschen Dialektik zwei Prozesse, zwei Begriffe von Bewegung, entflechten, und nicht nur einen richtigen Blick auf das Werden [richten, P.A.], das durch das subjektive System des Erkennens korrumpiert wäre.«21 Es handle sich einerseits um ein Dialektikverständnis, das durch den Begriff der Entfremdung geprägt sei, und andererseits um ein Dialektikverständnis, dessen Prinzip das Konzept der »Spaltung«22 [scission] sei. Badiou behandelt offensichtlich auf den ersten beiden Seiten von Théorie du sujet zwei Bereiche der Spaltung. Das erste Mal wird die Operation der Spaltung auf Hegel selbst angewandt bzw. als These gesetzt. Das zweite Mal ist die Operation der Spaltung Inhalt einer der beiden Seiten des gespaltenen Hegels. Setzt Badiou ein Konzept der Spaltung bereits voraus, das er auf Hegel anwendet oder ist der Ursprung des Konzepts der Spaltung bei Hegel zu finden und Badiou kann sie nachträglich auf Hegel selbst beziehen? Den theoriegeschichtlichen Ursprung dürfte das Konzept der Spaltung, mit dem Badiou arbeitet, eher bei Mao Tsetung und Lenin, denn bei Hegel haben.23 Es ist das Prinzip »un se divise en deux« – »Eins teilt sich in Zwei«, das Badiou in Théorie de la contradiction von 19 20

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Badiou : Louis Althusser. Le (re-)commencement, 115f. [111]. Vgl. Althusser: Pour Marx, 161–223 [200-279] sowie dazu Balibar, Étienne: Marx’ Philosophie, Berlin 2013. »En vérité, il faut tout reprendre à zéro, et voir enfin, philosophiquement, que Marx n’est ni l’Autre de Hegel ni son Même. Marx est le diviseur de Hegel.« Badiou : Hegel en France, 210; Badiou : Alexandre Kojève. Hegel in Frankreich, 62. Hervorhebung im Original. ABTS 21 [23]. ABTS 22 [24]. Der Begriff der Spaltung findet sich bereits in Althusser: Pour Marx, 198ff. Althusser nennt die den Dingen inhärente Negation bei Hegel die Spaltung des Einen. »In der Tat stellen wir fest, dass das hegelsche Modell […] genau diesen ›einfachen Prozess von zwei Gegensätzen‹ erfordert, diese ursprüngliche einfache Einheit, die sich in zwei Gegensätze spaltet [se scindant] […].« Und weiter: »Die hegelsche Dialektik liegt ganz und gar darin: das heißt, sie hängt vollständig von dieser radikalen Voraussetzung einer einfachen ursprünglichen Einheit ab, die sich durch die Kraft der Negativität in sich selbst entwickelt und die in ihrer gesamten Entwicklung in einer ›konkreteren‹ Totalität jedes Mal nur diese ursprüngliche Einheit und Einfachheit wiederherstellt.« Althusser: Pour Marx 202 [248–249]; vgl. auch Brackmann, Theo/Kratz, Steffen/Verhorst, Beate: Louis Althusser, in: Kimmerle, Heinz (Hg.): Modelle der materialistischen Dialektik. Beiträge der Bochumer Dialektik-Arbeitsgemeinschaft, Den Haag 1978, 273–290, hier 278f.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

1975 auf Mao und Lenin zurückführt und immer wieder verwendet.24 Den inhaltlichen Ursprung des Prinzips der Spaltung schreibt Badiou dennoch Hegel zu, was er anhand des Begriffs »Etwas« der Daseinslogik Hegels versucht nachzuweisen.25 Badiou wendet die Operation der Spaltung bei Hegel in seiner Argumentation mehrfach an.26 Die erste Spaltung erkennt Badiou in der Setzung des »Etwas« und des »Anderen« von Hegel. Schon aus dieser Setzung folgert Badiou: »Es ist die Zwei, die der Eins ihren Begriff gibt, nicht umgekehrt.«27 Badiou möchte darauf hinaus, zu zeigen, dass das Andere dem Etwas nicht kategorial folgt, sondern gleichursprünglich ist. Ihm zufolge verwende Hegel für die Analyse der Kategorien »Etwas« und »Anderes« die gleiche Argumentationsweise, wie für die Setzung von »Sein« und »Nichts« am Anfang der Logik. Dort handelt es sich tatsächlich um eine Setzung bzw. um eine Gleichsetzung Hegels und nicht um eine kategoriale Entwicklung. Die beiden Absätze von Sein und Nichts in Hegels Logik beginnen jeweils mit einer Setzung: »Sein, reines Sein, – ohne alle weitere Bestimmung.« sowie: »Nichts, das reine Nichts; […].« Anschließend setzt Hegel beide als selbe: »Das reine Sein und das reine Nichts ist dasselbe.«28 Badiou hebt nun hervor, dass »Sein« und »Nichts« zwar dasselbe, aber zweimal gesetzt seien. Entsprechendes gelte für das »Etwas« und das »Andere«, was Badiou in der Kurzform: »deux foi Un.« – »zweimal Eins.«29 ausdrückt. Badious Argument für diese entsprechende Lesart ist, dass der Unterschied von »Etwas« und »Anderem« kein qualitativer, sondern nur ein positionaler sei: »Ich sage, dass ›die gleiche Sache‹ zweimal gesetzt ist, weil die Andersheit hier keine qualitative Grundlage hat.«30 Badiou nimmt also nicht zwei Etwasse bzw. zwei Andere an, sondern seiner Interpretation zufolge handle es sich um dasselbe Etwas zweimal gesetzt, das heißt, dass sich mit der zweiten Setzung das Etwas an einem anderen Ort und mit einer dritten Setzung an einem weiteren Ort usw. befinde. Das Etwas wiederhole sich an dem jeweils anderen Ort. Badiou verlagert auf diese Weise das Andere des Etwas in den anderen Ort des Etwas. Um sein Argument zu veranschaulichen, benennt er das Etwas mit dem Buchstaben A und das Etwas an einem anderen Ort platziert (das Andere) mit dem

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Badiou: Théorie de la contradiction, in: Ders.: Les années rouge, 35; 37. Vgl. auch Arndt, Andreas/ Schmidt, Giselher: Mao Tsetung, in: Kimmerle, Heinz (Hg.): Modelle der materialistischen Dialektik. Beiträge der Bochumer Dialektik-Arbeitsgemeinschaft, Den Haag 1978, 107–134, hier 130f. Arndt und Schmidt betonen, dass »Eins teilt sich in zwei« »keine Kurzformel der gesamten Dialektik-Konzeption Mao Tsetungs, sondern Chiffre für den Hauptaspekt der Lehre vom Widerspruch [ist]. Sie verweist darauf, die Komplexität jedes Dinges als Einheit von Widersprüchen zu analysieren, die konkrete Analyse der konkreten Situation zu praktizieren.« Ebd. 131. Vgl. zum Dialektikbegriff die Kapitel 2.2 und 3.4.1. Badiou verwendet eine Übersetzung der ersten Ausgabe der Wissenschaft der Logik von 1812. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm : Science de la logique, premier livre. L’Être, Edition de 1812, übersetzt von P.-J- Labarrière und G. Jarczyk. Diese weist einige Unterschiede zur zweiten Auflage von 1831 vor allem hinsichtlich des Begriffs des Anderen auf. Zu beiden Auflagen vgl. Kimmerle, Heinz: Das Etwas und (s)ein Anderes. Wie das ›spekulative Denken‹ das Andere (des Anderen) zum Verschwinden bringt, in: Arndt, Andreas/Iber, Christian (Hg.): Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspektiven, Berlin 2000, 158–172. ABTS 23 [25]. Hegel: Wissenschaft der Logik. Das Sein (1812), 47–48. ABTS 24 [26]. ABTS 24 [26].

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Buchstaben und Index AP . »Es gibt A, und es gibt AP (zu lesen: ›A als solches‹ und ›A an einem anderen Ort‹, an dem Ort p, der den Raum der Platzierung, also P, vergibt).«31 Es handelt sich bei A und AP zweimal um dasselbe A, jedoch einmal A als solches, ohne an einem bestimmten Ort gesetzt zu sein, und einmal A als gesetzt an einem bestimmten Ort (AP ). Badiou schließt aus seiner Interpretation der Daseinslogik, dass man jedes Etwas als solches und als platziertes Etwas denken müsse. In dieser Tatsache liege der »Beweis« für die Notwendigkeit des Konzeptes der Spaltung, denn immer, wenn man etwas denke, müsse man es als gespalten denken.32 Das bedeutet für Badiou auch, dass man aufgrund dieser Spaltung niemals nur ein Etwas als Eines, sondern immer ein Etwas als solches und als positioniertes, das heißt, als Zwei denke: »Alles das, was existiert, ist gleichermaßen es selbst und es selbst-gemäß-seinem-Ort.«33 Diese Zwei könne Badiou zufolge auch niemals in eine Eins überführt werden; sie sei konstitutiv. Badiou wendet sich damit gegen den Systemgedanken (im Sinne einer abgeschlossenen Totalität) Hegels.34 Badious Interpretation, dass das Etwas und das Andere nicht qualitativ unterschieden seien, wird weitgehend von Hegels zweiter Auflage der Wissenschaft der Logik bestätigt, insofern das Etwas und das Andere in eine Beziehung zueinander ausgelegt werden, dass das Andere das Andere des Etwas ist. In der zweiten Auflage verwendet Hegel die Kategorie »Dieses«, um die Verbindung des Etwas und des Anderen aufzuzeigen: Beide – das Etwas und das Andere – sind »Diese«.35 Doch Badiou geht noch einen Schritt weiter, denn für ihn liegt der zentrale Unterschied nicht zwischen dem A als solchen und dem platzierten A, sondern zwischen dem A und seiner Platzierung, das heißt seinem Ort, P. »Was Hegel nicht klar sagt, ist, dass der wahre ursprüngliche Gegensatz zum Etwas A nicht etwas anderes ist, es ist nicht einmal es selbst als ›platziertes‹, AP , nein: der wahre, der verborgene Gegensatz zu A ist der Raum der Platzierung P, der den Index delegiert. Die Gegebenheit von A als in sich gespalten in – sein reines Sein, A – sein platziertes Sein, AP .«36

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Ebd. Ebd. ABTS 26 [28]. Dazu Bartlett und Clemens: »Hegel is the thinker of totality, of the One-Whole – that which Badiou interrogates Hegel about incessantly.« Bartlett, A. J./Clemens, Justin: Measuring Up: Some Consequences of Badiou’s Confrontation with Hegel, in: Vernon, Jim/Calcagno, Antonio (Hg.): Badiou and Hegel. Infinity, Dialectics, Subjectivity, Lanham 2015, 15–34, hier 16. Vgl. dazu auch Trott, Adriel M.: Badiou contra Hegel. The Materialist Dialectic Against the Myth of the Whole, in: Vernon, Jim/Calcagno, Antonio (Hg.): Badiou and Hegel. Infinity, Dialectics, Subjectivity, Lanham 2015, 59–75. Badious Betonung der Spaltung ohne Einheit lässt sich auch als Kritik an Althussers Begriff der »komplex strukturierten Totalität« interpretieren. Für Althusser steht nicht die Spaltung, sondern die Vielheit und Unterschiedlichkeit von Widersprüchen in ihrem Zusammenhang im Fokus. Vgl. Althusser. Pour Marx, 198–205 [243-253]. Hegel: Wissenschaft der Logik I (Werke 5), 125f. Dazu Kimmerle: Das Etwas und (s)ein Anderes, 168. ABTS 25 [27]. Hervorhebung im Original.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Mit der Entgegensetzung von A als dem Etwas und P als dem Ort, an dem das Etwas platziert ist, führt Badiou einen ähnlichen Gegensatz wie den von »Etwas« und »Anderes« ein. Wie es Badious Eigenart ist, verdeutlicht er auch diesen Sachverhalt mit einem Beispiel aus dem Bereich der Politik, nämlich des Verhältnisses von Proletariat und Bourgeoisie, das von Marx und Engels als ein gegensätzliches begriffen wird.37 Doch im Unterschied zu dieser Auffassung des Gegensatzes, setzt Badiou dem Proletariat A nicht die Bourgeoisie, sondern die »bourgeoise Welt« als Platzierungsraum P entgegen, denn das Ziel des Proletariats sei nicht die Überwindung der Bourgeoisie, sondern des Platzierungsraumes, der die Plätze zuweise, also die Überwindung der bourgeoisen Welt.38 Der Ort P sei das, was das Etwas A bestimme. Doch Badiou denkt diese Bestimmung nicht absolut. In dem genannten Beispiel sei das Proletariat zwar von der bourgeoisen Welt bestimmt. Diese Bestimmung geschehe jedoch nicht vollständig. Es gehe deshalb genau darum, den Abstand zwischen A und P jeweils herausfinden.39 Badiou nimmt keine strenge Analyse der hegelschen Daseinslogik vor, sondern webt – metaphorisch gesprochen – stattdessen seine eigene Theorie in die Analyse von Hegel ein. Bruno Bosteels charakterisiert dieses Verfahren Badious als »Leihen« und »Reformulieren«.40 Das heißt, dass bestimmte Begriffe von Hegel entliehen und – angereichert mit eigenen theoretischen Konzepten – von Badiou reformuliert werden. In dieser Studie kann weder eine umfassende Analyse von Badious Hegelrezeption noch eine des vielschichtigen Werks Théorie du sujet erfolgen.41 Vielmehr möchte ich aufzeigen, welche Argumente Badiou entwickelt, die zu seiner Einschätzung, dass Gott tot sei, führen. Insofern Gott bei Badiou mit dem Einen (der Eins) verknüpft wird, führt die

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Vgl. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei (1848): in Marx-EngelsWerke (MEW) 4, Berlin 1972, 463. ABTS 25 [27]. Badiou führt drei weitere Begriffe ein, um den Abstand zwischen A, also Etwas, und P, also dem Ort des A, genauer zu beschreiben: »la force« (»die Kraft«/»Tendenz«), »l’esplace« (»der Platzierungsraum«/»Struktur«) und »le horlieu« (»der Unort«/»Nicht-Struktur«). ABTS 28 [31f.]. Eine Analyse dieser Begriffe führt an dieser Stelle zu weit. Ich verweise dazu auf die hilfreichen Studien: Bosteels: Badiou and Politics, 128–140; Feltham: Alain Badiou, 39–59; Wright: Badiou in Jamaica, 39–41. Vgl. zum Begriff der Kraft aus theologischer Perspektive auch die sehr instruktive Studie von Sarah Rosenhauer, in der sie neben Hegel und Adorno auch Badiou diskutiert. Leider geht sie darin nicht (auch noch) auf Badious Théorie du sujet ein. Rosenhauer: Die Unverfügbarkeit der Kraft und die Kraft des Unverfügbaren, bes. 257–272. »Thus, while the logic of scission borrows heavily from early segments in the Science of Logic, especially ›Something and Other‹ and ›Determination, Constitution and Limit‹, Badiou systematically reformulates the basic principles of this logic in his own, now familiar, vocabulary by insisting that every entity be split between that part that cannot be accounted for without resorting to a logic of forces.« Bosteels: Badiou and Politics, 139. Oliver Feltham kommt zu einer ähnlichen Einschätzung, wenn er Badious »Methode« in Théorie du Sujet diskutiert: »[T]he interpretation of primary texts is mixed with building a theory.« Die allgemeine Bezeichnung »a theory« bezieht sich auf Badious Theorie. Feltham: Alain Badiou, 40. Eine systematische Studie, die Badious Verhältnis zu Hegel analysiert, ist mir bislang nicht bekannt. Viele Aspekte dieses Verhältnisses finden sich allerdings in dem Band: Vernon, Jim/ Calcagno, Antonio (Hg.): Badiou and Hegel. Infinity, Dialectics, Subjectivity, Lanham 2015. Vgl. auch Ruda, Frank: For Badiou. Idealism without Idealism, Evanston 2015.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Kritik am Einen bzw. an der Eins auch zu einer Auflösung des Gottesbegriffs. Ich werde darauf in Kapitel 2.1.3 ausführlicher eingehen. Die Analyse der ersten Seminareinheit von Théorie du sujet hat gezeigt, dass und wie Badiou mit Hegel den Primat der Zwei denkt. Das zentrale Motiv ist die Operation der Spaltung, die Badiou aus Hegels Daseinslogik herausarbeitet. Alles, was gedacht werde, müsse als gespalten in etwas-selbst und etwas-an-einem-Ort-platziert, gedacht werden. Eine Frage, die sich an Badious Interpretation der Daseinslogik stellt, ist, wie er mit der hegelschen Operation der Negation umgeht. In meiner Darstellung der Kategorientheorie Hegels (2.2) habe ich gezeigt, dass die antinomische Struktur der Kategorien zu einer Dynamik bzw. zu einer Entwicklung der Kategorien führt. Jede Kategorie weist somit als einzelne eine Instabilität auf, die im Ganzen des Systems ›aufgefangen‹ wird. Alle Kategorien befinden sich aufgrund ihrer antinomischen Struktur in einem Beziehungsgefüge. Es ist gerade dieser Aspekt der Dynamik, der es Marx und anderen im Anschluss an Hegel ermöglicht hat, gegen eine metaphysische Statik Veränderung denken zu können. Badiou legt hingegen Wert darauf, dass es keine kategoriale Entwicklung von Etwas zu Anderem gebe, sondern dass beide gesetzt, sogar dass das Andere eigentlich dasselbe Etwas sei. Diese Interpretation ermöglicht ihm zwar, alles als gespalten zu denken; aber führt dieses Konzept nicht letztendlich doch zu einem statischen Denken42 , welches die Dialektik Hegels überwinden wollte?43

2.1.2 »Die Menge aller Mengen ist inkonsistent«: Badious Rezeption der Mengenlehre In seinem Buch Théorie du sujet vollzieht Badiou einen Parcours durch zahlreiche Theorieansätze, Denkformen und Motive unterschiedlicher Disziplinen. Als eindeutig philosophisches Werk finden sich neben der Diskussion der klassischen und der zeitgenössischen Philosophie teils knappe, teils sehr ausführliche Auseinandersetzungen mit der Psychoanalyse, der Literatur, der Geschichte, der Politik, der Theologie und der Mathematik.44 Die verschiedenen Bereiche dienen in Théorie du sujet in der Regel dazu, die philosophischen Fragen nach dem Subjekt, der Dialektik und dem Materialismus (bzw. Idealismus) zu veranschaulichen. Sie haben also exemplarische Funktion. In seinen spä-

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Auf den Unterschied zwischen Beziehung und Spaltung deutet auch Bosteels: Badiou and Politics, 77ff. hin. Allerdings befragt er Badiou nicht hinsichtlich des Verhältnisses von Spaltung und Statik. Es ist der Begriff der Kraft (bzw. der Tendenz, »la force«) mit der Badiou in Théorie du sujet ein statisches Denken unterbinden möchte. Dieser Begriff tritt jedoch erst nachträglich hinzu, da Badiou diesen nicht vom Begriff des Etwas ableitet. Woher kommt die Kraft? Eine Klärung dieser Anfrage an Badious Rezeption der hegelschen Logik, bedarf einer umfangreicheren Untersuchung des Verhältnisses von Badiou und Hegel. Badiou hat zu diesen sieben Bereichen unter den Stichwörtern 1. Kunst und Literatur, 2. Begebenheiten der Geschichte, 3. Gott, 4. Logik und Mathematik, 5. klassische Philosophie, 6. Psychoanalyse stricto sensu, 7. Politische Theorie für Théorie du Sujet ein eigenes Stichwortverzeichnis verfasst (ABTS 347–350), das im Vorwort erläutert wird (12). Das Stichwortverzeichnis sowie seine Erläuterung im Vorwort wurden allerdings nicht in die deutsche Übersetzung übernommen.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

teren Werken wird Badiou die Verwendungsweise dieser Bereiche in einer Theorie der »Bedingungen der Philosophie« systematisieren.45 Alle Veröffentlichungen Badious vor L’être et l’événement (1988) werden in den einschlägigen Kommentaren zu seinem Gesamtwerk oft der maoistischen Phase und damit vor seinem sogenannten »mathematical turn«46 einsortiert.47 Mit der These des mathematical turns in seinem Werk wird nicht behauptet, dass sich Badiou erst 1988 ernsthaft mit der Mathematik und vorher nur mit Politik beschäftigt, sondern, dass sich die Funktion der Mathematik verändert habe. Seit den Anfängen seines philosophischen Wirkens rezipiert Badiou ausführlich mathematische Modelle.48 Doch dienten diese vor 1988 eher noch als Beispiele, um philosophische Probleme zu veranschaulichen, erhielten sie mit L’être et l’événement ontologische Bedeutung.49 Eine genauere Darstellung der ontologischen Bedeutung der Mathematik in L’être et l’événement präsentiere ich in Kapitel 2.2. In Théorie du sujet widmet sich Badiou unterschiedlichen mathematischen Themen, unter anderem der Unterscheidung von Algebra und Topologie, der Mengenlehre nach Cantor sowie einigen Anschlussdiskussionen an Cantors Mengenlehre, wie beispielsweise die Frage nach der Beweisbarkeit der sogenannten Kontinuumshypothese. Im Folgenden werde ich mich Badious Rezeption der cantorschen Mengenlehre in Théorie du sujet zuwenden, die er hauptsächlich in der Seminarsitzung vom 6. Februar 197850 vorstellt. Er behandelt auf diesen fünf Seiten keine Darstellung der Grundlagen der Mengenlehre – diese scheinen von Badiou vorausgesetzt zu werden –, sondern ein spezielles Thema der Mengenlehre: das Thema der Inkonsistenz der Menge aller Mengen, das anhand des Verhältnisses einer Menge und ihrer Potenzmenge präsentiert wird. Um die Inkonsistenz der Menge aller Mengen aufzuzeigen, verweist Badiou auf das sogenannte Diagonalisierungsargument Cantors.51 Es wird U als die Menge aller Mengen angenommen. Jeder Teilmenge P von U wird nun der Reihe nach ein Element u zugeordnet. Dann werden diejenigen Teilmengen, die das Element u enthalten, das ihnen zugeordnet wird, von den Teilmengen, die dieses Element u nicht enthalten, unterschieden. Entscheidend ist, dass diese Zuordnung nicht gelingt, da sich immer ein Element bilden lässt, das keine eindeutige Zuordnung erlaubt. Badiou bedient sich zur Erläuterung des Diagonalisierungsverfahrens einer bildlicheren Darstellungsweise. Jeder Teilmenge P des Universums U wird ein Eigenname in Form eines Elements u des Universums U zugeordnet. Nun gibt es eine Menge derjenigen Mengen, die ihren Eigennamen als Element enthalten und einige Mengen, die ihren Eigennamen nicht als Element enthalten. Betrachtet

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In ABEE; Badiou, Alain : Manifeste pour la philosophie, Paris 1989; Badiou, Alain : Conditions, Paris 1992. Hallward, Peter: Badiou. A Subject to Truth. Minneapolis 2003, 49. Bosteels: Badiou and Politics, 110–156; Feltham: Alain Badiou, 32–83; Hallward: Badiou. A Subject to Truth, 3–78. Badiou, Alain : Le concept de modèle, Paris 1969. Im Vorwort zur deutschen Neuausgabe von Le concept de modèle von 2007 unterteilt Badiou sein eigenes Materialismusverständnis in ein frühes logisches und ein späteres ontologisches. Badiou, Alain: Das Konzept des Modells. Einführung in eine materialistische Epistemologie der Mathematik, Wien 2009, 27. ABTS 231–239 [275-285] bzw. 232–235 [276-280]. Ebd., 234–235 [278-279].

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

man nun die Menge der Eigennamen, die den Teilmengen äußerlich sind, dann zeigt sich: Diese Menge ist nun wiederum eine Teilmenge des Universums U. Angenommen alle Teilmengen sind mit einem Eigennamen versehen worden, dann enthält diese Menge dieser Eigennamen, die eine Teilmenge ist, ihren Eigennamen als Element. Und sie enthält diesen Eigennamen nicht als Element, da sie ja die Menge aller Eigennamen ist, die ihren zugeordneten Teilmengen äußerlich sind. Es handelt sich folglich um einen Widerspruch. Daraus schließt Badiou in Übereinstimmung mit der Mengenlehre, dass die Potenzmenge mächtiger ist als ihre Ausgangsmenge und deshalb niemals von einer konsistenten Menge aller Mengen gesprochen werden könne. In der Seminarsitzung vom 8. Mai 1978 fasst Badiou dieses Ergebnis noch einmal pointiert zusammen: »Das Theorem Cantors läuft darauf hinaus, dass die Kardinalität der Menge der Teilmengen von E immer mächtiger ist, als die Kardinalität von E selbst.«52 Badiou überträgt diese mathematische Erkenntnis auch auf die Philosophie, für die entsprechend gelte, dass keine absolute Totalität, kein Universum und keine Geschichte konsistent sei: »Das Universum enthält immer mehr Dinge, als es nach diesen Dingen selbst benennen kann. Daher seine Inexistenz.«53 Auch die Geschichte sei inexistent; es gebe nur partikulare Geschichten.54 Bosteels Auffassung, dass die Mathematik in L’être et l’événement analogen (und nicht nur exemplarischen) Charakter habe, würde damit bereits für Théorie du sujet gelten.55 Die Mathematik veranschaulicht demnach nicht nur einen philosophischen Sachverhalt, sondern ein mathematischer Sachverhalt wird in den Bereich der Philosophie übertragen. Badiou referiert die Mengenlehre Cantors in dieser Seminarsitzung im Zusammenhang der Entwicklung eines Materialismusbegriffs. Sein Ziel ist es, die Limitationen des Materiebegriffs mithilfe des Mengenbegriffs aufzuzeigen. Dazu setzt Badiou den mathematischen Begriff der Menge und den philosophischen Begriff der Materie in ein Entsprechungsverhältnis: »Dass alles unter dem einzigen Namen der Menge und mittels der Logik der Zugehörigkeit ausgesagt werden kann, entspricht dem, was uns hinsichtlich der materialistischen Anerkennung des Einen des Namens des Seins beschäftigt. Wie die ›Materie‹ hier für das Sein, dient die Menge für die Mathematik als universaler Signifikant.«56 Mit dem Nachweis, dass in der Mengenlehre die Möglichkeit der Mengenbildung begrenzt ist – eine Menge aller Mengen darf und kann nicht konstruiert werden –, beansprucht Badiou nun auch eine limitierende Aussage über die Materie treffen zu können: »Man weiß, dass der Begriff einer Menge aller Mengen inkonsistent ist. Ebenso ist der Begriff einer materiellen vollständigen Totalität nichts als ein poröses Hirngespinst des Materialismus, seine in Idealismus zurückgekehrte Ausscheidung.«57

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Ebd., 277 [332]. Ebd., 235 [279]. Ebd., 233 [277]. Bosteels: Badiou and Politics, 35. ABTS 232 [276]. Ebd., 233 [277].

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Immer wieder verwendet Badiou in Théorie du sujet Formulierungen, die eine Entsprechung erzeugen (›wie in der Mathematik, so auch im Materialismus‹). In dieser Passage tritt noch eine weitere Entsprechung, die Politik, hinzu. In der Politik sei die Entsprechung zur Menge aller Mengen der Staat, was bedeute, dass die Politik (im Sinne eines tätigen Engagements) keinen Staat bilden dürfe. Badious philosophischer Grundsatz, der sich aus den Erkenntnissen der verschiedenen Bereiche (Mathematik, Politik, Marxismus) ergibt, lautet: »Jede elementare Vielheit impliziert eine Überschreitung ihrer selbst.«58

2.1.3 Das Denken des Einen: Badious Rezeption der Theologie Badious Théorie du sujet ist weder ein explizit noch ein implizit theologisches Werk. Theologische Themen und Begriffe lassen sich nur sporadisch finden. Dennoch sind sie auffindbar und – hält man sich an Badious Themenindex am Ende des Textes – sie werden explizit als eines von sieben zentralen Themenfeldern, die in dem Buch behandelt werden, geführt.59 Der Index verzeichnet zehn explizite Einträge, die mit dem Stichwort »Dieu« in Verbindung gebracht werden. Darüber hinaus erwähnt Badiou an einigen wenigen Stellen noch die Theologen Thomas von Aquin (140), Nicolas Malebranche (55) und Blaise Pascal (58, 296, 317) sowie den Evangelisten Lukas (41). Mit einer Ausnahme, die den Islam Irans erwähnt, handelt es sich bei den anderen um Referenzen des Christentums bzw. der christlichen Theologie. Hinsichtlich der Frage, inwiefern der Gottesbegriff für Badiou obsolet wird, sind meines Erachtens vier Passagen virulent: 1. Gott als das absolut Eine und das Verhältnis von Einheit und Vielheit (22f.), 2. die Wesensgleichheit von Vater und Sohn (33f.), 3. christliche Häresien bezüglich des Verhältnisses von Vater und Sohn (35f.), 4. der theologische Idealismus: zwei Seinssphären und ihre Verbindung (207). Die ersten drei Passagen sind Teil von Badious Analyse der hegelschen Kategorien »Etwas« und »Anderes« in den ersten beiden Seminarsitzungen. Die vierte Passage gehört in die Entwicklung eines Materialismusbegriffs. Zu 1.: In der Analyse der hegelschen Kategorien »Etwas« und »Anderes« konstatiert Badiou, dass Hegel das Problem behandelt, wie aus dem Einen bzw. einer Kategorie das Viele entstehen kann: »Wie kann aus dem Einen und nur aus einem einzelnen, das Viele hervorgehen?«60 Bevor Badiou diese Frage mit Hegel beantwortet, schiebt er einen Kommentar zu den Kirchenvätern ein, um zu zeigen, dass diese Frage bereits eine sehr alte sei und sich nicht erst mit Hegel gestellt habe. Die Kirchenväter überlegten, wie Gott, »die absolute Form des Einen«, ein Universum von dauerhafter Vielheit »pulverisieren« konnte.61 Denn eine Sache sei es, Gott aus den Wundern abzuleiten, eine andere und schwierigere Aufgabe wäre es jedoch, die Wunder aus dem einen Gott zu deduzieren. Badiou gibt keine Belege oder weiteren Referenzpunkte für diesen kleinen Kommentar an und er zieht daraus auch keine weiteren Schlüsse. Es soll hier der Hinweis genügen,

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Ebd., 234 [279]. Ebd., 348. Wie bereits erwähnt, wurde der Themenindex nicht in die deutsche Übersetzung von Théorie du sujet übernommen. Ebd., 22 [24]. Ebd., 22f. [25].

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

dass Badiou an dieser Stelle Gott mit dem Begriff des Einen gleichsetzt und diese Gleichsetzung hier auf die Kirchenväter zurückführt. Zu 2.: Diese Passage habe ich bereits in Kapitel 2.1.1 erwähnt. Badiou hat das Konzept der Spaltung (scission) aus Hegels Daseinslogik deduziert. Nun weist er darauf hin, dass Hegel ein christliches Modell für seine Ausführungen zu Grunde liegt, nämlich das Konzept der Wesensgleichheit von Gott-Vater und Gott-Sohn, das auf dem Konzil von Nicäa beschlossen wurde.62 Dieses Konzept ermögliche es, Gott als in Vater und Sohn gespalten zu denken, ohne seine Unendlichkeit einschränken zu müssen. Dass der Sohn nach Tod und Auferstehung wieder »zur Rechten des Vaters sitzt«, wie es das Glaubensbekenntnis formuliert, auf das Badiou offensichtlich Bezug nimmt, ermögliche wieder die Schließung der Spaltung (zu einem Kreis). In Badious Terminologie lässt sich formulieren, dass aus der (gespaltenen) Zwei wieder eine Eins entstanden ist. Bei Hegel findet sich dieses Konzept der Negation (z.B. in Form des Todes) im Begriff der absoluten Idee wieder.63 Gegen beide Ausführungen, des Konzils von Nicäa wie Hegels, wendet sich Badiou. Ihm zufolge lasse sich eine Zwei nicht wieder zu einer Eins vereinigen. Badiou analogisiert die Passage zur Theologie mit einem Gedanken aus dem Bereich der politischen Theorie. Wie Gott sich wieder mit sich selbst versöhne, löse sich die Revolution im Staat auf.64 Obgleich sich Badiou gegen das Konzept der Versöhnung bei Hegel und beim Konzil von Nicäa richtet, führt er dennoch zwei häretische Strömungen zur Konzilstheologie aus und parallelisiert diese mit Strömungen in China während der Kulturrevolution. Dies geschieht in der dritten Passage. Zu 3.: Badious Ausführungen zu zwei häretischen Strömungen im Christentum schließen unmittelbar an seine kurze Analyse der Wesensgleichheit von Gott-Vater und Gott-Sohn an. Er nennt diese einen linken und einen rechten »Rückfall«65 . Die »Rechtsabweichung« sei der Arianismus, der die Wesensgleichheit des Sohnes mit Gott-Vater bestreite und die sich vor der Trennung von Endlichkeit und Unendlichkeit verneigten.66 Die Linksabweichung hingegen betone die ausschließliche Göttlichkeit Christi. Dies sei die gnostische Bewegung, dessen »ultralinke« Variante der Manichäismus sei. Beiden Abweichungen stehe nicht nur das Konzil von Nicäa, sondern auch Hegel entgegen. Badiou wendet diese Abweichungen auf sein Modell des Etwas A und des platzierten Etwas AP an. Die Abweichungen zeigten zwei Varianten in welchem Maß das Etwas A von seinem Ort/Platz P bestimmt werde. Die Rechtsabweichung stehe für ein Denken, in dem A absolut von P bestimmt werde, das heißt, dass A absolut seinem Ort/Platz zugehöre. Im theologischen Modell wäre der Sohn Gottes dermaßen von seinem Ort – der Welt; 62 63 64 65 66

Vgl. ebd., 33 [38]. Vgl. ebd., 32 [36]. Vgl. ebd., 34 [38]. Ebd., 35 [39]. Im Streit der Kongregation der Glaubenslehre und einigen Vertretern der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung ist letzterer gegenüber oft der Vorwurf eines Arianismus gemacht worden. Allerdings wurde dort der Arianismus aufgrund des Marxismusvorwurfs eher als Linksabweichung aufgefasst. Vgl. vor allem die Diskussion um Jon Sobrinos Christologie der Befreiung (Jesucristo liberador, Madrid 1991) in Weß, Paul: GOTT, Christus und die Armen. Eine Rückbesinnung auf den biblischen Glauben als Beitrag zur Lösung des Konflikts in der Befreiungstheologie, Münster 2 2011, 18–99.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

der jüdäischen/galiläischen/römischen Gesellschaft – bestimmt, dass er ihr absolut zugehörig sei. Das Göttliche falle weg. Die Linksabweichung sehe A in absolut keiner Weise von P bestimmt, sodass A unabhängig von P sei. Badiou schließt an seine Überlegungen zu den theologischen Abweichungen unmittelbar eine Analogie zur politischen Situation Chinas während der Kulturrevolution an. Die Rechtsabweichung stehe für eine Position, die ausschließlich die ökonomischen Notwendigkeiten und Abhängigkeiten wahrnehme, die Linksabweichung hingegen vertrete einen »ideologistischen Fanatismus«.67 Es ist anzunehmen, dass dieser Fanatismus eine Position charakterisiert, die das politischrevolutionäre Agieren unabhängig von den ökonomischen Verhältnissen begreift. Zu 4.: Die vierte Passage, in der Badiou ein theologisches Motiv verwendet, ist seine Darstellung einer Position, die er einen »theologischen« bzw. »religiösen Idealismus«68 nennt. Diese Referenz ist in die Entfaltung eines Materialismusbegriffs integriert und hat in diesem Zusammenhang ideengeschichtliche Funktion. Badiou führt aus, dass eine Spielart des Materialismus ein Monismus hinsichtlich der Materie bzw. des Seins sei. So sei die Materie die eine (einende) Kategorie des (bzw. eines) Materialismus. Badiou stellt diesem monistischen Materialismus den theologischen Idealismus entgegen: »Der theologische Idealismus bildet sich aus der Entschiedenheit, die Zwei zu halten, heraus: für die Griechen widerspricht das Intelligible dem Sinnlichen. Bei den Christen ist das Unendliche und das Endliche inkommensurabel, der Schöpfer und das Geschöpf. Zwei Regionen des Seins, deren Verdoppelung jede endliche Eins spaltet.«69 Der theologische Idealismus – hier nicht auf das Christentum beschränkt – zeichnet sich durch die Behauptung zweier Seinsregionen oder -bereiche aus. Es gebe, der Argumentation Badious folgend, nicht eine einheitliche oder einheitsstiftende Kategorie, wie die einer Materie, eines Atoms oder des Seins, sondern stattdessen müsse von grundsätzlich zwei Bereichen ausgegangen werden. Diese Form des Idealismus gehe aber einen Schritt weiter, denn entscheidend sei, dass es jeweils eine Verbindung der Seinsbereiche gebe. Im Christentum sei die Verbindung die Inkarnation.70 Diese knappe Darstellung des theologischen bzw. religiösen Idealismus bei Badiou lässt sich als Ergänzung zu seiner Referenz der Kirchenväter interpretieren. Dort hatte Badiou mit den Kirchenvätern Gott als die ideale Form der Eins bezeichnet.71 Mit den knappen Hinweisen zum theologischen Idealismus lässt sich spezifizieren, dass diese Eins Gottes von Badiou nicht notwendig als Monismus gedacht wird. Für alle theologischen Passagen Badious in Théorie du sujet kann festgehalten werden, dass es sich jeweils um sehr knappe Ausführungen handelt, die nur wenige Referenzen bieten. Alle Passagen sind eher an theologischen Denkmotiven bzw. Problemstellungen und teilweise auch an ihren politischen (kirchengeschichtlichen) Auswirkungen interessiert, denn an biblischen Erzählungen. Die theologischen Motive werden ebenfalls nur mit wenigen Erklärungen versehen, was darauf hindeutet, dass Badiou die Kenntnis der

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ABTS 35 [40]. Ebd., 206f. [247f.] Ebd., 206 [247f.]. Vgl. ebd., 207 [248]. Vgl. ebd., 22f. [25].

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Motive voraussetzt. Entsprechendes gilt auch für die zahlreichen anderen Erfahrungszusammenhänge, auf die er rekurriert. Badiou verwendet die theologischen Motive teilweise als ideengeschichtliche Stationen, teilweise als Analogien. Im Falle der Lehre von der Wesensgleichheit und ihren Häresien kommen ihnen sogar beide Funktionen zu. Insbesondere seine Referenz der theologischen Häresien zeigt, wie Badiou mit unterschiedlichen Erfahrungszusammenhängen, von denen die Christentumsgeschichte bzw. die Theologie einer unter mehreren ist, umgeht. Es werden sehr spezifische Situationen aus ihrem eigenen Kontext heraus isoliert und in Analogie zu anderen spezifischen Situation gesetzt. Das Modell der theologischen Häresien wird gleich in Analogie mit mehreren anderen Erfahrungszusammenhängen gesetzt: mit Hegels Analyse der Kategorie »Etwas« sowie mit einer spezifischen Diskussion in China der 1960er Jahre. Welche Funktion nehmen diese Analogien ein? In L’être et l’événement verwendet Badiou den Begriff der »Kompossibilität«72 , der retrospektiv auch seinen Umgang mit den Analogien erhellt. Badiou schreibt der Philosophie die Aufgabe zu, einen begrifflichen Rahmen – vielleicht könnte man auch von einer begrifflichen Struktur sprechen – für die verschiedenen Erfahrungszusammenhänge zu liefern, in dem diese Erfahrungszusammenhänge sich selbst reflektieren könnten. Dadurch stelle die Philosophie eine Kompossibilität zwischen den verschiedenen Erfahrungszusammenhängen her.73 Dieser Ansatz lässt sich bereits avant la lettre in Théorie du sujet erkennen. Die philosophische begriffliche Analyse ermögliche es, die verschiedenen Erfahrungszusammenhänge miteinander zu vergleichen, sie sogar aufeinander anwenden zu können. Meines Erachtens haben die theologischen Motive in Théorie du sujet demnach mehr als nur eine rhetorische Funktion oder eine, die nur der Abgrenzung gilt. Badious Konzept der Spaltung, das er immer wieder auf theoretische Werke anwendet,74 könnte auch im Falle der Theologie zum Tragen kommen. Badiou spaltet die theologischen Motive in eine idealistische Hälfte und in eine, die einer materialistischen Theorie dient. So wird das theologische (konstitutive) Motiv »Gott« im Sinne der absoluten Form des Einen als idealistisch abgespalten, das nicäische Motiv der Teilung (Gottes in Vater und Sohn) beibehalten. Auf diese Weise werden die theologischen Motive allerdings aus ihrem Gesamtzusammenhang – der Theologie bzw. des Christentums – genommen und somit enttheologisiert. Am deutlichsten wird diese Arbeit der Enttheologisierung theologischer Topoi in seinen späteren Werken, wenn er sich der »›laicization of the infinite‹«75 widmet, wie es Hallward formuliert.

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ABEE 10 [17]. In L’être et l’événement sind diese Erfahrungszusammenhänge selbst schon strukturiert und auf vier wesentliche konzentriert: die Politik, die Wissenschaft, die Kunst und die Liebe. Peter Hallward charakterisiert Badious gesamtes philosophisches Arbeiten als eines der Unterscheidung, Spaltung und Teilung. »Badiou’s philosophy is militant in its very essence. At its core, his philosophy involves taking a principled stand, distinguishing between claims for and against. […] But like any position worth the name, it does separate its rivals into groups according to what they contribute or threaten, inspire or discourage.« Hallward: Badiou. A Subject to Truth, 3. Diese Unterscheidungen vollzieht Badiou nicht nur entlang unterschiedlicher Denker*innen, sondern auch innerhalb ihrer jeweiligen Werke. Ebd., 4. Hallward setzt diese Formulierung aus nicht genannten Gründen in Anführungszeichen.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

2.1.4 Das Eine, das Ganze, die Einheit Badiou verwendet in Théorie du sujet wie auch in vielen anderen Werken unterschiedliche Begriffe, die – grob formuliert – sehr große Mengen bzw. Vollständigkeit bezeichnen. Es handelt sich um die Begriffe »das Eine«, »das Ganze«, »Einheit«, »die Eins«, »die Menge aller Mengen«, »Totalität«, »Universum« und »Welt«. Diesen Begriffen stellt Badiou in der Regel die Begriffe »Zwei«, »Vielheit«, »Mannigfaltigkeit« gegenüber. Ein immer wiederkehrendes Motiv in Théorie du sujet ist das der Teilung (division) bzw. der Spaltung (scission) der Eins in Zwei: »Es ist die Zwei, die der Eins ihren Begriff gibt.«76 oder auch »Eins teilt sich in zwei.«77 Wie verhalten sich diese verschiedenen Mengen- oder Vollständigkeitsbegriffe zueinander? Verwendet Badiou diese Begriffe synonym? Zunächst ist eine grobe Differenzierung dieser Begriffe sinnvoll. So gehören die Begriffe »Menge« und »Menge aller Mengen« dem Bereich der Mathematik an und Badiou verortet sie auch explizit dort.78 Die anderen Begriffe »das Eine«, »das Ganze, »Einheit«, »Eins«, »Totalität«, »Universum«, »Welt« lassen sich dem philosophischen Diskurs zuordnen. In der Seminarsitzung vom 6. Februar 1978, in der Badiou auch über das Problem der Menge aller Mengen spricht, finden sich alle anderen genannten Begriffe. Der Begriff der Menge aller Mengen wird dort mit den Begriffen »Totalität« und »Ganzes« in Entsprechung gesetzt. So, wie die Menge aller Mengen inkonsistent sei, seien es auch die Totalität wie das Ganze. »Für die mathematischen Mengentheoretiker, wie für den wahrhaften Materialismus ist jede Totalität partikular. Was zum Ganzen gehört, verlangt die Position des Anderen, das nicht zum Ganzen gehört.«79 Die Menge aller Mengen sowie die Totalität und das Ganze stehen für eine Vollständigkeit, deren Inkonsistenz Badiou immer wieder erläutert. Er folgert aus dieser Tatsache, dass auch der Begriff »Weltgeschichte«, wie er in der marxistischen Tradition Verwendung finde, inkonsistent sei. Überhaupt seien alle generalisierenden Begriffe des Marxismus, wie »das Weltproletariat«, »das beherrschte Volk« aufgrund ihrer Inkonsistenz leere Aussagen.80 Stattdessen könne man nur von Vielheiten ausgehen.81 Der Begriff des Universums wird von Badiou als diskursübergreifend dargestellt. Eingeführt wird dieser Begriff, wenn Badiou Cantors Nachweis, dass die Menge aller Mengen inkonsistent sei, vorstellt. Dort ist es das »(imaginäre) totale Universum U«82 , das für die Menge aller Mengen stehe. Tatsächlich wird der Begriff des Universums in der Mengenlehre für eine Klasse von Mengen verwendet und gehört somit zum mengentheoretischen Begriffsrepertoire.83 In Badious Ausführungen zu Cantors Überlegungen 76 77 78 79 80 81

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ABTS 23 [25]. Ebd., 32 [36. Ebd., 232–234 [276-280]. Ebd., 233 [277]. Ebd. Hervorhebung im Original. Im Verlauf meiner Studie, insbesondere, wenn es um die Diskussion zwischen Badiou und Metz geht, werde ich im Anschluss an Martin Jay den Begriff der Totalität bevorzugen, da dieser Begriff in der (kritischen) Marxrezeption – Jay spricht vom »western Marxism« – der typischste ist, um Vollständigkeit zu benennen. Vgl. die sehr instruktive Studie Jay: Marxism and Totality. ABTS 234 [278]. Vgl. Deiser: Einführung in die Mengenlehre, 304.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

unterscheidet er zwischen den für die Mengenlehre typischen Begriffen Menge, Teilmenge und Elemente. Am Ende seiner Ausführungen konkludiert Badiou allerdings, dass das Universum immer mehr »Dinge«84 enthalte, als mit den Möglichkeiten des Universums eindeutig benannt werden könnten. Das umgangssprachliche Wort »Dinge« deutet an, dass Badious Überlegungen zum Universum U auch für andere Bereiche außerhalb der Mathematik gelten sollen – z.B. für die Politik. Das Universum enthält demnach die Bedeutung von Vollständigkeit (wie die Begriffe »Totalität« und »Ganzes«) sowie die, der Umgangssprache entsprechend, des Räumlichen/Zeitlichen. Die letzten Begriffe sind »die Eins«, »das Eine«, »die Einheit«. »Die Eins« und »das Eine« sind die Übersetzungen des französischen »l’Un«. Die Übersetzung »die Eins« im Sinne der Zahl bietet sich bei Badiou in der Regel immer dann an, wenn er »l’Un« und »Deux« bzw. »deux« gegenüberstellt. Exemplarisch: »Un se divise en deux.« – »Eins teilt sich in zwei.« Die Übersetzung »Eines teilt sich in zwei.« wäre ebenfalls möglich. Badiou verwendet »l’Un« für jede Form des Identischen und damit für alles, was nicht Vielheit ist. Das »Etwas« wird zunächst als »Eins« bzw. »Eines« bezeichnet. Das Etwas und das Andere sind »deux foi Un« – »zweimal Eins«.85 Das Etwas ist »la même chose« – »dasselbe Ding« oder einfach nur »dasselbe«, wie Heinz Jatho übersetzt, und es ist das mit sich selbst Identische.86 Insofern Badiou den Begriff der Eins in der Seminarsitzung über Hegels Begriff des Etwas einführt, liegt die Vermutung nahe, dass die Eins bzw. das Eine auf Hegels Kategorie der Eins zurückreicht. In der Wissenschaft der Logik ist die Eins ein Fürsichsein, das wiederum eine Erweiterung der Kategorie des Etwas ist. »Das Fürsichsein ist daher ein einfaches Einssein mit sich«87 , schreibt Hegel. »Das Eins ist die einfache Beziehung des Fürsichseins auf sich selbst, die, indem seine Momente in sich zusammengefallen sind, die Form der Unmittelbarkeit hat. […] Weil Eins kein Dasein und keine Bestimmtheit als Beziehung auf Anderes hat, ist es auch keiner Beschaffenheit und somit keines Andersseins fähig; es ist unveränderlich.«88 Das Eins bestimmt sich nicht in Beziehung auf Anderes, sondern durch sich selbst. Es ist in dieser Bestimmung etwas ungeteiltes und wird von Hegel auch mit den Atomen der antiken Atomisten verglichen.89 Wenn Badiou die hegelsche Kategorie des Etwas als grundsätzlich gespalten analysiert, zeigt er damit auf, dass diese Kategorie als ungespaltene oder ungeteilte nicht möglich sei, sondern immer als gespaltene gedacht werden müsse. Damit unterscheidet sich die Eins aber auch von dem mathematischen Begriff der Menge, da die Menge eine Vereinigung von Elementen und keine Unmittelbarkeit eines Fürchsichseins bedeutet.90 84 85 86 87 88 89 90

ABTS 235 [279]. Ebd., 24 [26]. Ebd. Hegel: Wissenschaft der Logik (1812), 104. Ebd., 105. Ebd., 106. Badiou verwendet darüber hinaus den Begriff des »absolut Einen«, der mit Verweis auf die Kirchenväter Gott und mit Verweis auf Hegel das Ganze der Geschichte sei. Hinsichtlich des absolut Einen stelle sich die Frage, wie sich dieses zum Vielen verhalte. ABTS 22f. [24f.]. Vgl. auch Kapitel 2.1.3.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Der letzte Begriff in diesem Zusammenhang ist »die Einheit«. Dieser Begriff tritt in Théorie du sujet in der Regel als »Einheit von Gegensätzen« auf und bezeichne Badiou zufolge das traditionelle marxistische Modell der Dialektik: »Lenin sagt, dass das Ganze der Dialektik im Prinzip der Einheit der Gegensätze bestehe.«91 Badiou modifiziert diesen Gedanken, wenn er konstatiert, dass das Eine, das aus Gegensätzen bestehe, im Grunde genommen eine Zwei sei, da die Gegensätze nicht verschwänden. Eine Einheit zeichne sich dadurch aus, dass sie Gegensätze verbinde, ohne sie zu einer Eins zusammenzuschließen. Dadurch unterscheidet sich die Einheit, wie Badiou sie versteht, von der Eins bzw. dem Einen. Er konstatiert: »Nur insofern die Gegensätze heterogen, unvereinbar sind; nur genau in dem Maß, wie kein gemeinsamer Platz des Platzierungsraumes den Unort beansprucht, gibt es die dialektische Einheit, diejenige, die kein Ganzes aus dem macht, was sie verbindet.«92 Allen diesen tendenziell allumfassenden Kategorien »das Eine«, »das Ganze«, »die Einheit«, »die Eins«, »die Menge aller Mengen«, »Totalität«, »Universum«, »Welt« setzt Badiou in Théorie du sujet die »Spaltung«, »die Zwei«, »die Vielheit«, »die Unvollständigkeit« entgegen. Dies geschieht in Form kleinerer Analysen, wie die der hegelschen Daseinslogik, der Mengenlehre Cantors oder politischer Geschehnisse, die sich mittels Analogie auch gegenseitig erklären sollen. So, wie es in der Mengenlehre keine Vollständigkeit (Menge aller Mengen) gebe, dürfe es sie auch nicht in der engagierten Politik oder hinsichtlich der philosophischen Begriffe geben. In L’être et l’événement systematisiert Badiou die Auflösung der Totalität (der ›absoluten Eins‹) in Form einer mathematisierten Ontologie, worauf ich in Kapitel 2.2 eingehen werde.

2.1.5 Materialismus/Idealismus: Eine Verhältnisbestimmung mit Hegel und Cantor Badious Anliegen in Théorie du sujet ist es vornehmlich, eine Subjekttheorie zu entwickeln. Im Unterschied zu im weitesten Sinne idealistischen Subjektkonzeptionen, die das Subjekt wesentlich in ihrer (Selbst-)Erkenntnisfähigkeit entwerfen (Kant, Hegel, Sartre), sowie zu strukturalen Subjekttheorien, die das Subjekt als Effekt der Struktur (des Staates, der Produktionsverhältnisse) und somit als passiv interpretieren wie Althusser, möchte Badiou eine materialistisch-dialektische Subjekttheorie erarbeiten. Dazu widmet er sich zunächst und vor allem einer Bestimmung dessen, was er unter Dialektik und unter Materialismus versteht.93 Zwei zentrale Motive für dieses Verständnis stehen in einem engen Zusammenhang mit der Auflösung des Gottesbegriffs. Es sind die beiden Motive der Spaltung von »Eins in Zwei« sowie der Limitation des Mengenbegriffs, die zu einer Entgrenzung des Denkens von Mengen führt. In Anlehnung an Hegels Wissenschaft der Logik lassen sich beide Motive als logisch-ontologische, das heißt als Denkbestimmungen (Logik) mit ontologischer Dimension, verstehen. Diese

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Ebd., 47 [53]. Ebd., 48 [55]. Für eine ausführliche Diskussion der Subjekttheorie Badious in Théorie du Sujet verweise ich auf Bosteels: Badiou and Politics; Feltham: Alain Badiou; Hallward: A Subject to Truth; Pluth: Badiou. Eine Philosophie des Neuen.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

geben Badious materialistischer Dialektik ihre Grundstruktur. Die Spaltung erlaube es, jedes Eine/jede Eins als in sich geteilt zu denken und verbiete es, eine Eins als ungeteilt und damit als ursprünglich zu denken. Die Operation der Spaltung erlaube weder ein Denken eines Ursprungs noch eines Abschlusses. Die Limitation des Mengenbegriffs unterbinde die Konstruktion einer Menge aller Mengen und limitiere auf diese Weise die Limitation des Denkens von Mengen. Das heißt, dass es keine umfassende, letzte und absolut vereinende Menge geben könne. In Badious Übertrag des mathematischen Motivs auf die Philosophie folge daraus, dass auch die Materie des Materialismus nicht als umfassende, letzte und absolut vereinende gedacht werden dürfe. Sie bleibe stattdessen offen und unbegrenzt. Der umgekehrte Ansatz, dass es erstens ungespaltene Einsen bzw. Einzelne sowie zweitens eine Menge aller Mengen bzw. eine absolute Totalität gebe, charakterisiere Badiou zufolge den Idealismus. In L’être et l’événement wird Badiou diese logisch-ontologische Struktur, die in Théorie du sujet vielfältig und unsystematisch angestoßen wird, strukturieren und theoretisch vertiefen.

2.2 »Das Eine ist nicht« – L’être et l’événement (1988) Gegenwärtig wird Alain Badiou aufs Engste mit dem umfangreichen Werk L’être et l’événement in Verbindung gebracht. Das 1988, sechs Jahre nach Théorie du sujet, veröffentlichte Buch ist das erste einer Trilogie, die auch noch die Bücher Logiques des mondes. L’être et l’événement 2 (2006) und L’Immanence des vérités. L’être et l’événement 3 (2018) beinhaltet. Dem Titel entsprechend behandelt Badiou auf äußerst detaillierte Weise das Verhältnis von Sein und Ereignis. Die Entfaltung dessen, was unter Sein und was unter Ereignis verstanden werden kann, hält Badiou für eine Möglichkeit, die Frage zu klären, wie Neues in der Welt geschehen könne und was dieses Neue kennzeichne.94 Wie schon in Théorie du sujet verknüpft er mehrere Erfahrungszusammenhänge und theoretische Felder miteinander. Mathematische Überlegungen gehen in philosophiegeschichtliche Ausführungen über und werden mit politischen, psychoanalytischen sowie theologischen Themen angereichert. Doch im Unterschied zu Théorie du sujet geschehen diese Verknüpfungen auf systematische Weise. Es ist vor allem das Verhältnis von Mathematik und Philosophie, das Badiou systematisch bearbeitet und auf das ich in den folgenden Kapiteln eingehen werde. Eine seiner zentralen Thesen ist, dass Mathematik und Ontologie gleichzusetzen seien, wie er in der Einleitung schreibt: »Mathematik = Ontologie«95 . L’être et l’événement wird von den meisten Badiou-Kommentatoren im höchsten Maße für seine philosophische Innovation gelobt. So nennt Burhanuddin Baki Badious Gleichsetzung von Mathematik und Ontologie »the most radical, far-reaching and surprising philosophical equation since Emmanuel Levinas’ redefinition of first philosophy as ethics in Totality and Infinity (1961) and perhaps since Baruch Spinoza’s redefinition of God

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Damit führt Badiou seine Abgrenzung vom Marxismus-Leninismus, den er in Ist Politik denkbar? charakterisiert, fort. ABEE 12 [20].

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as substance in Ethics (1677)«96 . Doch trotz des überschwänglichen Lobs muss auch konstatiert werden, dass L’être et l’événement bis heute, über 30 Jahre nach seiner Veröffentlichung, inhaltlich kaum über einige allgemeine Überlegungen hinaus rezipiert wird. Vermutlich ist es genau diese Gleichsetzung von Mathematik und Ontologie bzw. die umfangreiche und detaillierte Rezeption der Mathematik, die die Rezeption von L’être et l’événement bis heute erheblich erschwert.97 Mit vollem Recht konstatiert Baki: »We also recognize that Being and Event is an extraordinarily difficult book.«98 In den folgenden Kapiteln werde ich analysieren, wie Badiou den Tod Gottes mit der Auflösung des Einen in L’être et l’événement verbindet. Wie begründet er die Auflösung? Dazu werde ich zuerst Badious These, Mathematik = Ontologie analysieren. Was meint Mathematik, was Ontologie und wie funktioniert die Gleichsetzung (2.2.1)? In einem zweiten Schritt widme ich mich Badious »Entscheidung«, dass das Eine nicht sei (2.2.2). Was ist mit dem Einen, das nicht sei, gemeint? Welche Rolle spielt darin die mathematische Mengenlehre? Und warum handelt es sich dabei um eine »Entscheidung« und nicht um eine Deduktion? Drittens betrachte ich Badious Vorgehensweise in L’être et l’événement vor dem Hintergrund der transzendentalen bzw. dialektischen Logik von Kant und Hegel (2.2.3). Im vierten Schritt analysiere ich den Begriff der Unendlichkeit bzw. der unendlichen Unendlichkeiten, den er in einer Analyse von Hegels Wissenschaft der Logik dem negativen Urteil »Das Eins ist nicht« gegenüberstellt (2.2.4). Im fünften und letzten Kapitel extrahiere ich den ethischen und politischen Gehalt hinsichtlich des Begriffs der Egalität aus Badious ontologischen und metaontologischen Überlegungen und frage in Anlehnung an Paul Livingston: Welche Politik impliziert Badious Logik (2.2.5)?99

2.2.1 Ontologie, Metaontologie und Philosophie Mit L’être et l’événement beansprucht Badiou, ein Buch mit programmatischem Charakter verfasst zu haben; programmatisch insofern, dass einerseits alle großen Strömungen der damals (1988) zeitgenössischen Philosophie evaluiert werden sollen und andererseits eine neue Denkweise initiiert werden soll. Sein Vorgehen erinnert in Grundzügen an das von Théorie du Sujet, das er mit der These beginnt, Hegel in einen materialistischen und

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Baki, Burhanuddin: Badiou’s Being and Event and the Mathematics of Set Theory, London 2015, 2. Ähnlich Peter Hallward: »[H]is [Badious, P.A.] major treatise, L’être et l’événement (1988), is certainly the most ambitious and most compelling single philosophical work written in France since Sartre’s Critique de la raison dialectique (1960).« Hallward: A Subject to Truth, xxi. Dies gilt nicht zuletzt für meine eigenen (kleinen) Studien zu Badiou, in denen ich L’être et l’événement nur sehr eingeschränkt aufgenommen habe. Baki will mit seiner beachtlichen Untersuchung Badiou’s Being and Event and the Mathematics of Set Theory diese Rezeptionslücke in der Badiouforschung füllen. Baki: Badiou’s Being and Event, 2. Livingston charakterisiert seine eigene Studie über Wittgenstein und Badiou folgendermaßen: »This critical reflection on formalism is not then, a matter of applying an external ›logic‹ (or logics) to the ›political‹ – hence, not a ›logic of politics‹ – but rather a matter of comprehending the very structure of logic itself in its inherently ›political‹ dimension – hence, a kind of ›politics of logic‹.« Livingston, Paul: The Politics of Logic. Badiou, Wittgenstein, and the Consequences of Formalism, New York/London 2011, 8. Hervorhebung im Original.

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einen idealistischen teilen zu müssen. In L’être et l’événement hebt Badiou drei Hauptströmungen der Philosophie hervor, die er jeweils teilt. Dieses Mal werden die Strömungen allerdings nicht in materialistisch-idealistisch geteilt, sondern hinsichtlich dessen, was sie zum Verständnis des Nicht-Seins beitragen und was das Nicht-Sein verhindert. Die drei großen Strömungen sind Badiou zufolge, 1. die Philosophie Heideggers, 2. die analytische Philosophie, die die »Figur der wissenschaftlichen Rationalität«100 im Anschluss an die neueren mathematischen, logischen Erkenntnisse repräsentiert. Diese sei vor allem mit den Namen Frege und Russell, aber auch Gödel und Quine verbunden. 3. Die post-cartesianischen Subjekttheorien, die den Schwerpunkt auf das Theorie-Praxis-Verhältnis legten. Darunter falle einerseits das Denken von Marx und des Marxismus, andererseits die Psychoanalyse nach Freud und Lacan.101 Dass diese drei Strömungen zur Beschreibung der damals zeitgenössischen Philosophie genannt werden, ist zunächst nicht ungewöhnlich, obgleich natürlich auch andere Demarkationslinien zwischen unterschiedlichen Strömungen gezogen werden könnten.102 Ungewöhnlich ist vielmehr, dass Badiou diese Strömungen nicht ausschließlich in einen Gegensatz zueinander stellt, sondern ankündigt, aus allen drei Strömungen bestimmte Aspekte herauszunehmen und diese neu zu verknüpfen.103 Die jeweiligen Aspekte sind auch keine Akzidenzien, sondern betreffen zentrale Elemente der jeweiligen Strömungen. Mit Heidegger möchte Badiou die »ontologische Frage« als grundlegende der Philosophie beibehalten. Mit der analytischen Philosophie soll die gesamte Philosophie durch die »mathematisch-logische Revolution von Frege-Cantor« neu ausgerichtet werden. Mit dem post-cartesianischen Denken hält Badiou an den Subjekttheorien, die das Verhältnis von Theorie und Praxis thematisieren, fest.104 Es ist zu beachten, dass es genau diese und nur diese Punkte sind, die Badiou den jeweiligen Strömungen explizit entnimmt. Alle anderen theoretischen Aspekte der jeweiligen philosophischen Richtungen werden deutlich kritisiert, und auch die von Badiou hervorgeho-

100 ABEE 7 [15]. 101 ABEE 7f. [15f.]. 102 So wäre es wahrscheinlich möglich, beispielsweise die – nicht nur für Frankreich – bedeutende theoretische Strömung des Strukturalismus bzw. Post- oder Neostrukturalismus zu den drei von Badiou genannten Strömungen hinzuzufügen. In seinen Veröffentlichungen vor L’être et l’événement (1988) ist diese für Badiou noch eine der entscheidenden Bezugspunkte. Siehe Kapitel 2.1. 103 Vor dem Hintergrund des sogenannten Positivismusstreits in der deutschen Soziologie oder auch der scharfen Abgrenzung der Frankfurter Schule gegenüber der Philosophie (und nicht nur der Person) Heideggers, mögen diese Verbindungen, die Badiou zieht, irritieren. Adorno, Theodor W./ Dahrendorf R./u.a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt/Neuwied 1972; Adorno: Negative Dialektik sowie Jargon der Eigentlichkeit, beide in: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Band 6, Frankfurt a.M. 7 2015. Aber auch Badiou ist nicht für seine vermittelnden, sondern vielmehr für seine polemischen und stark distinguierenden Positionen bekannt. Als bekannte Beispiele seien hier nur seine Abgrenzungen gegenüber »kulturalistischer Ideologie«, die u.a. postkoloniale und queere Theorien umfasse, genannt. ABSP, 5–18, hier 7. Einen ungewöhnlichen, aber sehr überzeugenden Ansatz, Badious Philosophie aus postkolonialer Perspektive zu lesen, bietet: Wright, Colin: Badiou in Jamaica. The Politics of Conflict, Melbourne 2013. 104 ABEE 8 [16].

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benen positiven Aspekte haben nur in ihrer Verbindung ihre inhaltliche Berechtigung.105 So verwendet Badiou die Subjekttheorie weder ohne Mathematik noch ohne einen Bezug zur Ontologie. Vor dem Hintergrund der drei genannten Aspekte – Ontologie als philosophischer »Kern«106 , Relevanz der Mathematik, Subjekttheorie – stellt Badiou seine Ausgangsthese für L’être et l’événement auf: »Die Ausgangsthese meines Unternehmens […] ist die folgende: Die Wissenschaft vom Sein-als-Sein existiert seit den Griechen, denn hier wird der Status und der Sinn der Mathematik begründet.«107 Und er folgert daraus: »Mathematik = Ontologie«108 . Badiou nimmt eine Gleichsetzung von Mathematik und Ontologie vor und begründet diese zunächst damit, dass die Ontologie als Wissenschaft vom Seinals-Sein seit der antiken griechischen Philosophie überliefert sei und dass sie auch die Mathematik hervorgebracht habe. Doch was bedeutet diese Gleichsetzung? Burhanuddin Baki weist zu Recht darauf hin, dass genau geklärt werden muss, was die jeweiligen Seiten der Gleichung bezeichnen und was diese Gleichung dann für die Philosophie bedeutet, die explizit in der Gleichung nicht genannt ist.109 Badiou folgert unmittelbar aus dieser These, dass Ontologie und Philosophie als Disziplinen getrennt werden müssten. Die Philosophie habe zwar die Ontologie als Kern, aber sie habe dann eine von ihr wohlunterschiedene Disziplin als Kern. Diese Folgerung ist äußerst ungewöhnlich und darf als Innovation Badious interpretiert werden, denn gemeinhin wurde und wird die Ontologie als eine Teildisziplin der Philosophie aufgefasst. In der Philosophiegeschichte galt die Ontologie im Sinne der ›ersten Wissenschaft‹ als Metaphysik oder als einer ihrer Teilbereiche, als »metaphysica generalis«.110 Auch im Hinblick auf Badious gesamte Abhandlung L’être et l’événement mag diese Folgerung irritieren. Handelt es sich nicht um einen genuin philosophischen Text, in dem Badiou eine Ontologie entwickelt? War die ontologische Frage nicht das zentrale Thema, das er mit Heideggers Philosophie teilen wollte? Badiou führt eine Reihe von Differenzierungen hinsichtlich des Ontologiebegriffs ein: Die Ontologie sei die Wissenschaft vom Sein-als-Sein; sie sei ein Diskurs über das Sein und kein Diskurs über das Seiende. Die Mathematik sei Ontologie, ohne davon in der Regel ein Bewusstsein zu haben. Damit sei die Mathematik der wahrhafte Diskurs über das Sein. »Die These, die ich aufstelle, sagt nicht, dass das Sein mathematisch, das heißt aus mathematischen Objekten zusammengesetzt ist. Es ist keine These über die Welt, son105 In Court traité d’Ontologie transitoire, das viele hilfreiche Ergänzungen zu L’être et l’événement liefert, nennt Badiou den linguistic turn das zentrale gemeinsame Problem der analytischen wie der (post-)heideggerischen Philosophie, von dem er sich deutlich abgrenzt. Vgl. ABCT 119–128 [121130]. 106 Badiou nennt die Ontologie den »noyau« – den »Kern« – der Philosophie, ABEE 19 [27]. 107 »La thèse initiale de mon entreprise […] est la suivante : la science de l’être-en-tant-qu’être existe depuis les Grecs, car tel est le statut et le sens des mathématiques.« (ABEE 9) Dieser Satz ist nicht einfach zu übersetzen. Ich habe hier die etwas freie, aber inhaltlich zutreffende, Übersetzung von Gernot Kamecke übernommen. ABSE 17. 108 ABEE 12 [20]. 109 Baki: Badiou’s Being and Event, 11. 110 Vgl. Schmidinger: Metaphysik, 13–19, hier 17.

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dern über den Diskurs. Sie behauptet, dass die Mathematik, in ihrem ganzen historischen Werden, das ausspricht, was über das Sein-als-Sein sagbar ist.«111 Badiou unterbindet mit der Unterscheidung von Aussagen über die Welt und Aussagen über das Sein-als-Sein den Gedanken, dass er die Welt mathematisiere. Auf die Unterscheidung vom Diskurs über die Welt und dem über das Sein-als-Sein komme ich in den folgenden Kapiteln zurück. Eine weitere Differenzierung ist die zwischen Philosophie und Ontologie. Sobald die Philosophie über die Ontologie spreche, handle es sich um »metaontologische« Aussagen. Somit sei auch die Aussage »Mathematik = Ontologie« eine metaontologische Aussage.112 Die Philosophie erschöpfe sich jedoch nicht im metaontologischen Diskurs. In Badious Konzeption der Philosophie erhält sie die Aufgabe, einerseits Aussagen über den ontologischen Diskurs zu treffen, andererseits begrifflich das zu formulieren, was nicht das Sein-als-Sein – was das Nicht-Sein – ist. In seiner Terminologie ist ein »Ereignis« ein Nicht-Sein113 bzw. ein Bruch mit dem Sein, der etwas Neues ins Sein einführt. Auf diese Weise markiert er eine Grenze dessen, was ontologisch möglich ist, um diese philosophisch wieder mit einer Theorie des Ereignisses zu überschreiten.114 Doch mit der Aufgabe der Philosophie, das zu theoretisieren, was nicht das Seinals-Sein ist, muss Badious Formulierung, dass die Philosophie die Ontologie (als eigenständige Disziplin) als ihren Kern habe, relativiert und präzisiert werden. Badiou führt den Begriff der »Bedingungen« ein, um die Disziplinen oder Erfahrungszusammenhänge zu benennen, die die Philosophie unmittelbar beeinflussen. Eine dieser Bedingungen sei die »Wissenschaft«, zu der er auch die Mathematik zähle.115 Die Mathematik sei dementsprechend eine von mehreren Bedingungen der Philosophie. Bedingungen zeichneten sich Badiou zufolge dadurch aus, dass in ihnen »Wahrheiten« existieren; sie seien in seiner Terminologie »Wahrheitsprozeduren«116 bzw. »generische Prozeduren«117 . Die 111 112 113

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ABEE 14 [22]. ABEE 20 [27]. In ABCT nennt Badiou das Ereignis ein Trans-Sein [trans-être]. Diese Formulierung ist insofern treffender als die des Nicht-Seins, da Badiou auch dem Ereignis ein Sein zuspricht. Entscheidend ist für die Formulierung des Trans-Seins, wie des Nicht-Seins, dass das Ereignis als nicht vollständig mathematisierbar gilt. Das heißt, dass eine Theorie des Ereignisses für Badiou keine Ontologie, sondern Philosophie ist. Die Ontologie bzw. die Mathematik gerate in eine »Sackgasse« hinsichtlich des Ereignisses. ABCT 55–59 [55-60], hier 57 [56]. Livingston arbeitet diese Grenze im Vergleich von Badiou und Wittgenstein meines Erachtens sehr gut heraus. Die Philosophie im Sinne Badious erschöpfe sich weder in den Grenzen der Mathematik, noch derjenigen der Sprache: »In both of Badiou’s major works [Being and Event; Logics of Worlds, P.A.], the interpretation of structures that have been considered ›foundational‹ for mathematics thus operates as a kind of formalization of the limits of formalism themselves, which in turn yields radical and highly innovative interpretations of what is involved in thinking both the structuring of situations as such and the possibilities of their change or transformation.« Livingston: The Politics of Logic, 43. Seit L’être et l’événement spricht Badiou (etwas schematisch) von vier Bedingungen, die die Philosophie beeinflussen: Politik, Kunst, Wissenschaft (Mathematik) und Psychoanalyse (Liebe). ABEE 10 [18]. Ebd., 315 [321]. Ebd., 23 [31].

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Philosophie selbst produziere keine Wahrheiten, sie biete aber ein begriffliches und systematisches Instrumentarium an, um Wahrheiten theoretisch vermitteln zu können. Die Ontologie kann in dem Sinne als »Kern« der Philosophie bezeichnet werden, insofern sie ermöglicht, die Grenzen oder Sackgassen des Seins abzustecken und somit der Philosophie den Weg eröffnet, diese Grenzen und Sackgassen theoretisch mit der Theorie des Ereignisses zu überschreiten. Andererseits kann die Ontologie nicht als alleiniger Kern der Philosophie betrachtet werden, da es mehrere Bedingungen der Philosophie sowie weitere ihr genuine Anliegen gebe. Die These, dass Mathematik Ontologie sei, versteht Badiou nicht zuletzt als Abgrenzung von Heidegger. Zwar betont Badiou, wie oben erwähnt, prominent118 Heideggers Thematisierung der ontologischen Frage und seine Bedeutung für die gesamte Philosophie, doch vollzieht er auch eine entscheidende Abgrenzung Heidegger gegenüber. Diese liege in der Gleichsetzung von Mathematik und Ontologie. Für Heidegger eröffne die Poesie einen Zugang zum Sein, was Badiou strikt ablehnt. Stattdessen hält er ausschließlich die Mathematik für einen adäquaten Diskurs über das Sein119 und es sei gerade ihr aufklärerischer Charakter, der diesem Diskurs allgemeine Zugänglichkeit ermögliche, wie er in Conditions hervorhebt: »Die Mathematik ist für sie [die Philosophen bis einschließlich Kant, P.A.] jene singuläre Form des Denkens, die die Souveränität des Mythos unterbrochen hat.«120 Wozu bedarf Badiou der ungewöhnlichen Gleichsetzung »Mathematik = Ontologie«? Selbst für ihn handelt es sich bei dieser Gleichsetzung nicht um eine transparente Plausibilität. In der Einleitung zu L’être et l’événement beschreibt er ausführlich die theoretischen Schwierigkeiten hinsichtlich einer ontologischen Fundierung seiner Subjekttheorie, die er in Théorie du sujet entwickelt hatte. Erst während einiger Recherchen zur Mengenlehre, wie er einräumt, gelang er zu der These, »dass die Mathematik im Feld einer reinen Theorie der Vielheit das formuliert, was vom Sein selbst ausgesagt werden kann«121 . Dies sei der Grund für die Gleichsetzung von Mathematik und Ontologie. Die Mathematik, spezifischer die Mengenlehre nach Cantor, stelle ein theoretisches Wissen und eine theoretische Praxis zur Verfügung, um das, was in der Ontologie als Sein bezeichnet werde, adäquat zu denken und zu formulieren. Ich habe in Grundzügen geklärt, in welchem Verhältnis Ontologie, Mathematik, Metaontologie und Philosophie bei Badiou zueinanderstehen. Der einen Seite der Gleichung – »Mathematik = Ontologie« – konnte ich erste Konturen geben, insofern ich die Ontologie als Wissenschaft vom Sein-als-Sein und nicht vom Seienden bzw. von der Welt bezeichnen konnte. Nun muss genauer geklärt werden, was Badiou unter dem Objekt dieser Wissenschaft versteht und welche Bedeutung ihm zukommt. Offen bleibt weiterhin, was Badiou genau unter Mathematik versteht. Beidem wende ich mich im folgenden Kapitel zu.

Heidegger wird im zweiten Satz der Einleitung von L’être et l’événement als universal anerkannter Philosoph genannt. ABEE 7 [15]. 119 Vgl. ebd., 141–147 [143-150]. 120 ABC 159 [179]. Hervorhebung im Original. 121 ABEE 10–12 [18-19], hier 11f. [19].

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2.2.2 Die ontologische Entscheidung: »Das Eine ist nicht.« Badiou hält die Mathematik für eine notwendige Bedingung der Philosophie, das heißt, dass sie ein Wissen, eine Denkweise und eine Sprache zur Verfügung stelle, mit denen die Philosophie ihre Aufgabe, eine Theorie dessen zu erarbeiten, wie Ereignisse möglich seien, realisieren könne. Wenn Badiou auf die Mathematik zurückgreift, diene diese nicht als anschauliches Beispiel, das seine Ereignistheorie verdeutlichen soll. Er geht in L’être et l’événement hinsichtlich der Mathematik weder analogisch noch eklektisch vor.122 Vielmehr begrenzt er systematisch das mathematische Feld, das er rezipiert. Die Mathematik in L’être et l’événement ist die Mengenlehre von Cantor bis Cohen, die einen historischen Rahmen von den 1890er bis zu den 1960er Jahren umfasst.123 Badiou rezipiert neben den Grundlagen der Mengenlehre, wie u.a. das mengentheoretische Axiomensystem von Zermelo und Fraenkel, auch einige ihrer speziellen Themen, wie das Problem der sogenannten Kontinuumshypothese und den damit in Verbindung stehenden Ansatz des Forcings von Cohen.124 Die ersten beiden der insgesamt 37 sogenannten Meditationen widmet Badiou noch nicht der Mengenlehre, sondern der Darlegung seiner zweiten Ausgangsthese – die erste war die Gleichsetzung von Mathematik und Ontologie. Die zweite These, die auch das gesamte Buch durchziehen wird, lautet: »l’un n’est pas.«125 , was übersetzt werden kann mit »die Eins ist nicht.« oder »das Eins ist nicht.«126 Badious These bezieht sich auf die alte philosophische Frage nach dem Verhältnis des Einen zum Vielen, das bereits in Théorie du sujet begegnet ist. Dort hat Badiou das Verhältnis des Einen zum Vielen in Bezug auf Hegels Begriff des Etwas diskutiert und konstatiert: »Eins teilt sich in zwei.«127 Die erste Meditation von L’être et l’événement teilt zwar mit den ersten Seminarsitzungen von Théorie 122

Im Kapitel 2.1 habe ich darauf hingewiesen, dass Badiou an mehreren Stellen die Figur der Analogie verwendet, teils, um reziproke Bezüge herzustellen, teils, um diese argumentativ (als Argument oder statt eines Arguments) zu gebrauchen. So auch Baki: »By equating mathematics with ontology, Badiou was able to cut through the problematic status of propositions gained with the direct aid of metaphor and image.« Baki: Badiou’s Being and Event, 21. 123 In seinen späteren Veröffentlichungen rezipiert Badiou auch aktuellere mathematischen Diskussionen. Besonders in L’Immanence des vérités. 124 Die vermutlich aufschlussreichste Analyse der Mathematik in L’être et l’événement liefert die schon genannte Studie von Baki: Badiou’s Being and Event. Peter Hallward bietet eine gute und verständliche Einführung in die Grundlagen der Mengenlehre, die Badiou verwendet, in: Hallward: A Subject to Truth, 323–348. Darüber hinaus behandeln die ersten vier Aufsätze des Sammelbands Badiou and Philosophy, der von Sean Bowden und Simon Duffy herausgegeben wurde, einige mathematische Themen im Hinblick auf Badiou: Tho, Tzuchien: What is Post-Cantorian Thought? Transfinitude and the Conditions of Philosophy, 19–38; Bowden, Sean: The Set-Theoretical Nature of Badiou’s Ontology and Lautman’s Dialectic of Problematic Ideas, 39–58; Duffy, Simon: Badiou’s Platonism. The Mathematical Ideas of Post-Cantorian Set Theory, 59–78; Bhattacharyya, Anindya: Sets, Categories and Topoi. Approaches to Ontology in Badiou’s later Work, 79–96. 125 ABEE 31 [37]. Hervorhebung im Original. 126 Möglich wäre auch »das Eine ist nicht.« Gernot Kamecke übersetzt in Das Sein und das Ereignis »l’un« an dieser Stelle mit »Das Eins« ABSE 37. 127 ABTS 32 [36]. Ich habe diesen Aspekt in Kapitel 2.1.1 analysiert. Badious Formulierung steht emblematisch für sein Dialektikverständnis der sogenannten »roten Jahre«. L’être et l’événement wird zuweilen als Abkehr von der Dialektik interpretiert. Dieser Punkt wird vor allem von Bosteels, der

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du sujet das Anliegen, die Eins/das Eine aufzulösen. Die Bezüge sowie die gesamte Argumentation sind jedoch grundsätzlich anders aufgebaut, insofern er an dieser Stelle keine Diskussion mit Hegel führt, sondern eine eigenständige Darlegung bietet.128 Badiou stellt die Behauptung, dass die Eins nicht sei, zunächst nicht als These vor, sondern charakterisiert sie als eine »Entscheidung«129 , mit der er sich gegen die gesamte klassische Philosophie richtet. Für diese Philosophie gelte: »Die Wechselseitigkeit des Einen und des Seins ist gewiss das Axiom, mit dem der philosophische Diskurs beginnt, was Leibniz auf exzellente Weise formuliert: ›Das, was nicht wahrhaft ein Sein ist, das ist auch nicht wahrhaft ein Sein.‹«130 Leibniz drücke die Wechselseitigkeit des Einen und des Seins so aus, dass alles, was ist, sich jeweils als Eines darstelle. Doch, so fragt Badiou, wie verhält es sich dann mit dem Sein des Vielen. Aufgrund dieser Problematik folgert er: »Wir sind an einem Punkt der Entscheidung; eine, die bricht mit den Geheimnissen des Einen und des Vielen, in denen die Philosophie geboren wurde und in denen sie verschwindet […]. Diese Entscheidung kann nicht anders formuliert werden als: das Eins ist nicht.«131 Warum betont Badiou, dass es sich um eine Entscheidung handelt? Wäre es auch möglich, dass er seine zentrale Aussage als Deduktion, die aus einer bestimmten Argumentation gefolgert werden könnte, formuliert? Oder handelt es sich bei dieser Entscheidung gar um einen Beleg ›postmoderner Beliebigkeit‹ oder post-heideggerianischer Metaphysikkritik, die den Anspruch auf konsistente Argumentation (bewusst) fallen gelassen hat? Tatsächlich formulieren post- bzw. neostrukturalistischen Ansätze oftmals eine Skepsis gegenüber argumentativem philosophischem Arbeiten. Die Grundlagen dafür dürften auf Heidegger zurückzuführen sein, wie Habermas schreibt: »Das szientifische Denken und die methodisch betriebene Forschung verfallen [bei Heidegger, P.A.] der pauschalen Abwertung, weil sie sich innerhalb des durch die Subjektphilosophie vorgezeichneten Seinsverständnisses der Moderne bewegen. Selbst die Philosophie verharrt, solange sie auf Argumentation nicht verzichtet, im Bannkreis des Objektivismus.«132 Doch die letzte Frage ist eindeutig zu verneinen. Badious Vorgehensweise in L’être et l’événement ist weit davon entfernt argumentationsfrei oder argumentationsskeptisch zu sein, insofern die ganze Abhandlung die Entfaltung eines Argumentationsgangs für die Aussage, dass das Eins nicht sei, bietet. Dennoch bedarf der Begriff der Entscheidung bei Badiou einer Klärung. Die Entscheidung, dass das Eine nicht sei, ist eingebettet in ein Axiomensystem, das Badiou nach und nach entfaltet. Es handelt sich dabei um überzeugend für eine Kontinuität der Dialektik vor dem Hintergrund von Badious Logiques des mondes argumentiert, diskutiert. Vgl. Bosteels: Badiou and Politics. 128 Die Diskussion mit Hegel ist zwar in L’être et l’événement wesentlich weniger prominent als in Théorie du sujet, aber dennoch hinsichtlich des Begriffs des Unendlichen von Bedeutung. Ich komme darauf in Kapitel 2.2.4 zurück. 129 ABEE 31 [37]. 130 Ebd., 31. Das Leibnizzitat entnehme ich aus ABSE 37. Hervorhebungen im Original. 131 Ebd., 31 [37]. Hervorhebung im Original. 132 Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, 163. Vgl. auch Frank: Was ist Neostrukturalismus?, bes. 30–48.

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das Axiomensystem von Zermelo-Fraenkel, das gemeinhin in der Mengenlehre und auch von Badiou mit ZF abgekürzt wird.133 Zur Begründung seiner Entscheidung gibt Badiou eine Reihe von Definitionen und Unterscheidungen an. Die grundlegendste Unterscheidung ist die zwischen »Das Eins ist nicht« und »Es gibt Eins«134 . Badiou teilt die Auffassung, dass es Einsen gibt oder um es in Anlehnung an Leibniz zu sagen, dass es das, was es gibt, als Eines gibt. Doch dieses »Es gibt Eins« ist Badiou zufolge der Effekt bzw. das Resultat einer Zählung. Die Eins bzw. das Eins gebe es ausschließlich als Effekt einer »Operation«, sie präsentiere sich nicht von sich aus. Genauer: »Die Eins ist, weil es eine Operation ist, niemals eine Präsentation.«135 Badiou trifft zwei Unterscheidungen: 1. diejenige zwischen der Eins und dem Vielen, 2. diejenigen zwischen der Eins und der Eins als Resultat einer Zählung. Die Operation der Zählung nennt Badiou auch die »Zählung-als-Eins«136 . Etwas, das als Eins gezählt wird, ist von etwas anderem, das als Eins gezählt wurde, unterschieden oder anders formuliert: die Zählung ermöglicht Identifizierung und Unterscheidung. Aus den beiden Unterscheidungen zieht Badiou weitreichende Konsequenzen. Wenn alles, was als Eins bzw. Eines begegnet, nur jeweils Eines aufgrund einer Zählung ist, was befindet sich »vor« der Zählung? Entweder müsse es sich um etwas ungezählt Eines oder etwas ungezählt Vieles handeln. Für Badiou kommt ersteres nicht in Frage, da seines Erachtens jedes Eine, immer ›nur‹ ein Effekt sei. Eine Eins an sich, also vor jeder Zählung, schließt er aus. Dementsprechend bleibt für Badiou nur Vieles: »Die Vielheit ist rückwirkend lesbar als ein ›vorher‹ zur Eins, insofern die Zählung-alsEins […] immer ein Resultat ist. Die Tatsache, dass das Eins eine Operation ist, erlaubt uns zu sagen, dass der Bereich der Operation nicht Eins ist (denn die Eins ist nicht), und dass es folglich Vielheit ist, in dem Sinne, dass in der Präsentation das, was nicht Eines ist, notwendig Vielheit ist.«137 Badiou versteht seine Ontologie als eine »subtraktive«138 . Subtraktiv meint, dass das, was über das Sein gesagt werden könne, durch die Subtraktion von dem, was ist, ermöglicht werde. Anders formuliert: Badiou erarbeitet sich detailliert die verschiedenen Aspekte der Operation der Zählung, um diese anschließend »abziehen« zu können. Es müsse ein Außerhalb der Zählung-als-Eins geben, wie er in der Meditation zu Hegel seine subtraktive Ontologie charakterisiert.139 Sobald Vielheit präsentiert und folglich der Zählungals-Eins zugänglich ist, handelt es sich in Badious Terminologie um eine »Situation«: »Ich nenne Situation jede präsentierte Vielheit.«140 Und jede Situation impliziere eine be133

ABEE 55 [61]. Mitunter findet sich in der Mengenlehre auch die Abkürzung ZFC. Das C steht dann für das »Axiom of Choice«, das Auswahlaxiom. Vgl. Deiser: Einführung in die Mengenlehre, 267–289. 134 »l’un n’est pas« und »il y a de l’Un.« ABEE 31 [37]. Hervorhebung im Original. 135 Ebd., 32 [38]. 136 Ebd., 32 [38]. 137 Ebd., 32 [38]. Hervorhebung im Original. 138 Ebd., 34 [40, hier übersetzt Heinz Jatho »soustrait« mit »entzogen«]. Die Formulierung der subtraktiven Ontologie findet sich in ABEE 88 [92]. 139 Ebd., 183 [188]. 140 Ebd., 32 [38]. Hervorhebung im Original.

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stimmte Zählweise. Sie zeichne sich dadurch aus, dass sie qua implizierter Zählweise eine »Struktur« für die präsentierte Vielheit biete. Vielheit werde durch die Struktur (einer Situation) in eine strukturierte Vielheit und eine unstrukturierte Vielheit gespalten. In Badious Terminologie heißt erstere »konsistente Vielheit« und letztere »inkonsistente Vielheit« oder einfach »Konsistenz« und »Inkonsistenz«.141 Er formuliert: »Gleichwohl ist die Inkonsistenz als solche nicht wirklich präsentiert, da jede Präsentation unter dem Gesetz der Zählung steht. Die Inkonsistenz als reine Vielheit ist nur die Voraussetzung, dass vor der Zählung das Eine nicht ist.«142 Intelligibel sei demnach nur die konsistente Vielheit, da nur sie präsentiert sei. Über die inkonsistente Vielheit ließen sich entsprechend nur wenige positive Aussagen machen. Badious Unterscheidung von konsistenter und inkonsistenter Vielheit erinnert stark an Kants Unterscheidung von den Erfahrungen und den Dingen an sich selbst bzw. von dem Gegensatz des Subjekts der Erkenntnis und dem Objekt. In dieser Hinsicht würde Badiou die Position eines transzendentalen Idealismus, statt einer materialistischen Philosophie vertreten. Im Unterschied zu Kant gibt es allerdings bei Badiou kein sich selbst bewusstes Subjekt der Erkenntnis. Die Zählung-als-Eins geschieht bei ihm ohne Zähler als situationsimmanentes System:143 »Die Zählung-als-Eins ist nichts anderes als das System der Bedingungen, durch welche die Vielheit als Vielheit erkannt werden kann.«144 Die inkonsistente Vielheit hingegen sei als solche nicht erkennbar, sogar »undenkbar«145 . Das Denken geschehe immer im Rahmen einer strukturierten Situation. Man müsse deshalb, so Badiou, auch nicht von einer Vielheit, sondern von einer Vielheit von Vielheiten ausgehen. Diese Vermutung unterscheidet er von jeglicher Theologie, inklusive jeglicher negativen Theologie, für die das Andere des Gezählten das Eine des Seins oder eben Gott sei.146 Die Herausforderung, vor der sich Badiou sieht, besteht darin, etwas über die inkonsistente Vielheit zu sagen, ohne diese definieren zu können. Dieser Schritt ist für Badiou wichtig, um nicht in einem transzendentalen Idealismus zu verbleiben, der nur über die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis Aussagen treffen kann. Denn Badiou hält es für möglich, mittels eines Axiomensystems Aussagen über die inkonsistente Vielheit zu treffen, ohne diese näher definieren zu müssen. So zeichne sich die Zermelo-Fraenkel Axiomatik der Mengenlehre aus Badious Perspektive dadurch aus, dass sie ihren zentralen Begriff – den der Menge – nicht definieren müsse. Keines ihrer zehn Axiome definiere, was eine Menge ist. Eines der wenigen Charakteristika einer Menge sei die Zugehörigkeitsbeziehung: »Eine Menge ist, was die Vielheit einer gültigen Formel als-Eins-zählt.«147 Das heißt, eine Menge zählt alles, was 141 Ebd., 33 [39]; 65 [69]. 142 Ebd., 65 [69]. 143 Vgl. dazu Johnston, Adrian: The Phantom of consistency. Alain Badiou and Kantian transcendental idealism, in: Continental Philosophy Review 3/2008, 345–366. Ich komme auf diesen Aspekt im folgenden Kapitel zurück. 144 ABEE 37 [43]. 145 ABEE 44 [50]. 146 Ebd. 34 [41f.]. Diese Identifizierung des Jenseits der Zählung mit Gott identifiziert Badiou auch bei Cantor: »Dort, wo die Zählung-als-Eins scheitert, ist Gott zu finden.« Ebd., 52 [58]. 147 Ebd., 50 [56].

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jeweils als-Eins-gezählt-wurde, wiederum als Eines. In diesem Sinne lässt sich jede Eins in einer weiteren Zählung als Menge fassen. Die Mengenbildung in diesem Verfahren ist jedoch nicht widerspruchsfrei, was unter anderem Russell aufgezeigt hat. Russell hat bewiesen, dass die Bildung von einer ›höchsten‹ oder ›größten‹ Menge zu Widersprüchen führt. Dieses Problem war auch Cantor bereits bekannt, weshalb er daraus folgerte, dass man an diesem Widerspruch auf das Absolute im Sinne einer göttlichen Unendlichkeit stoße. Badiou teilt Cantors Einschätzung, mit der Mengenbildung an eine Grenze zu stoßen, schlägt aber eine andere, nicht theologische, Interpretation aus dieser Folgerung vor: »Man kann also auch sagen, dass Cantor, in Form einer genialen Antizipation, gesehen hat, dass der Punkt des absoluten Seins der Vielheit nicht seine Konsistenz – also ihre Abhängigkeit von einem Verfahren einer Zählung-als-Eins –, sondern seine Inkonsistenz ist, das heißt eine Vielheitsentfaltung, die keine Einheit bildet.«148 Doch das Absolute bzw. die göttliche Unendlichkeit wird von Badiou nicht bloß durch eine andere Bezeichnung ersetzt, sondern aufgelöst. Es handle sich um das »Nichtsein«149 . Damit die Mengenbildung nicht in Widersprüche führt, sondern den Kriterien sprachlicher Konsistenz genügt, gibt es im ZF Axiomensystem die Möglichkeit, widersprüchliche Mengen zu unterbinden, mittels des sogenannten Aussonderungsschemas. »Zu jeder Eigenschaft φ und jeder Menge x gibt es eine Menge y, die genau die Elemente von x enthält, auf die φ zutrifft.«150 Dieses Axiom erlaubt nicht, aufgrund sprachlicher Möglichkeiten, eine neue autonome Menge zu bilden und ihre Existenz zu behaupten. Stattdessen ist die Existenz einer Menge immer an die Existenz einer anderen Mengen geknüpft, wie Deiser formuliert: »Die entstehende Menge […] ist immer eine Teilmenge von x, und damit ist das Aussonderungsschema ein ›Existenzaxiom nach unten‹.«151 Das Aussonderungsschema wird deshalb auch Existenzschema genannt. Die Sprache, mit der Mengen begrifflich gebildet werden können, wird durch dieses Axiom an Existenz gebunden und nicht umgekehrt, die Existenz an die Möglichkeiten der Sprache. Badiou bezeichnet dieses Axiom deshalb auch als »materialistisch«: »Es [das Aussonderungsschema, P.A.] besagt, dass die Sprache nur unter der Voraussetzung der Existenz operiert – aussondert – und dass das, was sie so an konsistenter Mannigfaltigkeit hervorruft, in seinem Sein auf antizipierende Weise durch eine Präsentation getragen wird, die schon-da ist.«152 Wenn die Sprache, mit der Mengen gebildet werden, an die Existenz wenigstens einer Menge gebunden ist, stellt sich die Frage, welche Menge die Mengenlehre denn als bereits existent akzeptiert. Für Badiou ist das die entscheidende ontologische Frage, da über sie die Verknüpfung des Axiomensystems der Mengenlehre mit dem Sein gewährleistet werde oder in den Worten Badious, »dass das, was die Theorie präsentiert, tat-

148 149 150 151 152

Ebd., 53 [59]. Ebd. Deiser: Einführung in die Mengenlehre, 313. Vgl. auch ABEE 57 [63]. Ebd., 275. ABEE 58 [64].

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sächlich die Präsentation ist.«153 Im ZF-Axiomensystem ist es die leere Menge, die als existierend konstatiert wird: »Es existiert eine Menge, welche keine Elemente hat.«154 Das Zeichen für die leere Menge ist ∅. Entscheidend ist, dass es nicht mehrere leere Mengen geben kann, sondern nur eine, da jede Menge, die keine Elemente hat, leer und folglich die eine leere Menge ist.155 Badiou präzisiert, dass es sich aber nicht um die eine leere Menge, sondern um die einzige leere Menge handelt. Er unterscheidet »eins sein« und »einzig sein«, damit die leere Menge nicht als alternative Bezeichnung für die Eins interpretiert werde.156 Mit der leeren Mengen wird die ›erste‹ Existenz einer Menge konstatiert, die gleichzeitig kein ursprüngliches Element und dementsprechend auch keine Eins enthält. Sie tangiere damit, Badiou zufolge, in keiner Weise die These, dass das Eins nicht sei. Andererseits kennzeichne sie das Sein, da sie ja eine existente Menge sei. Deshalb folgert Badiou, dass die Leere bzw. das Zeichen ∅ der adäquate Eigenname des Seins sein müsse.157 Badiou vollzieht einen Übertrag der mengentheoretischen Axiome in die Terminologie von Situation, Vielheit, Zählung-als-Eins usw.158 Wenn jede Vielheit eine Zusammensetzung aus gezählten Einsen sei, wie geschieht diese Zählung? Entsprechend dem Axiomensystem schlägt Badiou vor, nicht mit irgendeinem ersten Element das Zählen zu beginnen, sondern mit der Leere: »Jede Vielheit ist aus Vielheiten zusammengesetzt, das ist das erste ontologische Gesetz. Aber wo soll man anfangen? Was ist die absolut ursprüngliche existenzielle Position, die erste Zählung, wenn es nicht eine erste Eins geben kann? Zwangsläufig muss die ›erste‹ präsentierte Vielheit ohne Begriff eine Vielheit von nichts sein, denn wenn sie eine Vielheit von etwas wäre, dann wäre dieses etwas die Position des Eins.«159 Die Zählung der Vielheiten einer übergeordneten Vielheit müsse mit der Zählung der Vielheit von nichts beginnen, die der leeren Menge entspreche. Genauer: Die Vielheit von nichts werde in der Sprache der formalen Logik erster Ordnung des ZF Axiomensystems »leere Menge« genannt. Mit dieser Zählweise werde von einer Existenz ausgegangen, die gleichzeitig nicht in irgendeiner Weise substantiiert werden könne. Badiou identi-

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Ebd., 59 [65]. Deiser: Einführung in die Mengenlehre, 272; ABEE 81 [85]. Das Extensionalitätsaxiom von ZF konstatiert: »Zwei Mengen sind genau dann gleich, wenn sie die gleichen Elemente haben.« Mengen werden durch ihre Elemente bestimmt und nicht durch andere Faktoren. Deshalb gilt für »alle« Mengen, die keine Elemente haben, dass sie die eine leere Mengen sind. Deiser: Einführung in die Mengenlehre, 272; ABEE 82 [86]. ABEE 82f. [86f.] »Sie [die Einzigkeit, P.A.] sagt nur, dass diese Vielheit sich von allen anderen unterscheidet.« Ebd., 81 [86]. Ebd., 72 [76]. Es handelt sich nicht um einen Übertrag der Mengenlehre in die Philosophie, da es ja in diesem Zusammenhang noch um Ontologie geht, die Badiou zufolge Mathematik sei. Der Übertrag geschieht nur von der formalen Sprache der Logik erster Ordnung, der sich das ZF-Axiomensystem bedient, in typisches Französisch bzw. Deutsch. Die Sprache der formalen Logik sowie die mathematischen Formeln dienen lediglich der Präzisierung der Aussagen. Ebd., 70 [74]. Hervorhebung im Original.

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fiziert deshalb das Sein mit der Leere bzw. mit dem Nichts einer Situation.160 »Nichts« oder »Leere« lässt sich auch nicht differenzierter zählen, nur die Vielheit Nichts bzw. die Menge, die die Leere enthält, lasse sich zählen. Das Nichts sei, wie Badiou sagt, weder Eins noch Vieles.161 Badious Entscheidung, dass das Eine bzw. die Eins nicht sei, wird von Badiou umfangreich begründet und kann dementsprechend nicht als beliebig charakterisiert werden. Zwar handelt es sich bei den zehn Axiomen des ZF-Axiomensystems tatsächlich um Entscheidungen, diese zeichnen sich jedoch durch ihre innere Konsistenz aus. Es sind Entscheidungen, die es ermöglichen, konsistente Aussagen über Mengen sowie konsistente Aussagen über Situationen und Vielheiten treffen zu können. Die Entscheidung, dass das Eins nicht sei, erlaubt es Badiou auch, konsistente Aussagen über Unendlichkeiten treffen zu können und den Unendlichkeitsbegriff zu enttheologisieren, um damit den Tod Gottes zu begründen, was ich in Kapitel 2.2.4 in seiner Diskussion mit Hegel darlegen werde. Im folgenden Kapitel werde ich aber zuerst das Verhältnis von Logik und Ontologie vertiefen. Lässt sich Badious Ontologie als transzendentaler Idealismus oder als ontologischer Realismus bezeichnen?

2.2.3 Die Ontologisierung des Unendlichen Ich habe in den letzten beiden Kapiteln Grundzüge von Badious Ontologie im Hinblick auf den Begriff der Eins/des Einen vorgestellt. In den meisten Kommentaren zu Badiou wird in einem zweiten Schritt seine Ereignistheorie analysiert.162 Diese Vorgehensweise in zwei Schritten ist angesichts des Titels sowie des Aufbaus von L’être et l’événement grundsätzlich plausibel: Die erste Hälfte des Buches thematisiert das Sein, die zweite das, »was nicht das Sein-als-Sein ist«163 , nämlich das Ereignis und das Subjekt.164 Ich werde mich jedoch nicht mit Badious Ereignistheorie auseinandersetzen, da ich seine These, dass Gott tot sei, bereits in seiner Ontologie verorte. Im Folgenden gehe ich auf die Meditationen 13–15, die den Übergang vom Sein zum Ereignis markieren, ein. Dort

160 Die Identifikation des Seins mit dem Nichts geschieht auch bei Hegel. Allerdings entwickelt Hegel aus dieser Identifikation den Begriff des Werdens, der eine Dynamik in Gang setzt. Bei Badiou gibt es diese Art von dynamischem Werden nicht. Es sind vielmehr Brüche, die Veränderungen erzeugen. Ich habe auf das Thema von Statik und Dynamik auch in meiner Diskussion von Théorie du sujet in Kapitel 2.1.1 hingewiesen. Dynamik und Veränderung werden bei bzw. in der Literatur zu Badiou in der Regel mit den Begriffen Natur/Geschichte und Bruch/Transformation diskutiert. Vgl. Bosteels: Badiou and Politics, 1–43, hier 5–6; Wright: Badiou in Jamaica, 17–23. 161 ABEE 71 [75]. 162 Vgl. Barker, Jason: Alain Badiou. A Critical Introduction, London 2002, 39–82; Bosteels: Badiou and Politics, 157–173; Feltham: Alain Badiou, 84–135; Hallward: Badiou, 81–180. Baki nimmt in seiner Studie keine so explizite Zweiteilung vor, sondern bindet bereits in seiner Darstellungsweise die Ereignistheorie sehr stark an die ontologischen Kapitel Badious. Die Verknüpfung zwischen beiden ist Bakis mathematische Perspektive. Vgl. Baki: Badiou’s Being and Event. 163 ABEE 193 [199]. In der nachfolgenden Meditation konstatiert Badiou: »Das Ereignis gehört nicht zur Analytik der Vielheit. […] Es ist – weil es nicht ist – überzählig.« Ebd., 199 [205]. 164 Die ersten drei Kapitel (Mediation 1–15) widmet Badiou dem Sein-als-Sein, die folgenden Kapitel 4–8 (Meditation 16–37) dem Ereignis und dem Subjekt. Badiou selbst gliedert sein Buch nicht in zwei Teile, sondern nur in acht Kapitel.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

führt Badiou den Begriff des Unendlichen ein, der zusammen mit dem Axiom »Das Eins ist nicht« das grundlegende Argument für den »Tod Gottes« darstellt. Grundlegende Aussagen in L’être et l’événement werden von Badiou als Axiome formuliert. So handelt es sich bei der Aussage, dass das Eins nicht sei, sowie bei der, dass eine leere Menge existiere, um Axiome. Grundlegende Aussagen als Axiome zu formulieren, impliziert auch, diese von begründenden bzw. gründenden Aussagen (das heißt von letzten Gründen) abzugrenzen – für Badiou gibt es keine letztbegründenden Sätze oder Sachverhalte. Axiome dürfen allerdings nicht beliebig sein, sondern müssen Konsistenz, das heißt Systematik, aufweisen. Im Falle von Badious Ontologie muss das Axiomensystem zusätzlich noch mit dem Sein-als-Sein verknüpft sein, da sie andernfalls keine Relevanz für die Ontologie entfaltete. Die erste Verknüpfung mit dem Sein sei Badiou zufolge über das Axiom der Existenz der leeren Menge gewährleistet. Die leere Menge sei der mathematische Ausdruck für die Leere bzw. das Nichts in einer gegebenen, das heißt präsentierten, Vielheit. Die leere Menge sei Teilmenge einer (jeder) konsistenten Vielheit und werde durch die Operation der »Zählung-als-Eins« als Nichts gezählt, gleichzeitig benenne sie die nicht strukturierte inkonsistente Vielheit. Sie erfülle damit eine doppelte Aufgabe.165 Mit dem ZF-Axiomensystem vertritt Badiou noch eine zweite Existenzaussage. Das zweite Existenzaxiom konstatiert, dass mindestens eine unendliche Menge existiere. In den Worten Badious: »Es existiert eine unendliche Ordinalzahl.«166 Ordinalzahlen sind Ordnungszahlen und repräsentieren – grob formuliert – die Menge einer Wohlordnung. So wird die Gesamtheit einer wohlgeordneten Zahlenreihe, z.B. der natürlichen Zahlen (0, 1, 2, 3, … n) von einer Ordinalzahl repräsentiert. Man könnte auch sagen, dass »eine Ordinalzahl nichts anderes ist als die Menge ihrer Vorgänger«167 . Ordinalzahlen werden gewöhnlich mit dem griechischen Buchstaben ω (und weiteren Indexierungen ω0 , ω1 ) bezeichnet. Ordinalzahlen sind selbst auch wohlgeordnet, sodass ω1 mächtiger ist als ω0 . ω0 repräsentiert gemeinhin die Gesamtheit der natürlichen Zahlen N, das heißt, dass sie, bildlich gesprochen, die erste Grenze nach den natürlichen Zahlen ist. Seit Cantor ermöglichen die Ordinalzahlen in der Mathematik mit unendlichen Mengen zu rechnen und unterschiedlich mächtige Unendlichkeiten voneinander zu unterscheiden. Für Badiou ist nun die Tatsache von Bedeutung, dass eine unendliche Menge nicht aus einer endlichen Menge ableitbar sei. Stattdessen sei eine axiomatische Entscheidung notwendig, die die Existenz von unendlichen Mengen behaupte, wie es in der ZF-Axiomatik geschieht. Da bei Badiou mathematische Aussagen ontologische Aussagen sind, gilt ebenfalls: das Sein ist unendlich oder genauer gesagt, das Sein ist unendlich unendlich. Badiou schreibt:

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Tzuchien Tho formuliert präzise: »The void then, in order to play the role that it does, must occupy two different positions. The void, counted-as-one {∅}, presents inconsistency at the same time as constructing consistency.« Tho, Tzuchien: The Good, the Bad, and the Indeterminate. Hegel and Badiou on the Dialectics of the Infinite, in: Vernon Jim/Calcagno, Antonio (Hg.): Badiou and Hegel. Infinity, Dialectics, Subjectivity, Lanham 2015, 35–57, hier 52. Hervorhebung im Original. 166 ABEE 169 [173]. In der ZF-Fassung heißt es: »Es existiert eine unendliche Menge.« Deiser: Einführung in die Mengenlehre, 300. 167 Deiser: Einführung in die Mengenlehre, 173.

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»Man muss vielmehr davon ausgehen, dass es unendliche, voneinander differenzierbare Vielheiten gibt, und dies bis ins Unendliche. Die Ontologisierung des Unendlichen beseitigt nicht nur das Eins-Unendliche, sondern auch die Einzigkeit des Unendlichen und behauptet den Taumel unendlicher unterscheidbarer Unendlichkeiten, die in ihrem Innern in gemeinsamer Opposition zur Endlichkeit stehen.«168 Die Mengenlehre erlaube es, mithilfe der Ordinalzahlen von vielen – unendlich vielen – Unendlichkeiten auszugehen. Badiou denkt folglich nicht mehr das eine Unendliche als Grenze des Endlichen, sondern er geht von der Vielheit der Unendlichkeiten aus, die selbst nicht als Eines (als eine Vielheit) gefasst wird. Im Bereich der Zahlentheorie ist das (heute) plausibel: die Menge der natürlichen Zahlen, die Menge der rationalen Zahlen und die Menge der reellen Zahlen sind jeweils unendliche Mengen, jedoch mit unterschiedlicher Mächtigkeit. Die natürlichen Zahlen sind eine Teilmenge der rationalen Zahlen, die wiederum eine Teilmenge der reellen Zahlen ist. Badiou geht nun davon aus, dass die unendlichen Unendlichkeiten nicht nur auf mathematische Objekte, wie bestimmte Zahlenmengen, begrenzt werden müssen, sondern grundsätzlich das Seinals-Sein betreffen. Das Sein-als-Sein müsse deshalb nicht mehr als endlich, sondern als unendlich aufgefasst werden. Badiou weist aber immer wieder darauf hin, dass es sich um ein Axiom bzw. um eine ontologische Entscheidung handelt und er räumt ein: »Ohne diese Entscheidung bleibt es immer möglich, dass das Sein wesentlich endlich sei.«169 Die Legitimität dieser Entscheidung misst sich an ihrer Kohärenz in Bezug auf andere Entscheidungen (in Bezug auf das Axiomensystem). Insofern die Existenz einer unendlichen Menge mit der ZF-Axiomatik kompatibel sei (sie ist ja eines der zehn ZF-Axiome), sei ihre Existenz Badiou zufolge auch ontologisch geboten. Die letzte Meditation, die den Übergang von der Analyse des Seins-als-Sein zur Ereignistheorie darstellt, widmet Badiou Hegels Unendlichkeitstheorie aus seiner Wissenschaft der Logik.170 Vor dem Hintergrund von Badious Veröffentlichungen vor L’être et l’événement (1988) ist es auffällig, dass in letzterer Hegel nur in einer von 37 Meditationen ausführlich thematisiert wird, denn die Veröffentlichungen, die Badious »roten Jahren« zugeordnet werden können, sind in einem sehr großen Maße Auseinandersetzungen mit Hegel. Insbesondere erarbeitet Badiou in seinen frühen Studien sein Dialektikverständnis in der Analyse von Hegels Logik, um sich damit von einigen Spielarten marxistischer Theorie distanzieren zu können. Es sei dort eine – dem Anspruch nach – an Hegel geschulte materialistische Dialektik, die in Opposition zu jeglicher Form des Ökonomismus stehe. Das Projekt einer materialistischen Dialektik greift Badiou auch wieder in Logiques des mondes, dem zweiten Teil von L’être et l’événement auf.171

168 ABEE 164f. [167]. Hervorhebung im Original. 169 Ebd., 167 [169]. 170 Ebd., 181–190 [185-195]. Vgl. zum Unendlichkeitsbegriff in der Wissenschaft der Logik Philipsen, Peter-Ulrich: Nichts als Kontexte. Dekonstruktion als schlechte Unendlichkeit? In: Arndt, Andreas/ Iber, Christian (Hg.): Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspektiven, Berlin 2000, 186–201; Unger, Daniel: Schlechte Unendlichkeit. Zu einer Schlüsselfigur und ihrer Kritik in der Philosophie des Deutschen Idealismus, Freiburg/München 2015, 100–128. 171 ABLM 9–17 [17-25]. Ich komme darauf in Kapitel 2.3 zurück.

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Badious knappe Auseinandersetzung mit Hegel dient zwei Aspekten. In Gegenüberstellung zu Hegel kann er einerseits seinen eigenen Unendlichkeitsbegriff schärfen und andererseits möchte er seine Methode der Subtraktion deutlicher konturieren. Im Folgenden werde ich mich vornehmlich auf den ersten Aspekt konzentrieren.172 Badiou analysiert die verschiedenen Unendlichkeitsbegriffe in Hegels Seinslogik: die qualitative Unendlichkeit, die quantitative Unendlichkeit und jeweils die Unterscheidung der sogenannten »schlechten Unendlichkeit« und der »wahren Unendlichkeit«. Es handelt sich also um vier Unendlichkeitsbegriffe bei Hegel. Zunächst entfaltet Hegel jeweils die schlechte, um dieser anschließend die wahre Unendlichkeit entgegenzusetzen. Badiou ist darauf aus, nachzuweisen, dass Hegels Unterscheidung in eine qualitative und eine quantitative Unendlichkeit nicht haltbar sei und weiter, dass auch die jeweils »wahren« Unendlichkeiten fragwürdig seien. Das grundsätzliche Problem Hegels bestehe darin, dass er die Unendlichkeit jeweils aus dem Begriff des Einen herleite. Genauer gesagt: Die These Hegels ist, dass die Kategorien (die Logik) Strukturen des Seins seien, das heißt, dass die Denkbestimmungen gleichermaßen auch Seinsbestimmungen seien. »Die ontologische Sackgasse, die Hegel eigen ist, besteht letztlich in der Behauptung, dass es ein Sein des Eins gibt, oder genauer, dass die Präsentation die Struktur erzeugt bzw. dass die reine Vielheit in sich selbst die Zählung-als-Eins innehat.«173 Die Zählung-als-Eins, die Badiou als grundsätzlich nachträgliche (hinsichtlich der reinen, inkonsistenten Vielheit) Operation charakterisiert174 , ist bei Hegel dem Sein eingeschrieben und deshalb muss das Sein, dass sich als Eines präsentiert, auch Eines sein. Das grundsätzliche »Es gibt« sei bei Hegel identisch mit »Es gibt eins«.175 Doch wie verhält sich das Unendliche zum Einen bei Hegel? Badiou betrachtet Hegels Entfaltung des Etwas. Ein Etwas ist, Hegel zufolge, nicht nur durch alles das bestimmt, was es nicht ist, sondern in den Worten Badious: »Hegel behauptet, dass ein ›Etwas‹ das Kennzeichen

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Die Methode Badious in L’être et l’événement verdient eine ausführlichere Auseinandersetzung. Damit sind mehrere Aspekte verknüpft: a) die Entscheidung, dass Mathematik Ontologie sei, b) das Verhältnis von Ontologie und Logik, c) die Axiomatik im Unterschied zur Dialektik, d) die Unterscheidung von Subtraktion und Abstraktion. Im folgenden Kapitel werde ich mich den Grundzügen des Verhältnisses von Ontologie und Logik widmen, da dieses unmittelbar den Status von Badious Aussagen, insbesondere der Aussage »Das Eins ist nicht« und ihrer Schlussfolgerung »Gott ist tot«, betrifft. Eine systematische Studie über Badious Methode steht meines Erachtens noch aus. Einige Aspekte werden aber analysiert in Baki: Badiou’s Being and Event; Livingston: The Politics of Logic; Tho: The Good, the Bad, and the Indeterminate. ABEE 181 [185]. Hervorhebung im Original. Walter Jaeschke schreibt (Nicolai Hartmann zitierend): »Kategorien sind ›die inneren Prinzipien, und zwar sowohl […] des Seienden als auch […] der Erkenntnis des Seienden.‹ Und als solche Prinzipien fungieren sie als ›Gerüst‹, wie Hegel und Hartmann wiederum übereinstimmend formulieren. Alles Seiende ist nicht einfach, regellos und formlos, sondern es ist gemäß diesen Prinzipien gestaltet.« Jaeschke: Hegels Philosophie, 106–118, hier 109. Hervorhebung im Original. In Abgrenzung zu Hegel wird auch Badious These, dass die Ontologie selbst eine Situation sei, anschaulicher. Ontologie als strukturgebender Diskurs ist nicht mit dem Sein kongruent. Es gibt bei Badiou eine Differenz von ontologischen Kategorien und dem Sein, damit aber auch eine deutliche Differenz von Sein und Seiendem. Ebd., 182 [186].

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seiner Identität innehaben muss.«176 Ein Etwas beinhalte etwas, das es nicht ist.177 Das Andere, durch das ein Etwas bestimmt werde, sei bereits in das Etwas gelegt. Auf diese Weise überschreite das eine Etwas bzw. das Eins bereits das, was es nicht ist. In diesem Überschreiten setzt Hegel das Unendliche an. Das Unendliche ist das immer wieder Überschreiten seines endlichen Eins-Seins. »Der tiefe Grund dieser Bewegung ist, dass das Eins, wenn es das Sein in sich selbst kennzeichnet, überschritten wird vom Sein, das dieses kennzeichnet.«178 Das konkrete Sein, das Etwas, erzeuge immer wieder diese Bewegung, die Hegel unendlich nennt. Doch für diese Bewegung bedarf es eines Anderen. Dieses Hin- und Herbewegen vom Etwas zum Anderen (in sich) sei unendlich, jedoch »schlecht unendlich«, wie Hegel sagt, da es sich nur durch die Abgrenzung zu seiner endlichen Begrenztheit definiere. Endlichkeit und Unendlichkeit stünden sich gegenüber. Das wahre Unendliche hingegen dürfe sich nicht durch das Endliche bestimmen, sondern es müsse das Endliche und das Schlecht-Unendliche umfassen. »Im wahren Unendlichen ist das Sein ›für sich‹, es hat sein anderes ›entleert‹.«179 Diese Unendlichkeit bestehe nun im sich wiederholenden Selbstverhältnis, in der »Beziehung-zu-sich«180 , in der reinen Immanenz, ohne das transzendente Andere. Doch Badiou fragt an, warum dieses Selbstverhältnis überhaupt unendlich genannt werde. Zwar akzeptiere er eine differenzierende Qualität im Etwas, jedoch müsse eher von einer Wiederholung, sogar von einer leeren Wiederholung gesprochen werden, denn von Unendlichkeit. Badious zweite Thematisierung des Unendlichen in der Seinslogik geschieht hinsichtlich der Quantität, da die Quantität sich anders verhält als die Qualität. Nun gibt es keinen qualitativen Unterschied zwischen einem Etwas und einem Anderen, sondern beide werden unter der Perspektive ihrer quantitativen, das heißt numerischen, Gleichheit betrachtet. Das Etwas und das Andere sind jeweils eins. Präziser: es gibt kein Anderes, sondern nur eins (da es sich andernfalls um gleiche Einsen handle). Badiou nennt dieses quantitative Etwas auch treffend »das anonyme Eins«181 . Die Unendlichkeit der anonymen Eins bestehe nicht in ihrem Selbstverhältnis, sondern in ihrer Vermehrung. »Die Quantität ist unendlich gemäß einer Dialektik der Vermehrung, in der das Gleiche der Eins folgt.«182 Man denke eine Zahl (Eins) immer plus Eins. Die quantitative Unendlichkeit werde deshalb auch mathematische Unendlichkeit genannt. Doch auch diese quantitative Vermehrung ist für Hegel eine schlechte Unendlichkeit, da sie nur jeweils aufs Neue die Negation der endlichen Zahl bzw. der endlichen anonymen Eins darstellt. Jede größte Zahl ist jeweils wiederum nur eine endliche Zahl. Die wahre quantitative Unendlichkeit bestehe hingegen nicht in ihrer Vermehrung, sondern in ihrem quantitativ-sein und damit in der Tatsache ihrer (möglichen) Vermehrung. Hegel kennzeichne somit das Unendliche der Quantität durch ihre Qualität (die Bestimmung quantitativ zu

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Ebd., 182 [186]. Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik I (Werke 5), 142f. ABEE 183 [187]. Hervorhebung im Original. Ebd., 187 [192]. Ebd., 186 [190]. Ebd., 188 [192]. Ebd., 188 [193]. Hervorhebung im Original.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

sein), wie Badiou hervorhebt. Hegel kannte jedoch noch nicht die Möglichkeiten, das mathematische Unendliche auch anders als jeweils in seiner aktualen Form verendlicht zu denken. Diese Möglichkeiten sind erst im Laufe des 19. Jahrhunderts unter anderem mit Cantors Mengenlehre aufgekommen.183 Entscheidend für Badiou ist, dass auch das aktual Unendliche gedacht, sogar bestimmt und berechenbar gemacht werden kann, ohne es als vollständig oder vollendet denken zu müssen. Das aktual Unendliche bleibt unvollständig. Tzuchien Tho arbeitet den Unterschied von Badiou und Hegel hinsichtlich des mathematisch Unendlichen treffend heraus: »For Hegel, the mathematical infinite is bad precisely because its abstract determination is only due to its mere negation of the finite. It is hence conceptually limited as a mere abstract negation and any attempt to determine such an abstract determination results in an insufficiency. Badiou’s alternative is to treat the infinite as an ›incomplete‹ albeit concretely determined. This determination relies on the criterion of structure rather than that of unity. As such, the determination of the infinite can be made even if it fails to constitute a unity.«184 Entsprechend Badious Aussage, dass es keine Eins (außer als gezählte) gebe, könne auch das Unendliche niemals als vollständig konzipiert werden. Der Begriff des Unendlichen gehört zu den charakterisierenden der Philosophie des Deutschen Idealismus. Hegel bezeichnet die »wahrhafte Unendlichkeit« sogar als den »Grundbegriff der Philosophie«185 , sie kennzeichne den Idealismus. Fällt Badiou, wenn er den Begriff des Unendlichen in sein eigenes Theoriegebäude aufnimmt, ihm sogar zentrale Bedeutung zuspricht, wieder hinter seinen materialistischen Anspruch in eine idealistische Philosophie zurück? Meines Erachtens dient Badious Meditation zu Hegels Unendlichkeitsbegriff genau dazu, diese Frage zu klären, oder vielmehr sich vor einem solchen Vorwurf zu schützen. Hegels Unendlichkeitsbegriffe mangeln daran, dass das Andere nicht als Anderes gedacht werden kann. Das gilt eindeutig für die qualitative Unendlichkeit, in der das Andere internalisiert und damit entleert wird, und indirekt für die quantitative Unendlichkeit, die das aktual Unendliche nur als abgeschlossen und damit als endlich denken kann.186

»What is clear however is that this new epoch of modern mathematics replaced the infinite qua indefinite with the notion of the transfinite.« Tho: The Good, the Bad, and the Indeterminate, 46. Hervorhebung im Original. 184 Tho: The Good, the Bad, and the Indeterminate, 42. Hervorhebung im Original. 185 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I (Werke 8), 203 (§95). 186 Frank Ruda nennt Badious Vorgehen einen »Idealismus ohne Idealismus«. Mir scheint auf diese Weise jedoch Badious materialistischer Anspruch (entgegen Rudas Intention und sehr guter Analyse) unterminiert zu werden. Badiou rettet mit seinem Unendlichkeitsbegriff keinen Idealismus (vor dem Idealismus), sondern richtet diesen Begriff materialistisch aus. Ruda: For Badiou, hier 144–147. 183

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2.2.4 Erkenntnistheoretische Überlegungen: Die Unterscheidung von Ontologie und Logik Badiou vertritt, wie gezeigt, gegen Hegel einen Unendlichkeitsbegriff, der sich nicht ›bloß‹ qualitativ in Form einer Selbstbeziehung, sondern quantitativ als unendliche Menge auszeichnet. Sie ist auch nicht als potenziell unendliche, sondern als aktual unendliche Menge konzipiert, von der wiederum unendlich viele, statt nur eine einzelne, existieren. Aus der Perspektive der ›Alltagserfahrung‹ könnte man dazu sagen: Warum nicht? In der Mathematik könne man viele schöne Konstrukte erzeugen, doch wirklich, im Sinne von existent, sei das nicht. Und ergänzend: Es gebe die wirkliche Welt und dann könne es auch noch die »Welt« des Denkens (der Mathematikerin oder der Philosophin) geben. Badiou nennt eine solche Position eine ästhetische, die er auf Aristoteles zurückführt: »Die Mathematik [bei Aristoteles, P.A.] ist also letztendlich eine strenge Ästhetik. Sie sagt uns nichts über das wirkliche Sein, sondern sie fingiert sich ausgehend von sich selbst eine intelligible Konsistenz, in der die Regel explizit ist.«187 Die Mathematik sei in diesem Konzept, so Badious Darstellung, ein selbstreferenzieller Diskurs, der hinsichtlich der Wirklichkeit keine adäquaten Aussagen machen könne, sondern sich an der »Norm«188 des Schönen (im Denken) ausrichte. Gegen eine solche Position, die er auch »Aristotelismus«189 oder »aristotelische Orientierung«190 nennt, wendet sich Badiou jedoch vehement. Eine aristotelische Orientierung erlaube nicht Badious These »Mathematik = Ontologie« und würde damit das ganze Unternehmen von L’être et l’événement untergraben. Badious Ausführungen über das Sein, die Leere, das Nichts, die inkonsistente und konsistente Vielheit usw. wären lediglich ein ästhetisches Konzept, das nichts weiter als den Anspruch einer Analogie aufweisen könnte. Gleiches gilt auch für Badious Entscheidung, dass das Eins nicht sei und seiner Folgerung, dass Gott deshalb tot sein müsse. Beides wären ästhetische oder rhetorische, jedoch keine ontologischen Aussagen. Doch, wenn Badiou keine aristotelische Position vertritt, die die Mathematik und die Wirklichkeit voneinander trennt, wie ist dann seine Position von L’être et l’événement zu verstehen? Welcher Status kommt Badious mathematischen Aussagen in diesem Werk zu und wie verhält sich die Mathematik zu der Sprache, »die sie spricht«, der formalen Logik? Badiou hat 1998, zehn Jahre nach L’être et l’événement, Court traité d’Ontologie transitoire191 veröffentlicht, das 2002 in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Gott ist tot. Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs192 erschienen ist. Court traité d’Ontologie transitoire bietet einige Pointierungen und Klärungen hinsichtlich der Verwendung der Mathematik in L’être et l’événement. Um sein Mathematikverständnis zu klären, stellt Badiou 187 188 189 190 191 192

ABCT 43 [41]. Ebd., 42 [40]. Ebd., 45 [43]. Ebd., 111–118 [113-120]. Ebd. Badiou: Gott ist tot. Im Englischen ist das Buch vollständig 2006 als Briefings on Existence: A Short Treatise on Transitory Ontology und in Auszügen 2004 im Band Badiou, Alain: Theoretical Writings, herausgegeben von Ray Brassier und Alberto Toscano veröffentlicht worden. In der englischsprachigen Sekundärliteratur zu Badiou ist Theoretical Writings stark verbreitet.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

drei sogenannte Denkorientierungen vor, von denen er zwei ablehnt und eine für sich beansprucht. Alle drei Denkorientierungen unterschieden sich in ihrem Mathematikverständnis bzw. darin, was sie als existierend akzeptierten. Es handle sich 1. um die konstruktivistische Orientierung, 2. die transzendente Orientierung und 3. die generische Orientierung. Alle drei Orientierungen werden auch bereits in L’être et l’événement diskutiert193 , aber erst in Court traité d’Ontologie transitoire stellt Badiou sie systematisch gegenüber.194 Badiou definiert die konstruktivistische Orientierung folgendermaßen: »Die erste [die konstruktivistische Orientierung, P.A.] normiert die Existenz durch explizite Konstruktionen und ordnet letztendlich das Existenzurteil unter die endlichen und kontrollierbaren sprachlichen Protokolle. Sagen wir, dass sich jede Existenz durch einen Algorithmus vertreten lässt, der es erlaubt, wirklich einen Fall, um den es geht, zu erreichen.«195 Für die Ontologie und dementsprechend auch für die Mathematik ist es entscheidend, zu klären, was existiert und was nicht. Diese Frage betrifft in erster Linie nicht die unmittelbaren Alltagsgegenstände, sondern eher die »Grenzbereiche« der Wahrnehmung und Erkenntnis. So steht außer Frage, ob das Buch, der Computer, der Stift und der Schreibtisch, auf dem sich diese Gegenstände befinden, in dem Moment, in dem ich diesen Text schreibe, existieren (man darf davon ausgehen, dass sie existieren). Anders verhält es sich mit mathematischen Gegenständen. Die konstruktivistische Orientierung grenzt das, was existiert, auf das ein, was sprachlich kontrolliert werden kann. Gemeint ist, dass die Existenz von Gegenständen an die Bedingungen der formalen Logik geknüpft ist.196 Widersprüchliche Mengen können dementsprechend nicht als existierend angenommen werden. Die Existenz einer Menge ist, dem Aussonderungsschema der ZF-Axiomatik entsprechend, an die Existenz einer bereits bestehenden (gültigen) Menge gebunden.197 Badious eigene Position ist der konstruktivistischen in dieser Hinsicht sehr nahe, wie ich bereits gezeigt habe. Die transzendente Orientierung, die von Badiou auch onto-theologische Orientierung genannt wird, definiert er wie folgt: »Die zweite, die transzendente [Orientierung, P.A.], normiert die Existenz durch die Annahme dessen, das man eine Überexistenz nennen kann, oder einen hierarchischen Schlusspunkt, der diesseits des Universums all das, was existiert, ordnet. Sagen wir, dass sich dieses Mal jede Existenz in eine Totalität einschreibt, die ihr einen Platz zuweist.«198 193

Die konstruktivistische Orientierung diskutiert Badiou in ABEE 317–326 [323-329], die transzendente in ebd. 31–59 [37-66] und die generische in ebd., 361–377 [369-386]. 194 Livingston hat diese drei Unterscheidungen Badious auch in seiner Studie zu den impliziten Politiken unterschiedlicher Logiken zur Grundlage genommen und sie noch um eine vierte, die »paradox-kritische« (»paradoxico-critical«), erweitert. Livingston: The Politics of Logic, 58. 195 ABCT 52. 196 Dazu Livingston: »This is the orientation that relates to the totality of what is sayable about Being by means of an explicit tracing of the structure and boundaries of language; Badiou terms it ›constructivist‹.« Livingston: The Politics of Logic, 54. 197 Vgl. Kapitel 2.2.2. 198 ABCT 52 [51].

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Hier ist die Existenz von Gegenständen diesen nicht immanent, wie in der konstruktivistischen Orientierung, sondern durch eine angenommene Totalität geregelt. Livingstons Verweis199 auf Heideggers Aufsatz Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik zur Klärung der transzendenten Orientierung ist hilfreich. Heidegger unterscheidet dort die Ontologie und die Theologie von anderen Wissenschaften durch ihren jeweiligen Blick auf ein Ganzes: »Die -Logia ist jeweils das Ganze eines Begründungszusammenhanges, worin die Gegenstände der Wissenschaften im Hinblick auf ihren Grund vorgestellt, d.h. begriffen werden. Die Ontologie aber und die Theologie sind ›Logien‹, insofern sie das Seiende als solches ergründen und im Ganzen begründen.«200 Badious Darstellung der transzendenten Orientierung entspricht im Wesentlichen der heideggerischen Auffassung der onto-theo-logischen Metaphysik. Das, was existiert (das Seiende), werde von einem Ganzen her bestimmt und von diesem Ganzen erfahre es auch seine Legitimität. Umgekehrt bedeute das, dass das, was sich nicht in dieses Ganze einfügen lasse, auch keine Existenz beanspruchen könne.201 In Badious Terminologie ist das Ganze oder die Totalität die Eins, deren Existenz allerdings ausgeschlossen werden müsse. Die dritte Denkorientierung, die Badiou nennt, und die auch seine eigene ist, nennt er die »generische Orientierung«: »Die dritte [generische Orientierung, P.A.] vertritt, dass nicht die Existenz, sondern die diskursive Konsistenz normiert ist. Sie bevorzugt die undefinierten Zonen, die Vielheiten, die von jeder prädikativen Sammlung subtrahiert sind, die Überschusspunkte und die subtraktiven Schenkungen. Sagen wir, dass jede Existenz in einem Umherirren, das eine Diagonale zu den Einrichtungen zieht, von denen vorausgesetzt wird, das diese sie – die Existenz – überraschen, erfasst wird.«202 Badious Definition der generischen Orientierung ist schwer im Detail zu interpretieren, nicht zuletzt, da er sich metaphorischer bzw. lyrischer Sprache bedient: »subtraktive Schenkungen«, das »Umherirren« der Existenz, Einrichtungen, die »überraschen«. Entscheidend ist aber, dass Badiou, das, was normiert im Vergleich zur konstruktivistischen Orientierung verschiebt. Es ist nicht mehr die Sprache bzw. die formale Logik, die über die Existenz von Gegenständen entscheidet (die sie normiert), sondern die formale Logik selbst, die begrenzt wird.203 An anderer Stelle in Court traité d’Ontologie transitoire

199 Livingston: The Politics of Logic, 54, Anm. 132. 200 Heidegger, Martin: Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik, in: Ders.: Gesamtausgabe, Band 11, Identität und Differenz, Frankfurt a.M. 2006, 51–79, hier 66. 201 Dazu Livingston: »What Badiou terms the transcendent orientation, thus, sets up the totality of beings by reference to a privileged being, a ›super-existence‹ that assures the place of everything else, while at the same time obscuring its own moment of institution or the grounds of its own authority.« Livingston: The Politics of Logic, 54. 202 ABCT 53 [51]. 203 »Die Logik war von Aristoteles bis zu Hegel die philosophische Kategorie, mit der die Ontologie auf die Sprache Einfluss nahm. Die Mathematisierung der Logik ermöglichte es hingegen, dass

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

bezeichnet Badiou diesen Schritt als eine Trennung von Logik und Mathematik.204 Das heißt, auch wenn sich die Mathematik der formalen Logik bediene, um die Konsistenz ihrer Aussagen zu gewährleisten, sei die formale Logik nicht die Grammatik der Mathematik, die entscheide, was möglich bzw. was wirklich sei oder nicht. »[M]athematisch und nicht bloß logisch wird eine formalisierte Theorie sein, die existenzielle Axiome zulässt, die nicht auf universale Axiome reduzierbar sind; die also über eine Existenz entscheidet und ihre Konsistenz nur um diese Entscheidung herum bildet. So wäre also die Mengenlehre selbst mathematisch, insofern sie axiomatisch über die Existenz einer leeren Menge und die Existenz wenigstens einer unendlichen Menge entscheidet.«205 Badiou zufolge sind es die Existenzaxiome der leeren und mindestens einer unendlichen Menge, die den Unterschied von Mathematik und Logik kennzeichneten. Dies gelte auch für den Unterschied zwischen der generischen und der konstruktivistischen Orientierung. In der konstruktivistischen Orientierung werde letztlich keine Entscheidung über eine ›erste‹ Existenz getroffen. Doch muss Badiou selbst einräumen, dass ihm die Trennung von Mathematik und formaler Logik in L’être et l’événement noch nicht geglückt sei, da er letztendlich immer die eine formale Logik voraussetzte, in der sich die Mathematik ausgedrückt habe.206 Erst in Logiques des mondes sei es ihm gelungen, mehrere Logiken anzunehmen, die nur lokal gelten. Jede Situation, die in Logiques des mondes Welt heißt, impliziere ihre eigene Logik. Auf diese Weise könne nun tatsächlich die Mathematik als den Logiken übergeordnet betrachtet werden.207 Die Unterscheidung der drei Orientierungen im Denken208 , die Badiou vorgenommen hat, dienen dazu, seine Auffassung des Verhältnisses von Sprache, Logik und Mathematik zu klären. Ontologische Aussagen sollten Badiou zufolge nicht von den Gesetzen der formalen Sprache abhängig sein, sondern umgekehrt solle sich die formale Sprache bzw. die Logik an den Möglichkeiten der Mathematik orientieren. Das betreffe insbesondere die Rolle der Entscheidung in der Mathematik. Die Ausführung dieses Unternehmens gelingt Badiou allerdings erst in Logiques des mondes, auf das ich in Kapitel 2.3 eingehen werde.

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es, wenn ich so sagen darf, die Sprache ist, die die Philosophie ergriff. Und der Preis dafür ist die Absetzung aller Ontologie gewesen […].« Ebd., 123 [125]. Ebd., 129–138 [131-142], hier 129 [131]. Ebd. 126f. [128f.]. »Denn die Logik, die als formale Sprache über diese Ontologie verfügt, führt wieder die sprachliche Vorschrift ein, ohne dass die ontologische Entscheidung einfach hinter diese Vorschrift zurückkehren könnte.« ABCT 127 [129]. In L’Immanence des vérités scheint die Pluralisierung der Logiken allerdings wieder durch das Konzept des »Ortes des Absoluten« kassiert worden zu sein, vgl. 2.4. Livingston ergänzt die drei Positionen um eine vierte, die paradoxico-critical Orientierung, die auf Graham Priest zurückgeht. »Any position that, recognizing reflexivity and its paradoxes, nevertheless draws out the consequences of the being of the totality, and sees the effects of these paradoxes always as operative within the One of this totality.« Livingston: The Politics of Logic, 58. Andere wie Guido Kreis oder Nico Strobach diskutieren diese Position als »parakonsistente Logik«, vgl. Kreis: Negative Dialektik; Strobach, Nico: Einführung in die Logik, Darmstadt 3 2013, 153–155.

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2.2.5 Elemente einer materialistischen Dialektik Badiou betreibt in L’être et l’événement keine Dialektik, weder eine idealistische noch eine materialistische. Stattdessen entwickelt er eine axiomatische Ontologie und eine Philosophie, die auf Grundlage dieser axiomatischen Ontologie Aussagen, über das, was nicht das Sein ist, formuliert. Das, was in L’être et l’événement nicht das Sein ist, nennt Badiou ein Ereignis.209 Aufgrund der Tatsache, dass Badiou keine Dialektik (weiter) entwickelt, kann auch keine von Badiou intendierte Dialektik aus L’être et l’événement herausgearbeitet werden. Vor dem Hintergrund seines Gesamtwerks, in dem vor und nach 1988 der Entwurf eines Dialektikkonzeptes Badious zentrales Anliegen ist, lässt sich jedoch wenigstens von Elementen einer materialistischen Dialektik auch in L’être et l’événement sprechen. Die entscheidende Frage ist meines Erachtens, in welchem Verhältnis axiomatische Ontologie und materialistische Dialektik zueinanderstehen. Inwiefern sagt Badious Ontologie nicht nur etwas über das Sein, sondern auch über das Seiende aus? Oder mit Livingston gefragt: »The question for this kind of philosophy is then how formalism (whether ›mathematical‹ or ›linguistic‹) enters a human life, and hence what it means to reflect on the formalisms we (also) live by.«210 Badiou weist zwar direkt in der Einleitung zu L’être et l’événement darauf hin, dass Ontologie die Wissenschaft vom Sein-als-Sein sei und er der heideggerischen Unterscheidung von Sein und Seiendem folge, gleichzeitig ist seine ganze Ontologie von politischen (und anderen) Bezügen sowie politischen Kategorien durchzogen. Vor allem ist es der Begriff des Staates (État), der explizit im Sinne der Ontologie als Metastruktur bzw. als Potenzmenge sowie im Sinne des Politischen als Staat verwendet wird.211 Badiou weist ebenso in der Einleitung darauf hin, dass die Kategorien, die er entwickelt, den Bedingungen der Philosophie zur Verfügung stehen sollen.212 Livingston kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei Badious Ontologie um einen »ontological atomism« handle: »Badiou’s project, as articulated in Being and Event and further developed in Logics of Worlds, is axiomatically committed on a deep level to the possibility of decomposing any world into simple, individual elements, which must also be the ultimate points of the application of any nominative language to objects in the world.«213

209 Badious Ereignistheorie ist nicht Gegenstand dieser Studie. Ausführliche und sehr gelungene Darstellungen von Badious Ereignistheorie finden sich in Baki: Badiou’s Being and Event; Barker: Alain Badiou. A Critical Introduction; Bosteels: Badiou and Politics; Feltham: Alain Badiou; Hallward: Badiou. A Subject to Truth; Wright: Badiou in Jamaica. Die berühmtesten Darstellungen von Badious Ereignistheorie dürften von Žižek stammen, besonders in Žižek: Die Tücke des Subjekts. Žižek entwickelt allerdings eher eine eigene Ereignistheorie auf Grundlage von Badiou, denn eine Darstellung von Badious Ereignistheorie. Der grundsätzliche Unterschied besteht im Verhältnis von Wahrheit und Ereignis, die bei Badiou aufeinander folgende Kategorien sind, bei Žižek hingegen tendenziell zusammenfallen. 210 Livingston: The Politics of Logic, 239. Hervorhebung im Original. 211 Vgl. die Meditationen 7–10 in ABEE 95–137 [101-140]. 212 »Elles [les catégories que ce livre dispose, P.A.] sont donc disponibles pour le service aussi bien des procédures de la science, que de l’analyse ou de la politique.« Ebd., 10 [18]. 213 Livingston: The Politics of Logic, 254. Hervorhebung im Original.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Jegliche Situation bzw. Welt lasse sich Badiou zufolge in einzelne Elemente, in »Atome«, zerteilen. Das einfachste Element wäre dann die leere Menge – der Name das Seins –, aus der sich mengentheoretisch jede Situation konstruieren lasse. In Logiques des mondes formuliert Badiou diese Weltkonstruktion sogar als »ontologische Rangfolge«214 hinsichtlich des Komplexitätsgrads der zusammengesetzten Mengen. Livingston spricht richtigerweise von einer »ontologischen Hierarchie«, die Badiou über die Mengenlehre einführe. »This is the assumption of a rigid and inflexible ›logical‹ order of existence that dictates possibilities of the combination of simple objects, and so imposes an ›intrinsic‹ ordering of complexity on whatever exists.«215 Livingston weist darauf hin, dass die ontologische Hierarchie, die durch die Art und Weise wie Mengen konstruiert werden und die in Badious Ontologie impliziert sei, letztendlich kaum von der formal-logischen »Vorschrift« zu unterscheiden sei. Doch was folgt daraus im Hinblick auf eine materialistische Theorie? In Théorie du sujet formulierte Badiou den Ausspruch Maos »Eins teilt sich in zwei« als seinen dialektischen Grundsatz. Dialektik sei nicht die Vermittlung von Widersprüchen, sondern die Bewegung der Spaltung/Teilung. Obgleich Badiou dem klassisch-marxistischen Konzept der Vermittlung von Widersprüchen nicht zustimmte, ermöglichte die Spaltung/Teilung wenigstens die Annahme einer inkonsistenten und das heißt widersprüchlichen Wirklichkeit. Anders ausgedrückt: Badiou bedurfte in Théorie du sujet keines konsistenten Zusammenhangs, was ihn hinsichtlich seines Materialismusverständnisses weiterhin in deutlicher Nähe zu klassisch-marxistischen Positionen verortete. Anders verhält es sich in L’être et l’événement. Zwar trifft Badiou, wie auch in Théorie du sujet, die begründete Entscheidung, dass eine Totalität (die Eins) nicht sei. Diese Entscheidung ist aber nun auf die Konsistenz der Mengenlehre angewiesen. Wie lassen sich Widersprüche oder Gegensätze mit einer axiomatischen Ontologie darstellen oder gar erklären?216 Die einzigen ›Reibungen‹, die mittels dieser Ontologie benannt werden können, sind die zwischen unterschiedlichen Zählweisen. Das heißt, je nach Struktur werden unterschiedliche Elemente oder Teilmengen gezählt. Dies könne Badiou zufolge dazu führen, dass manche Elemente zwar in der einen Struktur gegeben (und gezählt), in der anderen höherstufigen jedoch nicht mehr gezählt werden. Badious bekanntes Beispiel ist das einer »illegalen« Familie innerhalb eines Staates, z.B. Frankreichs.217 Diese Familie existiere, werde aber vom Staat nicht gezählt oder in Badious Terminologie: Die Familie ist präsentiert, aber nicht repräsentiert. Für Badiou steht dieses Beispiel einerseits für den Nachweis unterschiedlicher Zählweisen, aber auch dafür, dass immer mehr existiere, als

214 ABLM 122 [132]. 215 Livingston: The Politics of Logic, 255. Livingstons Hinweis, dass Badious Position hinsichtlich des ontologischen Atomismus der konstruktivistischen Orientierung sehr nahekommt, sei hier nur am Rande bemerkt. Ich habe diesen Aspekt bereits im vorherigen Kapitel mit Verweis auf Livingston thematisiert. 216 Badiou diskutierte in Théorie de la contradiction (1975) noch die Widerspruchstheorien von Mao und Lenin. Und auch bei Althusser findet sich eine entwickelte Theorie von Widersprüchen bzw. eine Theorie der komplex strukturierten Totalität. Althusser. Pour Marx, 198–205 [243-253]. 217 ABEE 194f. [200]. Die Differenzierungen des Beispiels führen hinsichtlich meiner Argumentation zu weit und können deshalb außen vor gelassen werden.

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gezählt werde. Auch an dieser Stelle kritisiert Livingston mit Recht Badiou, wenn er darauf hinweist, dass dies eine (im besten Falle) Simplifizierung eines Staates sei. Selbstverständlich zähle ein Staat Illegale« und, was entscheidender ist, kein »realer« Staat beanspruche mit seinen Zählweisen ontologischen Status. Ob ein Individuum vom Staat gezählt wird oder nicht, ist keine Existenzaussage, sondern schlicht eine – weitreichende – Geste, die die Existenz eines Individuums beeinflusst. Die Anwendungsmöglichkeiten von Badious Kategorien auf gesellschaftliche Zusammenhänge sind dementsprechend mit großer Vorsicht zu betrachten. Entsprechende Schwierigkeiten treten bei dem Begriff der Unendlichkeit auf. Seine Kritik am hegelschen, das heißt idealistischen, Unendlichkeitsbegriff mag gerechtfertigt sein. Doch wie verhindert Badiou, dass die Vorstellung von unendlichen Unendlichkeiten, die dem Endlichen zu Grunde liegen, nicht bloß idealistische oder mystifizierende Suggestion ist? Badiou müsste dazu den Übertrag des Existenzaxioms einer Menge (und zwar einer unendlichen Menge) in die Welt der Erscheinungen, das heißt, in die intelligible Welt und konkreter: in gesellschaftliche Verhältnisse, leisten. Anfragen dieser Art versucht Badiou in Logiques des mondes, dem zweiten Teil von L’être et l’événement, zu begegnen.

2.3 »Die Inexistenz des Ganzen« – Logiques des mondes (2006) Fast zwei Jahrzehnte nach seinem umfangreichen systematischen Werk L’être et l’événement veröffentlichte Badiou 2006 den zweiten Teil dieser Arbeit unter dem Titel Logiques des mondes. Wie der Titel schon andeutet, vollzieht Badiou vom ersten zum zweiten Teil eine inhaltliche und vor allem eine methodische Verschiebung. Es geht ihm nicht mehr um den Entwurf einer Ontologie, als Wissenschaft vom Sein-als-Sein und einer Philosophie, die das, was nicht das Sein ist (nämlich das Ereignis und das Subjekt), bezeichnet. Stattdessen widmet er sich der Darlegung einer Logik bzw. von Logiken im Plural. In der Einleitung zum Kapitel Große Logik I, das Transzendental formuliert Badiou diesen Unterschied: »War mein früheres Buch an der Ontologie ausgerichtet, so hat mein gegenwärtiges Unternehmen im Zeichen des Transzendentals die Entwicklung der Logik zum Ziel. Zuvor hatte ich die Situationen (die Welten) mit ihrer strikten Vielheits-Neutralität identifiziert. Jetzt betrachte ich sie auch als Stätten des Daseins der Seienden.«218 Statt einer Ontologie entwickelt Badiou nun das, was er eine Logik und ein Transzendental nennt. Sein Fokus verschiebt sich von der Analyse der Situationen zu der des Daseins. Eine Situation war in L’être et l’événement die Bezeichnung für eine strukturierte Vielheit, die aus der Inkonsistenz des Seins eine Konsistenz ›formte‹. Doch auch die konsistente, strukturierte Vielheit war noch nicht das konkrete Dasein, das erscheint. In Logiques des mondes widmet sich Badiou diesem Dasein, das heißt dem, was erscheint: den Welten. Er greift damit einige Probleme auf, die in L’être et l’événement aufgekommen waren:

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ABLM 109 [119].

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Wie verhält sich das inkonsistente (unstrukturierte) sowie das konsistente (strukturierte) Sein zum konkreten Seienden? Wer oder was strukturiert eine Situation? Mit der neuen Ausrichtung des Buches verändert sich auch die Darstellungsweise und die Methode. Die stark formalisierte und axiomatisierte Sprache mit ihren mathematischen Ausführungen tritt in den Hintergrund. Die vornehmliche Methode ist nun das, was Badiou eine objektive oder auch kalkulierte Phänomenologie nennt,219 mit der zahlreiche Beschreibungen von Situationen vorgenommen werden. Diese neue Perspektive verändert auch den Blick auf das, was bislang »Situation« hieß. Unter der Perspektive der Analyse des Daseins nennt Badiou eine Situation nun »Welt«. Eine inhaltliche Kontinuität des zweiten Teils zum ersten bleibt in der zentralen Bedeutung der Aussage, dass eine/die Totalität nicht sei, bestehen. Jetzt wird diese Aussage jedoch nicht mehr ontologisch, sondern logisch, hinsichtlich konkreter Welten, behandelt. Der Plural des Weltbegriffs deutet bereits darauf hin, dass Badiou in Übereinstimmung mit seiner Ontologie auch nicht die Welt als eine, denkt. Stattdessen geht er von der unendlichen Vielzahl der Welten aus. Eine weitere Kontinuität zu L’être et l’événement ist das Thema der Unendlichkeit. Ich werde in den folgenden Kapiteln klären, was Badiou unter der Pluralität der Welten einerseits und unter dem Unendlichkeitsbegriff andererseits, versteht. Logiques des mondes ist nicht mehr in Meditationen untergliedert, sondern in sogenannte Bücher und Sektionen220 . Mit Ausnahme des ersten Buches enthält jedes der sieben Bücher von Logiques des mondes drei bis fünf Abschnitte. Badiou weist die sieben Bücher drei inhaltlichen Ausrichtungen zu: der Metaphysik (Buch I), der Großen Logik (Bücher II-IV) und der Physik (Bücher V-VII). Die Metaphysik ist einer formalen Subjekttheorie gewidmet, die Große Logik einer Theorie der Welten und die Physik einer materiellen Theorie des Subjekts und der Veränderung der Welten.221 Im Hinblick auf die Fragestellung, in welchem Zusammenhang der »Tod Gottes« zur Inkonsistenz des Einen bei Badiou steht und wie er die Inkonsistenz des Einen begründet, werde ich mich vornehmlich auf den mittleren Teil, die Große Logik, fokussieren.222 Meine These ist, dass Badiou in Logiques des mondes zwar grundsätzlich eine Enttheologisierung des Unendlichkeitsbegriffs gelingt, jedoch sein Anliegen, eine materialistische Unendlichkeitstheorie zu entwickeln, nicht überzeugend darlegen kann.

2.3.1 Ontologie, Logik und Phänomenologie Im Vorwort von Logiques des mondes parallelisiert Badiou seine beiden großen systematischen Werke mit denen Hegels: L’être et l’événement entspreche der Wissenschaft der Lo»phénoménologie calculée« bzw »phénoménologie objective« ABLM 48 [56]. Hervorhebungen im Original. 220 Heinz Jatho übersetzt diese in Logiken der Welten mit »Abschnitt«. 221 ABLM 315 [319]. 222 Die bedeutenden (und umfangreichen) Standardwerke zu Badiou beziehen sich aufgrund ihres Erscheinens hauptsächlich auf Badious Veröffentlichungen vor Logiques des mondes. Bei Bosteels und bei Hallward finden sich aber bereits erste Kommentare zu Logiques des mondes. Einführende sowie vertiefende Analysen bietet der Sammelband: Rabouin, David/Feltham, Oliver/Lincoln, Lissa (Hg.): Autour de Logiques des mondes d’Alain Badiou, Paris 2011. 219

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gik und Logiques des mondes der Phänomenologie des Geistes.223 So sei das eine Buch Hegels wie das Badious der Ontologie, die anderen der Phänomenologie gewidmet. Die erste Parallelisierung ist grundsätzlich plausibel hinsichtlich der Tatsache, dass es in beiden Werken tatsächlich um eine Ontologie geht. Die Durchführung und Bedeutung der Ontologie unterscheiden sich aber deutlich. Bei Hegel korrespondiert die Ontologie mit der Logik, das heißt, dass die logischen Denkbestimmungen gleichermaßen auch ontologische Seinsbestimmungen sind. Bei Badiou hingegen gibt es keine solche Korrespondenz, da sein Anliegen die Trennung von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt ist. Genauer müsste man sagen, dass bei ihm die Ontologie eine Wissenschaft ohne erkennendes Subjekt ist und die Kategorie »Subjekt« einem anderen Sachverhalt, nämlich dem Akteur einer Wahrheitsentfaltung, zugeordnet wird.224 Die zweite Parallelisierung, die Badiou vornimmt, bedarf hingegen einer Klärung. Inwiefern entspricht Logiques des mondes der Phänomenologie des Geistes? Hegel konzipierte seine Phänomenologie als die »Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins«. Sie soll eine Darstellung der verschiedenen »Gestalten des Bewußtseins« auf dem Weg seiner Selbstreflexion sein.225 Für Hegel ist dieser Weg das »Werden der Wissenschaft überhaupt«.226 In dieser Hinsicht entspricht Badious Logiques des mondes in keiner Weise Hegels Phänomenologie, da es auch hier kein erkennendes Bewusstsein (Subjekt) gibt. Worin könnte dann die Gemeinsamkeit zwischen Logiques des mondes und der Phänomenologie des Geistes bestehen? Badiou formuliert die Gleichsetzung folgendermaßen: »Was das Buch von 1988 auf der Ebene des reinen Seins getan hat – den ontologischen Typ der Wahrheiten und die abstrakte Form des Subjekts, das sie aktiviert, bestimmen –, will das vorliegende auf der Ebene des Daseins oder des Erscheinens oder der Welten leisten. In dieser Hinsicht verhält sich Logiques des mondes zu L’être et l’événement wie Hegels Phänomenologie des Geistes zu seiner Wissenschaft der Logik, und das obwohl die zeitliche Abfolge umgekehrt ist: eine immanente Erfassung der Gegebenheiten des Daseins, ein lokaler Parcours der Figuren des Wahren und des Subjekts, aber keine deduktive Analytik der Formen des Seins.«227 Badiou sieht die Gemeinsamkeit von Logiques des mondes und Hegels Phänomenologie in der Analyse des Daseins, das heißt, des konkreten Seienden sowie im Nachvollzug unterschiedlicher Figuren der Wahrheit und des Subjekts. Diese Formulierung der subjektiven Figuren erinnert an Hegels Formulierung der »Gestalten des Bewußtseins«, doch Badiou unterlässt es hier, vom erkennenden bzw. erfahrenden Bewusstsein zu sprechen. Das entscheidende Argument der Parallelisierung ist vielmehr, dass Logiques des mondes

223 ABLM 16 [24]. 224 Im Kapitel zu L’être et l’événement bin ich nicht auf Badious Subjekttheorie eingegangen. Vgl. dazu Hallward: A Subject to Truth; Pluth: Badiou. Eine Philosophie des Neuen, 127–154. 225 Hegel: Phänomenologie des Geistes (Werke 3), 80f. Hervorhebung im Original. 226 Ebd. 31. Hervorhebungen im Original. »Um zum eigentlichen Wissen zu werden oder das Element der Wissenschaft, das ihr reiner Begriff selbst ist, zu erzeugen, hat es sich durch einen langen Weg hindurchzuarbeiten.« Ebd., 31. 227 ABLM 16 [24]. Hervorhebung im Original.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

wie die Phänomenologie des Geistes keine Wissenschaft des Seins betreibt.228 Wenn Badiou in Logiques des mondes weder eine Ontologie noch eine »Wissenschaft der Erfahrung« entwirft, was ist dann sein Anliegen? Was für »Logiken« entwickelt Badiou in Logiques des mondes? Badious Ausgangsfrage zur Begründung der Logik(en) lautet: »Warum und wie gibt es Welten statt des Chaos?«229 Dieser Frage liegt die Auffassung zu Grunde, dass Welten Konsistenz aufweisen bzw. negativ formuliert: »Das Erscheinen ist für eine gegebene Welt niemals chaotisch.«230 Badious Perspektive hat sich mit dieser Frage von derjenigen in Théorie du sujet und implizit in L’être et l’événement verändert. Dort ging es noch um die abstraktere Frage, wie das Eine aus dem Vielen bzw. der Zwei entstehen könne. Die Frage nach der Konsistenz der Welten will Badiou mit einer, wie er sie nennt, »Großen Logik« klären. Methodisch bedient er sich dazu einer bestimmten Phänomenologie sowie mathematischer Erkenntnisse der Topologie. Der Begriff »Phänomenologie« erinnert zunächst an Hegels Phänomenologie des Geistes oder auch an Husserls transzendentale Phänomenologie231 . Doch wie bereits erwähnt, zeichnet sich Badious Methode dadurch aus, dass sie kein erkennendes oder erfahrendes Bewusstsein voraussetzt. Mehr noch: Die subjektive Erfahrung oder Erkenntnis soll ausgeschaltet werden. Im Vorwort zu Logiques des mondes expliziert Badiou seine Methode: »Ich versuche hier eine kalkulierte Phänomenologie. Die in diesen Beispielen angewandte Methode steht in der Tat einer Phänomenologie nahe, aber einer objektiven. Darunter ist zu verstehen, dass man die Konsistenz dessen, wovon man spricht (eine Oper, ein Gemälde, eine Landschaft, ein Roman, eine wissenschaftliche Konstruktion, eine politische Episode …), kommen lässt, aber nicht etwa, indem man wie Husserl seine reale Existenz, sondern ganz im Gegenteil seine intentionale oder gelebte Dimension neutralisiert. Ich erprobe die Äquivalenz zwischen dem Erscheinen und der Logik durch eine reine Beschreibung, eine Beschreibung ohne Subjekt.«232

228 Meines Erachtens ist Badious Referenz auf die Phänomenologie des Geistes in diesem Zusammenhang irreführend, da in Logiques des mondes weder eine Philosophie des Geistes entwickelt wird noch irgendeine Rezeption der Phänomenologie Hegels stattfindet. Das zweite »Buch« (gemeint ist das zweite Kapitel) Grande Logique, I. Le Transcendantal, das Hegel gewidmet ist, beschäftigt sich ausschließlich mit der Wissenschaft der Logik (und anderen Werken anderer Autoren). 229 ABLM 111 [121]. 230 Ebd., 128 [137]. 231 Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie: Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Hamburg 2009. 232 Ebd., 48 [58]. Hervorhebung im Original. Husserl gehört zu einem der frühen philosophischen Autoren, die Badiou liest, wie er in einem 2019 veröffentlichten Artikel schreibt: »My first access to German philosophy took place via Sartre, very long ago, alas, when I was seventeen years old. The true victor, the true successful winner of my passionate reading of Being and Nothingness – Sartre’s big book – in 1954/55 was most certainly neither Heidegger nor Hegel, but Husserl.« Badiou, Alain: Beyond Negative Dialectics, in: Völker, Jan (Hg.): Badiou and the German Tradition of Philosophy, London 2019, 9–17, hier 10. Eine Analyse der Rezeption Husserls wäre hinsichtlich seines Unternehmens von Logiques des mondes aufschlussreich, müsste aber in einem anderen Forschungsprojekt angegangen werden.

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Badious Phänomenologie zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwar Beschreibungen von Erscheinungen vornimmt, diese jedoch nicht als Erscheinungen für ein Subjekt auffasst. In Logiques des mondes werden entsprechend die logischen Untersuchungen größtenteils anhand von solchen Beschreibungen vorgenommen. So beschreibt Badiou die Zusammensetzungen einer politischen Demonstration, eines Gemäldes von Hubert Robert und einer Landschaft in Frankreich. Wie ich bereits hinsichtlich der Zählung-als-Eins kritisch fragte: Wer zählt?, kann auch hier gefragt werden: Wer beschreibt bzw. wer betrachtet? Oder: Wie verhalten sich die Beschreibungen eines Individuums, beispielsweise diejenigen Badious, zu den objektiven, »reinen Beschreibungen«? Badiou zufolge bedürfe es keines erkennenden Subjekts, da sich das Seiende gemäß einer bestimmten Logik selbst präsentiere. Eine gegebene Welt zeige sich auf eine bestimmte Weise, die einer »Codierung« entspreche. Die Codierung lege in einer gegebenen Welt fest, wie die Dinge erscheinen und dass sie überhaupt voneinander unterschieden werden können.233 »Der Schlüssel für das Denken des Erscheinens besteht für ein singuläres Seiendes darin, zugleich die Differenz-von-sich-selbst bestimmen zu können, die verlangt, dass das Dasein nicht das Sein-als-Sein ist, und die Differenz zu den anderen Seienden, die verlangt, dass das Dasein oder das von diesen anderen geteilte Gesetz der Welt nicht das Sein-als-Sein tilgt.«234 Das erscheinende Seiende zeichne sich demnach durch zwei Differenzen aus: erstens durch die Differenz zu seinem Sein, das in L’être et l’événement als inkonsistente Vielheit »vor« der Zählung-als-Eins charakterisiert wurde. Zweitens müsse sich das jeweilige erscheinende Seiende auch von anderen erscheinenden Seienden unterscheiden können. Beide Differenzen würden in Badious Konzept nicht von einem Subjekt vollzogen, sondern seien den Dingen und den jeweiligen Welten selbst eingeschrieben. Das, was diese Differenzierung des Erscheinens ermögliche, nennt Badiou das »Transzendental« einer Welt; die Theorie des Erscheinens sei die »Große Logik«. Badiou definiert das Transzendental folgendermaßen: »Wir nennen ›Erscheinen‹ dasjenige von einer mathematischen Vielheit, was in einem situierten relationalen Netz (einer Welt) erfasst wird, so dass diese Vielheit ins Dasein tritt oder zum Status eines Seienden-in-einer-Welt kommt. Man kann dann sagen, dass dieses Seiende von einem anderen Seienden, das derselben Welt angehört, mehr oder weniger verschieden ist. Die Operationsmenge, die erlaubt, dem ›Mehr oder Weniger‹ der Identitäten und Differenzen in einer bestimmten Welt Sinn zu geben, nennen wir ›Transzendental‹.«235 Das Transzendental meint die Codierung der Erscheinungen einer Welt. So sei es das Transzendental, das beispielsweise festlege, wie die unterschiedlichen Gegenstände eines Gemäldes im Verhältnis zueinander erscheinen. Das Transzendental bestimme den

233 »Wenn das Erscheinen eine Logik ist, dann weil es nichts anderes ist als die sich Welt für Welt vollziehende Codierung dieser Differenzen.« ABLM 127 [137]. 234 Ebd., 127 [137]. 235 ABLM 128 [138]. Hervorhebung im Original.

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Erscheinungsgrad, das heißt, die Intensität der Erscheinung. Dieser Grad gehe von »minimal« bis »maximal«.236 Den Begriff des Transzendentals führt Badiou auf Kant zurück, jedoch wie im Falle seines Phänomenologieverständnisses ohne das erkennende Subjekt. So definierte Kant die transzendentale Erkenntnis in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendental-Philosophie heißen.«237 Die Analyse »unserer Erkenntnisart« sei Kant zufolge die transzendentale Erkenntnis. Sie – die Analyse – gehe der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt nach und sie solle die Objektivität von Erkenntnis gewährleisten, da sie ohne Begriffe der Empirie auskommen müsse. Diese Kategorien des erkennenden Subjekts gelten universal. Genau dieser nicht-empirische Aspekt ist für Badiou zentral. Zwar zielt sein Begriff des Transzendentals nicht auf Erkenntnis, sondern auf das der Erscheinung zu Grunde liegende – in den Worten Kants – »System aller Prinzipien«238 . Doch Badious Verwendung dieses Begriffs unterscheidet sich nicht nur von derjenigen Kants hinsichtlich des fehlenden Subjekts239 , sondern auch hinsichtlich der Reichweite der Gültigkeit. Kants Transzendental-Philosophie zielt auf universale Gültigkeit, Badious Transzendental zeichnet sich hingegen durch seine »lokale Dispositionen«240 aus. Ein Transzendental gelte nur für eine Welt. Insofern es eine Pluralität von Welten gebe, gelte diese auch für die Transzendentale. »Dies ist einer der Hauptgründe, warum es unmöglich ist, hier von einem vereinheitlichten ›Zentrum‹ der transzendentalen Organisation her, wie es für Kant das Subjekt ist, zu argumentieren.«241 Der Gedanke des lokalen Transzendentals kann meines Erachtens auch als Korrektur von L’être et l’événement interpretiert werden. Dort bestand das Problem, dass die Mengenlehre als Wissenschaft vom Sein selbst durch die Konsistenz einer einzigen formallogischen Sprache normiert wurde.242 In Logiques des mondes denkt Badiou den Geltungsbereich einer »Logik« (gemeint ist das Transzendental) strikt lokal. Auf diese Weise werde der Mathematik keine sprachliche Regulierung vorgeschrieben. Badiou differenziert deshalb auch den Begriff der Logik in eine »Große Logik« und eine »gewöhnliche Logik«.243 Mit »gewöhnliche Logik« bezeichnet Badiou das, was gemeinhin unter formaler Logik verstanden wird – die Lehre vom richtigen Schließen. Badiou ordnet die formale Logik den Transzendentalen unter. Selbstverständlich müsse davon ausgegangen werden, dass es viele Welten gebe, in der die formale Logik vornehmlich ihre Gültigkeit er-

236 Ebd., 130 [139f.]. 237 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 26. Hervorhebung im Original. 238 »Sie [die Transzendental-Philosophie, P.A.] ist das System aller Prinzipien der reinen Vernunft.« Ebd., B 27. Hervorhebung im Original. 239 Für Badiou ist das Subjekt nicht »konstituierend«, sondern »konstituiert« ABLM 185 [193]. 240 Ebd., 131 [140]. 241 Ebd. 242 Badiou hatte auch dieses Problem bereits in Court traité d’une Ontologie transitoire hingewiesen ABCT 127. Vgl. auch das Kapitel 2.2.4. 243 In Logiques des mondes wird darüber hinaus noch eine »atomare Logik« entwickelt. Diese agiert an der Schnittstelle von Ontologie und Großer Logik, indem durch sie eine Verbindung der Erscheinung und der »realen Atome« hergestellt werde. Vgl. ABLM 611 [614].

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weise. Solche Welten nennt Badiou »klassisch«244 . Doch könne nicht davon ausgegangen werden, dass die formale Logik in allen Welten gleichermaßen gelte.245 Auf diese Weise begreift Badiou die formale bzw. gewöhnliche Logik als Teil einer anderen Logik, nämlich der »Großen Logik«: »›Logik‹ [gemeint ist die Große Logik, P.A.] nennt man die allgemeine Theorie des Erscheinens oder des Daseins, also die Theorie der Welten oder der Kohäsion dessen, was dazu kommt, zu existieren (oder zu inexistieren).«246 Als Theorie des Erscheinens erfährt die Logik eine deutlich andere Bedeutung als gemeinhin unter Logik verstanden wird und kommt auf diese Weise dem hegelschen Begriff der Logik näher.247 Die so konzipierte Logik beantwortet dementsprechend die Frage, warum es kohärente Welten, statt Chaos gebe: »Die Große Logik ist nämlich vor allem eine erschöpfende Theorie dessen, was ein materialistisches Denken der Welten ist, oder, weil ›Erscheinen‹ und ›Logik‹ ein und dasselbe sind, eine materialistische Theorie der Kohärenz dessen, was erscheint.«248 Badiou erweckt den Eindruck, dass der Logik eine doppelte und divergierende Funktion zukomme. Einerseits hat er die Logik als die Theorie dessen, was erscheint und somit auch die Theorie der Codierung, das heißt des Transzendentals, dessen, was erscheint, konzipiert. Andererseits fallen Logik und Erscheinen in eins. Im ersten Fall wäre die Logik bei der- oder demjenigen verortet, die oder der denkt – ein erkennendes Subjekt? –, im zweiten Fall befände sie sich auf der Seite des Erscheinens und schiene eher die Funktion des Transzendentals einzunehmen. Diese Uneindeutigkeit sei hier lediglich angemerkt. Wichtiger ist die Klärung, ob und inwiefern es sich im Falle der Großen Logik um eine materialistische Theorie bzw. ein materialistisches Denken handelt. Was zeichnet ein Denken als materialistisch aus?

2.3.2 Badiou gegen Hegel: Die Inexistenz des Ganzen Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Totalität bzw. des Ganzen wird, ähnlich wie bereits in L’être et l’événement, in Logiques des mondes immer wieder neu geführt. Sie ist eines der zentralen Themen dieser Abhandlung. Im Kapitel Große Logik, 1. Das Transzendental beginnt Badiou sogar die ersten drei Abschnitte jeweils mit einem Unterkapitel zur »Inexistenz des Ganzen«.249 Die drei Unterkapitel behandeln im Wesentlichen das gleiche Thema in unterschiedlicher Darstellungsweise: Erstens »konzeptuell (und exemplifizierend)«, zweitens »historisch (ein Autor)« und drittens »formal«.250 Im ersten und

244 Ebd., 195–200 [203-208]. 245 Laut Badiou könne Folgendes nicht für alle Welten als gültig erklärt werden: das Prinzip der Widerspruchsfreiheit sowie die Negation der Negation, die zur Affirmation führe. Vgl. ebd. 195 [203]. 246 Ebd., 611 [613]. 247 Statt, wie eingangs diskutiert, Logiques des mondes mit Hegels Phänomenologie des Geistes zu vergleichen, wäre es treffender, sie mit dem zweiten Teil der Wissenschaft der Logik, der Wesenslogik zu parallelisieren. 248 Ebd., 104 [114]. 249 Inexistenz des Ganzen (ebd., 119–121 [129-131]); Hegel und die Frage des Ganzen (ebd., 153–156 [161-164]); Inexistenz des Ganzen: Die Existenz einer Menge aller Mengen zu behaupten ist intrinsisch widersprüchlich (ebd., 165–167 [173-175]). 250 Ebd., 109 [119].

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

dritten Unterkapitel begründet Badiou die Inexistenz eines Ganzen mit der Ausführung des russellschen Paradoxons. Insofern für Badiou »[d]ie ›Menge aller Mengen‹ […] der mathematische Begriff des Ganzen [ist]«251 , kann er entsprechend die Widersprüche, die in der Mengenlehre bei einer Menge aller Mengen aufkommen, auf den philosophischen Begriff des Ganzen übertragen. In dieser Hinsicht bestätigt er seine Überlegungen zum Begriff des Ganzen in L’être et l’événement und Théorie du sujet. Anders als in L’être et l’événement wird allerdings die Aussage, dass das Eine nicht sei, nicht mehr als Entscheidung – die anschließend argumentativ ausgeführt wird – präsentiert. Stattdessen setzt Badiou unmittelbar mit dem Argument des russellschen Paradoxons ein,252 um anschließend zu fragen, ob diese Argumentation überhaupt notwendig gewesen sei.253 Denn mit Blick auf die ›reale‹ Welt, die physikalische Welt, sei diese Annahme nicht gesichert, da gemeinhin die Urknall-These für die Endlichkeit und damit für die Totalität der Welt spreche.254 Badiou trifft deshalb zunächst eine Unterscheidung des Gültigkeitsbereichs dieser Aussage, um für die Unabschließbarkeit der Welt(en) zu argumentieren. »Zunächst ist es das Sein als solches, von dem wir hier behaupten, dass es kein Ganzes bilden kann, und nicht die Welt, die Natur, das physikalische Universum. Es geht darum, zu zeigen, dass jede Betrachtung des Seienden als Totalität inkonsistent ist. Die Frage der Grenzen des sichtbaren Universums ist nur ein sekundärer Aspekt der ontologischen Frage des Ganzen.«255 Badiou begrenzt die Aussage, dass das Eine nicht sei (und damit das Argument des russellschen Paradoxons), zunächst auf den Bereich der Ontologie und der Mathematik. Sie beanspruche (noch) keine Geltung für den Bereich der Physik. Im Bereich der Physik, das heißt, im Bereich der Erscheinungen könnten sehr wohl Konstruktionen eines Ganzen erkannt werden.256 Badious Herausforderung besteht nun darin, nachzuweisen, dass entgegen der physikalischen und phänomenologischen Evidenz Welten unabschließbar seien und sie damit keine absolute Totalität, kein Ganzes, darstellen könnten. Die erforderlichen Argumente der Mathematik sind das russellsche Paradoxon sowie weitere mengentheoretische Erkenntnisse, wie die, die das Verhältnis einer Potenzmenge zu ihrer Ausgangsmenge betreffen. Die Klärung der Frage nach der Existenz oder Inexistenz des Ganzen entfaltet für Badiou auch deshalb ihre Relevanz, da er mit ihr den Unterschied von Idealismus und Materialismus entscheidet. Die Annahme eines Ganzen setze letztendlich voraus, dass ein subjektiver Vereinigungsprozess (eine Welt als Einheit zu betrachten) zur ontologischen Grundlage genommen werde. Seit Descartes zeichne sich eine idealistische Philosophie durch die hervorgehobene Position des Subjekts, das die »formlose Mannigfaltigkeit«257 251 Ebd., 165 [173]. 252 Erst das dritte Unterkapitel (ABLM 165–167 [173-175]) spricht explizit vom russellschen Paradoxon. Das Argument ist im ersten Unterkapitel aber inhaltlich das gleiche. 253 Ebd., 120 [130]. 254 Ebd., 121 [131]. 255 Ebd. 256 Ebd. 257 Ebd., 111 [121].

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vereinige, aus. Die Annahme der Existenz eines Ganzen sei deshalb idealistisch. Die materialistische Philosophie, der er sich selbst zugehörig begreift, betrachte dagegen diese Art von Subjekt als »problematische Konstruktion«258 und nicht als einendes Zentrum. An anderer Stelle charakterisiert Badiou das Subjekt als »konstituiert«, statt als »konstituierend«.259 Die materialistische Position könne deshalb kein Ganzes als existent akzeptieren. Die Annahme, dass das Ganze nicht sei, wird nicht nur aus physikalischer und phänomenologischer Perspektive bezweifelt, sondern auch philosophisch. Der elaborierteste Vertreter einer Philosophie der Totalität sei Hegel, dem sich Badiou ausführlich im zweiten der drei oben genannten Unterkapitel zur Inexistenz des Ganzen widmet.260 So beginnt er das Kapitel mit der Gegenüberstellung beider Positionen: »Hegel ist zweifellos der Philosoph, der die Verinnerlichung der Totalität noch in der geringsten Bewegung des Denkens am weitesten getrieben hat. Man könnte sagen, dass da, wo wir mit einer transzendentalen Theorie der Welten beginnen, sagen: ›Es gibt kein Ganzes‹, Hegel seine dialektische Odyssee absichert, indem er konstatiert: ›Es gibt nur das Ganze.‹«261 Tatsächlich bedarf Hegel für sein Dialektikverständnis eines Konzeptes von Totalität. Seine dialektische Bewegung führt – vereinfacht gesagt – jede Kategorie in ihren Widerspruch und über die Grenze des Widerspruchs hinaus in eine neue Kategorie. Diese ›verflüssigende‹ Bewegung stabilisiert sich im Begriff des Ganzen, in dem Denken und Sein in eins fallen. Badiou stellt an dieser Stelle Hegels positiver Dialektik weder eine spaltende Dialektik, die er in Théorie du sujet entwickelt hat, noch eine negative262 , die keine Vollendung finde, entgegen, obwohl er sein eigenes Unternehmen in Logiques des mondes explizit als materialistische Dialektik charakterisiert. Stattdessen will Badiou Hegel mit seiner transzendentalen Theorie – gemeint ist eine objektive transzendentale Theorie – und nicht mit einem Konzept materialistischer Dialektik kritisieren. Hegels Argument für die Annahme eines Ganzen ist die Korrespondenz von Logik und Ontologie: »Tatsächlich trennt die Klausel des Nichtseins des Ganzen die Logik des Daseins (Identitätsgrade, Theorie der Relationen) unwiderruflich von der Ontologie der reinen Vielheit (Mathematik der Mengen). Hegel dagegen geht es darum, unter dem Axiom der Totalität jeder Kategorie (hier der Gleichheit der Seienden) ihren ontologisch einheitlichen Charakter nachzuweisen.«263 258 259 260 261 262

Ebd. Ebd., 185 [193] Vgl. Ebd., 153–156 [161-164]. Ebd., 153 [161]. Badiou formuliert explizit keine negative Dialektik. In seiner maoistischen Phase lässt sich seine Dialektik unter dem Slogan Maos »Eins teilt sich in zwei« als spaltende Dialektik, in seinem späteren Werk als affirmative Dialektik (die sich von der positiven Hegels hinsichtlich der Stellung der Totalität wesentlich unterscheidet) charakterisieren. Vgl. Badiou: Beyond Negative Dialectics, 9–17; sowie Ruda: For Badiou: 23 und 68–76. 263 ABLM 161 [168]. Heinz Jatho schreibt diejenigen Wörter, die von Badiou bewusst mit einer Majuskel versieht, mit einem kursiven ersten Buchstaben.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Badious Unterscheidung von der Logik und der Ontologie erinnert an diejenige in der ersten Meditation von L’être et l’événement zwischen »Es gibt eins« und »Die eins ist«. Hier, in Logiques des mondes, tritt zum »Es gibt eins« die Auffassung hinzu, dass es auch unterschiedliche Identitätsgrade und Beziehungen dessen, was ist, gibt. Am Identitäts- bzw. Erscheinungsgrad kann Badiou den Unterschied zu Hegel aufzeigen. Badiou zufolge erscheine das Seiende in unterschiedlicher Intensität, von minimaler bis maximaler Intensität. Es sei sogar eine Null-Intensität möglich. Eine Nullintensität lasse jedoch nicht auf das Nicht-Sein schließen, sondern bedeute lediglich, dass ein Seiendes in einer gegebenen Welt nicht erscheine. Dies gelte aber nicht zwangsläufig für alle Welten, da jede Welt ihr eigenes Transzendental, ihre eigene Codierung, besitze. Hegel kenne hingegen keine Null-Intensität der Erscheinung bzw. die Null-Intensität würde auch das Nichtsein implizieren. »Die Frage eines Identitätsminimums zwischen zwei Seienden oder zwischen einem Seienden und sich selbst kann für ein Denken, welches das Ganze annimmt, keinen Sinn haben, denn wenn es das Ganze gibt, gibt es kein Nichterscheinendes als solches. Ein Seiendes mag in einer bestimmten Welt nicht erscheinen, aber es ist nicht denkbar, dass es nicht im Ganzen erscheint.«264 Für Hegel gebe es dementsprechend weder ein ›außerhalb‹ des Ganzen noch das unabschließbare Ganze. Stattdessen geht Hegel, was Badiou richtig erkennt, von einem inneren Verweisungszusammenhang des Ganzen aus, was bedeutet, dass bei Hegel jede Kategorie und jede Erscheinung Teil des Ganzen sei und folglich mit jedem anderen Teil in Verbindung stehe: »Das Dasein von jedem Seienden besteht darin, als Moment des Ganzen erscheinen zu müssen.«265 Um die unterschiedlichen Geltungsbereiche hinsichtlich des Ganzen zu klären, führt Badiou zwei Begriffe ein, die einerseits der Ontologie, andererseits der Logik zugeordnet sind: Für den ontologischen Begriff des Ganzen bzw. der Totalität verwendet Badiou den Begriff des Universums, für den logischen Begriff eines Ganzen, den der Welt. Er definiert: »Im Folgenden nennen wir Universum den (leeren) Begriff eines Seins des Ganzen. Wir nennen Welt eine ›vollständige‹ […] Situation des Seins. Offenkundig gibt es kein Universum […]; es gehört zum Wesen der Welt, dass es mehrere Welten gibt, denn gäbe es nur eine, wäre sie das Universum.«266 Der Begriff des Universums dürfte, wie bereits in Théorie du sujet und L’être et l’événement der Mengenlehre, wo er vom Begriff der Menge unterschieden wird, entlehnt sein. Insofern »Universum« wie die Menge aller Mengen verstanden wird, handelt es sich um einen inkonsistenten Begriff. In diesem Sinne kann Badiou sagen, dass es kein Universum gebe. Eine Welt sei hingegen nun der Begriff für

264 Ebd., 159 [167]. Kursive Hervorhebung von Jatho. 265 Ebd., 159 [167]. Hervorhebung von Jatho. Adorno lehnt genau diesen Aspekt, dass das Einzelne Moment des Ganzen sei, nicht wie Badiou ab, sondern greift ihn kritisch auf. Die kritische Rezeption dieses Aspekts besteht darin, dass das Ganze von Adorno als negative Totalität, als Zwang, der jedoch selbst einem geschichtlichen Werden (und der Veränderung) unterworfen sei, aufgefasst wird. Die Enttotalisierung besteht in Adornos Verzeitlichung des Totalitätsbegriffs. Vgl. Adorno: Negative Dialektik. 266 Ebd., 112 [122]. Hervorhebung im Original.

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eine Situation des Seins. In L’être et l’événement wurde der Begriff der Situation zur Bezeichnung der durch die Zählung-als-Eins strukturierte Vielheit eingeführt.267 Entsprechend der Mengenlehre, in der eine Menge immer Teilmenge einer anderen Menge ist, lässt sich auch eine Situation als Teil-Situation einer übergeordneten Situation begreifen, sodass die Zählung-als-Eins nicht nur eine gegebene Situation (intern) strukturiert, sondern eine Situation selbst als Eins gezählt werden kann. Diesem Gedanken folgend ließe sich dann auch eine Welt als Eins zählen. Den Begriff der Welt vom Begriff der Situation oder der Menge her zu verstehen, ermöglicht es auch, ›Welt‹ nicht univok mit ›Raum‹ zu verwenden. Genauso wenig, wie eine Menge ein ›Sack‹ ist, der bestimmte Elemente (z.B. Äpfel und Birnen) zusammenfasst, ist eine Welt ein Raum, der bestimmte Gegenstände in sich enthält. In beiden Fällen ist es ausschließlich die Zugehörigkeit, welche die Verbindung konstruiert.268 »Ich schreibe ›in‹ einer Welt (in Anführungszeichen), um anzuzeigen, dass es sich um eine Metapher für die Lokalisierung von Vielheiten handelt. Als Situation des Seins ist eine Welt kein leerer Ort – dem Newtonschen Raum vergleichbar –, den seiende Vielheiten bevölkern würden. Denn eine Welt ist eben nichts anderes, als eine Logik des Daseins, und sie identifiziert sich mit der Singularität dieser Logik. Eine Welt artikuliert die Kohäsion der Vielheiten um einen strukturierten Operator (das Transzendental).«269 Badiou leugnet mit diesem Weltverständnis nicht die raumzeitliche Dimension von Welten. Vielmehr gehe es darum, dass das Entscheidende für das Verständnis einer Welt nicht die Raumzeit, sondern die Zugehörigkeit bzw. Kohäsion sei. Darüber hinaus sei jede Kohäsion einer Welt durch das jeweilige Transzendental (die Codierung) einer Welt bestimmt. Roland Végső nennt deshalb Badious Welt treffend ein »Beziehungsnetzwerk«270 . Badiou zieht aus diesem Weltbegriff bedeutende metaphysische bzw. metaphysikkritische Konsequenzen, denn eine Welt, die sich ausschließlich aus ihren Zugehörigkeiten zusammensetzt, bedürfe kein, wie Badiou es formuliert, »darunter«. Das bedeutet, dass eine Welt kein Sein »unterhalb« ihrer Elemente und Teilmengen habe. »Das ist die erste Grundeigenschaft der operativen Ausdehnung einer in ihrem Sein gedachten Welt: Eine Welt immanentisiert die Dissemination dessen, woraus sie besteht. Die Welt hat kein ›Darunter‹, das ihr äußerlich wäre, eine Art prämundaner Materie. Sie

267 ABEE 32 [38]. 268 Cantors frühe Definition einer Menge als Zusammenfassung wohlunterschiedener Elemente ist in der Entwicklung der Mengenlehre überarbeitet worden. In der Zermelo-Fraenkel-Axiomatik wird eine Menge durch Zugehörigkeit, die durch das Symbol »∈« (ist Element von) formalisiert wird, gebildet. 269 ABLM 112 [122]. 270 »In itself, the world is neither subject nor substance but a network of relations.«, Végső, Roland: Worldlessness after Heidegger. Phenomenology, Psychoanalysis, Deconstruction, Edinburgh 2020, 278.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

ist Welt nur insofern, als das, was ihre Komposition komponiert, in ihrer Komposition ist.«271 Um in der Metapher des Obstes zu sprechen: Es gibt keinen der Welt vorgelagerten ›Sack‹, der bestimmte Äpfel und Birnen ›in‹ der Welt zusammenfasst, sondern die bestimmten Äpfel und Birnen sind ihre eigene Zusammensetzung, ihre eigene »Komposition«. Badiou nennt die Annahme einer prämundanen Materie auch das »Prinzip der ›Sub-sistenz‹«272 . Mit Badious Weltverständnis wird aber auch eine Position der Transzendenz, die ein »Darüber« behauptet, unterbunden. »Wenn man, mit anderen Worten, die Teile einer (ontologischen) Komponente einer Welt totalisiert, indem man das System dieser Teile als eins zählt, erhält man eine Entität derselben Welt. Das ist die zweite Grundeigenschaft der operativen Ausdehnung einer in ihrem Sein gedachten Welt: Eine Welt immanentisiert jede lokale Totalisierung der Teile dessen, woraus sie sich zusammensetzt. Ihre Verfassung (die Zählung als eins der Teilmengen der Seienden, die da sind) ist selbst in der Welt und nicht transzendent zu dieser Welt. So wenig es eine letzte formlose Materie gibt, so wenig gibt es ein Prinzip der Verfassung der Dinge.«273 Eine Welt werde demnach auch nicht durch ein Außerhalb oder Oberhalb bestimmt. Es gebe weder ein äußeres Gesetz, dass die Welt ordne, noch einen Gesetzgeber (einen ›Gott‹). Dieses Prinzip der Transzendenz könnte vor dem Hintergrund von Court traité d’Ontologie transitoire auch eine onto-theologische Position genannt werden, die Badiou hier unterbinden möchte.274 Das »Gesetz«, das eine Welt ordne, sei ausschließlich ihr Transzendental. Badiou hat, wie gezeigt, die Unterscheidung zwischen dem Universum, das es nicht geben könne, und den Welten, die hingegen als jeweils einzelne gezählt werden können, vorgenommen. Das erste Argument für die Unmöglichkeit des Universums war das russellsche Paradoxon. Lässt sich aus der Gegenüberstellung Universum-Welt schließen, dass eine Welt im Unterschied zum Universum ein vollständiges Eines ist? Badiou diskutiert diese Frage unter den Begriffen »Öffnung« und »Schließung« und konstatiert, dass eine Welt beides sein müsse, offen und geschlossen. Genauer müsste man sagen, dass aufgrund der mathematischen Nachweise, dass die Potenzmenge immer mächtiger ist, als ihre Ausgangsmenge, und dass aktuale Unendlichkeiten existieren, keine Welt absolut geschlossen bzw. abgeschlossen sein könne, sondern dass eine Welt als geschlossene gleichzeitig unendlich offen sei. Wie lässt sich dieser Gedanke der gleichzeitigen Öffnung und Schließung verstehen? Badiou zeigt mithilfe des Potenzmengenaxioms auf, dass jede gegebene Menge, mögen ihr auch noch so viele Elemente zugehören, hinsichtlich ihrer Teile immer umfang271 272 273 274

ABLM 323 [327]. Ebd., 325 [329]. Ebd., 324 [327f.]. Vgl. dazu auch Kapitel 2.2.4. Der Begriff »Onto-Theologie«, der eine Position bezeichnet, von der sich Badiou häufig abgrenzen will, ist in Logiques des mondes im Unterschied zu seinen früheren sowie späteren Büchern nicht zu finden.

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reicher ist. Als Beispiel nennt er eine Welt mit vielen Elementen: eine Galaxis mit hundert Milliarden Sternen. Einer dieser Sterne sei der »größte«, das heißt der mit den meisten Elementen, genannt »Beteigeuze«. Beteigeuze als Teil dieser Galaxis kann nicht mehr Elemente haben als diese Galaxis selbst. Die Elemente dieses »größten« Sterns müssen ihrerseits auch Elemente der Galaxis sein. Gleichzeitig ist aber auch die Potenzmenge von Beteigeuze, das heißt die Menge aller Teilmengen von Beteigeuze, Element der Galaxis. An dieser Stelle stößt man auf einen Widerspruch, da man zuvor Beteigeuze als das »größte« Element der Galaxis ausgewählt hatte und nun feststellt, dass es doch nicht das größte Element sein könne, sondern die Potenzmenge immer größer sei. Nun ließe sich wiederum die Potenzmenge der Potenzmenge und die Potenzmenge dieser neu gebildeten Menge bilden usw. Kein Seiendes einer Welt könne deshalb eine »maximale Zahl von Elementen«275 haben. Die Bildung der Potenzmengen führe, so Badiou, in einer klar begrenzten Welt zu einer unabschließbaren Reihe. Die Endlichkeit einer Welt werde so gleichzeitig überstiegen, was jedoch auf eine Unmöglichkeit hinweise, da jede gebildete Menge eines Seienden der Welt – bzw. im Beispiel: einer Galaxis – zugehöre. In diesem Sinne versteht Badiou eine Welt als »geschlossen«. Sie präsentiert sich als endlich und als abzählbar, was impliziert, dass keine Elemente von »außen« hinzugezogen werden (können). Eine Welt ist als immanente ohne Transzendenz konzipiert. Und dennoch ist eine Welt für ihre Elemente und Teilmengen nicht abschließbar: »Aber die Welt ist für das, was in ihr existiert oder eine Identität mit sich selbst besitzt, die nicht null ist, auch nicht totalisierbar, weil die ›Zahl der Welt‹ – ihr UnendlichkeitsTyp und also sie selbst in ihrem Vielheit-Sein gedacht – den Operationen der Ontologie unerreichbar bleibt. In diesem Sinn bleibt eine Welt global offen für jede lokale Figur ihrer immanenten Komposition.«276 Badiou nennt die Gleichzeitigkeit der Öffnung und Schließung die paradoxe Eigenschaft der Ontologie der Welten. »Wir fassen sie zusammen, indem wir sagen: Jede Welt ist mit einer unerreichbaren Schließung versehen.«277 Dieser Typ von Unendlichkeit sei ein aktual Unendliches. Will man nicht an Grundüberlegungen der Mengenlehre hinsichtlich des aktual Unendlichen zweifeln, dann ist Badious Explikation der gleichzeitigen Öffnung und Schließung einer Welt unter dieser Betrachtung plausibel. Die Herleitung des Unendlichkeitsbegriffs unterscheidet sich auch nicht wesentlich von derjenigen in L’être et l’événement. Im Unterschied zu diesem Buch wird in Logiques des mondes nun der Unendlichkeitsbegriff auf erfahrbare Welten übertragen. Eine physische, phänomenologische Welt erscheine zwar als abgeschlossen und damit als »Eins«, sie übersteige aber zwangsläufig dieses Eins-Sein auf immanente Weise. Das Universum sei nicht Eins, da der Begriff einer Menge aller Mengen zu fundamentalen Widersprüchen führe, und die Welten seien nicht abschließbar (und deshalb unendlich) aufgrund des Potenzmengenaxioms. In welcher

275 »Und wenn man in derselben Welt bleibt, heißt das natürlich, dass kein Seiendes dieser Welt eine maximale Zahl von Elementen hat.« Ebd., 325 [329]. 276 Ebd., 326 [330]. 277 Ebd.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Hinsicht entfalten sich durch diese Erkenntnis Konsequenzen für die »Elemente« einer gegebenen Welt? Ich komme auf diese Frage in den Kapiteln 2.3.4 und 2.3.5 zurück.

2.3.3 Badiou mit Kant: Das Objekt als Eins Eine der Grundfragen in Logiques des mondes ist, warum es strukturierte und kohärente Erscheinungen der Welten gebe, statt Chaos. Badious erste Antwort darauf war die Entfaltung des Begriffs des Transzendentals, das (jeweils) jeder Welt eingeschrieben sei und die Identitätsgrade der Erscheinungen festlege. Der zweite Zugang zu einer strukturierten und kohärenten Erscheinung aus materialistischer Perspektive geschieht bei Badiou über den Begriff des Objekts. Denn ein Objekt wird in Logiques des mondes als das definiert, was es ermögliche, eine Erscheinung als eine zu zählen. Badiou schreibt in der Einführung zu Buch III. Große Logik, 2. Das Objekt: »[…] unter ›Objekt‹ ist zu verstehen, was im Erscheinen als eins zählt oder was dazu autorisiert, von diesem Dasein als einem zu sprechen, das unbeirrbar ›es selbst‹ ist.«278 Badiou will im Objektbegriff das Erscheinen an ein bestimmtes Sein, das heißt ein Dasein, knüpfen, um nachzuweisen, dass sich die Eins-Zählung nicht nur auf eine Erscheinung bezieht, sondern im Sein verankert ist. Das Erscheinen sei auf diese Weise »real« und nicht bloß »virtuell«. »[… E]s gilt festzulegen, dass ein Objekt das Dasein eines in seinem Sein bestimmten Seienden ist. Oder dass nicht ausschließlich die Logik des Erscheinens die Intelligibilität der Objekte konstituiert, weil diese darüber hinaus ein ontologisches Widerlager voraussetzt, das dem Erscheinen als Bestimmung der Objekte-in-der-Welt zugrunde liegt.«279 Badious Anliegen ist, die Verknüpfung von Logik (Theorie des Erscheinens) und Ontologie (Theorie des Seins) herzustellen bzw. nachzuweisen, dass das Sein grundsätzlich280 das Erscheinen bestimmt – und nicht umgekehrt. Es ist diese Verknüpfung von Erscheinung und Dasein im Objekt, die für Badiou eines der zentralen Kennzeichen des Materialismus darstellt. Diese Verknüpfung im Einen des Objekts als »onto-logische[r] Artikulationspunkt« nennt er deshalb eine »logisch-materialistisch[e] Klausel«.281 Um zu klären, was ein Objekt ist, muss Badiou darlegen, wie diese Einheit von Erscheinung und Dasein zustande kommt. Seinen philosophischen Gesprächspartner findet er nun in Kant, dem »Schöpfer des Objektbegriffs in der Philosophie«282 . Der Rückgriff auf Kant ist für Badiou gewagt, denn er hatte ja bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass seine Theorie explizit ohne ein Subjekt der Erkenntnis oder Erfahrung konzipiert sei und sich damit in weiter Entfernung zu Kant positioniert. Das Transzendental, dessen Grundeigenschaften Badiou dennoch von Kant entlehnt, zeichnet sich bei Badiou – dem Anspruch nach – jedoch gerade durch seine a-Subjektivität bzw. Objektivität

278 ABLM 205 [213]. Hervorhebung im Original. 279 Ebd., 207 [215]. 280 Im weiteren Verlauf von Logiques des mondes zeigt Badiou auf, dass das Erscheinen auch über ein Ereignis auf das Sein einwirken kann. 281 Ebd., 207 [215]. 282 Ebd., 245 [251].

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aus. Badiou zielt auf die Bedingung der Möglichkeit von Erscheinungen und nicht, wie Kant, auf die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. Warum rekurriert Badiou nun in der Präsentation des Objektbegriffs dennoch auf Kant, dessen Philosophie im Kern durch seine »kopernikanische Wende« zum Subjekt charakterisiert ist? Für Badiou ist in Kants Philosophie die Tatsache von Bedeutung, dass das Objekt als Resultat einer Verknüpfung bestimmt sei. Das Objekt ist für Kant die Einheit eines Etwas und einer (subjektiven) transzendentalen Spontaneität. So schreibt Kant in der Kritik der reinen Vernunft: »Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist diejenige, durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird.«283 Badiou interpretiert das gegebene Mannigfaltige ontologisch als VielheitSein, das in einem Begriff als Eins gezählt werden kann. Es ist genau diese Vereinigung bzw. diese Einheit, in der er mit Kant übereinstimmt: »[…] es ließe sich eine Definition des Objekts konstruieren, die Kant und mir gemeinsam wäre: Das Objekt ist das, was im Erscheinen als eines zählt. In dieser Eigenschaft ist es zweideutig verteilt zwischen dem Transzendental (der logischen Form seiner Konsistenz) und der ›Realität‹; diese Realität ist für Kant empirisch (die Phänomenalität, die in der Anschauung empfangen wird), und für mich ist sie das Vielheit-Sein (das Ansich, das im Denken empfangen wird).«284 Die wesentliche Gemeinsamkeit sieht Badiou zwischen Kant und ihm im Begriff der Einheit. Was jedoch jeweils unter »Transzendental« und unter »Realität« verstanden wird, unterscheide sich deutlich. Wie bereits ausgeführt, ist Badious Transzendental nicht subjektiv und sein Vielheit-Sein wird in dieser Gegenüberstellung nicht als empirische Realität, sondern als ontologische Realität begriffen. Es ist meines Erachtens nicht unmittelbar nachvollziehbar, warum der Begriff des Denkens in einer a-subjektiven Theorie eingeführt wird, da er ein denkendes Subjekt suggeriert, das für Badiou jedoch aus der Konzeption des Objekts (und überhaupt der Logik) ausgeschlossen ist. Der Grund, dass Badiou an dieser Stelle den Begriff des Denkens aufgreift, dürfte darin liegen, dass der Zugang zur Ontologie über die Mathematik (»Mathematik = Ontologie«) geschehe, die für Badiou ein Denken ist. Damit allerdings wäre sein a-subjektiver Ansatz nicht konsistent, da er nicht plausibilisieren kann, inwiefern ein Denken nicht das Denken von Subjekten meine. Entsprechend seines a-subjektiven Ansatzes lehnt Badiou Kants Anschauungs- bzw. Erfahrungsbegriff ab. Kant verwende zwei unterschiedene Erfahrungsbegriffe: Einmal handle es sich um die »mögliche Erfahrung«, das andere Mal um die »wirkliche Erfahrung«. Die erste sei für Kant Bedingung der zweiten. Das heißt, um überhaupt eine wirkliche Erfahrung machen zu können, bedürfe es der grundsätzlichen Möglichkeit der Erfahrung, der möglichen Erfahrung. Doch nur die wirkliche Erfahrung habe einen Inhalt. Die mögliche Erfahrung sei hingegen eine leere logische Form, die auf die Anschauungen angewendet werde. Badiou akzeptiert zwar den Gedanken des Möglichen, der einer Erscheinung vorausgehe. Dies sei das Transzendental, das den Erscheinungsgrad bestimme. Jedoch sei 283 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 139; Badiou zitiert diese Passage in ABLM 245 [251]. 284 ABLM 248 [253f.].

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

dieser gerade nicht inhaltsleer. Vielmehr gingen Form und Inhalt in Eins, da das Transzendental notwendig Erscheinungen impliziere, wie umgekehrt, jede Erscheinung ein Transzendental benötige. Laut Badiou sei es der Objektbegriff, in welchem Transzendental und Erscheinung bzw. Phainomenon und Noumenon »ununterscheidbar sind«. Dies sei der »Punkt der Reziprozität zwischen dem Logischen und dem Onto-logischen«.285 Diese Einheit des Logischen und Onto-logischen (bzw. Ontologischen) sei, so Badiou, das Kennzeichen seines Materialismus. Aus dem oben genannten Zitat lässt sich weiterhin schließen, dass sein ontologischer Begriff des Vielheit-Seins zwar eine »Realität« meine, diese aber nicht, wie bei Kant, empirisch verstanden werden dürfe. Was Badiou als Materialismus auffasst, werde ich in den folgenden beiden Kapiteln näher erläutern. Zunächst werde ich mich dem Begriff des »Realen« im Kontext des Objektbegriffs in Logiques des mondes nähern. Badiou hat die These aufgestellt, dass ein Objekt die Einheit einer Erscheinung und eines Vielheit-Seins sei. Insofern das Sein für Badiou in L’être et l’événement als inkonsistente Vielheit (bzw. als inkonsistente Vielheit von Vielheiten) definiert wurde, handelt es sich gemäß dieser Klärung beim Begriff des Vielheit-Seins um eine Doppelung, mit der Badiou möglicherweise Missverständnisse hinsichtlich des Seins unterbinden möchte. In ontologischer und damit mengentheoretischer Perspektive bestehe eine Vielheit aus Elementen und Teilmengen. Aus welchen Komponenten, so fragt Badiou, bestehe nun eine Erscheinung? Um diese Frage zu klären, führt Badiou den Begriff des Atoms ein.286 Er unterscheidet »Seinsatome«, »Erscheinensatome« und »reale Atome«. Einem allgemeinen Atombegriff, der eine sehr kleine Einheit eines Gegenstands bezeichnet, kommt Badious Verständnis eines »Seinsatoms« am nächsten. Dieses Atom sei »in der Ordnung des Seins […] eine Vielheit, die ein einziges Element hat und die in diesem Sinn unteilbar ist (man kann sie nicht in disjunkte Teile trennen).«287 Dabei ist zu beachten, dass sich das Seinsatom in der Ordnung des Seins und nicht in der Ordnung der Erscheinung befinde. Erst das Erscheinensatom sei in der Ordnung des Seins präsent. Es ist jedoch von Badiou deutlich anders konzipiert als das Seinsatom. Zwar handle es sich beim Erscheinensatom in gewisser Hinsicht auch um etwas, das als Eins gezählt werden könne. Es zeichne sich aber nicht durch seine Unteilbarkeit aus. Das Erscheinensatom sei nicht die kleinste Einheit einer Erscheinung, sondern sie sei die »phänomenale Komponente«, durch die eine Erscheinung als diese Erscheinung identifiziert werden könne.288 Das Erscheinensatom ist hinsichtlich der Erscheinung eines, jedoch nicht notwendigerweise numerisch eines. Wenn mehrere Komponenten einer Erscheinung auf identische Weise erscheinen, handle es sich um ein Erscheinensatom. Dieser Aspekt wird deutlicher, wenn man die Beispiele, die Badiou nennt, zur Hilfe nimmt. So könnten in

285 Ebd., 255 [261]. 286 Vgl. Végső: Worldlessness after Heidegger, 256–284. 287 »In der Ordnung des Seins nennt man Atom spontan eine Vielheit, die ein einziges Element enthält und die in diesem Sinn unteilbar ist (man kann sie nicht in disjunkte Teile trennen).« ABLM 227 [234]. Der Begriff des Seinsatoms (»atome d’être«) findet sich, wenn auch weniger prominent, bereits in L’être et l’événement, vgl. ABEE 77 [81]. 288 ABLM 227 [234].

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einem Gemälde, in dem ein römischer Tempel gemalt ist, mehrere Säulen auf gleiche Weise die Säulen des römischen Tempels repräsentieren. Jedoch treffe dies nicht auf alle Säulen zu. Die undeutlich gemalten Säulen repräsentierten nicht die Säulen des Tempels, obgleich sie Säulen des Tempels sind. Diejenigen Säulen, an denen man die Säulen des Tempels am deutlichsten erkennen kann, seien das gleiche Erscheinensatom. In einem anderen Beispiel gibt Badiou an, dass man die Gruppe der Anarchist*innen in einer Demonstration aufgrund bestimmter Merkmale erkennen könne. Genauer: Es lasse sich ein Kern ausmachen, der bestimmte Charakteristika aufweise und damit die Gruppe der Anarchist*innen erkennbar mache. Dieser Kern sei das Erscheinensatom. Er könne zwar in weitere Einheiten unterteilt werden (die einzelnen Anarchist*innen), aber diese charakterisierten nicht die Anarchist*innen als Gruppe. So verstanden, kann ein einzelnes Erscheinensatom aus mehreren ontologisch differierenden Komponenten bestehen. Badious Interesse richtet sich im Objektkapitel, wie in Logiques des mondes überhaupt, auf die Verbindung von Ontologie und Logik bzw. Sein und Erscheinen, da genau diese Verbindung seinen Materialismus charakterisiert. Die nächstkleinere Einheit zum Objekt sind die Atome und dementsprechend muss Badiou auch auf dieser Ebene die Verbindung von Sein und Erscheinen klären. Diese Verbindung findet er im sogenannten »realen Atom«. Das reale Atom ist eine Komponente eines Erscheinensatoms, das exakt einem Seinsatom zugewiesen werden kann. »Am Punkt eines realen Atoms verbinden sich Sein und Erscheinen im Zeichen des Einen.«289 Dieser Punkt des realen Atoms ist die kleinste Verbindungseinheit zwischen der Ordnung des Seins und der Ordnung der Erscheinung. Die Verbindung müsse, so Badiou, als Postulat290 formuliert werden: »Jedes Atom ist real.« Dieses Postulat legt fest, dass jedes Erscheinen ontologisch gedeckt ist.291 Vor dem Hintergrund der Differenzierung des Atombegriffs und dem ersten Postulat des Materialismus kann Badiou nun den Objektbegriff in seiner logischen und ontologischen, das heißt in seiner onto-logischen, Dimension näher bestimmen: »Wenn eine Welt gegeben ist, dann nennen wir Objekt der Welt das Paar aus einer Vielheit und einer transzendentalen Indexierung dieser Vielheit, unter der Bedingung, dass alle Erscheinensatome, deren Referenzsystem die betreffende Vielheit ist, reale Atome dieser referenziellen Vielheit sind.«292 Ein Objekt sei demnach nicht bloß die allgemeine Einheit einer Erscheinung und eines Daseins, sondern die spezifische Einheit der realen Atome, die wiederum eine Verbindung von Seinsatomen und Erscheinensatomen seien. Auf diese Weise beansprucht Badiou, aufzeigen zu können, dass es in der Unendlichkeit der Welten durchaus Einsen (als Eins-Zählungen) gebe und diese Einsen nicht nur virtuelle bzw. idealistische Resultate, sondern ontologisch gedeckte Gegenstände seien. Die Verknüpfung von Seinsatomen und Erscheinensatomen ist auch mit dem Anspruch

289 Ebd., 265 [271]. 290 Es handelt sich um eines von zwei Postulaten. Das zweite Postulat des Materialismus lautet: »Jede Welt, die ontologisch geschlossen ist, ist auch logisch vollständig.« Ebd., 104 [114]. 291 »Es bestimmt, dass es immer die aktuale ontologische Zusammensetzung eines Erscheinenden ist, in der die Virtualität seines Erscheinens in dieser oder jener Welt wurzelt.« Ebd., 265 [271]. Hervorhebung im Original. 292 Ebd., 233 [240].

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

verbunden, ohne ein erkennendes und synthetisierendes Subjekt (wie bei Kant) auskommen zu können. Dennoch bleibt die Frage bestehen, für wen etwas als etwas erscheint. Und weiter: Was bedeutet eine ontologische Verwurzelung einer Erscheinung, die keine empirische, sondern letztlich eine denkerische Dimension, sein soll? Ist der Name »Materialismus« für eine solche Position adäquat?

2.3.4 Materialismus versus Materialismus: Elemente einer materialistischen Dialektik Badious philosophische Anfänge waren deutlich vom Marxismus geprägt. In seiner maoistischen Phase, den sogenannten roten Jahren der 1970er, verfasste er mehrere Studien zum »dialektischen« und zum »historischen Materialismus«. Sein Anliegen war es, einen Dialektikbegriff zu entwickeln, der die empfundene Starrheit des damaligen Marxismus aufbrechen könne. Neben der marxistischen Marxismuskritik richteten sich seine deutlich positionierten Schriften gleichermaßen gegen die »nouveaux philosophes« – die »neuen Philosophen«, die sich von den politischen Aufbrüchen nach 1968 abgewandt hatten. Mit L’être et l’événement schien293 sich nun Badiou selbst von »der« Dialektik und »dem« Materialismus entfernt zu haben. Er wiederholt Grundgedanken aus Théorie du sujet hinsichtlich des Materialismusbegriffs und ersetzt die Dialektik durch eine axiomatisierte Ontologie. In Logiques des mondes treten die Begriffe »Materialismus« und »Dialektik« wieder prominent auf. Das umfangreiche Vorwort beginnt mit der Überschrift »Demokratischer Materialismus und materialistische Dialektik«294 , wobei inhaltlich das verbindende ›und‹ durch ein ›versus‹ ersetzt wird. Badiou positioniert eine »materialistische Dialektik« gegen einen »demokratischen Materialismus« und stellt damit zwei Materialismen gegenüber. Bevor ich auf diese beiden Materialismen eingehe, möchte ich auf die Eigenart dieser Gegenüberstellung hinweisen. Die typische – marxistische – Unterscheidung geschieht in der Regel zwischen einem Materialismus und einem Idealismus.295 Das, was jeweils eine materialistische und eine idealistische Position beinhalte, kann in verschiedenen Gegenüberstellungen deutlich variieren. Im Marxismus ist auch eine zweite Unterscheidung bekannt, die allerdings auf die erste zurückführt. Es ist die Unterscheidung zwischen zwei Materialismen, in der dem einen (vermeintlich) nachgewiesen wird, eigentlich ein Idealismus zu sein. Der eine wahre materialistische Materialismus

293 Bruno Bosteels beansprucht textimmanent die Kontinuität des dialektischen Denkens in L’être et l’événement nachgewiesen zu haben. Wenigstens an der Textoberfläche ist jedoch eine deutliche Reduktion der Dialektik und des Materialismus wahrzunehmen. Ich diskutiere Badious Dialektikbegriff in Kapitel 3.4. Vgl. Bosteels: Badiou and Politics. 294 ABLM 9–17 [17-25]. 295 Marx und der Marxismus kennen natürlich auch die Unterscheidung unterschiedlicher Materialismen. So grenzt Marx in den Thesen über Feuerbach seinen eigenen Materialismus gegen einen »bisherigen«, »alten«, »anschauenden« Materialismus, zu dem er besonders denjenigen Feuerbachs zählt, ab. In Marx: Thesen über Feuerbach, 5–7. Die politische Brisanz (einschließlich der wissenschaftspolitischen) tritt jedoch vor allem mit der Unterscheidung von Materialismus und Idealismus auf.

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müsse sich also von einem Idealismus und/oder einem als Materialismus getarnten Idealismus abgrenzen. Lässt sich die Gegenüberstellung eines demokratischen Materialismus und einer materialistischen Dialektik in Logiques des mondes in eines dieser Schemata zurückführen? Frank Ruda stellt die These auf, dass Badiou zwei Materialismen unterscheiden müsse, da gegenwärtig kein Idealismus mehr zur Verfügung stehe, denn, so konstatiert er: »God is dead and idealism died on the very same day.«296 Die heutige Zeit sei deshalb gleichermaßen eine nach dem »Tode des Idealismus« wie nach dem »Tode Gottes«. Für Ruda ist diese These nicht nur »self-evident«, sondern auch »historically been proven by Georg Cantor among others«.297 Ruda führt aufgrund der angenommen Evidenz die Begründung für diese These nicht aus, sondern verweist auf die Erkenntnisse der Mengenlehre, insbesondere auf das russellsche Paradoxon der Menge aller Mengen. Entscheidend ist allerdings die Konsequenz, die er aus dem »Tode des Idealismus« zieht: »If idealism becomes impossible, the only viable and thinkable option is materialism, and if materialism still has the status of being an ›ideological atmosphere‹ (BloW, 11), one could assume at first sight that the repetition of the distinction of idealism and materialism inside materialism brings forth an idealistic materialism, a ›bad one‹, and a ›good and proper‹ materialist materialism.«298 Ruda schließt aus der Unmöglichkeit des Idealismus, dass nur noch eine materialistische Option möglich sei. Doch aus einem nicht näher erläuterten Grund gebe es dennoch das Bedürfnis der Unterscheidung bzw. der Abgrenzung, mit der diese Unterscheidung – so die spontane Annahme, die Ruda nicht teilt – in den Materialismus hinein verlegt werde. So wäre die Abgrenzung die eines guten und materialistischen von einem schlechten und idealistischen Materialismus. Doch Ruda und Badiou schlagen einen anderen – und vor dem Hintergrund von Badious roten Jahren, einen unerwarteten – Weg ein, insofern die Position der materialistischen Dialektik derjenigen des demokratischen Materialismus kein Zuviel an Idealismus vorwirft, sondern ein Zuwenig: »Therefore I will contend that democratic materialism can be understood as being a materialism without idea, a materialism without idealism, and that true philosophical enterprise rather needs to be conceived of as what I call an idealism without idealism. […] So I take Badiou to be a peculiar kind of idealist and I will demonstrate that – maybe paradoxically – such a type of idealism provides the coordinates for what one then might

296 Mit dieser These beginnt Ruda seine instruktive Studie For Badiou, das weniger als Einführung, denn als konstruktive Interpretation von Badious und Darstellung seiner eigenen Philosophie, die sehr eng an Badiou (und Žižek) ausgerichtet ist, gelesen werden kann. Ruda: For Badiou, 11. 297 Ebd. Cantor selbst war allerdings nicht der Auffassung, mit seiner Theorie der aktualen Unendlichkeiten Gott »getötet« zu haben, sondern sah im Gegenteil im infinitum absolutum die Wirklichkeit Gottes bestätigt. Inwiefern (und ob überhaupt) diese These Rudas »bewiesen« sein soll, ist eines der zentralen Anliegen meiner Studie. 298 Ebd., 12. Hervorhebung im Original.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

justifiably refer to as a contemporary version of materialism (with emphasis on both, the contemporaneity and on materialism).«299 Der Position des demokratischen Materialismus wird wider Erwarten die Abwesenheit eines Idealismus bzw. die Abwesenheit von sogenannten Ideen vorgeworfen. Der Idealismus werde hingegen von einer zeitgenössischen Version des Materialismus, mit der Ruda Badious materialistische Dialektik meint, geliefert. Ruda interpretiert Badiou sogar unmittelbar als »Idealisten« und seine Philosophie als einen »Idealismus ohne Idealismus«. Die Einschränkung »ohne Idealismus« dürfte anzeigen, dass es sich um eine besondere Form von Idealismus handle; vielleicht um eine Position, die eine Schnittmenge von Idealismus und Materialismus behaupte. Eine solche Formulierung – »Idealismus ohne Idealismus« – findet sich bei Badiou nicht, aber meines Erachtens hilft sie in einem ersten Schritt, um sich seiner materialistischen Dialektik zu nähern. Ich greife die Uneindeutigkeit dieser Formulierung an dieser Stelle auf, um anzuzeigen, dass es keine Kontinuität der Begriffe Materialismus und Dialektik von Badious maoistischer Phase zu Logiques des mondes gibt. In Théorie du sujet konnte Badiou die Dialektik noch in dem maoistischen Slogan »Eins teilt sich in zwei« ausdrücken. Die so konzipierte Dialektik war keine Vermittlung oder Selbstbewegung von Widersprüchen, sondern ein Prinzip der Teilung, das keine Einheit mehr zulasse. Der Materialismusbegriff ging von einer Materie aus, die sich nicht als Totalität fassen lasse. Vor dem Hintergrund dieser Vorüberlegungen widme ich mich im Folgenden den Fragen: Was versteht Badiou in Logiques des mondes unter einem demokratischen Materialismus und einer materialistischen Dialektik? Badiou erörtert zu Beginn des Buches die Frage nach dem, was »wir« heute denken. Dieser Einstieg ließe sich zunächst als eine Diagnose eines gegenwärtigen – das Buch wurde 2006 veröffentlicht – ›commen sense‹ interpretieren. Was sei die herrschende Meinung? Oder in den Worten Badious: »[W]orin besteht unser (mein) natürlicher Glaube?«300 Seine Antwort schließt sich unmittelbar an: »Heute konzentriert sich der natürliche Glaube in einer einzigen Aussage: Es gibt nur Körper und Sprachen.«301 Diese Aussage sei als Axiom der gegenwärtigen Überzeugung zu verstehen und Badiou tauft diese Überzeugung den »demokratischen Materialismus«302 . Badiou stellt den Begriff des Körpers dem der nicht substanziellen »Dinge«, z.B. einer unsterblichen Seele, gegenüber. Der Körper erhält auf diese Weise die Bedeutung des Physischen, des Materiellen im Unterschied zum Nicht-Materiellen, MetaPhysischen. In diesem Sinne steht das Körperliche für einen Materialismus. Die zentrale Eigenschaft eines so verstandenen Körpers sei seine Endlichkeit. Alles Körperliche (Physische, Materielle) werde im gegenwärtigen Glauben als endlich aufgefasst. Meines Erachtens ist die Formulierung, dass es nur Körper und Sprachen gibt, ungewöhnlich. Liest man sie vor dem Hintergrund klassischer metaphysischer Überlegungen zum Leib299 Ruda: For Badiou, 12, Hervorhebung im Original. Ruda ergänzt an anderer Stelle: »I am thus not ultimately suggesting that Badiou simply returns to idealism but rather that his work can nonetheless be understood as an attempt to renew idealism.« Ruda: For Badiou, 26. Hervorhebung im Original. 300 ABLM 9 [17]. 301 Ebd. Hervorhebung im Original. 302 Ebd. 9–17 [17-25].

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Seele-303 oder Schöpfer-Geschöpf-Verhältnis, erlangt Badious Begriffswahl jedoch wenigstens grundsätzlich Plausibilität. Gleichzeitig gibt Badiou dem Körperbegriff auch die Bedeutung des Individuellen und des Lebens. Das Individuelle und das Leben begreift Badiou allerdings in diesem Zusammenhang durchweg pejorativ, denn es handle sich dabei nur um die Animalität, die ein gegenwärtiges Verständnis eines lebendigen Körpers meine. In diesem Sinn sei der demokratische Materialismus auch ein Materialismus des Lebens, ein »Biomaterialismus«304 . Der Begriff der Sprachen ist meines Erachtens weniger eindeutig als der der Körper. Badiou geht es vor allem um die Pluralität der Sprachen und weniger um Sprache als Kommunikation oder Sinn- bzw. Bedeutungspraxis.305 Die Pluralität der Sprachen sei, so Badiou, im gegenwärtigen natürlichen Glauben, mit der Vorstellung der allgemeinen juridischen Gleichheit verbunden. Hier wird der Begriff des Demokratischen eingeführt. Der geläufigere Begriff für das Phänomen, das Badiou beschreibt, dürfte ›Pluralismus‹ oder ›Kulturalismus‹ sein. Auch der Begriff der Sprachen wird von Badiou pejorativ verwendet. Der zentrale Grund für seine Ablehnung dieser beiden Begriffe liege in ihren Widersprüchen, denn sobald eine Sprache die Pluralität verletze, werde die zuvor behauptete plurale Toleranz aufgegeben: »Man wird die Körper für ihre Sprachabweichungen zahlen lassen.«306 Badiou spielt auf Maßnahmen wie den »Krieg gegen den Terror« an, mit dem militärische Interventionen, extralegale Gefängnisse oder Folter im Namen der Menschenrechte durchgeführt wurden. Das von Badiou formulierte Axiom des gegenwärtigen (2006) natürlichen Glaubens, dass es nur Körper und Sprachen gebe, lässt sich folglich so interpretieren, dass nur an Materielles statt Ideelles, sowie an einen Pluralismus/Kulturalismus, der sich seiner immanenten Widersprüche und Grenzen nicht bewusst sei, geglaubt werde. Darin besteht die Bedeutung des »demokratischen Materialismus«. Weder das Demokratische noch der Materialismus sind in diesem Zusammenhang mit positiven Bedeutungen besetzt. Ruda hatte angekündigt, Badiou als einen »peculiar kind of idealist« zu interpretieren. Badious Gegenwartsdiagnose ist tatsächlich begrifflich so angelegt, dass dem Materiellen das Ideelle/Geistige und dem Pluralismus die Souveränität einer objektiven Wahrheit entgegengestellt werden könnte. Vor diesem Hintergrund wäre ein Gegenbegriff zum demokratischen Materialismus »›aristokratischer Idealismus‹«307 , wie Badiou selbst formuliert. Doch er beansprucht, diesen Weg nicht einzuschlagen308 , indem er dem demokratischen Materialismus eine materialistische Dialektik entgegensetzt. Den Begriff der Dialektik entnimmt er in Logiques des mondes nicht mehr von Mao oder Lenin, sondern direkt von Hegel: »Nehmen wir an, unter ›Dialektik‹ versteht man, in gerader Linie auf Hegel zurückgehend, dass das Wesen jeder Differenz der dritte Begriff ist,

303 Das französische Wort »corps« (wie auch das lateinische »corpus«), das Badiou hier verwendet, impliziert die Bedeutung der deutschen Wörter »Körper« sowie »Leib«. 304 Ebd., 10 [18]. 305 Insofern sich Badiou in der Regel gegen einen »Konstruktivismus« und den »linguistic turn« wendet, wäre auch an dieser Stelle eine solche Interpretation zu erwarten gewesen. 306 Ebd., 11 [18]. 307 Ebd. 11 [19]. 308 Ob es Badiou gelingt, einen aristokratischen Idealismus zu vermeiden, halte ich für fraglich.

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der den Abstand von zwei anderen markiert.«309 Auch Mao und Lenin haben ihren Dialektikbegriff in Auseinandersetzung mit Hegel entwickelt. Wichtig ist an dieser Stelle meines Erachtens Badious Formulierung »in gerader Linie«, da typischerweise im Marxismus (bzw. der Marxrezeption) der Begriff der Dialektik in der Linie von Hegel über Marx entfaltet wird. Marx sei derjenige, der die Dialektik Hegels von einer idealistischen in eine materialistische »umstülpt«310 , wie Marx im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital schreibt. Wenn Badiou von der geraden Linie spricht, formuliert er an dieser Stelle keinen ›materialistischen Vorbehalt‹ gegenüber Hegel.311 Auffällig ist auch an dem Zitat die Form, die Badiou der Dialektik gibt. Es geht nicht mehr, wie noch in Théorie du sujet, um die Teilung oder Spaltung, die keine Versöhnung kenne, sondern um den dritten Begriff eines Widerspruchs bzw. einer Differenz. Badiou zielt jedoch mit dem dritten Begriff gerade nicht auf eine höherstufige Kategorie, wie es bei Hegel beispielsweise die Kategorie der wahren Unendlichkeit hinsichtlich der sich gegenseitig ausschließenden Kategorien der Endlichkeit und der Unendlichkeit sei. Die wahre Unendlichkeit wäre bei Hegel die Aufhebung der beiden anderen Kategorien. Badiou hingegen interpretiert Hegels dritten Begriff als eine »Ergänzung«312 . So wendet er seine Dialektik auf das Axiom des demokratischen Materialismus an: »Es gibt nur Körper und Sprachen, außer dass es Wahrheiten gibt.«313 Es ist das »außer das«, das den dritten Begriff »Wahrheiten« ermögliche. Der Unterschied zu Hegel ist offensichtlich, da »Wahrheit« keine höherstufige Kategorie gegenüber Körper und Sprachen, sondern deren Ausnahme sei. Der Form nach ist die Aussage für Badiou dennoch durch den Rückgriff auf Hegel gedeckt. Inhaltlich – dass es Wahrheiten gebe, die nicht Körper und Sprachen seien – sei diese Aussage gerechtfertigt, da es der »empirischen Evidenz«314 nach, solche Wahrheiten gebe: »Es gibt keinerlei Zweifel hinsichtlich der Existenz von Wahrheiten, welche weder Körper noch Sprachen noch Kombinationen aus beidem sind.«315 Badiou nennt folglich kein Argument, warum es so definierte Wahrheiten gebe, sondern beruft sich auf eine unmittelbare Plausibilität. Doch, obwohl diese Wahrheiten nicht aus Körpern und Sprachen konstruiert seien, stammten sie nicht aus irgendeinem transzendenten Bereich, sondern müssten als Ergänzungen zu den bestehenden Welten aufgefasst werden. Das lasse die Wahrheiten als materialistisch charakterisieren. Badious materialistische Dialektik zeichnet sich also dadurch aus, dass sie zu einer angenommen Vollständigkeit eine Ausnahme, die gleichzeitig eine Ergänzung zum Gegebenen sei, formuliert.316 Badiou betont, dass die Ergänzung nicht ohne die Bedeutung der Ausnahme wie

309 ABLM 12 [20]. 310 »Sie [die Dialektik, P.A.] steht bei ihm [Hegel, P.A.] auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.« Marx: Das Kapital, 27. 311 Auch wenn Badiou schon seit seiner maoistischen Phase Hegel als Materialisten bzw. die Wissenschaft der Logik als materialistisches Werk interpretiert hat, stand in der Regel Mao und/oder Lenin für seine Hegelauslegung Pate. 312 »Die Drei ergänzt die Realität der Zwei.« ABLM 12 [20]. 313 Ebd., 12 [20], Hervorhebung im Original. 314 Ebd. 315 Ebd. 316 »Diese Wahrheiten sind körperlose Körper, sinnentblößte Sprachen, generische Unendlichkeiten, bedingungslose Ergänzungen.« Ebd.

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umgekehrt, die Ausnahme nicht ohne die Bedeutung der Ergänzung, verstanden werden darf. Auf diese Weise ließen sich Wahrheiten begreifen als »›es gibt das, was es nicht gibt‹«317 . Was Badiou inhaltlich unter Wahrheiten versteht, werde ich im folgenden Kapitel erläutern. Die Tatsache, dass Badiou dem demokratischen Materialismus ein ›zu viel‹ an Materialismus bzw. ein ›zu wenig‹ an Idealismus vorwirft und stattdessen eine materialistische Dialektik, die sich durch den Rückgriff auf Wahrheiten und Ausnahmen, zu dem, was es gibt, entwickelt, lässt ihn im Sinne Rudas als einen »peculiar kind of idealist« interpretieren.318 Das Wort »peculiar« weist aber zu Recht darauf hin, dass es sich nicht um einen eindeutigen Idealismus handelt, da Badiou die »Materialität« seiner materialistischen Dialektik betont. Die materialistische Dialektik soll sich nicht aus irgendeinem transzendenten Bereich speisen, sondern absolut ›diesseitig‹ bleiben. Inwiefern der Begriff der materialistischen Dialektik von Badiou passend gewählt oder irreführend ist, diskutiere ich in Kapitel 3.4.

2.3.5 Unendliche Wahrheiten Das Axiom der materialistischen Dialektik, dass es außer Körper und Sprachen nur Wahrheiten gebe, gibt nicht nur eine besondere Form – die der Ausnahme durch einen dritten Begriff – an, sondern nennt auch einen ihr spezifischen Inhalt: die Wahrheiten. Badiou konzipiert die Wahrheiten als ergänzende Ausnahmen bzw. als exzeptionelle Ergänzungen einer gegebenen Welt. Doch das besondere Charakteristikum einer solchen Wahrheit sei ihre – von Badiou angenommene – Unendlichkeit, mit der sie der Endlichkeitsorientierung des demokratischen Materialismus entgegenstehe.319 Als unendliche nehmen die Wahrheiten eine zweifache Position zu einem (menschlichen) Subjekt ein. Einerseits hebt Badiou hervor, dass eine Wahrheit geschaffen, andererseits nicht an menschliche Grenzen gebunden sei. Der Gedanke ist, dass Menschen als Subjekte an einer geschaffenen Wahrheit teilhaben können. Genauer müsste man sagen, dass sich Menschen in ein (Kollektiv-)Subjekt, das eine Wahrheit transportiert, inkorporieren können. Badiou formuliert: »Wenn ein Körper sich als fähig erweist, Wirkungen zu produzieren, die über das System Körper-Sprachen hinausgehen (und solche Wirkungen heißen Wahrheiten), dann sagt man von diesem Körper, dass er subjektiviert ist.«320 Ein Subjekt ist dementsprechend nicht als Erkenntnis- oder Erfahrungssubjekt aufgefasst, sondern als tätiges und grundsätzlich kollektives. Vor einer Subjektivierung handle es sich bloß um einen oder mehrere Körper. Wie lässt sich nun verstehen, dass eine Wahrheit einerseits von einem Körper geschaffen wurde und andererseits über

317 318

Ebd., 13 [21]. Badiou setzt diese Aussage selbst in Anführungszeichen. Ruda scheint in diesem Zusammenhang die Dialektik selbst als Kennzeichen des Idealismus zu charakterisieren. Damit wäre bereits ein Rückgriff auf die Dialektik die Hinwendung zum Idealismus: »This means materialist thought has to avoid getting rid of dialectic. Materialism and dialectics have to be thought together, otherwise vulgar materialism prevails.« Ruda: For Marx, 27. 319 »Allgemein stellt die materialistische Dialektik dem Prinzip der Endlichkeit, das aus den demokratischen Maximen ableitbar ist, die reale Unendlichkeit der Wahrheiten entgegen.« ABLM 15 [23]. 320 Ebd., 53 [63].

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

diesen Körper hinausgeht? Im Vorwort von Logiques des mondes nennt Badiou vier Beispiele, an denen er didaktisch zeigt, wie eine Wahrheit funktioniert. Es handelt sich um Beispiele der Mathematik, der Kunst, der Politik und der Liebe zweier Menschen. So betrachtet er im Falle der Kunst vier Bilder, in denen Pferde im Zentrum stehen. Die Bilder sind in einem Zeitraum von dreißigtausend Jahren entstanden. Die ersten beiden stammen aus der Grotte von Chauvet in Frankreich, die letzten beiden von Picasso aus den Jahren 1929 und 1939. Beide Bilderpaare unterscheiden sich deutlich hinsichtlich der Darstellung der Pferde und Badiou weist darauf hin, dass »Pferde« in beiden Paaren nicht dasselbe bedeutet. Sie gehören »essenziell zu verschiedenen Welten«321 . Sein zentraler Punkt ist aber, dass trotz der großen Unterschiede in der Darstellung und bezüglich des Sinns, beide Bilderpaare eine Gemeinsamkeit bzw. eine Invarianz aufweisen, nämlich die Idee des Pferdes. Das Verhältnis des Bildes und der Idee bestehe jedoch nicht darin, dass das Bild der sinnliche Ausdruck der Idee »Pferd« sei, sondern dass die Idee »Pferd« mit der Herstellung der Bilder aus der Grotte von Chauvet geschaffen wurde. Badiou schließt aus der Tatsache, dass diese geschaffene Idee des Pferdes immer wieder neu in unterschiedlichen Welten aufgerufen werden konnte und dass es sich deshalb um eine »ewige Wahrheit« handeln müsse.322 Das, was das Wahre in diesem Zusammenhang auszeichne, ist, dass es überzeitlich323 und nicht an eine bestimmte Welt gebunden sei. Das impliziert einerseits, dass bestimmte Handlungen Wahrheiten hervorbringen können (die Intention spielt dabei keine Rolle), andererseits, dass Wahrheiten durch bestimmte Handlungen aufgegriffen und neu kontextualisiert werden können. Die anderen drei Beispiele der Mathematik, der Politik und der Liebe kommen zum gleichen Schluss. Badiou geht davon aus, dass die Existenz der ewigen Wahrheiten eine »zeitlose Metageschichte«324 konstruieren. Im Hinblick auf die ergänzende Ausnahme ließe sich sagen, dass eine Wahrheit zwar in einer Welt durch bestimmte Handlungen geschaffen und/oder reaktualisiert werde, diese Welt aber auch übersteige bzw. überdauere. Darin bestehe ihr Charakter der Ausnahme. Warum Badiou dieses Phänomen von Ähnlichkeiten »Wahrheiten« nennt, bleibt in Logiques des mondes offen. Dieser Schritt ermöglicht Badiou jedoch dem demokratischen Materialismus mit dem Begriff der Wahrheit eine autoritative Figur entgegenzusetzen. Der Begriff des Körpers im demokratischen Materialismus war durchweg negativ konnotiert, insofern er letztendlich nur auf das auf Animalität reduzierte Leben rekurriere. Die materialistische Dialektik lässt die Begriffe Körper und Sprachen nicht fallen, sie müssen aber eine neue Bedeutung erhalten. Die Wahrheiten sollen anzeigen, dass ein Leben im Hinblick auf diese möglich sei. Ein lebendiger Körper, der sich ohne Wahrheit

321 Ebd., 27 [35]. 322 Ebd. 28f. [36]. 323 Christopher Watkin interpretiert diese ewigen Wahrheiten als »trans-temporality«. »Badiou’s ›eternity‹ might better be rendered ›trans-temporality‹, for a truth can operate at different moments in history without having to reside in an otherworldly world of Ideas.« Watkin dürfte mit dieser Interpretation den Fokus darauf legen, dass die Ewigkeit nicht als zeitliches Kontinuum aufgefasst werden soll. Watkin: Difficult Atheism, 70. 324 ABLM 17 [25].

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nur durch seine Animalität auszeichne, solle sich in ein Subjekt, das eine Wahrheit trage, inkorporieren (können). Badious Formulierungen haben durchaus appellativen Charakter: Lebe mit einer Wahrheit oder lebe als »menschliches Tier«325 . Die Begriffe der Wahrheit, des Ewigen und der Teilhabe suggerieren eine Erhabenheit326 , die einem Individuum, dem »menschlichen Tier« gegenübertritt. Eine so konzipierte Wahrheit ist jedoch tendenziell einer kritischen Überprüfung entzogen bzw. die Kriterien sind auf den Aspekt des Ewigen (ein letztendlich nie einlösbares Kriterium) beschränkt. Ist das Kriterium der Ewigkeit ausreichend oder überhaupt adäquat? Über diese suggerierte Erhabenheit ist meines Erachtens die Möglichkeit, Leben zu hierarchisieren deutlich gegeben. Insofern Badiou den Begriff des Lebens in der materialistischen Dialektik an den einer ewigen Wahrheit knüpft, wird faktisch anderes Leben abgewertet. Der vielleicht heroisch klingende Satz, »Für eine materialistische Dialektik sind ›leben‹ und ›für eine Idee leben‹ ein und dasselbe.«327 , aus der Konklusion von Logiques des mondes, führt in der Konsequenz eine scharfe Trennung zwischen unterschiedlichen Leben ein und übersieht nicht zuletzt, dass das ›bloße‹ Leben Bedingung für ein Leben mit einer Wahrheit bzw. einer Idee ist. Für eine Verknüpfung von Ewigkeit und einer solchen Hierarchisierung von Leben ist meines Erachtens nicht der Begriff einer materialistischen Dialektik, sondern der eines aristokratischen Idealismus treffend.328

2.4 Die Renaissance der Totalität – L’Immanence des vérités (2018) Badious Philosophie ist eine wesentlich systematische329 , die sich durch die Definition und Deduktion von Begriffen auszeichnet. Begriffe werden weder dekonstruktiv »gelockert« (Derrida), noch in Konstellationen gefügt (Adorno), sondern eindeutig bestimmt und in ein grundsätzlich eindeutiges Verhältnis zueinander gestellt. Korrespondierend zu der systematischen Begriffsentwicklung sind auch die drei Bände der Reihe L’être et l’événement aufeinander bezogen. Aufgrund der Systematik kann Badiou auch mit seinem dritten Band L’Immanence des vérités – Die Immanenz der Wahrheiten – den inhaltlichen Abschluss dieser Reihe und seines gesamten Werks konstatieren. So formuliert Badiou in einem Interview mit Fabien Tarby 2010 das Wesen der Philosophie und das Verhältnis seines Werks dazu: »Die Philosophie ist folglich drei Dinge. Sie ist eine Diagnose der Epoche: Was bietet die Epoche? Ausgehend von dieser zeitgenössischen Äußerung, ist sie eine Konstruktion eines Wahrheitsbegriffs. Schließlich ist sie eine existenzielle Erfahrung in Bezug

325 Ebd., 10 [18]. 326 Ich lehne den Begriff des Erhabenen und seine Kritik Hindrichs Diskussion zu Kant und Adorno an. Vgl. Hindrichs, Gunnar: Zur kritischen Theorie, Berlin 2020, 151–180, hier 167f. 327 ABLM 532 [538]. 328 Ebd., 11 [18]. 329 Badiou sagt in einem Interview mit Fabien Tarby von 2010: »Meine Philosophie ist systematisch, behauptet aber nicht, alle Probleme gelöst zu haben.« Badiou, Alain/Tarby, Fabien: Die Philosophie und das Ereignis. Mit einer kurzen Einführung in die Philosophie Alain Badious, Wien/Berlin 2012, 127.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

auf das wahre Leben. Die Einheit dieser Drei ist die Philosophie. Zu einem gegebenen Zeitpunkt ist die Philosophie aber eine Philosophie. Wenn ich die Die Immanenz der Wahrheiten geschrieben haben werde und so die zeitgenössische Einheit der drei Komponenten der gesamten Philosophie sichergestellt haben werde, werde ich sagen können: Die Philosophie bin ich.«330 Badiou definiert an dieser Stelle die Philosophie als Einheit dreier Aspekte: 1. Eine Diagnose der Epoche; man könnte vielleicht auch von einer Gegenwartsdiagnose sprechen. In Logiques des mondes beispielsweise diagnostiziert Badiou der Gegenwart einen demokratischen Materialismus, der Wahrheiten ablehne. 2. Die Konstruktion eines Wahrheitsbegriffs: Das heißt, wie kann angesichts der herrschenden Weltinterpretationen von Wahrheit gesprochen werden? Badiou hat dabei jedoch nicht nur ein negativkritisches Verhältnis zur »Epoche« im Blick, sondern auch ein affirmatives: Welche theoretischen oder auch praktischen Möglichkeiten bietet eine Epoche, um adäquat von Wahrheiten sprechen zu können? 3. Der Zusammenhang von Wahrheiten und dem individuellen Leben: Mit L’Immanence des vérités sieht Badiou dieses Programm erfolgreich vollendet. Auf Badious Verständnis von Philosophie331 bin ich bereits in der Einleitung dieses Kapitels eingegangen. Hier möchte ich deshalb nicht diskutieren, ob oder inwiefern seine Definition der Philosophie plausibel ist, sondern ich möchte auf den systematischen Charakter seiner Philosophie hinweisen. Während und nach der Abfassung von L’Immanence des vérités hat Badiou an verschiedenen Stellen seine gesamte Trilogie L’être et l’événement aus der Perspektive dieses dritten Buches rekapituliert.332 Wie interpretiert Badiou vor dem Hintergrund von L’Immanence des vérités die beiden anderen Bücher? »I could summarize my trajectory as follows: my first book is about universality, but I challenged universality with the claim that singularity exists, and I wrote the second book about singularity. But if there are singularities that are completely different, how can universality exist? So I wrote the third book about something that is true universality; that is, not only universal but absolute.«333 Badiou gibt in dieser Zusammenfassung für L’être et l’événement – sein erstes Buch – die Kategorie der Universalität und für Logiques des mondes die der Singularität als zentrale an. Meines Erachtens ergibt sich diese Interpretation nur vor dem Hintergrund von L’Immanence des vérités, denn zunächst widmet er seine erste Abhandlung der Entfaltung einer Ontologie als Wissenschaft vom Sein als Sein sowie der Grenze dieses Seins, die im Ereignis liege. Das zweite Buch wiederum ist vor allem eine Phänomenologie, die

330 Ebd., 145. Hervorhebung im Original. 331 Ich möchte lediglich daran erinnern, dass Badiou die Frage, was Philosophie bzw. was ihre Aufgabe sei, immer wieder aufruft und unterschiedliche Antworten gibt. 332 Vgl. die Introduction générale in ABIV, 11–47; On The Immanence of Truths, in: Badiou, Alain: Sometimes, we are eternal, hgg. von Jana Ndiaye Berankova/Norma Hussey, Lyon 2019, 137–156; Ontologie et mathématiques: Théorie des Ensembles, théorie des Catégories, et théorie des Infinis, dans L’Être et l’événement, Logiques des mondes et L’Immanence des vérités, in: Filozofski vestnik, 2020/2, 15–34; Badiou: Bedingungen und Unendlichkeit. 333 Badiou: On The Immanence of Truths, 144.

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sich mit der Erscheinungsweise von Objekten sowie der Veränderbarkeit dieser Erscheinungsweisen befasst. Inwiefern ist es plausibel, die Universalität und die Singularität hervorzuheben? Nimmt man den Begriff der Wahrheit zur Orientierung, dann lässt sich die Ereignistheorie aus L’être et l’événement tatsächlich als Ansatz der Entfaltung universaler Wahrheiten begreifen, insofern ein Ereignis immer universalen Charakter habe und grundsätzlich ›für alle‹ Geltung beanspruche. Entsprechendes gilt für Logiques des mondes. Mit der Etablierung eines pluralen Weltverständnisses und den Erscheinungsweisen einzelner Objekte ermöglicht Badiou, Wahrheiten in ihrer jeweiligen Singularität zu denken. In L’Immanence des vérités kommt Badiou auf die Kategorie der Universalität zurück. Doch mit der Einführung der pluralen Welten und der Bereichslogiken ist Badiou mit der Relativierung der Universalität konfrontiert. Wie lassen sich angesichts einer Weltenpluralität universale Wahrheiten behaupten? Darüber hinaus sieht sich Badiou auch ›von außen‹ mit der Kritik am universalen Denken konfrontiert, weshalb er sich fragt: »Yet, how can I save universality from this terrible accusation of being a form of intellectual imperialism?«334 Dazu führt er eine diffizile Abhandlung über den Begriff des Absoluten durch. Aus theologischer Perspektive ist L’Immanence des vérités von sehr großer Bedeutung, da Badiou wie in keiner anderen Schrift sein Verhältnis zur Theologie, seine Gottesbegriffe und sein Programm der Enttheologisierung anhand der Begriffe des Absoluten und des Unendlichen explizit thematisiert. Um mich seiner Auseinandersetzung mit der Theologie (in 2.4.4) anzunähern, werde ich mich zuerst seinen Endlichkeitsbegriffen (2.4.2) und seinen Unendlichkeitsbegriffen (2.4.3) widmen. Diese drei Kapitel werde ich durch eine kurze Diskussion über die Methode in L’Immanence des vérités (2.4.1) sowie eine zum Begriff des Absoluten (2.4.5) rahmen. In meiner Rekonstruktion der absoluten Ontologie in L’Immanence des vérités komme ich zu dem Ergebnis, dass Badious Satz »Das Eine ist nicht« bzw. »Das Ganze ist inexistent« nicht mehr eindeutig haltbar ist. Vielmehr, so meine These, legt Badiou gegen seine eigene Intention im Begriff einer absoluten Ontologie eine Begründung für das Denken des Einen und damit für einen bestimmten Gottesbegriff vor. L’Immanence des vérités ist damit nicht nur aus theologischer, sondern auch aus philosophischer Perspektive von Interesse. Denn anhand dieses Werks lässt sich meines Erachtens zeigen, dass der Weg, den »Tode Gottes« über die Infragestellung des Einen zu nehmen, schwerwiegende Widersprüche impliziert. Die zentrale Schwierigkeit liegt im Status der Ontologie, den Badiou immer wieder neu versucht zu klären. In L’Immanence des vérités entscheidet sich Badiou für die Begründung einer absoluten Ontologie, die sich nicht konsequent vom Denken der Eins unterscheiden lässt.

2.4.1 Die spekulative Methode Alle Teile der Trilogie L’être et l’événement weisen jeweils ein eigenes Methodenselbstverständnis vor. Unter Methodenselbstverständnis verstehe ich den eigenen Anspruch von und das eigene Bewusstsein der verwendeten Methode. Die Unterscheidung der angewandten Methode und ihrem Selbstverständnis ist insofern hilfreich, da diese (bei Badiou) tatsächlich divergieren können. Im ersten Buch L’être et l’événement stellte Badiou 334 Ebd., 143.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

der Dialektik Hegels und seiner Théorie du sujet das axiomatisierte Denken gegenüber. Das axiomatisierte Denken arbeitet auf mindestens zwei Ebenen. Die offenkundige Ebene ist die der Mathematik. Badiou entwirft eine Ontologie auf Grundlage des ZermeloFraenkel-Axiomensystems (ZF). Die andere Ebene ist die der Metamathematik bzw. der Metaontologie, das heißt der Philosophie. Die grundlegenden Aussagen in L’être et l’événement, 1., dass Mathematik Ontologie sei und 2., dass das Eine nicht sei, sind philosophische Aussagen, die als Axiome gesetzt wurden.335 In Logiques des mondes kommt Badiou auf den Begriff der Dialektik zurück, impliziert damit aber ein anderes Dialektikverständnis als in Théorie du sujet. Der neue Dialektikbegriff zeichnet sich nicht mehr durch die Spaltung/Teilung (scission/division), sondern durch die Ergänzung eines dritten Begriffs aus. So seien »Wahrheiten« die dialektischen Ergänzungen zur herrschenden Ideologie, die sich durch die Ausschließlichkeit von Körpern und Sprache auszeichne. Es gebe nur Körper und Sprachen, außer, dass es Wahrheiten gebe. Die Ergänzung sei gleichzeitig die Ausnahme der bestehenden (ideologischen) Totalität bzw. »Welt«. Badious Dialektik aus Logiques des mondes lässt sich dementsprechend auch als eine Dialektik der Ausnahme bezeichnen.336 Das axiomatische Denken spielt weiterhin eine zentrale Rolle, nur wird es durch die Dialektik der Ausnahme ergänzt. Die ergänzende Ausnahme der Wahrheit zur Situation ist für Badiou bereits ein philosophisches Axiom. Inwiefern der Begriff der Dialektik für die Setzung der Ausnahme adäquat ist, überprüfe ich in Kapitel 3.4. Die Methoden beider Bücher zeichnen sich gegenüber dem dritten Buch L’Immanence des vérités dadurch aus, dass der Begriff der Wahrheit hauptsächlich in Relation zu den Theorien des Seins (Ontologie) und der Welten (Phänomenologie) entwickelt wird. Frank Ruda ist deshalb grundsätzlich zuzustimmen, wenn er schreibt: »Both books depicted only negatively what it means for a truth to emerge in a historically specific situated world as a set of consequences of an event. They did not positively deliver a demonstration of why and in what sense a thusly produced truth can actually be said to be (eternally) true.«337 Badious Vorgehen im dritten Buch unterscheidet sich nun von den ersten beiden hinsichtlich der Entfaltung des Wahrheitsbegriffs. Wenn Ruda von einem negativen Vorgehen spricht, bezieht er sich auf die Tatsache, dass sich das Ereignis, mit dem bei Badiou eine Wahrheit beginne, durch die Negation des Seins der Situation auszeichne. Das

In Ontologie et mathématique schreibt Badiou, dass die Entscheidung für eine Ontologie ohne Eins zuerst eine politische war (»venue plus de politique que des mathématiques«), das heißt eine, die mit seiner politischen Orientierung korrespondierte. Badiou: Ontologie et mathématique, 20f. Die politischen Quellen von Theorien herauszustellen, kann bereits als zentraler Beitrag Lenins, Maos und Althussers für die Marxforschung betrachtet werden, die Badiou intensiv rezipiert. Vgl. Kimmerle, Heinz: Voraussetzungen, in: Ders. (Hg.): Modelle der materialistischen Dialektik. Beiträge der Bochumer Dialektik-Arbeitsgemeinschaft, Den Haag 1978, 14–18. 336 Badiou spricht von einer materialistischen Dialektik, »die um die Ausnahme zentriert« ist. ABLM 13 [21]. Alex Callinicos hat Badious Konzept einer Dialektik der Ausnahme rekonstruiert und einer grundsätzlich überzeugenden Kritik unterzogen, die auf die fehlende Vermittlung von Ausnahme und Situation zielt. Vgl. Callinicos, Alex : Alain Badiou et Slavoj Žižek ou les noveaux théoriciens de la dialectique?, in : Actuel Marx 2008/1 (Nr. 43), 154–162. Ich diskutiere Badious Dialektikverständnis in Kapitel 3.4 dieser Studie ausführlich. 337 Ruda, Frank: To the End. Exposing the Absolute, in: Filozofski vestnik, Nr. 2/2020, 311–340, hier 314. 335

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Ereignis offenbare das, »was nicht das Sein-als-Sein«338 ist, wie Badiou in L’être et l’événement schreibt. In L’Immanence des vérités widmet Badiou sich einer positiven Darstellung des Wahrheitsbegriffs. Dieses Vorgehen impliziert, dass der Wahrheitsbegriff nicht ausschließlich über das Ereignis dargelegt werden darf. In der Introduction zu L’Immanence des vérités bezeichnet Badiou diesen Weg als »Stratégie spéculative«339 – als »spekulative Strategie«. Was versteht Badiou unter einer spekulativen Strategie in L’Immanence des vérités? Obgleich dieser Begriff die Überschrift des ersten Unterkapitels der Introduction zum gesamten Buch ist, und einen programmatischen Charakter insinuiert, entfaltet Badiou das, was die spekulative Strategie ausmache, nur an sehr wenigen Stellen. An zwei Stellen verknüpft Badiou das Spekulative mit einer Theorie des Unendlichen, die durch die Rezeption der zeitgenössischen Mathematik ermöglicht werde: »Der Weg des Buches geht von einer Kritik der Endlichkeit, die als zentraler ideologischer Fetisch unserer Zeit gesehen wird, zu einer Untersuchung der konkreten Entstehung bestimmter Unendlichkeiten innerhalb von Wahrheitsprozeduren, zu denen das menschliche Denken sich als fähig erwiesen hat, durch eine vollständige wie mögliche spekulative Theorie des Reiches der Unendlichkeiten, für die uns die zeitgenössische Mathematik den Schlüssel gibt.«340 Badiou fasst an dieser Stelle das Anliegen seines Buches zusammen: Einerseits möchte er die Endlichkeit, die er als »Fetisch unserer Zeit« bezeichnet, kritisieren, um von dort zu einer Analyse konkreter Unendlichkeiten überzugehen. Wahrheitsprozeduren, die bereits aus den ersten beiden Teilen seiner Trilogie bekannt sind, zeichnen sich unter anderem durch ihren Charakter des Unendlichen aus; sie eröffnen unendliche Möglichkeiten der Entfaltung der Wahrheit. Für diese Analyse bedient sich Badiou der Theorie des Unendlichen, die er der zeitgenössischen Mathematik entnimmt, und die er »spekulativ« nennt. In den folgenden beiden Kapiteln komme ich auf die Begriffe des Endlichen und des Unendlichen zurück. In der zweiten Passage ergänzt Badiou die Darstellung seines Vorgehens noch um einen zentralen Aspekt: Die Theorien des Endlichen und des Unendlichen sind in eine »absolute Ontologie« eingebettet. »Was die Mathematik letztendlich ermöglicht, wodurch sie sich – ohne es selbst zu wissen oder sich wirklich darum zu kümmern – dem Philosophen, der die Formen der Unterdrückung seiner Epoche überwinden will, als spekulative Ressource anbietet, würde ich die Möglichkeit einer absoluten Ontologie nennen, in der eine Dialektik der End-

338 ABEE 211. In ABCT spricht Badiou treffender vom Trans-Sein des Ereignisses. Vgl. Kapitel 2.2. 339 ABIV 13. 340 »La trajectoire de ce livre va donc d’une critique de la finitude, finitude tenue pour le fétiche idéologique central de notre temps, à l’examen du surgissement concret de certains infinis dans les procédures de vérité dont la pensée humaine s’est avérée capable, en passant par une théorie spéculative aussi complète que possible du royaume des infinis, tel que la mathématique contemporaine nous en donne les clefs.« Ebd., 16.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

lichkeit und der Unendlichkeit als Schöpfung und Resorption der ersten durch die zweite organisiert werden kann.«341 Die Formen der Unterdrückung, von der Badiou hier spricht, seien unterschiedliche Ausprägungen des Fetischs der Endlichkeit 342 , auf die ich im folgenden Kapitel näher eingehen werde. Auch hier sei es die Aufgabe der Philosophie diese Formen der Unterdrückung durch eine spezifische philosophische Praxis zu überwinden. Diese philosophische Praxis sei die Ausarbeitung einer »absoluten Ontologie«, auf deren Grundlage die Theorien des Endlichen und des Unendlichen entwickelt werden könnten. Im Aufsatz Ontologie et mathématiques spricht Badiou auch von der Rekonstruktion einer »spekulativen Diskursivität«343 , die als Ontologie die Kategorien des Seins, der Wahrheit und des Subjekts wieder einführen solle. Um inhaltlich – und nicht nur formal – nachzuvollziehen, was Badiou unter einer spekulativen Strategie versteht, ist es folglich notwendig, sich mit der Theorie des Unendlichen bzw. mit der absoluten Ontologie zu befassen. Zunächst möchte ich dennoch auf einige formale Aspekte eingehen. Die Tatsache, dass sich Badiou einer »spekulativen Strategie« – man könnte vielleicht auch von einer spekulativen Methode sprechen – bedient, ist hervorzuheben. Das spekulative Denken hatte zuletzt im Deutschen Idealismus eine enorme Aufwertung erfahren. Im Unterschied zu Kant, der das spekulative Denken und die empirische Erkenntnis differenzierte344 , war für Hegel die Spekulation jenes Denken, welches auf das Ganze, die Totalität, ausgerichtet sei, wie Christian Iber treffend pointiert.345 Dialektisch ist Hegels Logik, insofern sie die bestimmte Negation einer jeden Kategorie aufsucht und beide – eine Kategorie sowie ihre Negation – in einer höherstufigen aufhebt. Spekulativ wird das dialektische Verfahren durch den denkerischen Ausgriff auf das Ganze der Wirklichkeit. Auf diese Weise fallen auch das denkerische

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»Ce que la mathématique finalement rend possible, ce par quoi – sans elle-même le savoir, ni vraiment s’en soucier – elle s’offre, en tant que ressource spéculative, au philosophe soucieux d’outrepasser les formes d’oppression de son époque, c’est ce que je nommerais la possibilité d’une ontologie absolue, à l’intérieur de laquelle peut s’organiser une dialectique du fini et de l’infini, comme création et résorption du premier par le second.« Ebd., 36. »[…] finitude tenue pour le fétiche idéologique central de notre temps […].« Ebd., 16. »Cependant, c’est à partir des mêmes matériaux ›en situation‹ que mon désir proprement philosophique discerne, lui, comme tâche essentielle, de reconstruire, contre les deux tendances naturellement dominantes et du reste largement complices, une discursivité spéculative capable d’organiser de façon neuve les questions que les courants dominants écartent de leur devenir, nommément celle de l’être, celle de la vérité, et celle du sujet. Et puisque c’est de l’ontologie que nous sommes partis, commençons par elle.« Badiou: Ontologie et mathématiques, 18. »Eine theoretische Erkenntnis ist spekulativ, wenn sie auf einen Gegenstand, oder solche Begriffe von einem Gegenstande, geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann. Sie wird der Naturerkenntnis entgegengesetzt, welche auf keine andere Gegenstände oder Prädikate derselben geht, als die in einer möglichen Erfahrung gegeben werden können.« Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 635/B 663. Hervorhebung im Original. »Spekulativ-dialektisch ist Hegels Logik erst als eine Theorie des notwendigen Beziehungs- und Bewegungszusammenhangs der Denkbestimmungen, der entsteht, indem aus den elementarsten und damit abstraktesten Bestimmungen immer konkretere hervorgehen.« Iber, Christian: Metaphysik absoluter Rationalität. Eine Studie zu den beiden ersten Kapiteln von Hegels Wesenslogik, Berlin/ New York 1990, 12.

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Subjekt und das Ganze der Wirklichkeit zusammen. An diesem Punkt setzen die Kritiken Feuerbachs, Marx’ und Engels’ an der spekulativen Philosophie an. Der zentrale Kritikpunkt lautet, dass Hegel in der Wissenschaft der Logik die außersubjektiven Bedingungen des Denkens aus dem Blick verliere und sich das Denken von seinen Bedingungen – der Arbeit – verselbstständige.346 Mit Feuerbach, Marx und Engels erlangt die Bezeichnung eines Denkens als »spekulativ« durchweg pejorative Bedeutung. Wie verhält sich Badious Renaissance der spekulativen Methode zu ihren Höhepunkten bei Hegel sowie zu ihrer Kritik bei Feuerbach, Marx und Engels? In L’Immanence des vérités lassen sich weder explizite Bezüge zur Tradition des spekulativen Denkens noch zu seiner Kritik ausmachen. Es finden sich allerdings inhaltliche Bezüge hinsichtlich des Begriffs des Absoluten – der für die absolute Ontologie und damit für den Wahrheitsbegriff von zentraler Bedeutung ist – zu Hegel und vor allem zu Spinoza, auf die ich in Kapitel 2.4.5 eingehen werde.347

2.4.2 Die Endlichkeiten Das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit genau zu bestimmen, ist für Badiou nicht nur eine Frage der mathematischen oder philosophischen Differenzierungskünste. Vielmehr handle es sich um die Bestimmung dessen, was Menschen unterdrücke und was Emanzipation ermögliche. Die Klärung des Endlichkeits- sowie des Unendlichkeitsbegriffs weist damit für Badiou eine genuin politische Dimension auf, mit der er das Unternehmen von Logiques des mondes aufgreift und vertieft. Dort unterschied Badiou die materialistische Dialektik, die ewige (unendliche) Wahrheiten zu bestimmen ermögliche, vom Demokratischen Materialismus, der als zeitgenössische Ideologie nur Körper und Sprachen kenne, die sich durch das Motiv der Endlichkeit auszeichneten. In L’Immanence des vérités nimmt die Bestimmung der gegenwärtigen Ideologie(n) nun eine, im Vergleich zu den anderen beiden Bänden der Trilogie, umfangreiche Rolle ein. Darin tritt die Endlichkeit nicht ausschließlich als unterdrückende Form auf, sondern sie könne auch als »Werk«348 in Erscheinung treten. Badiou nimmt deshalb im ersten Teil seines Buches eine Reihe von Differenzierungen innerhalb des Endlichkeitsbegriffs sowie hinsichtlich der sogenannten Operatoren, die in den jeweiligen Endlichkeitstypen wirkten, vor.349

346 Kimmerle zeichnet Marx’ und Engels’ Kritik an Hegel prägnant nach und weist darauf hin, dass Hegel in der Jenaer Zeit einschließlich der Phänomenologie des Geistes, das heißt vor der Wissenschaft der Logik, die Bedeutung der Arbeit für den Erkenntnisprozess bzw. für den Geist noch deutlich im Blick hatte. Vgl. Kimmerle: Voraussetzungen, 18–30. Für einen differenzierten Arbeitsbegriff bei Hegel vgl. Berger, Maxi: Arbeit, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung bei Hegel. Zum Wechselverhältnis von Theorie und Praxis, Berlin 2012. 347 Frank Ruda und Jana Ndiaye Berankova haben in sehr instruktiven Artikeln jeweils Badious Hegelwie Spinozarezeption in L’Immanence des vérités herausgearbeitet. Ruda: To the end; Berankova, Jana Ndiaye: The Immanence of Truths and the Absolutely Infinite in Spinoza, Cantor and Badiou, in: Filozofski vestnik, 2020/2, 341–360; Berankova, Jana Ndiaye: Sometimes, we are eternal… The Attributes of the Absolute and Alain Badiou’s Response to Spinoza, in: Badiou, Alain: Sometimes, we are eternal, hgg. von Jana Ndiaye Berankova/Norma Hussey, Lyon 2019, 159–176. 348 »oeuvre«, ABIV 16. 349 Vgl. die Sektionen I und II (75–275) in ABIV.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Die erste Unterscheidung ist die zwischen klassischen und modernen Endlichkeitstypen. In der ersten Sektion widmet sich Badiou den klassischen Endlichkeiten. Im ersten Kapitel (C1) betrachtet er den oppressiven Charakter der klassischen Endlichkeiten, im zweiten Kapitel (C2) stellt er vier unterschiedliche Endlichkeitstypen vor, um in den anschließenden Kapiteln (C3-C7) die unterschiedlichen Endlichkeitsoperatoren zu analysieren. Die zweite Sektion ergänzt die klassischen Endlichkeitstypen mit ihren modernen Formen, die im Wesentlichen Ausdruck einer Ontologie bzw. einer bestimmten mathematischen Mengenlehre seien. Die Entfaltung emanzipatorischer Endlichkeitstypen, die sich von den unterdrückerischen unterscheiden, kann als Badious zentrales wie komplexes Anliegen von L’Immanence des vérités betrachtet werden. Diese präsentiert Badiou in den letzten drei Sektionen (VII-IX). Badiou beginnt seine Analyse der Endlichkeit und damit das erste Kapitel seiner Abhandlung mit folgender Programmatik: »Nachzuweisen, dass die Endlichkeit das zentrale Motiv jeder Unterdrückung ist und dass die Immanenz der Wahrheiten, die am Anfang jeder Emanzipation steht, auch ›Immanenz des Unendlichen‹ oder ›Anerkennung der Souveränität des Unendlichen‹ genannt werden könnte, bildet das Herz des Unternehmens, das ich hier entfalte.«350 Endlichkeit und Unendlichkeit werden hier mit eindeutig politischen bzw. ethischen Dimensionen verknüpft. Dass Badiou den Gegensatz von Endlichkeit und Unendlichkeit mit demjenigen von Unterdrückung und Emanzipation in einen Zusammenhang stellt, ist vor dem Hintergrund der metaphysik- bzw. idealismuskritischen Unternehmungen von Feuerbach, Marx, Engels und anderen meines Erachtens nicht unmittelbar plausibel. Badiou sieht sich auch verpflichtet, diesen Zusammenhang auszuführen. In der zitierten Eingangspassage geht Badiou noch einen Schritt weiter, da er nicht nur von einem unbestimmten oder partiellen Zusammenhang spricht, sondern die These aufstellt, dass der Unterdrückung die Endlichkeit sowie der Emanzipation die Unendlichkeit als zentrale Motive zugrunde lägen. Gibt Badiou mit dieser These der ideologischen Ebene gegenüber möglichen anderen Ebenen – der Ökonomie, der Politik, der Psychologie, der Religion, der Geschlechterverhältnisse – den Vorzug? Der Begriff »Motiv«, der hier verwendet wird, ist dahingehend zwar suggestiv, aber nicht eindeutig, denn ein Motiv – auch ein zentrales – ist keine Ursache. Zunächst stellt Badiou vier »Beispiele«351 der Unterdrückung, in denen das Motiv der Endlichkeit zentral sei, vor: 1. die religiöse Unterdrückung, 2. die staatliche Unterdrückung, 3. die ökonomische Unterdrückung und 4. die philosophische/ideologische Unterdrückung. Die religiöse Unterdrückung zeige sich insbesondere in den Monotheismen, da dort die Unendlichkeit und die Endlichkeit als zwei Bereiche getrennt seien. Der Bereich des Unendlichen sei derjenige, der durch »das Prinzip einer Unerreichbarkeit«, für

350 »Montrer que la finitude est le motif central de toute oppression et que l’immanence des vérités, qui est au principe de toute émancipation, pourrait aussi bien être nommée ›immanence de l’infini‹, ou ›reconnaissance de la souveraineté de l’infini‹, constitue le cœur de l’entreprise ici déployée.« ABIV 77. 351 Ebd., 77–87, hier 77.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

das der Name »Gott« verwendet werde, gekennzeichnet sei.352 Die Unterdrückung bestehe nun darin, dass es dem Bereich des Endlichen – das heißt der Schöpfung – nicht erlaubt sei, sich den Bereich des Unendlichen anzueignen. Die »Ursünde« bezeichne ein solches Verlangen. Badiou nennt den Bereich des Endlichen den »Abfall« oder »Müll«353 der göttlichen Unendlichkeit, da der Sünder, der das Unendliche verlange, das Produkt des göttlichen Verbots sei. Genauer: Die verlangte Demut (»l’humilité«) des Sünders sei der Abfall/Müll des göttlichen Verbots.354 Auch im Falle der staatlichen Unterdrückung stehe eine Unendlichkeit der Endlichkeit gegenüber. Unter einer staatlichen Unterdrückung versteht Badiou keine Form des Machtmissbrauchs oder einer besonderen repressiven Maßnahme, sondern der Staat als solcher sei eine unterdrückende Einrichtung.355 So definiert Badiou den Staat als eine Form der Unendlichkeit, die ihr Gegenüber, die »Zivilgesellschaft«356 , auf unterschiedliche Weise auf- und unterteile: in Reiche und Arme, in Handarbeit und Kopfarbeit, in Frauen und Männer usw. All diesen Teilen weise der Staat einen (mehr oder weniger) festen Platz zu, er lokalisiere sie und erzeuge somit ihre Endlichkeit. Der Staat hingegen sei für alle verendlichten Teile derselbe eine Staat. Er präsentiere sich als unteilbare Unendlichkeit. »Der Staat ist in der Tat ein unendlicher Widerstand gegen die Unterteilungen, die er bewirkt: Er ist Derselbe im Herzen der irreduziblen Alteritäten, deren pedantischer Verwalter er ist. Die Unendlichkeit des Staates besteht darin, zumindest scheinbar den Unterteilungen der menschlichen Gemeinschaft zu entkommen, Unterteilungen, die er ohne Unterlass bewirkt, aufrechterhält, kodifiziert.«357 Diese Form der Unendlichkeit, die der Staat einnimmt, nennt Badiou »kompakt« bzw. »kompakte Kardinalzahl«358 , da sie eine solche Dichte aufweise, dass sie nicht weiter geteilt werden könne. Der Unterschied der staatlichen zur religiösen Unendlichkeit bestehe darin, dass das entscheidende Charakteristikum der ersten ihre Unteilbarkeit und nicht ihre Transzendenz sei. Umgekehrt zeichne sich die religiöse Unendlichkeit nicht durch ihre Unteilbarkeit aus, was die Trinitätslehre nachweise. Im Falle der staatlichen Unterdrückung fasst Badiou die lokalisierten Teile als verendlichte Produkte des unendlichen Staates auf und nennt diese seiner Terminologie entsprechend »Abfall« (»déchet«). Die ökonomische Unterdrückung unterscheide sich, Badiou zufolge, strukturell hingegen kaum von der religiösen Unterdrückung. So wie Gott eine transzendente und uner-

352 353 354 355

Ebd., 77. »déchet«, ebd., 16. Ebd., 78. Diese Auffassung des Staates hat Badiou systematisch in L’être et l’événement entwickelt und sie gilt für seine gesamte Philosophie. Vgl. auch meine knappe Diskussion zum Staatsbegriff Badious in Kapitel 2.2.5. 356 Ebd., 79. 357 »L’État est en fait un infini de résistance aux partitions qu’il induit : il est le Même au cœur des altérités irréductibles dont il est le gestionnaire tatillon. L’infini de l’État est d’échapper, au moins en apparence, aux partitions de la collectivité humaine, partitions qu’il ne cesse d’induire, de maintenir, de codifier.« ABIV 79. 358 Ebd. 79.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

reichbare Unendlichkeit sei, sei auch der Markt zu begreifen. »Heute ist es die Ökonomie ›des Marktes‹ die genauso unantastbar ist wie Gott.«359 Und so wie der endliche Sünder der Abfall von Gottes Unendlichkeit sei, interpretiert Badiou den »Angestellten-Konsumenten«360 als Abfall des Kapitals. Das Beispiel der philosophischen Unterdrückung ist anders strukturiert als das der drei Vorgänger. Die ersten drei Beispiele zeichnen sich durch ihre genuin unterdrückerische Dimension aus. Für Badiou gibt es weder eine emanzipatorische Religion noch einen emanzipatorischen Staat oder Markt361 . Im Falle der Philosophie behandelt er drei Philosophen, die er grundsätzlich dem emanzipatorischen Denken zuzählt, die sich aber gleichzeitig auch durch anti-emanzipatorische Theorien auszeichneten. Das gelte für Platon, Descartes und Hegel. Platon, der sich für die emanzipatorische Unterscheidung von Wahrheit und Meinung eingesetzt habe, rechtfertigte die Sklaverei. Descartes, der vehement das endliche Denken bekämpfte, verortete den Menschen dennoch auf Seiten der Endlichkeit und Hegel, der seine Philosophie an der Französischen Revolution ausrichtete, sah das Absolute der Geschichte im preußischen Staat realisiert. Die Gefahr, dass auch ein grundsätzlich emanzipatorischer Ansatz Elemente des endlichen Denkens implizieren könne, sei dementsprechend immer wieder gegeben. Betrachtet man die vier Beispiele der Unterdrückung, ist meines Erachtens grundsätzlich nachvollziehbar, dass und auf welche Weise die Kategorien des Endlichen und des Unendlichen jeweils wirken können. Warum das Motiv der Endlichkeit jedoch das zentrale dieser Unterdrückungsformen sein soll, erschließt sich hingegen nicht, da es durchaus möglich wäre, diese Beispiele unter anderen Gesichtspunkten zu betrachten. Selbst im Falle der Religion, in der das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit ein explizites ist, bedarf es wesentlich mehr Faktoren (Machtmechanismen, ökonomische und institutionelle Funktionen, Verhältnis zu anderen Akteuren), um ihren unterdrückerischen Charakter nachzuweisen. In einem zweiten Schritt untersucht Badiou systematisch – und nicht nur exemplarisch – die unterschiedlichen Endlichkeitstypen. Ein – jeder – Endlichkeitstyp zeichne sich dadurch aus, dass er das Resultat, der »negative ›Rest‹«362 eines bestimmten Unendlichkeitstyps sei. Jeder Endlichkeitstyp korreliere mit einem entsprechenden Unendlichkeitstyp. Diesen »Rest« nennt Badiou in L’Immanence des vérités durchgängig »déchet« – »Abfall« oder »Müll«. Ein Abfall ist demnach das endliche Resultat eines Unendlichkeitstyps. Insgesamt untersucht er vier klassische und einen modernen Endlichkeitstyp. Die

359 »Aujourd’hui, l’économie ›de marché‹ est aussi intouchable que Dieu.« ABIV 81. Ohne Walter Benjamin zu erwähnen, erinnern Badious Ausführungen stark an Benjamins Fragment Kapitalismus als Religion. Vgl. Benjamin, Walter: Kapitalismus als Religion, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hgg. von Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Bd. 6, Frankfurt a.M. 1991, 100f. 360 Ebd., 83. 361 Badiou kennt allerdings die emanzipatorische Politik ohne Staat und die emanzipatorische Ökonomie, die der Politik unterstehe, ohne Markt. Mit Paulus (aber auch Pascal und Kierkegaard) kennt Badiou zwar emanzipatorische Gläubige, aber keine emanzipatorische Religion und letztendlich auch keinen emanzipatorischen Gottesbegriff. Die »Erfindung des Universalismus« des Paulus interessiert Badiou nur aus strukturellen, nicht aus inhaltlichen Gründen. 362 ABIV 93.

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klassischen Typen sind die erreichbare Endlichkeit, die teilbare Endlichkeit, die begrenzte Endlichkeit und die exilierte Endlichkeit, der moderne Typ ist derjenige des »recouvrement«363 , das man in diesem Zusammenhang mit »Überdeckung« übersetzen könnte. Gemeint ist eine Operation der »Neutralisierung«364 des Unendlichen, die Badiou strukturell von den Unterdrückungsformen der klassischen Typen unterscheidet. Die vier klassischen Endlichkeitstypen lassen sich nicht eins zu eins den vier Beispielen zuweisen. Vielmehr finden sich die vier Typen in unterschiedlichen Beispielen wieder. So steht die erreichbare Endlichkeit (»fini accesible«) der unerreichbaren Unendlichkeit gegenüber bzw. wird durch diese konstruiert. Badiou argumentiert wieder mit einem Beispiel und wiederholt im Wesentlichen das des kapitalistischen Marktes. Die unerreichbare Unendlichkeit sei der Markt, der erreichbare Portionen in Form der Waren erzeuge. Diese nennt Badiou die erreichbaren Endlichkeiten. In seiner ersten Beispielliste trat die erreichbare Endlichkeit in Form der Demut (»l’humilité«), die als Abfall der unerreichbaren Unendlichkeit Gottes interpretiert wurde, auf. Der Typ der teilbaren Endlichkeit (»fini divisible«) lässt sich eindeutig der staatlichen Unterdrückung zuweisen. Badiou betrachtet hier die teilbare Endlichkeit aus der Perspektive der staatlich Unterteilten. Der Abfall der staatlichen Unendlichkeit wird jetzt als Ideologie des Realismus aufgefasst. Diese Ideologie akzeptiere nichts anderes als die konstruierbare Realität innerhalb der staatlichen Rahmenbedingungen. Der dritte Typ der begrenzten Endlichkeit (»fini borné«) ist durch die Präferenz abgeschlossener Identitäten, z.B. in Form von Nationalismen, Rassismen usw., charakterisiert. Dieser Typ steht damit der teilbaren Endlichkeit sehr nahe und ließe sich ebenfalls dem Beispiel der staatlichen Unterdrückung zuordnen, insofern abgeschlossene Identitäten durch die Unterteilung der Zivilgesellschaft hervorgerufen werden könnten. Der vierte Endlichkeitstyp zeichnet sich durch die Negation alles Absoluten aus. Badiou zielt damit auf relativistische Positionen, die zwar alle möglichen Meinungen zuließen, jedoch keine Wahrheit akzeptierten. Dieser Endlichkeitstyp findet sich in der Position wieder, die Badiou in Logiques des mondes »Demokratischer Materialismus« (Es gibt nur Körper und Sprachen, aber keine Wahrheiten) nennt. Die klassischen Endlichkeitstypen sind meines Erachtens grundsätzlich gut voneinander zu unterscheiden und aufgrund des Gegensatzes, in dem sie jeweils stehen (Endlichkeit-Unendlichkeit) einfach zu erkennen. Weniger eindeutig gelingt das beim modernen Endlichkeitstyp des »recouvrement«, der »Überdeckung«. Denn in diesem Fall stehen sich Endlichkeit und Unendlichkeit nicht unmittelbar gegenüber, sondern eine Unendlichkeit wird gewissermaßen normalisiert. Was zeichnet diesen Endlichkeitstypen aus? Badiou entwickelt diesen Endlichkeitstyp anhand der mengentheoretischen Erkenntnisse Kurt Gödels. Eine endliche Menge ist folgendermaßen definiert: »Man sagt also, dass eine Menge endlich ist, wenn alle ihre Elemente definierbar sind, was meint, dass sie in die herrschende Sprache unter der Form gut erfasster Eigenschaften, die allgemein bekannt sind,

363 Ebd., 223. 364 Ebd., 223. Hervorhebung im Original.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

eingeschrieben sind.«365 Anders formuliert heißt das, dass eine Menge endlich ist, wenn alle ihre Elemente vollständig transparent und sprachlich benennbar sind; alle Elemente sind eindeutig definierbar. Eine solche Menge ist nicht nur endlich, sondern auch konstruierbar. Es lässt sich von einer solchen Menge aus eine weitere Menge konstruieren. In der Diskussion mit Gödel geht es Badiou um die Frage, inwiefern das Mengenuniversum konstruierbar sei.366 Die Antwort auf diese Frage wird über die Darstellung eines Modells gegeben. Der Versuch besteht darin, ein Modell der Klasse, der alle ZermeloFraenkel Axiome zugehören, zu bilden. Dieses Modell soll jedoch nur aus konstruierbaren Mengen bestehen und wird mit dem Buchstaben L gekennzeichnet. Wenn ein solches Modell des gesamten Mengenuniversums (von ZF) konstruierbar wäre, könne damit gezeigt werden, dass das Universum konstruierbar sei. Und umgekehrt: Das Universum wäre nur konstruierbar und nicht zufällig. Gödel vertrat die Auffassung, dass ein solches Modell möglich sei. Damit wäre das (Mengen-)Universum mit einer bestimmten Endlichkeit charakterisiert, die dieses gesamte Universum abdeckte (»recouvrir«). Badiou wendet sich gegen eine solche Möglichkeit und will mit Paul Cohen zeigen, dass es nicht notwendig sei, für ein solches Modell zu optieren. Im folgenden Kapitel werde ich auf den Unterschied zwischen einem konstruierbaren und einem nicht (hierarchisch) konstruierbaren Universum zurückkommen und seine Bedeutung für das Verständnis des Unendlichen klären. Bevor ich mich Badious Unendlichkeitstypen in L’Immanence des vérités zuwende, möchte ich noch auf eine letzte wichtige Unterscheidung hinsichtlich der Endlichkeitstypen eingehen. Wie am Anfang dieses Kapitels bereits genannt, ist die Darstellung und Kritik der Endlichkeit als zentrales Motiv unterschiedlicher Unterdrückungstypen nur eine Seite des Anliegens von L’Immanence des vérités. Die andere Seite besteht darin, aufzuzeigen, dass unendliche Wahrheiten möglich seien. Zwar seien die unendlichen Wahrheiten bestimmten Endlichkeitstypen, nämlich all denen, die Badiou Abfall nennt, entgegengesetzt. Badiou kennt aber noch einen anderen Typ von Endlichkeiten, den er »Werk« nennt.367 Dieser Endlichkeitstyp habe die Eigenschaft, dass er einer Unendlichkeit eingeschrieben bzw. mit einer Unendlichkeit »indexiert«368 sei. Badiou geht davon aus, dass jede unendliche Wahrheit in einer konkreten Welt und unter konkreten Bedingungen und Materialien erscheinen müsse. Diese Annahme hat er bereits in Logiques des mondes ausgeführt. In L’Immanence des vérités nennt Badiou das konkrete Erscheinen einer unendlichen Wahrheit nun »Werk«. Zwar seien die Materialien und Bestandteile eines Werks endlich, es sei aber die aktive Schöpfung eines Subjekts, das auf diese Weise unendliche Möglichkeiten eröffne. Badiou bedient sich dazu des Begriffs einer generischen Menge, der in der Mathematik auf Cohen und in der Philosophie auf Marx zurückgeht.369 Eine generische Menge zeichnet sich dadurch aus, dass ihr

365 »On dira donc qu’un ensemble est fini si tous ses éléments sont définissables, ce qui veut dire qu’ils sont inscrits dans la langue dominante sous la forme de propriétés bien répertoriées, connues de tout le monde.« Ebd., 237. Hervorhebung im Original. 366 Vgl. ebd., 245–248. 367 Vgl. ebd., 511–527. 368 Ebd., 517. 369 Vgl. ebd., 260f.

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zwar endliche Elemente zugehörten, diese jedoch so zusammengesetzt seien, dass sie sich nicht weiter bestimmen ließen bzw., dass sie ununterscheidbar würden. Eine generische Menge sei eine Teilmenge, die sich aus Elementen zusammensetze, deren einzige Eigenschaft darin bestehe, zur Teilmenge zuzugehören. Eine solche Menge sei dann einerseits existent, andererseits lasse sie sich hinsichtlich ihrer Elemente nicht von den anderen Teilmengen unterscheiden. Badiou nennt das eine »immanente Ausnahme«370 . In diesem Sinne sei auch ein Werk zu verstehen. Es sei aus den definierten Elementen einer Welt zusammengesetzt. Als Werk solle diese Zusammensetzung jedoch so gestaltet sein, dass sie eine immanente Ausnahme sei. Der generische Status einer Menge zeichne ihre Universalität aufgrund der fehlenden besonderen Bestimmungen aus. Ein Werk sei weiterhin durch seine Indexierung charakterisiert. Da ein Werk eine Schöpfung sei, gehe es auf ein Subjekt und dieses wiederum auf ein Ereignis zurück. Ein Werk impliziere somit die Ausrichtung unendlicher Möglichkeiten, die ein Ereignis eröffne. Der Index markiere, dass ein Werk immer Fragment einer auf Unendlichkeit angelegten Wahrheitsprozedur sei.371

2.4.3 Die Unendlichkeiten – Vier Modelle Inwiefern die Endlichkeitstypen als zentrale Motive gegenwärtiger Unterdrückung fungieren, habe ich im letzten Kapitel (2.4.2) in Frage gestellt. Dass sich die Endlichkeit in diese vier bzw. fünf, wenn man den Endlichkeitstyp des »recouvrement« hinzunimmt, Typen differenzieren lässt und, dass diese Typen Produkte bestimmter Unendlichkeitstypen seien, habe ich hingegen keiner Kritik unterzogen. Zwar halte ich die grundsätzliche Kritik an der Bedeutung der Endlichkeits- und Unendlichkeitstheorie Badious für ertragreicher, als die einzelnen Endlichkeits- und Unendlichkeitstypen im Detail auf ihre Konsistenz zu überprüfen. Dennoch ist es meines Erachtens unerlässlich, zu klären, über welche Endlichkeit bzw. Unendlichkeit Badiou spricht, wenn er diese für die Interpretation von Unterdrückung wie Emanzipation entfaltet. Im Folgenden werde ich deshalb das »Gegenstück«372 zur Endlichkeitstheorie Badious vorstellen. Entsprechend der vier klassischen Endlichkeitstypen differenziert Badiou auch vier Unendlichkeitstypen bzw. umgekehrt: Die vier Endlichkeitstypen lassen sich vier Unendlichkeitstypen zuordnen. Und auch hier nimmt Badiou eine Reihe von Unterscheidungen vor. Zunächst untersucht er vier klassische Unendlichkeitstypen, die alle unterschiedlichen theologischen bzw. philosophisch-theologischen Überlegungen entsprängen und deren Gemeinsamkeit die Verknüpfung der Unendlichkeit mit der Eins/dem Einen sei. In einem zweiten Schritt werden diese vier klassischen Typen in der modernen Mengenlehre nach Cantor wiederentdeckt. Diesmal jedoch explizit ohne die Ver370 Ebd., 261. 371 »Ein Werk der Wahrheit ist ein Fragment einer Wahrheitsprozedur. Das bedeutet, dass es sich in der post-ereignishaften Dynamik befindet, die nach den Regeln einer subjektiven Prozedur dazu neigt, einen generischen Teil dieser Situation zu bilden.« – »Une œuvre de vérité est un fragment de procédure de vérité. Ce qui veut dire qu’elle est située dans la dynamique post-événementielle qui tend à construire, selon les règles d’une procédure subjective, une partie générique de cette situation.« Ebd., 516. 372 »contrepartie«, ABIV 279.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

knüpfung mit der Eins/dem Einen. In ihren Grundzügen finden sich diese Überlegungen bereits in L’être et l’événement. In L’Immanence des vérités entwickelt Badiou die Endlichkeits- und Unendlichkeitstypen jedoch wesentlich differenzierter und anhand aktualisierter mathematischer Ansätze.373 Die klassischen Unendlichkeitstypen, die Badiou in der Theologie entdeckt374 , sind 1. die Unendlichkeit der Transzendenz, 2. die Unendlichkeit als Widerstand gegen jegliche Teilung, 3. die Unendlichkeit, die der eigenen Bestimmung entspricht (Unendlichkeit sui generis), 4. die Unendlichkeit, die mit dem Absoluten verbunden ist (approximative Unendlichkeit). Die transzendente Unendlichkeit (1.) verknüpft Badiou mit der Theologie des Mittelalters, insbesondere mit Ansätzen negativer Theologie und der Rezeption des Neuplatonismus. Das Unendliche werde als inkommensurabel zum Endlichen aufgefasst und lasse sich ausschließlich durch seine Unzugänglichkeit erfahren. Der zweite Unendlichkeitstyp ist der des Widerstands gegen jegliche Teilung. In diesem Modell werde die Unendlichkeit mit einer Vorstellung von Einheit verbunden. Das theologische Modell sei das der christlichen Trinität. Vater, Sohn und Heiliger Geist seien und blieben eins in Gott, für das das Konzil von Nicäa mit dem Begriff der Wesensgleichheit Pate stehe. Spinoza radikalisiere dieses Konzept, indem er jegliche Ausdrucksweisen (Attribute) Gottes als Ausdruck der einen Gott-Substanz auffasse.375 Der dritte klassische Weg zur Unendlichkeit führe über die immanenten Bestimmungen des Unendlichkeitsbegriffs selbst. Badiou spricht hier auch vom begrifflichen Weg376 : »Der dritte Weg des Zugangs zum Unendlichen setzt nicht mehr voraus, dass es durch seine Beziehung zu dem, was es nicht selbst ist, gekennzeichnet ist, sondern durch innere Bestimmungen sui generis, die wie ein immanenter ontologischer Schub sind, der eine unendliche Ausdehnung des Seins, das diese Bestimmungen unterstützt, fordert.«377 Zur Aktualität der mathematischen Ansätze, die Badiou in L’Immanence des vérités verwendet, vgl. Hussey, Norma M. : A New Hope for the Symbolic, for the Subject, in : Filozofski vestnik, 2020/2, 361–395. Vgl. auch die mathematischen, philosophischen und theologischen Diskussionen, die unabhängig von Badiou geführt werden, in: Heller, Michael/Woodin, Hugh (Hg.): Infinity: new research frontiers, Cambridge 2011. 374 Im Folgenden beziehe ich mich auf ABIV 281–285. 375 Wolfgang Röd fasst den Gedanken Spinozas zur Einheit Gottes folgendermaßen zusammen: »›Gott‹ wird als absolut unendliche Substanz definiert, das heißt als Substanz mit unendlichen Attributen, deren jedes die ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt. ›Absolut unendlich‹ heißt etwas, das nicht nur in seiner Art, sondern in jeder Hinsicht unendlich ist. Gott ist somit nicht in dem Sinne unendlich wie der Raum, bei dem kein Raumteil als äußerster gedacht werden kann, sondern seine Unendlichkeit ergibt sich daraus, daß Gott alles ist und daher von nichts beschränkt sein kann.« Röd, Wolfgang: Der Gott der reinen Vernunft. Ontologischer Gottesbeweis und rationalistische Philosophie, München 2 2009, 92. 376 »voie conceputelle«, ABIV 284. 377 »La troisième voie d’accès à l’infini ne suppose plus qu’on le caractérise par sa relation à ce qui n’est pas lui, mais par des déterminations intérieures sui generis, qui sont comme une poussée ontologique immanente exigeant l’extension infinie de l’être qui supporte ces déterminations.« Ebd., 284. Hervorhebung im Original.

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Die Unendlichkeit wird hier begrifflich aus sich selbst bestimmt. Diese Bestimmung impliziere auch die ontologische Dimension des Unendlichen. Klassische theologische Begriffe für die Bestimmung der Unendlichkeit Gottes seien seine Allmächtigkeit oder Allgüte. Diesem Unendlichkeitstyp sei auch der ontologische Gottesbeweis Descartes’ zuzuordnen. Der vierte Unendlichkeitstyp sei durch seine Annäherung an das Absolute charakterisiert. Das Absolutunendliche bleibe zwar, wie im ersten Fall der transzendenten Unendlichkeit, unerreichbar. Es gebe aber die Möglichkeit einer unendlichen Annäherung an es. In der Theologie sei dieser Weg über die Engelslehre eingeführt worden. So weise die Hierarchie der Engel eine bestimmte Nähe oder Ferne von der Absolutheit Gottes aus. Für Badiou vollziehe sich mit der Begründung der Mengenlehre durch Georg Cantor eine entscheidende Veränderung hinsichtlich des Unendlichkeitsbegriffs. Die theologischen Konzepte ließen sich zwar grundsätzlich auch in den modernen Mengenlehre wiederfinden, Cantor habe aber den Unendlichkeitsbegriff »laisiert«378 . Badiou stellt die Laisierung durch Cantor an verschiedenen Stellen als evident vor, doch trifft diese Behauptung auf Cantor zu? Cantor hatte die Unterscheidung von Aktualunendlichkeiten und der absoluten Unendlichkeit getroffen. Letztere hatte er allerdings Gott vorbehalten.379 Auch Badiou ist diese Unterscheidung bewusst, weshalb er Cantor in L’être et l’événement auch einen »Theologen« nennt.380 In der Einleitung meiner Studie habe ich aufgezeigt, dass der theoretische Prozess der Enttheologisierung des Unendlichen – die Badiou eine Laisierung nennt – bereits mit Kant und Hegel begonnen werden kann.381 Warum kann Badiou dennoch behaupten, dass (erst) mit Cantor die Laisierung bzw. die Enttheologisierung des Unendlichen vollzogen werde? Für Badiou findet die Laisierung nicht durch die Immanentisierung des Unendlichen (wie bei Hegel), sondern durch seine Trennung von der Eins statt. »Die mathematische Laisierung – durch Cantor – des Unendlichen impliziert unmittelbar die Trennung des Unendlichen von der Eins.«382 In den verschiedenen theologischen Modellen war genau diese Verbindung der Eins (Gottes) mit der Unendlichkeit das Entscheidende. Cantor hingegen ermögliche die (unendliche) Pluralisierung des Unendlichen, durch die die »Vokabel ›Gott‹«383 seine Bedeutung verliere. Wie lassen sich nun angesichts der Trennung von Unendlichkeit und der Eins die vier theologischen Modelle in laisierter Form in der modernen Mathematik wiederfinden? Einer der zentralen Begriffe, den Cantor in die Mathematik eingeführt hat, ist der der Kardinalzahl. Eine Kardinalzahl gibt die Mächtigkeit einer Menge an, die endlich oder unendlich sein kann. Badiou verdeutlicht dies am Beispiel einer Fußballmannschaft.384 So kann die Zahl 11 bei einer Fußballmannschaft unterschiedliche Bedeutungen haben. 378 379 380 381

Ebd., 280 und 285. Vgl. Depoortere, Frederiek: Badiou and Theology, London 2009, 110–117. ABEE 53 [59]. Diese These vertraten auch schon Marcuse (in Vernunft und Revolution) und Garaudy (in Gott ist tot), vgl. Kapitel 1.2.2. 382 »La laïcisation mathématique – par Cantor – de l’infini implique immédiatement la séparation de l’infini et de l’Un.« ABIV 285. 383 Ebd., 286. 384 Vgl. ebd., 286.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Sie kann einmal eine ordnende Bedeutung haben, wenn alle elf Spieler*innen der Reihenfolge nach gelistet werden: 1, 2, 3, … 11. Die 11 ist dann die elfte Position. Mathematisch spricht man dann von einer Ordinalzahl. In der zweiten Bedeutung markiert die 11 die Anzahl der gesamten Spieler*innen einer Mannschaft. Eine Fußballmannschaft hat dann die Mächtigkeit von 11 (sie ist elf Spieler*innen »stark«). Dann spricht man in der Mathematik von einer Kardinalzahl. Beide Zahlentypen lassen sich nicht nur auf endliche, sondern auch auf unendliche Mengen anwenden. Die theologische transzendente Unendlichkeit zeichnete sich in Badious Interpretation durch ihre Unerreichbarkeit aus. In der Mathematik entspreche ihr die Theorie der großen Kardinalzahl K.385 Die Kardinalzahl K sei dadurch charakterisiert, (a) dass sie mächtiger als alle anderen Kardinalzahlen sei, (b) dass sie gleichzeitig selbst eine limitierte Kardinalzahl sei, (c) dass sie mächtiger als die Menge aller Kardinalzahlen kleiner K sei und (d) dass sie mächtiger als jede Potenzmenge einer kleineren Kardinalzahl sei. Eine Kardinalzahl mit diesen Eigenschaften wäre ein Modell aller Axiome der ZermeloFraenkel Axiomatik. Sie lasse sich jedoch Badiou (der auf Gödels zweiten Unvollständigkeitssatz verweist) zufolge nur negativ bestimmen und bleibe damit unerreichbar, transzendent. Der zweite Unendlichkeitstyp, der sich durch seine Unteilbarkeit definiere, finde sich mathematisch in der Theorie der Ramsey-Kardinalzahl, benannt nach dem Mathematiker Frank P. Ramsey, wieder.386 Zeichnete sich die Kardinalzahl K durch ihre ›Größe‹, das heißt ihre Mächtigkeit aus, sei die Ramsey-Kardinalzahl eine äußerst kompakte Kardinalzahl. Berankova fasst die Ramsey-Kardinalzahl folgendermaßen zusammen: »Thus, the Ramsey cardinal evokes the idea of an infinite set that is so compact and dense and whose elements are in such proximity to each other that even if we cut it into small parts, a large infinite residual set will always escape our cutting.«387 Jede Teilung dieser Kardinalzahl führe zu Teilmengen, die wiederum mit der Ausgangsmenge ›homogen‹ seien. Auf diese Weise widersetze sich die Ramsey-Kardinalzahl faktisch ihrer Teilung. Der dritte theologische Unendlichkeitstyp war begrifflich konzipiert, das heißt, er wurde durch seine begriffliche Bestimmung gesetzt. Die Vollkommenheit Gottes impliziere auch notwendig seine Existenz. Die Frage für die Mathematik ist: »Is there anything like bigness in itself ?«388 Badiou findet diesen Unendlichkeitstyp in der äußerst komplexen Theorie der Ultrafilter wieder. Berankova schreibt: »A filter on a set is a mathematical apparatus helping us to distinguish small parts from the large ones; it works like a sieve that only catches large parts, while the small ones pass through.«389 Die Anwendung eines Filters auf eine Menge sei eine Operation, die eine Aufteilung in große und kleine Teilmengen ermögliche. Ein Ultrafilter unterteile eine Menge in eine Teilmenge und ihre genaue Negation.

385 Vgl. ebd., 307–315. Ich beziehe mich auf die Zusammenfassung von Berankova in : The Immanence of Truths and the Absolutely Infinite in Spinoza, Cantor and Badiou, 351–356, hier 353. 386 ABIV 325–329. 387 Berankova: The Immanence of Truths and the Absolutely Infinite in Spinoza, Cantor and Badiou, 354. 388 Ebd., 354. Hervorhebung im Original. 389 Ebd., 354. Hervorhebung im Original.

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Der bestimmte Typ eines Ultrafilters, den Badiou hier rezipiert, ist so definiert, dass er keine Singletons (keine Mengen, denen ausschließlich ein Element zugehört) enthalte. Das besondere eines Ultrafilters bestehe darin, dass er ein Maß bezeichne, mit dem eine sehr große Teilmenge einer Menge bestimmt werden könne.390 Die Größe (Mächtigkeit) dieser sehr großen Teilmenge orientiere sich nicht am Vergleich zu anderen kleineren Teilmengen, sondern an der Größe (Mächtigkeit) der Ausgangsmenge. Die Exklusion jedes Singletons verhindere gleichzeitig, dass diese große Teilmenge eine Eins sein könne. Genauer gesagt, ermögliche der Ultrafilter nicht die Definition einer einzelnen sehr großen Teilmenge, sondern einer »Familie sehr großer Teilmengen«391 . Der dahinterliegende Gedanke ist, dass diese sehr großen Teilmengen des Ultrafilters fast ebenso mächtig seien, wie die Ausgangsmenge.392 Die Ausgangsmenge, um die es Badiou geht, sei die Klasse aller Mengen (die Klasse V), die zwar inkonsistent sei, aber dennoch hypothetisch angenommen werden könne. Der vierte und letzte Unendlichkeitstyp ist derjenige, der sich in der Nähe zum Absoluten befinde. Hier rekurriert Badiou auf die Theorie der vollständigen Kardinalzahl (»cardinal complet«393 ) sowie auf Spinozas Konzept der Attribute der Substanz/Gottes. So sage bei Spinoza ein Attribut, das heißt eine Existenzweise der Substanz/Gottes, von denen manche auch der menschlichen Erkenntnis zugänglich seien, das Wesen der gesamten Substanz/Gottes aus. In der modernen Mathematik existiere entsprechend des Ansatzes Spinozas eine Theorie, mit der über eine vollständige Kardinalzahl eine absolute Klasse V dargestellt werden könne bzw. umgekehrt: Die absolute Klasse V stelle sich in einer ihrer Unterklassen M dar. M werde so ein Modell für V, bei bleibender Differenz beider. Badiou schlägt vor, im Sinne Platons von einer »Teilhabe« dieses Endlichkeitstyps an der absoluten Klasse V zu sprechen.394 Mit diesem vierten Unendlichkeitstyp interpretiert Badiou auch seinen Wahrheitsbegriff. Eine Wahrheit sei dann eine Unendlichkeit, die wie die spinozistischen Attribute, Anteil habe am Ort des Absoluten. Warum führt Badiou in L’Immanence des vérités die unterschiedlichen Unendlichkeitstypen so ausführlich aus? Was ist die Funktion dieser detaillierten – und von mir stark gekürzten – Darstellung? Badious Ziel in L’Immanence des vérités ist es, die Möglichkeit absoluter Wahrheiten zu gewährleisten. Um diese Möglichkeit nachzuweisen, will Badiou einen »Ort des Absoluten«395 auffinden, an dem die absoluten Wahrheiten teilhaben. In mathematisierter Sprache bezeichnet Badiou diesen Ort des Absoluten als Klasse des Absoluten. Die Darstellung der vier Unendlichkeitstypen hat die Funktion, sich diesem Ort bzw. dieser Klasse des Absoluten anzunähern.

390 Vgl., ABIV 333. 391 »une famille des très grandes parties«. ABIV 291. Hervorhebung im Original. 392 »Jedes Element dieses Ultrafilters, also jede große Teilmenge, die zu diesem Ultrafilter gehört, hat die gleiche Mächtigkeit wie die gesamte Situation.« – »[T]out élément de cet ultrafiltre, donc toute grande partie appartenant à cet ultrafiltre, équivaut en puissance à la situation tout entière.« Ebd., 351. 393 Ebd., 353f. 394 Ebd., 417; Berankova: The Immanence of Truths and the Absolutely Infinite in Spinoza, Cantor an Badiou, 356. 395 Ebd., 41.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

»Die Existenz einer expliziten Beziehung des Absoluten zu einem seiner Attribute, das heißt die Teilhabe, sowohl lokal als auch global, einer Wahrheit, die in einer Welt in ihrer eigenen Absolutheit geschaffen wurde, ergreift für die menschlichen Tiere das Gefühl einer Orientierung ihrer Leben nur dann, wenn es nicht die sterile Identität des Absoluten für sich selbst ist; wenn es also den Unterschied zwischen dem, was absolut ist (der absolute Bezugspunkt, der in-existiert) und dem, was in einer Welt eine Existenz mit einem absoluten Wert verbindet, nämlich einer singulären Wahrheit, integriert. Das riskante Erscheinen und die rigorose Entfaltung einer solchen Wahrheit haben als existenzielle Zeugin notwendigerweise eine Unendlichkeit eines Typs, der allem überlegen ist, was die vorherrschende Endlichkeit auferlegt, als real zu betrachten, nämlich eine vollständige Unendlichkeit.« 396 In diesem langen Zitat fasst Badiou die Funktion der Unendlichkeitstheorien zusammen. Es geht ihm um die Darlegung einer Beziehung der singulär erscheinenden Wahrheiten zum Absoluten. Durch diese Beziehung erlangten die Wahrheiten selbst einen absoluten Status und dürften deshalb den Ideologien der Endlichkeiten, die Badiou als zentrale Motive der gegenwärtigen Unterdrückung ansieht, als überlegen aufgefasst werden. Diese Überlegenheit zeichne sich durch eine bestimmte Unendlichkeit, die sich in der Nähe des Absoluten befinde, aus. Entscheidend ist, dass diese Unendlichkeit und das Absolute unterschieden und dennoch wesentlich miteinander verbunden seien. Erst dann entstehe die Teilhabe der Wahrheiten am Absoluten. Badiou führt in dieser Passage auch ein ethisches Motiv ein: Das Absolute solle und könne als Orientierung für das Leben der »menschlichen Tiere« fungieren. Mit dem Begriff des Absoluten als Orientierung für die menschlichen Tiere gelingt Badiou eine noch stärkere Konstruktion des Gefühls von Erhabenheit und Überlegenheit als in Logiques des mondes. Das Einzelne und das Vergängliche verlieren ihren Geltungsanspruch. Die Frage, inwiefern sich Badious Überlegenheitstheorie mit seinem Gleichheitsaxiom, das ebenso sein gesamtes Werk, wie auch L’Immanence des vérités zu Grunde liegt, verträgt, kann hier nicht behandelt, sondern lediglich als Problem angezeigt werden.397

2.4.4 Gott L’Immanence des vérités bietet nicht nur hinsichtlich der Begriffe des Unendlichen oder der Wahrheit im Vergleich zu Badious früheren Büchern hilfreiche Vertiefungen, sondern auch hinsichtlich des Gottesbegriffs. Dabei muss – wie auch bei allen anderen Veröffentlichungen Badious – weiterhin beachtet werden, dass er weder eine Theologie noch eine explizite Religionsphilosophie betreibt. Für den Gottesbegriff bedeutet das, dass die396 »L’existence d’une relation explicite de l’absolu à un de ses attributs, ce qui veut dire la participation, à la fois locale et globale, d’une vérité construite dans un monde à sa propre absoluité, prend, pour les animaux humains, le sens d’une orientation de leur vie uniquement si elle n’est pas la stérile identité de l’absolu à lui-même; si donc elle intègre la différence entre ce qui est absolument (le référent absolu, qui in-existe) et ce qui dans un monde lie une existence à une valeur absolue, à savoir une vérité singulière. L’apparition hasardeuse et le déploiement rigoureux d’une telle vérité ont pour témoin existentiel, de façon nécessaire, un infini de type supérieur à tout ce que la finitude dominante impose de considérer comme réel, nommément un infini complet.« ABIV 417. Hervorhebung im Original. Badiou hat diese Passage kursiv und fett hervorgehoben. 397 Vgl. Kapitel 2.3.5.

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ser in keinerlei Hinsicht systematisch entfaltet wird. Dennoch sieht sich Badiou dazu verpflichtet, seine Begriffe der Unendlichkeit, der Wahrheit und vor allem des Absoluten vom Gottesbegriff abzugrenzen. Mit dieser Abgrenzungsgeste schenkt Badiou dem Gottesbegriff gleichzeitig große Aufmerksamkeit. Die große Nähe bei gleichzeitiger Abgrenzung ist Badiou bewusst, wenn er in der Introduction diesen Zusammenhang sogar zum Programm erhebt: »Wir müssen daher, wenn ich so sagen darf, auf Gott verzichten, ohne irgendeinen seiner Vorteile zu verlieren.«398 Badious Aussage ist auf unterschiedliche Weise interpretierbar. Soll der Signifikant »Gott« fallen gelassen werden, sein Signifikat (die »Vorteile«) jedoch beibehalten werden? Oder sollen die Eigenschaften Gottes auf irgendeine Weise beibehalten werden, ihr einendes Prinzip jedoch aufgelöst werden? Oder verweist die Aussage der »Vorteile« auf eine Unterscheidung der Eigenschaften Gottes in gute und schlechte, von denen die guten bleiben und auf die schlechten verzichtet wird? In jedem Fall bleibt Badious Nähe zum Gottesbegriff trotz der Abgrenzungsgeste über die Beibehaltung seiner »Vorteile« bestehen. Zu klären bleibt aber: Auf welchen Gott will Badiou verzichten? Was sind seine Vorteile, die nicht verlorengehen sollen? Und worin, wenn nicht in Gott, können die Vorteile aufgehoben werden? Badiou kennt mehrere Gottesbegriffe. In der Differenzierung der Unendlichkeitsbegriffe sind bereits unterschiedliche Gottesbegriffe, die von unterschiedlichen theologischen Strömungen oder theologiegeschichtlichen Episoden stammen, aufgetaucht. Die transzendente Unendlichkeit wurde mit dem christlich-neuplatonischen Gottesbegriff verknüpft, für den Plotin Pate steht. Plotin und der christliche Neuplatonismus – Badiou spricht nur vom Neuplatonismus, nicht von Plotin399 – führten das Denken der Transzendenz sowie das selbstbezügliche Einssein Gottes, das der Opposition von Einheit und Vielheit vorgelagert ist, in die Philosophie (und Theologie) ein.400 Die unteilbare Unendlichkeit führt Badiou in der einen Variante auf die Lehre von der Wesensgleichheit des Konzils von Nicäa, in der anderen auf Spinoza zurück. Im ersten Fall werden die drei Personen Gottes (Vater, Sohn, Heiliger Geist) mit dem Konzept des Einsseins verwoben. Im zweiten Fall, bei Spinoza, ist Gott der Name des Substanzbegriffs, der alles Seiende umfasst. Es handelt sich deshalb um einen Pantheismus.401 Da Spinozas Gottesbegriff derjenige ist, der Badious Begriff des Absoluten am nächsten kommt, werde ich diesen ausführlicher behandeln. Zunächst möchte ich aber die beiden anderen Gottesbegriffe nennen, die den verbleibenden zwei Unendlichkeitstypen entsprechen. Den begrifflichen Unendlichkeitstyp schließt Badiou aus dem Gottesbegriff des ontologischen Gottesbeweises Descartes’: »Descartes arbeitet also mit den Begriffen des Seins und der Existenz, da bei Gott im Gegensatz zu dem, was im Endlichen geschieht, 398 »Il nous faut donc, si j’ose dire, renoncer à Dieu sans perdre aucun de ses avantages.« ABIV 38. 399 Ebd., 282. 400 Heinrich Schmidinger schreibt über Plotin: »›Transzendenz‹ in diesem Zusammenhang heißt somit: Das Eine (ἕν) unterscheidet sich in absoluter Art und Weise von dem, was durch das Zusammenwirken von Einheit und unbestimmter Vielheit konstituiert wird. Insofern ist es ›jenseits von Allem‹ […].« Schmidinger: Metaphysik, 93–103, hier 94. 401 Schmidinger: »Für Spinoza gibt es keine andere Wirklichkeit als die absolute Gott-Substanz. […] Alles, was nur in irgendeiner Weise ist, ist nichts weniger, aber auch nichts mehr als ein modus der GottSubstanz.« Schmidinger : Metaphysik, 186. Hervorhebungen im Original.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

der Begriff dessen, was er ist, sozusagen, die Verpflichtung zur Existenz beinhaltet: Dies ist das berühmte ontologische Argument.«402 Auf diese Weise impliziere der Gottesbegriff auch die Existenz von Gottes Unendlichkeit. Dieser dritte Gottesbegriff wird von Badiou nur noch äußerst oberflächlich durch den allgemeinen Verweis auf »die Theologen«403 auf seinen theologischen Bezug bzw. Gehalt zurückgeführt. Jedoch ist sich Badiou der philosophischen Rationalisierung des Gottesbegriffs durch Descartes – ich meine die Tatsache, dass Gott mit und seit Descartes hauptsächlich als rationalisiertes Prinzip verwendet wird404 – durchaus bewusst. So verweist er auf die Kritik Pascals an Descartes’ Gottesbegriff. Bei Descartes gehe es laut Pascal nicht mehr um den Gott »Isaaks und Jakobs«, also um den Gott des christlichen Glaubens.405 Noch unspezifischer ist Badious Gottesbegriff hinsichtlich des vierten Unendlichkeitstyps, der sich durch seine Nähe zum Absoluten auszeichne. Hier verweist Badiou lediglich auf die christliche Angelologie der scholastischen Theologie sowie auf die Mystik. »Einerseits wird die Hierarchie der Engel, vom quasi-irdischen Schutzengel bis zum immateriellen Seraphim, konzeptionell durch Typen immer größerer Nähe zur göttlichen Eins-Unendlichkeit verwirklicht. Andererseits erzählt die Mystik in Gedichten die erfahrenen Figuren der ekstatischen Vernichtung, auf die die Hierarchie der Engel verweist.«406 Badiou bezieht sich hier offenbar auf Grundgedanken der Angelologie, die auf PseudoDionysios und Gregor den Großen (um 500 n. Chr.) zurückgeht. Beide sprachen von »›9 Chören der E[ngel]‹«, die in »›3 Hierarchien‹ (E[ngel], Erzengel, Fürstentümer; Mächte, Kräfte, Herrschaften; Throne, Cherubim u. Serubim)« gegliedert wurden.407 Mit der Vernichtung, auf die die Hierarchie der Engel hinweise, dürfte er sich auf biblische Passagen wie die Johannes Offenbarung beziehen, in der Engel bei der Vernichtung der Welt zum letzten Gericht eine aktive Rolle einnehmen (Offb. 14, 6–20). Badious Referenz auf die Mystik bleibt sehr vage. Für eine Diskussion des Gottesbegriffs bei Badiou ist der Gottesbegriff des vierten Unendlichkeitstyps kaum ertragreich. Am ausführlichsten setzt sich

402 »Descartes opère ainsi avec les concepts d’être et d’existence, puisque, en Dieu, contrairement à ce qui se passe dans le fini, le concept de ce qu’il est entraîne, si l’on peut dire, l’obligation de l’existence : c’est le fameux argument ontologique.« ABIV 284. 403 Ebd., 284. 404 Schmidinger schreibt, dass Gott bei Descartes »ein reines, durch den Verstand (die Vernunft) erschlossenes und in Anspruch genommenes Prinzip des Systems« wurde, ein »absolut sicheres Erkenntnisprinzip«. Schmidinger : Metaphysik, 179. Hervorhebungen im Original. 405 ABIV 86. 406 »D’une part, la hiérarchie des anges, depuis l’ange gardien quasi terrestre jusqu’aux séraphins immatériels, se réalise conceptuellement par des types de proximités de plus en plus étroites avec l’Un-infini divin. D’autre part, la mystique relate en poèmes les figures expérimentées de l’anéantissement extatique vers quoi pointe la hiérarchie des anges.« Ebd., 285. 407 Haubst, Rudolf: Engel, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Band 3, Freiburg 2 1986, 869; vgl. Rahner, Karl: Angelologie, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Band 1, Freiburg 2 1986, 533–538.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Badiou in L’Immanence des vérités stattdessen mit dem Gottesbegriff Spinozas auseinander. Doch warum ist Spinozas Gottesverständnis für Badiou überhaupt eine Herausforderung? Denn ebenso wie in seinen früheren Büchern vertritt er in L’Immanence des vérités die These vom »Tod Gottes«. Nicht nur solle jegliches Denken der Transzendenz aufgelöst werden, sondern Badiou beansprucht die philosophischen Konsequenzen, die aus dem Tode Gottes folgen, wahrzunehmen und aufzugreifen. »Das philosophische Bestreben der Moderne besteht hier genau darin, diesen absoluten Wert [der Wahrheit, P.A.] von jeder Transzendenz zu trennen. Oder vielmehr, ohne Schwäche alle möglichen Konsequenzen aus dem Tode Gottes zu ziehen, ohne dabei weder die Existenz der Wahrheiten noch ihre Absolutheit zu opfern.«408 Wie in allen seinen früheren Büchern ist auch in L’Immanence des vérités der Tod Gottes durch die Auflösung der Eins bzw. des Einen begründet. Seit L’être et l’événement ist das Argument der Auflösung der Eins auch auf die mathematische Mengenlehre konzentriert.409 Das dialektische Argument (»Eins teilt sich in zwei«), das Théorie du sujet eröffnete, hat Badiou nicht weiter verfolgt und es spielt auch im letzten Band der Trilogie keine Rolle. Hier, in L’Immanence des vérités, wird deutlich, welche Gottesbegriffe sich Badiou zufolge aufgelöst haben. Es ist zunächst die christlich-philosophische Linie vom Neuplatonismus Plotins, über die Konzilstheologie Nicäas, hin zum philosophischen Rationalismus Descartes sowie zum Pantheismus Spinozas. Den biblischen Gott des Glaubens, den Pascal gegenüber Descartes einfordert, will Badiou hingegen nicht antasten. Aufgrund der Tatsache, dass es sich um einen Gott des Glaubens handle, spiele er für die Philosophie, die Badiou entwirft, keine Rolle. Dennoch sieht sich Badiou einer Klärung verpflichtet: »Ich möchte direkt sagen, dass der Gott, über den ich sprechen werde, nicht der Gott der Religionen ist. Aus meiner Sicht gibt es keinen wirksamen Einwand gegen den Gott der großen Monotheismen. Einfach deshalb, weil die Existenz und die Taten dieser Art Gottes durch antike Erzählungen bewiesen werden. Man kann jedoch nichts gegen eine Erzählung einwenden. Der Einwand, dass diese Erzählungen, Bibel, Neues Testament oder Koran, Fälschungen sind, die von großen Dichtern und mächtigen Propheten, die alle halb verrückt sind, erfunden wurden, ist ein sehr schwacher Einwand. […] Der Streit über die religiösen Erzählungen ist ein Streit ohne Ausgang, einfach deshalb, weil die Erzählung das Objekt der Begierde des Gläubigen ist, und dass genau deshalb das existiert, was den Namen ›Glaube‹ verdient.«410 408 »L’effort philosophique moderne est précisément ici de séparer cette valeur absolue de toute transcendance. Ou encore, de tirer sans faiblesse toutes les conséquences possibles de la mort de Dieu, sans sacrifier pour autant ni l’existence des vérités, ni leur absoluité.« ABIV 22. 409 In L’Immanence des vérités bleibt Badiou bei dem Argument, dass eine Menge aller Mengen inkonsistent sei und es folglich auch keinen Gott geben könne. Ebd., 40. 410 »Je voudrais dire tout de suite que le Dieu dont je vais parler n’est pas le Dieu des religions. De mon point de vue, il n’existe aucune objection efficace contre le Dieu des grands monothéismes. Tout simplement parce que l’existence et les actes de ce genre de Dieu sont avérés par d’antiques récits. Or, on ne peut rien objecter à un récit. L’objection selon laquelle ces récits, Bible, Nouveau Testament ou Coran, sont des faux, fabriqués de toutes pièces par de grands poètes et de puis-

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Badiou klärt, dass er sich in seinen Ausführungen zum Gottesbegriff nicht auf den Gott der Religionen bezieht. Zwar ist meines Erachtens aus diesem Zitat nicht zu entnehmen, dass Badiou zum »Gott der Religionen« ein positives Verhältnis einnehmen möchte. Genauso wenig scheint mir aber das Gegenteil, also dass Badiou sich hier ironischpolemisch gegen die monotheistischen Religionen wende, zuzutreffen. Aus der Auffassung, dass die Erzählungen der Bibel Erfindungen seien, folgt für Badiou nicht die Notwendigkeit ihrer pauschalen Ablehnung. Am deutlichsten zeigt Badiou einen konstruktiven Umgang mit biblischen Erzählungen bzw. Briefen in seinem Paulusbuch, in dem er zwar die Auferstehung Christi eine Fabel nennen, aber dennoch Paulus als den Begründer eines bestimmten egalitären universalistischen Denkens behaupten kann.411 Für sein Anliegen in L’Immanence des vérités muss Badiou jedoch keinen positiven Ertrag aus den großen monotheistischen Religionen ziehen und kann diese deshalb schlicht für seine Debatte um den Tod Gottes und den Nachweis des enttheologisierten Absoluten unberücksichtigt lassen. Stattdessen widmet sich Badiou Spinozas Gottesbegriff. Dieser unterscheide sich in einem zentralen Aspekt von demjenigen des Neuplatonismus sowie Descartes’. Spinozas Gott sei kein transzendenter, sondern ein immanenter (oder transimmanenter) Gott, der der Garant eines ersten modernen konsequenten Materialismus sei. Badiou diskutiert Spinozas Gottesbegriff in der Introduction, wenn er die Grundzüge seiner »absoluten Ontologie« präsentiert.412 Was Badiou unter einer absoluten Ontologie versteht, werde ich im folgenden Kapitel ausführen. Hier soll der Hinweis genügen, dass die absolute Ontologie Garant absoluter Wahrheiten in materialistischer Absicht sein solle und dass von ihr aus die Unendlichkeit als Bedingung der endlichen Entitäten gedacht werden könne. Badiou erkennt in Spinozas Werk ein ähnliches Anliegen, insofern Spinoza mechanistisch denkend davon ausgehe, dass alles endliche Einzelne, durch die Existenz eines anderen endlichen Einzelnen bestimmt sei. Insgesamt werde jedes endliche Seiende jedoch durch etwas Unendliches bestimmt. Dies sei die Substanz, die Spinoza Gott nennt. »Anders gesagt, die Erkenntnis der kleinsten endlichen Bewegung erfordert die ontologische Garantie der Substanz, die auch Gott oder Natur genannt wird.«413 Zwar vertritt Badiou kein mechanistisches Weltbild, aber er geht ebenfalls von einer absoluten Ontologie aus, von der aus das Sein alles Unendlichen wie Endlichen gedacht werden könne. Handelt es sich bei Badiou und Spinoza um denselben ontologischen Garanten? Dann wäre Badious Absolutheit nichts anderes als der Gott Spinozas, was auch bedeuten würde, dass Gott im Sinne Badious nicht tot sein könne. Der Unterschied zwischen Spinoza und Badiou besteht in der Vorstellung des Einsseins des ontologischen Garanten. So konstatiert Badiou: »Ich unterscheide mich von

sants prophètes, tous à demi-fous, est une objection très faible. […] La dispute sur le récit religieux est une dispute sans issue, tout simplement parce que le récit est l’objet du désir du croyant, et que c’est là précisément qu’existe ce qui mérite le nom de ›foi‹.« ABIV 180. 411 Vgl. Badiou: Saint Paul. Sowie meine Interpretation in Geitzhaus: Paulinischer Universalismus. 412 ABIV 35–38. 413 »Autrement dit, la connaissance rationnelle du moindre mouvement fini exige la garantie ontologique de la Substance, nommée aussi Dieu, ou Nature.« Ebd., 37.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Spinoza in dem einen Punkt: der absolute Referent kann nicht die Form der Eins haben. Er kann nicht der unendliche Ausdruck eines ewigen Wesens sein.«414 Badiou zitiert zur Unterscheidung Spinozas Definition seines Gottesbegriffs aus der Ethik:415 »Unter Gott verstehe ich ein unbedingt unendliches Seiendes, d.h. eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige und unendliche Essenz ausdrückt.«416 Der Gott Spinozas zeichne sich folglich durch seine Immanenz aus, unterscheide sich dementsprechend vom neuplatonischen Gedanken des transzendenten Gottes, bleibe aber als Substanz ein einziger Gott. »Er [Gott, P.A.] ist der Ort, von dem aus unter dem Namen der Substanz das Sein-als-Sein ausgesagt wird.«417 Badious Argument gegen einen solchen Gott ist, wie bereits erwähnt, dass eine Menge aller Mengen und folglich auch ein Gott, wie ihn Spinoza denke, nicht existieren könne. Er schreibt: »Die Überzeugung, die ich habe, dass Gott tot sei, versteht sich hinsichtlich des Gottes Spinozas, trotz seiner behaupteten Immanenz. Denn der Tod Gottes ist weniger derjenige der Transzendenz als derjenige der Eins, des Einzigen. Und außerdem – aber das betrifft mehr Hegel – der der Totalität.«418 Der Tod Gottes, den Badiou proklamiert, ist vor allem gegen den Gott Spinozas gerichtet. Die Auflösung der Transzendenz ist ja bereits mit Spinoza und Hegel geschehen. Es ist das Denken der Eins, und insbesondere das Denken einer immanenten Eins, das noch nicht aufgelöst war, und das auf diese Weise von Badiou in Frage gestellt wird. Die Unterscheidung des Gottes der Religionen und des Gottes der Eins lässt meines Erachtens Badious Unternehmen weniger als eine Religionskritik, denn als eine Theologiekritik verstehen.419 Theologie verstehe ich hier in einem sehr allgemeinen Sinne als Wissenschaft und Rede von Gott. Eine Theologie, die sich als Wissenschaft von Gott auffasste und Badious Auflösung des philosophischen Gottes teilte, müsste auch klären, inwieweit sich ihr »religiöser« Gottesbegriff von dem philosophischen trennen ließe. Auf welche Weise wäre dann ein religiöser Gottesbegriff theologisch rational zu vertreten? Diese Frage werde ich anhand der Theologie von Johann Baptist Metz diskutieren. Hinsichtlich

414 »Je divergerai de Spinoza sur un seul point : le référentiel absolu ne peut être dans la forme de l’Un. Il ne peut être l’expression infinie d’une essence éternelle.« Ebd., 38. 415 Ebd., 38. 416 Spinoza, Baruch de: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch–Deutsch, Sämtliche Werke, Band 2, hgg. von Wolfgang Bartuschat, Hamburg 2015, 5 f (Buch 1, Definition 6). 417 »Il est le lieu où se prononce, sous le nom de substance, l’être en tant qu’être.« ABIV 38. 418 »La conviction où je suis que Dieu est mort s’étend au Dieu de Spinoza, en dépit de son immanence affirmée. Car la mort de Dieu est moins celle de la transcendance que celle de l’Un, de l’Unique. Et aussi bien – mais ceci viserait plutôt Hegel – de la Totalité.« Ebd., 38. 419 In diesem Sinne teile ich zwar Karlsens Auffassung, dass es sich bei Badiou um eine Metaphysikkritik handelt, nicht jedoch, dass diese Metaphysikkritik eine Religionskritik bietet. Badious Theologiekritik wäre dann sogar zentral für Badious L’Immanence des vérités. Karlsen: »So, if there is something like a ›critique of religion‹ in Badiou’s work, which I will argue there is, it is not a kind of straight forward and explicit critique, but rather something resembling, in certain ways at least, the more general ›critique of metaphysics‹ proposed, for instance, by Nietzsche and Heidegger, though in a more indirect sense, since neither critique of religion nor of metaphysics is the definitive issue to Badiou.« Karlsen, Mads Peter: The Grace of Materialism: Theology with Alain Badiou and Slavoj Žižek . København: Det Teologiske Fakultet. Publikationer fra Det Teologiske Fakultet, Vol. 21, 2010, 71f.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

Badiou bleibt zunächst noch zu klären, was er unter dem Begriff des Absoluten versteht, wenn dieser keine Eins sein soll. Meine These ist, dass Badiou das Unternehmen, ein Absolutes, das keine Eins ist, zu begründen, nicht gelingt, da er über den Begriff des Ortes des Absoluten wieder eine Eins in seine Ontologie und damit auch in seine Philosophie einführt. Das zentrale Argument Gottes – die Auflösung der Eins – verliert dadurch seine Konsistenz.

2.4.5 Der Ort des Absoluten – die Renaissance der Totalität Mit dem Konzept des Absoluten und des »Ortes des Absoluten« unternimmt Badiou in L’Immanence des vérités einen theoretischen Höhenflug. Es handelt sich nicht nur angesichts der begrifflichen Differenziertheit sowie der referierten mathematischen Komplexität um einen Höhenflug, sondern auch methodisch. Die Darlegung des Begriffs des Absoluten ist eine spekulative Angelegenheit, wie ich in Kapitel 2.4.1 ausgeführt habe. Die spekulative Methode zeichnet sich im allgemeinen Sinne dadurch aus, dass sie nicht von einem Erfahrungsgehalt ausgeht oder ihre gewonnenen Erkenntnisse an einen direkten oder indirekten Erfahrungsgehalt rückkoppeln muss, sondern dass sie unabhängig eines Erfahrungsgehaltes begrifflich nach Erkenntnis strebt. Im Falle von L’Immanence des vérités heißt das, positiv zu bestimmen, was eine Wahrheit sei, unabhängig von ihrem Erscheinen. Dafür bedarf Badiou des Absoluten. In L’être et l’événement und Logiques des mondes erschienen Wahrheiten in Form sogenannter Wahrheitsprozeduren. Eine Wahrheitsprozedur war die Entfaltung der unendlichen Möglichkeiten, die ein Ereignis bietet. Damit war eine Wahrheit auch an ein Ereignis sowie an einen Agenten, ein Subjekt, das die Wahrheitsprozedur ausführt bzw. praktiziert, gebunden. Gleichzeitig war eine Wahrheit nicht etwas festgelegtes, das heißt, dass sich eine Wahrheit als solche erweisen musste. Erst im Nachhinein werde sich eine Wahrheit als wahr erwiesen haben. Ein Subjekt, das Agent einer Wahrheitsprozedur sein will, entscheide sich deshalb für ein riskantes, weil ungewisses Unternehmen. Das vermeintliche Ereignis könne sich auch als Irrtum und die Wahrheitsprozedur als unwahr herausstellen. In L’Immanence des vérités löst sich Badiou grundsätzlich nicht von diesem Konzept. Jedoch sieht er die Gefahr, dass eine so konzipierte Wahrheit nicht vor einer relativistischen Infragestellung gefeit sei. Eine Wahrheit könnte nämlich in der einen Welt – Badiou hat in Logiques des mondes einen Weltenpluralismus entwickelt – wahr sein, in einer anderen nicht. Was garantiert also die vollständige Gültigkeit einer Wahrheit? Was macht, um mit Frank Ruda zu sprechen, eine Wahrheit wahr?420 Die Frage nach der Wahrheit einer Wahrheit richtet sich auf ihren absoluten Charakter. Es scheint sich dabei jedoch weniger um einen Wahrheitsgehalt, sondern um die Form einer Wahrheit zu handeln. Genauer: Der Gehalt (Inhalt) einer Wahrheit ist bei Badiou ihrer Form nachgeordnet. In der Entfaltung dieser Form, die sich durch ihre Absolutheit auszeichne, besteht das spekulative Anliegen Badious. 420 »The Immanence of Truths attempts to formulate what makes a truth truly, really true, so that it is ultimately not relative to the situation or world whose truth it is or in which it appears as truth.« Ruda. To the End, 326.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Die Absolutheit einer Wahrheit sei, so Badiou, in einer absoluten Ontologie, die den Namen »V« trage, verbürgt. Die Definition von V lautet: »Wir sagen also, dass V der Ort ist, der die denkbaren Formen von allem, was einer singulären Form geschieht, d.h. die möglichen Formen von allen Vielheiten, versammelt.«421 Der Buchstabe V stehe als Abkürzung für »Vakuum«, »große Leere«, oder auch »die Wahrheiten«422 ; alle drei Begriffe beginnen im Französischen mit dem Buchstaben »V«: Vacuum, vide, Vérités. Dieser »Ort«, der alle denkbaren Formen aller Vielheiten versammle, sei nichts anderes als das Axiomensystem der Mengenlehre423 , denn die Mengenlehre sei ebenfalls die Theorie, die alle denkbaren Formen von Vielheiten versammle. Bei diesem Übertrag vom Ort V auf die Mengenlehre bzw. umgekehrt, von der Mengenlehre auf den Ort V ist zu beachten, dass Badiou von denkbaren »Formen« spricht. Badiou behauptet folglich nicht, dass sich an diesem Ort jede Singularität befindet, sondern, dass dort jede Form einer Singularität gedacht wird. Die Mengenlehre zeichne sich dadurch aus, dass sie dem Denken der Formen Konsistenz verleihe. Widersprüchlichen, das heißt inkonsistenten, Formen könne somit keine Existenz zukommen, da die Axiomatik der Mengenlehre, gemeint ist die ZermeloFraenkel-Axiomatik, durch die Prädikatenlogik erster Ordnung strukturiert werde.424 Um den mengentheoretischen Schwierigkeiten hinsichtlich eines solchen Ortes zu entgehen, nennt Badiou den Ort des Absoluten nicht eine Menge. Eine solche Menge wäre nichts anderes als eine Menge aller Mengen und damit inkonsistent. Badiou definiert diesen Ort V deshalb als Klasse. V ist nicht die Menge, sondern die Klasse aller Mengen. Eine Klasse zeichne sich dadurch aus, dass sie selbst keine Form des Seins, sondern ausschließlich des Denkens sein solle. »Die Klasse V, ich wiederhole, ist keine Menge, sie ist keine Form des Seins, aber sie ist der Ort des Denkens, der Ort des Denkens/Seins, am dem sich das formale Sein des Möglichen, unter den Arten der möglichen Formen des Vielheit-Seins als solchem, versammelt, das heißt, [sie ist das, P.A.] was die Form des Seins eines Objekts in einer bestimmten Welt konstituiert.«425 Eine Klasse unterscheide sich demnach von einer Menge dadurch, dass ihr kein Sein zukomme. Sie sei nur Ort des Denkens, nur gedachter Ort des Denkens. Weiterhin sei eine Klasse einer Menge übergeordnet. Berankova nennt die Klasse V auch treffend »the

421 »On dira donc que V est le lieu où se rassemblent les formes pensables de tout ce qui advient à une existence singulière, i.e. les formes possibles de toute multiplicité.« ABIV 41. 422 »Wir nennen konventioneller Weise V, den Buchstaben V, von dem wir sagen können, dass er das Vakuum, die große Leere, aber auch alle Wahrheiten […] formalisiert.« – »On appellera conventionnellement V, la lettre V, dont on peut dire qu’elle formalise le Vacuum, le grand vide, mais aussi bien les Vérités […].« Ebd., 40. 423 »Qu’est-ce que la théorie des ensembles? C’est la théorie du multiple quelconque, donc en fait la théorie de toutes les formes possibles de la multiplicité.« Ebd., 40. Hervorhebung im Original. 424 Ebd., 51. 425 »La classe V, je le redis, n’est pas un ensemble, elle n’est pas une forme de l’être, mais elle est le lieu de pensée, le lieu pensée/être, où se rassemble l’être formel du possible, sous les espèces des formes possibles de l’être-multiple en tant que tel, soit de ce qui constitue la forme d’être d’un objet dans un monde déterminé.« Ebd., 60.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

universe of mathematical thought«426 . Badious Gedanke ist meines Erachtens kontraintuitiv, da bislang die Mengen als abstrakte Formen aller denkbaren Vielheiten konzipiert wurden. Es war gerade Badious Anliegen, keine höhere Ordnung, keine Sammlung, aller Mengen vorzunehmen, sondern diese Möglichkeit als inkonsistent und widersprüchlich zu verwerfen. Darin bestand, wie im vorherigen Kapitel gezeigt, seine These des Todes Gottes, aus dem ohne »Schwäche« (Badiou) alle Konsequenzen gezogen werden müssten, wie er es martialisch formulierte. Wozu bedarf es also einer Klasse? Ist der Begriff der Klasse nicht eine rhetorische Figur, um den Begriff der Menge bloß zu vermeiden? Das hieße, der Signifikant wechsle bei gleichbleibendem Signifikat, welches nichts anderes als der Sachverhalt der Menge aller Mengen wäre. Badiou bemüht sich deutlich darum, diesen Schwierigkeiten zu entgehen. Ein Argument dafür, dass es sich bei dieser Klasse nicht um eine Eins/ein Eines im Sinne des spinozistischen Gottes handle, ist die Verneinung der Kontinuumshypothese. Was ist damit gemeint? Badiou möchte aufzeigen, dass der Ort bzw. die Klasse V als nicht konstruierbar existiere, dass die Klasse V »in-existiert«427 . Das Thema der Konstruierbarkeit oder nichtKonstruierbarkeit ist in der Mengenlehre im Falle der Frage der sogenannten Kontinuumshypothese aufgetaucht.428 Cantor fragte, ob die Menge der reellen Zahlen unmittelbar auf diejenige der natürlichen Zahlen folge, oder ob sich zwischen diesen beiden unendlichen Mengen auch andere unendliche Mengen befänden. Anders gefragt: Die Menge der natürlichen Zahlen gilt als die kleinste bekannte unendliche Menge. Wie groß ist nun der Abstand zwischen der kleinsten unendlichen Menge und ihrer (ebenfalls unendlichen) Folgemenge? Im Falle einer Folge von unendlichen Mengen hinsichtlich ihrer Mächtigkeit spräche man von einer kontinuierlichen Unendlichkeit. Darin besteht Cantors Kontinuumshypothese. Wenn diese These positiv bewiesen werden könnte, wäre das der mathematische Beweis eines hierarchisch konstruierbaren Universums. Wenn diese These jedoch nicht positiv (also unbeantwortbar) oder sogar negativ beantwortbar wäre, wäre das Universum nicht im mathematischen Sinne hierarchisch konstruierbar. Der berühmte Mathematiker Kurt Gödel hatte in den 1930er Jahren ein Modell auf Basis der Zermelo-Fraenkel-Axiomatik entwickelt, in dem die Kontinuumshypothese gültig war. Anfang der 1960er Jahren bildete hingegen Paul Cohen ein anderes Modell auf der gleichen Basis, in dem die Kontinuumshypothese nicht gültig sei. Daraus konnte gefolgert werden, dass diese These nicht beantwortbar sei. Bis heute wird von Mathematiker*innen, wie Hugh Woodin, an einem positiven wie negativen Beweis der Kontinuumshypothese gearbeitet.429 426 Berankova: The Attributes of the Absolute and Alain Badiou’s Response to Spinoza, 162. 427 ABIV 417. Hier spricht Badiou vom absoluten Referenten, der »in-existiert«. Der absolute Referent meint schlicht das Absolute, im Verhältnis zu seinen Attributen, den unendlichen Mengen. 428 Badiou beschäftigt sich an mehreren Stellen in L’Immanence des vérités mit der Kontinuumshypothese. In prägnanter Form in ABIV 65–70 und ausführlicher in 257–275. 429 Norma Hussey bietet einen kleinen historischen Überblick über die Entwicklung der Mengenlehre von Cantor bis in die gegenwärtigen Diskussionen, in: Hussey, Norma M.: A New Hope for the Symbolic, for the Subject, 366–371. Darüber hinaus führt sie die mathematischen Modelle auf grundsätzlich überzeugende Weise auf bestimmte gesellschaftliche und politische Orientierungen zurück. So zeigt sie auf, inwiefern das konstruierbare Mengenuniversum einer konservativen Orien-

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Badiou vertritt mit Cohen und aktuell auch mit Woodin die Auffassung, dass die Kontinuumshypothese nicht positiv bewiesen werden könne und somit das Mengenuniversum nicht hierarchisch konstruierbar sei. Hinsichtlich der Klasse V ist der mathematische Gedanke wichtig, dass eine mathematische Theorie dann kohärent ist, wenn von ihr ein Modell angefertigt werden kann.430 Mit Cohens Konzept der generischen Menge wurde ein Modell der Zermelo-Fraenkel-Axiomatik entwickelt, das nicht vollständig bestimmbar und damit nicht vollständig konstruierbar sei. Auf diese Weise belegte er die Unmöglichkeit, die Kontinuumshypothese überhaupt zu beantworten. Ein solches Modell bleibt immer (nur) eine Antizipation der Zermelo-Fraenkel-Axiomatik, da es niemals vollständig wird. Badiou formuliert deshalb: »Genau diese Vermutung hinsichtlich der Unendlichkeit nenne ich eine Idee. Eine Idee, welche sie auch sei, ist immer eine unendliche Antizipation, die von einer Existenz, die im Realen bestätigt werden muss, eines möglicherweise generischen Universums getragen wird.«431 Badiou bezieht sich hier auf Platons Ideenbegriff, den er sich für seine eigene Theorie aneignet. In Badious Platonrezeption sind die Ideen nicht Teil einer eigenen Ideen-Welt, sondern Teil des Universums und fungieren wie die möglichen gedachten Formen der Mengenlehre des Absoluten Ortes V. Entscheidend ist hier, dass Badiou diese Formen »unendliche Antizipationen« nennt. Antizipationen worauf? Meines Erachtens antizipieren diese Formen auf unendliche Weise das unendliche Absolute. Im Modus der Antizipation haben sie Anteil am Absoluten, doch dieses Absolute, die Klasse V, sei selbst nicht abschließbar. Weist dieser Gedanke nicht entgegen Badious Versicherung große Ähnlichkeiten zu Spinozas Substanzbegriff auf? Das, was Badiou Ideen nennt, wären Existenzweisen der unendlichen Substanz, die – zwar von der unendlichen Substanz unterschieden – diese unendliche Substanz aussagen. Die Tatsache, dass die Klasse V unabschließbar sei und deshalb in-existiere, soll für Badiou jedoch den Unterschied zum Substanzbegriff Spinozas und damit zu seinem Gottesbegriff ausmachen. Die Klasse V bleibe unvollständig. Doch ist Badious Unterscheidung plausibel? Berankova schreibt zur Verteidigung Badious: »In The Immanence of Truths, Badiou accepts Spinoza’s notion of the substance, yet he also refuses the supremacy of the One, the monotheistic form of Spinoza’s ontological guarantee that the latter had named God.«432 Berankova sieht also eine große Nähe von Badious Begriff des Absoluten und Spinozas Begriff der Substanz, akzeptiert aber Badious Behauptung, dass dieses keine Eins sei. Als Argument führt sie anschließend lediglich an, dass es bei Badiou keine Menge aller Mengen geben könne, deshalb auch keine Eins und folglich kein Gott möglich sei. Doch das, was bei Badiou sehr große Ähnlichkeiten zum Substanzbegriff Spinozas aufweist, ist der Ort, die Klasse, V, die ja gerade nicht als Menge definiert wurde. Meines Erachtens gelingt es Badiou nicht, die Eins mit seinem Begriff der Klasse V zu vermeiden. In seiner

tierung entspricht, insofern es das restriktivere Denken hinsichtlich dessen, was gedacht werden könne, ist. 430 ABIV 257. 431 »C’est précisément cette supposition quant à l’infini que j’appelle une Idée. Une Idée, quelle qu’elle soit, c’est toujours une anticipation infinie portant sur l’existence, à confirmer dans le réel, d’un univers possiblement générique.« IV 265. Hervorhebung im Original. 432 Berankova: The Attributes of the Absolute and Alain Badiou’s Response to Spinoza, 162. Hervorhebung im Original.

2. Badiou: Der »Tod Gottes« und die Neubegründung des Materialismus

eigenen Terminologie würde Badiou damit das genaue Gegenteil des Todes Gottes (gemeint ist der Gott Spinozas) beweisen und die Eins wieder einführen. Ich schlage deshalb vor, von einer Renaissance der Totalität in Badious L’Immanence des vérités zu sprechen.

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3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

Badious Feststellung des Todes Gottes beruht im Wesentlichen auf einer zentralen Annahme: »L’un n’est pas.« – »Das Eine ist nicht.«1 . Das Eine steht hier für das ontologische Eine. Alternative, vielleicht stärker verbreitete Termini für das, was das Eine bei Badiou bezeichnet, wäre ›Totalität‹ oder ›das Ganze‹. Die Begriffe ›das Eine‹, ›die Totalität‹ oder auch ›das Ganze‹ werden von Badiou mit dem Gottesbegriff gleichgesetzt. Gott wird als das Eine aufgefasst. Badiou schließt daraus: Wenn der Nachweis gelänge, dass der Begriff des Einen bzw. der Totalität inkonsistent sei, gelte das dementsprechend auch für den Gottesbegriff. Genau diesem Projekt hat sich Badiou verschrieben. In mehreren Ansätzen hat er sich darum bemüht, nachzuweisen, dass das Eine nicht sei, dass es inkonsistent sei. Im letzten Kapitel habe ich Badious Entwicklung dieser Ansätze chronologisch anhand seiner vier großen Abhandlungen – Théorie du sujet (1982), L’être et l’événement (1988), Logiques des mondes. L’être et l’événement 2 (2006) und L’Immanence des vérités. L’être et l’événement 3 (2018) – nachvollzogen. Ich konnte zeigen, dass Badiou in Théorie du sujet noch zwei grundsätzlich verschiedene Begründungen für die Inkonsistenz des Einen liefert. Einmal zeigt er mit Hegel auf, dass jedes Eine grundsätzlich und immer als gespalten existiere. Eine konsistente Eins sei deshalb nicht denkbar. Der zweite Ansatz baut auf dem mathematischen Argument auf, dass es keine widerspruchsfreie Menge aller Mengen geben könne. In seinen folgenden drei Büchern – und zahlreichen kleineren Veröffentlichungen – baut Badiou dieses zweite, mathematische Argument aus und verlässt das erste. Die Annahme, dass es keine konsistente Menge aller Mengen geben könne, führt Badiou auf das russellsche Paradox und das cantorsche Diagonalisierungsargument zurück. Die zentrale Schlussfolgerung dieser beiden Argumente ist, dass es bei der Bildung einer Menge aller Mengen zu Problemen hinsichtlich ihrer Selbstreferenz komme. Kann eine Menge aller Mengen sich selbst enthalten oder nicht? Sie muss sich selbst enthalten, wenn sie die Menge aller Mengen sein soll. Sie kann sich aber nicht selbst enthalten, wenn sie die Menge aller Mengen sein soll. Das Paradox ist in mengentheoretischer Hinsicht

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ABEE 31 [37]. Hervorhebung im Original.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

plausibel. Die Frage ist nun, auf welche Bereiche dieses Argument ausgedehnt werden kann. Kann es dazu verwendet werden, um die Unmöglichkeit Gottes nachzuweisen? In L’être et l’événement stellt Badiou die These auf, dass Mathematik Ontologie sei. Die These zielt nicht auf die Behauptung ab, dass das Sein mathematisch verfasst sei, sondern vielmehr, dass die Mathematik die exakte Sprache und die adäquaten Axiome dafür liefere, wie das Sein beschrieben werden könne. Genauer gesagt, gelte diese These für die Mengenlehre, die Ontologie sei. In der Folge bedeute das, dass alle mengentheoretischen Erkenntnisse wie auch Widersprüche für die Beschreibung des Seins gelten. Die wichtigste Erkenntnis sei die mengentheoretische Einsicht in die Inkonsistenz der Menge aller Mengen, die bedeute, dass es kein Sein als Eines geben könne. Stattdessen müsse von unendlich vielen Vielheiten ausgegangen werden, die sich nicht in einer letzten Totalität vereinen ließen. Badious Ontologie ist an die These geknüpft, dass Mathematik Ontologie sei. Nur dieser Zusammenhang ermöglicht die Plausibilität seines Arguments für die Inkonsistenz des Einen. Den Weg über die hegelsche Dialektik der Kategorienentfaltung hat Badiou nicht weiter verfolgt. Die Schwierigkeit, auf die Badiou mit seiner Gleichsetzung von Ontologie und Mathematik stößt, ist die Begründung eines widerspruchsfreien Ortes der Ontologie. Ist die Ontologie, die die Vielheit des Seins denkt, eine Vielheit unter anderen oder sind die Vielheiten des Seins Teilmengen und Elemente des Denkens der Vielheiten? Genauer: Ist die mengentheoretisch verfasste Ontologie ein vereinendes Prinzip oder nicht? Wenn sie es wäre, fiele sie unter das Paradox der Menge aller Mengen. Wenn sie kein vereinendes Prinzip wäre, wäre ihre beschreibende Reichweite stark begrenzt. Sie könnte nur sehr begrenzte Aussagen über das Sein oder die Vielheit des Seins tätigen. L’être et l’événement und Logiques des mondes sind beides Versuche, mit dieser Problematik umzugehen. In Logiques des mondes stellt Badiou fest, dass die Ontologie in L’être et l’événement zu stark wie ein vereinendes Prinzip konzipiert sei. Darauf reagiert er mit der Annahme, dass jede strukturiere Vielheit (jede »Welt«) ihre eigene Logik-Ontologie erzeuge. So attraktiv diese Reaktion auf den ersten Blick wirken mag, sie löst das Problem nicht. Annahmen über ›jede‹ strukturierte Vielheit stellen letztendlich nichts anderes als eine Logik-Ontologie für diese strukturierten Vielheiten dar. Doch auch wenn Badious Lösungsversuch an seine Grenzen stößt, bleibt er bis Logiques des mondes seinem Anliegen, die Inkonsistenz des Einen nachzuweisen, treu. L’Immanence des vérités ist dahingehend nicht mehr so eindeutig. Badious Ziel bleibt zwar weiterhin der Nachweis, dass es kein Eines gebe. Doch in seiner Begründung gerät er in erhebliche Schwierigkeiten. Meiner Analyse zufolge begründet er sogar das Gegenteil seiner Intention. Badious Anliegen ist es, in L’Immanence des vérités absolute Wahrheiten zu begründen, ohne dafür ein vereinigendes Prinzip zu benötigen. Dafür entwirft er einen sogenannten Ort des Absoluten. An diesem Ort seien alle denkbaren Formen der Seins-Vielheiten denkerisch vereint. Der Ort des Absoluten entspricht im Wesentlichen der mengentheoretisch verfassten Ontologie. Wenn Badiou nun einen solchen Ort begründet, begründet er damit ein vereinendes Prinzip, eine Eins. Wenn nun eine solche Eins sei, könne nicht mehr Badious Annahme aufrechterhalten werden, dass Gott tot sei. Im folgenden Kapitel diskutiere ich einige Aspekte des Zusammenhangs zwischen der Inkonsistenz des Einen und dem Tode Gottes. Diese Diskussionen baue ich auf meine

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

chronologische Analyse des letzten Kapitels auf, gehe jetzt aber systematisch – und nicht mehr chronologisch – vor. Über den Nachvollzug der Chronologie konnte ich zeigen, wie sich bestimmte Argumente Badious entwickelt haben und welches Argument welchem theoretischen Zusammenhang zugeordnet werden kann. Diese Zuordnung stellt sich dann als hilfreich heraus, wenn gleiche oder ähnliche Begriffe für unterschiedliche Sachverhalte verwendet werden. Dies gilt beispielsweise für den Begriff der Dialektik, den Badiou sehr unterschiedlich verwendet (vgl. 3.4). Ich beginne meine Diskussion mit einer Darstellung der unterschiedlichen Interpretationen Badious im Hinblick auf seinen Umgang mit der Theologie (3.1). Handelt es sich bei Badiou um eine anti-theologische, eine religionskritische, eine retheologisierende oder eine theologisch desinteressierte Philosophie? Meines Erachtens lässt sich der Grund für die sehr unterschiedlichen und gegensätzlichen Interpretationen von Badious Philosophie darauf zurückführen, dass das Verhältnis von Ontologie und Theologie unterschiedlich aufgefasst wird. Um Klarheit hinsichtlich der Interpretation herzustellen, halte ich es für notwendig, den theoretischen Status seiner Ontologie kritisch zu beleuchten. Auf welchen Annahmen beruht ein Argument? Was bedeutet ein Axiom bei Badiou? Auf welchen ontologischen Annahmen beruhen Badious Argumente, die die Theologie betreffen? Diesen Fragen gehe ich in Kapitel 3.2 nach. Meine grundsätzliche These ist, dass die zentralen Gedanken Badious hinsichtlich der Theologie in seiner Ontologie (und z.B. nicht in seiner Ereignistheorie) zu finden sind. In meinen Ausführungen zeige ich weiterhin auf, dass seine Ontologie entgegen seiner eigenen Intention nicht konsequent atheistisch ist (3.3 und 3.4). Das bedeutet, dass in seinem Denken eine Anti-Theologie und eine Theologie zu erkennen sind. Das Kapitel 3.5 ist den Grundzügen von Badious Ethik gewidmet. Der von Badiou beanspruchte Nachweis, dass Gott tot sei, führt ihn zu bestimmten ethischen Konsequenzen. Die Tatsache, dass Badiou unmittelbare ethische Konsequenzen aus seinen ontologischen Erkenntnissen zieht, weist auf die Relevanz dieser Ontologie hin. Bestimmte ontologische Entscheidungen können zu bestimmten ethischen Konsequenzen führen. Nicht zuletzt deshalb ist die Überprüfung der Kohärenz von Badious Ontologie von Bedeutung.

3.1 »Gott« versus Atheismus Die These, die ich vertrete, dass die Auseinandersetzung mit Gott von zentraler Bedeutung für Badious Werk ist, ist in der Literatur zu Badiou weitgehend unumstritten. Deutliche Unterschiede finden sich jedoch in der Interpretation dieser Auseinandersetzung. Baut Badiou schlicht auf einen common sense über die Bedeutungslosigkeit der Religionen auf oder nimmt er eine Re-Theologisierung der Philosophie vor? Von welchem Gott ist die Rede, wenn Badiou vom Tode Gottes spricht? Ist die Aussage des Todes Gottes ein Beweis, ein Axiom oder eine rhetorische Figur? Im Folgenden werde ich mich um die Klärung dieser Fragen bemühen. In 3.1.1 stelle ich – sehr abstrahierend – fünf unterschiedliche Interpretationstypen der badiouschen Philosophie hinsichtlich der Bedeutung seines Umgangs mit dem Gottesbegriff vor. In den Kapiteln 3.1.2 und 3.1.3 differenziere ich die Gottesbegriffe, die Badiou verwendet. Der Text Prologue: Dieu est mort verdient dabei eine besondere Betrachtung, da Badiou

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

dort eine sehr klare Unterscheidung unterschiedlicher Gottesbegriffe liefert. In Kapitel 3.1.4 wage ich einen kurzen Blick über den Tellerrand meiner Studie, da ich dort weitere theologische Motive, die den Gottesbegriff nicht unmittelbar treffen, nenne. Es überstiege aber den Rahmen meiner Studie, wenn ich diese Motive selbst noch einmal analysierte.2 Im letzten Kapitel 3.1.5 werde ich abschließend darlegen, warum ich die Interpretation der badiouschen Philosophie als eine wesentlich anti-theologische für adäquat erachte.

3.1.1 Fünf Interpretationstypen In der Literatur zu Badiou lassen sich fünf Modelle hinsichtlich des Gottesbegriffs unterscheiden: 1. Der konsequente Atheismus, 2. der Vorwurf der Re-Theologisierung der Philosophie, 3. Badious Philosophie als Post-Theologie, 4. die These des möglichen Gottesbeweises innerhalb von Badious Ontologie, 5. die These der Anti-Theologie und der Theologie in Badious Werk. 1. Der konsequente Atheismus: Peter Hallward darf ohne Zweifel zu den einflussreichsten Fachleuten der badiouschen Philosophie gezählt werden. Hallwards Badiou. A Subject to Truth, das 2003 veröffentlicht wurde, gilt als eine der differenziertesten und gleichzeitig verständlichsten Einführungen in die Philosophie Badious.3 Wie kaum andere Arbeiten führt sie in die komplexe Ontologie und Metaontologie Badious ein und betont auch die Bedeutung des Todes Gottes für seine Philosophie. Zu Beginn des ersten Kapitels widmet Hallward eine längere Passage unter dem Titel The Real Death of God der These des Todes Gottes,4 in der er konstatiert: »No one, perhaps, has taken the death of God as seriously as Badiou.«5 Badious »atheist philosophy« zeichne sich dadurch aus, dass sie die menschliche Endlichkeit ablehne und umgekehrt die Unendlichkeit als »säkulare« Dimension der Existenz bejahe.6 Damit einher gehe die Ablösung vom Gedanken der einen bzw. einzigen Unendlichkeit. Ermöglicht werde dieser Schritt durch die Rezeption der mathematischen Mengenlehre. In diesem Sinne charakterisiert Hallward Badious Atheismus auch als einen »ontologischen Atheismus«7 sowie als eine »›posttheologische‹ Ontologie«8 . Doch, so lässt sich fragen, wäre auch eine zeitgenös2 3

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Auf das Motiv der Figur des Apostels Paulus bin ich bereits eingegangen in Geitzhaus: Paulinischer Universalismus. Hallward: Badiou (2003). Andere differenzierte und gut verständliche Einführungen in Badious Werk sind: Barker: Alain Badiou (2002); Bosteels Badiou and Politics (2011); Feltham: Alain Badiou (2008). Zu beachten ist, dass alle genannten Studien noch nicht Badious L’Immanence des vérités, das erst 2018 veröffentlicht wurde, aufnehmen konnten. Hallward: Badiou, 6–10. Ebd., 7. »A genuinely atheist philosophy, then, must begin with a denial of human finitude, or, more positively, with an affirmation of infinity as the ordinary and thoroughly secular dimension of existence.« Ebd., 6. Hallward spricht gleichermaßen von der Säkularisierung und der Laisierung des Unendlichen (»laicization of the infinite«), ebd., 7. »Badiou’s philosophy, we might say, is ontologically atheist.« Ebd., 61–71, hier 62. Das Präfix »post« in »posttheological« scheint hier in erster Linie zeitlich konnotiert zu sein. Das »Posttheologische« charakterisiert in diesem Zusammenhang den Begriff »truly modern«. Ebd., 75.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

sische theologische Ontologie (oder Philosophie) möglich? Erschöpft sich eine theologische oder theistische Position in der Affirmation des einen Unendlichen sowie entsprechend in der Negation der Unendlichkeit des Menschen? Noch expliziter als Hallward eröffnet Frank Ruda seine Studie zu Badiou mit der These: »God is dead and idealism died on the very same day.«9 Ruda fährt fort, indem er diese These einerseits »quite self-evident« und andererseits als historisch bewiesen vorstellt.10 Der Beweis stamme von Georg Cantor und bestehe darin, dass innerhalb der Mengenlehre eine Menge aller Mengen inkonsistent sei.11 Ruda verknüpft in seinem Eingangsstatement »Gott« mit dem »Idealismus«. Der Gott, von dem hier die Rede ist, ist der Gott Descartes’, der das Prinzip seines (Descartes’) Idealismus ausmacht. Descartes schließt aus der menschlichen Erfahrung der Unvollkommenheit und Endlichkeit auf etwas, das sich durch das Fehlen von Unvollkommenheit und Endlichkeit auszeichnet. Dieses Etwas – Ruda spricht vom »lack of lack« – ist bei Descartes Gott.12 Insofern Badiou einerseits die Unendlichkeit pluralisiert sowie diese der menschlichen Existenz eröffnet und andererseits die Kategorie der Vollkommenheit fallen lassen kann, wird ersichtlich, auf welche Weise er den gemeinsamen Tod des Idealismus und des kartesianischen Gottes proklamieren kann. Die These vom konsequenten Atheismus in der Philosophie Badious kann zwar einerseits die Loslösung des Unendlichkeitsbegriffs vom Gottesbegriff durch die Mathematik aufzeigen. Andererseits unterliegt dieser Ansatz der Gefahr, theologische Elemente oder Motive in Badious Philosophie unter dieser These zu harmonisieren. So bleibt in dieser These einerseits der Gottesbegriff unterbestimmt, andererseits werden die theologischen Motive in Badious Arbeiten nicht als solche wahrgenommen, sondern vorschnell in eine atheistische Position integriert. Warum aber verwendet Badiou theologische Motive, wie die Rezeption der Paulusbriefe oder die Kategorien »Glaube« und »Wunder«?13 2. Der Vorwurf der Re-Theologisierung der Philosophie: In unmittelbarem Gegensatz zur These des konsequenten Atheismus befindet sich der Vorwurf einer Re-Theologisierung der Philosophie durch Badiou. Dieser Vorwurf wird zuweilen hinsichtlich bestimmter Aspekte von Badious Philosophie, über die die Theologie bzw. der Gottesbegriff in die Philosophie Einzug erhalte, formuliert. Daniel Bensaïd beispielsweise kommt zu dem Schluss, dass Badious Philosophie von der Sakralisierung des Ereignis-Wunders

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Ruda: For Badiou, 11. Ebd. Ebd. 12. Cantors »Beweis« ist allerdings nicht so eindeutig, wie Ruda suggeriert, da Cantor mit dem Begriff des Infinitum absolutum einen Bereich für Gott reserviert. Phelps nennt Cantors Vorgehen deshalb eine »re-theologization of the infinite«. Phelps, Hollis: Alain Badiou between Theology and Anti-Theology, Durham 2013, 46. Ebd. 86–93, hier 91. Für Hallward handelt es sich bei Badious Paulusrezeption um nichts anderes als ein Beispiel, um seine (Badious) Ereignistheorie zu veranschaulichen. Vgl. Hallward: A Subject to Truth, 108 und dazu Phelps: Alain Badiou between Theology and Anti-Theology, 131. Das Motiv des Paulus bei Badiou habe ich an anderer Stelle bereits analysiert und werde deshalb hier nicht weiter darauf eingehen. Vgl. Geitzhaus: Paulinischer Universalismus.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

heimgesucht sei.14 Andere gehen weiter, wenn sie sogar Badious gesamtes Unternehmen als eine Re-Theologisierung interpretieren. Herbert Böttcher hat diese These aus einer marxistischen (wertkritischen) sowie einer politisch-theologischen Perspektive im Anschluss an Johann Baptist Metz meines Erachtens am schärfsten formuliert. »Die philosophische Rückkehr zu einer Gestalt aus dem Bereich der Religion geht einher mit einer postmodernen Religionsfreudigkeit, die dezisionistisch-autoritäre und reflexionsfeindliche Züge trägt. Sie bewegt sich in der Nähe eines existentialistischen und philosophischen und theologischen Denkens, das Gewissheit über existentielle Erfahrungen gewinnen will und sich als ebenso reflexionsfeindlich erweist wie die Esoterik-Produkte, die auf den Esoterik-Märkten, aber auch in den Kirchen, angeboten werden.«15 Diese Passage enthält eine Reihe von Aspekten und Vorwürfen, auf die ich nicht alle en détail eingehen kann. Entscheidend ist hier, dass Böttcher eine Verknüpfung mehrerer Vorwürfe – des Dezisionismus, des Autoritären, der Reflexionsfeindlichkeit, der postmodernen Religionsfreudigkeit, der Esoterik, der existenziellen Erfahrung (die er der gesellschaftlichen Perspektive gegenüberstellt) – vornimmt. Alle diese Aspekte führten vor dem Hintergrund einer angenommenen gesellschaftlichen Tendenz der Religionsfreudigkeit zu einer »Wiederkehr der Religion« innerhalb der Philosophie.16 Böttcher gelingt diese Verknüpfung jedoch nur mit der Unterschlagung von Badious Intention einer atheistischen Philosophie. Darüber hinaus: Wenn eine gesellschaftliche Tendenz der Religionsfreudigkeit als Hintergrund angenommen wird, steht jede Auseinandersetzung mit Religion und religiösen Motiven in der Gefahr dieser Religionsfreudigkeit zu entsprechen. Böttcher nimmt darin die Differenzierungen hinsichtlich der theologischen Motive in Badious Philosophie nicht wahr. 3. Badious Philosophie als Post-Theologie: Das Motiv des Post-Theologischen, das bereits bei Hallward aufgekommen war, wird in der Studie von Christopher Watkin zu Alain Badiou, Jean-Luc Nancy und Quentin Meillassoux entwickelt. Hallward verwendet den Begriff des Post-Theologischen, wie erwähnt, in zeitlicher Hinsicht. Badious moderne Philosophie sei angesichts vormoderner Philosophien als posttheologisch zu charakterisieren. Watkin bietet im Unterschied zu Hallward einen differenzierten Begriff des Post-Theologischen an. Seine Überlegung folgt der Beobachtung, dass gegenwärtig in Frankreich eine philosophische Strömung zu erkennen sei, die »cannot be understood under the banner of ›atheism‹«17 . Er unterscheidet drei Typen atheistischen Denkens – einen »imitativen«, einen »parasitären« und einen »residualen« Atheismus –, die alle nicht mehr die Positionen von Badiou, Nancy und Meillassoux adäquat träfen.18 Der imitative Atheismus ersetze den 14 15

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Ich folge hier der Darstellung von Phelps in: Phelps: Alain Badiou between Theology and AntiTheology, 151. Böttcher, Herbert: Hilft in der Krise nur noch beten? Zur philosophischen Flucht in den paulinischen Messianismus, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr. 16, Koblenz 2016, 86–181, hier 88. Ebd., 165. Watkin, Christopher: Difficult Atheism, 1. Ebd., 1–21.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

Begriff »Gott« durch solche wie »Mensch« oder »Vernunft« und lehne zwar explizit theologische Kategorien ab, behalte aber implizit eine theologische Struktur bei. Der parasitäre Atheismus bediene sich hingegen explizit theologischer Begriffe, die ihres religiösen bzw. theologischen Kontextes entzogen würden. Das gelte für Begriffe wie »Glaube«, »Wunder« oder auch »Gott«. Der residuale Atheismus könne als Radikalisierung des imitativen Atheismus interpretiert werden, insofern nicht nur theologische Begriffe, sondern auch die theologische Struktur aufgegeben werden soll. Begriffe wie Wahrheit oder Gerechtigkeit würde nicht mehr durch den Verweis auf den Menschen oder die Vernunft begründet, sondern als theologische Konstruktionen fallen gelassen.19 Das Problem des residualen Atheismus sei jedoch, so Watkin, dass er Gott aus allem Seienden heraushalte und auf diese Weise Raum für einen Gott schaffe, der nicht näher bestimmt werden könne. Watkin schließt deshalb: »[A]theism will never be rid of God because it can only ever chase God to the borders of the rational, or the sensory. Ascetic atheism is condemned to a perpetual game of defense, always beating the bounds of its own territory (whether that be the limit of the sensory or of the rational) but never able to pursue the theological intruder beyond those bounds. In seeking to rid herself of God the would-be atheist has only succeeded in proofing God against her own attacks.«20 Die drei genannten Typen des Atheismus könnten niemals »Gott« loswerden, da sie diesen nur an einer immer neuen Grenze verorteten. Gerade im Versuch, Gott außerhalb dieser Grenzen zu positionieren, werde Gott immer wieder neu bewiesen. Als Alternative dazu nimmt Watkin bei Badiou, Nancy und Meillassoux eine »posttheologische Integration«21 wahr. Der Begriff des Post-Theologischen soll ein Denken nach Gott bezeichnen, das die Theologie nicht abzustoßen, sondern zu integrieren versucht. Watkins Beobachtung hinsichtlich der Problematik des Atheismus ist sehr instruktiv. Doch, so ließe sich fragen, werden auf diese Weise nicht unterschiedliche Strömungen im Denken Badious unter einen vereinheitlichenden Begriff harmonisiert? Badious Anliegen, eine wahrhaft atheistische Philosophie zu entwickeln, findet sich unter dem Begriff des Post-Theologischen nicht wieder. Müsste sein Anliegen nicht auch als solches benannt und theoretisch anerkannt werden (können)? Ob und inwiefern Badiou dieses Unternehmen gelingt, wäre zwar eine notwendige, aber nachgeordnete Frage. 4. die These des möglichen Gottesbeweises innerhalb von Badious Ontologie: Frederiek Depoortere hat in seiner theologischen Studie zu Badious Ontologie den Versuch unternommen, entgegen Badious eigener Intention die Möglichkeit eines Gottesbeweises zu formulieren. Depoorteres Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass er Badious Philosophie hinsichtlich des Denkens des Neuen akzeptiert und in die Theologie einführen möchte. In den Worten Depoorteres: »If we raise the question of how the (Christian) passion for the new can be ›saved‹ in our post-revolutionary age, the work of Badiou is very promising. Not only does it offer an analysis of why Marxism did not succeed, it espe-

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Ebd. 2f. Ebd. 11. Ebd. 11.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

cially holds out the prospect of a new kind of revolutionary subject.«22 In der Philosophie Badious – und vornehmlich in seiner Ontologie und Subjekttheorie – findet Depoortere nach dem diagnostizierten Ende des Marxismus die adäquate Theorie für eine zeitgenössische Theologie. Die Theologie der Befreiung sowie die Politische Theologie hatten insbesondere in der Zukunftsorientierung eine große Nähe von Marxismus und Christentum wahrgenommen.23 In seiner Studie wendet sich Depoortere gegen Lesarten, die Badiou eine Rückkehr der Religion oder ein »post-secular thought« unterstellen, da er – Badiou – seine Philosophie als »neither religious nor post-secular«, sondern als radikal atheistisch interpretiere.24 Und dennoch sieht Depoortere die Möglichkeit eines Gottesbeweises, die mit der badiouschen Ontologie der unendlichen Unendlichkeiten ohne Eins kompatibel sei. Darin fokussiert er sich auf Badious Rezeption der Mengenlehre von Cantor und stellt heraus, dass selbst Badiou bei Cantor den Versuch eines Gottesarguments gesehen habe. Cantor hatte in seiner Unendlichkeitstheorie zwischen dem Transfiniten und dem Infinitum Absolutum unterschieden. So seien beispielsweise aktuale Unendlichkeiten, wie die Menge aller natürlichen Zahlen, transfinit. Doch Cantor hielt auch ein absolut aktual Unendliches für möglich und auch für notwendig, um die transfiniten Unendlichkeiten überhaupt gewährleisten zu können. Dieses absolut Unendliche sei Gott vorbehalten. Die transfiniten Unendlichkeiten seien der Mathematik zugänglich, das Infinitum Absolutum hingegen nicht.25 Mit der Unendlichkeitstheorie Cantors im Hintergrund, hält Depoortere die Aussage »Gott ist tot« bei Badiou nicht für notwendig. Er kann sich dabei auch darauf berufen, dass diese Aussage Badious explizit als Entscheidung formuliert ist und dementsprechend kontingent sei.26 Depoortere geht noch einen Schritt weiter, da er sich auch gegen den möglichen Einwand wendet, dass der Gott Cantors oder Badious (›nur‹) ein metaphysischer Gott und nicht derjenige des christlichen Glaubens sei. Er vertritt hingegen explizit die These, dass der christliche und der metaphysische Gott identisch seien: »the so-called metaphysical God is the result of philosophical reflection on the Christian God. […] Or, to put it more explicitly, the God of the Christian tradition is the metaphysical God of the philosophers.«27 Depoortere interpretiert den Gott der Metaphysik bzw. der Philosophen als abstrakte Reflexion des christlichen Gottes. Dementsprechend träfen auch die Proklamationen Nietzsches oder Badious unmittelbar den christlichen Gott sowie umgekehrt ein Gottesargument Cantors ebenso für den christlichen Gott stehe. Doch, so ließe sich fragen, geht bei diesem Abstraktionsprozess nicht zu viel von der Personalität Gottes, von der die Bibel spricht, verloren? Und in Bezug auf die Rezeption der

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26 27

Depoortere: Badiou and Theology, 9. Vgl. meine Analyse in Kapitel 4.1 zum Zukunftsbegriff von Johann Baptist Metz. Ebd. 9; 21. Vgl. Depoortere: Badiou and Theology, 110–127. Vgl. Zu Cantor Tapp, Christian: Kardinalität und Kardinäle. Wissenschaftstheoretische Aufarbeitung der Korrespondenz zwischen Georg Cantor und katholischen Theologen seiner Zeit, Wiesbaden 2005, 61–116 sowie Meschkowski, Herbert: Probleme des Unendlichen. Werk und Leben Georg Cantors, Braunschweig 1976, 11–129. Depoortere: Badiou and Theology, 21f. Ebd., 24. Depoortere entwickelt diese These ausführlich in: Depoortere: The Death of God, 12.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

Mengenlehre Badious: Cantor wird von Badiou nur als Gründer, nicht als einziger Referent der Mengenlehre betrachtet, sodass die Theorie vom Infinitum Absolutum als eine nicht notwendige von ihm fallen gelassen wurde. 5. die These der Anti-Theologie und der Theologie in Badious Werk: Diese These, die vornehmlich von Roland Boer sowie von Hollis Phelps vertreten wird, ist meines Erachtens die eindeutigste hinsichtlich Badious Werk. Ihre Eindeutigkeit gewinnt sie durch die schlichte Feststellung, dass in Badious Philosophie beide Tendenzen deutlich zu finden seien. Seine Philosophie zeichne sich durch eine Anti-Theologie und durch eine Theologie aus. Erstere entspreche explizit Badious Intention, zweitere sei eher implizit und jenseits seiner Intention vorhanden – Boer spricht von einer »ghostly presence«28 der Theologie. In der theoretischen Unterscheidung beider Tendenzen gelingt es Boer und Phelps, einerseits Badious Ausführungen zur Ontologie, in denen er die Grundlagen der Theologie in Frage stellt, anzuerkennen. Andererseits müssen sie nicht alle theologischen Motive, die in Badious Werk existieren, in das Konzept der intendierten Anti-Theologie integrieren, wie es bei Hallward oder Ruda geschieht. Mit dem Begriff der Anti-Theologie, den Phelps verwendet, soll mehr als nur eine konfrontative Haltung (oder ein Desinteresse) Badious hinsichtlich der Theologie ausgedrückt werden. Phelps begründet diesen Begriff folgendermaßen: »I use the term ›anti-theology‹ to describe Badiou’s philosophy to emphasize the polemical stance it adopts with respect to theological forms of thought. Badiou’s philosophy is not merely non-theological, in the sense that it remains indifferent to theology and its concerns. Badiou’s philosophy comes out explicitly against theology, and in doing so attempts to provide an anti-theological alternative.«29 Phelps zufolge ist Badious Philosophie eindeutig als Anti-Theologie formuliert. Die Anti-Theologie sei dementsprechend nicht nur als ein Thema unter anderen zu begreifen, sondern sie sei das zentrale. Den Grund dafür sieht Phelps in Badious Ontologie der Vielheiten, die das Fundament seiner Philosophie bildet und dadurch eine zentrale (und umfassende) Stellung in Badious System erlangt.30 Doch Badious System geht über die Ontologie der Vielheiten hinaus und bemüht sich um die Begründung dessen, wie Neues geschehen kann. Sie ist auf das ausgerichtet, was nicht das Sein-als-Sein ist, wie es Badiou in L’être et l’événement formuliert.31 Doch an diesem Punkt könne, Phelps und Boer zufolge, Badiou die Theologie faktisch nicht vermeiden. Es seien insbesondere die Kategorien des Ereignisses und der Wahrheit, mit denen Badiou »a space for theology«32 eröffne. Der Ansatz weist deutliche Ähnlichkeiten zu dem Vorwurf der Re-Theologisierung der Philosophie von Bensaïd auf. Nur wird die Wahrnehmung der Theologie in Badious 28 29 30

31 32

Boer, Roland: The Fables of Alain Badiou, in Ders.: Criticism of Religion. On Marxism and Theology 2, Leiden/Boston 2009, 155–179, hier 156. Phelps: Alain Badiou between Theology and Anti-Theology, 10. Boer spricht zwar nicht explizit von einer Anti-Theologie, aber insofern er gleichermaßen Badious Ontologie gegen die/eine Theologie ausgerichtet auffasst, lässt sich seine Interpretation auch als »anti-theologisch« interpretieren. Gemeint ist das Ereignis, das offenbart, was nicht das Sein-als-Sein ist, ABEE 211 [217f.]. Boer: The Fables of Alain Badiou, 162.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Ereignistheorie nicht als Vorwurf formuliert. Vor allem bleibt die Theologie lokal in der Ereignistheorie verortet und wird nicht auf Badious gesamtes System ausgeweitet. Boer fasst das Verhältnis von Theologie und Anti-Theologie stattdessen als eine Spannung (»tension«33 ) auf. Es ist meines Erachtens überzeugend, dass in Badious Werk eine Anti-Theologie und eine Theologie zu erkennen sind, wie ich im Folgenden erläutere. Darüber hinaus ist es auch plausibel, dass beide Strömungen zentral für Badious Werk sind. Zu Fragen wäre jedoch, inwiefern das anti-theologische Unternehmen Badious selbst überzeugend ist. Welchen Gottesbegriff trifft Badiou mit der Auflösung der Eins und der Pluralisierung des Unendlichen (vgl. 3.1.2f.)? Wie tragfähig ist Badious Ontologie bzw. seine Gleichsetzung von Ontologie und Mengenlehre? Meine These ist, dass Badiou zwar den ernsthaften Versuch einer Anti-Theologie präsentiert, aber nur auf Kosten seines materialistischen Anspruchs (vgl. 3.2.3).34 Angesichts dieser fünf äußerst heterogenen Interpretationstypen stellt sich die Frage, welchem oder welchen der Vorzug zu geben ist bzw. welche Elemente aus den jeweiligen Typen plausibel sind. Ist Badious Werk als ein theologisches oder ein atheistisches oder gar als theologisches und atheistisches aufzufassen? An welchen Merkmalen lässt sich für das eine oder das andere argumentieren? Und welche Bewertung impliziert die Entscheidung für das eine (theologisch) oder das andere (atheistisch oder sowohl als auch)? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich mich zunächst dem Gottesbegriff bzw. den Gottesbegriffen in Badious Philosophie widmen.

3.1.2 Prologue: Dieu est mort (1998) Um sich Badious Gottesbegriff und entsprechend seinem Atheismusverständnis zu nähern, bietet sich seine kleine Veröffentlichung Court traité d’ontologie transitoire an, dessen Vorwort dem »Tod Gottes« gewidmet ist.35 Dieser Zugang findet sich in mehreren Badiouinterpretationen.36 Die Auseinandersetzung mit dem Gottesbegriff ist in Badious Werk, chronologisch betrachtet, bereits zehn Jahre früher präsent – in L’être et l’événement (1988) sowie in Théorie du sujet (1982) – und wird dort auch hinsichtlich des badiouschen Systems an zentralen Stellen behandelt. Im Court traité d’ontologie transitoire entwickelt Badiou jedoch einen ersten systematischen Versuch, die Gottesbegriffe, von denen er sich abgrenzen möchte, zu differenzieren. Die Entfaltung einer atheistischen Ontologie und Ereignistheorie in L’être et l’événement bleibt dabei auch im Court traité d’ontologie transitoire Grundlage.

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35 36

Ebd. 155. Obwohl Badiou in erhebliche Schwierigkeiten hinsichtlich der Auflösung des Totalitätsbegriffs gerät (vgl. 3.4), halte ich seinen Ansatz für einen grundsätzlich plausibel angelegten Versuch, ein atheistisches Programm zu realisieren. Badiou : Prologue. Dieu est mort, in : ABCT, 9–24. Depoortere: Badiou and Theology, 17f.; Phelps: Alain Badiou between Theology and Anti-Theology, 4f.; Watkin: Difficult Atheism, 22f.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

Badiou unterscheidet drei Gottesbegriffe: Den »Gott der Religion«, den »Gott der Metaphysik« und den »Gott der Dichter«.37 Die Unterscheidung der ersten beiden »Götter« ist seit Blaise Pascal ein Allgemeinplatz. Pascal erklärte, dass der Gott Isaaks, Jakobs und Abrahams nicht der Gott der Philosophen sei.38 Badiou rekurriert auch genau auf Pascals Unterscheidung und stellt fest, dass der Gott der Religion(en) immer ein Gott »von jemandem«39 sei. Ein Gott von jemandem sei Badiou zufolge immer ein lebendiger Gott. Als lebendiger Gott sei er aber auch fähig zu sterben und dies sei geschehen. Zu beachten ist, dass Badiou diese Aussage nicht deduziert und ihr auch kein Argument zugrunde legt, sondern dass er den Tod des Gottes der Religion(en) als seine Überzeugung präsentiert. Auf Lacans Vermutung, dass es unmöglich sei, »mit der Religion Schluß zu machen«40 , entgegnet er: »Nun, ich habe hierüber eine entgegengesetzte Überzeugung. Ich nehme die Formel ›Gott ist tot‹ wörtlich. Es ist geschehen, oder, wie Rimbaud sagte, es ist vorbei. Gott, mit ihm ist es aus. Und ebenfalls die Religion, sie ist aus.«41 Und er ergänzt: »Was überlebt, ist nicht mehr die Religion, sondern ihr Theater.«42 Es handelt sich also nicht um ein Argument, sondern um eine Überzeugung, die Badiou einer anderen Überzeugung – dass Gott lebe – entgegensetzt. Der Zusammenhang von der Lebendigkeit einer Religion und der Lebendigkeit eines Gottesbegriffs weist zwar Züge eines Arguments auf, insofern die Lebendigkeit Gottes in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Lebendigkeit einer Religion gestellt wird, aber auf diese Weise verlagert sich nur der Ort der Überzeugung, da auch die Aussage, dass es mit der Religion vorbei bzw. dass sie ein Theater sei, eine Überzeugung Badious ist. Letztendlich bleiben beide Aspekte, der Tod Gottes und das Ende der Religion, Überzeugungen. Dass Badiou hier keine Argumentation liefert, lässt sich sicherlich in erster Linie darauf zurückführen, dass es sich bei Prologue. Dieu est mort um ein Vorwort und keine Abhandlung handelt. 20 Jahre später wird Badiou in L’Immanence des vérités sogar explizit schreiben, dass er gegenüber dem Gott der Religionen nicht beansprucht, einen »wirksamen Einwand«43 nennen zu können. Wie verhält es sich mit den anderen beiden Göttern, dem Gott der Metaphysik und dem Gott der Poeten? Den Gott der Metaphysik bestimmt Badiou der gängigen Auffassung zufolge, als den Gott des Aristoteles und seinen philosophischen Nachfolgern. Es handelt sich um Gott als Prinzip, das bei Aristoteles der unbewegte Beweger ist. Badiou spricht auch vom »metaphysischen Motiv«44 . Ein Prinzip oder Motiv könne jedoch nicht sterben, es könne nur dekonstruiert werden. In diesem Sinne wäre der Tod des Gottes der Metaphysik bildlich für das dekonstruierte Gottes-Prinzip (z.B. als erste Ursache) zu verstehen. 37 38 39 40 41 42 43 44

»Dieu de la religion« bzw. »Dieu des religions«, »Dieu de la métaphysique« und »Dieu des poètes«, ABCT 9–24. Pascal, Blaise: Pensées – Gedanken. Ediert und kommentiert von Philippe Sellier, Darmstadt 2016, 346. Ebd., 12 [10]. Hervorhebung im Original. Ebd., 11 [9]. Ebd., 12 [10]. Ebd., 13 [11]. »De mon point de vue, il n’existe aucune objection efficace contre le Dieu des grands monothéismes.« ABIV 180. Ich komme auf diese Passage zurück. ABCT 16 [14].

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Der dritte Gottestyp, der Gott der Dichter, dürfte weniger als die anderen beiden Typen zum common sense gehören. Badiou nennt ihn den Gott der Dichter, weil er seinen Ursprung in Hölderlin festmacht und seinen Inhalt von Heidegger her deutet.45 Badiou verknüpft den Gott der Dichter mit dem Motiv der Melancholie, das er von dem Motiv der Trauer und dem Kritik unterscheidet. In der Sprache der Poesie werde diese Melancholie oder Nostalgie, die die Hoffnung auf einen rettenden Gott (oder rettende Götter) impliziere, ausgedrückt. Badiou rekurriert hier auf die berühmte Aussage Heideggers aus einem Interview mit dem Spiegel, dass nur ein Gott uns retten könne.46 Dort stellt Heidegger auch den Zusammenhang mit der Poesie her. Angesichts der Gefahr der technisierten Welt hält Heidegger jegliches menschliche Handeln für wirkungslos, außer die poetische Vorbereitung einer rettenden Gottesankunft. Badiou begreift auch diesen Gott als ein Prinzip, jedoch als eines, das vom metaphysischen Prinzip des Gottes als erste Ursache (unbewegter Beweger) unterschieden sei. Das vornehmliche Problem des Gottes der Dichter sieht Badiou im »Motiv der Endlichkeit«47 . Der Zusammenhang zwischen dem Gott der Dichter und dem Motiv der Endlichkeit wird in diesem Vorwort nur angedeutet. Dieses Motiv teilten Badiou zufolge alle drei Gottestypen. Der jeweiligen Unendlichkeit Gottes werde die Endlichkeit und Sterblichkeit der Menschen entgegen gesetzt. Hier setzt Badious Atheismus an: »Es ist also dringend erforderlich, um uns gelassen in dem unumkehrbaren Element des Gottestodes zu etablieren, daß wir mit dem Motiv der Endlichkeit Schluß machen, das wie die Spur eines Überbleibsels in der Bewegung ist, die die Ablösung des Gottes der Religion und des metaphysischen Gottes dem Gott des Gedichts anvertraut.«48 Der Gottestod bedeutet für Badiou ein Programm, das entfaltet werden müsse. Der zentrale Aspekt dieses Programms bestehe in der Überwindung des Motivs der Endlichkeit. In den folgenden Kapiteln von Court traité d’ontologie transitoire widmet sich Badiou diesem Programm. Inhaltlich bauen die Kapitel auf der Ontologie und Metaontologie von L’être et l’événement auf und fungieren als Übergang zu Logiques des mondes. Um Badious Überzeugung – Badiou spricht auch von einer Entscheidung49 –, dass Gott tot sei, die als Ontologie der Vielheiten entfaltet wird, nachzuvollziehen, empfiehlt es sich daher vornehmlich auf L’être et l’événement einzugehen. Der Court traité d’ontologie transitoire stellt dabei eine hilfreiche Ergänzung dar.50 45 46

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Ebd., 19 [17]. »Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken können. Dies gilt nicht nur von der Philosophie, sondern von allem menschlichen Sinn und Trachten. Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und im Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang; daß wir im Angesicht des abwesenden Gottes untergehen.« Heidegger, Martin: »Nur noch ein Gott kann uns retten«. Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger am 23. September 1966, in: Der Spiegel, 1976 Nr. 23, 209. ABCT 20 [18]. ABCT 20 [18]. Badiou: L’Éthique, 25 [40]; ABEE 31 [37]. Depoortere, Phelps und Watkin, die ihren Zugang zu Badious Gottesbegriffen über den Court traité d’ontologie transitoire gewählt haben, konzentrieren sich in ihren Analysen auch vornehmlich auf L’être et l’événement. Andere, wie Boer, schenken dem Court traité d’ontologie transitoire sogar kaum

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

3.1.3 Badious Gottesbegriffe Badious Differenzierungen in Court traité d’ontologie transitoire zum Gottesbegriff dürften bis zur Veröffentlichung von L’Immanence des vérités 2018 seine ausführlichste Darstellung zu diesem Thema sein. In L’Immanence des vérités werden dann das erste Mal ausführlich die unterschiedlichen Endlichkeits- und Unendlichkeitsmodelle mit verschiedenen theologisch-philosophischen Positionen in Verbindung gebracht. Bevor ich darauf eingehe, möchte ich in Erinnerung rufen, was der Ertrag der Analysen von Théorie du sujet und L’être et l’événement zum Gottesbegriff war. Zunächst ist auffällig, dass Théorie du sujet keine systematische Aufmerksamkeit in der Literatur zu Badious Umgang mit dem Gottesbegriff erfährt. Dabei gehört dort »Gott« zu einem der sieben zentralen Themen der Subjekttheorie.51 Wenn Badiou in Théorie du sujet von Gott spricht, meint er damit eindeutig den Gott des Christentums bzw. der antiken Philosophie, die er als christliche Philosophie auffasst. Die zentralen Kennzeichen Gottes, die dann auch in sein späteres Werk übernommen werden, sind einerseits sein Einssein, andererseits der Gegensatz von Unendlichem und Endlichem. Im Vergleich zu seinen späteren Büchern ist ein Aspekt in Théorie du sujet hervorzuheben: Badiou nennt hier (noch) zwei Modelle, mit denen er das Einssein Gottes auflöst. Neben dem mengentheoretischen Argument, dass eine Menge aller Mengen inkonsistent sei, entwickelt er ein dialektisches Argument, das von dem Primat der Zwei ausgeht. Zentrale Annahme dieses Arguments ist, dass jedes Eine kategorial als gespalten existiere. Auf der Grundlage von Hegels Daseinslogik geht Badiou davon aus, dass jede Eins gespalten in ein Etwas und ein Anderes auftrete und, dass auch keine letzte Zusammensetzung von Etwas und Anderem in einer Eins (Einheit) stattfinden könne. Dementsprechend sei es auch nicht möglich, ein konsistentes Einssein Gottes zu vertreten – weder als Ursprung noch als Ziel. Warum werden diese Überlegungen aus Théorie du sujet in der Literatur zu Badious Gottesbegriffen vernachlässigt? Dafür lassen sich mehrere Gründe nennen: Der erste besteht meines Erachtens darin, dass Badious Werk gemeinhin in unterschiedliche Phasen unterteilt wird: eine prä-maoistische, eine maoistische und eine post-maoistische. Théorie du sujet gehört eindeutig zur maoistischen Phase. Der Beginn der post-maoistischen wird häufig – orientiert man sich an Badious Veröffentlichungen – Peut-on penser la politique? von 1985 oder spätestens auf L’être et l’événement von 1988 datiert. In Peut-on penser la politique? deklariert Badiou das Ende des Marxismus und damit auch des Maoismus und in L’être et l’événement entwirft er einen neuen theoretischen Rahmen, der sich deutlich von seiner materialistischen Dialektik der maoistischen Phase unterscheidet. Dieses Argument verfolgen unter anderem Phelps und Depoortere52 . Für Phelps bedeutet die Verän-

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Aufmerksamkeit. Ein anderer Zugang zu Badious Umgang mit dem Gottesbegriff geht über sein Paulusbuch. Badiou setzt sich dort aber ausschließlich mit dem Christentum und nicht mit anderen philosophisch-theologischen Positionen auseinander. Neben Žižek wird dieser Weg vor allem von christlichen Theolog*innen eingeschlagen. ABTS 348 und meine Analyse in Kapitel 2.1.3. Phelps schreibt: »Declaring in 1985 in Peut-on penser la politique? the end or completion of Marxism, Badiou begins to develop a new framework for analysis.« Phelps: Alain Badiou between Theology and Anti-Theology, 2; Depoortere: Badiou and Theology, 6. Die Phasenunterteilung stammt

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

derung der Philosophie Badious, dass er (Phelps) sich ausschließlich auf die post-maoistische Phase beziehen müsse. Dieser Schritt ist grundsätzlich nachvollziehbar, wenn man sich an Badious eigener Philosophieentwicklung orientiert, denn tatsächlich wird das Argument der dialektischen Spaltung von ihm nach Théorie du sujet nicht mehr aufgegriffen. Ein weiterer Grund für die Vernachlässigung von Théorie du sujet in diesem Themenzusammenhang dürfte in der Tatsache liegen, dass Badious Gleichsetzung von Ontologie und Mathematik im Hinblick auf das 20. Jahrhundert in der Philosophie Innovation beanspruchen kann. Insofern ist es nachvollziehbar, dass überprüft wird, inwiefern Badious Ontologie und Metaontologie für die Philosophie (und Theologie) tragfähig sein können. Wie konsistent ist Badious Rückgriff auf das Argument, dass eine Menge aller Mengen inkonsistent sei, für die These, dass Gott tot sei? Das ist die zentrale Frage, die mit L’être et l’événement auftritt, und deren Antwort (wenigstens aus theologischer Perspektive) erprobt werden muss. Badious Charakterisierung Gottes als Eins und Unendlichkeit findet sich auch in L’être et l’événement wieder; hier allerdings in erster Linie auf indirekte Weise. Badiou grenzt sich immer wieder vom Gott als Eins sowie vom Gott als Unendlichkeit ab. Es sei eine »Verrücktheit« Cantors gewesen, Gott retten zu wollen, schreibt Badiou.53 Es tritt jedoch keine wesentliche Ergänzung des Gottesverständnisses zu demjenigen in Théorie du sujet hinzu. Ähnliches lässt sich ebenfalls zu Logiques des mondes konstatieren. Auch hier rekurriert Badiou nur sporadisch auf den Gottesbegriff, wenn er sich mit dem Begriff des Einen und dem der Unendlichkeit auseinandersetzt. Beide Bücher sind deshalb weniger für die Beantwortung der Frage nach Badious Gottesbegriff von Interesse, sondern mehr für seinen Umgang mit der These des Todes Gottes. Vor dem Hintergrund des Vorworts in Court traité d’ontologie transitoire fällt auf, dass Badiou in Théorie du sujet, L’être et l’événement und Logiques des mondes die Unterteilung des Gottesbegriffs in einen Gott der Religionen, der Metaphysik und der Dichter nicht vornimmt. Der Gottesbegriff dieser drei Bücher changiert vornehmlich zwischen der Bedeutung des Gottes des Christentums und der des Gottes der Metaphysik. Dadurch wird die Möglichkeit eröffnet, dass Badious Argumente gegen einen Gott (mit den Charakteristika des Einen und des Unendlichen) gleichermaßen den metaphysischen und den christlichen betreffen. Solange der christliche Gott mit dem Gott der Metaphysik identifiziert wird, ist dieser Eindruck auch grundsätzlich berechtigt und Badiou rekurriert ja auch auf Gottesbegriffe der christlich-theologischen Tradition, die eng mit der Philosophie verknüpft waren. Doch in Court traité d’ontologie transitoire und vor allem in L’Immanence des vérités differenziert Badiou diese Auffassung. In L’Immanence des vérités nimmt Badiou mindestens zwei entscheidende Differenzierungen vor. Mit der ersten geht er auf unterschiedliche Gottesbegriffe, die unterschiedlichen theologischen oder philosophischen Konzepten entspringen, ein. Mit der zweiten Differenzierung eignet sich Badiou bestimmte Elemente der Gottesbegriffe an und

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weder von Phelps noch von Depoortere, sondern wurde von Jason Barker, Peter Hallward, Oliver Feltham und anderen eingeführt. Depoortere und Phelps nehmen dieses Argument jedoch, um zu plausibilisieren, warum sie ihre Analysen erst mit L’être et l’événement beginnen. ABEE 54 [60].

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

stößt andere ab. Dieser Punkt ist von zentraler Bedeutung, da sich hier die Frage stellt, ob es Badiou gelingt, theologische Elemente beizubehalten, ohne ein neues Gottesargument einzuführen. Ich habe die Differenzierung hinsichtlich des Gottesbegriffs in Kapitel 2.4.4 analysiert und gezeigt, dass Badiou die Unendlichkeit, die mit Gott identifiziert wird, in vier Modelle unterteilt: 1. das Modell der Transzendenz des christlichen Neuplatonismus, 2. das Modell der Unteilbarkeit, das mit dem Konzil von Nicäa und mit Spinoza verknüpft ist, 3. das Modell des ontologischen Gottesbeweises bzw. des rationalisierten Gottesbegriffs von Descartes und 4. das Modell des Absoluten, ein hierarchisiertes Verständnis, das der scholastischen Theologie entstamme. Bei den vier unterschiedlichen Gottesbegriffen handelt es sich jeweils um unterschiedliche Verständnisse des Unendlichen sowie des Einsseins. Badious Ziel besteht nun in L’Immanence des vérités nicht mehr bloß darin, den Begriff der Eins aufzulösen und einen enttheologisierten Unendlichkeitsbegriff zu entwickeln, sondern auch einen Begriff des Absoluten zu entwerfen, der nicht mit einem Gottesbegriff konfundiert werden könne. Doch genau dieses Unternehmen gelingt ihm nicht überzeugend. Zwar ist es – offensichtlich – möglich, einen Begriff des Absoluten zu entwickeln, aber dieser Begriff weist bei Badiou dennoch Charakteristika eines Gottes auf, den er für tot erklärte, nämlich das Einssein. Badious Begriff des Absoluten ist auf einen Ort des Absoluten bezogen. In diesem Ort seien alle denkbaren Strukturen, das heißt auch alle Unendlichkeiten, enthalten. Es solle sich zwar nicht um eine Menge aller Mengen handeln, da eine solche inkonsistent sei, sondern um eine Klasse. Doch funktioniert diese Differenzierung im Übertrag der Mathematik in die Ontologie nicht. Die mathematische Differenzierung zwischen Menge und Klasse lässt sich nicht in die Ontologie übersetzen, da dort nur ausschlaggebend ist, ob ein Begriff eine/die Totalität bezeichnet, oder nicht. Der mathematische Begriff der Klasse hätte genau die Eigenschaften eines umfassenden Begriffs von Totalität. Dem Paradox einer Menge aller Mengen mit dem Begriff der Klasse zu entgehen, führte dementsprechend in das gleiche onto-theologische Denken, das Badiou und Heidegger an Kant kritisieren: Dass die Vernunft notwendig ein Gesamt postulieren müsse. Der Ort des Absoluten bei Badiou erfüllt letztendlich nichts anderes als die onto-theologische Annahme eines Gesamtes.

3.1.4 Badious theologische Motive Weit mehr als der Gottesbegriff sind es die zahlreichen theologischen Motive, die die Diskussion über Badious Verhältnis zum Christentum anregen. So war es sein Paulusbuch von 1997, das weltweit große Beachtung in der Theologie wie in der Philosophie erfahren hat. Badiou hat anhand der Figur des Apostels Paulus seine Ereignis- und Subjektphilosophie exemplifiziert. Die zentrale Frage, die seinen atheistischen Anspruch betrifft, ist, ob die Figur des Paulus lediglich ein Beispiel sei, das mehr oder weniger zufällig gewählt wurde, oder ob sich hinter der Verwendung dieser Figur mehr verbirgt, nämlich eine untergründige theologische Dimension seiner Philosophie. Zur Klärung dieser Frage werden in der Regel weitere theologische bzw. christliche Motive angeführt, die eine Verbindung des Begriffsfeldes des Christentums aus seinem Paulusbuch und seinen großen systematischen Schriften herstellen. Spricht Badiou in L’être et l’événement eben-

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

so zufällig vom Ereignis als Wunder54 oder von der Notwendigkeit des Glaubens oder der Treue des Subjekts zum Ereignis? Ich möchte die einzelnen christlichen bzw. theologischen Motive in Badious Werk in dieser Untersuchung nicht diskutieren, sondern mich auf seinen Gottesbegriff und die These vom Tode Gottes fokussieren. Die einzelnen theologischen und christlichen Motive wurden überzeugend von Phelps und Boer analysiert. Phelps hat meines Erachtens treffend dargelegt, dass sich Badious christliche Motive zu einem Gesamtbild fügen lassen, das deutliche strukturelle Gemeinsamkeiten mit den anderen vier sogenannten Wahrheitsprozeduren (Mathematik, Politik, Kunst, Liebe) aufweist.55 Phelps arbeitet heraus, dass auf einer strukturellen Ebene das Christentum wie die anderen Wahrheitsprozeduren funktioniere. Doch weist er auch darauf hin, dass die strukturelle Gemeinsamkeit auf der Text-Ebene zunächst nur ein Hinweis und noch kein Nachweis einer inhaltlichen Gemeinsamkeit sei. Phelps geht deshalb der Frage nach der Funktionsweise der poetischen und der mathematischen Sprache in Badious Werk nach. Hier stellt er fest, dass es gerade Badious Anliegen sei, die poetische und die mathematische Sprache nicht als Metapher, sondern als Ausdruck der Treue zu einem Ereignis zu begreifen. Umgekehrt bedeutet das, dass sich die Wahrheiten in diesen Sprachen unmittelbar ausdrücke. Phelps kann deshalb gegen Badious Intention von einer Theologie in seinem Werk sprechen. Es ist beachtenswert, dass Phelps und Boer Badious Theologie hauptsächlich im Bereich der Ereignis- und Subjekttheorie erkennen. Die theologischen Motive, wie Glaube, Treue oder Gnade treten in der Explikation der Wahrheiten und des Ereignisses auf. Am deutlichsten werden diese Explikationen in Badious Paulusbuch. Die erste Verbindung zwischen seiner Philosophie und Paulus’ Theologie gelingt ihm mit dem Begriff des Ereignisses. Die Auferstehung Christi sei als »Christusereignis«56 aufzufassen. Das Christusereignis geschehe einem Individuum oder einem Kollektiv aus Gnade, nicht aufgrund struktureller Notwendigkeiten. Erst in der Begegnung mit dem Ereignis könne ein Individuum zum Subjekt werden. Da das Ereignis nicht strukturell sei, könne die mit ihm einsetzende Wahrheit ebenfalls nicht strukturell sein; sie sei subjektiv und gehöre der Ordnung der »Überzeugung«57 an. Badiou übersetzt das griechische Wort πίστις mit »Überzeugung«, statt mit dem üblichen christlichen Begriff »Glaube«. Ein Subjekt entfaltet nach diesem Modell eine bestimmte Wahrheitsprozedur im Anschluss an das Ereignis. Nicht das Ereignis offenbare eine Wahrheit, sondern das Ereignis initiiere eine Wahrheitsprozedur, die von einem Subjekt gestaltet werde. Um eine solche Wahrheitsprozedur an einem Ereignis auszurichten, bedürfe es der Überzeugung bzw. des Glaubens, dass das Ereignis auch entgegen jeglicher struktureller Faktizität stattgefunden habe. In seinem Paulusbuch entwickelt Badiou seine Ereignis- und Subjekttheorie anhand zahlreicher christlicher Begriffe wie Liebe, Hoffnung, Solidarität. Einige dieser Begriffe

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»Sagen wir, ohne länger zu zögern, dass das Wunder – ganz wie der Zufall Mallarmés – das Emblem des reinen Ereignisses als Quelle der Wahrheit ist. […] Das Wunder ist das Symbol einer Unterbrechung des Gesetzes, in der sich das Eingriffsvermögen ankündigt.« ABEE 239 [245]. Phelps: Alain Badiou between Theology and Anti-Theology, 127. »l’événement-Christ«, ABSP, 27 [32], 33 [38], 42 [48] und öfter. »conviction«. Ebd., 17 [23].

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

finden sich auch in seinem Kapitel zu Pascal in L’être et l’événement sowie im Kapitel zu Kierkegaard in Logiques des mondes, das heißt in seinen systematischen Werken, wieder und können deshalb nicht nur als kreative Nebenprojekte zu den seriösen theoretischen Werken betrachtet werden. Boer schließt deshalb: »Perhaps we can sum up Badiou’s take on theology as follows: with the death of God at the hands of Cohen’s set theory (even though Cohen himself argued in favor of God), theology turns out to be a distinct language that provides a paradigmatic instance of the Event and its procedures of truth.«58 Ist es auch möglich, eine Theologie in Badious Ontologie und nicht nur in seiner Ereignis- und Subjekttheorie zu finden? Ähnlich wie Depoortere vertrete ich die These, dass tatsächlich bereits in Badious Ontologie theologische Elemente zu finden sind (vgl. 3.3.3f.). Im Unterschied zu Depoortere möchte ich allerdings nicht aufzeigen, dass ein Gottesbeweis, der an Cantor orientiert ist, in Badious Ontologie möglich ist, sondern, dass Badious Ontologie nicht konsequent atheistisch ist, wie er suggeriert.

3.1.5 Religionskritik, Post-Theologie oder Anti-Theologie Ich habe mich in meinen bisherigen Ausführungen vornehmlich an den Interpretationen von Phelps, Boer, Depoortere und Watkin orientiert und diese in Kapitel 3.1.1 als drei unterschiedliche Interpretationstypen gekennzeichnet. Im Unterschied zu den ersten beiden Interpretationstypen, in denen entweder der Atheismus oder die Theologie (in Form einer Re-Theologisierung) in Badious Werk wahrgenommen wird, präferieren die anderen drei Typen beide Ausrichtungen. Der Atheismus und die Theologie werden in Badious Werk jedoch unterschiedlich gedeutet und jeweils unterschiedlich in einen Zusammenhang gebracht. Daraus folgen auch unterschiedliche Begriffe hinsichtlich dieses Verhältnisses. Boer deutet den Begriff der Religionskritik an, insofern er seine Analyse zu Badiou in seiner Studie zur Religionskritik veröffentlicht hat, Phelps spricht hingegen von einer Anti-Theologie, und Watkin fasst Badious Philosophie als Post-Theologie auf. Zunächst zum Begriff der Religionskritik: Genau genommen, findet sich der Begriff der Religionskritik nicht in Boers Kapitel The Fables of Alain Badiou, sondern nur im Titel seines gesamten Buchs. Das Buch ist Teil einer umfangreichen Studie, in der jeder der fünf Bände ein anderes Objekt der Kritik als Titel trägt: Criticism of Theology, Criticism of Earth, Criticism of Heaven und Criticism of Religion. Eine Ausnahme stellt der fünfte Band In the Vale of Tears dar, insofern das Stichwort der Kritik nicht im Titel erscheint. Mir geht es jedoch nicht darum, Boer die Verwendung des Begriffs der Religionskritik nachzuweisen, sondern lediglich um die Diskussion dieses Begriffs. Boer selbst weist sogar in seinem Kapitel zu Badiou darauf hin, dass es richtiger sei, von Theologie statt von Religion bei Badiou zu sprechen. Warum?59 Badiou interessiert sich nur am Rande für das Phänomen ›Religion‹ oder für religiöse Praktiken. Stattdessen rekurriert er auf christlich-theologische Begriffe und Motive. Es wäre dementsprechend adäquater, von einer Theologiekritik denn von einer Re58 59

Boer: The Fables of Alain Badiou, 178. Boer meint wahrscheinlich an dieser Stelle nicht den Mathematiker Paul Cohen, sondern Georg Cantor. Boer: The Fables of Alain Badiou, 165.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

ligionskritik zu sprechen. Eine solche Unterscheidung wird beispielsweise auch für den berühmten ›Religionskritiker‹ Ludwig Feuerbach angeführt, der ja eine Kritik der Theologie und nicht eine der Religion vornahm.60 Entsprechendes wäre auch für Badiou zu beanspruchen. Doch der Begriff der Theologiekritik weist ebenfalls eine zentrale Schwierigkeit auf. Badious Philosophie lässt sich genau genommen nicht als eine ›kritische‹ Philosophie, sondern als eine axiomatische und eine affirmative auffassen. Ich komme auf diese Unterscheidung in Kapitel 3.4. zurück. Der Begriff der Kritik geht auf das griechische Wort κρίνειν, das mit »unterscheiden«, »entscheiden« oder »urteilen« übersetzt werden kann, zurück. Gunnar Hindrichs formuliert den Begriff der Kritik in einem weiten Sinne folgendermaßen: »Dieser griechischen Wurzel zufolge besteht Kritik in der unterscheidenden Entscheidung eines Urteils.«61 Für Badious Philosophie sind zwar auch Entscheidungen zentral – sie bilden in Form von Axiomen ihr Fundament. Doch hier ist genau die Art der Entscheidung nachzuvollziehen. Badious Entscheidungen bzw. Axiome werden nicht als Folge einer Unterscheidung und insofern nicht als Urteil präsentiert. Stattdessen muss sich die Tragfähigkeit von axiomatischen Entscheidungen in ihrer Erprobung erweisen. Sie sind nicht als Resultate, sondern als Ausgangspunkte formuliert. So ist Badious zentrale Aussage »Gott ist tot« nicht das Ergebnis einer Prüfung, sondern wird als Axiom, und das heißt, als ein Beginn gesetzt, von dem aus Konsequenzen gezogen werden können und sollen. Darin besteht auch ihre Affirmation. In diesem Sinne wäre es nicht adäquat, Badious Philosophie als eine Kritik der Theologie zu bezeichnen. Aber finden sich in Badiou tatsächlich keine Momente der Kritik? Handelt es sich nicht um eine Kritik, wenn er beispielsweise die unterschiedlichen theologischen und philosophischen Unendlichkeitsverständnisse in L’Immanence des vérités analysiert? Tatsächlich lassen sich Momente der Kritik in Badious Arbeiten nicht übersehen. Wenn jedoch eine umfassende Charakterisierung seines Umgangs mit Theologie vorgenommen werden soll, wie ich es hier beabsichtige, lassen sich diese kritischen Momente nicht als Programm interpretieren. Es wäre deshalb nicht von einer Kritik der Theologie, sondern von einer axiomatischen Philosophie, die kritische Momente beinhaltet, zu sprechen. Der Begriff der Post-Theologie ist ebenfalls nicht ganz adäquat, um Badious Umgang mit der Theologie zu charakterisieren. Watkin führt diesen Begriff ein, um ein neues Verhältnis von Atheismus und Theismus zum Ausdruck zu bringen. Beide Pole stünden bei Badiou nicht mehr bloß gegenüber, sondern der Theismus werde in den Atheismus integriert, sodass von einer Post-Theologie gesprochen werden könne. Badious Anliegen in L’Immanence des vérités, dass er einige Elemente des Gottesbegriffs beibehalten möchte, scheint Watkins Vorschlag zu entsprechen. Kann der Begriff der Post-Theologie jedoch das atheistische Selbstverständnis Badious erfassen? Der Begriff steht in Gefahr, diejenigen Anliegen Badious, die explizit gegen die Theologie gerichtet sind, zu verwischen.

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Vgl. Arndt, Andreas: Einführung, in: Ders.: Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums, Berlin 2020, 1–14. Hindrichs: Zur kritischen Theorie, 12. Dieser allgemeine Begriff der Kritik ist wiederum von dem spezifischen der kritischen Theorie der Frankfurter Schule zu unterscheiden, der insbesondere durch eine Kritik der Vernunft (Kant) und eine Kritik der politischen Ökonomie (Marx) geprägt ist. Ebd. 60.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

In seiner Studie gelingt es Watkin zwar, die atheistischen und theologischen Elemente in Badious Werk zu unterscheiden. Das ist jedoch ein Zeichen dafür, diese Elemente auch begrifflich differenziert zu belassen, statt sie im Begriff des Post-Theologischen zusammenzuführen.62 Angesichts der Vorbehalte zum Kritikbegriff in Badious Philosophie sowie zur Gefahr der Vereinheitlichung differierender Momente (Atheismus und Theologie) bietet sich der Begriff der Anti-Theologie an. Phelps’ und Boers Nachweis, dass Badious Werk als atheistisches und als theologisches konzipiert ist, lässt auf die Begriffe der Anti-Theologie und der Theologie schließen. Phelps Begriff der Anti-Theologie wird einerseits der Bedeutung des Atheismus in Badious Werk und andererseits seines axiomatischen Charakters gerecht. Badious Philosophie ist nicht bloß atheistisch, insofern sie sich kursorisch von der Theologie abgrenzt. Vielmehr ist sie als eine atheistische Philosophie explizit gegen die Theologie als Rede von Gott ausgerichtet. Die Aussage, dass Gott tot sei, ist für Badiou gleichbedeutend mit der Aussage, dass die/eine Totalität nicht sei. Beide Aussagen sind fundamental für seine Philosophie. Es sind Axiome und seine Philosophie ihre Entfaltung. Der theologische Charakter seiner Philosophie kann hingegen, wie Phelps gezeigt hat, hinsichtlich der Bedeutung, die dem Begriff der Überzeugung zukommt, ausgemacht werden. Die Überzeugung, dass ein Ereignis stattgefunden habe und dass mit diesem eine (neue) Wahrheit entfaltet werden müsse, die noch nicht zum allgemeinen Wissen geworden sei, ist Ausgangspunkt für Badious Philosophie. Das Motiv der Überzeugung gehört in seiner Terminologie hingegen in den Bereich der Anti-Philosophie. Anders formuliert, seine Philosophie will dieser Struktur des Ereignisses, der Wahrheit und der Überzeugung eine formale Sprache und Reflexion zur Verfügung stellen. Phelps kann deshalb seine Studie mit dem Ergebnis schließen: »Thus we can say that Badiou’s philosophy is situated between philosophy and anti-philosophy and, because of this, between theology and anti-theology. God is certainly dead for Badiou, but God’s shadow still remains.«63 Ein solches Verständnis des Atheismus als Anti-Theologie, der mit dem Begriff der Theologie in Verbindung steht, halte ich für Badious Philosophie für adäquat. Er wird dem atheistischen Anspruch und dem axiomatischen Charakter gerecht und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, Inkonsistenzen hinsichtlich des atheistischen Anspruchs zu formulieren.

3.2 Vielheiten versus Totalität Die Feststellung des Todes Gottes hat in der Geschichte der Philosophie und der Theologie häufig und mitunter von prominenter Seite stattgefunden. Depoortere führt den Ausspruch des Todes Gottes auf Martin Luther zurück. Luther unterschied zwischen einer abstrakten und einer konkreten Göttlichkeit, die es ihm erlaubte, vom Tod des Got-

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Insofern Watkins sehr instruktive Analyse auf Badiou, Nancy und Meillassoux ausgerichtet ist, ist es nachvollziehbar, dass er einen einzelnen Begriff sucht, um das Denken aller drei Autoren charakterisieren zu können. Phelps: Alain Badiou between Theology and Anti-Theology, 168.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

tessohnes zu sprechen, ohne damit die Sterblichkeit Gottes zu behaupten.64 Diese Unterscheidung zwischen einer abstrakten und einer konkreten Göttlichkeit führte bei Luther zu der Feststellung, dass nicht ›bloß‹ die menschliche Natur Christi, sondern auch seine göttliche Natur, das heißt Gott, am Kreuz gestorben (und wieder auferstanden) sei. Wie die theologische Überlegung Luthers Einzug in die Philosophie über Hegel bis zu Nietzsche erhielt, wird von Depoortere ausführlich rekonstruiert und muss an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Von Interesse ist lediglich die Todesursache. Gott ist laut Luther am Kreuz gestorben und wieder auferstanden. Mehr als drei Jahrhunderte später stellte Nietzsche eine andere Todesursache fest, oder vielmehr suggerierte er andere Todesursachen, indem er fragte: »Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?«65 Nietzsche spielt auf die naturwissenschaftlichen und philosophischen Entwicklung der damaligen Zeit an. Wenn man sich Badious Werk seit den späten 1980er Jahren widmet, lässt sich eine weitere Todesursache, die derjenigen, die Nietzsche ausgemacht hatte, sehr ähnlich ist, erkennen. Es ist die Ontologie der Vielheiten und mit ihr verbunden das Denken der unendlichen Unendlichkeiten, die den Tod Gottes verursacht hätten. Diese Ursache lässt sich bei Badiou schnell auffinden, da es sich um zentrale und als solche ausgewiesene Axiome handelt. Die Herausforderung besteht aber darin, zu überprüfen, ob dies tatsächlich die Todesursache sein kann. In der hier verwendeten bildlichen Sprache einer Obduktion lässt sich fragen: Es scheint mehrere Motive für einen Tod gegeben zu haben. Jetzt muss geklärt werden, welches tatsächlich realisiert werden konnte. Philosophisch gefragt: Welchen Geltungsbereich können Badious formulierte Axiome tatsächlich beanspruchen? Insofern die Ontologie der Vielheiten für Badious philosophisches System grundlegend geworden ist66 und er das Argument der Dialektik der Teilung nicht weiterführte, werde ich mich hauptsächlich auf den Weg der Ontologie fokussieren.

3.2.1 Die Ontologie ist axiomatisch Das erste grundlegende Kennzeichen von Badious Ontologie – sowie auch seiner Philosophie – ist, dass sie axiomatisch begründet ist. Badiou entwickelt sie auf der Grundlage der Zermelo-Fraenkel-Axiomatik (ZF-Axiomatik) und beansprucht auf diese Weise, der ZF-Axiomatik eine ontologische Dimension zusprechen zu können. Mit der axiomatischen Grundlegung führt Badiou bereits eine erste Konsequenz aus dem ausgesagten Tod Gottes aus. Da Gott für Badiou nicht mehr als erste Ursache des Seins in Frage kommen kann, bedürfe es einer anderen Darlegung des Seins. Eine andere Darlegung dürfe jedoch nicht die gleiche Struktur aufweisen, sondern sie müsse sich hinsichtlich des Signifikanten und hinsichtlich der Sache nach vom Gottesbegriff unterscheiden. Badiou

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Depoortere: The Death of God, 161f. Vgl. auch die theologische Untersuchung: Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt, 55–137. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, 135. Auch die Phänomenologie und Logik in Logiques des mondes sowie die spekulative Methode in L’Immanence des vérités setzen die Ontologie der Vielheiten voraus.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

zufolge ermögliche das axiomatische Denken die Einführung einer anderen Darlegung des Seins, da eine Axiomatik keine letzten Gründe bedürfe. Badious Ontologie ließe sich in diesem Sinne im Anschluss an Oliver Marchart als »postfundamentalistisch«67 charakterisieren, insofern sie keines Fundaments mehr bedarf. Marchart begründet Badious postfundamentalistischen Ansatz mit der Theorie des Ereignisses. Das Ereignis sei bei Badiou nicht deduzierbar, sondern könne nur bezeugt werden. Mehr: Nur durch seine Bezeugung könne das Ereignis als wirklich bezeichnet werden. Marchart schreibt treffend: »An keiner Stelle dieses zirkulären Verhältnisses zwischen Subjekt, Entscheidung und Ereignis begegnen wir etwas von der Art eines Grundes oder eines archimedischen Punktes. […] In dieser Hinsicht bleibt Badious System ganz postfundamentalistisch.«68 Die axiomatische Darlegung der Ontologie erlaubt also neben der Ereignis- und Subjekttheorie von einem Postfundamentalismus zu sprechen. Ein in diesem Sinne postfundamentalistisches Denken hatte Badiou bereits mit seiner Dialektik der Teilung in Théorie du sujet begonnen. Dass die (geteilte) Zwei immer der Eins vorausgehe, wie Badiou sich ausdrückt, erlaube es an keiner Stelle einen Anfang annehmen zu können. Daraus lässt sich meines Erachtens in Anlehnung an Jean-Luc Nancy schließen, dass jeder Anfang ein gesetzter Anfang ist, der als bereits geteilt aufgefasst werden muss. Einen absoluten Anfang hingegen gibt es nicht.69

3.2.2 Die Ontologie der Vielheiten Warum vollzieht Badiou in den 1980er Jahren den Schritt von einer Dialektik der Teilung zu einer Ontologie der Vielheiten? Meines Erachtens lassen sich in dieser Zeit zwei Grundgedanken Badious erkennen, die ihn zu diesem Schritt führten. Es handelt sich erstens um den Gedanken des Bruchs sowie des Neubeginns und zweitens um den der Universalisierung eines revolutionären Denkens. Beide Grundgedanken lassen sich als philosophische Treue zu Sartre70 interpretieren. In dem kleinen Buch Peut-on penser la politique? von 1985 nimmt Badiou eine kritische Bilanz des Marxismus vor und kommt zu dem Ergebnis, dass der Marxismus – in seiner orthodoxen Spielart – am Ende sei: »Sich innerhalb des Marxismus’ aufzuhalten, bedeutet einen zerstörten, also unbewohnbaren Ort zu besetzen.«71 Die Stärke von Marx sei

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Marchart, Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010, 152–177, hier 170f. Ebd., 169. Zwei Formulierung Jean-Luc Nancys in seiner Studie zu Hegel von 1997, 15 Jahre nach Théorie du sujet, lassen sich in diesem Zusammenhang als Ergänzung zu Badious Dialektik der Teilung lesen: »De ces deux manières – absence de commencement et absence de fin, absence de fondation et absence d’accomplissement – Hegel est le contraire d’un penseur ›totalitaire‹.« Und : »Toute unité donnée, comme simple unité subsistant par soi, n’est jamais qu’un donné : un dérivé, un déposé, un moment, instable comme tout instant, dans le mouvement qui donne le rapport, où le rapport se donne.« Nancy, Jean-Luc: Hegel, l’inquiétude du négatif, Paris 2018, 20; 34. Rasmus Nagel sieht die Treue Badious gegenüber Sartres im Aspekt der »universalen Singularität«. Nagel: Universale Singularität, 262–265. Überhaupt ist Nagels Verbindung von Badiou und Sartre positiv hervorzuheben, insofern dieser nur in wenigen Studien in den Blick gerät. Badiou: Ist Politik denkbar? 65.

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es gewesen, die Idee eingeführt zu haben, mit der bisherigen Geschichte Schluss machen zu können. Es sei das Denken des Bruchs und des Neubeginns, das für viele Menschen überzeugend gewirkt habe. Doch der Marxismus habe sich von diesem Denken des Bruchs entfernt und stattdessen eine mechanistische Welt- bzw. Geschichtsinterpretation entfaltet: »wissenschaftliche Theorie der Geschichte, unterstützt von einer positiven Theorie der Produktionsverhältnisse und der Organisation der Gesellschaft in Klassen.«72 Diesen Marxismus dürfe man, so Badiou, nicht weiterführen, sondern es sei erforderlich, einen Neubeginn zu wagen. Programmatisch fordert er: »Wir müssen das Manifest erneut schreiben.«73 Das Manifest meint hier das Manifest der kommunistischen Partei von Marx und Engels, das für Badiou die Tatsache eines Beginns markiert. Eine ähnliche Marxismuskritik findet sich bereits fast 40 Jahre früher bei Sartre, dem philosophischen Lehrer Badious. In seinem Aufsatz Matérialismse et révolution von 1946 formuliert Sartre eine umfassende Polemik gegen die Begriffe Materialismus und Dialektik und der Konfrontation von Materialismus und Idealismus des stalinistischen Marxismus.74 Im Unterschied zu Badiou begegnet Sartre dem marxistischen (stalinistischen) Materialismus nicht mit dem Begriff des Bruchs bzw. des Beginns, sondern mit dem der »Intention« und dem der »Überschreitung der Situation«: »Wir werden die Partei oder diejenigen ihrer Vertreter revolutionär nennen, deren Handlungen intentional eine derartige Revolution vorbereiten.«75 und: »Der Revolutionär zeichnet sich […] durch die Überschreitung der Situation aus, in der er sich befindet.«76 Badiou löst sich im Wesentlichen zwar von dem Begriff der Intention bzw. eines revolutionären Bewusstseins, überträgt diesen aber hinsichtlich bestimmter Aspekte auf das, was er ein politisches Subjekt nennt. Das politische Subjekt Badious ist kein intentionales und ist auch nicht mit einem Bewusstsein ausgestattet, sondern es ist ausschließlich tätiger Agent einer Wahrheit.77 Der entscheidende Punkt liegt an dieser Stelle jedoch nicht im Begriff der In-

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Ebd. 98. Ebd. 72. Hervorhebung im Original. »[W]ir befinden uns auf dem Boden des Determinismus, der Überbau wird ganz und gar vom gesellschaftlichen Zustand, dessen Widerspiegelung er ist, getragen und bedingt; die Beziehung zwischen Produktionsweise und politischer Institution ist die von Ursache und Wirkung. So stellte sich einmal ein Naiver die Philosophie Spinozas als genaue Widerspiegelung des Getreidehandels in Holland vor.« Sartre, Jean Paul: Materialismus und Revolution, in: Ders.: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays 1943–1948. Philosophische Schriften 4, Hamburg ³2005, 212. Ebd., 227. Mit einer derartigen Revolution meint Sartre eine, in der »die Veränderung der Institutionen von einer grundlegenden Veränderung der Eigentumsverhältnisse begleitet wird«. Ebd. Ebd. 229. Hervorhebung im Original. In Das Abenteuer der französischen Philosophie schreibt Badiou im Kapitel über Sartre zu dessen Bewusstseinsbegriff: »Seine [gemeint ist das Bewusstsein, P.A.] philosophische Gültigkeit würde ich heute nicht mehr behaupten. Mir scheint, dass ›Bewusstsein‹ einen Begriff bezeichnet, der zwar gewiss eine glorreiche philosophische Geschichte hat, heute aber nur noch als Kategorie der Politik einsetzbar ist, als ›politisches Bewusstsein‹ […]. Das Subjekt ist also nicht die reflexive oder prä-reflexive Bewegung der Selbst-Positionierung des Ichs, sondern ausschließlich jener differenzielle Punkt, der das generische Entstehen einer Wahrheit unterstützt oder erträgt. Als Subjekt bezeichne ich einen Punkt der Wahrheit, oder einen Punkt, den eine zufällig erfasste Wahrheit durchläuft.« Badiou: Das Abenteuer der französischen Philosophie, 99f.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

tentionalität, sondern in dem der Überschreitung einer Situation. Das Fehlen der Möglichkeit einer Überschreitung erkennt Badiou auch 40 Jahre später ebenfalls im (orthodoxen) Marxismus. Um ihre Begründung ist seine Philosophie bemüht. Seine Ereignis- und Subjekttheorie aus L’être et l’événement ist ihr großer systematischer Versuch. Der zweite Grundgedanke Badiou, der die Universalisierung der Philosophie betrifft, findet sich ebenfalls bereits als Forderung in dem genannten Aufsatz Sartres. Die antiidealistische Auffassung des Materialismus verweigere sich, so Sartre, der Annahme universaler Wahrheiten, sondern richte jegliche Theorie an der revolutionären Praxis aus. Die revolutionäre Praxis hingegen sei notwendiger Bestandteil der (mechanischen) Entwicklung der Geschichte. Damit würden einerseits die Universalität, andererseits die Subjektivität getilgt. Doch welches Verhältnis könne der Revolutionär dann zu seiner eigenen Theorie einnehmen? Laut Sartre bleibe nur noch das der Meinung übrig.78 Das lasse den Materialismus jedoch zu einem Mythos verkommen. »Der Materialismus ist unzweifelhaft der einzige Mythos, der den revolutionären Forderungen gerecht wird; und mehr verlangt der Politiker nicht: der Mythos dient ihm also, er macht ihn sich zu eigen. Soll jedoch sein Unternehmen von Dauer sein, braucht es keinen Mythos, sondern die Wahrheit. Es ist die Sache des Philosophen, die Wahrheiten, die der Materialismus enthält, zusammenzufügen und nach und nach eine Philosophie zu schaffen, die den revolutionären Forderungen ebensogut gerecht wird wie der Mythos.«79 Sartre gibt in seinem Aufsatz keine explizite Definition des Mythos an und es würde hier auch zu weit führen, eine solche Definition aus den verschiedenen Textstellen herauszudestillieren. Das wesentliche Kennzeichen des Mythos dürfte meines Erachtens in seiner Gegenüberstellung zur Wahrheit liegen. Der Mythos diene einem bestimmten Ziel, hier dem Klassenkampf, die Wahrheit hingegen solle etwas sein, das keinem Ziel, weder der Beherrschung der Natur noch der Legitimierung bestehender Herrschaftsverhältnisse oder ihrer Abschaffung, untergeordnet sei. Später im Aufsatz charakterisiert Sartre die Wahrheit als etwas Allgemeines: »Die revolutionäre Philosophie, die sowohl über das idealistische Denken, das bürgerlich ist, hinausgeht, als auch über den materialistischen Mythos, der eine Zeitlang den unterdrückten Massen entsprechen konnte, beansprucht somit, die Philosophie des Menschen im allgemeinen zu sein. Und das ist ganz natürlich: um wahr zu sein, wird sie allgemein sein müssen.«80 Badious Schritt von Théorie du sujet über Peut-on penser la politique? zu L’étre et l’événement scheint genau dieser Forderung gerecht werden zu wollen. Sie will eine revolutionäre Philosophie sein, die das Aufkommen allgemeiner Wahrheiten begründen kann und gleichzeitig weder dem Idealismus noch einem Mythos verfällt. Die Theologie ließe sich hier als weitere Abgrenzung – vielleicht zwischen Idealismus und Mythos angesiedelt – ergänzen. Badiou beansprucht eine Philosophie zu entwickeln, die weder idealistisch 78 79 80

Sartre: Materialismus und Revolution, 221. Ebd., 226. Ebd., 263f. Hervorhebung im Original.

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noch mythisch oder theologisch ist, und die dennoch die Allgemeinheit – die Universalität – von Wahrheiten zu begründen sucht. Mit der Ontologie der Vielheiten entwirft Badiou eine Grundlagentheorie, auf der ein solch universaler Wahrheitsbegriff entwickelt werden kann. Selbst wenn, bei genauer Betrachtung, Badious Wahrheitsbegriff an dem ansetzt, das nicht das Sein-als-Sein ist und deshalb dem Bereich der Philosophie und nicht der Ontologie zuzurechnen ist, bedarf der Wahrheitsbegriff dieser Ontologie der Vielheiten.81 Indem Badiou die Wahrheitstheorie aus dem Marxismus herauslöst und auf der Ontologie aufbaut, gelingt ihm ihre Verallgemeinerung, die Sartre gefordert hatte. Ein wesentliches Merkmal der Ontologie der Vielheiten ist der Primat der Unendlichkeiten, der das Denken unendlicher Wahrheiten bzw. Wahrheitsprozeduren erlaube. Als axiomatische Ontologie ist sie gleichzeitig nicht auf ein erstes Fundierungsprinzip angewiesen. Die Axiome sind Annahmen, die auf Entscheidungen aufbauen, welche variiert und korrigiert werden können.82 Ihre Richtigkeit muss sich in ihrer Fähigkeit zur Konsistenz (im Hinblick auf eine Prädikatenlogik erster Ordnung) erweisen. Auf diese Weise kann Badiou die axiomatische Ontologie von einer (Onto-)Theologie abgrenzen. Das Denken der Unendlichkeiten stellt sich gleichzeitig auch als Problem für Badious universalen Wahrheitsbegriff heraus. In Logiques des mondes hat Badiou als Konsequenz der Ontologie der Vielheiten für einen Weltenpluralismus optiert. Man müsse von unendlich vielen Welten ausgehen, die jeweils nach ihrer eigenen immanenten Logik strukturiert seien. Doch damit würde die Gültigkeit einer Wahrheit über eine Welt hinaus relativiert oder sogar ganz in Frage gestellt. So verliert eine Wahrheit ihre universale Dimension und die geforderte Verallgemeinerung der Wahrheit befindet sich in der Gefahr ihres Scheiterns.

3.2.3 Die Ontologie ist absolut Der dritte und letzte Band von L’être et l’événement adressiert dieses Problem der fragilen Universalität von Wahrheiten. In L’Immanence des vérités bemüht sich Badiou um eine erneute Fundierung des Wahrheitsbegriffs sowie der ihm zu Grunde liegenden Unendlichkeitstheorie. Tatsächlich handelt es sich um eine Fundierung – eine Grundlegung – und nicht bloß um eine neue argumentative Begründung. Die Annahmen der Mengenlehre werden zwar um zahlreiche mathematische Diskussionen ergänzt, aber dennoch im Wesentlichen beibehalten. Die Fundierung geschieht vielmehr durch die Theorie des Absoluten, die Badiou in diesem Buch liefert. In Kapitel 2.4.5 habe ich diese Theorie in ihren Grundzügen bereits nachvollzogen. Badious knappe Definition des Ortes des Absoluten, den er mit dem Buchstaben V kennzeichnet, lautet, ich wiederhole: »Wir sagen also, dass V der Ort ist, der die denk81

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An dieser Stelle sei angedeutet, dass die Trennung von Ontologie und Philosophie, die Badiou intendiert, meines Erachtens nicht so konsequent durchzuhalten ist, wie in L’être et l’événement vielfach behauptet wird. Zwar lässt sich zugestehen, dass die Ontologie von Badiou mit mathematischen und weniger mit philosophischen Mitteln konstruiert wird. Die Philosophie als Ereignis-, Subjekt- und Wahrheitstheorie muss die Ontologie jedoch in ihre Begriffsentwicklung integrieren. Von ihrer Warte her, scheint mir diese Trennung nicht notwendig zu sein. Wer trifft die Entscheidungen für die Axiome der Ontologie? Badiou thematisiert diese Frage nicht.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

baren Formen von allem, was einer singulären Form geschieht, d.h. die möglichen Formen von allen Vielheiten, versammelt.«83 Der Ort des Absoluten V ist demnach ein Ort des Denkens, der aufgrund seiner Fähigkeit, die Unendlichkeit der mathematischen Formen zu denken, alle Formen von möglichen Vielheiten denkt. In meiner Analyse bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass die Theorie des Absoluten entgegen Badious expliziter Intention das Gegenteil des Todes Gottes beweist. Positiv gewendet heißt das, dass Badiou mit dem Ort des Absoluten ein Konzept konstruiert, das sehr große Ähnlichkeiten mit dem Gottesbegriff Spinozas ausweist. Darüber hinaus kann Badiou mit der Begründung des Ortes des Absoluten nicht mehr eindeutig den axiomatischen Charakter der Ontologie beibehalten. Badiou behauptet zwar, dass der Ort des Absoluten dem Axiomensystem entspricht, aber als Ort, der mit dem Begriff des Absoluten gekennzeichnet ist, lässt sich diese Behauptung nicht mehr eindeutig halten. Die Axiomatik wird stattdessen in den Ort des Absoluten integriert. Das Problem des Ortes des Absoluten hinsichtlich der Axiomatik und der Frage, ob es sich dabei um eine Menge aller Mengen, also eine Eins, handle oder nicht, lässt sich eher über den Begriff des Absoluten, denn über mathematische Differenzierungen nachvollziehen.84 In der Introduction générale nennt Badiou vier Aspekte85 , die die »absolute Ontologie«86 als »Referenzuniversum«87 für das Sein-als-Sein charakterisieren. 1. Die absolute Ontologie ist unbeweglich (immobile). Sie ermögliche zwar Bewegung, sei aber selbst nicht bewegt. Sie ist demnach eine unbewegliche Bewegerin88 . 2. Die absolute Ontologie ist nicht atomar (non atomique). Sie ist keine Konstruktion von Entitäten. 3. Die absolute Ontologie ist nicht empirisch (non empirique). Sie ist ausschließlich auf Axiomen aufgebaut und an keinerlei Erfahrung gebunden. 4. Die absolute Ontologie gehorcht dem Maximalitätsprinzip (principe de maximalité), das jede denkbare und mit den Axiomen sowie der Prädikatenlogik erster Ordnung mögliche Form zulässt. Ich werde die vier Aspekte nicht ausführlich diskutieren, sondern zunächst die Frage stellen, warum die vier Charakteristika dieser Ontologie diejenigen einer absoluten Ontologie sein sollen. Was bedeutet ›absolut‹? Gunnar Hindrichs, hat – ohne Bezug zu Badiou – 2008 eine Studie zum Begriff des Absoluten veröffentlicht, in der er den Begriff des Absoluten auf seine Wortbedeutung zurückführt: »In dem Wort ›das Absolute‹ steckt bereits das Hauptmerkmal seines Begriffs. ›Absolut‹ heißt ›losgelöst‹. Dem Wort zufolge ist das Absolute dadurch gekennzeichnet, daß es ›losgelöst‹ ist. […] Wenn ein Seien-

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»On dira donc que V est le lieu où se rassemblent les formes pensables de tout ce qui advient à une existence singulière, i.e. les formes possibles de toute multiplicité.« ABIV 41. Es ist auffällig, dass Badiou den Ort des Absoluten bzw. die absolute Ontologie philosophisch und philosophiegeschichtlich erarbeitet und mathematische Erkenntnisse darin integriert. Offensichtlich ist eine rein mengentheoretische Darstellung der absoluten Ontologie nicht mehr möglich. Vgl. ABIV 36–37. »Ontologie absolue« Ebd., 36. »univers de référence« Ebd. Die Tatsache, dass die absolute Ontologie ein Referenzuniversum sei, ließe sich möglicherweise selbst auch als Charakteristikum auffassen. Badiou unterlässt dies an dieser Stelle jedoch. Badiou vermeidet den Begriff der unbeweglichen Bewegerin, mit dem ich auf Thomas von Aquins (bzw. den aristotelischen) Begriff des unbewegten Bewegers (das heißt Gott) rekurriere.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

des etwas Losgelöstes ist, dann steht es in keinem Verhältnis zu etwas außer ihm.«89 Für diesen Begriff des Absoluten steht Spinozas Substanzbegriff Pate: »unter einer Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich begriffen wird.«90 Das Losgelöste, das in keinem Verhältnis zu etwas Äußerem stehe, dürfe entweder überhaupt keine Verhältnisse oder alle Verhältnisse in sich selbst haben. Damit einher gehe die Annahme, dass ein solches Losgelöstes nur in sich und aus sich heraus erkannt und verstanden werden könne. Es bedürfe keiner externen Interpretationshilfe, um sich zu begreifen. Badious vier Charakteristika sprechen nicht explizit von einem solchen Verständnis des Losgelöstseins. Aber die Tatsache, dass die absolute Ontologie ein Universum sei, das nicht bewegt werde (1. Charakteristikum), das unabhängig von Erfahrung sei (3. Charakteristikum) und das von keiner externen Größe begrenzt werde (4. Charakteristikum), lässt das genannte Verständnis vom Losgelösten als Interpretationshilfe zu. Das heißt, die absolute Ontologie ist hinsichtlich der Bewegung losgelöst von externen Seienden, sie ist losgelöst von Erfahrung und sie ist losgelöst von externen Größen, die sie begrenzen könnten. Und als Ort des Denkens aller Formen des Seins bedarf sie keiner externen Interpretationsquelle. Wozu dient die Interpretation des Begriffs des Absoluten als Losgelöstes? Meines Erachtens lässt sich die Bedeutung des Losgelösten als Engführung des Begriffs des Absoluten auffassen. Badiou verwendet den Begriff des Absoluten in der Regel in Bezug auf die Ontologie (absolute Ontologie) oder, was inhaltlich gleichbedeutend ist, auf den Ort (Ort des Absoluten). Die von mir gewählte Engführung erlaubt es, im Begriff der absoluten Ontologie eine Spannung – oder sogar einen Widerspruch – wahrzunehmen. Badiou definiert seine Ontologie als eine der Vielheiten ohne Eins. Die Tatsache, dass die Vielheiten keine Eins bilden (außer in der Form einer nachträglichen als-Eins-Zählung), sondern offene Unendlichkeiten sind, führt Badiou zur Aussage des Todes Gottes. Wenn die Ontologie der Vielheiten jedoch absolut ist, handelt es sich um eine losgelöste Ontologie. Als losgelöste Ontologie ist sie nicht bloß eine Teilmenge der Seinsvielheiten, sondern sie ist der Ort des Denkens jeglicher Seinsvielheiten. Die Vielheiten werden als Formen in diesem losgelösten Ort gedacht. Als losgelöster Ort – als losgelöste Ontologie – steht sie mit keinem Außerhalb ihrer selbst in Beziehung, sondern jegliche Beziehung befindet sich in ihr. Eine losgelöste Ontologie ist nicht bloß als Eins gezählt, sondern sie ist in sich Eins. Eine absolute Ontologie in diesem Sinne ist die Eins, die Badiou unbedingt vermeiden möchte. Die absolute Ontologie wird zu der Totalität, die er aufzulösen beanspruchte. Der Gottesbegriff Spinozas wäre damit wieder etabliert. Bei Hindrichs wird dieser Zusammenhang des Absoluten und des Gottesbegriffs explizit entfaltet. Zwar lässt er die Mathematik außen vor, aber er zeigt auf, wie der Begriff des Absoluten mit dem ontologischen Gottesbeweis von Anselm von Canterbury, 89

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Hindrichs, Gunnar: Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt a.M. ²2011 [2008], 19. Joseph Möller definiert im Lexikon für Theologie und Kirche das Absolute auf ähnliche Weise: »A[bsolut] ist, was in jeder Hinsicht in sich selbst u. durch sich selbst u. darum in keiner Hinsicht abhängig ist.« Möller, Joseph: Absolut, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1, Freiburg i.Br. ²1986, 70. Hindrichs Begriff des Losgelösten wäre wiederum zu befragen, inwiefern er nicht doch eine Relationalität impliziert. Von was ist etwas losgelöst? Ich danke Ulrich Engel für diesen Hinweis. Spinoza, zitiert in ebd., 22.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

über Descartes, Kant, Hegel, Schelling und Adorno verwoben ist. Eine Weise das Losgelöste zu begreifen, geschieht in der Philosophiegeschichte mit dem Begriff dessen, über dem Größeres nicht gedacht werden kann, denn, so Hindrichs: »Sofern es einen stimmigen Begriff des Absoluten gibt, existiert dieses auch. Denn das, was sich selbstbestimmt, ist etwas, das notwendigerweise existiert.«91 Dasjenige, was notwendig existiert, zu beweisen, ist das Anliegen der verschiedenen Versionen des ontologischen Gottesbeweises. Daraus folgert Hindrichs: »Die Suche nach dem stimmigen Begriff des Absoluten gleicht somit der Suche nach einem gültigen ontologischen Argument für die Existenz Gottes.«92 Auf dem Weg, die Allgemeinheit der Wahrheiten zu begründen, findet Badiou zwar die Möglichkeit eine anti-theologische axiomatische Ontologie zu entwickeln. Die Begründung der Allgemeinheit der Wahrheiten transformiert sich jedoch in eine Letztbegründung, die auch den axiomatischen Charakter der Ontologie in sich integriert. Die axiomatische Ontologie wird zu einer absoluten Ontologie und lässt sich nicht mehr als Teilmenge der Vielheiten von Vielheiten auffassen. Damit fällt sie unter das russellsche Paradox der selbstreferenziellen Mengen – dass eine Allmenge sich nicht selbst enthalten könne. Doch der Verweis auf dieses Paradox ist eines der zentralen Argumente Badious, um die Unmöglichkeit der Eins bzw. der Totalität und mit ihr Gott zu konstatieren. Dieser wird durch die Entfaltung einer absoluten Ontologie unterminiert.

3.3 Unendliche Unendlichkeiten versus Endlichkeit Die Ursache des Todes Gottes hat Badiou, wie im letzten Kapitel gezeigt, in der Ontologie der Vielheiten gefunden. Genauer müsste man sagen, dass die Todesursache Badiou zufolge in der Ontologisierung des mathematischen Unendlichkeitsbegriffs liegt. Die Entdeckung von aktualen Unendlichkeiten durch Cantor muss jedoch noch in eine ontologische Kategorie überführt werden, um für den Gottesbegriff theoretisch gefährlich zu werden. Mit der Gleichsetzung »Mathematik = Ontologie«, die Badiou in L’être et l’événement vornimmt, geschieht genau diese Überführung der mathematischen Unendlichkeit(en) in eine ontologische Kategorie. Der mathematische Unendlichkeitsbegriff wird von Badiou nicht nur gegen den Gottesbegriff in Stellung gebracht, sondern auch gegen eine bestimmte Form des Endlichkeitsdenkens, welches Badiou mit der philosophiegeschichtlichen Epoche der Romantik ausmacht.93 Das Endlichkeitsdenken der Romantik kann meines Erachtens als ein enttheologisiertes Denken, das heißt ohne Gott, aufgefasst werden. Im Folgenden möchte ich mich der Ontologisierung des mathematischen Unendlichkeitsbegriffs (3.3.1) und Badious Ablehnung des romantischen Endlichkeitsdenkens (3.3.2) widmen. Anschließend versuche ich anhand von drei Begriffen die politische,

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Ebd., 24. Vgl. ebd., 25 und eine ausführliche Diskussion zu diesem Zusammenhang in ebd., 146–160. Vgl. zu den beiden Aspekten des Unendlichkeitsbegriffs bei Badiou den knappen, aber instruktiven Beitrag: Bhattacharyya, Anindya: Infinity, in: Corcoran, Steven (Hg.): The Badiou Dictionary, Edinburgh 2015, 160–162.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

ethische und theologische Relevanz der Diskussion um den Unendlichkeitsbegriff aufzuzeigen. Es handelt sich um den Begriff der Welt (3.3.3), der Wahrheit (3.3.4) und des Lebens (3.3.5).

3.3.1 Unendlichkeit ontologisch Frank Ruda beginnt, wie ich bereits erwähnt habe, seine Studie zu Badiou mit der Aussage, dass mit Gott auch der Idealismus gestorben sei.94 Genauer gesagt: Ruda zufolge sei der Idealismus nicht gestorben, sondern er werde von Badiou in den Materialismus integriert. Ohne diese Integration bleibe der Idealismus jedoch »a dead configuration«95 . Ruda schlägt die These vor, dass Badiou eine »Renaissance des Idealismus«96 praktiziere und fragt anschließend, worin diese Renaissance bestehe. Der hegelsche – alte – Idealismus zeichne sich durch die »axiomatic affirmation that the One exists as a Whole«97 aus. Badiou hingegen könne mithilfe der Mengenlehre seit Cantor aufzeigen, dass es weder die Eins (außer als nachträgliche Zählung) noch ein Ganzes (außer als nachträgliche Zusammenfassung), sondern nur unendlich viele Vielheiten geben könne. Der erneuerte Idealismus Badious, der in den Materialismus integriert werde, lasse sich durch diese Fokussierung auf die unendlichen Unendlichkeiten charakterisieren.98 Ruda scheint die mengentheoretische Aussage, dass es keine Menge aller Mengen geben könne und dass die Kontinuumshypothese nicht beweisbar sei, ohne Schwierigkeiten materialistisch zu interpretieren. In Kapitel 3.4 gehe ich auf den Begriff des Materialismus näher ein. Hier soll der Hinweis, dass dieser Materialismus ontologisch aufgefasst wird, genügen. Anders gesagt, bei Badiou wie bei Ruda gehen die Ontologie als Wissenschaft vom Sein-alsSein und der Materialismus fließend ineinander über. In Court traité d’ontologie transitoire räumt Badiou selbst ein, dass dieser Übergang von der Mathematik in die Ontologie nicht evident sei, wie ich in Kapitel 2.2.4 bereits gezeigt habe. Denn in einem aristotelischen Verständnis der Mathematik werde diese ästhetisch aufgefasst, sodass sie keine Aussagen über das Sein treffe, sondern als eigene Welt, mit eigenen Regeln und Gesetzen begriffen werden müsse. Gegen eine solche Auffassung von Mathematik wendet sich Badiou. Dass eine logische Kategorie als ontologische Kategorie aufgefasst wurde, ist bereits von Hegel in seiner Wissenschaft der Logik prominent praktiziert worden. Insofern für Hegel die logischen Denkbestimmungen auch Seinsbestimmungen sind (wie auch umgekehrt), lassen sich die Denkbestimmungen als ontologische Kategorien auffassen. In diesem Sinne wäre das, was Badiou eine Ontologie nennt, bei Hegel eine Logik99 . Badiou modifiziert jedoch das hegelsche Logikverständnis, insofern er nicht ›bloß die Denkbestimmungen entwickelt, sondern die mengentheoretischen Axiome und die daraus entstehenden Konsequenzen als logischontologische Kategorien auffasst. Das Subjekt des Denkens tritt auf diese Weise noch 94 95 96 97 98 99

Ruda: For Badiou, 11–31, hier 11. Ebd., 26. Ebd. Ebd., 28. Ebd., 30. Es sei nochmal hervorgehoben, dass der Logikbegriff Hegels keine formale Logik bezeichnet, sondern ein System der Denkbestimmungen als Seinsbestimmungen.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

stärker in den Hintergrund als es bereits bei Hegel geschieht, da nun bei Badiou auch die Auffassung der Kategorien als Denkbestimmungen zugunsten des mathematischen Systems fallen gelassen oder wenigstens deutlich relativiert wird. Was ist damit gewonnen, die mathematischen Axiome und konkret das mathematische Verständnis von unendlichen Mengen als ontologische Kategorien aufzufassen? In den Kapiteln 3.3.3 bis 3.3.5 werde ich diese Frage anhand konkreter Begriffe bzw. konkreter Problemstellungen diskutieren. Vorher möchte ich noch auf einen Klärungsversuch zur Frage, warum und in welchem Sinne Badiou überhaupt ontologische Kategorien entwickelt, vorstellen. Hindrichs unterscheidet in seiner Einleitung zu Das Absolute und das Subjekt eine revisionäre und eine deskriptive Metaphysik. Seine Verwendung des Begriffs Metaphysik entspricht im Wesentlichen dem Begriff der Ontologie, wie ich ihn hier verwende.100 Hindrichs schreibt: »Revisionäre Metaphysik – das ist der Versuch, die Kategorien, in denen wir die Welt erfassen, auf spekulative Weise neu und besser zu organisieren. Deskriptive Metaphysik – das ist der bescheidenere Versuch, die Kategorien, in denen wir die Welt erfassen, explizit zu machen.«101 Deskriptive Metaphysik versuche das Kategoriensystem, das wir spontan und selbstverständlich verwenden, als solches auszuweisen, um herauszufinden, wie wir die Welt auffassen. Die revisionäre bzw. spekulative Metaphysik hingegen wolle auf das spontane Kategoriensystem einwirken und es gestalten. Es ist naheliegend, in der spekulativen Metaphysik die Gefahr einer von Erfahrungen enthobenen Begriffsentwicklung zu erkennen. Die deskriptive Metaphysik müsse sich stattdessen innerhalb eines gegeben »Begriffsrahmens«102 bewegen. Damit steht sie jedoch in der Gefahr, eine positivistische Beschreibung – das heißt eine, die nur das, was ist, wahrnimmt – zu werden. Wie ließe sich Hindrichs’ Differenzierung der zwei Metaphysiktypen auf Badious Unternehmen anwenden? Eine eindeutige Zuordnung seiner Ontologie zu einem der beiden Metaphysiktypen ist meines Erachtens unmittelbar nicht zu leisten. Badious Verwendung der Mathematik suggeriert zunächst, einen deskriptiven Charakter zu haben. Die mathematischen Axiome werden in L’être et l’événement dargestellt und daraus werden Konsequenzen gezogen. Sein Vorgehen erscheint deshalb zunächst deskriptiv, da diese Axiome innerhalb der Mathematik bereits erprobt sind und grundsätzlich für valide gehalten wurden und werden.103 Wenn Badiou allerdings die bewusste Entscheidung für diese Axiomatik trifft, dürfte es sich nicht mehr um ein deskriptives Verfahren handeln. Nicht nur die Axiome sind Entscheidungen, sondern auch die Wahl dieser Axiomatik als Grundlage für die Ontologie ist eine intentionale Entscheidung Badious. Die Ontologie in L’être et l’événement kann deshalb eher der revisionären bzw. spekulativen Metaphysik zugeordnet werden. Die Weiterentwicklung seiner Ontologie zu einer absoluten

100 Die Ontologie galt bzw. gilt ja als eine Disziplin der Metaphysik, nämlich als metaphysica generalis. 101 Hindrichs: Das Absolute und das Subjekt, 10. 102 Ebd., 11. »Sie [die deskriptive Metaphysik, P.A.] ist Metaphysik ohne Transzendenz.« Ebd., 12. 103 Selbstverständlich gibt es auch andere Axiomensysteme innerhalb der Mengenlehre. Die Wirksamkeit der Zermelo-Fraenkel-Choice-Axiomatik, die Badiou verwendet, wird jedoch nicht grundsätzlich bestritten.

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in L’Immanence des vérités bestätigt diese Zuordnung.104 Mit Hindrichs ließe sich Badious Entwurf einer mathematischen Ontologie als spekulative Ontologie bezeichnen, mit der das Ziel verfolgt wird, die Kategorien, mit denen wir die Welt erfassen, konstruktiv neu zu ordnen.105 In L’être et l’événement ermöglicht sie das Denken von Ereignissen als Neuanfänge innerhalb eines Status quo. Die drei Begriffe der Welten, der Wahrheiten und des Lebens eröffnen weitere Möglichkeiten der ›Welterfassung‹106 . Inwiefern eine solche spekulative Ontologie tatsächlich überzeugen kann, muss weiter überprüft werden.

3.3.2 Unendlichkeit philosophiegeschichtlich Am Anfang dieses Kapitels bin ich bereits auf Bhattacharyyas Hinweis eingegangen, dass der Unendlichkeitsbegriff zwei unterschiedliche Funktionen in Badious Philosophie einnimmt. Der erste ist mathematisch hergeleitet und hat die Funktion, eine Ontologie der Vielheiten zu ermöglichen. Der zweite sei, so Bhattacharyya, gegen das Endlichkeitsdenken der Epoche der Romantik, ausgerichtet. Er zielte damit auf eine philosophiegeschichtliche Auseinandersetzung, die laut Badiou bis heute noch Einfluss habe. Im gesamten zweiten Kapitel, in dem ich die vier großen Werke Badious analysiert habe, bin ich auf den unterschiedlichen Gebrauch des Unendlichkeitsbegriffs eingegangen. Ein zentraler Diskussionspartner Badious hinsichtlich des Unendlichkeitsbegriffs war Hegel. In seinem Aufsatz Philosophie und Mathematik, der 1991 das erste Mal veröffentlicht wurde, setzt sich Badiou mit dem Endlichkeitsdenken der Romantik zeitlich nach Hegel auseinander. Badiou zufolge löst sich mit Hegel die bis dahin noch selbstverständliche Verbindung von Philosophie und Mathematik auf.107 Die Verbindung zwischen Philosophie und Mathematik sei, so Badiou, letztendlich in der gesamten Philosophiegeschichte, bei Platon, später bei Descartes, Spinoza und zuletzt prominent bei Kant108 zu finden gewesen. Mit Hegel entstehe dann das geschichtliche Denken, das zu einer »Verzeitlichung des Begriffs«109 geführt habe. Das geschichtliche Denken könne keine ewi-

104 Vgl. meine Analyse von Badious »spekulativer Methode« in Kapitel 2.4.1. 105 Ein Beispiel für die Neuordnung der Kategorien, mit denen wir die Welt erfassen, aus einer anderen philosophischen Richtung sind Walter Benjamins Thesen über den Begriff der Geschichte, in denen die Kategorien »Kontinuum« und »Bruch« im Hinblick auf Geschichte und Revolution diskutiert werden. Vgl. dazu Unger: Schlechte Unendlichkeit, 247–270. 106 Ich setze ›Welterfassung‹ in Anführungsstriche, da der Begriff der Welt bereits ein bestimmter Terminus in Badious Phänomenologie darstellt. Der Vorrang der Unendlichkeiten in Badious Denken lässt ihn entsprechend auch von unendlichen vielen Welten ausgehen. Ob es die Welterfassung im Singular gibt, würde Badiou vermutlich bestreiten, auch wenn seine drei Werke von L’être et l’événement meines Erachtens diesen Eindruck vermitteln. 107 Badiou: Philosophie und Mathematik, in Ders.: Bedingungen, 177. 108 Es ist beachtenswert, dass Hindrichs (im Unterschied zu Badiou) gerade bei Kant die Loslösung der Philosophie von der Mathematik wahrnimmt: »Schlagend ist hier Kants Abweisung der mathematischen Methode. Die mathematische Methode errichtet ein axiomatisches System, in dem Sätze sich auf der Grundlage von ersten Prinzipien auseinander herleiten lassen. […] Gegen eine solche Methode des theoretischen Denkens macht Kant dessen kritische Grundlegung geltend. Statt von axiomatischen Lehrsätzen soll die Theorie von transzendentalen Grundsätzen ausgehen.« Hindrichs: Zur kritischen Theorie, 19. 109 Badiou: Philosophie und Mathematik, 181.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

gen, zeitlosen Begriffe mehr akzeptieren. Jeder Begriff müsse als geschichtlich geworden aufgefasst werden. Ein solches Denken lasse sich nicht mit der axiomatischen Struktur der Mathematik vereinbaren. Begriffe als geschichtlich gewordene zu begreifen, bedeute auch, sie als vergänglich, das heißt, als endlich zu denken. Für die Romantik, so Badiou, trete das Unendliche nur noch als »Horizont-Struktur«110 auf. Mit diesem Denken wird Badious Grundeinsicht fundamental in Frage gestellt: Die Endlichkeit werde nicht mehr von der Unendlichkeit deduziert, sondern Letztere werde als Grenze aufgefasst. Der Primat des Unendlichen gelte in der so aufgefassten Romantik nicht mehr. Und mehr: Ein solches Verständnis von Geschichte und Unendlichkeit impliziere das Denken des Einen. Badiou formuliert: »In der Entfaltung der romantischen Figur bleibt das Unendliche, das für die Temporalisierung der Endlichkeit zum Offenen wird, Gefangener des Einen, weil es Gefangener der Geschichte bleibt. Solange die Endlichkeit letzte Bestimmung des Daseins ist, bleibt Gott.«111 Die Romantik führe dementsprechend ein Gottesdenken mit sich, selbst wenn sie in ihrem Selbstverständnis den Tod Gottes vertrete. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Unendlichkeitstypen, die Badiou in L’Immanence des vérités unterscheidet, ließe sich das romantische Unendlichkeitsdenken dem Modell der Transzendenz zuordnen.112 Obwohl das romantische Modell im Aufsatz Philosophie und Mathematik eine so prominente Position einnimmt, von der sich Badiou abgrenzen will, wird es in L’Immanence des vérités nicht als eigenes Modell geführt.113 Es ist auffällig, dass Badiou in seinem Aufsatz die posthegelianische Philosophie nicht expliziert. Denn es war nicht nur das Motiv des Endlichen, das vom axiomatischen Ansatz zeitloser Begriffe in der posthegelianischen Philosophie aufgekommen war, sondern auch der Ansatz der Kritik im Anschluss an Kants Kritik der reinen Vernunft. So war Marx einer der bedeutendsten Vertreter, der in Übereinstimmung mit Kant Erkenntnis grundsätzlich an Erfahrung knüpfte. Die Auffassung der Geschichtlichkeit bzw. der Zeitlichkeit von Begriffen, die tatsächlich von Hegel übernommen wurde, erlaubte es ihm wiederum, die Erfahrung nicht bloß im Rahmen des Gegebenen, sondern ebenso im Rahmen des Möglichen aufzufassen. Das Motiv der Kritik implizierte eine Skepsis gegenüber einem »spekulativen«, das heißt erfahrungsunabhängigen, Denken. Wenn Badiou sich nur auf das Moment des geschichtlichen – des endlichen – Denkens konzentriert, lässt er das Moment der Kritik unberücksichtigt. Wird das Moment der Kritik jedoch außen vor gelassen, scheint es sich nur um einen Konflikt unterschiedlicher ontologischer Kategorien zu handeln. Genauer: Das Endlichkeitsdenken der Romantik wäre dann 110 111 112 113

Ebd. Ebd., 184. Vgl. ABIV 281–285 sowie meine Ausführungen in Kapitel 2.4.3. Badiou greift in der Introduction von L’Immanence des vérités das Modell der Romantik auf: »Schließlich werde ich eine Umkehrung der romantischen Maxime vorschlagen. Man weiß, dass das Programm der Romantik darin besteht, das Unendliche in den endlichen Netzen der Liebe, der Revolution oder der Kunst zu finden und so – nach dem Vorbild der christlichen Inkarnation – den Abstieg der Idee in das Empfindsame zu organisieren.« – »Finalement, je proposerai un renversement de la maxime romantique. On sait que le programme du romantisme est de recueillir l’infini dans les rets finis de l’amour, de la révolution ou de l’art, et d’organiser ainsi – sur le modèle de l’incarnation chrétienne – la descente de l’Idée dans le sensible.« Ebd., 16.

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nur das Resultat einer irrenden ontologischen Kategorie, da sie das Unendliche nicht adäquat fasste. Das Moment der Kritik hingegen zielt unmittelbar auf eine Ontologie, die losgelöst von der Erfahrung behauptet wird.114

3.3.3 Dimension der Welt: Welten im Plural Der Begriff der Welt gehört meines Erachtens zu den zentralen und gleichzeitig zu den schwierigsten Begriffen in Badious Philosophie. Zentral ist er zunächst aufgrund der einfachen Tatsache, dass dieser Begriff zum großen Thema in Logiques des mondes gemacht wird. Er stellt – vereinfacht gesagt – die begriffliche Verbindung zwischen den Erkenntnissen der Ontologie (und der Ereignistheorie) und dem Handlungsraum möglicher Subjekte dar. Badiou verwendet den Weltbegriff auch in einem spezifisch politischen Sinne. Schwierig ist der Begriff hingegen, da er zu den allgemeinsprachlichen Wörtern im menschlichen Zusammenleben gehört und immer wieder zu klären ist, was genau Badiou unter »Welt« versteht. Anders formuliert: Als Alltagswort suggeriert der Weltbegriff eine Unmittelbarkeit hinsichtlich seines Gehalts, die bei Badiou nicht gegeben ist. Was ist gemeint? In Badious Ontologie der Vielheiten findet sich der Terminus der Situation. Eine Situation ist – in Badious Terminologie – eine Vielheit, die die Struktur der Zählung-alsEins aufweist.115 Eine Situation ist eine strukturierte Vielheit. Entsprechend der Tatsache, dass es keine Menge aller Mengen geben könne, sei auch keine Situation aller Situationen möglich (eine solche Situation wäre dann eine Menge aller Mengen). Folglich gebe es unendlich viele Situationen. Situationen gehörten dem Bereich des Seins-alsSeins und nicht dem Bereich des Seienden an. In Logiques des mondes betrachtet Badiou die ontologischen Situationen nun aus einer anderen Perspektive, nämlich dahingehend, wie sie in Erscheinung treten. Als solche nennt Badiou sie »Welten«. Auch eine Welt ist strukturiert. Jede Welt ist durch das, was Badiou ein Transzendental, eine immanente Logik, nennt, strukturiert.116 In seinem Artikel Worlds aus dem Badiou Dictionary fasst Steven Corcoran zusammen: »For starters, for Badiou there is no whole world of beings, and therefore no universe, but instead an irreducible multiplicity of worlds, each of which is identified with its own logic of appearing. Second, he impugns all transcendence. The arrangement of a world does not come from ›above‹ or ›without‹ […].«117 Ich werde die Einzelheiten bezüglich der Logik bzw. des Transzendentals einer Welt an dieser Stelle nicht wiederholen. Im Zusammenhang des Unendlichkeitsbegriffs Badious möchte ich lediglich den Aspekt der unendlichen Vielzahl von Welten aufgreifen. Mit der Darlegung, dass jede Welt ihre eigene Logik habe, kann Badiou die Auffassung ablehnen,

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Ich komme auf diesen Aspekt in Kapitel 3.4 zurück. ABEE 32 [38]. Vgl. meine Ausführungen in Kapitel 2.3. Corcoran, Steven: Worlds, in: Ders. (Hg.): The Badiou Dictionary, Edinburgh 2015, 395–397, hier 396.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

dass es eine einzige Logik geben müsse, die allen Welten zu Grunde liege. Beide Gedanken, die unendliche Vielzahl von Welten sowie die unendliche Vielzahl von Logiken, sind innerhalb von Badious Theoriegebäude nachvollziehbar. In beiden Fällen gerät er nicht in die Schwierigkeit, eine vereinende oder grundlegende Eins zu präsupponieren und damit unter der Hand eine Gottesfunktion einzuführen.118 Ein Problem tritt jedoch an anderer Stelle auf. Wenn Badiou den Begriff der Welt im politischen Kontext verwendet, ist sein Anliegen eindeutig, das Denken der einen Welt gegenüber einem Weltenpluralismus zu verteidigen. Am deutlichsten ist der Gedanke der einen Welt in De quoi Sarkozy est-il le nom? entfaltet. Mit diesem Buch hat sich Badiou 2007 in den Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich eingebracht und einen AchtPunkte-Plan zur politischen Orientierung vorgeschlagen. Die acht Punkte sind unterschiedlicher Art. Badiou fordert unter anderem die Gleichheit aller Arbeiter*innen unabhängig ihrer Herkunft, den Vorrang der Kunst vor dem Konsum, die Behandlung eines jeden Menschen, der einen Arzt braucht, und die Affirmation der Aussage »Es gibt eine einzige Welt.«119 . Die letzte Forderung müsse, so Badiou, gegen die Tatsache erhoben werden, dass der Kapitalismus mindestens zwei Welten produziere: »[Es, P.A.] ist klar, daß derselbe entfesselte Kapitalismus die politische Überzeugung durchzusetzen versucht, daß es zwei getrennte Welten gibt und nicht bloß eine. Es gibt die Welt der Reichen und Mächtigen und die ungeheuer große Welt der Ausgeschlossenen, Unterworfenen und Verfolgten.«120 Die Richtigkeit dieser Interpretation möchte ich an dieser Stelle nicht diskutieren, sondern aufzeigen, dass sich Badiou hier gegen eine Pluralität von Welten wendet und dieser die Forderung nach der einen Welt entgegenstellt. Die Frage ist, warum auf der logisch-ontologischen Ebene ein Weltenpluralismus zu behaupten sei, während der Gedanke der einen Welt als theologisches Konstrukt abgelehnt werde, und auf der politischen Ebene der Weltenpluralismus zu bekämpfen sei, während die Singularität der Welt betont werden müsse. Corcoran unterscheidet tatsächlich beide Weltbegriffe. Ein Teil seines Artikels ist dem logisch-ontologischen Weltbegriff gewidmet, der andere dem politischen. Genauer gesagt, er unterscheidet nur zwischen dem logisch-ontologischen Weltbegriff und dem des Kapitalismus (als politischer Weltbegriff). Die politische Forderung nach der einen Welt wird von Corcoran schlichtweg nicht berücksichtigt. Damit tritt aber bei ihm auch kein Widerspruch zwischen der politischen Forderung der einen Welt und dem logischontologischen Weltenpluralismus auf. Anders verfährt Ruda, der jedoch ebenfalls keinen Widerspruch findet. Hier wird die Forderung der Anerkennung der einen Welt zum politischen und philosophischen Imperativ, ohne aber den Weltenpluralismus aus Logiques des mondes zu thematisieren. Ruda schreibt:

Mit der Entfaltung einer absoluten Ontologie in L’Immanence des vérités scheint Badiou allerdings doch eine vereinheitlichende Logik für alle Welten und damit – gegen seine Intention – eine Eins zu begründen. 119 Badiou: Wofür steht der Name Sarkozy, 56. Hervorhebung im Original. Der Weltenpluralismus ist ab L’Immanence des vérités meines Erachtens nicht mehr ohne weiteres haltbar. 120 Ebd., 58. 118

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»Embedded into specific historical circumstances, the affirmation of the existence of one and only one world is a very precise counter-affirmation against the given coordinates. I will call such an affirmation, by pure reference to its formal structure, a determinate affirmation. One can therefore read the determinate affirmation that there exists one and only one world as a philosophical act, a decisive philosophical gesture which first and foremost affirms the hierarchy of the universal over particular identities by affirming the indifference of differences.«121 Ruda interpretiert die Forderung nach der Anerkennung der einen Welt unter bestimmten historischen Bedingungen in deutlicher Anlehnung an Hegels »bestimmte Negation« als eine »bestimmte Affirmation«. Die politische Forderung wird damit zur philosophischen Geste par excellence stilisiert – unter »bestimmten Umständen«. Die kurzen Hinweise auf Badiou, Corcoran und Ruda zeigen, dass der Weltenbegriff bei Badiou ein schillernder ist. Zwar kann er durch das Denken des Unendlichen einen Weltenpluralismus auf einer logisch-ontologischen Ebene begründen, das ihn vor einem theologischen Konzept des Einen schützt. Jedoch gelingt es Badiou keineswegs diesen logisch-ontologischen Weltenpluralismus an einen positiven Erfahrungsgehalt zu koppeln. Die zentrale Frage, die sich Badiou in Logiques des mondes stellt: »Warum und wie gibt es Welten statt des Chaos?«122 könnte nun lauten: »Wie lässt sich das Chaos, das die Welten erzeugen, überwinden?« Selbst wenn man die Trennung beider Bereiche – des politischen und des logisch-ontologischen – behaupten würde, müsste die Frage ergänzt werden, welche Bedeutung überhaupt dem logisch-ontologischen Diskurs zukommt, wenn die dort entwickelten Begriffe im Bereich der Politik eine strikt entgegengesetzte Bedeutung erfahren.

3.3.4 Dimension der Wahrheit: Die Ewigkeit der Wahrheiten Der zweite Begriff, der mit dem Denken der unendlichen Unendlichkeiten eine besondere Konnotation erhält, ist der Begriff der Wahrheit. Entsprechend Badious Nachweis, dass grundsätzlich jede letzte und umfassende Menge (als Menge aller Mengen) inkonsistent sei, gilt auch für den Wahrheitsbegriff, dass Wahrheiten nur im Plural existierten. Die Möglichkeit, dass Wahrheiten im Plural existierten speist sich außerdem aus der Annahme, dass es mehrere Handlungsfelder der Menschen gebe, in denen Menschen schöpferisch tätig werden könnten. Badiou nennt immer wieder vier Bereiche (Handlungsfelder), die Wissenschaft, die Politik, die Liebe und die Kunst, in denen sogenannte Wahrheitsprozeduren möglich seien. Die vier Bereiche können einerseits in ihrer genauen Bezeichnung bei Badiou variieren – z.B. als Mathematik, Politik, Psychoanalyse und Kunst –, andererseits gibt es keine notwendige Beschränkung auf diese vier Bereiche. Neben der grundsätzlichen Pluralität von Wahrheiten und der Pluralität von Bereichen, aus denen Wahrheitsprozeduren hervorgehen können, gibt es noch einem dritten Aspekt, wie sich das Denken des Unendlichen auf Wahrheiten auswirkt. Es handelt sich

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Ruda: For Badiou, 23. Hervorhebungen im Original. ABLM 111 [121].

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

um die zeitliche Dimension, mit der Wahrheiten als ewig aufgefasst werden können. Badiou hat sich dieser Problematik der Ewigkeit von Wahrheiten vornehmlich in Logiques des mondes zugewandt, da er sich mit der berechtigten Anfrage konfrontiert sah, ob der angenommene Weltenpluralismus die Relativierung der Wahrheiten impliziere. Wenn jede Welt dadurch gekennzeichnet sei, dass sie ihr eigenes Transzendental und damit ihre eigene Logik, welches Seiende wie und in welcher Intensität erscheint, habe, liegt der Verdacht nahe, dass eine Wahrheit nur in einer der vielen Welten existiere und damit in ihrer Universalität relativiert werde. Genauer gesagt: Eine Wahrheit, die nur in einer Welt erscheinen könnte, wäre in einem Weltenpluralismus keine universale Wahrheit mehr. Doch gegenüber diesem Verdacht bemüht sich Badiou in Logiques des mondes darum, die Universalität von Wahrheiten mithilfe des Begriffs der Ewigkeit zu begründen. In Kapitel 2.3 hatte ich bereits gezeigt, dass Badiou eine Wahrheit einerseits als vom Subjekt geschaffen, andererseits als über den Prozess der subjektiven Schöpfung hinausgehend, auffasst. Ein Subjekt ist nur so lange ein Subjekt, wie es eine Wahrheitsprozedur vollzieht. Hört ein Subjekt auf, eine solche Prozedur zu gestalten, fällt es in den Zustand bloßer Menschen bzw. Körper zurück. Ein Mensch bzw. ein Körper hat jedoch die grundsätzliche Möglichkeit, immer wieder auf bestehende oder vergangene Wahrheitsprozeduren zurückzukommen. Ein Subjekt, wie auch eine Wahrheit, können reaktiviert werden. Dieser Gedanke ermöglicht es Badiou, eine Wahrheit nicht an eine bestimmte Welt gebunden aufzufassen. Sie entstehe zwar in einer konkreten Welt durch ein konkretes Subjekt unter konkreten Bedingungen. Sie könne aber durch ein anderes Subjekt in einer anderen Welt und anderen Bedingungen reaktiviert werden und ihre – vermutlich eine veränderte – Bedeutung entfalten. Aufgrund dieser Möglichkeit der Reaktivierung einer Wahrheit, kann Badiou sie »überzeitlich« nennen und dem Vorwurf der Relativierung von Wahrheiten entgehen. In L’Immanence des vérités kommt Badiou auf die Problematik des Wahrheitsrelativismus zurück und betrachtet sie nun aus einer anderen Perspektive: aus der Perspektive einer spekulativen Methode. Wahrheiten könnten nun deshalb als universal bezeichnet werden, insofern sie in der absoluten Ontologie grundgelegt sind. Auch die Wahrheiten sind bestimmte Vielheiten und als Vielheiten sind sie – genauer: die Formen der Vielheiten – im Ort des Absoluten »V« versammelt.123 Eine Wahrheit sei dementsprechend nicht mehr deshalb überzeitlich, weil sie laut Badiou innerhalb einer anderen Welt reaktiviert werden könne, sondern weil sie im Ort des Absoluten verbürgt sei. Es ist meines Erachtens anzunehmen, dass eine Wahrheit, die in ihrer Form im Absoluten verbürgt ist, auch gar nicht mehr reaktiviert werden braucht, um ihren Ewigkeitscharakter zu realisieren. Die Zugehörigkeit zum Ort des Absoluten dürfte bereits hinreichend sein, damit eine Wahrheit als ewig gelten kann, denn auch der Ort des Absoluten ist als »losgelöster« (Hindrichs) überzeitlich – er ist nicht an eine externe Zeit gebunden. Als konkret erscheinende Wahrheit, das heißt nicht ihrer Form nach, muss sie jedoch nicht ewig sein. Badiou kann deshalb schließen: »So ist jedes Œuvre einer Wahrheit endlich, singulär, universal und absolut.«124 Hinsichtlich ihrer Form sei eine Wahrheit im Ort des Absoluten 123 ABIV 41. 124 »Ainsi toute œuvre de vérité est finie, singulière, universelle et absolue.« Ebd., 512.

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verbürgt, habe damit Anteil am Absoluten und sei deshalb ewig und universal. Hinsichtlich ihrer konkreten Erscheinung als Œuvre sei sie endlich und singulär.125 Die Unendlichkeit im Sinne der Ewigkeit von Wahrheiten ist von Badiou formal dargelegt worden. Doch auch für Badiou sind Wahrheiten nicht bloß formale Strukturen, sondern sie entfalten Bedeutung für ihre Agenten – ihre Subjekte. Badiou diskutiert diesen Aspekt unter dem Begriff des »wahren Lebens«126 . Was heißt wahres Leben bzw. was heißt es, mit einer Wahrheit zu leben?

3.3.5 Dimension des Lebens: Mit einer Wahrheit leben Ich habe meine Analyse von Logiques des mondes mit der Vermutung beendet, dass Badious Imperativ, mit einer Wahrheit bzw. einer Idee zu leben, das Gefühl einer Überhöhung gegenüber denjenigen »menschlichen Tieren«, die ohne Wahrheit leben, suggeriert (2.3.5). Mit anderen Worten: Der Imperativ, mit einer Wahrheit zu leben, führt zu einer Unterscheidungen zwischen denjenigen Menschen, die mit und denjenigen, die ohne Wahrheit leben. Erstere scheinen Letzteren gegenüber als überlegen zu gelten, denn nur eine Wahrheit ermögliche es einem Menschen, »unsterblich« zu werden. Doch wie genau kommt es zu einer solchen Unsterblichkeit? Und was meint »unsterblich« in diesem Zusammenhang? Wenn Badiou – natürlich – keinen biologischen Zustand meint, handelt es sich dann um eine poetische, eine rhetorische Figur? Und falls ja, mit welcher Funktion wird eine solche poetische Figur von Badiou verwendet? Obwohl Badiou in L’Immanence des vérités die Perspektive auf Wahrheiten ändert, unterscheiden sich seine Ausführungen dort hinsichtlich des Verhältnisses von Wahrheit und Subjekt nicht wesentlich von denen in Logiques des mondes. In beiden Abhandlungen – für L’être et l’événement gilt dies gleichermaßen – werden Wahrheiten als Wahrheitsprozeduren, das heißt als Handlungsprozesse, aufgefasst, die von Subjekten begonnen127 und realisiert werden. Eine Wahrheit wird getan. Ergänzend zu diesen grundlegenden Überlegungen führt Badiou in L’Immanence des vérités noch das Œuvre ein, das ich als ein Moment einer Wahrheitsprozedur interpretiere. Als Moment ist es nicht ewig, sondern endlich. Als Moment einer Wahrheitsprozedur, die in ihrer Form im Ort des Absoluten verankert ist, hat es Anteil an der Universalität der Wahrheit bzw. der Wahrheitsprozedur. Mit dieser Differenzierung lässt sich klären, dass es weder das Subjekt noch der Mensch noch ein Œuvre ist, das bzw. der unendlich wird, sondern ausschließlich die Wahrheitsprozedur selbst, die ewig weitergeführt oder reaktiviert werden kann. Die Œuvres und ihre Schöpfer*innen belegen hingegen die Wahrheiten in ihrem konkreten Erscheinen in konkreten Welten. In L’Immanence des vérités tritt jedoch im Unterschied zu Logiques des mondes der heroische Imperativ, mit einer Wahrheit als Unsterbliche zu leben, in den Hintergrund. Vielmehr legt Badiou dort den Fokus auf die grundsätzliche menschliche Fähigkeit, mit

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Badiou unterscheidet zwischen einer Wahrheitsprozedur und dem Œuvre einer Wahrheit. Letzteres ist Teil einer Wahrheitsprozedur. Es ist ein endliches Moment einer Wahrheitsprozedur. Vgl. ebd., 516. ABLM 527 [535]. Initiiert werden die Wahrheitsprozeduren und ihre Subjekte in allen drei Büchern von Ereignissen.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

bzw. für eine Wahrheit zu leben. Nina Power hat in ihrem sehr überzeugenden Aufsatz Towards an Anthropology of Infinitude. Badiou and the Political Subject den Aspekt des Fähigseins zur Wahrheit hervorgehoben. Power argumentiert, dass bereits die Tatsache, dass Menschen die Fähigkeit besäßen, unendlich zu denken und Unendliches zu denken, die Möglichkeit impliziere, an Wahrheiten Anteil zu haben. Ein Mensch sei demnach nicht nur von dem Sich-ereignen eines Ereignisses abhängig, sondern weise in sich bereits eine »pre-evental generic capacity«128 auf. Power wirft diesen Aspekt kritisch gegenüber Logiques des mondes ein. L’Immanence des vérités endet im Unterschied zu Logiques des mondes mit dem Hinweis auf die menschliche Fähigkeit zur Wahrheit: »Es ging um das wahre Leben: Wir sind in der Form eines Œuvres, individuell oder kollektiv, in den vier Bereichen, die vom aufgedrehten menschlichen Tier frequentiert werden, zu kreativen Prozessen fähig, in denen sich Singularität, Universalität und Absolutheit vereinigen.«129 Badiou scheint mit dieser Einsicht, einen aufklärerischen Anspruch zu vertreten. Er weist als mithilfe der Philosophie darauf hin, dass Wahrheiten möglich und darüber hinaus universal und ewig seien, und dass Menschen die Fähigkeit besäßen, Wahrheitsmomente und Wahrheitsprozeduren zu erzeugen. Badiou legt damit den Fokus auf die Wahrheit und das Subjekt und weniger auf ein Ereignis. Dennoch bleibe die Wahrheit dem Menschen äußerlich. Obwohl Menschen als Subjekt(e) eine Wahrheitsprozedur tätigen, ist ihre Universalität im Ort des Absoluten verbürgt.130

3.4 Axiomatik versus Dialektik Wie bereits mehrfach in dieser Untersuchung und insbesondere in Kapitel 3.2.1 Die Ontologie ist axiomatisch angesprochen, stellt die Axiomatik einen neuralgischen Punkt in Badious Werk dar. Sie charakterisiert wesentlich sein Denken spätestens seit L’être et l’événement und sie wird von ihm als Ansatz aufgefasst, der es der Philosophie ermögliche, ohne Gott als erste Ursache, das Sein und die Welt zu erfassen. Ich möchte diese Grundeinsichten und Anliegen Badious hier nicht wiederholen, sondern seine Axiomatik in ein Verhältnis zur Methode der Dialektik bringen. Bis Ende der 1980er Jahre war Letztere noch für Badiou bestimmend: Sie war seine Methode und sie wurde als Methode reflektiert und weiterentwickelt. Der Schritt hin zur Axiomatik hat Badiou allerdings nicht von der Dialektik weggeführt. Als »materialistische Dialektik« tritt sie in Logiques des mondes

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Power, Nina: Towards an Anthropology of Infinitude. Badiou and the Political Subject, in: Ashton, Paul/Bartlett, A. J./Clemens, Justin (Hg.): The Praxis of Alain Badiou, Melbourne 2006, 309–338, hier 338. 129 »Il s’est agi de la vraie vie : nous sommes capables, dans la forme d’une œuvre, individuelle ou collective, dans les quatre registres que fréquente l’animal humain survolté, de processus créateurs où se conjuguent dialectiquement la singularité, l’universalité et l’absoluité.« ABIV 682. 130 MacKenzie nimmt meines Erachtens zu Recht bei Badious Wahrheitsbegriff ein dogmatisches Wahrheitsverständnis wahr, da er kein Konzept dafür habe, wie das Fähig-Sein zur Wahrheit »erlernt« werden könne. Es bedürfe des Ereignisses als externe Größe, und darin liege der dogmatische Charakter des badiouschen Wahrheitsbegriffs. MacKenzie, Iain: Resistance and the Politics of Truth. Foucault, Deleuze, Badiou, Bielefeld 2018, 116.

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wieder in Erscheinung. Der Stellenwert des dialektischen Denkens in Badious Philosophie gehört in der Badiourezeption zu den viel diskutierten Themen. Die Auseinandersetzung geht um die Frage, ob die Axiomatik die Dialektik abgelöst habe131 oder ob es eine Kontinuität132 der Dialektik in Badious Werk gebe. Die Frage impliziert weit mehr als ›nur‹ eine nach der Methode. Insofern im Marxismus unterschiedlichster Prägungen die Dialektik in Form einer »materialistischen Dialektik« bzw. eines »dialektischen Materialismus« als das eigentümliche Kennzeichen aufgefasst werden darf, geht es in dieser Frage nicht zuletzt (auch) um Badious Verhältnis zum Marxismus. Hat Badiou in den 1980er Jahren mit dem Marxismus gebrochen? Hat er ihn fortgeführt? Wollte/will er ihn erneuern? Wollte/will er zu den ›Wurzeln‹ des Marxismus zurückkehren? Und ist die jeweilige Antwort auf diese Fragen zu begrüßen oder abzulehnen? Im Folgenden werde ich mich diesem Problemkomplex nähern, in dem ich 1. eine sehr knappe Darstellung der Entwicklung des Dialektikbegriffs im Marxismus vornehme, um bestimmte Tradierungslinien zu unterscheiden (3.4.1). 2. werde ich zwei unterschiedliche Dialektikverständnisse in Badious Werk aufzeigen (3.4.2f.). Meine These ist, dass es mindestens zwei Dialektikbegriffe in Badious Denken gibt, die ich Dialektik der Teilung und Dialektik der Ausnahme nenne. Weiter gehe ich davon aus, dass das, was bei Badiou eine Dialektik der Ausnahme genannt werden könnte, an keine der dominanten Dialektiktraditionen im Marxismus anschließt. In einem dritten Schritt versuche ich nachzuweisen, dass die Dialektik der Teilung mit dem axiomatischen Denken Badious verschwindet und dass die Dialektik der Ausnahme der Axiomatik nachgeordnet ist (3.4.4). Im letzten Schritt (3.4.5) komme ich auf den Begriff der Totalität zurück, der eine Art Gegenstück zum Dialektikbegriff bildet. Die Funktion dieses Gegenstücks wird allerdings im Marxismus (inklusive Badiou) sehr unterschiedlich aufgefasst (3.4.5). Das Verhältnis von Dialektik und Axiomatik in Badious Werk zu klären, stellt meine Erachtens einen notwendigen Schritt im Hinblick auf die These des Todes Gottes dar. Denn in jeder Phase seines Denkens führte entweder die Dialektik oder die Axiomatik zu dieser These.

3.4.1 Materialistische Dialektik (historisch) Das bekannte Vorurteil, dass mit dem Begriff der Dialektik alles und nichts ausgesagt werde, gilt für diesen Begriff nicht mehr als für andere philosophische Begriffe, die eine lange Tradition aufweisen können. Will man eine Definition von Dialektik liefern, der allen Phasen – oder wenigstens den groben Linien – gerecht werden will, ist das Scheitern vorprogrammiert. Anders verhält es sich selbstverständlich mit der Darstellung einzelner Positionen innerhalb dieser Geschichte. So, wie es die komplexen – und alles andere als zugänglichen – Ansätze gibt, insbesondere denjenigen Hegels, gibt es die in ihren Grundzügen klar umrissenen, zu denen der Ansatz Lenins zählen könnte.

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Hallward tendiert zu einer antidialektischen Lesart Badious. Er betont den Vorteil eines mathematischen, das heißt axiomatischen, Materialismus (bei Badiou) gegenüber einem dialektischen oder historischen Materialismus. Vgl. Hallward: A Subject to truth, 60; ebenso 155. Bosteels: Badiou and Politics, 1–17.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

Die lange Geschichte des Dialektikbegriffs sowie unterschiedliche und auch gegensätzliche Bedeutungsfacetten desselben wahrzunehmen, ist bereits ein erster Erkenntnisschritt. Um sich dem Dialektikbegriff Badious zu nähern, begrenze ich mich auf eine grobe Rekonstruktion bis zu Hegel.133 1978 hat die sogenannte Bochumer Dialektik-Arbeitsgemeinschaft eine Bilanz dieser Phase des Dialektikbegriffs (von Hegel bis 1978) unternommen, die aufgrund ihrer Zusammenstellung auch heute noch eine wichtige Quelle darstellt.134 Das grundsätzliche Fazit der Arbeitsgemeinschaft lautet: »Das dialektische Denken hat bis zu Hegel und Marx keinen Traditionszusammenhang begründen können, für den man den Anspruch einer durchgehenden kontinuierlichen Entwicklung hätte erheben können. Und auch für die materialistische Dialektik nach Marx gilt, daß ihre Modelle neben der Linie über Engels und Lenin zu Mao bzw. zur heutigen UdSSR-Philosophie, die ihre eigenen Probleme hat, keine in sich zusammenhängende Tradition aufweisen.«135 Aufgrund der fehlenden Eindeutigkeit des Dialektikbegriffs hinsichtlich seiner Geschichte spricht Kimmerle von einer »Einheit von Kontinuität und Bruch«136 . Für die kritische Theorie der Frankfurter Schule (hier Adorno und Marcuse)137 , ließen sich grob Marx und Hegel als gleichwertige Quellen, die teilweise über Lukács gehen, ausmachen. Althusser hingegen sei in seinem Dialektikverständnis vor allem unmittelbar von Marx, aber auch von Lenin und Mao geprägt worden.138 Welche Verständnisse lassen sich nun mit den jeweiligen Positionen verknüpfen? Hegel entwickelte einen Dialektikbegriff als Erweiterung der kosmologischen Antinomien, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft herausgearbeitet hat. Kant stößt im Bereich der Kosmologie auf solche Antinomien, die sich dadurch auszeichnen, dass die These wie die Antithese gleichermaßen bewiesen werden könne, wie er an der Frage, ob die Welt hinsichtlich des Raumes und der Zeit unendlich oder endlich sei, aufzeigt.139 Hegel greift Kants Denken des Widerspruchs auf und überträgt sie von der Kosmologie auf alle Kategorien des Denkens.140 Ihm zufolge seien alle Kategorien widersprüchlich 133

Den Versuch einer umfassenden Studie des Dialektikbegriffs in der gesamten Philosophiegeschichte hat Hans Heinz Holz unternommen. Vgl. seine fünf Bände: Holz, Hans Heinz: Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 2011. 134 Die Besonderheit dieses Bandes zeichnet sich in der Auswahl der besprochenen Positionen aus, zu denen auch diejenige Maos zählt, die für eine Diskussion über Badious Dialektikbegriff von großer Bedeutung ist. Bei Holz, wie auch in anderen Untersuchungen spielt die Position Maos in der Regel keine Rolle. Exemplarisch: Arndt, Andreas: Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs, Hamburg 1994. 135 Kimmerle, Heinz: Nachwort. Rückblick und Ausblick, 291–305, hier 298. 136 Ebd. 137 Adorno: Negative Dialektik; Marcuse: Vernunft und Revolution. 138 Ebd., 293. Ich lasse die anderen Linien, die die Positionen von Engels, Gramsci, Kosík, Korsch, Bloch und der UdSSR-Philosophie auf unterschiedliche Weise verbinden, außen vor, da die Beachtung dieser Positionen für meine Fragestellung nicht unmittelbar virulent ist. 139 Vgl. das Kapitel Die Antinomie der reinen Vernunft in: Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 406-A 567/B 433-B595 und dazu Kreis: Negative Dialektik des Unendlichen, 31–147. 140 Zu Kants Kategorientheorie: Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 80f./B 106f.; Höffe: Kants Kritik der reinen Vernunft, 117–131; Kreis: Negative Dialektik des Unendlichen, 169–177. Zu Hegel: Wissen-

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

strukturiert und erst im ganzen Kategoriensystem, dem »Begriff«, ließen sich die Widersprüche versöhnen. Jede Kategorie sollte mit ihrer bestimmten Negation konfrontiert und aus der Negation beider eine positive höherstufige Kategorie entwickelt werden. Eine der ersten Kategorien anhand derer Hegel sein dialektisches Modell entfaltet, ist die Kategorie der Unendlichkeit. Dieses Vorgehen ermöglicht es Hegel in der Wissenschaft der Logik das dialektische Denken ohne ›äußeren‹ Gegenstand, sondern als ein sich selbst denkendes Denken, zu entwickeln. Marx hatte genau an dieser Stelle des sich selbst denkenden Denkens Einspruch erhoben und gezeigt, dass auf diesem Wege nicht, wie beansprucht, das Ganze der Wirklichkeit – die Totalität – erfasst werde, sondern sie lediglich im Denken verbleibe.141 Und mehr: Erst die gesellschaftliche Arbeitsteilung erlaube die Abstraktion vom (durch Arbeit produzierten) Gegenstand. Widersprüche seien deshalb nicht nur als Positivität und bestimmte Negation im Denken anzunehmen, sondern auch in der ›Wirklichkeit‹, konkret in der Gesellschaft, aufzufinden. Deshalb wendet er die dialektische Methode aus Hegels Wissenschaft der Logik zur Analyse der politischen Ökonomie an. 1923 veröffentlichte Georg Lukács seine einflussreiche Schrift Geschichte und Klassenbewusstsein, in der er die philosophische – insbesondere die hegelsche – Grundlage des Marxismus wiedergewinnen wollte.142 Es ist auffällig, dass Lukács im Unterschied zu Marx bereits bei Hegel die Einsicht in die in sich widersprüchliche Gesellschaft wahrnimmt. Laut Lukács zeichne sich die dialektische Methode durch ihre Fähigkeit, das einzelne, konkrete Gegebene als Teil eines Gesamtzusammenhangs, einer Totalität, aufzufassen, aus: »Nicht die Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Geschichtserklärung unterscheidet entscheidend den Marxismus von der bürgerlichen Wissenschaft, sondern der Gesichtspunkt der Totalität. Die Kategorie der Totalität, die allseitige, bestimmende Herrschaft des Ganzen über die Teile ist das Wesen der Methode, die Marx von Hegel übernommen und originell zur Grundlage einer ganz neuen Wissenschaft umgestaltet hat.«143 Das, was den Marxismus kennzeichne, sei nicht in erster Linie seine Kritik der politischen Ökonomie, sondern die Fähigkeit, einzelne Erkenntnisse, in einen Zusammenhang zu bringen und diese vom Zusammenhang her verstehen zu können. Auf diese Wei-

schaft der Logik I (Werke 5), 216–227; Iber, Christian: Was will Hegel eigentlich mit seiner Wissenschaft der Logik! Kleine Einführung in Hegels Logik, in: Arndt, Andreas/Ders. (Hg.): Hegels Seinslogik. Interpretation und Perspektiven, Berlin 2000, 13–32. 141 Vgl. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 572. 142 Ebenfalls 1923 veröffentlichte Karl Korsch sein Buch Marxismus und Philosophie, das gleichermaßen prägend für die marxistische Philosophie geworden ist. Korsch charakterisiert den marxschen Dialektikbegriff als Zusammenhang von Theorie und Praxis. Die Theorie werde im Marxismus zur »›geistige[n] Aktion‹«, die »ein eigenständiger Bestandteil der umfassenden revolutionären Praxis ist, die sich aus ökonomischen, politischen und ›geistigen‹ Aktionen zusammensetzt«. Dannemann, Rüdiger/Erdbrügge, Wolfgang: Georg Lukács und Karl Korsch, in: Kimmerle, Heinz (Hg.): Modelle der Materialistischen Dialektik. Beiträge der Bochumer Dialektik-Arbeitsgemeinschaft, Den Haag 1978, 135–160, hier 140. 143 Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, 94.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

se könnten die einzelnen Erkenntnisse nicht mehr als außerhalb der Zeit, sondern als Momente im geschichtlichen Prozess (der geschichtlichen Totalität) interpretiert werden. Sie sind veränderbar. In dieser Einsicht bestehe der revolutionäre Charakter der Dialektik: »Die materialistische Dialektik ist eine revolutionäre Dialektik.«144 Dannemann und Erdbrügge sprechen deshalb von einer »prozessualen Totalität«145 bei Lukács. Die Frankfurter Schule knüpft an dieses Verständnis von Totalität an. Eine andere Linie in der Entwicklung der materialistischen Dialektik macht die Bochumer Dialektik-Arbeitsgemeinschaft von Lenin über Mao bis zu Althusser aus. Hier tritt der Begriff des Widerspruchs hinsichtlich der Totalität stärker in den Vordergrund. Lenins knappe, aber berühmte Definition der Dialektik, die er in den Philosophischen Heften 1914/15 schrieb, lautet: »Die Dialektik kann kurz als die Lehre von der Einheit der Gegensätze bestimmt werden.«146 Entscheidend ist hier der Aspekt der Gegensätze. Die Gegensätze oder auch Widersprüche bilden laut Hegel die Grundstruktur der Wirklichkeit. Arndt nennt als Beispiel, das Lenin angibt, das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen. Beides seien Gegensätze, jedoch existiere das Allgemeine, z.B. »Mensch« nur »im Einzelnen und durch das Einzelne«147 . Das Allgemeine realisiere sich nicht im Besonderen, wie umgekehrt das Besondere nicht im Allgemeinen aufgehe. Darin bestehe ein absoluter Gegensatz. Die Beziehungen, die das Einzelne eingehe, bildeten eine Totalität. Zwischen dem Einzelnen und der Totalität bestünde die gegenseitige Möglichkeit der Veränderung. So können die Beziehungen in der Totalität das Einzelne verändern, wie umgekehrt das Einzelne über seine Beziehungen die Totalität. Doch – und hierin besteht der Unterschied zu Hegel wie zu Lukács – wird die Totalität über das Einzelne in seiner Besonderheit erfahren.148 Mao greift Lenins Fokussierung auf den Begriff des Widerspruchs auf und entwickelt diesen 1937 in seinem Aufsatz Über den Widerspruch149 weiter. So stellt er gleich zu Beginn des Aufsatzes die These auf: »Das Gesetz des Widerspruchs, der den Dingen innewohnt, oder das Gesetz der Einheit der Gegensätze, ist das fundamentalste Gesetz der materialistischen Dialektik.«150 Die Tatsache, dass Widersprüche allen Dingen innewohnen, bedeute nicht nur, dass die Widersprüche in ihrer Allgemeinheit analysiert werden müssten, sondern sie müssten gerade in ihrer jeweiligen Besonderheit, in ihrer konkreten Situation interpretiert werden. In seinem Aufsatz differenziert er weiter zwischen unterschiedlichen Widerspruchstypen: Grund-, Haupt- und Nebenwiderspruch. So schreibt er: »Im Entwicklungsprozeß eines komplexen Dinges gibt es eine ganze Reihe von Widersprüchen, unter denen stets einer der Hauptwiderspruch ist; seine Existenz 144 Ebd., 59. 145 Dannemann/Erdbrügge: Georg Lukács und Karl Korsch, 142. Hervorhebung im Original. 146 Lenin: Philosophische Hefte, 214. Auf diese knappe Definition folgt allerdings der wichtige Hinweis: »Damit wird der Kern der Dialektik erfaßt sein, aber das muß erläutert und weiterentwickelt werden.« Ebd. 147 Arndt, Andreas: Vladimir Iljič Lenin, in: Kimmerle, Heinz (Hg.): Modelle der Materialistischen Dialektik. Beiträge der Bochumer Dialektik-Arbeitsgemeinschaft, Den Haag 1978, 85–106, hier 101. 148 Ebd., 95. 149 Mao Tse-Tung: Über den Widerspruch, in: Ders.: Fünf philosophische Monographien, München 2002, 27–80. 150 Ebd., 27.

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und seine Entwicklung bestimmen oder beeinflussen die Existenz und die Entwicklung der anderen Widersprüche.«151 Mao geht dementsprechend von einer Ordnung von Widersprüchen aus. Dabei sei jedoch zu beachten, dass jede Situation ihre eigene Ordnung von Widersprüchen aufweise. Der Hauptwiderspruch sei nicht immer der gleiche. So könne in der einen Situation der Hauptwiderspruch zwischen »Bourgeoisie und Proletariat«, in einer anderen Situation der zwischen »Imperialismus […] auf dem einen Pol und den Volksmassen auf dem anderen Pol«152 bestehen.153 Die Dialektik sei die Wissenschaft dieser Widersprüche. Für Mao, wie auch bereits für Lenin, dient die so aufgefasste Dialektik in erster Linie nicht philosophischer Begriffs- bzw. Kategorienentwicklung, sondern der »konkreten Analyse einer konkreten Situation«154 , das heißt der politischen Analyse. Stärker als bei Lukács wird die politische Fragestellung auch in die Theorie selbst mit einbezogen. Sie wird als Voraussetzung der Theorie aufgefasst. Kimmerle spricht deshalb von der sogenannten »Voraussetzungs-Problematik«: »Der entscheidende Gedanke in diesem Zusammenhang ist, daß der dialektische Charakter der Theorie in ihrer Anpassungsfähigkeit an wechselnde politische Konstellationen zum Ausdruck kommt. Das Instrumentarium des dialektischen Denkens wird im Blick auf die Erfassung der jeweils verschiedenen Bedürfnisse des praktischen revolutionären Kampfes weiter ausgebaut.«155 Mit der Voraussetzungs-Problematik werden die nicht-theoretischen Bedingungen theoretischer Fragen thematisiert. Louis Althusser entwickelt diesen Gedanken der Voraussetzungs-Problematik weiter und kann mit diesem feststellen, dass in den unterschiedlichen Voraussetzungen von Hegel und Marx auch der Unterschied im Begriff der Dialektik liege. Marx entkleide nicht einfach die hegelsche Dialektik ihrer idealistischen Verkleidung, sondern seine Bedingungen, seien bereits ganz andere, sodass auch sein Dialektikverständnis ein absolut anderes sei.156 Im Anschluss an Mao hebt auch Althusser die Bedeutung der vielen Widersprüche hervor. Die Einheit der Widersprüche, wie sie bei Lenin aufgetaucht war, müsse tatsächlich so verstanden werden, dass die Widersprüche darin weiter bestünden. So bestimmten die einzelnen Widersprüche die Totalität und nicht umgekehrt die Totalität die Widersprüche. Darin unterscheide sich Althusser zufolge der Dialektik- und der Totalitäts-

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Ebd., 57. Ebd., 59. Dazu Arndt und Schmidt: »Die relative Selbständigkeit der vom Grundwiderspruch beeinflußten Widersprüche im Entwicklungsprozeß eines komplexen Ganzen führt dazu, daß der Prozeß nicht geradlinig, gleichmäßig, sondern diskontinuierlich (in ›Sprüngen‹) und ungleichmäßig verläuft. Er durchläuft Etappen, die jeweils ihre Besonderheit aufweisen, die durch den Hauptwiderspruch bestimmt werden, den Widerspruch, der in der gegebenen Etappe die anderen Widersprüche dominiert, zu Nebenwidersprüchen macht.« Arndt, Andreas/Schmidt, Giselherr: Mao Tsetung, in: Kimmerle, Heinz (Hg.): Modelle der Materialistischen Dialektik. Beiträge der Bochumer Dialektik-Arbeitsgemeinschaft, 107–134, hier 122. Hervorhebung im Original. Arndt: Vladimir Iljič Lenin, 87. Kimmerle: Voraussetzungen, 7–31, hier 16. Althusser: Pour Marx, 92 [111].

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

begriff Hegels und Marx’.157 Dieses Zusammenspiel der einzelnen Widersprüche führe niemals zu einer festen Totalität. Zwar lasse sich von einer Einheit der Widersprüche sprechen, jedoch seien die Widersprüche in ihren Wirkungsweisen sehr unterschiedlich und veränderten die Totalität. Für Badiou, der an Althusser anknüpft, ist der Weg von einer instabilen Totalität zu ihrer Auflösung dann nicht mehr weit. In diesem Ritt durch die Geschichte des (materialistischen) Dialektikbegriffs von Hegel bis Althusser war mein Ziel nicht die Frage, nach der Plausibilität der jeweiligen Ansätze. Vielmehr ging es mir darum, mindestens zwei unterschiedliche Traditionslinien des Dialektikbegriffs – innerhalb des Marxismus – aufzuzeigen. Grob lässt sich die erste Linie, die von Hegel bis Lukács (und weiter bis zur kritischen Theorie der Frankfurter Schule) führt, mit dem Begriff der Totalität verknüpfen. Die zweite dargestellte Linie von Hegel über Lenin und Mao bis Althusser orientiert sich hingegen stärker am Begriff des Widerspruchs. Badiou wird zuerst mit seinem Begriff der Dialektik der Teilung und später mit seiner Ontologie der Vielheit die zweite Linie weiterentwickeln.

3.4.2 Dialektik der Teilung Badious Dialektikbegriff, wie er ihn in Théorie du sujet konzipiert, lässt sich als »Dialektik der Teilung« bezeichnen. Der Zusatz »Teilung« ist eine Übersetzung des französischen Worts »division«. Badiou verwendet auch den Begriff der »scission«, der mit Spaltung übersetzt werden kann. Die Dialektik der Teilung lässt sich paradigmatisch mit dem Satz »Eins teilt sich in zwei« charakterisieren, der in seiner expliziten Form auf Mao und implizit auf Lenin zurückführt. Hinsichtlich des Aspekts der Teilung befindet sich Badiou in einer Linie mit Althusser, Mao und Lenin, denn der Begriff der Teilung bzw. der Spaltung meint grundsätzlich nichts anderes als »Widerspruch«. Sein Satz: »Es gibt nur eine gespaltene Einheit.«158 erinnert an Lenins Aussage, dass die Dialektik die Einheit von Widersprüchen sei. Doch mit der Herleitung dieser Teilung bzw. Spaltung löst sich Badiou von Althusser. Vielmehr vollzieht er eine Geste im Sinne Lenins, wenn er Hegel »materialistisch« lesen will.159 Mit dieser Geste wendet sich Badiou implizit gegen Althussers Unterscheidung zwischen der hegelschen (idealistischen) und der marxschen (materialistischen) Dialektik. Badiou verlegt diese Unterscheidung stattdessen in Hegel selbst. So gebe es einen idealistischen, wie einen materialistischen Hegel.160 Den Begriff der Teilung/Spaltung extrahiert Badiou nicht von Marx, sondern direkt von Hegel. Überhaupt ist auffällig, dass in Théorie du sujet, das deutlich in seine maoistische, das heißt marxistische, Phase fällt, der Dialektikbegriff nicht von Marx, sondern eben von Hegel her entfaltet wird. Badiou entwickelt den Begriff der Teilung/Spaltung über die Kategorie des Etwas aus Hegels Wissenschaft der Logik. Im Unterschied zu Hegel

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Ebd., 104 [129]. ABTS 22 [24]. »Man muss rückblickend die frohe Botschaft verstehen, die Lenin überall wiederholt: Hegel ist Materialist!« Ebd., 21 [23] und Lenin: »Ich bemühe mich im allgemeinen, Hegel materialistisch zu lesen.« Lenin: Philosophische Hefte, 94. 160 Badiou verfolgt ausschließlich den »materialistischen« Hegel. Der »idealistische« findet keine weitere Beachtung.

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ist es bei Badiou nicht die bestimmte Negation der ersten Affirmation (der ersten Kategorie), die zu einem Widerspruch führe – bei Hegel war es die Unterscheidung von Etwas und Anderes. Stattdessen liege der Widerspruch in der Position eines Etwas. Das Etwas (A) spalte sich in ein Etwas (A) und ein platziertes Etwas (AP ). Der Index P steht für den Platz. Auf diese Weise leitet Badiou seinen Begriff der Dialektik her. Alle von mir vorgestellten Positionen zur materialistischen Dialektik rekurrieren auf Hegels Dialektik, wie sie in der Wissenschaft der Logik entwickelt wird. Althusser stellt hier eine Ausnahme dar. Wenn Badiou seine Herleitung über den Begriff des Etwas vollzieht, befindet er sich grundsätzlich auf einer Linie mit Mao, Lenin, Marx, sogar mit Lukács und Marcuse. Dass er das Etwas in ein Etwas und ein platziertes Etwas spaltet, kann dabei als seine eigene Innovation betrachtet werden.161 Auffällig ist jedoch, dass Badiou, im Unterschied zu den vorgestellten Positionen, das spezifisch Materialistische an der Dialektik nicht in der Hinwendung zur erfahrenen Realität bzw. zur Gesellschaft sieht. Ob als Weiterentwicklung oder als Bruch, alle vorgestellten Positionen heben die marxsche Hinwendung zur Gesellschaft als zentralen Unterschied zur hegelschen Dialektik hervor. Für Badiou hingegen ist bereits ihr ontologischer Charakter der materialistische, wie er in der ersten Seminarsitzung in Théorie du sujet schreibt: »Die Dialektik, sofern sie das Gesetz des Seins ist, ist notwendig materialistisch.«162 Wie auch immer dieses Sein von Badiou näher beschrieben wird, es ist höchstens im weitesten Sinne auf Gesellschaft und Erfahrung beziehbar. Badiou steht damit in der Tendenz, die umgekehrte Trennung von Althusser zu vollziehen: Es ist nicht die Trennung von Marx gegenüber Hegel, sondern diejenige von Hegel gegenüber Marx. Die materialistische Dialektik Badious, die er aus Hegels Logik herleitet, unterscheidet sich deshalb in ihrem Materialismusverständnis deutlich von demjenigen Marx’ und seiner Nachfolger. Diese Erkenntnis lässt auch Badious These vom Tode Gottes innerhalb der Geschichte der Metaphysikkritik besser situieren. Zwar wird der Gottesbegriff bei Badiou mithilfe einer materialistischen Dialektik abgelehnt, es handelt sich jedoch um einen anderen Schritt als bei Marx. Marx hatte im dialektischen Denken selbst die Notwendigkeit gesehen, die Realität als bearbeitete Welt und als Gesellschaft in das Denken aufzunehmen, ohne sie darin aufgehen zu lassen. Denken bzw. Theorie und damit auch Metaphysik seien Resultat der Arbeitsteilung (oder ein Moment der Arbeitsteilung). Damit werden alle metaphysischen Annahmen auf die Arbeitsteilung zurückgeführt. Der Gottesbegriff wäre dementsprechend nichts weiter als ein bloßer Begriff, eine »Spekulation«163 , die – in ihrer Bedeutung – nicht mehr an Erfahrung rückgekoppelt sei. Badiou hingegen argumentiert im ersten Teil von Théorie du sujet nicht über den fehlenden Realitätsbezug des Gottesbegriffs, sondern über die Unmöglichkeit einer Totalität, da jede 161

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Es sei angemerkt, dass ich diese Herleitung von Badiou für äußerst umständlich halte und nicht sehe, warum Badiou diesen Weg demjenigen, den Hegel selbst entwickelt, vorzieht. Auch Badiou greift seine eigene Innovation später nicht mehr auf. ABTS 21 [23]. Zum Begriff der Spekulation als Spähen (lat. speculor) oder als Spiegel (lat. speculum) vgl. Hindrichs: Kritische Theorie, 60–62 sowie Küpper, Martin: Der Spiegel und der Turm. Grundzüge des spekulativen Materialismus, in: Breda, Stefano/Boveiri, Kaveh/Wolf, Frieder Otto (Hg.): Materialistische Dialektik. Bei Marx und darüber hinaus, Berlin 2017, 157–167.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

Totalität ausschließlich als gespaltene gedacht werden müsse. Das materialistisch-dialektische Denken (in Théorie du sujet) lasse keine abgeschlossene Totalität und in der Folge keinen Gottesbegriff zu.

3.4.3 Dialektik der Ausnahme Einer derjenigen, die am deutlichsten die Kontinuität des Dialektikbegriffs in Badious Werk sehen, ist Bruno Bosteels. In seiner äußerst informativen Studie Badiou and Politics hebt er hervor, dass er keine Diskontinuität hinsichtlich des Dialektikbegriffs in Badious Werk feststelle. Sein Augenmerk richtet sich auf das Verhältnis von Sein und Ereignis. Beide dürften, so Bosteels, nicht absolut voneinander getrennt werden164 : »If we consider the title of Badiou’s most encompassing and ambitious work, Being and Event, it is therefore the ›and‹ that really matters as the peculiar articulation between the two orders.«165 Es sei das »und« zwischen Sein und Ereignis, das eine Verbindung zwischen beiden herstelle. Dadurch stünden beide in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Bosteels meint die Dialektik der Teilung auch in L’être et l’événement wiederzuerkennen: »The principle that for dialectics one divides into two, to a large extent, still applies to Badiou’s later philosophy following Being and Event. Thus, rather than the simple opposition between being and event, what really matters is the split within being between presentation and representation.«166 Bosteels interpretiert Badious L’être et l’événement so, dass sich die Teilung innerhalb des präsentierten Seins, das heißt, innerhalb einer Situation vollziehe. Diese Teilung ermögliche das Ereignis. Ich halte diese Anwendung der Dialektik der Teilung auf die Kategorien des Seins und des Ereignisses, wie sie Bosteels vorschwebt, nicht für geglückt, da so das zufällige Moment des Ereignisses verloren geht. Handelte es sich um eine Dialektik, wäre jede Situation so gespalten, dass sie ein Ereignis hervorbringe. Mir scheint aber ein anderer Weg möglich zu sein, um bei Badiou die Kontinuität des Dialektikbegriffs zu behaupten. In Logiques des mondes führt Badiou wieder den Begriff der materialistischen Dialektik ein, der in L’être et l’événement jedenfalls explizit nicht auftauchte. Meines Erachtens ließe sich die dort entwickelte materialistische Dialektik rückwirkend auch auf L’être et l’événement anwenden. Nur sei vorweggenommen, dass es sich bei dem, was Badiou in Logiques des mondes eine materialistische Dialektik nennt, um etwas anderes handelt als in Théorie du sujet. Die Kontinuität bestünde also nur auf der Wort-, nicht auf der Bedeutungsebene. Ich schlage in Anlehnung an Alex Callinicos vor, in Bezug auf Logiques des mondes die »materialistische Dialektik« eine Dialektik der Ausnahme zu nennen, statt von einer Dialektik der Teilung zu sprechen. In seinem Aufsatz Alain Badiou et Slavoj Zizek ou les nouveaux théoriciens de la dialectique? 167 analysiert Callinicos die damals (2006) neuen Bücher von Badiou (Logiques des mondes) und von Žižek (The Parallax View) hinsichtlich ihres Dialektikbegriffs. Dort nennt er Badious Dialektik

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Bosteels: Badiou and Politics, 4. Ebd., 6. Ebd., 162. Vgl. Callinicos, Alex : Alain Badiou et Slavoj Zizek ou les nouveaux théoriciens de la dialectique?, in : Presses Universitaire de France : »Actuel Marx«, 2008/1 Nr. 43, 154–162.

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eine »Dialectique de l’exception«168 , die er, wie schon Bosteels, im Verhältnis von Sein und Ereignis sieht: »Ereignisse sind unwahrscheinliche Vorkommnisse, die sich aus dem scheinbar ausgeschlossenen Teil einer Situation ergeben […].«169 Badiou denke Dialektik nicht (mehr) in Form von Widersprüchen relativ gleichwertiger Gegensätze, sondern in Form der Ausnahme. In Logiques des mondes tritt dieser Aspekt der Ausnahme noch deutlicher hervor. Dort schreibt er: »Es gibt nur Körper und Sprachen, außer dass es Wahrheiten gibt.«170 Diese Aussage entspricht inhaltlich der Interpretation von L’être et l’événement von Callinicos. Der Zusammenhang von »Körper und Sprachen«, von dem Badiou spricht, ließe sich ontologisch als Situation beschreiben. »Wahrheiten« könnten dann als die Prozesse, die von einem Ereignis initiiert werden, interpretiert werden. Insofern entspricht die Aussage, dass es nur Körper und Sprachen, außer Wahrheiten gebe, derjenigen, dass es nur Situationen, außer Ereignisse (und deshalb Wahrheiten) gebe. Mit Callinicos schlage ich deshalb vor, die materialistische Dialektik Badious eine in diesem Sinne Dialektik der Ausnahme zu nennen.171 Eine solche Bedeutung von Dialektik lässt sich nicht mit derjenigen der Dialektik der Teilung in Einklang bringen. Denn bei Badiou wird eine Situation oder eine Welt (»Körper und Sprachen«) nicht geteilt, sondern innerhalb von Situationen können unter bestimmten Umständen sogenannte Ereignisstätten auftauchen, die ein Ereignis ermöglichen. Zwar ließen sich zwei Mengen bilden, von denen die eine Elemente, die nicht zur Ereignisstätte gehören und die andere, nur Elemente, die zur Ereignisstätte gehören, enthält. Diese beiden Mengen wären dann das Ergebnis einer Teilung. Doch diese Zweiteilung läuft meines Erachtens dem Gedanken einer Ontologie der Vielheiten zuwider, die ja gerade auf die unterschiedliche Beschaffenheit des Seins aus ist. Es ist für eine Ontologie der Vielheiten nicht notwendig und nicht adäquat von Teilungen zu sprechen. Es gäbe andererseits die Möglichkeit, die beiden Begriffe horlieu und esplace aus Théorie du sujet 172 auf das Verhältnis von Situation und Ereignis anzuwenden. Dann entspräche die Situation dem esplace – dem »Platzierungsraum« und das Ereignis dem horlieu – dem »Unort«. Man könnte dann sagen, dass das Ereignis gespalten ist in es selbst und in das platzierte Ereignis. Doch damit trete der Aspekt der Ausnahme, die das Ereignis (bzw. die Wahrheiten) bildet, in den Hintergrund. Im einen Fall ist der Grundgedanke der, dass es keine Totalität gebe, weil alles als gespalten gedacht werden müsse, im anderen Fall, dass es keine Totalität gebe, weil immer die Möglichkeit einer Ausnahme gegeben sei. Vor dem Hintergrund der verschiedenen Positionen der materialistischen Dialektik ließe sich, wie bereits gezeigt, der erste Fall als Dialektik der Teilung in eine Reihe mit Althusser, Mao und Lenin bringen. Die Dialektik der Ausnahme hingegen ist wesentlich anders strukturiert als die anderen Positionen.173

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Ebd., 156. Ebd., 156. ABLM 12 [20]. Hervorhebung im Original. Ob der Begriff der Dialektik in diesem Zusammenhang überhaupt treffend ist, halte ich jedoch für fraglich. ABTS 28 [31f.]. Es wäre sicherlich weiterführend, eine detaillierte Studie zum Dialektikbegriff von Althusser zu Badiou und zu Žižek vorzunehmen. Hier könnte der Begriff des Symptoms als gemeinsamer Dis-

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

3.4.4 Axiomatik Badious Konzeption einer axiomatischen Ontologie ist zwar für die zeitgenössische Philosophie ein eher ungewöhnliches Unternehmen, philosophiegeschichtlich betrachtet steht eine solche axiomatische Ontologie jedoch in berühmter Gesellschaft. So entwarf Spinoza bereits eine Philosophie, die an der euklidischen Geometrie orientiert war.174 Wie bei Badiou ist auch bei Spinoza die Mathematik nicht bloß ein Thema, das von der Philosophie rezipiert wird, sondern die Philosophie greift die Darstellungsform der Mathematik auf, wie Wolfgang Röd feststellt: »Man kann also sagen, daß geometrische Methode und ontologisches Argument bei Spinoza von Anfang an verbunden auftraten.«175 Spinoza sieht deshalb die Aufgabe der Philosophie darin, einen Zusammenhang wahrer Sätze aufzustellen: »Die Philosophie hat nach Spinoza daher nicht die Aufgabe, durch den Zweifel zur Gewißheit vorzudringen, sondern sie soll die Bedingungen klären, unter denen Wahrheit, d.h. Übereinstimmung von Denk- und Seinsordnung, möglich ist.«176 Damit ist die Aufgabe der Philosophie anders bestimmt als beispielsweise bei Descartes, der, wie Röd hier andeutet, mit dem methodischen Zweifel seinen Erkenntnisgang beginnt. Badious Unternehmen einer axiomatischen Ontologie erinnert in dieser Hinsicht deutlich an Spinozas Philosophie. Auch Badiou möchte die Mathematik – hier allerdings die Mengenlehre und nicht die Geometrie – nutzen, um die Philosophie auf diese aufzubauen.177 Laut Röd ist genau die Axiomatik das Kennzeichen einer rationalistischen Philosophie. »Das rationalistische Ideal einer konsequent axiomatisch aufgebauten Wissenschaft beruht auf der Annahme, daß es Sätze gibt, die eines Beweises nicht mehr bedürftig, ja grundsätzlich nicht mehr beweisbar sind. Diese Sätze bilden als Axiome die Grundlage des Systems der Wissenschaft. Was die Axiome ausdrücken, muß nach dieser Auffassung definitiv erkannt sein, d.h. in bezug auf die Axiome muß ein perfektes Wissen angenommen werden. Durch diese Annahme ist das rationalistische Erkenntnisideal charakterisiert.«178 Axiome seien Sätze, die nicht weiter bewiesen werden müssten und dennoch für die Philosophie grundlegend angenommen werden sollen. Wirklichkeit werde dementsprechend durch die Vernunft, die ja die Axiome postuliert, erfasst. Diese Annahme zeichne den Rationalismus aus. In dieser Hinsicht ließe sich auch Badious Unternehmen als eine rationalistische Ontologie bezeichnen. Insofern er seine axiomatische Ontologie durch seine Ereignis- und Subjekttheorie begrenzt, ist die Ausweitung der Kennzeichnung des Rationalismus auf seine gesamte Philosophie jedoch nicht adäquat.

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kussionspunkt dienen, wie er in Lire le capital von Althusser und in The Sublime Object of Ideology von Žižek entwickelt wird. Ich danke Simon Langkamp für diesen Hinweis. Ein grundsätzlich ähnliches Konzept entwickelt auch Leibniz. Röd: Der Gott der reinen Vernunft, 81. Ebd., 82. Ich unterschlage an dieser Stelle Badious Unterscheidung von Philosophie und Ontologie. Ebd., 85.

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Nun wurde die rationalistische Philosophie von Kant in der Kritik der reinen Vernunft umfassend in Frage gestellt. Erkenntnis, so Kant, lasse sich nur über die (mögliche) Erfahrung erlangen. Der Vernunft könne nicht die Aufgabe zukommen, wahre Sätze – Axiome – aufzustellen, sondern Erkenntnis im Hinblick auf Ideen zu ordnen.179 In dieser Hinsicht ist Kants Philosophie eine wesentlich kritische. Hegel kommt zwar, ähnlich wie im Rationalismus, auf die Vernunft als Mittel der Erkenntnis zurück – Iber nennt Hegels Auffassung treffend »vernunftfundamentalistisch«180 –, doch die axiomatische Form des Rationalismus übernimmt er nicht mehr, sondern entwickelt seine umfassende Dialektik.181 Letztere wurde wiederum von Feuerbach und Marx auf ihren möglichen Erfahrungsgehalt hin überprüft und so weiterentwickelt, dass sie – die Dialektik – das, was nicht Geist ist, in die Dialektik aufnimmt, ohne dass es von der Dialektik vollständig subsumiert werden könne. Kritik wie Dialektik sind philosophiegeschichtlich und systematisch betrachtet Gegenkonzepte zur axiomatisch verfassten Philosophie. Ich habe an mehreren Stellen bereits darauf hingewiesen, dass genau dieser Aspekt des möglichen Erfahrungsgehalts von Badious axiomatisch verfasster Ontologie letztendlich nicht erfasst werden kann und sie das auch nicht zum Ziel hat. Entsprechendes gilt auch für Badious Phänomenologie, in der er sich mit dem, was er Welten nennt, auseinandersetzt. Diese sind ebenfalls nicht erfahrungsorientiert.182

3.4.5 Totalität Jegliche Dialektik ist in einem weiteren Sinne auf die eine oder andere Weise mit dem Begriff der Totalität verwoben. Entweder dient ihr ein Konzept von Totalität als Vollendung des dialektischen Prozesses des Negierens (Hegel), als Gesamtzusammenhang, von dem ausgehend erst jedes Besondere begriffen werden kann (Lukács), als ein Zwangszusammenhang, der wahrgenommen, kritisiert (Adorno) und überwunden (Marcuse) werden muss, oder aber als inkonsistentes Resultat, dem keine ontologische Referenz zukommt (Badiou). Die Linie des Dialektikbegriffs von Hegel, über Marx, Lenin und Mao, tendierte immer stärker zur Infragestellung des Totalitätsbegriffs, bis er bei Badiou seine absolute Inkonsistenz erfährt.

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Dazu: »Metaphysik hat es seiner [Kant, P.A.] Ansicht nach nicht mit Erkenntnissen zu tun, sondern mit dem Bedürfnis der Vernunft, sich mit nicht-theoretischen Mitteln in der Welt zu orientieren, vor allem im moralischen Bereich.« Ebd., 164–168, hier 168. 180 Iber: Subjektivität, Vernunft und ihre Kritik, 120. 181 Dazu: »Der Aufstieg zum Absoluten erfolgt nicht mehr in Form von Ableitungsbeziehungen zwischen Axiomen und Theoremen, sondern in der dynamischen Form der dialektischen Entfaltung – oder genauer: der Selbstentfaltung – des Denkens.« Röd: Der Gott der reinen Vernunft, 177. 182 Die Kritik, die Manfred Dahlmann an Sartres Ontologie übt, dass sie keine konkrete Analyse einer konkreten Situation sei, lässt sich meines Erachtens grundsätzlich auch auf Badious Ontologie übertragen. Vgl. Dahlmann, Manfred: Freiheit und Souveränität. Kritik der Existenzphilosophie Jean-Paul Sartres, Freiburg 2013, 381f. Hier 402. Dahlmanns Kritik ist deshalb von Interesse, da er aus Perspektive einer an der Kritik der politischen Ökonomie ausgerichteten kritischen Theorie Sartres Freiheitsverständnis positiv rezipiert.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

Hinsichtlich des Totalitätsbegriffs tritt bei Badiou auch die Frage nach der Vereinbarkeit von Axiomatik und Dialektik in den Hintergrund, da beide Ansätze (Badious) das Ziel verfolgen, die Inkonsistenz jeglicher Totalität nachzuweisen. Mit der Dialektik der Teilung, die noch sehr deutlich an Mao und Lenin orientiert ist, gibt Badiou dem Widerspruch den Vorrang vor der Einheit. In diesem Sinne schreibt Badiou in Théorie du sujet: »Die Zwei ist es, die der Eins ihren Begriff gibt, nicht umgekehrt.«183 Mit der Dialektik der Ausnahme wird die Totalität anders in Frage gestellt. Hier wird jede angenommene Totalität durch die grundsätzliche Möglichkeit einer Ergänzung als brüchig ausgewiesen. Die Ergänzung belegt, dass keine Totalität jemals vollständig ist und deshalb auch nicht sinnvoll eine Totalität genannt werden kann. Für dieses Konzept steht der Satz aus Logiques des mondes: »Es gibt nur Körper und Sprachen, außer dass es Wahrheiten gibt.«184 Das »außer dass« zeigt die Unvollständigkeit jeder Totalität an. Ebenso deutlich argumentiert Badiou mit der Ontologie der Vielheiten gegen die Vorstellung einer Totalität. Ontologisch müsse von vielen Vielheiten ausgegangen werden, statt von einem einenden Prinzip. »Die Eins ist nicht.«185 schreibt Badiou in L’être et l’événement. Die Eins kann hier als Begriff der Totalität aufgefasst werden. Der Ansatz der Ontologie der Vielheiten bietet zwei Möglichkeiten, die Totalität in Frage zu stellen. Der erste beruht unmittelbar auf einer Entscheidung, dass das Eine ein Resultat des Vielen ist und nicht umgekehrt. Diese Entscheidung erinnert an Badious Formulierung aus Théorie du sujet, dass die Zwei der Eins den Begriff gebe. Um zu verhindern, dass es ein letztes Resultat in Form einer abschließenden Eins gebe, ruft Badiou immer wieder die russellsche Antinomie auf, dass eine Menge aller Mengen inkonsistent sei. Die Menge aller Mengen steht dann für den Begriff der Totalität. Der Verweis auf die russellsche Antinomie wäre dann die zweite Möglichkeit der Infragestellung der Totalität. Dieses Argument beruht zwar letztendlich auch auf Entscheidungen, nämlich der Zermelo-Fraenkel-Axiomatik, ist aber im engeren Sinne ein formal-logisches Argument. Die Bildung einer Menge aller Mengen scheitert, weil sie auf notwendige Widersprüche stößt. In diesem Sinne ist die Inkonsistenz der Menge aller Mengen eine logische Inkonsistenz. Der Schritt zur Entwicklung einer Ontologie der Vielheiten kann als Loslösung Badious von einer marxistisch formatierten theoretischen Grundlage interpretiert werden. Die Ausrichtung der marxistisch formatierten Dialektik in Théorie du sujet war bereits deutlich an Hegels logisch-ontologischen Kategorien ausgerichtet und ihr materialistischer Charakter zeichnete sich Badiou zufolge in ihrer ontologischen Dimension aus. Der Schritt zu einer expliziten Ontologie der Vielheiten, die auf Axiomen, statt auf einer Dialektik beruht, war somit kein großer mehr. Das zentrale Anliegen, mit der Dialektik der Teilung die Eins in Frage zu stellen, erfüllt auch seine axiomatische Ontologie. Doch muss Badiou mit diesem Schritt gleichermaßen den Begriff des Widerspruchs fallen lassen. Zwar war sein Begriff des Widerspruchs bereits in erster Linie ontologisch, denn gesellschaftstheoretisch geprägt. Dennoch ließ sich der Widerspruchsbegriff in Théorie du sujet auf die gesellschaftstheoretischen Diskussionen von Althusser, Mao und Lenin 183 ABTS 23 [25]. Sowie die berühmte Formulierung: »Eins teilt sich in zwei.« Ebd., 131 [153]. 184 ABLM 12 [20]. Hervorhebung im Original. 185 ABEE 31 [37]. Hervorhebung im Original.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

zurückführen. In einem weiteren Sinne bemühten sich die drei Autoren mit dem Begriff des Widerspruchs die Wirkung unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte und Tendenzen in ein Verhältnis zueinander zu bringen. Selbst in Form einer Abkehr von seinen marxistischen Quellen hätte sich Badiou mit der Weiterentwicklung des Widerspruchsbegriffs die Möglichkeit offengehalten, seine Theorie auf Gesellschaft hin auszurichten. Mit der axiomatischen Ontologie der Vielheiten geht jedoch die Diversität gesellschaftlicher Phänomene zugunsten abstrakter und vor allem homogener Mengen- und Elementbegriffe verloren.186 Badiou beansprucht auf den unterschiedlichen Wegen, die Totalität in Frage zu stellen und auf diese Weise ein Gottesverständnis, das direkt oder indirekt an einen Totalitätsbegriff gekoppelt ist, zu überwinden.187 Mit der Überwindung des Gottesbegriffs, überwindet er aber auch den Bezug zu dem, was als Gesellschaft auf den Begriff zu bringen und zu kritisieren wäre.188 Dass Badiou in L’Immanence des vérités über den Begriff des Ortes des Absoluten wieder eine Eins und damit einen (spinozistischen) Gottesbegriff – gegen seine eigene Intention – installiert, ändert an diesem Befund nichts.

3.5 Ethik versus Nihilismus Obwohl Badiou weder eine Gesellschaftstheorie entwirft noch seine philosophischen Kategorien für eine systematische Gesellschaftsanalyse geeignet wären, liegt sein großes Interesse in der Gestaltung der Welt – und in ihrer Veränderung. Diesem Interesse gibt Badiou einerseits in seinen zahlreichen politischen Schriften Ausdruck. Andererseits – oder vielmehr ergänzend – entwirft Badiou Grundzüge einer Ethik, die in seiner Ontologie und seiner Ereignistheorie wurzeln. Es handelt sich um eine antitheologische Ethik nach dem Tode Gottes. Badiou gibt dieser Ethik die Frage auf, was »wahres Leben« bedeute. Seine zentralen Überlegungen zur Ethik hat er 1993 in L’Éthique. Essai sur la conscience du mal veröffentlicht. Ich werde mich im Folgenden auf diese Schrift konzentrieren und einige Überlegungen aus einem späteren Aufsatz zum Thema des Humanismus bzw. des Antihumanismus unter dem Titel Postface. Disparitions conjointes de l’Homme et de Dieu aus Le Siècle (2005) ergänzen.

3.5.1 Nihilismus Badiou nimmt als ein zentrales Motiv der Gegenwart einen Nihilismus wahr, dem er seine Ethik des wahren Lebens eindeutig in Opposition stellt. In Auseinandersetzung mit

186 Ich stimme Callinicos zu, wenn er Badious Ontologie als eine »very impoverished conception of structure as simply counting-for-one«, die eine »hostility to relationality« impliziere, interpretiert. Tatsächlich fällt es Badiou schwer, Beziehungen und Wirkungsverhältnisse zu denken. Callinicos, Alex: The Resources of Critique, Cambridge 2006, 107. 187 Seine absolute Ontologie hingegen ist nicht mehr so eindeutig hinsichtlich dieser Überwindung. 188 Offensichtlich hat Badiou zahlreiche Aufsätze und kleinere Bücher veröffentlicht, in denen er eine ›Zeitdiagnose‹ gibt bzw. die eine politische Funktion innehaben. Doch handelt es sich dabei nicht um Gesellschaftsanalysen in einem strengeren Sinne, die in seiner Ontologie begründet wären.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

Badious Materialismusverständnis habe ich den Begriff des demokratischen Materialismus diskutiert. Der demokratische Materialismus kennzeichne Badiou zufolge das zeitgenössische Denken und bestehe in der Annahme, dass es nur »Körper und Sprachen«, jedoch keine Ideen und Wahrheiten gebe. Die höchste Maxime sei es zum einen, die Pluralität der Sprachen und der Kulturen anzuerkennen – das sei der demokratische Aspekt. Zum anderen solle die Körperlichkeit und damit auch die Verletzlichkeit und Endlichkeit der Körper respektiert werden – das sei der materialistische Aspekt. Es handle sich deshalb um einen Materialismus des Lebens, einen Biomaterialismus. Jedoch impliziere diese Auffassung auch die Reduktion des Menschen auf seinen Körper; er werde letztendlich als menschliches Tier aufgefasst. Diesen demokratischen Materialismus lehnt Badiou strikt ab und setzt ihm eine materialistische Dialektik der Ausnahme entgegen, die außer Körper und Sprachen auch Wahrheiten und Ideen für möglich halte.189 Das Verständnis des zeitgenössischen Nihilismus weist große Ähnlichkeiten zum Begriff des demokratischen Materialismus auf. In L’Éthique fasst Badiou den zeitgenössischen Nihilismus als die »merkwürdige Kombination aus Resignation vor dem Notwendigen und aus einem rein negativen, ja destruktiven Willen«190 . Was ist gemeint? Die Notwendigkeit, von der Badiou hier spricht, zielt auf die »ökonomische Objektivität – die man bei ihrem Namen nennen muss, nämlich die Logik des Kapitals«191 . Dieser kapitalistischen Ökonomie werde alles andere – und insbesondere die Politik – untergeordnet. Genauer: Dieser kapitalistischen Ökonomie ordne sich gegenwärtig die Mehrheit der Menschen unter. Darin bestehe die Resignation. Die kapitalistische Ökonomie werde als Notwendigkeit wahrgenommen, zu der man sich nicht anders als resignativ verhalte. »Die parlamentarische Politik, wie sie heute praktiziert wird, besteht keineswegs darin, von irgendwelchen Prinzipien abhängige Ziele festzulegen und sich die Mittel zu geben, diese zu erreichen. Sie besteht darin, das Spektakel der Ökonomie in eine resignierte, zustimmende öffentliche Meinung (wenngleich diese auch instabil ist) umzuwandeln.«192 Mit anderen Worten bestehe die Resignation darin, dass gegenüber der Ökonomie keine Alternative gedacht und realisiert werde.193 Dieser Gedanke Badious entspricht im We-

189 In den Kapiteln 2.3.4 und 2.3.5 habe ich gezeigt, dass Badious Gegenkonzept eher als aristokratischer Idealismus, denn als materialistische Dialektik bezeichnet werden könnte. 190 Badiou: Ethik, 47. 191 Ebd. 192 Ebd., 48. 193 Inwiefern Badious These inhaltlich plausibel ist, lässt sich aus der knappen Besprechung, die Badiou hier, wie auch an anderen Stellen, liefert, nicht abschließend klären. Dazu fehlt es an einer ausführlicheren Analyse. Der mögliche Einwurf, dass das Verhältnis von Ökonomie und demokratischen Prozessen komplexer sei, ist sicherlich berechtigt und Badiou würde diesem vermutlich auch nicht grundsätzlich widersprechen. In den neueren Veröffentlichungen thematisiert Badiou auch immer wieder unterschiedliche Aspekte der Auswirkungen des Kapitalismus und vermehrt auch unterschiedliche Akteure, denen er emanzipatorisches Potenzial zuspricht. Vgl. Badiou: Versuch, die Jugend zu verderben.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

sentlichen dem des demokratischen Materialismus, in dem keine Wahrheiten und Ideen für möglich erachtet würden. Das zweite Charakteristikum, das Badiou im zeitgenössischen Nihilismus entdeckt, ist der sogenannte destruktive Wille. Der destruktive Wille drücke sich aus als »Todestrieb«194 . Der Todestrieb lasse sich nicht im aktuell viel diskutierten Ökozid, durch den sich die Menschen ihre Lebensgrundlage zerstören, oder ähnlichen Phänomenen erkennen, sondern in einer denkerischen Haltung, die den Tod als Kennzeichen des Lebens auffasse. Dies lasse sich insbesondere den unterschiedlichen zeitgenössischen Ethiken entnehmen.195 Badious Argument verläuft folgendermaßen: Erstens stellt er die allgemeine Behauptung auf, dass »›Ethik‹ in der heute geläufigen Bedeutung des Wortes […] vornehmlich die ›Menschenrechte‹ oder – als Behelf – die Rechte der Lebenden [betrifft]«196 . In einem zweiten Schritt des Arguments, stellt er die These auf, dass alle diese Ethiken den Menschen als sterblichen und als leidensfähigen im Zentrum haben. Aufgrund der Leidensfähigkeit und der Sterblichkeit bedürfe es der Menschen- oder Lebensrechte. Badiou folgert: »Die Ethik definiert also den Menschen als Opfer.«197 Hinzu trete die Tatsache, dass es sich in der Regel bei dem »Opfer-Menschen« um den »Weißen-Menschen« handle.198 Der Vorwurf, dass der Mensch auf ein Opfer reduziert werde, wird mit dem Vorwurf des Rassismus (bzw. Kolonialismus) ergänzt. Den Menschen als Opfer aufzufassen, bedeute, ihn auf ein »Sein-für-den-Tod«199 zu degradieren. Diese Art der Ethik nennt Badiou auch eine »Bio-Ethik«200 , auf die sein später entwickelter Begriff des Bio-Materialismus aufbauen konnte. Badious Beschreibung der Gegenwart und insbesondere der nihilistischen Position, die seiner Einschätzung nach ihr entscheidendes Charakteristikum sei,201 ist eindeutig polemisch formuliert und dürfte äußerst anstößig klingen für Positionen, die eine Ethik, Politik, Philosophie oder Theologie der Menschenrechte vertreten oder die sich mit dem Leiden von Menschen philosophisch oder theologisch auseinandersetzen. Badiou wendet sich vehement gegen solche Positionen, da er darin die unendlichen Möglichkeiten des Menschen eingeschränkt sieht. Mehr noch: Er setzt ihnen eine Ethik der Wahrheiten, eine Ethik, die den Menschen als unendlich und unsterblich auffasst, entgegen, denn nur Wahrheiten seien letztendlich universal, da sie an alle gerichtet seien und für alle Geltung beanspruchen könnten.202 Auf die Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Wahrheits- und Unendlichkeitsbegriff bin ich schon mehrfach eingegangen. Hier möchte ich

194 Badiou: Ethik, 51. 195 Badiou hat hier Ethiken von Levinas und Habermas, aber auch grundsätzlich alle, die auf Kant und Wittgenstein direkt oder indirekt zurückgehen, im Blick. Vgl. Hallward: Badiou. A Subject to Truth, 256. 196 Ebd., 15. 197 Ebd., 22. Hervorhebung im Original. 198 Ebd., 24. 199 Ebd., 52. Badiou dürfte hier auf Heidegger und Kierkegaard anspielen. 200 Ebd., 52–55. 201 Genauer gesagt geht Badiou davon aus, dass jede Epoche ihren eigenen Nihilismus entwickle, ebd., 56. 202 Ebd., 43; 49.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

nur die Frage hinzufügen, ob Badiou bei seinem Unternehmen einer Ethik des Universalen, den Lebensbedingungen (körperlich, emotional, sozial, gesellschaftlich) derjenigen Menschen, die Subjekte einer Wahrheit werden sollen, ausreichende Beachtung schenkt. Doch was meint eine Ethik der Wahrheiten?

3.5.2 Ethik der Wahrheiten Badious Ethik ist keine Sozialethik, sondern kann eher den Individualethiken zugerechnet werden. Eindeutig ist diese Zurechnung jedoch nicht, da sich oftmals nicht unterscheiden lässt, ob Badiou das einzelne Individuum oder das Subjekt, das von ihm grundsätzlich kollektiv aufgefasst wird, in den Blick nimmt. In jedem Fall ist seine Ethik entgegen dem von ihm wahrgenommenen herrschenden Nihilismus, der in einer Kombination aus Todestrieb und Subordination unter die kapitalistische Ökonomie bestehe, entwickelt. Es handelt sich um eine Ethik der Wahrheiten und somit um eine Ethik, die sich auf Ereignisse (in Badious Sinn) bezieht. Badiou adressiert seine Ethik grundsätzlich an alle Menschen mit der Aussage, dass Ereignisse, die Wahrheiten beginnen ließen, möglich seien. Er richtet seine Ethik im Besonderen an diejenigen, denen ein Ereignis widerfahren ist, die also bereits Subjekte sind. Ihnen gilt die Botschaft, dass sie in ihrer Praxis der Wahrheitsentfaltung nicht nachgeben sollen.203 Doch worin soll nicht nachgegeben werden? Badiou geht in seiner Ereignistheorie nicht davon aus, dass ein Ereignis sowie eine Wahrheit jeweils etwas Fixes, Festgelegtes, sei. Die Ausnahme, die ein Ereignis innerhalb des Status quo einer Welt erzeuge, ist von Anfang an keine eindeutig erkennbare und bedürfe immer wieder der Unterscheidung. Das heißt, die Frage, ob etwas zum Ereignis bzw. zur Konsequenz des Ereignisses gehöre, müsse immer wieder neu entschieden werden. Dieser Entscheidungs- und Unterscheidungsprozess ist prinzipiell unendlich angelegt.204 Das Ereignis könne deshalb als Öffnung ins Unendliche aufgefasst werden. Diese Art der Ausnahme lasse auch prinzipiell nicht den Gedanken einer geschlossenen Welt bzw. Situation zu.205 In diesem Prozess der Unterscheidung ist ein Subjekt jedoch auch immer mit der Möglichkeit konfrontiert, sich gegen das Ereignis und seine Konsequenzen zu stellen. Genau dieser Möglichkeit versucht Badiou mit seiner Ethik der Wahrheiten entgegenzuwirken. Eine solche Ethik weist auch darauf hin, dass sich das Subjekt an dem Positiven des Ereignisses und an der Positivität der daraus entspringenden Möglichkeiten orientieren müsse. Die gemeinte Positivität ist als Gegensatz zur Negativität der »BioEthiken«, die in der Fokussierung auf die menschliche Sterblichkeit liege, aufzufassen. Die nihilistischen Bio-Ethiken setzten dem Menschen durch die Fokussierung auf die

203 Ebd., 68. 204 Die mathematisch-ontologische Grundlage bildet die sogenannte »generische Menge«. Vgl. ABEE 361f. [369f.]. 205 Hallward hebt zu Recht diesen Aspekt der Unabgeschlossenheit hervor und stellt ihn dem Begriff der Totalität entgegen. Vgl. Hallward: Badiou. A Subject to Truth, 258–262, sowie Badiou: Ethik, 61–65.

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Sterblichkeit und Leidensfähigkeit Grenzen, die ein Ereignis nicht zulasse. Denn ein Ereignis zeichne sich dadurch aus, dass es unendlich viele Möglichkeiten für das Subjekt eröffne. Badious Ethik der Wahrheiten ist in diesem Sinne sehr simpel strukturiert. Er versucht mit ihr zu behaupten, dass eine Ethik durchaus positive Ziele setzen könne – hier die Realisierung der Möglichkeiten, die aus einem Ereignis folgten – und er bemüht sich, dieses Anliegen gegen nihilistische Auffassungen zu behaupten. Es seien nicht die Menschenrechte, nicht der Schutz vor Leiden, nicht der Konsens, nicht die Anerkennung der Anderen, die für eine Ethik und damit für ein Subjekt beachtenswert seien, sondern ausschließlich das Ereignis und seine Konsequenzen (die Wahrheitsprozedur). Nur diese Ethik sei auf die Unendlichkeit und die Unsterblichkeit ausgerichtet. Auch hier ist das axiomatische Denken wiederzufinden. Es ist nicht die Kritik eines Gegenstandes, sondern die Setzung positiver Annahmen bzw. Ziele und der Rekurs auf bereits gefällte positive Setzungen, der zu Grundeinsichten führt. Wie bereits oben erwähnt, dürfte Badious Polemik gegen das Leiden und die Sterblichkeit für viele philosophische und theologische Positionen störend wirken. Solche Position, wie diejenige Adornos oder Metz’, die beide die Sensibilität für Leid und die Kritik an der Ursache von Leiden ins Zentrum ihres Denken stellen, sind von der badiouschen weit entfernt und der Gedanke der Unsterblichkeit, der dem Leiden entgegengestellt wird, kann letztendlich wie das Verlangen eines Herrschaftssubjekts wirken. Und dennoch ist der Gedanke, den Tod zu überwinden, dem Christentum alles andere als fremd. Metz, der wohl wie kein anderer, über die Bedeutung des Leidens schreibt, postuliert den Gott der Auferstehung, den Gott der Lebenden und der Toten. Für Badiou gibt es allerdings – theologisch gesprochen – keinen Karfreitag, sondern nur Ostern; trotz oder gerade wegen des Todes Gottes. Die Auferstehung bzw. die Unsterblichkeit – Badiou unterscheidet diese Begriffe nicht systematisch – ist eine, die in der Ontologie der Vielheiten wurzelt, und deshalb als antitheologische Auferstehung aufgefasst werden kann. Die Ethik der Wahrheiten Badious will dem Leben als Auferstandene*r Orientierung bieten.

3.6 Zwischenfazit 3.6.1 Zur chronologischen Darstellung Ich habe Alain Badious philosophische Aussage, dass Gott tot sei, auf zwei Wegen rekonstruiert, diskutiert und problematisiert. Der erste Weg war chronologisch angelegt (Kapitel 2) und orientierte sich an den vier großen Monografien Badious: Théorie du sujet (1982), L’être et l’événement (1988), Logiques des mondes. L’être et l’événement 2 (2006), L’Immanence des vérités. L’être et l’événement 3 (2018). Den zweiten Weg habe ich systematisch an einer Gegenüberstellung von fünf Begriffspaaren ausgerichtet (Kapitel 3). Ziel der Darstellung war es, Badious Aussage, dass Gott tot sei, nachzuvollziehen und auf ihre Konsistenz hin zu überprüfen. Der Nachvollzug und die Überprüfung sollen der Beantwortung der zentralen Frage meiner Studie dienen, inwiefern Badious Tod-Gottes-Aussage einen christlichen Gottesbegriff trifft. Im folgenden Kapitel werde ich den Gottesbegriff, wie er in der nachidealistischen Theologie der Welt von Johann Baptist Metz entwickelt

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

wurde, herausarbeiten (Kapitel 4) und anschließend mit Badious Philosophie in ein Gespräch bringen (Kapitel 5). In meiner chronologischen Darstellung habe ich mich auf die vier großen Bücher Badious bezogen und – mit wenigen Ausnahmen – beschränkt. Die Tod-Gottes-Thematik findet sich zwar auch in anderen Veröffentlichungen Badious, teils en passant, teils fokussiert, jedoch nicht so entfaltet, wie in den vier zentralen Abhandlungen. In meiner Darstellung konnte ich zeigen, wie sich die Tod-Gottes-Aussage in Badious Werken entwickelt. Ich konnte Begriffe und Themen konkreten Phasen zuordnen sowie Abbrüche und Kontinuitäten herausarbeiten. Hinsichtlich der Tod-Gottes-Aussage ist Badious These, dass das Eine nicht sei, von Anfang an maßgeblich. Unterschiede bestehen hingegen in der Begründung dieser These. In Théorie du sujet, das deutlich innerhalb eines hegelianisch-marxistischen Diskurses argumentiert, konnte ich zwei Begründungen für die Nicht-Existenz einer Totalität ausmachen. Die erste Begründung ist an Hegels Logik orientiert. Badiou versucht mit Hegel aufzuzeigen, dass jedes Etwas grundsätzlich und immer gespalten existiert. Im Unterschied zu Hegel verortet er die Spaltung jedoch nicht in der Betrachtung der Affirmation und der (bestimmten) Negation eines Etwas, sondern in der Tatsache, dass ein Etwas immer als solches und als an einem bestimmten Ort platziert existiere. Obwohl Badious Rezeption der hegelschen Logik einen eigenen Beitrag innerhalb des französischen Marxismus der 1970er und 1980er Jahre darstellt206 , verfolgt er ihn nicht weiter. Zwar konnte ich zeigen, dass das Argument eigentümlich (und sehr komplex) ist. Im Unterschied zu den späteren mathematischen Argumenten dürfte es jedoch für einen philosophischen und theologischen Diskurs zugänglicher sein. Das zweite Argument, das in Théorie du sujet erst ansatzweise thematisiert ist, baut auf der mengentheoretischen Erkenntnis, dass eine Menge aller Mengen inkonsistent sei, auf. Meine Studie hat gezeigt, dass es unerlässlich ist, den genauen argumentativen Status der Mathematik für die Philosophie zu analysieren. Welche Funktion kommt der Mathematik zu? Handelt es sich um eine Analogie, um einen Kategorienwechsel (von philosophischen zu mathematischen Kategorien) oder um Rhetorik? In Théorie du sujet handelt es sich noch um ein Argument, das die Mathematik als Analogie verwendet (›Wie in der Mathematik …, so auch in der Philosophie‹). Den Status der Mathematik versucht Badiou teils explizit, teils implizit, in seinem gesamten Werk immer wieder neu zu bestimmen. In L’être et l’événement weist Badiou der Mathematik einen fundamental anderen Status zu. Er stellt die These auf, dass Mathematik Ontologie sei (»Mathematik = Ontologie«). Die These besagt nicht, wie Badiou betont, dass die Ontologie aus mathematischen Objekten bestehe, sondern, dass die Mathematik der adäquate Diskurs für die Ontologie sei. Genauer betrachtet gelte diese Gleichsetzung für die Mengenlehre und nicht grundsätzlich für die Mathematik. Die Mengenlehre erlaube es, so Badiou, das Sein als unendliches Vielheit-Sein, das keine Einheit mehr darstelle, zu denken. Das unendliche Vielheit-Sein lasse weder irgendeine Form einer einenden Seinssubstanz noch eine umfassende Menge im Sinne einer Totalität zu. Diese beiden Aspekte ermöglichen es Badiou, 206 Die für den französischen Marxismus einflussreichen Ansätze orientieren sich entweder an der Phänomenologie des Geistes (im Anschluss an Kojève oder Sartre) oder versuchen sich von Hegel komplett zu lösen (Althusser).

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vom Tod Gottes zu sprechen. Die in der Mengenlehre nachgewiesene Inkonsistenz einer Menge aller Mengen gelte qua Gleichsetzung von Mengenlehre und Ontologie auch für den Seinsbegriff und dementsprechend für einen Gottesbegriff. Beide seien gleichermaßen inkonsistent. Das Denken der unendlichen Unendlichkeiten hingegen immanentisiere das Unendliche und mache es berechenbar. Badiou holt damit eines der zentralen göttlichen Attribute – das der Unendlichkeit – in das Denken. Wer oder was jedoch denkt, bleibt bei Badiou ungeklärt. Es gibt letztendlich kein ausgewiesenes Subjekt des Denkens. Akzeptiert man die These, dass Mathematik Ontologie sei, tritt ein zentrales Problem hinsichtlich Badious Entfaltung einer Ontologie der Vielheiten auf. Welcher Status kommt der (mathematischen) Ontologie zu? Wird die Ontologie nicht zum einenden Diskurs des Vielheit-Seins? Badiou versucht dieses Problem immer wieder neu zu lösen. Alle Versuche stoßen aber auf ähnliche Grenzen. Entweder gibt ein um Konsistenz bemühtes Denken eine Einheit vor oder es muss seine Aussagen auf einen bestimmten Bereich begrenzen (damit würde es zu einer Regional-Ontologie). In beiden Fällen kann jedoch eine Totalität und damit auch ein auf Totalität aufbauender Gottesbegriff nicht verhindert werden.207 In Logiques des mondes geht Badiou das Problem des Status der Ontologie erneut an. Mit seiner Theorie der Transzendentale stellt Badiou die These auf, dass jede Welt (bzw. jede Situation) ihre eigene Logik-Ontologie208 impliziere. Die unendlich vielen Welten, die existierten, seien alle gemäß ihrer eigenen Logik-Ontologie strukturiert. In diesem Fall tendiert Badiou dazu, eine Regional-Ontologie bzw. Regional-Logik zu entwickeln. Dieser Ansatz scheint einer Ontologie der Vielheiten besser zu entsprechen. Und dennoch stellt genau die mengentheoretisch verfasste Ontologie der Vielheiten die theoretische Grundlage für die Logiken der Welten dar. Auch von einer anderen Perspektive betrachtet, stößt die Lösung des Logik-Pluralismus an bestimmte Grenzen. Zwar kann Badiou hier von einem Weltenpluralismus sprechen, dieser muss jedoch in der Betrachtung konkreter Erfahrungszusammenhänge wieder fallengelassen und durch die Behauptung der einen Welt ersetzt werden. Den Unterteilungen in viele Welten, die der Kapitalismus vornehme, müsse mit der Aussage, dass es nur eine Welt gebe, begegnet werden. Sicherlich kann dieser Widerspruch mit dem Hinweis relativiert werden, dass in diesem konkreten Erfahrungszusammenhang nur ein Bereich aus dem Weltenpluralismus betrachtet wird. Dann stellt sich die Frage, für welchen Bereich Badious Logik-Ontologie Geltung beanspruchen kann? Wenn der Bereich der (möglichen) Erfahrung und derjenige der Logik-Ontologie so weit differieren, welche Bedeutung erhält dann die Entfaltung einer sich durch Vielheiten auszeichnenden Logik-Ontologie?

207 Nietzsche bemüht sich ebenfalls darum, eine Vielheit-Ontologie zu behaupten. Insofern er sich nicht mehr an die Konsistenz von Argumenten bindet, fungiert das Denken und der Diskurs nicht mehr als letzte Instanz. Das ist bei Badiou, der die Konsistenz der Argumente beansprucht, nicht gegeben. 208 Der Begriff der Logik wird im Sinne Hegels als Entfaltung ontologischer Kategorien verwendet, was ich mitunter explizit durch die Verbindung Logik-Ontologie ausdrücke.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

Mit L’Immanence des vérités schlägt Badiou hinsichtlich der Frage nach dem Status der Ontologie einen anderen Weg ein. Hatte er in seinen früheren Ansätzen versucht die Ontologie selbst als Teil den Mengenuniversums aufzufassen – und damit tendenziell eine Regional-Ontologie zu etablieren –, konzipiert er die mengentheoretisch verfasste Ontologie nun als absolute Ontologie bzw. als »Ort des Absoluten«. An diesem Ort seien alle denkbaren Formen des Seins verbürgt. Der Ort des Absoluten stellt somit ein Modell dessen, was ist, dar. Für Badiou entscheidend ist, dass das Modell und das, was ist, extrem große Ähnlichkeiten aufweisen müssten, ohne identisch zu sein, damit das modellhafte Denken zwar möglichst genau das, was ist, verbürge, aber dass gleichzeitig dieser Ort nicht vollständig sei. Obgleich sich Badiou von einem spinozistischen Gottesverständnis, in dem Gott die Substanz ist und alles, was ist, Anteil an dieser Substanz hat, unterscheiden möchte, konnte ich zeigen, dass die Ähnlichkeiten doch frappierend bleiben. Deshalb konnte ich schließen, dass es Badiou letztendlich nicht gelingt, ein konsistentes, mengentheoretisch fundiertes, Argument für den Tod Gottes zu liefern. Badious Argumentation läuft gerade umgekehrt auf die Begründung eines Gottesbegriffs im Sinne eines absoluten Denkens hinaus. Dass Badiou in seinen unterschiedlichen Versuchen die Auflösung der Eins mit einer mengentheoretisch formatierten Ontologie immer wieder an Grenzen und Widersprüche stößt, soll die Ernsthaftigkeit und die darin implizierte Herausforderung seines Denkens für die Theologie nicht unterminieren. Badiou führt seinen Versuch, die Mengenlehre als Ontologie zu konzipieren, weder willkürlich noch grundsätzlich ungenau durch. Vielmehr gerät er an typische Schwierigkeiten des Denkens, wenn das Absolute bzw. die Totalität begrifflich erfasst oder negiert werden soll.209 Das bedeutet aber auch, dass Badious Tod-Gottes-Aussage instabil ist. Konkrete Problemstellungen, die mit Badious Ontologie der Vielheiten verbunden sind, habe ich im systematischen Kapitel (Kapitel 3) behandelt.

3.6.2 Zur systematischen Darstellung Gleichermaßen zentral wie der Nachvollzug des Arguments für die Tod-Gottes-Aussage ist die Klärung des von Badiou verwendeten Gottesbegriffs. Wenn auch nicht häufig, so gibt Badiou doch an verschiedenen Stellen darüber Auskunft, mit welchem Gottesbegriff er arbeitet. Die hinsichtlich der Theologie wesentliche Unterscheidung ist jene, von einem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, das heißt vom Gott der biblisch verbürgten Offenbarung, und dem Gott der Philosophen. Der Gott der Philosophen bezeichnet gemeinhin, und so auch bei Badiou, ein metaphysisches Prinzip, insbesondere ein einendes Prinzip. Im Anschluss auf Frederiek Depoortere habe ich darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung zwischen diesen beiden Gottesbegriffen nur relativ ist. So lässt sich der Gott der Philosophen als Abstraktion eines biblischen Gottesbegriffs auffassen. Gleichzeitig muss aber auch bedacht werden, dass eine solche Abstraktion zahlreiche Zeugnisse außen vor lässt, wie beispielsweise Gottes Hinwendung zu den Menschen, Gottes rettendes Handeln oder Gottes Abwesenheit. Wie bereits erwähnt, ist der Gottesbegriff Spinozas, der Gott als Substanz, an der alles Sein Anteil hat, fasst, Badious Ontologie am 209 Vgl. zu dieser Problematik die Studie Hindrichs: Das Absolute und das Subjekt.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

nächsten und die Abgrenzung zu diesem Gottesbegriff gelingt ihm vor allem in L’Immanence des vérités nicht überzeugend. Darüber hinaus rekurriert Badiou auf unterschiedliche theologische Gottesbegriffe, wenn er den für sein Denken zentralen Begriff des Unendlichen charakterisiert. So kann Badiou mit der modernen Mengenlehre auf die neuplatonische Unterscheidung von endlicher Schöpfung und unendlichem Schöpfer reagieren, indem er die Unendlichkeit nicht als Transzendenz, sondern immanent auffasst – und sogar pluralisiert. Auf diese Weise kann Badiou dem Unendlichkeitsbegriff seine Sakralität nehmen. In meiner Analyse der Gottesbegriffe Badious konnte ich klären, inwiefern seine Philosophie eine Retheologisierung der Philosophie vornimmt oder eine antitheologische Philosophie entwickelt. Grundsätzlich bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass sich Badious Philosophie am treffendsten als eine antitheologische Philosophie charakterisieren lässt. Diese Charakterisierung gilt wesentlich, das heißt, dass aufgrund der Bedeutung der Ontologie der Vielheiten für sein Denken, seine Philosophie wesentlich antitheologisch verfasst ist. Der Tod Gottes muss in diesem Sinne mit der Ontologie der Vielheiten einhergehend betrachtet werden. Mein Ergebnis, dass Badious Argumente für die Auflösung des Einen in Widersprüche gerät, bedeutet hingegen nicht, dass seine Philosophie nun doch als Retheologisierung funktioniere. Dafür ist seine Intention und seine Argumentationsanordnung zu eindeutig antitheologisch geprägt. Doch reicht die Intention nicht als Grund für die Validität seiner Argumente aus. Immer wieder habe ich versucht herauszuarbeiten, was ein Argument bei Badiou ist und wie Argumente bei ihm funktionieren. Zu seiner Methodik spätestens seit L’être et l’événement gehört das Arbeiten mit Axiomen. Axiome sind Grundaussagen, die nicht selbst wiederum begründet werden (können). Axiome erweisen ihre Konsistenz in der Anwendung. Ein Axiom sollte beispielsweise dann fallen gelassen werden, wenn es zu logischen Widersprüchen führt.210 Die Tatsache, dass ein Axiom nicht selbst begründet wird, stellt aber die Schwierigkeit eines Axioms dar. Von welchen Faktoren ist die Konsistenz eines philosophischen Axioms abhängig? Badiou nennt seine Tod-Gottes-Aussage sowie die Aussage, dass das Eins nicht sei, Axiome. Ich habe darauf hingewiesen, dass ein Axiom nicht mit einem Beweis verwechselt werden darf. Dennoch entfaltet Badiou für diese Axiome – die russellsche Antinomie, das Potenzmengen-Argument – Gründe. Die Methode unterscheidet sich damit wesentlich von dialektischen Ansätzen, wie sie von Hegel, Marx oder in der kritischen Theorie der Frankfurter Schule entwickelt wurden.211 Das zentrale Argument, mit dem Badiou das Axiom des Todes Gottes ausführt, ist die Auflösung der Eins. Ich konnte zeigen, dass es genauer die Mathematisierung des Unendlichen von Georg Cantor war, die diese Auflösung des Einen bei Badiou ermöglichte. Cantor zeigte, dass Unendlichkeiten von unterschiedlicher Mächtigkeit sein können (umgangssprachlich: dass sie von unterschiedlicher Größe sein können). Badious Übertrag dieser Erkenntnis in die Ontologie lässt ihn eine Ontologie der unendlichen Vielheiten, die sich nicht wieder vereinen lassen sollen, konstruieren. Dem Denken des

210 Genau genommen, hängt die Konsistenz von Axiomen (auch) von der zugrunde gelegten Logik – Was ist ein richtiger Schluss? – ab. 211 Hinsichtlich seiner Rezeption der Philosophie rekurriert der Theologe Johann Baptist Metz vor allem auf diese Art des Denkens, wie ich im folgenden Kapitel zeige.

3. Badiou: Nach dem »Tode Gottes«

Unendlichen kommen bei Badiou unterschiedliche Funktionen zu. Es impliziert philosophische, politische und auch ethische Dimensionen. Damit wird die zentrale Eigenschaft der Unendlichkeit Gottes in unterschiedliche Lebensbereiche übertragen. Die Anerkennung des Unendlichen ist eine positive Konsequenz aus dem Tod Gottes. Er führe nicht zu einer verendlichten Welt oder einem verendlichten Menschen, sondern zu unendlichen Möglichkeiten. Wenigstens im Falle der Ethik funktioniert die Unendlichkeit jedoch eher als Suggestion, mit dem Ziel, eine bestimmte Wertigkeit in unterschiedliche Lebensentwürfe einzuführen. Zusammenfassend möchte ich festhalten: Badiou hat einen ernstzunehmenden Versuch unternommen, den »Tod Gottes« zu begründen. Die Argumente dafür hat er zuerst in der Dialektik Hegels und später in der mathematischen Mengenlehre gefunden. Dabei ist zu beachten, dass Badious Gottesbegriff, der seiner Tod-Gottes-Aussage zu Grunde liegt, in erster Linie auf einen philosophischen und weniger auf den christlichen Gottesbegriff zielt. Die beiden miteinander verwobenen Hauptargumente für den Tod Gottes seien die Auflösung des Einen und die Ontologisierung des mathematischen Denkens des Unendlichen. Die genauere Analyse hat jedoch gezeigt, dass die Argumente dort in eine Sackgasse geraten, wo es um den Status der mathematischen Ontologie geht. Badiou versucht dem Problem, dass der ontologische Diskurs das Vielheit-Sein vereint, auf unterschiedlichen Wegen zu begegnen. Lösen konnte er dieses Problem jedoch nicht. Darüber hinaus stellt die Gleichsetzung von Mathematik und Ontologie eine Schwierigkeit in ihrer Anwendung dar. Sie ist bei Badiou so konzipiert, dass sie dem Bereich möglicher Erfahrung entzogen ist. Damit stellt sich die Frage nach der Bedeutung dieser Ontologie. Badious frühes dialektisches Argument ist weiterführender. Es ermöglicht, dass – ähnlich wie in der mathematisierten Ontologie – keine abgeschlossene Totalität gedacht werden muss. Wäre es möglich, Badious frühen dialektischen Ansatz, insofern er von Widersprüchen ausgeht, mit möglichen Erfahrungsgehalten zu verbinden, ohne sein kritisches Potenzial zu verlieren? Badiou hat diesen Weg nicht eingeschlagen. Auch wenn ich einige Probleme hinsichtlich der Tod-Gottes-Aussage Badious aufzeigen konnte, lässt sich daraus allerdings nicht schließen, dass dadurch die theologische Rede von Gott gesichert sei. Sicherlich ließe sich im Anschluss an Cantor eine absolute Unendlichkeit erklären, die man Gott nennen mag. Doch ist damit in keiner Weise ein biblisch bezeugter Gottesbegriff thematisiert. Überhaupt darf die Frage gestellt werden, inwiefern ein rationalistisches Gottesargument – ein reines Vernunftargument – überzeugend ist. Meines Erachtens besteht die theologische Herausforderung eher darin, eine Rede von Gott zu formulieren, die in einem möglichen Erfahrungsbereich verankert ist. Auf diese Weise entginge man der Gefahr eines rein rationalistischen – ›idealistischen‹ – Diskurses. Die nachidealistische Theologie von Johann Baptist Metz hat diesen Versuch unternommen und eine gesellschaftliche und geschichtliche Rede von Gott entwickelt. Im folgenden Kapitel werde ich diese Theologie nachzeichnen. Mein Anliegen ist es dabei jedoch nicht, der badiouschen ontologischen Philosophie unmittelbar eine gesellschaftstheoretisch geprägte Theologie entgegenzusetzen. In diesem Fall fehlte die Vermittlung. Metz selbst hat seine Theologie in kritischer Auseinandersetzung mit der Philosophie bzw. Ontologie Martin Heideggers entwickelt. Ich möchte überprüfen, wie die Theologie grundsätzlich mit Ontologie umgehen kann. Dabei ziele ich nicht auf

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

die Frage, nach der besseren Ontologie, sondern grundsätzlich nach ihrer Aussagekraft. Diese beiden Aspekte, die gesellschaftstheoretische Prägung und die Auseinandersetzung mit der heideggerischen Ontologie, machen Metz für Badiou hinsichtlich der Frage nach Gott zu einem adäquaten Gesprächspartner.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

Die Theologie von Johann Baptist Metz ist aufs Engste mit dem Stichwort der Neuen Politischen Theologie verknüpft. Seit den späten 1960er Jahren hat sich Metz um die Formulierung des Programms einer politischen Theologie bemüht und ist diesem Anliegen bis zu seinem Tod 2019 treu geblieben. Ich spreche hier von der Formulierung eines Programms und nicht von einer Ausarbeitung oder gar Systematisierung, da die Programmatik der Neuen Politischen Theologie von Metz wesentlich antisystematisch angelegt ist. Sie versteht sich vielmehr als »Korrektiv gegenüber bestehenden theologischen Ansätzen und Systemen«1 und beansprucht, die jeweils aktuellen Herausforderungen der Gesellschaft wahrzunehmen. Mehr: Die Theologie soll sich von den aktuellen Herausforderungen irritieren lassen und dennoch Theologie bleiben. Metz begreift diese Art der Theologie als eine reflektierte »Apologie«2 Gottes sowie als eine reflektierte »Rückfrage an Gott«3 angesichts der Leidensgeschichte der »Gattung Mensch«4 . Mit diesem Theologieverständnis widmet sich Metz auf grundsätzliche Weise der Möglichkeit, wie heute überhaupt von Gott verantwortet gesprochen werden kann. Die Verantwortung gilt einerseits Gott gegenüber, das heißt, dass die Gottesrede vom bezeugten Gott der Bibel spricht. Sie gilt aber gleichermaßen den leidenden Menschen, deren Anspruch auf Anerkennung und Rettung nicht durch die Rede von Gott unterminiert werden darf. Meine These ist, dass Metz in der Verbindung der Rede von Gott und von der Rettung der leidenden Menschen eine nachidealistische Theologie formuliert. In diesem Sinne interpretiere ich auch Metz’ Programm einer Neuen Politischen Theologie als nachidealistische Theologie der Welt. Die Eingangsfrage meiner Studie war, ob und inwiefern die Tod-Gottes-Aussage Badious die theologische Gottesrede von Metz trifft. In den letzten beiden Kapitel (2 und 3) habe ich ausführlich Badious Infragestellung des Gottesbegriffs rekonstruiert und kritisch analysiert. Damit habe ich die eine Seite der Fragestellung bearbeitet. Die andere Seite betrifft die Gottesrede von Metz. Von welchem Gott spricht Metz? Was kann unter

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JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 35. Ebd., 25. JBMGS 4 (Memoria passionis), 22. Ebd., 21.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

einer nachidealistischen Theologie der Welt verstanden werden? In diesem Kapitel werde ich mich der Theologie von Metz widmen. In einem ersten Schritt (4.1) rekonstruiere ich Metz’ theoretische Entwicklung zur Neuen Politischen Theologie. Ich werde mich seiner Schaffenszeit vor 1966 zuwenden. In diesem Jahr spricht Metz das erste Mal von einer politischen Theologie.5 Seine frühe Phase ist geprägt von einer kritischen Auseinandersetzung mit der Philosophie Martin Heideggers sowie der Theologie Karl Rahners. Ich zeige auf, wie Metz theoretisch zu den für seine spätere Theologie wichtigen Begriffen Welt, Gesellschaft, Geschichte und Zukunft gelangt. In einem zweiten Schritt (4.2) rekonstruiere ich Metz’ Anliegen einer nachidealistischen Theologie. Was verbirgt sich hinter der Bezeichnung »nachidealistisch«? Ich werde diese Bezeichnung anhand von vier Kritiken Metz’ darstellen. Es handelt sich um die Kritik am Vernunftbegriff (4.2.1), die Kritik am Totalitätsbegriff (4.2.2), die Kritik am Unendlichkeitsbegriff (4.2.3) und die Kritik am Gottesbegriff (4.2.4). Anschließend (4.3) widme ich mich Metz’ Rezeption moderner Religionskritik. Zu den Errungenschaften von Metz dürfen seine kritische Rezeption der marxschen Religionskritik (4.3.1) sowie der Auflösung des Gottesbegriffs von Nietzsche (4.3.2) gezählt werden. Die dritte religionskritische Pointe ist seine eigene Konstruktion einer Kritik an dem, was Metz bürgerliche Religion nennt (4.3.3). Das Kapitel 4.4 wird meine Rekonstruktion der metzschen Theologie in einem Fazit abschließen. Auf dessen Grundlage werde ich im fünften Kapitel dieser Untersuchung die Philosophie Badious und die Theologie Metz’ in ein konstruktives Gespräch bringen.

4.1 Die Theologie der Welt Was geschieht, wenn man Bauteile zusammenfügt? Vielleicht ein Gebäude? Immanuel Kant bedient sich in der Kritik der reinen Vernunft der Metaphorik der Architektur, um das systematische Interesse der Vernunft bzw. ihr Interesse am System zu beschreiben. Er notiert: »Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch, d.i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System […].«6 Ein Gebäude dürfte eine adäquate Metapher für ein System sein; beide vereint ihre grundsätzliche Vollständigkeit.7 Die Architektur-Metapher lässt sich auch auf Johann Baptist Metz’ Denkweg anwenden. Betrachtet man sein frühes Buch – Zur Theologie der Welt –, das seine Wende zur Neuen Politischen Theologie8 belegt, ist es frappierend zu sehen, wie die Kapitel – es

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JBMGS 1 (Kirche und Welt im eschatologischen Horizont), 79–91, hier 80. Der Artikel wurde das erste Mal unter dem Titel The Church and the World in: The Word in History. The St. Xavier Symposium, hgg. von T. P. Burke, New York 1966, 69–85, veröffentlicht. Vgl. Metz, Johann Baptist: Zur Theologie der Welt, Mainz/München 2 1969, 147. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 474/B 502. Dazu: Kreis: Negative Dialektik des Unendlichen, 39. Im Duden bezeichnet »Gebäude« ein »Bauwerk« oder auch ein »zusammengefügtes Ganzes«, htt ps://www.duden.de/rechtschreibung/Gebaeude (zuletzt abgerufen am 04.02.2023). Metz verwendet unterschiedliche Schreibweisen: »neue Politische Theologie«, »Neue Politische Theologie«, »Politische Theologie« und »politische Theologie«. Die unterschiedlichen Schreibweisen dürften verschiedenen Diskussionsgrundlagen entsprechen. So werden sogar in den unterschiedlichen Veröffentlichungen gleicher Aufsätze unterschiedliche Schreibweisen verwendet.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

handelt sich jeweils um bereits veröffentlichte Zeitschriftenartikel und Vorträge – aufeinander aufbauen, um dann beim Begriff der Neuen Politischen Theologie anzukommen: Christlichkeit der Welt, Welt als Geschichte, Geschichte als Zukunft, Zukunft als Endgeschichte (Eschatologie), Welt als Gesellschaft, Theologie als Politische Theologie. Blickt man zeitlich vor Zur Theologie der Welt, dann lassen sich noch weitere ›Bausteine‹ auffinden, die nach und nach aufeinander gesetzt werden. Doch ist das Ergebnis des Aufeinander-Setzens der Bausteine bei Metz kein Gebäude im Sinne eines ›zusammengefügten Ganzen‹ und auch kein theologisches System, wie von Kant intendiert. Metz scheint die zusammengesetzten Bausteine stattdessen eher wie eine Treppe zu nutzen, um auf ein offenes Feld zu gelangen. Sein theoretischer Weg bis 19669 , dem Jahr, in dem er das erste Mal den Begriff einer politischen Theologie verwendet, hat ihm eine theoretische Konstruktion ermöglicht, mit der er sich vom Systemdenken verabschieden konnte.10 In einem anderen Sprachspiel lässt sich dieser Weg als Übergang vom idealistischen zum nachidealistischen Denken beschreiben. Diesen Übergang vom idealistischen zum nachidealistischen Denken bei Metz werde ich in den folgenden Kapiteln rekonstruieren. Angefangen bei seiner philosophischen Dissertation über Heideggers Metaphysikverständnis (Heidegger und das Problem der Metaphysik, 1951)11 und seiner theologischen Dissertation über den Welt- und Geschichtsbegriff bei Thomas von Aquin (Christliche Anthropozentrik, 1962)12 werde ich mehrere philosophische und theologische Stufen thematisieren, die Metz Schritt für Schritt zu einer politischen Theologie der Welt, das heißt zur Neuen Politischen Theologie, führen. Im Vordergrund soll dabei nicht die exakte Chronologie stehen, sondern die theoretische Begriffsentwicklung. Meine These ist, dass erst der Nachvollzug dieser Begriffsentwicklung die theoretischen Bedingungen für ein kritisches Gespräch mit der Philosophie Alain Badious bietet. Er ermöglicht es, Badiou nicht mit weit entfernten theoretischen Konzepten, wie

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Man vergleiche die Aufsätze, in JBMGS 3.2. (Neue Politische Theologie) mit ihren jeweiligen Erstveröffentlichungen. Ich werde mich im Folgenden an die Schreibweise in den Gesammelten Schriften halten: Neue Politische Theologie. In den Studien zur Theologie von Metz werden unterschiedliche Zeitpunkte, an denen ein Bruch stattgefunden hat, genannt. In Frage kommen die Jahre zwischen 1962 und 1967. Metz selbst verortet seinen »Bruch« »etwa seit 1965«. JBMGS 7 (Von einer transzendentalen zu einer politischen Mystik), 26–37, hier 26. Das Thema des »Bruchs« in der Theologie von Metz soll im Folgenden näher geklärt werden. Die meisten von Metz veröffentlichten Bücher sind Aufsatzsammlungen. Eine Ausnahme bildet das kleine Büchlein: Metz, Johann Baptist: Zeit der Orden? Zur Mystik und Politik der Nachfolge, Freiburg i.Br. 1977. Peters spricht treffend von einer »Skepsis gegenüber System und Traktat und Metz’ Vorliebe für die essayistische Form, die sich der gängigen Theologieproduktion verweigert«, Peters: Johann Baptist Metz, 84. Metz, Johann Baptist: Heidegger und das Problem der Metaphysik. Versuch einer Darlegung und kritischen Würdigung, Innsbruck 1951 (unveröffentlichte phil. Diss.). Die Dissertation wurde nicht veröffentlicht und später auch nicht in die Gesammelten Schriften von Metz, die von Johann Reikerstorfer herausgegeben werden, aufgenommen. Auch der gleichnamige Aufsatz, der 1953 in der Zeitschrift Scholastik. Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie, 28. Jahrgang, veröffentlicht wurde, ist leider nicht in die Gesammelten Schriften aufgenommen worden. JBMGS 2 (Christliche Anthropozentrik), 15–115.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

sie in der Theologie von Metz nach 1965 zu finden sind, zu begegnen, sondern gemeinsame Problemstellungen zu finden. Weit entfernte theoretische Konzepte wären – wenigstens an der Oberfläche – diejenigen, die Metz aus der Rezeption der Frankfurter Schule entwickelt. Dazu gehören die Begriffe des Leidens, der Geschichte, der Erfahrung »nach Auschwitz«, der Gesellschaft, der Öffentlichkeit. Den Weg zu diesen Begriffen geht Metz über die Transzendentaltheologie und mit ihr über die kritische Diskussion der Metaphysik bzw. Ontologie Heideggers.

4.1.1 »… und das Problem der Metaphysik« Kant und das Problem der Metaphysik ist Heideggers erste große Veröffentlichung (Erstveröffentlichung 1929) nach seinem berühmten und umfangreich rezipierten Buch Sein und Zeit (Erstveröffentlichung 1927). Darin wird die Kritik der reinen Vernunft Kants von Heidegger als das große Werk der Metaphysik in der Philosophiegeschichte betrachtet, da in ihr das erste Mal die Metaphysik selbst problematisiert und bestimmt worden sei. Metz lehnt den Titel seiner philosophischen Dissertation von 1951 offensichtlich an Heideggers Veröffentlichung über Kant an. In Heidegger und das Problem der Metaphysik. Versuch einer Darlegung und kritischen Würdigung analysiert Metz Heideggers Metaphysikbegriff und unterzieht ihn einer fundamentalen Kritik. Seine philosophische Dissertation wurde nicht veröffentlicht. Lediglich den gleichnamigen Aufsatz Heidegger und das Problem der Metaphysik veröffentlichte Metz 1953 in der Zeitschrift Scholastik.13 Metz’ Kritik an Heideggers Metaphysik- und entsprechend an seinem Seinsverständnis weist bereits erste Charakteristika auf, die auch in seinen späteren Schriften wiederzufinden sind. Der grundsätzliche Einwand betrifft das Verhältnis von Sein und Dasein. Der Begriff des Daseins ist bei Heidegger dem Menschen vorbehalten, insofern der Mensch das einzige Seiende sei, das sich seiner selbst befragen könne bzw. das überhaupt fragen könne, wie Heidegger in Sein und Zeit definiert: »Dieses Seiende, das wir selbst je sind und das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat, fassen wir terminologisch als Dasein.«14 Das Verständnis des Seins werde durch das sich selbst befragende Dasein ermöglicht. Es biete den möglichen Zugang zum Sein. Genau an diesem Punkt setzt Metz’ Kritik an. Unter Berufung auf Thomas von Aquin sei der Weg vom Dasein, das heißt vom Menschen, zum Sein nicht ohne weiteres legitim, da er zu einer falschen Übertragung des endlichen Daseins auf das Sein als Ganzes führe. Vielmehr müsse der Mensch als Teil eines umfassenderen Seins aufgefasst werden. Ziel seiner Kritik ist es, die »Grenzen der Metaphysik« aufzuzeigen. »Daraus, dass der Mensch selbst in Wahrheit nur eine Stufe eines grösseren [sic!] Seinsbereichs ist, er-geben sich die Grenzen seines Denkens und Forschens, die Grenzen der

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Metz’ philosophische Dissertation wird ausführlich von Karsten Kreutzer diskutiert. Kreutzer bietet weiterhin Hintergründe zur Veröffentlichung sowie zur geringen Rezeption der Dissertation und des anschließend veröffentlichten Heidegger-Aufsatzes von Metz. Kreutzer, Karsten: Transzendentales versus hermeneutisches Denken. Zur Genese des religionsphilosophischen Ansatzes bei Karl Rahner und seiner Rezeption durch Johann Baptist Metz, Regensburg 2002, besonders 251–363. Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), Tübingen 19 2006, 7. Hervorhebung im Original.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

Metaphysik, die von ihm betrieben wird. Sie vermag nicht alles Sein aus sich und von sich her vollkommen zu verstehen; da, wo sie es versucht, gerät sie in die Gefahr, unverbindlich auszulegen.«15 Metz kritisiert Heidegger über den Begriff der Analogie des Seins. Ihm zufolge sei es nicht möglich, dass das Dasein im Sich-Befragen auf das Sein im Ganzen, sondern lediglich auf einen Bereich – Metz spricht von einem »Seinsbezirk«16 – stoße. Genau diese Grenze habe Heidegger nicht wahrgenommen, was Metz schließen lässt: »Das [gemeint ist die Unterscheidung der Seinsbezirke und deren Wahrnehmung, P.A.] hat Heidegger und mit ihm – wenigstens grundsätzlich – die moderne Richtung einer Lebens- und Existenzphilosophie übersehen; ihnen ist der Hang eigen, Sein und Menschsein zu sehr in eins zu begreifen.«17 Im Fehlen dieser Grenze der Metaphysik bei Heidegger bestehe auch ihr Problem. Metz bestreitet in seiner Dissertation weder, dass über das Sein etwas ausgesagt werden könne, noch, dass der Mensch – das Dasein – eine besondere Stellung in der Erfahrung des Seins einnehme. Vielmehr sieht er die große Gefahr, dass Heidegger die Unterscheidung der Seinsbezirke nicht wahrnehme.18 Doch was hat es mit den anderen Seinsbezirken, die nicht das Dasein sind, auf sich? Hier geht es Metz vor allem um den Seinsbereich Gottes, der bei Heidegger verdeckt werde. Dieser sei nicht nur aufgrund der Offenbarung Gottes zu beachten, sondern auch hinsichtlich der Endlichkeit des Menschen. Heidegger gehe zwar ebenfalls von der Endlichkeit des Menschen aus, verabsolutiere sie jedoch laut Metz. Stattdessen sei der Mensch in seiner Endlichkeit immer schon verwiesen auf dasjenige oder denjenigen, der das endliche Dasein des Menschen gewähre und voraussetze. Dies sei Gott. Mit Heidegger geht Metz davon aus, dass der Mensch als Dasein »transzendiert«, das heißt, »weltentwerfend« ist. Welt und mit ihr das Dasein impliziere immer ein Woraufhin, eine »Zukunft«: »Das transzendierend-entwerfende Dasein hat ein Woraufhin seines Überstiegs, die transzendent entworfene Welt.«19 Doch dieses Woraufhin dürfe nicht »agnostizistisch«20 verkürzt werden. Meines Erachtens ist dieser entscheidende Aspekt weder in seiner philosophischen Dissertation noch in dem zwei Jahre später veröffentlichten Artikel von Metz deutlich herausgearbeitet, sondern lediglich angedeutet worden. In seiner Dissertation formuliert Metz vage, dass dieses Woraufhin des Menschen und seines Weltentwerfens auf Gott ausgerichtet sei. Explizit spricht Metz jedoch

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Metz: Heidegger und das Problem der Metaphysik (1951), 177. Hervorhebung im Original. Ebd., 178. Ebd., 178. Ganz ähnlich schreibt Metz in seinem Artikel Heidegger und das Problem der Metaphysik: »Denn wenn der Mensch auch die ausgezeichnete Mitte der Seins- und Wahrheitsanalogie ist und wenn sich deswegen in ihm auch die Synthese sämtlicher Wirklichkeitsstufen findet […], so bleibt doch grundsätzlich zu bedenken, daß das Dasein des Menschen trotz seines ontologischen Vorrangs eine Stufe der ursprünglicheren analogia bleibt und daß deswegen die vom Menschen betriebene ontologische Metaphysik auch echte Grenzen hat […].« Metz, Johann Baptist: Heidegger und das Problem der Metaphysik (1953), 22. Hervorhebungen im Original. Metz: Heidegger und das Problem der Metaphysik (1953), 11. Ebd., 16.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

bloß vom »Raum […] für den Menschen und für Gott«21 . Dass Metz in der Dissertation wie auch in dem veröffentlichten Artikel zurückhaltend hinsichtlich der Bedeutung Gottes für den endlichen Menschen und damit für die Metaphysik bleibt, dürfte der Tatsache geschuldet sein, dass es sich in beiden Fällen um explizit philosophische und nicht theologische Forschungsbeiträge handelt. In seinen anschließenden theologischen Studien wird Metz expliziter. So bietet Metz eine deutliche Darstellung der These, dass die Endlichkeit des Menschen auf einen weiteren Seinsbereich verweise, der Gott vorbehalten sei, in seinem 1961 erschienen theologischen Artikel Theologische und metaphysische Ordnung. Dem Titel entsprechend geht es um eine Verhältnisbestimmung von Theologie und Metaphysik. Trotz seiner grundsätzlichen Kritik an Heideggers Metaphysikbegriff – dass Heidegger nicht die Grenzen der Metaphysik wahrnehme –, übernimmt Metz von Letzterem die Ineinssetzung von Metaphysik und Ontologie. Metaphysik ziele in diesem Sinne immer auf das Ganze des Seins, auf den Seinszusammenhang.22 Doch seiner Kritik an Heidegger entsprechend gelten die Grenzen der Metaphysik gleichermaßen als Grenzen der Ontologie. Noch deutlicher, als in den beiden frühen philosophischen Untesuchungen fasst Metz nun die Metaphysik bzw. die Ontologie anthropozentrisch auf. Gleiches gilt ebenfalls für die Theologie. Metz definiert die Metaphysik folgendermaßen: »So gewendet ist Metaphysik das begrifflich erhellte Selbstverständnis des Menschen aus jenem apriorischen Einverständnis mit dem Sein im Ganzen, als welches (Einverständnis) der Mensch existiert. Metaphysik ist geläutertes Selbstverständnis des Menschen aus transzendentalem Ursprung.«23 Die Wendung, von der Metz am Anfang des Zitats spricht, bezieht sich auf die sogenannte anthropologische Wende, mit der er auf die Transzendentaltheologie Karl Rahners verweist. Rahner stellt heraus, wie jedes metaphysische und jedes theologische Fragen, einen fragenden Menschen voraussetze und somit immer die Frage nach dem Menschen impliziere.24 In seinem Artikel wird die Nähe des frühen Metz zu Rahners Theologie sehr deutlich. Metaphysik anthropologisch gewendet aufzufassen, erlaubt Metz

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Metz: Heidegger und das Problem der Metaphysik (1951), 178. »Es ist das Eigentümliche jedes metaphysischen Problems, daß es in einem gewissen Sinne das Ganze der Metaphysik umgreift; daß es in seinem Wesen nicht erschöpfend erschlossen werden kann, ohne daß es begriffen würde, wie es sich in das Grundproblem der Metaphysik überhaupt mithineinverwandelt: in die Frage nach dem Sein.« Metz: Heidegger und das Problem der Metaphysik (1953), 1. Mit dieser Ineinssetzung werden auch die Disziplinen, die einmal der sogenannten metaphysica specialis (Theologie, Psychologie, Kosmologie) zugehörten in die Ontologie aufgelöst. JBMGS 2 (Theologische und metaphysische Ordnung), 150–165, hier 151. »Insofern dieser Ausgangspunkt alles metaphysischen Fragens von vornherein begriffen wird als Auszeichnung des menschlichen Seins, zeigt sich von selbst, wie alles metaphysische Fragen nach dem Sein überhaupt gleichzeitig ein Fragen nach dem Sein jenes Seienden ist, das diese Frage notwendig stellen muß, eine Frage nach dem Menschen. Menschliche Metaphysik ist somit notwendig auch immer gleichzeitig eine Analytik des Menschen. Die Frage nach dem Sein und nach dem fragenden Menschen selbst bilden eine ursprüngliche und ständig ganze Einheit.« Rahner, Karl: Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie. Neu bearbeitet von Johannes Baptist Metz, Freiburg i.Br. 1971, 48. Hervorhebung im Original.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

deutlicher als noch in seinen früheren Studien die Grenzen der Metaphysik herauszustellen. Mit der Theologie verfährt der frühe Metz entsprechend: »Was ist Theologie? Theologie ist reflex vergewissertes und entfaltetes Selbstverständnis des Menschen aus dem Zuspruch des freien Wortes Gottes. Theologie ist geläutertes Selbstverständnis des Menschen aus geschichtlich zugeeignetem transzendentalem Ursprung. Metaphysik und Theologie betreffen den Menschen ursprünglich, d.h. ganzheitlich, in jeder Dimension seines Seins, ohne sich selbst mit einer von ihr ausschließlich zu identifizieren.«25 Die Theologie wird zunächst ähnlich wie die Metaphysik bestimmt. Auch hier handle es sich um eine reflexive (»reflexe«) Wissenschaft, die in diesem Sinne das Selbstverständnis des Menschen betreffe. Metz hebt die grundsätzlichen Gemeinsamkeiten von Theologie und Metaphysik hervor. Beide beträfen den Menschen »ursprünglich«. Worin liegt aber der Unterschied? Die Theologie sei reflexive Wissenschaft, die auf den »Zuspruch des freien Wortes Gottes«, das heißt, auf Offenbarung angewiesen sei bzw. die durch Offenbarung ermöglicht werde. In der Theologie vergewissere sich der Mensch seiner selbst angesichts der ihm begegnenden Offenbarung Gottes. Die Metaphysik hingegen übersteige ihre Kompetenzen, wenn sie die Antwort des Menschen in seiner Selbstauslegung aus sich selbst, das heißt rein anthropologisch, schlösse. Sie würde so zur »Mythologie«.26 Dennoch bleibe die Theologie auf Metaphysik angewiesen, da sonst die Offenbarung, die dem Menschen ohne seine eigene freie Selbstreflexion geschehe, mechanistisch27 aufgefasst würde. »Die Offenbarung selbst setzt mithin den gläubig Vernehmenden in ein Verhältnis zu seiner Vernehmenskraft und impliziert in diesem Selbstverhältnis des Glaubensgeschehens bzw. der Theologie metaphysisches Denken. Transzendente Daseinsverwurzelung ist immer auch transzendentaler Selbstvollzug dieses Daseins. Und es erweist sich deshalb als eine fideistisch-objektivistische Beirrung des Verhältnisses von Metaphysik und Theologie, wenn man im transzendenten Bezug menschlichen Daseins das transzendentale Selbstverhältnis ausschalten bzw. überspringen will.«28 Offenbarung überkomme den Menschen nicht bloß, sondern sie wird von Metz im Anschluss an Rahner als freie Anrede an den Menschen aufgefasst, der sich zu dieser wiederum frei verhalten könne. Doch um diese freie Reaktion des Menschen überhaupt zu

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JBMGS 2 (Theologische und metaphysische Ordnung), 151. »Die Philosophie, die sich wesensgemäß als die radikalste Kritikerin jeder Mythologie versteht, würde selbst zur unheilvollsten Gestalt mythologischen Denkens, wenn schließlich alle Mythologie darin wurzelt, dass der Mensch von sich selbst her eine inhaltliche Antwort auf die reflex nicht durchschaubare und doch unausweichliche apriorische Grundfrage seines Daseins herstellt und so alle Geschichte degradiert zu einer einzigen Anthropophanie, in der der Mensch ewig-heillos nur sich selbst erscheint.« Ebd., 157. »Die Offenbarung als endgültiges und totales Wort über den Menschen kann sich deshalb keineswegs magisch-mechanisch im menschlichen Dasein ausbreiten.« Ebd., 159. Ebd., 159.

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ermöglichen, bedürfe es der – anthropologisch gewendeten – Metaphysik als grundsätzliche, kritische Selbstvergewisserung des Menschen.29 Metaphysik stehe deshalb im notwendigen Dienst gegenüber der Theologie. Das bedeute umgekehrt, dass die Theologie auf die Metaphysik angewiesen sei, um die geschichtliche Offenbarung Gottes reflexiv vermitteln zu können.30 Das Problem der Metaphysik, das Metz zunächst bei Heidegger, später grundsätzlicher thematisiert, kann ich hier nur in Grundzügen entfalten.31 Die knappe Darstellung soll auch nicht Metz’ spätere theologische Einsichten auf seine früheren zurückführen. Im Gegenteil möchte ich darauf hinweisen, dass einige Themen und Begriffe, die in der Neuen Politischen Theologie als nachidealistische Theologie nach Auschwitz zentral werden, bereits schon wenigstens als Stichworte präsent sind. Das betrifft vor allem die grundsätzliche Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie. Zwar werden sich in Metz’ Denken die Aufgaben beider verändern, ihr Verhältnis zueinander – die Begrenztheit der Philosophie einerseits und die notwendige Angewiesenheit der Theologie auf die Philosophie andererseits – beschäftigen hingegen bereits den frühen Metz. Auch die Begriffe »Zukunft«, »Geschichte«, »Welt« oder »Zeit« beginnt Metz in der Auseinandersetzung mit und vor allem in der Kritik an Heidegger zu entwickeln.32 Dass Metz in seiner Theologie in der Mitte der 1960er Jahre einen Bruch wahrnimmt, dürfte deshalb weniger an bestimmten Begriffen, sondern vielmehr an der Art und Weise, wie diese Begriffe verwendet werden sowie an ihrem Gehalt liegen. Die inhaltliche Verschiebung lässt sich meines Erachtens vor allem am Begriff der Welt verdeutlichen.

4.1.2 Welt als Geschichte Ontologie anthropologisch gewendet beginnt mit der Daseinsanalyse. Dasein ist in sich reflektiertes Sein, welches der Mensch ist. Der Mensch wiederum existiert als jeweils

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Metaphorisch schreibt Metz: »Der Anwalt dieser kritischen Selbstvergewisserung aber ist die Metaphysik. Deshalb gilt: Der hörsam vernehmende Theologe muss sich selbst verstehender Metaphysiker sein, um die ihm anvertraute Botschaft in ihrer Reinheit verstehen, hüten und vermitteln zu können.« Ebd., 159, Anm. 16. Hervorhebung im Original. Zum Verhältnis von Theologie und Metaphysik bzw. Philosophie und zur Möglichkeit einer christlichen Philosophie vgl. den 1958 erschienen Beitrag Christliche Philosophie, in: JBMGS 2, 237–244. Eine umfassende und äußerst instruktive Studie zu Metz’ transzendental-theologischer Phase, die auch sein Verhältnis zu Heidegger und Rahner analysiert, liefert Kreutzer: Transzendentales versus hermeneutisches Denken. Die meisten Studien zur Theologie von Metz beginnen hingegen mit seiner theologischen Dissertation Christliche Anthropozentrik (1962). Einige Studien, die zeitlich früher ansetzen und damit Metz’ grundsätzliches Verhältnis zur Philosophie bzw. Metaphysik in den Blick nehmen, finden sich in: Ruz, Matías Omar: Nueva Teología política. Desarrollo del pensamiento de Johann Baptist Metz, Córdoba 2010, 34–44; Thiele, Martin H.: Gott, Allmacht, Zeit. Ein theologisches Gespräch mit Johann Baptist Metz und Eberhard Jüngel, Münster 2009, 11–21. In der Werkbiografie von Tiemo R. Peters finden sich einige Grundgedanken dieser frühen Phase. Peters: Johann Baptist Metz, 29–40. In seinem Artikel von 1953 attestiert Metz Heidegger trotz der Rede von der Geschichtlichkeit »eine merkwürdige Ungeschichtlichkeit«. Diesen Vorwurf führt er damals noch nicht aus. Metz: Heidegger und das Problem der Metaphysik (1953), 12 Anm. 11. Hervorhebung im Original. Vgl. dazu auch Thiele: Gott, Allmacht, Zeit, 15 und Ruz: Nueva Teología política, 41.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

konkreter Mensch in Bezug auf seine Welt. Um Ontologie, als Wissenschaft vom Sein zu betreiben, bietet sich der Zugang über das Dasein (den Menschen) an. »Denken erscheint als eine Art Seinsvergegenwärtigung.«33 Damit ist in knapper Form die sogenannte transzendentale Methode Rahners34 und des jungen Metz dargestellt. Metz hat diese Methode in seiner philosophischen Dissertation an Heidegger erprobt und erste Konturen des Verhältnisses von Theologie und Ontologie bzw. Metaphysik gezeichnet. In seiner theologischen Dissertation, die 1962 – elf Jahre nach der philosophischen – unter dem Titel Christliche Anthropozentrik. Über die Denkform des Thomas von Aquin veröffentlicht wurde, führt Metz diese transzendentale Methode im Anschluss an Rahner sogar auf Thomas von Aquin zurück. Mit der Analyse der »Denkform« des Thomas von Aquin vollzieht Metz einen weiteren – großen – Schritt in Richtung einer Theologie der Welt. Zwei Texte sind für diesen Schritt zentral: Es handelt sich einmal um die paradigmatische Studie Christliche Anthropozentrik und zweitens um das erste Kapitel in Zur Theologie der Welt 35 .36 Die Analyse der Theologie von Thomas von Aquin enthält mindestens drei Aspekte. 1. Metz erkennt bei Thomas eine Veränderung der »Denkungsart«, die er als Vorläufer des modernen Denkens ausmacht. 2. Mit Thomas soll überhaupt eine im engen Sinne christliche Theologie angesetzt haben. 3. Mit der Fundierung der Überlegungen zur Denkungsart und zur christlichen Theologie in Thomas von Aquin stützt sich Metz auf einen allgemein anerkannten Kirchenlehrer.37 Der zentrale Aspekt der metzschen Studie ist der Nachweis der neuen »Denkungsart« bei Thomas von Aquin. Das, was Metz Denkungsart oder auch Denkweise nennt, geht auf die Unterscheidung von Denkinhalt und Denkform zurück. So liege das Neue bei Thomas nicht in seinen Denkinhalten, sondern in der Denkform.

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JBMGS 2 (Christliche Anthropozentrik), 50. Rahner: Hörer des Wortes. Dazu: Kreutzer: Transzendentales versus hermeneutisches Denken, 92–250. Das erste Kapitel von Zur Theologie der Welt umfasst die drei bereits veröffentlichten Artikel Weltverständnis im Glauben. Christliche Orientierung in der Weltlichkeit der Welt heute (1962); Welt als Geschichte (1965) und Die Zukunft des Glaubens in einer hominisierten Welt (1964), in: JBMGS 1, 23–76. Ruz setzt den Wendepunkt zu einer politischen Theologie am Übergang vom zweiten zum dritten Kapitel in Zur Theologie der Welt an. Ich stimme Ruz in dieser Einschätzung grundsätzlich zu, insofern im dritten Kapitel explizit das Programm einer politischen Theologie entfaltet wird. Jedoch ist bereits vom ersten zum zweiten Kapitel ein inhaltlicher Wendepunkt zu erkennen: Im ersten Kapitel wird der Weltbegriff entfaltet, im zweiten der Begriff der Zukunft (und der Eschatologie) und im dritten Welt und Zukunft vor dem Hintergrund gesellschaftstheoretischer Überlegungen (die natürlich theologische bleiben). Damit orientiere ich mich an den Studien von Gerhard Bauer und Nedjeljko Ančić. Ján Branislav Mičkovic verfolgt ebenfalls diesen Dreischritt, verortet ihn jedoch weniger innerhalb von Zur Theologie der Welt. Im Folgenden zeige ich, dass alle drei Schritte für die Neue Politische Theologie relevant sind. Vgl. Ruz: Nueva Teología Política, 58; Bauer, Gerhard: Christliche Hoffnung und menschlicher Fortschritt, 9–32; Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz, 27–76; Mičkovic, Ján Branislav: Den Widerspruch denken. Das Leidensverständnis in den Theologien von Dorothee Sölle und Johann Baptist Metz, Freiburg i.Br. 2014, 20–37. »Thomas, der ›allgemeine Lehrer‹, gilt im kirchlichen Raum als klassische Basis des theologischen Selbstverständnisses unseres christlichen Glaubens.« JBMGS 2 (Christliche Anthropozentrik), 27.

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»[Es] handelt […] sich hierbei vor allem um einen Wandel in der Form und im Horizont des Denkens und damit um eine anhebende ›epochale Wende‹ im menschlichen Seins- und Selbstverständnis, denn epochemachend in der Geschichte des Denkens ist nicht der je neue Denkinhalt und die mit ihm gegebene neue Fragestellung, sondern die je neue formale Denkungsart, das neue Seinsverständnis, unter dessen Dominanz alle Denkinhalte stehen und in dessen umgreifenden Horizont sie angesiedelt werden.«38 Metz zeigt anhand mehrerer Begriffe39 , die Thomas verwendet, auf, wie sich die Art des Gebrauchs, der Begründungszusammenhang, verändert hat. Eine Denkform bzw. Denkungsart sei »je das beformende Eine und Ganze, die einig-einheitliche ἀρχἡ aus der alle materiale Vielfalt entspringt«40 . Verstehenszusammenhang und Seinsverstehen fallen hier in eins. Metz zeigt in seiner Thomas-Analyse auf, dass in seiner Philosophie das Sein sein eigenes Seinsverständnis hervorbringe. Es gebe kein Sein außerhalb des Seinsverständnisses. Man könnte auch sagen, dass Denken und Sein sowie Ontologie und Logik zusammenfallen. Deshalb kann Metz den Verstehenszusammenhang des gesamten Denkens einer Epoche auch als onto-logisches Verstehen auffassen.41 Doch bei Thomas sei diese neue Denkungsart erst am Anfang und noch nicht vollständig ausgeprägt.42 Mit Thomas beginne erst etwas Neues.43 Worin besteht nun dieses Neue? Das Neue, das Metz bei Thomas zu finden beansprucht, ist die anthropozentrische Denkungsart, die als eine spezifisch christliche praktiziert werde. Diese »christliche Anthropozentrik« stehe im Gegensatz zur »›kosmozentrischen‹ Denkform der Griechen«.44 Das griechische Denken beschäftige sich zwar inhaltlich intensiv mit dem Menschen, 38 39

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Ebd., 42f. Hervorhebung im Original. Vgl. auch Ruz: Nueva teología política, 46–48. Metz analysiert die Begriffe Sein, Individualität (Würde), Substanz, Welt, Gott und Gnade. Ebd. 47–77. Ruz nennt diese Methode eine »symptomatische« (»sintomático«) Demonstration im Unterschied zu einer »systematischen« (»sistemático«). Ob Ruz damit auf die symptomatische Lektüre von Louis Althusser anspielt, ist unklar. Ruz: Nueva teología política, 47. Hervorhebung im Original. Ebd., 32. Bis zu einem gewissen Grad klingt hier auch das Ontologieverständnis von Alain Badiou an, bei dem ebenfalls Denken und Sein zusammenfallen. Doch in deutlichem Unterschied zu Badiou thematisiert Metz den Agenten (das heißt das Subjekt) des Verstehens. Ich komme auf diesen Unterschied im nächsten Kapitel zurück. Metz spricht von »kategorialen Überlagerungen« und von »der anhaltenden Herrschaft einer anderen Denkform, nämlich derjenigen, die wir im Laufe unserer Arbeit als die spezifisch griechische charakterisiert haben«. JBMGS 2 (Christliche Anthropozentrik), 77. Ebenfalls Anfang der 1960er Jahre entwickelt Louis Althusser in Frankreich die These, dass bei Karl Marx eine Veränderung der Denkweise vorliege. Bei Marx handle es sich um den Wandel von einem philosophisch-humanistischen Denken, zu einem Entwurf des sogenannten Historischen Materialismus, der eine ganz neue Wissenschaftsweise bezeichne. In den 1970er Jahren wird Jon Sobrino den Ansatz des »Einschnitts« auf die Unterscheidung von »erster« und »zweiter« Aufklärung, die die Theologie der Befreiung nachvollziehe, anwenden. Damals verortete Sobrino den Einschnitt auch geographisch zwischen europäischem und lateinamerikanischem Denken. Vgl. Althusser: Pour Marx; Sobrino, Jon: Theologisches Erkennen in der europäischen und der lateinamerikanischen Theologie, in: Rahner, Karl (Hg.): Befreiende Theologie. Der Beitrag Lateinamerikas zur Theologie der Gegenwart, Stuttgart 1977, 123–143. JBMGS 2 (Christliche Anthropozentrik), 26.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

das heißt, es sei material anthropozentrisch. Hinsichtlich der Form handle es sich jedoch um ein kosmozentrisches Denken. Metz definiert: »[D]as Leitbild für das Verständnis der Seinsbestimmungen ist die welthafte Objektivität, die dinghaft-naturhafte, primär räumliche Vorhandenheit bzw. Zuständlichkeit; alle anderen Seinsweisen, wie etwa die Sich-selbst-Gegebenheit des Menschen, sind in ihrem Verständnis abgeleitet von diesem Modell der Seinsvorstellung.«45 Metz macht die Kosmozentrik an der Einsicht fest, dass alles materiale Denken – alle Inhalte – in einer objektiven Welt situiert würde. Diese objektive Welt sei statisch aufgefasst, ihre ontologischen Bestimmungen dementsprechend zeitlos. Die Welt als Raum gehe der Zeit bzw. der Welt als werdende Geschichte voraus. Die thomanische Anthropozentrik hingegen breche grundsätzlich mit dieser Auffassung einer statisch-objektiven Welt. Metz definiert weiter: »Die leitende Seinsvorstellung ist die eigentümliche Seinsweise des Menschen, die Subjektivität; alle anderen Seinsweisen, wie etwa die Zuständlichkeit der Welt, sind in ihrem Verständnis abgeleitet von diesem Modell der Seinsvorstellung. […] Das Sein der Seienden wird vielmehr von dieser Subjektivität her angeblickt und bestimmt, und sie selbst bleibt bei aller Seinsbestimmung mit im Blick – als leitende Ansichseinsgestalt.«46 Diese Denkungsart orientiere sich an der Subjektivität. Die Verfassung der Welt – ihre »Zuständlichkeit« – werde von dieser Subjektivität her begriffen. Metz betont, dass damit nicht die Subjektivität in materialer Hinsicht – also inhaltlich – gemeint sei. Diese entwickle sich selbstverständlich erst später – in der Moderne – inhaltlich heraus. Genau genommen handle es sich bei Thomas um eine Theozentrik, die subjektiv gestaltet sei. Theozentrik und Anthropozentrik stünden dabei nicht in einem Widerspruch zueinander.47 Mit der Subjektivität geht noch ein weiterer für die Entwicklung der metzschen Theologie zentraler Aspekt einher: Subjektivität eröffne Transzendenz im Seienden. Im Menschen werde die Transzendenz des Seienden transparent. Metz fasst deshalb Menschsein als »Mensch-Werdung« auf. Und insofern Welt ebenso vom Menschen her gedacht werde, wird auch diese als werdend – und nicht statisch – begriffen. Metz interpretiert Thomas so, dass er das Denken der Welt als Geschichte eingeführt habe. »Es leuchtet wohl ein, dass in einem derart anthropozentrischen Verständnis der Weltwirklichkeit der Abbau des statisch-räumlichen und der Aufbau eines primär geschichtlichen (d.h. von der menschlichen Selbstverwirklichung her bestimmten) Vorstellungsschemas bezüglich des Weltseins wenigstens keimhaft angelegt ist, wenn dieser Vorstellungswandel bei Thomas auch noch kaum zu fassen ist.«48

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Ebd., 44. Ebd., 45. »Formale Anthropozentrik steht in unserem Zusammenhang nicht gegen inhaltliche Theozentrik, sondern gegen formale Kosmozentrik.« Ebd., 46. Ebd., 62.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Ob Metz’ Interpretation in Bezug auf Thomas zutreffend bzw. einleuchtend ist oder nicht, kann hier nicht selbst überprüft werden.49 Wichtig ist vielmehr, dass Metz das Verständnis von Welt als Geschichte, das für seine gesamte spätere Theologie von zentraler Bedeutung wird, auf Thomas zurückführt. Er fasst Welt vom Menschen her in ihrer Transzendenz als dynamisch und nicht (mehr) als statisch auf. Den Gedanken, der in der Regel auf den Deutschen Idealismus oder in seiner revolutionären Gestalt auf Marx und Engels zurückgeführt wird, verortet Metz ca. 800 Jahre früher bei dem allgemein anerkannten Kirchenlehrer. Worin inhaltlich die Subjektivität, das Werden der Welt bzw. die Geschichte besteht, ist freilich hier noch kaum zu finden, weder bei Thomas noch in der Thomas-Interpretation von Metz.50 Die neue Denkungsart bei Thomas, die sich formal als anthropozentrische auszeichnet, und in der »Welt« als Geschichte aufgefasst wird, ist keine unmittelbare Erfindung von Thomas von Aquin. Metz versucht nachzuweisen, dass die Kategorien dieser Denkungsart – vor allem Mensch und Geschichte – »biblisch-christlichen Ursprung[s]«51 seien. Bereits in der Bibel sei festgehalten, dass die Offenbarung auf eine hörende Subjektivität angewiesen sei. Offenbarung sei auf Verstehbarkeit angewiesen. Deshalb sei auch die Geschichte des Menschen und damit der Welt das »Medium« des Verstehens der Offenbarung.52 Ein reflektiertes Verstehen werde durch eine – anthropologisch gewendete – Ontologie ermöglicht.53 Dort, wo Offenbarung auf ein solch reflektiertes Verständnis stoße, entstehe Theologie in ihrer eigentlichen Bedeutung. »Die theologische Vermittlung der Offenbarung geschieht also je durch – Philosophie; Philosophie und Theologie bilden eine ständig ganze Einheit in der hörsam-reflexen Aneignung des Offenbarungswortes.«54 Im Zusammenspiel von biblischer Offenbarung und reflektiertem Selbstverständnis in der Philosophie bei Thomas entstand, so Metz, christliche Theologie im engen Sinne. Damit ist nicht gemeint, dass biblische Inhalte nun in philosophischen Kategorien reflektiert werden, sondern die Offenbarung selbst biete bereits inhaltliche Kategorien, die sich mit einem philosophischen Denken verbinden. Der zentrale Offenbarungsinhalt, den Metz anführt, ist das eschatologische Denken: die Erwartung einer 49

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Ich stimme Ruz zu, wenn er die Thomas-Interpretation in Christliche Anthropozentrik als »provokativ«, »unvollständig« und »polemisch« charakterisiert. »Mientras la interpretación sobre Tomás es provocativa, es al mismo tiempo incompleta. El libro es del mismo género que el libro de Heidegger sobre Kant, incluso, el libro de Rahner sobre Tomás. El método de lectura, en términos de la posterior historia de los efectos, es polémico.« Ruz: Nueva teología política, 53. Ruz’ Einschätzung ist allerdings nicht pejorativ, sondern explikativ aufzufassen. Jedoch beginnt Metz bereits in Christliche Anthropozentrik den Menschen als leibliches Wesen zu deuten: »In diesem Entwurf [gemeint ist derjenige des Thomas, P.A.] ist der wirkliche Mensch als Ganzer ›seelisch‹ und als Ganzer ›leiblich‹, als Ganzer ›Subjektivität‹ und als Ganzer ›Situation‹; beide sind je ganz-menschliche Bestimmungen, sie stehen je für sich suppositiv für das eine und ganze ekstatische Selbstsein des Menschen, denn der wirkliche Mensch ist nicht das eine (›Seele‹) und das andere (›Leib‹), sondern das eine wirklich als die Wirklichkeit des anderen.« JBMGS 2 (Christliche Anthropozentrik), 63f. Hervorhebung im Original. Ebd., 82. Ebd., 85. Metz knüpft mit diesem Gedanken an den Schluss seiner philosophischen Dissertation über Heidegger an. Ebd., 86.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

Vollendung der Geschichte, die nicht im (begrenzten) Handeln des Menschen selbst liege.55 Ein rein philosophisches bzw. griechisches Denken würde Möglichkeit bloß als Realisierung des bestehenden Möglichen denken. In Christliche Anthropozentrik hat Metz eine grundlegende Abhandlung über die – seine – Quellen der anthropologischen Wende und seiner damit einhergehenden Auffassung von Welt als Geschichte vorgelegt. Das Modell der Anthropozentrik ermöglicht ihm, die Ontologie als Wissenschaft vom Sein nicht als statisch, sondern als am Menschen (Dasein) orientiert, das heißt dynamisch, aufzufassen. Seinsverstehen gelingt durch das Selbstverständnis des Menschen.56 Mit Thomas von Aquin kann Metz im Hinblick auf die katholische Theologie eine bedeutende Autorität aufweisen. Aber auch in Richtung der Philosophie weist Metz eine selbstbewusste Position vor. Die großen Themen der Moderne, die mit den Namen Kant, Fichte, Hegel, Schelling, Marx, Engels und vielen mehr, verbunden sind, werden auf den Entstehungsmoment der christlichen Theologie bei Thomas von Aquin zurückgeführt. Doch trotz dieser vermeintlichen historischen Vorrangstellung der christlichen Theologie, hebt Metz dennoch ihre Abhängigkeit von der Philosophie hinsichtlich ihres grundsätzlich reflexiven Verfahrens hervor. Warum musste sich dann aber die Moderne oftmals gegen das Christentum behaupten, wenn sie doch eigentlich in ihm Grund gelegt sei? Metz untersucht genau diese Frage nach der sogenannten Weltlichkeit der Welt unter dem Stichwort der Säkularisierungsthese, die in Christliche Anthropozentrik eingeführt und von ihm im ersten Kapitel aus Zur Theologie der Welt entfaltet wird.

4.1.3 Gott und Welt: Die Säkularisierungsthese Die transzendentale Methode von Rahner und Metz zeichnet sich durch die Annahme aus, dass die Offenbarung Gottes auf vernehmendes Hören angewiesen sei, um in Freiheit angenommen werden zu können. Der Mensch, als Hörer und Hörerin, besitze wiederum die Möglichkeit, die Anrede Gottes zu vernehmen, insofern er – der Mensch – ein grundsätzlich fragender sei. Gott, als das absolute Sein, könne dann als das »letzte Woraufhin« des Menschen aufgefasst werden. So schreibt Rahner in Hörer des Wortes – in der von Metz überarbeiteten Fassung: »Der Mensch ist jenes Seiende, das kraft seiner Wesenskonstitution als endlicher Geist, der nach dem Sein fragt und fragen muß, vor dem freien Gott steht, dessen Freiheit bejaht in der Eigentümlichkeit seiner Seinsfrage und somit mit der göttlichen Freiheit 55

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»Biblisch-christlich besagt ›Transzendenz‹ nicht völliges Jenseits zur Geschichte, sondern deren innere Voll-endung; der Christ versteht sein Verhältnis zur Transzendenz selbst – zeitlich-eschatologisch, er erwartet das Jenseits als das geschichtlich Ankünftige, das sein geschichtliches Dasein in die eine Basileia Gottes und der Menschen verwandelt.« Ebd., 94. Seine zeitgenössischen Referenten für diese Auffassung sind Karl Rahner und Martin Heidegger. Heidegger wird allerdings nur an wenigen Stellen explizit genannt: »In dem fundamentalen Sinn, in dem wir die ›anthropozentrische Denkform‹ (im Gegensatz zur kosmozentrischen) verstanden haben, fällt auch Heidegger unter sie – wenigstens insoweit sie sein fundamentalontologisches Problem überhaupt erst ermöglicht und die von ihm gestellte Seinsfrage erst in Gang bringt.« Ebd., 100, Anm. 5.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

rechnen muß, durch die Gott sein Persongesicht in einer Weise erschließen kann zu einer Offenbarung seines Wesens, die von einem anderen Ort aus nicht a priori errechnet werden kann.«57 Die Ontologie als Wissenschaft vom Sein wird hier in ihren Grundzügen als genuin menschliche Wesenskonstitution aufgefasst. Der Mensch zeichne sich durch seine grundsätzliche Frage nach dem Sein – nach seinem Sein – aus und stoße auf diesem Weg auf die Frage nach dem absoluten Sein, das Gott genannt werden könne. Das absolute Sein, das Rahner und Metz Gott vorbehalten, könne sich in der Antwort auf diese Frage als personaler Gott offenbaren. Eine zentrale Annahme für die transzendentale Methode ist die Freiheit Gottes und die Freiheit des Menschen. Damit Offenbarung nicht wie ein mechanischer Naturzusammenhang wirke, müsse von einem freien Geschehen, in dem Gott wie auch der Mensch als frei Handelnde agierten, ausgegangen werden. Wenn die Offenbarung und ihre Annahme durch den Menschen nicht als ein Naturzusammenhang gedacht werde, bestehe auch die Möglichkeit, dass die Antwort auf die Offenbarung Gottes ausbleibe; dass bereits die Frage nach dem »letzten Woraufhin« als irrelevant aufgefasst werde. Entsprechendes gelte auch für die Welt. Als Welt des Menschen, als geschichtliche, werdende Welt wird sie (im transzendentalen Ansatz von Metz) nicht als von Gott durchwirkt, sondern von der Freiheit des Menschen gestaltet verstanden.58 Die Welt kann und darf »weltlich« werden und faktisch ist sie weltlich geworden.59 Metz möchte dieser Erkenntnis, dass die Welt weltlich – und eben nicht göttlich durchwirkt – geworden ist, jedoch nicht ablehnend gegenüberstehen, sondern diesen Prozess selbst theologisch positiv deuten: »Die Weltlichkeit der Welt, wie sie im neuzeitlichen Verweltlichungsprozess entstand und in global verschärfter Form uns heute anblickt, ist in ihrem Grunde, freilich nicht in ihren einzelnen geschichtlichen Ausprägungen, nicht gegen, sondern durch das Christentum entstanden; sie ist ursprünglich ein christliches Ereignis und bezeugt damit die innergeschichtlich waltende Macht der ›Stunde Christi‹ in unserer Weltsituation.« 60 Metz stellt im ersten Kapitel in Zur Theologie der Welt seine sogenannte Säkularisierungsthese61 vor. Der neuzeitliche Verweltlichungsprozess, von dem Metz hier spricht, bezieht sich auf den Säkularisierungsprozess, wie er rechtlich, philosophisch und sozial in der Moderne begonnen hat. Entgegen der Auffassung, dass dieser Prozess ein rein 57 58

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Rahner: Hörer des Wortes, 104. Jürgen Kroth betont, dass in Rahners transzendentalem Ansatz im Unterschied zu Metz vom Durchwirken Gottes in der Welt ausgegangen wird. Bei Rahner, wie auch bei Metz, gilt dennoch die Freiheit Gottes wie des Menschen als zentral für die Anrede Gottes und die Antwort des Menschen. Vgl. dazu: Kroth, Jürgen: Dein Reich komme. Studien zu einer politischen Theologie sakramentaler Theorie und Praxis, Würzburg 2018, 191f. JBMGS 1 (Weltverständnis im Glauben), 23–54. Ebd., 28. Hervorhebung im Original. Metz belegt diese These mit mehreren Studien (u.a. von Friedrich Gogarten). Vgl. dazu Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz, 27–45; Bauer: Christliche Hoffnung und menschlicher Fortschritt, 12–18; Mičkovic: Den Widerspruch denken, 29f.; Ruz: La nueva telogía política, 60f.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

anti-kirchlicher oder anti-christlicher Prozess war, dem deshalb von der Kirche und ihrer Theologie wiederum mit Ablehnung begegnet werden müsse,62 möchte Metz einen positiven Zugang zur Verweltlichung gewinnen, indem er die These aufstellt, dass dieser Verweltlichungsprozess durch das Christentum bzw. durch die Annahme Christi am Kreuz überhaupt erst initiiert wurde. Die Säkularisierung dürfe somit in ihren Grundzügen als christliches Programm angenommen werden.63 Metz argumentiert, dass mit dem Christentum selbst ein Entmythologisierungsprozess begonnen habe. Die biblische Überlieferung der Transzendenz Gottes bedeute für die Welt »ihre Freigabe ins Nicht-Göttliche, ins Eigene und Eigentliche«, wie Ančić treffend formuliert.64 Das Verhältnis von Gott und Welt ist nicht mehr eines der Immanenz Gottes in der Welt, sondern der Transzendenz und der Deszendenz. Und mehr: Biblisch werde ein Angenommensein der Welt durch Gott bezeugt, dass sich in seiner deutlichsten Form in der Annahme Jesu Christi zeige. »Durch die Annahme der Welt in Jesus Christus wird diese ja nicht etwa zu einem ›Stück‹ Gottes und Gott nicht zu einem (innerweltlichen) ›Sektor‹ des Weltganzen, sondern durch sie und in ihr erscheint die Welt erst ganz als weltlich und Gott ganz als göttlich; die Welt wird nicht etwa in ihrer Göttlichkeit, sondern gerade in ihrer Nicht-Göttlichkeit oder eben (wie anders?) in ihrer Weltlichkeit sichtbar, in der allein Gott sie sich (als das radikal andere von ihm) zuspricht und sie in seinem ›Geiste‹ durchherrscht.«65 Metz argumentiert hier christologisch. Im Akt der Annahme Jesu Christi werde gerade die Menschlichkeit Jesu angenommen und in ihr die Nicht-Göttlichkeit der Welt manifestiert. Gott nehme das an, was er nicht selbst sei. Er ermögliche auf diese Weise die Eigenheit der Welt. Mit diesem Verhältnis von Gott und Welt gehe auch eine Entmythologisierung der Welt einher. Nichts Göttliches oder Mythisches sei ihr mehr eingeschrieben.66 Das christologische Argument wird von Metz noch erweitert, insofern er darauf hinweist, dass Jesus Christus und damit die Welt nicht bereits im Vorhinein, das heißt, 62 63

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Man denke hier an das Erste Vatikanische Konzil. Im gleichen Maße, wie Metz versucht, den Säkularisierungsprozess den Christ*innen positiv auszulegen, enthält seine These eine deutliche, kritische Spitze gegenüber jenen Vertreter*innen einer anti-christlichen bzw. atheistischen Säkularisierung. Explizit genannt werden Nietzsche und Marx bzw. der Marxismus. JBMGS 1 (Zur Theologie der Welt), 63f. Ich komme darauf in Kapitel 5.3 zurück. Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz, 32. JBMGS 1 (Weltverständnis im Glauben), 36. »Zweierlei sollte vor allem sichtbar werden: einmal dass das Christentum aus sich selbst eine Art Verweltlichung der Welt bedeutet; dass es da, wo es aus seinen eigensten Ursprüngen geschichtlich wirksam wird, auftritt als eine Entzauberung der Natur, eine Säkularisierung der Welt und damit als eine Entmythologisierung des antiken Weltverständnisses, das nur allzu sehr und allzu lange Leitbild der christlichen Hinsicht auf Welt geblieben ist. Dann zum anderen, dass eben deswegen auf dem Grunde des neuzeitlichen Verweltlichungsprozesses ein echt christlicher Antrieb wirksam ist und dass sich darum in diesem Prozess noch einmal die geschichtliche Macht des christlichen Geistes dokumentiert und die Verweltlichung selbst keineswegs als der Ausdruck für die Ohnmacht oder auch nur die Gleichgültigkeit des Christentums gegenüber der Welt erscheint.« Ebd., 41. Hervorhebung im Original.

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vor ihrer Geschichte angenommen wurden, sondern dass Jesus Christus am Kreuz und mit ihm die, wie Metz damals schreibt, »›konkupiszenten‹ Menschen«67 angenommen wurden. In der Säkularisierungsthese wird das Verhältnis von Gott, Mensch und Welt in Metz’ Verständnis so deutlich, wie kaum sonst. Die Welt sei immer eine auf den Menschen ausgerichtete bzw. eine von ihm gestaltete. Der Mensch wie die Welt zeichneten sich durch ihre Offenheit, das heißt durch ihr Werden aus. Im Menschen sei die Möglichkeit des freien Hörens auf die ebenso freie Offenbarung Gottes angelegt. Beides, das Hören des Menschen und die Anrede Gottes, seien keine mechanistischen Abläufe, sondern jeweils freies und bewusstes Handeln. Gott stehe somit dem Menschen und der – seiner – Welt gegenüber und lasse den Menschen und die Welt in ihrer Nicht-Göttlichkeit.68

4.1.4 Geschichte als Zukunft Die ersten Jahre der metzschen Philosophie und Theologie fanden vor allem in Auseinandersetzung mit Thomas von Aquin, Heidegger, von Balthasar und Rahner statt. Diejenigen Autoren, die später als Referenten in der Ausarbeitung des Programms der Neuen Politischen Theologie wirksam wurden, sind bis 1965 noch nicht zu finden: Benjamin, Bloch, Adorno, Marcuse, Marx, Nietzsche. Dies ändert sich schlagartig im Jahr 1965, in dem Metz selbst einen Bruch in seinem eigenen Denken verortet. Metz’ erste Auseinandersetzungen mit dem Marxismus beginnen im Rahmen der Paulus-Gesellschaft69 mit einem Beitrag für eine Festschrift für Ernst Bloch 1965 und im zweiten Kapitel von Zur Theologie der Welt. Metz hat seinen Beitrag für die Bloch-Festschrift70 unter den Titel Gott vor uns. Statt eines theologischen Arguments71 gestellt. Wie bereits der Titel verrät, entfaltet Metz in diesem

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Ebd., 37. »Nach christlicher Botschaft steht der Mensch unausweichlich vor dem Antlitz seines Schöpfers, vor dem schlechthin transzendenten Gott, dem Deus semper maior, ›der im unzugänglichen Lichte wohnt‹ (vgl. 1 Tim 6,16), der nicht erst in seiner Schöpfung zu sich kommt, sondern über die geschaffene Welt unendlich erhaben ist und sie ständig in ihre eigene Endlichkeit hinein distanziert. Die gläubige Bindung des Menschen an diesen Gott absoluter Transzendenz, absoluter Weltüberlegenheit gibt aber die Welt selbst gerade frei.« Ebd., 65f. Hervorhebung im Original. Die Beiträge sind in JBMGS 6.2., 208–264 veröffentlicht. Vgl. auch den Diskussionsband Garaudy, Roger/Metz, Johann Baptist/Rahner, Karl: Der Dialog oder Ändert sich das Verhältnis zwischen Katholizismus und Marxismus?, Hamburg 1966. Die ausführlichsten Studien zur Marxismusrezeption von Metz bieten: Bauer: Christliche Hoffnung und menschlicher Fortschritt; Spülbeck, Volker: Neomarxismus und Theologie. Gesellschaftskritik in Kritischer Theorie und Politischer Theologie, Freiburg i.Br. 1977; Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz. Darüber hinaus gibt es noch zahlreiche weitere Studien, die sich mit speziellen Fragen der Marxismusrezeption von Metz befassen, die hier nicht im Einzelnen aufgelistet werden können. In dieser Festschrift für Bloch haben weitere namhafte Theologen, wie Moltmann, Pannenberg und Tillich mitgewirkt. Vgl. Unseld, Siegfried (Hg.): Ernst Bloch zu Ehren. Beiträge zu seinem Werk, Frankfurt a.M. 1965. Die anderen Texte von Metz der Jahre 1964/65 sind Ausarbeitungen des Beitrags Gott vor uns. Im Folgenden werde ich mich nur auf diesen Beitrag beziehen, da dort die wesentlichen Gedanken grundgelegt sind.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

Beitrag tatsächlich kein explizites ›Gottes-Argument‹. Vielmehr formuliert er in Form einer Kaskade von Fragen das Verhältnis von Welt, Mensch, Zukunft und Gott. Es handelt sich um Rückfragen an den Marxismus, wie auch an das Christentum. Schon seit den Anfängen seines Schaffens versucht Metz Welt als Geschichte, das heißt als werdende Welt, zu fassen und dieses Verständnis weiterzuentwickeln. Im Marxismus begegnet er nun einem Akteur, der ebenfalls – und in verschärfter Form – Welt als Geschichte auffasst und der darüber hinaus ein Zukunftsprojekt vorschlägt: die klassenlose Gesellschaft. Die Formulierungen des Marxismus sind deshalb »verschärft«, da in ihnen der Welt- und Geschichtsbegriff wesentlich detaillierter als bei Metz selbst auftritt, aber auch, insofern diese Formulierungen explizit atheistisch angelegt sind. Metz leitet seinen Beitrag mit einer ›Alltagserfahrung‹ der (damaligen) Zeit ein, die vor allem vom Marxismus geprägt sei: »Das ›Jenseits‹ und der Himmel ›über uns‹ scheinen nicht nur verborgen […], sondern entschwunden zu sein. […] Was die Menschen heute zumeist bewegt, was ihre Visionen weckt und füllt, ist nicht so sehr das Engagement am Über-Weltlichen als vielmehr das Engagement am Menschen und – an der Zukunft.«72 Das Jenseits sei kein Thema für die damalige Generation mehr. Stattdessen werde der Fokus auf das politische Engagement im Hinblick auf die Zukunft gelegt. Die Ausrichtung auf die Zukunft scheint dem typischen christlichen Glauben auf das Jenseits entgegenzustehen. Diesen Gegensatz versucht Metz – größtenteils in Frageform – zu widerlegen. Dabei ist zu beachten, dass er dem Marxismus bzw. denjenigen, die eine solche Zukunftsauffassung vertreten, in diesem Beitrag nicht nur das – vermeintlich – größere Wissen der Theologie entgegenhält, sondern, dass er diese neuen Erfahrungen als Herausforderung für die Theologie und das Christentum erachtet, durch die das Christentum sein eigenes Selbstverständnis vertiefen könne.73 Metz formuliert diese doppelte Ausrichtung seiner Überlegungen – gegenüber dem Marxismus und gegenüber dem Christentum – folgendermaßen: »Zeichnet sich in der Umlegung des Jenseits in das Später nicht verzerrt jene Transposition einer geschichtslosen Transzendenzorientierung in eine geschichtlich engagierte Zukunftsorientierung ab, die in der biblischen Botschaft selbst angebahnt ist und mit der diese Botschaft gerade alle Philosophien und Mythologien ihrer griechischen Umwelt in Frage stellte? Was an dieser Wende vom Jenseits in das Später, die sich im Marxismus sofort antitheologisch formulierte, theologisch besticht, ist die Emphase für eine gezielte Zukunft, das verborgene Pathos für das Absolute als einer geschichtlich zukommenden Wirklichkeit und die in all dem enthaltene Absage an den verschleierten Kult der Absurdität in unserem Geschichtsdenken. Muss sich angesichts dieser Wende theologisch nicht zusammenführen lassen, was lange unheilvoll im theologischen Be-

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JBMGS 3.2. (Gott vor uns), 61. In diesem Sinne versteht Metz überhaupt interdisziplinäres Arbeiten: In der Vertiefung des Selbstverständnisses der Theologie bzw. des Christentums sowie in einem jeweils kritischen Beitrag der Theologie für die jeweilige Wissenschaft. Vgl. dazu auch den Projektentwurf (1971/72) für die interdisziplinäre Forschungseinrichtung, an dem auch die Theologie beteiligt sein sollte, in: JBMGS 6.2., 97–117.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

wusstsein auseinandergetreten war, nämlich Transzendenz und Zukunft in der von der biblischen Botschaft selbst geforderten Zukunftsorientierung des Gottesglaubens?«74 Die Spitze gegenüber dem Marxismus ist seiner Säkularisierungsthese entnommen. Die Zukunftsorientierung des Marxismus sei im Wesentlichen eine Reformulierung der christlichen Transzendenzorientierung. Das, was im Christentum bisher als transzendentes Jenseits aufgefasst wurde, sei nun in die transzendente Zukunft gelegt worden. Folglich entspringe die marxistische Auffassung letztendlich dem Christentum. Über seine frühe Mythologiekritik gegenüber der griechischen Umwelt habe das Christentum sogar lange vor dem Marxismus einen wichtigen Teil seines – des Marxismus – Geschäfts praktiziert. Gleichzeitig erkennt Metz sehr deutlich die Errungenschaft des Marxismus, die Zukunftsorientierung (wieder) ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, an. Die Zukunft, die Metz zufolge im Christentum geglaubt und erhofft werde, sei jedoch nicht diejenige der klassenlosen Gesellschaft, sondern die Hoffnung auf die »Ankunft des größeren Geheimnisses Gottes«75 , auf den »Deus semper major«76 . Deshalb könne von einem »Gott vor uns« gesprochen werden. Erst ein solcher Glaube und eine solche Hoffnung bewahre davor, das Handeln der Menschen zu verabsolutieren und sich im Jetzt für die Zukunft zu opfern. Metz’ Rede vom Deus semper major kann deshalb als wesentliche Fortschrittskritik interpretiert werden. Im zweiten Kapitel von Zur Theologie der Welt nennt Metz dieses Zukunftsverständnis auch eine »kritische Eschatologie«, in der christliche Hoffnung und »irdischer Einsatz« zusammenfänden.77 Dieser Gedanke der kritischen Eschatologie wird wenig später von Metz in den Begriff des eschatologischen Vorbehalts überführt.78 Mit der Zukunftsorientierung, der sich Metz ab 1964/65 zuwendet, verliert auch die Ontologie, in deren Horizont er seine bisherige Theologie formulierte, ihren Stellenwert. Der Exkurs 2 Über die Verborgenheit des Zukunftsproblems in der Metaphysik in Zur Theologie der Welt kann als ein Abschied von der Ontologie interpretiert werden, insofern Metz der Metaphysik das gleiche Zeugnis hinsichtlich des Zukunftsbegriffs ausstellt, wie der Theologie: Er fehle. »Der Verlust an Eschatologie in der Theologie geht Hand in Hand mit der Verborgenheit der Zukunft in jener Philosophie, die auf die begriffliche Entfaltung der Theologie großen Einfluss gewonnen hat: der Seinsmetaphysik, ob sie nun objektivistisch entfaltet wird (wie in der Scholastik) oder – seit Kant – als transzendentale oder personale oder existentiale Metaphysik.«79 74 75 76 77 78

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JBMGS 3.2. (Gott vor uns), 64. Ebd., 68. Ebd., 70. JBMGS 1 (Kirche und Welt im eschatologischen Horizont), 89. Metz spricht hier auch von einer »theologia negativa der Zukunft« (90). JBMGS 1 (Kirche und Welt im Lichte einer »Politischen Theologie«), 101–116, hier 107 sowie: JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 105–115. Mičkovic spricht treffend von einer »eschatologische[n] Wende« bei Metz, die den Übergang von einer geschichtslosen Geschichtlichkeit zur Geschichte und zur Zukunft markiert, Mičkovic: Den Widerspruch denken, 28f. JBMGS 1 (Über die Verborgenheit des Zukunftsproblems in der Metaphysik), 92–94, hier 92.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

Die Metaphysik teile das gleiche Desiderat wie die Theologie hinsichtlich des Zukunftsproblems, obgleich es ihr nicht an der Kategorie der Geschichtlichkeit fehle. Unter den genannten Varianten der transzendentalen, personalen oder existentialen Metaphysik, lässt sich auch diejenige, die Metz in seiner eigenen Theologie stark beeinflusst hat, wiederfinden. Das Problem der Metaphysik sei, dass sie Zukunft höchstens »als Korrelat der Gegenwart« auffassen könne, nicht aber als etwas Neues, Unbekanntes. Ein Zugang zum Neuen der Zukunft sei überhaupt nicht auf dem Weg einer »betrachtenden« Metaphysik möglich, sondern nur im Handeln, wie es Marx in der elften These über Feuerbach pointiert habe: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.«80 Damit werde Theorie allerdings nicht obsolet, sie müsse jedoch »handlungsbezogen«81 sein. Im Exkurs 2 wird eine so aufgefasste handlungsbezogene Theorie noch nicht vorgestellt, sondern als Forderung postuliert. Diese Forderung lässt die metzsche Theologie von einer transzendentalen, ontologischen zu einer politischen, gesellschaftstheoretisch reflektierten übergehen.

4.1.5 Welt als Gesellschaft In der Auseinandersetzung mit dem Marxismus gewinnen viele der bereits von Metz verwendeten Begriffe deutlichere Konturen, ebenso treten neue Begriffe hinzu und neue Begriffskonstellationen entstehen. Die Begriffe Welt und Geschichte begleiten Metz seit seinen frühen Studien zu Heidegger und bereits damals setzte er sich schon kritisch von Heidegger ab. Innerhalb des ontologischen Rahmens, das heißt innerhalb der Seinsanalyse, in der das Verhältnis von Sein, Dasein und absolutem Sein thematisiert wurde, versuchte Metz die Begriffe, die er als zu statisch wahrnahm, als dynamische auszulegen. Das galt, wie bereits gezeigt, insbesondere für den Begriff der Geschichtlichkeit, den er als offene Geschichte weiterentwickelte. Im Dialog mit dem Marxismus, das heißt zunächst mit Roger Garaudy, Ernst Bloch und Milan Machovec wurde dann Geschichte im Hinblick auf Zukunft und theologisch als Eschatologie betrachtet. Eine weitere Begriffsentwicklung, die von zentraler Bedeutung für Metz’ spätere Theologie geworden ist, ist diejenige von Welt zu Gesellschaft. Im zweiten Kapitel von Zur Theologie der Welt führt Metz diese Begriffsverschiebung bzw. -entwicklung ein: »Denn wohl ist der Glaube nicht in einem kosmologischen, aber in einem gesellschaftlich-›politischen‹ Sinne weltbezogen. Die Theologie der Welt ist daher weder rein objektivistische Theologie des Kosmos, noch rein transzendentale Theologie der Person und Existenz, sondern vor allem ›politische Theologie‹. Die schöpferisch-kritische Hoffnung, von der sie geleitet ist, bezieht sich nämlich wesentlich auf die Welt als Gesellschaft und auf die weltverändernden Kräfte in ihr. Sie muss sich mit den großen politisch-sozial-technischen Utopien kritisch auseinandersetzen, mit den aus der modernen Gesellschaft reifenden Verheißungen einer universalen Humanisierung der Welt.«82

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Zitiert nach ebd., 94. Ebd., 94. JBMGS 1 (Kirche und Welt im eschatologischen Horizont), 89f.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Um die Abgrenzung von einem kosmologischen Weltverständnis bemüht sich Metz bereits seit Christliche Anthropozentrik. Dort setzte er dem Kosmozentrismus eine christliche Anthropozentrik entgegen. Hier nun entwickelt er die Anthropozentrik zu einer Fokussierung auf Gesellschaft weiter.83 Im Sinne der Kosmozentrik und der Anthropozentrik liegt die Vermutung nahe, nun auch von einer Soziozentrik sprechen zu können,84 doch würde darin der Einzelne gegenüber der Gesellschaft zu stark seine individuelle Bedeutung verlieren, die bei Metz bleibend vorhanden ist. Gesellschaft, wie auch Theologie, werden in diesem Aufsatz das erste Mal mit dem Adjektiv »politisch« ergänzt. Metz scheint hier das Politische auf die »weltverändernden Kräfte« in der Gesellschaft zu beziehen. Mit der Interpretation von Welt als Gesellschaft legt Metz einerseits den Fokus auf die Veränderbarkeit, Entwicklung und Gestaltbarkeit von Welt, andererseits zeichnen sich erste empirische Konturen des Weltbegriffs ab: Die Welt als Gesellschaft hat politische, soziale und technische Dimensionen. Das Interesse, Gesellschaft deutlicher zu fassen, begründet Metz mit dem Hinweis, dass es in der Bibel nicht nur um den Einzelnen gehe, sondern dass ebenfalls von einem Bundesgeschehen berichtet werde. Dieses Bundesgeschehen müsse auch heute wieder in den Blick geraten.85 Im dritten Kapitel Kirche und Welt im Lichte einer »Politischen Theologie«86 in Zur Theologie der Welt, das zu zahlreichen Diskussionen geführt hat87 und oftmals als Programmschrift der Neuen Politischen Theologie aufgefasst wurde und wird, ergänzt Metz zu den drei Dimensionen (politisch, sozial, technisch), die Privatisierungstendenz, die Öffentlichkeit, Institutionen (inklusive der Kirche als Institution), die Ökonomie, Ideologien, Medien und soziale Kommunikation.88 Metz sieht sich herausgefordert, Welt als Gesellschaft immer detaillierter und umfassender zu begreifen und darin gleichzeitig die theo83

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Metz’ Konkretisierung des Weltbegriffs dürfte dem Übergang vom metaphysischen zum nachmetaphysischen Denken hinsichtlich des Weltbegriffs entsprechen, wie ihn Jürgen Habermas deklarierte. Das metaphysische Denken formiere ein »Weltbild«. »Das nachmetaphysische Denken operiert mit einem anderen Begriff von Welt.« Habermas: Nachmetaphysisches Denken, 46f. Und ausführlich: Habermas, Jürgen: Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 2. Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin 2019, 213–589. Der Begriff des Soziozentrismus findet sich beispielsweise bei Emile Durkheim, der damit die Tatsache, dass die Gesellschaft bzw. das Kollektiv dem Individuum vorgelagert ist, bezeichnet. Durkheim, Emile: Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, hgg. von Hans Joas, Frankfurt a.M. 1987, 254. JBMGS 1 (Kirche und Welt im eschatologischen Horizont), 90. JBMGS 1 (Kirche und Welt im Lichte einer »Politischen Theologie«), 101–145. Peukert, Helmut (Hg.): Diskussion zur »politischen Theologie«, Mainz/München 1969. Meines Erachtens liegt genau darin die Eigenheit und theoretische Stärke der Neuen Politischen Theologie, dass sie grundsätzlich philosophische und sozialwissenschaftliche (auch empirische) Begriffe und Erkenntnisse in ihre Theologie aufnimmt. Erst durch diese Verbindung gelingt die kritische Dimension der Theorie. Metz scheint in seinen späteren Schriften seit den 1990er Jahren der sozialwissenschaftlichen Vermittlung allerdings eine geringere Bedeutung einzuräumen. In der Rezeption sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse liegt ein zentraler Unterschied der Neuen Politischen Theologie von Metz und dem grundsätzlich überzeugenden aktuellen Entwurf einer praktischen Metaphysik von Saskia Wendel. Vgl. Wendel, Saskia: In praktischer Hinsicht das Leben als Ganzes deuten. Ein Vorschlag zum Redigieren der Metaphysik, in: Dies./Breul, Martin: Vernünftig glauben, begründet hoffen. Praktische Metaphysik als Denkform rationaler Theologie, Freiburg i.Br. 2020, 17–155.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

logische Relevanz – für Theologie und Kirche sowie für die jeweiligen Wissenschaften – herauszuarbeiten.89 In einem Programmentwurf für das theologische Institut an der Reformuniversität Bielefeld, das ökumenisch und interdisziplinär ausgerichtet werden sollte, zeichnet Metz deutliche Konturen eines Forschungsplans zur Erarbeitung eines kritischen Gesellschaftsbegriffs und seines Verständnisses von der Rezeption anderer Wissenschaften.90 Metz formuliert das Verhältnis zu den anderen Wissenschaften folgendermaßen: »Die angestrebte Interdisziplinarität der Theologie durchbricht das übliche Verhältnis der Theologie zu den Einzelwissenschaften, das hauptsächlich darin besteht, dass einzelwissenschaftliche Methoden einfach innertheologisch reproduziert und ›angewandt‹ werden. Das wiederum unterstützt ja den Eindruck, als würde die Theologie nur aus geborgter Wissenschaftlichkeit leben, als würde sie ausschließlich bestehende wissenschaftliche Verfahren in Bezug auf den Glauben verdoppeln (wie das H. Schelsky einmal ausdrückte) und als wäre der Fortschritt in der Theologie, soweit er überhaupt wissenschaftlich darstellbar ist, nur der Reflex eines bereits vollzogenen Fortschritts in anderen Fächern.«91 Metz bemüht sich um eine Verhältnisbestimmung von Theologie und anderen Wissenschaften, in der die jeweilige Wissenschaft inklusive der Theologie ihr eigenes Existenzrecht behalten könne. Interdisziplinarität zielt hier nicht auf eine bloße Informiertheit der Theologie ab, sondern darauf, aus anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen Neues über den ›eigenen‹ Glauben zu erfahren. Metz weitet hier seine Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie bzw. Metaphysik und Theologie auf andere Wissenschaften aus. Die Theologie müsse »ständig eine Art kognitiver Fremdbestimmung bei sich haben«92 . Das Ergebnis einer solchen Interdisziplinarität wäre beispielsweise die Wiedergewinnung der Eschatologie durch den Begriff der Zukunft, wie er im Marxismus begegnete, oder auch – ein Thema, das Metz vor allem in den 1970er Jahren beschäftigt – die Wiedergewinnung des Bundesgedankens und der Solidarität durch den Begriff der Entpri-

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Metz rezipiert Studien von Horkheimer, Adorno, Marcuse, Habermas, Benjamin, Bloch, Schelsky, Picht, Gehlen, Lübbe, und vielen weiteren. Systematisch setzt sich vor allem Helmut Peukert mit einem Gesellschaftsbegriff, der deutlich von der frühen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule geprägt ist, für die Neue Politische Theologie auseinander. Peukert, Helmut: Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Fundamentaltheologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Frankfurt a.M. 2 2009, bes. 55–71. Ansgar Kreutzer entwickelt im Anschluss an Metz einen weniger systematischen, aber divers informierten Gesellschaftsbegriff: Kreutzer: Politische Theologie für heute. Vgl. auch meinen eigenen Beitrag Geitzhaus, Philipp: Karl Marx grüßt die Politische Theologie. Zur Kritik der neuesten politischen Theologie, in: Ethik und Gesellschaft. Ökumenische Zeitschrift für Sozialethik 1/2018: »…auf den Schultern von Karl Marx. JBMGS 6.2. (Erste Orientierungen anhand eines konkreten Projekts), 97–117, hier 104. Dazu: Peters: Johann Baptist Metz, 83–93. Peters weist darauf hin, dass das theologische Institut an der Universität Bielefeld letztendlich aufgrund seiner ökumenischen Ausrichtung seitens der katholischen Kirche verhindert wurde (90). JBMGS 6.2. (Erste Orientierungen anhand eines konkreten Projekts), 104. Ebd., 112.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

vatisierung bzw. des Politischen. Die inhaltlich bedeutendste »Fremdbestimmung« für die Theologie von Metz dürfte durch den Ort Auschwitz geschehen sein.93 Wenn Metz davon spricht, dass die Theologie durch die Fremdbestimmungen ihre Eigenständigkeit behalte und sich ihres Selbstverständnisses vergewissere, ist damit nicht gemeint, dass es eine feste Identität ›der‹ Theologie gäbe, die immer wieder auf unterschiedliche Weise abgerufen werden könnte. Formulierungen, wie »Neue Politische Theologie«, »Theologie nach Auschwitz« oder weitere, lassen Metz zufolge die Theologie selbst nicht unberührt, sondern verändern sie.94 Nicht immer dürfen oder müssen die von Metz eingeführten Charakterisierungen der Theologie als ›Wenden‹ oder ›Brüche‹ interpretiert werden, wie es für die Wende vom kosmozentrischen zum anthropozentrischen Denken – Metz zufolge – gelte. Viele, der späteren Charakterisierungen können eher als Konkretisierungen des Begriffs der »Neuen Politischen Theologie« verstanden werden, die Metz – in der Regel indirekt – seiner früheren transzendentalen Theologie gegenüberstellt. In Christliche Anthropozentrik definierte er seine Theologie noch als eine »begrifflich geklärt[e] und reflex strukturiert[e] Heilslehre«95 . Fremdbestimmungen waren zwar damals schon für Metz von zentraler Bedeutung. Sie waren aber noch nicht in seinen Theologiebegriff selbst eingedrungen. Ab 1965 ändert sich das: »Theologia negativa der Zukunft«96 , »Theologie als Apologie«97 , »Theologie nach Auschwitz«98 , »dialektische Theologie«99 sind Formulierungen, die alle das Anliegen der Neuen Politischen Theologie sowie ihre innere Struktur zu charakterisieren – genauer: immer wieder neu zu bestimmen – versuchen.

4.2 Nachidealistische Theologie Im vorherigen Kapitel habe ich den Weg von einer ontologisch geprägten Transzendentaltheologie zu einer politischen Theologie der Welt bei Metz nachvollzogen. Wichtig war es mir, die einzelnen Schritte, die Metz auf diesem Weg beschreitet, zu verdeutlichen. Metz löst sich von der Transzendentaltheologie nicht durch eine Kritik, die er durch die Rezeption der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule erarbeitet hätte. Vielmehr löst er sich von dieser durch eine immanente Weiterentwicklung der Transzendentaltheologie – oder besser: er löst sich aus dieser heraus.100 Metz geht Schritt für Schritt vom VerVgl. die Beiträge unter VI. Auschwitz: Unverzichtbarer Ortstermin der Gottesrede in: JBMGS 6.2., 267–295. 94 Selbstverständlich bleibt für Metz das Ziel bestehen, eine christlich-katholische Theologie in jeweils anderer Form beizubehalten. 95 JBMGS 2, 41. 96 JBMGS 1 (Zur Theologie der Welt [1967]), 90. 97 JBMGS 3.2. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft [1977]), 25. Hier spricht Metz von der »Apologie einer Hoffnung«. 98 JBMGS 1 (Jenseits bürgerlicher Religion [1980]), 172. 99 JBMGS 3.2. (Zweierlei politische Theologie [2011]), 274. 100 Ich folge hier Metz eigener Aussage: »Diese kritischen Fragen gegenüber Karl Rahner wollen nicht leugnen, dass ich das Beste meiner eigenen theologischen Arbeit ihm verdanke, dass ich ohne ihn gar nicht ›meine‹ Fragen an ihn stellen könnte.« JBMGS 3.2. (Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie), 125–142, hier 128. 93

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

hältnis Sein-Dasein und Sein-Dasein-absolutes Sein, über Dasein-Welt, Welt-Geschichte, Geschichte-Zukunft, Welt-Geschichte-Gesellschaft zum Verhältnis von konkreter Gesellschaft und dem »Gott vor uns«. Dieser Loslösungsprozess führt Metz zum Dialog mit einigen Vertretern des Marxismus und der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, über die seine Theologie zu einer politischen – zur Neuen Politischen – Theologie wurde.101 In den 1980er Jahren (1985) beginnt Metz seinen Ansatz der Neuen Politischen Theologie als »nachidealistische Theologie«102 zu charakterisieren. Mit der Kennzeichnung »nachidealistisch« nimmt Metz abgrenzend Bezug auf das »neuscholastische Paradigma« und das »transzendental-idealistische Paradigma«.103 Die nachidealistische Theologie versteht Metz ebenfalls als ein Paradigma. Im Folgenden werde ich die Neue Politische Theologie unter dem Paradigma der nachidealistischen Theologie darstellen. Mir geht es dabei weniger um bestimmte Themen, die Metz erarbeitet hat, sondern um einige Momente in seiner Theologie, in denen er sich von einem idealistischen Denken unterscheidet. Genauer: Es geht um seine Kritik am idealistischen Denken, das hier vor allem theologisches und philosophisches Denken meint. Im Unterschied zur genetischen – und mehr oder weniger chronologischen – Rekonstruktion der Neuen Politischen Theologie thematisiere ich jetzt die Kritik an ›idealistischen‹ Ansätzen bzw. Denkformen, auf Grundlage der Neuen Politischen Theologie.104 Die zahlreichen Forschungsarbeiten105 zu dieser Thematik erlauben es

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Einige einschlägige Studien zur Theologie von Metz legen ihren Schwerpunkt auf das Programm Neue Politische Theologie von Metz (oder bestimmte Aspekte von ihr) und betrachten seine Studien vor 1965 aus der Perspektive der Studien nach 1965. Damit werden seine frühen Abhandlungen in der Regel als Vorläufer gesehen. Ruz beispielsweise nennt die Zeit vor 1965 »La teología pre-política«, Ruz: Nueva teología política, 33. Vgl. auch Peukert: Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Fundamentaltheologie, 47–71; Füssel: Sprache, Religion, Ideologie, 168–222. Ich habe hier eine Rekonstruktion der Neuen Politischen Theologie von Metz vorgeschlagen, die sich inhaltlich an der Auseinandersetzung mit der Ontologie bzw. Metaphysik Heideggers orientiert und sich Schritt für Schritt aus der Transzentaltheologie heraus entwickelt. Damit möchte ich die Bedeutung des »Bruchs« von 1965 bei Metz nicht relativieren, sondern lediglich aufzeigen, dass sich seine frühen Arbeiten retrospektiv betrachtet konsequent auf diesen Bruch hin entwickeln. Ähnlich Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz; Bauer: Christliche Hoffnung und menschlicher Fortschritt. JBMGS 3.2. (Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie). Metz weist in diesem Artikel darauf hin, dass er bereits in Glaube in Geschichte und Gesellschaft davon sprach, Theologie »jenseits des Idealismus« zu treiben. JBMGS 3.2., 127 bzw. JBMGS 3.1., 75. JBMGS 3.2. (Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie), 126f. Hervorhebung im Original. Die Formulierung »Grundlage« ist insofern ungenau, als dass es kein Fundament im engeren Sinne der Neuen Politischen Theologie von Metz gibt. Vielmehr besteht ihr Charakter in weiten Teilen in der Kritik an ›idealistischen‹ Ansätzen. Das heißt, diese Kritik zeichnet sie (mitunter) als nachidealistisch aus. Studien zu Metz, die den nachidealistischen Charakter explizit oder auch implizit (z.B. im Hinblick auf Metz’ Modernekritik) analysieren, sind: Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz; Bauer: Christliche Hoffnung und menschlicher Fortschritt; Mičkovic: Den Widerspruch denken; Peters, Tiemo Rainer: Mystik, Mythos, Metaphysik, Mainz/München 1992; Peters, Tiemo Rainer: Mehr als das Ganze, Ostfildern 2008; Peukert: Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Fundamentaltheologie; Ruz: Nueva teología política, Spülbeck: Neomarxismus und Theologie.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

mir, mich sehr knapp auf bestimmte Aspekte zu konzentrieren, ohne eine vollständige Darstellung der Neuen Politischen Theologie als nachidealistische Theologie106 leisten zu müssen.

4.2.1 Nachidealistische Theologie als Vernunftkritik Der Begriff des Nachidealistischen bezieht sich im Wesentlichen auf die Annahme, dass es etwas vor oder außerhalb der Vernunft gebe, ja, dass Vernunft als solche sogar negiert werde.107 Philosophiegeschichtlich lässt sich der Beginn des Nachidealismus mit der beginnenden Kritik an Hegels absoluter Vernunft bzw. absolutem System, das alles integriert und kein außerhalb seiner selbst kennt, ansetzen. Zu den philosophischen Vertretern eines nachidealistischen Denkens und einer Kritik am Idealismus (vor allem Hegels) gehören nach Schelling108 , der den Übergang vom Idealismus zum Nachidealismus markiert, Feuerbach, Marx/Engels, Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche. Von ihnen nehmen die meisten nachidealistischen Ansätze des 20. und 21. Jahrhunderts (u.a. Heidegger, Adorno, Derrida) explizit und implizit ihren Ausgangspunkt. Metz’ Formulierung einer nachidealistischen Theologie ist nicht in erster Linie als eine Kritik an Hegels Konzept einer absoluten Vernunft gerichtet, aber dennoch als Vernunftkritik, wie sie vor allem in der neuscholastischen und der transzendental-idealistischen Theologie zu finden sei, konzipiert. Beide theologischen Paradigmen, denen Metz weiterhin große Bedeutung zuschreibt, seien nicht in der Lage, auf bestimmte Krisen der Moderne adäquat zu reagieren. Metz nennt drei zentrale Krisen: 1. »Die marxistische Herausforderung« hinsichtlich des Geschichtsbegriffs, 2. »Die Herausforderung der Katastrophe von Auschwitz« hinsichtlich des subjektlosen Systemgedankens und 3. »Die Herausforderung der Dritten Welt«, die die Theologie mit ihrem Eurozentrismus konfrontiere.109

106 Der nachidealistische Charakter der Neuen Politischen Theologie wurde auch auf andere Weise fortgeführt. Einmal in der materialistischen Theologie von Kuno Füssel und dann in der Politischen Theologie »nach« der Postmoderne von Ulrich Engel. Vgl. Füssel: Sprache, Religion, Ideologie; Füssel, Kuno: Die bürgerliche Gefangenschaft der Theologie, in: Ders.: Gesammelte Schriften 5, 79–99; Engel: Politische Theologie »nach« der Postmoderne. 107 Christian Iber schreibt in seiner Studie zu Schelling: »In der nachidealistischen Philosophie kommt es zur Ausbildung von philosophischen Konzeptionen, die die Vernunft nicht nur auf ihr Anderes hin überschreiten, sondern Vernunft als solche negieren.« Iber, Christian: Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip. Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos, Berlin/New York 1994,10. 108 Zur ambivalenten Vernunftkritik Schellings schreibt Gunnar Hindrichs: »Schellings Kränkung der Hegelschen Vernunft weiß sich vielmehr als deren Vollendung. Die Vollendung liegt in folgendem Dreischritt: Als absolute Reflexion durchdenkt das Denken sich in all seinen Bedingungen; nun aber sieht es, daß die Bedingung seiner Faktizität seinem Zugriff entzogen ist, weil sie bei jedem Zugriff ja schon vorausgesetzt wird; das Denken durchdenkt sich also erst dann vollends, wenn es das ›unvordenkliche Sein‹, daß es voraussetzt, in seiner Unvordenklichkeit mit denkt. So gelangt die absolute Reflexion gerade dadurch, daß die Absolutheit des Denkens durch das unvordenkliche Sein beleidigt wird, zu ihrem Abschluß.« Hindrichs: Das Absolute und das Subjekt, 139–145, hier 140. 109 JBMGS 3.2. (Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie),127.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

Metz nimmt im Marxismus zwei Herausforderungen für die Theologie wahr. Die erste sei die der Wahrheitsfrage, die zweite diejenige der Geschichte. Er interpretiert die marxistische Wahrheitsfrage als die Thematisierung des Verhältnisses von Erkenntnis und Interesse: »Nach Marx ist jede Erkenntnis interessebedingt […].«110 Damit sei auch jede Wahrheitsaussage von bestimmten Interessen abhängig. Die Herausforderung für das nachidealistische Denken, das weiterhin am Wahrheitsbegriff festhalten möchte – also die Theologie –, bestehe nun darin, Interessen zu entwickeln, die »wahrheitsfähig« seien. Solche seien universalisierbare Interessen. Diese könnten einerseits Geltung für alle beanspruchen, andererseits einem Wahrheitsverständnis, das ebenfalls auf universaler Geltung aufbaue, standhalten.111 Das universalisierbare Interesse sei der biblisch fundierte »›Hunger und Durst nach Gerechtigkeit‹, Gerechtigkeit für alle, für Lebende und Tote, für gegenwärtige und vergangene Leiden«112 . Auf diese Weise sei Wahrheit im nachidealistischen Sinne auch nicht rein begrifflich strukturiert, sondern notwendig an die Realisierung von Gerechtigkeit geknüpft. Der Logos bzw. die Vernunft müsse so ein Außerhalb ihrer selbst akzeptieren.113 Die zweite Herausforderung des Marxismus bestehe Metz zufolge in der »Entdeckung der Welt als Geschichte«114 . Die Herausforderung zeige sich darin, dass der Marxismus nur eine einzige Geschichte kenne und nicht zwischen einer Profan- und einer Heilsgeschichte unterscheide. Das nachidealistische Paradigma der Theologie müsse diese Herausforderung ernst nehmen, indem sie ebenfalls nur eine Geschichte akzeptiere. »Es gibt nicht eigentlich eine Weltgeschichte und ›daneben‹ oder ›darüber‹ eine Heilsgeschichte, sondern die Heilsgeschichte, von der die christliche Theologie spricht, ist jene Weltgeschichte, die von einer ständig bedrohten und umstrittenen, aber unzerstörbaren Hoffnung auf universale Gerechtigkeit, also auf Gerechtigkeit für die Toten und ihre vergangenen Leiden, geprägt ist: jene Weltgeschichte, in der es auch eine Hoffnung für die vergangenen Leiden gibt.«115 Metz hatte die Unterscheidung von einer Weltgeschichte und einer Heilsgeschichte bereits an anderer Stelle verworfen, indem er die Zukunft und die Eschatologie als theologische Kategorien in sein Denken aufnahm. In diesem Sinne müsse christlich nicht von einem Gott über uns, sondern von einem Gott vor uns ausgegangen werden. Jetzt wird die

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Ebd., 130. Ebd., 131. »Wahrheitsfähig können Interessen nur dann sein, wenn sie universal bzw. universalisierbar sind, d.h. wenn sie auf alle Menschen bezogen bzw. beziehbar sind. Denn Wahrheit ist entweder Wahrheit für alle, oder sie ist überhaupt nicht.« Metz’ Verknüpfung von Erkenntnis und Interesse scheint im Unterschied zu Marx intentional und nicht als ›Struktureffekt‹ gedacht zu sein. Ebd., 132. Metz’ Wahrheitsverständnis ist deutlich an jenes von Adorno in der Negativen Dialektik geknüpft. Vgl. die Beiträge zur Nichtidentität in Reikerstorfer, Johann (Hg.): Vom Wagnis der Nichtidentität. Johann Baptist Metz zu ehren, Münster 1998. JBMGS 3.2. (Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie), 132. Es ist auffällig, dass Metz das Verständnis von Welt als Geschichte dem Marxismus zuschreibt, ohne hier seine eigenen Überlegungen aus Christliche Anthropozentrik (JBMGS 2) zu nennen. Ebd., 133.

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eschatologische Hoffnung jedoch noch wesentlich stärker mit dem universalisierbaren Interesse nach Gerechtigkeit verknüpft als noch in Gott vor uns (1965). Die Erkenntnis, dass es nur eine Geschichte gebe und dass Theologie das Außerhalb ihres Logos als Wahrheitskriterium wahrnehmen müsse, führt Metz zu den konkreten Katastrophen der Geschichte: Auschwitz. »Auschwitz kennzeichnet hier die Krise der sogenannten Moderne, vor allem aber eine theologische Krise.«116 Geschichte als Vergangenheit und als Zukunft zu denken, darf nicht bedeuten, sie als Fortschrittsgeschichte zu deuten. Im Gegenteil: Es gelte ihre katastrophische Struktur zu sehen. Eine nachidealistische Theologie müsse deshalb »eine Erinnerung wagen, die nicht nur das Gelungene, sondern das Zerstörte, nicht nur das Verwirklichte, sondern das Verlorene erinnert und die sich so – als gefährliche Erinnerung – gegen die Identifizierung von Sinn und Wahrheit mit der Sieghaftigkeit des Gewordenen und Bestehenden wendet.«117 Mit dieser Hinwendung zum katastrophischen Charakter der Geschichte wird aber auch der Geschichtsbegriff selbst noch einmal der Kritik unterzogen. Die Katastrophen seien konkrete und bestimmte Katastrophen und deshalb auch konkrete Leidensgeschichte, die nicht einfach in der einen Geschichte auf- oder gar untergehen könnten und dürften. Die dritte Herausforderung der (damals – und heute auch) gegenwärtigen Theologie sei die Herausforderung der sogenannten Dritten Welt. Metz formuliert diese Herausforderung vor allem als eine kirchliche und damit eine, die die typische Arbeitsteilung der Kirche in Frage stelle. Die Tatsache, dass die Kirche »immer mehr eine Dritte-Welt-Kirche« sei, verlange auch veränderte theologische Kategorien: »Sie [die ungerechten Verhältnisse, P.A.] verlangen die Formulierung des Glaubens in Kategorien des leidensbereiten Widerstands und der Veränderung.«118 Für eine nachidealistische Theologie bedeute das, das Verhältnis von Erlösung und Befreiung, welches die Theologie der Befreiung anspricht, als Einheit zu denken. Auch wenn Metz’ Charakteristika der nachidealistischen Theologie nicht explizit gegen Hegels absolute Vernunft gerichtet sind, wird doch vor allem seine Fokussierung auf das Nicht-Identische, das nicht bereits in die Vernunft (bzw. das System) integriert ist und gar nicht integriert werden kann, deutlich. Die nachidealistische theologische Vernunft – Metz spricht in der Regel vom Logos – sucht das Andere ihrer selbst, ohne es zu integrieren, sondern um sich selbst zu begrenzen.119 Damit steht Metz in deutlicher Nähe zu dem nachidealistischen Denken, das die Vernunft durch ihre Selbstkritik hindurchzuretten versucht (Marx, Horkheimer, Adorno, Marcuse), statt demjenigen, das letztendlich auf die Destruktion der Vernunft aus ist (Schopenhauer, Nietzsche).120 116

Ebd., 135. »Auschwitz als Herausforderung, das heißt auch: Diese Katastrophe sollte uns darauf aufmerksam machen, dass es einen Schrecken jenseits der Theologie gibt, einen Schrecken, der alle vertrauten theologischen Versöhnungsversuche bricht.« Ebd., 138. 117 Ebd., 136. 118 Ebd., 138f. 119 Vgl. Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz, 188–192. 120 In der metzschen Vernunftkritik lassen sich wiederum zwei grundsätzliche Richtungen erkennen. Die eine ist an dem Konzept der anamnetischen – der eingedenkenden – Vernunft orientiert, die ins-besondere die Katastrophe von Auschwitz als nicht vernünftig einholbares Geschehen wahrzunehmen versucht. Vgl. dazu Mičkovic: Den Widerspruch denken, 163–201; Peters: Mehr

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

4.2.2 Die Kritik am Totalitätsbegriff Das nachidealistische Denken zeichnete sich seit ihren Anfängen durch die Limitierung der Vernunft aus. Weder der Begriff noch ein Begriffssystem seien in der Lage, die »Sache selbst« (Hegel) zu fassen. Die Vernunft, so die Folgerung, könne weder absolut (unbedingt) noch total (allumfassend) sein. Das nachidealistische Denken lässt sich weiterhin als eine grundsätzliche Kritik an jeglicher Absolutheit und jeglicher Totalität auffassen.121 Entsprechendes lässt sich auch für die Neue Politische Theologie von Metz ausmachen. Doch unterscheidet sich die metzsche Theologie an mindestens einer entscheidenden und ebenso offenkundigen Stelle von anderen nachidealistischen Philosophien bzw. Theorien: Sie ist eine Theologie, das heißt – allgemein gesprochen – Rede von Gott. Doch wie ist eine Kritik an Totalität und Absolutheit mit einem Gottesbegriff möglich, die kein Selbstwiderspruch wäre? Metz diskutiert den Totalitätsbegriff122 bzw. den Begriff des Ganzen in zwei Etappen, die auch zeitlich aufeinander folgen. In der ersten Etappe, die ich auf Zur Theologie der Welt und Glaube in Geschichte und Gesellschaft beziehe, zielt Metz auf die Kritik an einem Verständnis von Welt und Geschichte als Totalität sowie an der menschlichen Selbstverwirklichung in einer zukünftigen befreiten Gesellschaft. Diese Kritik zeichnet sich durch die

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als das Ganze, 132–165; Peters: Mystik, Mythos, Metaphysik, 91–100; Zamora, José Antonio: Krise, Kritik, Erinnerung. Ein politisch-theologischer Versuch über das Denken Adornos im Horizont der Krise der Moderne, Münster 1995, 393–464. Die andere Richtung der Vernunftkritik betont stärker den Aspekt der Herrschaftskritik. Vgl. Füssel: Sprache, Religion, Ideologie, 198–222. Die beiden bei Metz sich nicht ausschließenden Richtungen ließen sich möglicherweise vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Richtungen innerhalb der Frankfurter Schule im Hinblick auf die Vernunftkritik betrachten (Dialektik der Aufklärung und Negative Dialektik gegenüber Traditionelle und kritische Theorie und Der eindimensionale Mensch). Vgl. Adorno: Negative Dialektik; Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Band 5, Frankfurt a.M. ³2003; Horkheimer, Max: Kritische und Traditionelle Theorie, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2 2009, 162–225; Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Gesellschaft, München 6 2008. Die Kritik an der Totalität bedeutet natürlich nicht ihr Verschwinden. Insbesondere die marxistische Theorie im Anschluss an Lukács (u.a. Adorno, Horkheimer und Marcuse) bemühen sich, den Charakter des Totalen in der kapitalistischen Gesellschaft aufzuweisen, um diese wiederum als falsche Totalität zu kritisieren. Vgl. dazu Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein; Adorno: Negative Dialektik; Hesse, Heidrun: Vernunft und Selbstbehauptung. Kritische Theorie als Kritik der neuzeitlichen Rationalität, Frankfurt a.M. 1984; Hindrichs: Zur kritischen Theorie; Meyer, Lars: Absoluter Wert und allgemeiner Wille. Zur Selbstbegründung dialektischer Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005; Städtler, Michael: Kritik und System. Erkenntnistheoretische Grundlagen kritischer Theorie. Zur Einleitung, 7–22 sowie Städtler, Michael: System und geschichtliche Praxis. Metaphysik, Erkenntnistheorie und die Frage der Kritik, in: Ders. (Hg.): Kritik und System. Erkenntnistheoretische Grundlagen kritischer Theorie, Springe 2020, 23–41. Im Folgenden gehe ich nur auf Metz’ Umgang mit dem Totalitätsbegriff ein. Der Begriff der Absolutheit (als Unbedingtes) wird von Metz unter dem Aspekt der Freiheit des Menschen und der Freiheit Gottes behandelt. Vgl. dazu JBMGS 2 (Freiheit als philosophisch-theologisches Grenzproblem), 180–208.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Limitierung der Totalität durch Gott aus. Die zweite Etappe ist mit dem Einbruch der Katastrophe von Auschwitz in das metzsche Denken, mit dem die Theodizeefrage für Metz in den Fokus rückt, verbunden. Nun wird der Gottesbegriff selbst auf bestimmte Weise begrenzt. Die zweite Etappe findet in den Schriften von Metz seit den 1980er Jahren, und hinsichtlich der Gottesfrage, in Memoria passionis (2006) ihren Niederschlag. Ančić fasst die Grundannahme des metzschen Ansatzes der ersten Etappe treffend zusammen: »Metz geht davon aus, daß Weltgeschichte nicht nur das Werk des Menschen allein ist, sondern immer auch Heilsgeschichte, die Dimension, in der Gott erfahren und über das Heil oder Unheil des Menschen entschieden wird. Die Geschichte als Ganze steht unter dem eschatologischen Vorbehalt Gottes.«123 Zurecht weist Ančić darauf hin, dass Metz’ Geschichtsbegriff immer auch Heilsgeschichte umfasst. Selbstverständlich geht Metz davon aus, dass es nur eine Geschichte gebe, diese jedoch die Profan- und die Heilsgeschichte meint. Geschichte als zukunftseröffnender Gestaltungsprozess der Welt geschehe somit nicht nur durch den Menschen. Diese stehe vielmehr unter dem eschatologischen Vorbehalt. Das bedeute, dass Gott die »gerechtigkeitsschaffende Macht«124 der Geschichte sei. Wie dies in Zukunft geschehen werde, gehöre nicht in den Erkenntnisbereich der Theologie. Durch die Bibel werde jedoch den Heutigen von dieser gerechtigkeitsschaffenden Macht berichtet. So verbürge die von Gott bewirkte Auferstehung die Hoffnung auf Gerechtigkeit. Metz richtet diesen Ansatz insbesondere gegen solche Vorstellungen, in denen der Mensch sich selbst befreien könne, wie dies im Marxismus anzutreffen ist. Seine Kritik basiert nicht in erster Linie auf dem Offenbarungsgeschehen Gottes, sondern zunächst in einer immanenten Kritik des Emanzipationsdenkens. Emanzipation, die auf Zukunft ausgerichtet sei, würde sich auf dem Rücken der Vergangenen aufbauen und damit ihren Sinn verfehlen. Es handle sich dann nur noch, so Metz, um eine »halbierte« Emanzipation.125 Der zweite Schritt führt Metz zur Bibel, in der Emanzipation als Erlösung für alle, die Lebenden und die Toten gefasst sei. Der Ansatz enthält vor allem eine kritische Spitze gegenüber vielen Spielarten des Marxismus, indem er die Totalität der Emanzipationsgeschichte in Frage stellt. Es handelt sich aber auch um eine Kritik an jeglichen Gesellschafts-, Welt- und Geschichtsauffassungen, die kein Außerhalb kennen. In diesem Sinne ist der Ansatz der ersten Etappe wesentlich herrschaftskritisch orientiert, wie Kuno Füssel treffend hervorhebt.126 Durch das gerechtigkeitsschaffende Wirken Gottes sei, so Metz, weder die Welt (Geschichte, Gesellschaft), noch die Emanzipation als total aufzufassen.

123 Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz, 179. 124 Ebd., 182. 125 JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 137. Halbiert deshalb, weil die Vergangenen nicht in die Emanzipation mit einbezogen werden, da es sich nur um eine zukünftige Emanzipation handelt. 126 »J.B. Metz begründet daher politische Theologie als gesellschaftskritische Theologie vom eschatologischen Charakter der christlichen Botschaft her. Indem er das Herrschaftsmoment des Politischen in den Vordergrund stellt und den Begriff der Herrschaft Gottes als politisch relevante Kategorie einführt, sieht er primär Herrschaftskritik als die politische Dimension der Theologie an.« Füssel: Sprache, Religion, Ideologie, 200.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

Wenn Gott das Subjekt ist, das die Lebenden und die Toten erlöst und damit das Geschichts- wie Emanzipationsdenken limitiert, wird dann nicht doch ein bereits bekanntes statisches Seiendes angenommen, das prinzipiell immer zur Verfügung steht und nur ›hinter der Tür‹ wartet, um einzutreten? Die Frage nach dem Leid in der Welt und nach der Gerechtigkeit für die Leidenden liegt nahe. Warum rettet Gott nicht, wenn er*sie könnte? Mit dem Einbrechen der Katastrophe von Auschwitz in Metz’ Theologie ist auch die Theodizeefrage in ihr Zentrum gerückt: »Wo war Gott in Auschwitz?«127 Metz zielt mit dieser Frage allerdings nicht auf ihre Beantwortung. Sie ist vielmehr eine Problemanzeige, die an Gott selbst gerichtet ist: »Die Antworten der Theologie im strengen Sinn haben nicht eigentlich Problemlösungscharakter (so wie eben Gott nicht einfach als Antwort auf unsere Fragen bestimmt werden kann). […] Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, sie [die Theodizeefrage, P.A.] angeschärft als Rückfrage an Gott zu formulieren und den Begriff einer zeitlich gespannten Erwartung auszuarbeiten, dass, wenn überhaupt, Gott selbst sich an seinem Tag angesichts der Leidensgeschichte ›rechtfertige‹.«128 Die Katastrophe von Auschwitz hat Metz zwar nicht grundsätzlich an Gott zweifeln lassen, aber an der Selbstverständlichkeit seines*ihres Wirkens. Die Theodizeefrage wird von Metz nicht mehr gestellt, um Gott mit dem Leid zu versöhnen, sondern um an Gott die Frage nach seiner (möglicherweise) unterlassenen Hilfeleistung zu richten. Eine Theologie, die ungebrochen von der Verfügbarkeit Gottes spreche, sei, so Metz, letztendlich Mythologie. Die Theologie müsse sich stattdessen mit der »unhintergehbare[n] schmerzliche[n] Dialektik dieses Gottesbildes«129 auseinandersetzen. Metz kann hier auf seine schon früh eingeführte Unterscheidung von Mythos und Christentum zurückgreifen. »Im Mythos vergisst sich die schmerzlich gespannte Frage; er mag deshalb auch therapiegeeigneter, angstberuhigender, vielleicht auch ›kontingenzbewältigender‹ sein als der christliche Glaube.«130 Das Christentum hingegen dürfe, um der Gerechtigkeit der Leidenden willen, keine beruhigende Antwort parat haben, die Gott aus der Verantwortung nehme. Die theologische Herausforderung bestehe vielmehr darin, das biblische »Versprechen der Rettung, gepaart mit dem Versprechen einer universalen Gerechtigkeit, die auch die vergangenen Leiden rettend einschließt«131 , wachzuhalten. Dieses Wachhalten kann sich aber auch angesichts der noch ausstehenden Rettung als Vermissen Gottes artikulieren.132

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Metz erweitert diese Frage noch: »Darum lautet die theologische Frage nach Auschwitz nicht nur: Wo war Gott in Auschwitz? Sie heißt auch: Wo war der Mensch in Auschwitz?« JBMGS 4 (Memoria passionis), 21. 128 Ebd., 22. 129 Ebd., 23. 130 Ebd. 131 Ebd., 29. 132 »Dieses theodizee-sensible Denken, das kein in Leidvergessenheit und Mythenträumen gebettetes Seinsvertrauen kennt, wäre im Logos der Theologie zu beheimaten. Es zielt, analog zum alttestamentlichen Bilderverbot, auf eine Kultur des Vermissens und wäre nun eigentlich das Organon einer Theologie, die – als Theodizee – unser fortgeschrittenstes Bewusstsein mit der in ihm systematisch vergessenen Klage und Anklage des Geschehenen zu konfrontieren sucht.« Ebd., 43.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Metz’ Argument, oder besser: seine Apologie, ist eine schwache Apologie. Sie ist deshalb schwach, weil sie nicht auf einer Mechanik aufbaut, mit der die Erlösung bereits gesichert ist. Doch er insistiert darauf, dass die Erlösung theologisch bereits vor ihrer Realisierung supponiert sein müsste. Der christliche Glaube sei nicht auf Sicherheiten, sondern auf ein biblisches Versprechen, das erhofft und erwartet werden müsse, aufgebaut. Darin besteht die memoria passionis. Metz Glaubensauffassung geht auch nicht einfach von letztlich abstrakten Voraussetzungen gegenüber der konkret erforderten Erlösung aus. Denn es ist gerade die konkrete Erfahrung des konkreten Scheiterns und des Katastrophischen in Auschwitz – und in anderen Momenten der Geschichte –, die keine konkreten Lösungsschritte mehr wahrnehmen kann. Es wäre eine Pseudo-Konkretheit bzw. eine schlechte Abstraktion, wenn nach diesem Scheitern an einer ungebrochenen Emanzipation festgehalten würde. Ottmar John fasst die Unterscheidung von konkreter und abstrakter Hoffnung bzw. Kritik treffend zusammen: »In einer marxistischen Religionskritik ist unterschieden zwischen konkreter und abstrakter Negation der bestehenden Welt. Mit dem Argument, daß es ja konkrete Kämpfe gegen die Klassengesellschaft gibt und in der Realität der Kämpfe die Macht einer besseren Zukunft vorhanden sei, wird eine Weltverneinung aus dem Glauben als abstrakt kennzeichenbar. Wie verhält es sich jedoch, wenn die entscheidende Voraussetzung dieser Kritik, die Fortschrittsdialektik, nicht mehr plausibel ist; wenn zwar die Kämpfe der Unterdrückten stattfinden, aber ihre Niederlage längst plausibler, weil unendliche Male post Marx historisch real erlitten [sic!], denn ihre Macht, Geschichte zu machen?«133 Für John ist die Hoffnung auf die von Gott zugesagte Rettung keine abstrakte Hoffnung, die aus der Verzweiflung entstehe. Sie entspringe zwar tatsächlich der Verzweiflung, jedoch sei die Verzweiflung konkret begründet. Nur über eine solche Hoffnung auf Rettung würden nicht im Vorfeld die Leidenden der Welt ein weiteres Mal dem Geschichtsverlauf geopfert werden.134

4.2.3 Die Kritik am Unendlichkeitsbegriff Mit der Hoffnung auf Rettung geht eine zentrale Frage unweigerlich einher: »Wie lange noch?«135 Wann wird vom erfahrenen Leid erlöst? Und wenn Gott das Subjekt dieser anders nicht realisierbaren Rettung sein soll, richtet sich die Frage Richtung Gott: Wann

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John, Ottmar: Die Allmachtsprädikation in einer christlichen Gottesrede nach Auschwitz, in: Schillebeeckx, Edward: Mystik und Politik. Theologie im Ringen um Geschichte und Gesellschaft, Mainz 1988, 202–218, hier 204. »Ein solcher Messianismus, der die Hoffnung auf ein außergeschichtliches, im Sinne der herrschenden Wirklichkeit unwirkliches Subjekt richtet, weil alle innergeschichtlichen Subjekte der Befreiung zerstört oder geschlagen sind, wird angesichts von Auschwitz zum ernsthaften Versuch, Handlungsperspektiven zu begründen, ohne illusionäre Unterschätzung der Macht zerstörerischer Kräfte und Strukturen.« Ebd., 206f. JBMGS 4 (Memoria passionis), 121.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

beendet Gott das erfahrene Leid – das eigene und das der anderen?136 Die metzsche Hoffnungstheologie impliziert eine Zeittheologie, in der die Hoffnung auf das Ende der Zeit reflektiert wird. »Leidempfindlichkeit« und »Zeitempfindlichkeit« gehen, laut Metz, im Christentum zusammen.137 Die Überlegungen zum Zeitbegriff sind nicht nur im Hinblick auf ein umfassenderes Hoffnungs- und Erlösungsdenken von Interesse, sondern auch – und in meiner Studie vor allem – deshalb, weil Metz dort eines der zentralen Themen der europäischen Moderne, das Denken des Unendlichen, verhandelt. Unendlichkeit ist für Metz kein positiv konnotierter Begriff. Vielmehr stehe dieser für »die Botschaft von der fristlosen Zeit, kurzum von der Ewigkeit der Zeit, die schon in frühgriechischen Mythen von der ewigen Wiederkehr des Gleichen verschlüsselt zur Sprache kommt«138 . Metz unterscheidet zwei Zeitvorstellungen: Die eine ist die Zeit mit Frist, die andere die Zeit ohne Frist. Erstere entspringe der biblischen Tradition und habe sich bis in die Moderne hineingezogen. Zweitere tauche bereits in der griechischen Philosophie auf, wurde aber vor allem von Nietzsche wieder aufgenommen und mit ihm zum eigentlichen Charakteristikum der Postmoderne. »Zeit mit Frist« bzw. »befristete Zeit« bezeichnet ein Denken, das von einem Ende der Zeit ausgeht. Metz findet dieses Denken in der Bibel sowie in den modernen Philosophien von Hegel und Marx.139 Er verweist auf die Offenbarung des Gottesnamens in Ex 3,14 »Ich werde bei euch sein als der ich bei euch sein werde.«140 , auf die Propheten, Hiob und die neutestamtliche Apokalyptik. In den verschiedenen biblischen Zeugnissen sei von einem rettenden Eingreifen Gottes, das die gesamte Geschichte umfasse, die Rede. Das Motiv »Gott vor uns«, das Metz in der Auseinandersetzung mit Ernst Bloch 1965 entwickelt hat, kommt hier deutlich zum Tragen. Im Volk Israel findet Metz – in den für Metz entscheidenden Zeugnissen – nicht die Rede vom »Gott über uns«, der letztendlich die Teilung der Geschichte in eine Heils- und eine Weltgeschichte impliziere, sondern

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Reikerstorfer betont, dass die Hoffnung auf Gott in erster Linie auf seine gerechtigkeitsschaffende Macht zielt. »Die dem Leid selbst entstammende Gottesfrage zielt nicht auf rationale Erhellung eines ›Zwecks‹ oder gar einer Notwendigkeit von Leid, vielmehr einzig auf sein Ende.« Reikerstorfer, Johann: Politische Theologie als »negative Theologie«. Zum zeitlichen Sinn der Gottesrede, in: Ders. (Hg.): Vom Wagnis der Nichtidentität, 11–49. 137 JBMGS 4 (Memoria passionis), 121. 138 Ebd., 122f. 139 »Die biblische Botschaft ist in ihrem Kern auch eine Zeit-Botschaft, eine Botschaft vom Ende der Zeit. Alle biblischen Aussagen tragen einen Zeitvermerk, einen Endzeitvermerk. […] Das diesseitsbegabte, weltverstrickte Israel hat – nach allen wichtigen Zeugnissen – seinen rettenden Gott nicht hinterweltlich geglaubt und gedacht, nicht als das Jenseits zur Zeit, sondern als das befristende Ende der Zeit.« Ebd., 126. 140 Zitiert nach Metz: Memoria passionis, 126. Auch wenn Erich Zenger stärker das »Gott-Sein in seiner Zuwendung zu den Opfern der Mächtigen« (378) hervorhebt, steht doch auch bei ihm die Zeitthematik im Hintergrund: »Wenn es denn einen wahren Gott gibt und wenn dieser der Gott Israels ist, wird er sich am Ende der Geschichte als der Gott der universalen Gerechtigkeit erweisen.« Zenger, Erich: »Ich werde dasein als der ich dasein werde!«. Die Provokation der biblischen Gottesrede, in: Polednitschek, Thomas/Rainer, Michael J./Zamora, José Antonio (Hg.): Theologisch-politische Vergewisserungen. Ein Arbeitsbuch aus dem Schüler- und Freundeskreis von Johann Baptist Metz, Münster 2009, 375–392, hier 387.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

von einem Gott, der auf die eine Welt- und Heilsgeschichte in Form ihrer Beendigung einwirke. Der befristeten Zeit setzt Metz die entfristete Zeit entgegen. Ihr Kern bestehe in der Rede von der »ewigen Wiederkehr des Gleichen«141 , die Nietzsche proklamierte. Das Werden werde so verewigt und finde somit kein Ende mehr. Entsprechend gelte auch für die Leidenden, dass ihre Rettung auf ewig aufgeschoben und damit nichtig gemacht würde. Dieses Zeitverständnis sei heute das vorherrschende geworden. Zeit werde aufgefasst als das ewige Werden.142 »Die Herrschaft der entfristeten, der kontinuierlich ins Unendliche wachsenden Zeit hat nicht nur Gott undenkbar gemacht und die gänzlich unpathetische Gott-losigkeit unserer späten Moderne heraufgeführt. Sie löst auch die Substanz eines geschichtlichen Denkens, das, was wir Geschichtszeit nennen und die ihr zugeordnete Hermeneutik, immer mehr auf.«143 Auch hier wirkt Metz’ Unterscheidung vom »Gott vor uns« und vom »Gott über uns«. Eine Zeit, die ewig weiterläuft, lasse keinen Gott vor uns im Denken oder Hoffen zu. Die entfristete Zeit wirke sich aber auch auf das (atheistische) Geschichtsdenken aus, wie es von Hegel und Marx entwickelt wurde. Metz betont, dass beide, Hegel wie Marx, von einem Zeitdenken ausgegangen waren, welches ein »bestimmbares Ziel« hatte: Für Hegel die reflexive absolute Vernunft, für Marx die klassenlose Gesellschaft. Metz fokussiert deutlich auf die Endlichkeit der Geschichte, der Welt sowie des einzelnen Menschen. Dabei fasst er Endlichkeit allerdings nicht als anthropologische oder ontologische, sondern eher als empirische Kategorie auf. So erfährt nicht bloß der abstrakte Mensch seine Endlichkeit in seinem (abstrakten) Tod, sondern der jeweils konkrete Mensch, gesellschaftlich und geschichtlich situiert, wird mit seiner Limitation im Tod (und anderen Erfahrungen) konfrontiert. In einem weiteren Sinn handelt es sich ebenfalls um eine geschichtliche Kategorie, insofern die konkrete Geschichte, die Metz immer (auch) als katastrophische Geschichte begreift, ihr Ende finden soll.144 Es ist auffällig, dass Metz der Endlichkeit der Geschichte und des Menschen nicht die Unendlichkeit Gottes, die ja typischerweise als eines seiner Attribute gilt, gegenüberstellt. Die Kritik am Unendlichkeitsdenken – genauer: am Ewigkeitsdenken – lässt sich deutlich in das Programm der nachidealistischen Theologie integrieren. Zwar steht hier weniger eine Absolutheit der Vernunft in Frage, wie es am Anfang des nachidealistischen Denkens aufzufinden ist. Aber die Kritik fußt auf dem gleichen Argument: Wie es das Andere der Vernunft insbesondere in der Erfahrung des Leids gibt, so gibt es ebenso das Andere der Unendlichkeit in Form der konkreten Leidensgeschichten. Letztere zeichnen

141 JBMGS 4 (Memoria passionis), 124. Hervorhebung im Original. 142 »Das Wirklichkeitsverständnis, das die wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung leitet und aus dem der Kult der Machbarkeit seine Reserven zieht, ist geprägt von einer Vorstellung von Zeit als einem leeren, unbefristet ins Unendliche wachsenden Kontinuum, in das alles gnadenlos eingeschlossen ist.« Ebd., 128. 143 Ebd., 129. 144 Metz ist vom Gedanken des Abbruchs oder der Unterbrechung statt einer Vollendung geprägt.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

sich nicht einfach dadurch aus, dass sie endlich seien, sondern, dass sie nach Endlichkeit (Beendigung) verlangen bzw. der Endlichkeit bedürfen. Es ist gerade der Endlichkeits- und Unendlichkeitsbegriff, in dem Metz einen – vorsichtigen – Kritiker von ungewöhnlicher Seite findet. Tiemo R. Peters, der lange Weggefährte und Mitstreiter von Metz, fragt kritisch: »Gewinnt Metz, indem er vom realen Ende spricht und so das Endliche vom Terror der usurpierten Ewigkeit zu befreien hofft, wirklich die verheißungsvolle Endlichkeit zurück?«145 Peters stellt hier nicht die Notwendigkeit, die Rettung aus leidvollen Situationen ins Zentrum der Gottesrede zu stellen, in Frage. Ebenso teilt er Metz’ Kritik an zeitgenössischen, »postmodernen« Ewigkeitsauffassungen.146 Die Kritik zielt vielmehr auf zwei andere Aspekte: Erstens stellt er die Formulierung vom »Ende der Zeit« in Frage, da, transzendentalphilosophisch betrachtet, Zeit kein Ende »hat«. »Sie hat kein Ende und kann auch nicht beendet werden, weil sie selbst, in ein und demselben Geschehen, immer schon Anfang und Ende ›ist‹.«147 Diese Interpretation Peters’ fußt auf der etymologischen Bedeutung des Wortes »Zeit« als »Schnitt (›zit‹) in ein Kontinuum«.148 Doch wesentlicher als die Kritik an der metzschen Formulierung ist sein Einwurf, »mehr als das Endliche denken, besser: hoffen zu können, nein, hoffen zu müssen«149 . Damit bleibt er nicht bei der Betonung der Endlichkeit als Rettung stehen, sondern postuliert eine Hoffnung, die Rettung über die Endlichkeit hinaus denkt. Eine so verstandene Rettung ist stärker am Gedanken der Vollendung, denn am Ende orientiert.150 »Die Hoffnung über Endlichkeit und Tod hinaus, die theologisch zu vertreten ist, obwohl (oder gerade weil) sie nicht in der Selbstgewissheit der Ratio und auch nicht allein in der Praxis des Glaubenszeugnisses verankert ist, kennzeichnet die Hoffnung derer, die keine ›Hoffnung‹ mehr haben. Nur diese Bedürftigen überliefern jene weniger beweis- und begründbare als in Anspruch genommene und immer neu beanspruchte Hoffnung gegen alle Hoffnung (Röm 4,18), um die es im Christentum geht […].«151 Eine so formulierte Hoffnung, die über die Endlichkeit des Todes hinausreichen will, schießt auch über die Grenze der Vernunft hinaus. Sie lasse sich, wie Peters einräumt –

145 Peters: Mehr als das Ganze, 153. 146 »In solcher säkularen Unendlichkeit […] ist die Katastrophe möglicherweise noch katastrophaler – eben weil die Endlichkeit analogielos geworden und abgekoppelt ist von den Perspektiven einer Vollendung, die alles Endliche hinter sich gelassen hat.« Ebd., 151. Im Unterschied zu Metz spricht Peters allerdings von einer zu erhoffenden Vollendung. 147 Ebd., 154. 148 Ebd. 149 Ebd., 158. 150 Martin H. Thiele interpretiert Metz’ Rede vom »Ende der Zeit« in erster Linie als »Ende der Leidenszeit«. »Nicht der ›Abbruch‹ als solcher, sondern – um im Metaphernfeld zu bleiben – der rettende ›Einbruch‹ und Durchbruch der Leidenszeit ist für Metz das Ziel göttlichen Handelns. Darin ist der ›apokalyptische‹ Akt der Auferweckung der Toten zentral.« Sachlich halte ich Thieles Interpretation für adäquat. Jedoch gibt es bei Metz die Tendenz, Zeit als Leidenszeit bzw. Geschichte als Leidensgeschichte (Katastrophengeschichte) aufzufassen. Damit wäre tendenziell Rettung ausschließlich als Abbruch zu denken. Thiele.: Gott, Allmacht, Zeit, 407. 151 Peters: Mehr als das Ganze, 159. Hervorhebung im Original.

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bzw. bewusst konstatiert – nicht vernünftig begründen, sondern nur in Form des Zeugnisses (»im Akt des Tuns«) postulieren.152 Es geht Peters darum, dass mit der Beendigung des Leidens, nicht jegliches Sein beendet sein müsse und dürfe, sondern dass die Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde aus christlicher Perspektive erwartet werden könne.153 Theologisch ist dieser Kritik an Metz nichts entgegenzusetzen. Insofern sie im Wesentlichen auf den gleichen Voraussetzungen wie der metzsche Ansatz aufbaut, lässt sie sich auch ohne Schwierigkeiten mit Letzterem verknüpfen. Aus philosophischer Perspektive – die hier allerdings nachrangig ist – schießt Peters mit seiner Forderung, über die Endlichkeit hinaus zu denken, über die Grenze der Vernunft hinaus und irritiert auf diese Weise besonders die Ansätze, die der kritischen Theorie der Frankfurter Schule zuzurechnen sind. Dort wird ja gerade das ebenso aus der Bibel entnommene Bilderverbot stark gemacht. In diesem Zusammenhang unterbindet das Bilderverbot das Denken über Zustände, die die Endlichkeit zu überschreiten beanspruchen.154 Es scheint, dass Metz in diesem Aspekt Adorno näher ist als Peters.

4.2.4 Die Kritik am Gottesbegriff Metz’ Einsicht in die Notwendigkeit, angesichts der Herausforderungen der Moderne und ihrer Aporien eine nachidealistische Theologie zu entwerfen, betrifft in hohem Maße den Gottesbegriff. Der Nachvollzug seiner Kritik am Vernunftbegriff, am Totalitätsbegriff und am Unendlichkeitsbegriff haben gezeigt, dass Metz, trotz der zahlreichen philosophischen Versuche, das Nachidealistische ohne bzw. gegen den Gottesbegriff zu entwickeln, an einem Gottesbegriff festhält. An ihm entscheide sich, ob eine Theologie Rede von Gott bleibe oder nicht. Doch kann, so Metz, nicht jeder Gottesbegriff den Herausforderungen der Moderne standhalten. Metz’ großer Gegner ist in diesem Zusammenhang in erster Linie nicht, wie möglicherweise zu erwarten wäre, eine ›konservativ‹ oder ›reaktionär‹ verfasste Theologie, die letztendlich nur versuche, die Herausforderungen und

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Ebd., 158. Meines Erachtens lässt sich Peters Überlegung als (wenigstens implizite) Reaktion auf eine Anfrage von Herbert Vorgrimler deuten, ob Metz mit seiner Fokussierung auf die biblische Klagetradition nicht zu sehr diejenige des Lobes und der Freude unterschlage. Peters rekurriert zwar nicht auf Lob und Freude, aber auf die biblischen Verheißungen, die von einem zu erhoffenden Positiven berichten. Vgl. Vorgrimler, Herbert: Solidarische dogmatische Wünsche an die Politische Theologie, in: Schillebeeckx, Edward (Hg.): Mystik und Politik. Theologie im Ringen um Geschichte und Gesellschaft. Johann Baptist Metz zu Ehren, Mainz 1998, 185–196, hier 196. Vgl. Zamora: Krise, Kritik, Erinnerung, 457–464; Hindrichs: Das Absolute und das Subjekt; Sommer, Marc Nicolas/Schärli, Mario (Hg.): Das Ärgernis der Philosophie. Metaphysik in Adornos Negativer Dialektik, Tübingen 2019; Braunstein, Dirk/Jurewicz, Grażyna/Martins, Ansgar (Hg.): »Der Schein des Lichts, der ins Gefängnis selber fällt«. Religion, Metaphysik, Kritische Theorie, Berlin 2018, hier besonders der Beitrag von Dekker, Mariska: Die absolute Wahrheit denken. Adornos Form des ontologischen Gottesbeweises und sein Begriff der Metaphysik, 219–238.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

Anfechtungen der Moderne abzuwehren. Vielmehr zielt seine Kritik auf jene Ansätze, die er »unter der spröden Chiffre ›transzendental-idealistisch‹«155 zusammenfasst. Auf evangelischer Seite sieht Metz eine zu starke Verknüpfung von Gott und dem Sinn von Geschichte gegeben. Pannenberg und Moltmann, die hier die entscheidenden Vertreter seien, wahrten letztendlich keinen Abstand zum evolutionären Fortschrittsdenken. Auf katholischer Seite, der er sich ausführlicher widmet, richtet sich seine Kritik an Rahners Ansatz des anonymen Christentums. Die Stärke dieses Ansatzes bestehe zunächst darin, den universalen Heilswillen Gottes, dessen Annahme auch Metz nicht fallen lassen will, mit der Realität des geografisch partikular verteilten Christentums zu versöhnen. Jeder Mensch besitze die transzendentale Fähigkeit, Gottes Anrede zu vernehmen und darauf zu antworten, selbst wenn dies nicht in der typisch verfassten Lehre der Kirche geschehe. Metz sieht das zentrale Problem im Ansatz des anonymen Christentums in der Annahme eines »›immer schon‹«: »Handelt es sich bei dieser Figur des ›transzendentalen Christentums‹ nicht um eine Figur der Überlegitimierung und Überidentifizierung des Christentums angesichts der wachsenden geschichtlichen Bedrohtheit seiner Identität? Wird hier die geschichtliche Identität des christlichen Glaubens nicht festgemacht an einer anthropologischen Grundstruktur des Menschen, der zufolge der Mensch ›immer schon‹ – nolens, volens – bei Gott ist?«156 Metz erkennt in Rahners Ansatz ein Ausweichmanöver vor den Anfragen der Moderne gegenüber dem Christentum. Das Christentum verliere zwar, gemäß Rahners Ansatz, in der Moderne faktisch an Bedeutung, aber die Christlichkeit bleibe, selbst wenn sie nicht reflexiv als solche aufgefasst werde, immer verfügbar. Metz deutet dieses Ausweichmanöver als eine »gedanklich-idealistische«157 Entschärfung der christlichen Identitätskrise in der Moderne. Die Möglichkeit, dass das Christentum scheitere, werde von Rahner nicht ausreichend ernst genommen. »Soll – so fragt Metz – dem Christentum durch Transzendentalisierung nicht eine Art Omnipräsenz verliehen werden, die es schließlich jeder radikalen Bedrohung auf dem Felde der Geschichte entzieht?«158 Metz wendet sich in seinem nachidealistischen Programm strikt gegen solche Theologien eines wie auch immer gestalteten »immer schon«, in dem die Bedrohtheit des Christentums durch die eigene Trägheit entschärft wird. Doch, so ließe sich an Metz rückfragen, gibt es in seiner Theologie nicht auch einen immer schon verfügbaren Gott, der dem Erhofften entsprechen soll? Fällt seine Apologie gegenüber der diagnostizierten Gotteskrise nicht unter seine eigene Kritik? Mit der Rede von der Gotteskrise versucht ja Metz das Desinteresse gegenüber dem biblischen Gott zu problematisieren159 und sie mit dem Gottesgedächtnis160 zu konfrontieren. Lässt sich dieses Gottesgedächtnis so in155

JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 171. Hervorhebung im Original. Obwohl das Stichwort »nachidealistisch« erst später bei Metz auftaucht, entspricht Glaube in Geschichte und Gesellschaft in wesentlichen Aspekten der Sache nach bereits diesem Anliegen. 156 Ebd., 174. 157 Ebd., 175. 158 Ebd., 177. 159 JBMGS 4 (Memoria passionis), 75–77. 160 Ebd., 19–23; 228–233.

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terpretieren, dass Gott darin letztendlich doch immer verfügbar sei? Diese Rückfrage lässt sich verneinen, wenn dieses Gedächtnis (auch) als Vermissen formuliert wird. Die Gefahr des »immer schon« besteht für eine beanspruchte nachidealistische Theologie jedoch dann, wenn von der Gefahr des Scheiterns und der Notwendigkeit der christlichen Solidaritätspraxis (Nachfolge) dispensiert würde. Das bedeutet, dass auch der vermisste Gott oder Gott als Geheimnis weder als zweifelsfreie Antwort auf die Leidensgeschichte verwendet noch, dass die Rede vom vermissten Gott in eine rein rational verfasste Struktur integriert werden darf. Auf diese Weise würde der Vorrang der Realität der Leidenden fallengelassen. Die theologische Rede vom vermissten Gott ist auf die theologische ›Argumentationsfigur‹ des begrifflichen Nachvollzugs der Leidensgeschichten angewiesen. Ein solcher Nachvollzug wäre dann jedoch kein rationales Argument mehr, sondern eine ›Erzählung‹. Metz versucht deshalb der Gefahr des »immer schon« in einer narrativ verfassten Theologie Rechnung zu tragen.

4.3 Die Rezeption moderner Religionskritik Die für das Christentum vielleicht schwerwiegendste These, die Metz seit den 1990er Jahren entfaltet, ist die der »Gotteskrise«. Das Wort »Gott« sei banal geworden.161 Es werde weder befürwortet, noch bestritten oder bekämpft. Die Gotteskrise betreffe deshalb nicht nur das Christentum, sondern auch die Atheismen und allgemein, die ganze Menschheit. Historisch lässt Metz diese Gotteskrise mit Nietzsches Wort »Gott ist tot« beginnen.162 In seinen früheren Schriften, in denen Metz noch nicht explizit von einer Gotteskrise spricht, verhandelt er neben Nietzsche den Marxismus als die große Anfrage an den Gottesbegriff.163 Doch zwischen diesen beiden Phasen ist ein deutlicher Unterschied wahrzunehmen. In der ersten Phase diskutiert Metz den Marxismus und Nietzsche noch unter der Annahme des expliziten Atheismus. In der zweiten Phase, in der er die These der Gotteskrise entfaltet, nimmt Metz die Folgen dieser Atheismen – vor allem Nietzsches – in den Blick. Eine der zentralen Folgen sei, dass Gott schlicht keine Rolle mehr spiele.164 Im Folgenden werde ich Metz’ Rezeption der Religionskritik von Marx bzw. ›dem‹ Marxismus und derjenigen Nietzsches knapp nachvollziehen und durch einen dritten Aspekt ergänzen: die These der bürgerlichen Religion, mit der Metz eine Gotteskritik innerhalb des Christentums selbst ausmacht.

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Ebd., 76. Der Ursprung dieser Gotteskrise geht auch vor Nietzsche zurück bis in die Aufklärung hinein, wie Peters untersucht. Und dennoch bleibt Nietzsche der Wendepunkt: »Die ›Zeit der Gotteskrise‹ ist die Zeit nach Nietzsche, post und secundum.« Vgl. Peters: Mehr als das Ganze, 70–81, hier 79. Hervorhebung im Original. 163 JBMGS 1 (Zur Theologie der Welt), 63; JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 90–94; JBMV 1, 113–135. 164 JBMGS 1 (Wege in der Krise: Kirche der Compassion), 253–267; JBMGS 4 (Memoria passionis), bes. 75–120 und die These der Gotteskrise vorbereitend: JBMGS 5 (Gotteszeugenschaft in einer Welt der religionsfreundlichen Gottlosigkeit), 205–215.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

4.3.1 Die Rezeption der marxschen Religionskritik Metz hat keine systematische Abhandlung über die marxsche Religionskritik geschrieben.165 Seine expliziten Referenzen dieser Religionskritik fallen sogar äußerst gering aus. Und dennoch lassen sich seine beiden Veröffentlichungen Zur Theologie der Welt und Glaube in Geschichte und Gesellschaft der Sache nach wesentlich als kritische Auseinandersetzung mit der marxschen Religionskritik interpretieren.166 Seit seiner Formulierung der Neuen Politischen Theologie wurden mehrere Studien über die metzsche MarxRezeption veröffentlicht167 , sodass ich mich hier auf einige wenige Aspekte beschränken kann. Mit Ančić und Peters möchte ich auf den Aspekt des Theorie-Praxis Verhältnisses, das durch Marx eine besondere Brisanz erfahren hat, hinweisen.168 Marx’ Theorie- und damit auch Wahrheitsverständnis169 beruht auf der Annahme, dass jegliches Denken ein Effekt gesellschaftlicher Praxis bzw. gesellschaftlicher Arbeitsteilung sei. Es sei nicht irgendeine Praxis, die eine Theorie verwirkliche, sondern umgekehrt eine Praxis, die eine Idee entstehen lasse. Darunter falle das Denken der Metaphysik wie auch der Religion bzw. Theologie. In diesem Sinne interessiert Marx die Religion auch nur im Hinblick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie produzieren. Die Herausforderung bestehe nun für Marx darin, eine Theorie zu entwickeln, die nicht bloße Widerspiegelung des gesellschaftlichen Status quo ist, sondern die sich als Kritik entfalte. Genauer gesagt: Nur als Kritik könne eine Theorie der Gefahr der Widerspiegelung entgehen.170 Der Ort der Wahrheit einer Theorie sei jedoch nicht in der Theorie selbst zu suchen, sondern in der Praxis, die diese Theorie hervorbringe. In diesem Sinne müsse das Verhältnis von Theorie und Praxis als Einheit aufgefasst werden, wie Ančić in Bezug auf Marx hervorhebt. Metz’ Anliegen ist es nun, nachdem er über seine Säkularisierungsthese ein grundsätzlich positives Verhältnis zur Aufklärung und der mit ihr einhergehenden Freiheits-

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Zur marxschen Religionskritik vgl. Kern, Bruno: »Es rettet uns kein höh’res Wesen«? Zur Religionskritik von Karl Marx. Ein solidarisches Streitgespräch, Ostfildern 2017 sowie Oudenrijn, Frans v.d.: Kritische Theologie als Kritik der Theologie. Theorie und Praxis bei Karl Marx. Herausforderung der Theologie, München/Mainz 1972. Ich folge hier grundsätzlich Ančićs Studie, der das metzsche Werk (der 1960er und 1970er) als »Antwort auf die Herausforderung des Marxismus« interpretiert, wie bereits der Titel der Studie verrät. Dass es auch inner-theologische Gründe für die Entwicklung zur Neuen Politischen Theologie von Metz gibt, ist von Ančić allerdings nur ansatzweise berücksichtigt worden, vgl. Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz, 27–46. Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz; Bauer: Christliche Hoffnung und menschlicher Fortschritt; Füssel: Sprache, Religion, Ideologie, 198–222; Geitzhaus: Karl Marx grüßt die Politische Theologie; Mičkovic: Den Widerspruch denken; Oudenrijn: Kritische Theologie als Kritik der Theologie, 179–249; Peters: Mystik, Mythos, Metaphysik; Peters: Mehr als das Ganze; Peukert: Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Fundamentaltheologie; Ruz: Nueva teología política, Spülbeck: Neomarxismus und Theologie. Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz, 77–112; Peters: Mystik, Mythos, Metaphysik, 11–53. Ich beziehe mich hier auf Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz, 84–88. In diesem Aspekt zeigt sich Marx’ Nähe zu Kant, der die Grenzen der Erkenntnis in der Kritik der reinen Vernunft auslotet.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

geschichte entwickelt hat, dieser Herausforderung des Marxismus Rechnung zu tragen. So pointiert Ančić: »Es wird zu zeigen sein, wie der Glaube von sich aus fähig ist, eine eigene Form des kritischen Bewußtseins zu bilden, das identitätsbildend und subjektkonstituierend ist.«171 Es reiche Metz zufolge nicht aus, die marxsche Theorie oder ›den‹ Marxismus in die Theologie zu integrieren. Er müsse vielmehr als Herausforderung – Metz spricht in einem anderen Zusammenhang von Fremdprophetie172 – für die Theologie begriffen werden, in dem Sinne, dass sie sich ihrer eigenen Verfassung bewusst werde, um auf solche Herausforderungen zu reagieren. Metz entwickelt das Theorie-Praxis-Verhältnis deshalb direkt im biblisch-theologischen Zusammenhang, womit die marxistische Fremdbestimmung nur als – deutlicher – Schatten erkennbar bleibt.173 Er konstatiert: »Der christliche Gottesgedanke ist aus sich selbst ein praktischer Gedanke.«174 Was versteht Metz unter einem »praktischen Gedanken«? In der Bibel fänden sich, so Metz, zahlreiche Erzählungen, in denen der Gottesbegriff mit praktischen Lebensveränderungen einhergehe: »Metanoia, Umkehr und auch der Exodus«. Entsprechendes gelte auch für die verschiedenen ChristusNachfolge-Erzählungen.175 Metz nimmt diese Erzählungen als Beleg dafür, dass der Gottesgedanke nicht einfach der Bestätigung bzw. der Widerspiegelung des Status quo diene: »Gott kann gar nicht gedacht werden, ohne dass dieser Gedanke die unmittelbaren Interessen dessen irritiert und verletzt, der ihn zu denken sucht. Das Gott-Denken geschieht als Revision der unmittelbaren auf uns selbst gerichteten Interessen und Bedürfnisse.«176 Der Gottesgedanke stehe dem gewohnten praktischen Lebensvollzug im Weg.177 Auch hier handelt es sich, wie in der gesamten Theologie von Metz, nicht um einen Automatismus, sondern ebenfalls um einen Freiheitsvollzug. Der Mensch (oder das Kollektiv) reagiere auf den Gottesgedanken bzw. auf die Gottesanrede auf freie Weise. Er könne sich auch gegen diese Anrede entscheiden. Alles andere wäre mythologisch. Als

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Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz, 88. Metz spricht in Memoria passionis von der »fremden Prophetie der Zeit«, mit der sich das Christentum auseinandersetzen müsse, JBMGS 4, 75. Um einen Schatten handelt es sich, da Metz die marxistische Herausforderung der Problematisierung des Verhältnisses von Theorie und Praxis bzw. der Wahrheitsfrage direkt aufnimmt, ohne sie selbst noch einmal in Bezug auf Marx ausführlich zu erörtern oder abzuwägen. Daraus lässt sich schließen, dass sie für Metz als unmittelbar plausibel gilt. Deutlich bleibt dieser Schatten dennoch, da Metz in den Anmerkungen entweder direkt auf Marx oder auf theologische Studien, die sich mit Marx beschäftigen, eingeht. Vgl. JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 72 Anm. 3; 78 Anm. 14; 79 Anm. 16 und öfter. JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 72. Hervorhebung im Original. Ebd., 73. Ebd., 72f. Vgl. zum Begriff der Umkehr auch Peters: »Theologie ist ›Rück-wendung‹ zu Gott in der Hinwendung zum Anderen; die theologische Re-flexion kann erst im Prozeß der Revision gelingen, zusammen mit den Umbrüchen und Aufbrüchen im Namen der Rettung des Menschen aus selbstverschuldeter und aufgezwungener, bewußter oder unbewußter Gefahr. Umkehr ist die genuine Praxis eines Erfahrungsaustauschs, auf den sich der Mensch einläßt, wenn und sofern er wirklich ›Gott‹ liest, sagt oder denkt.« Peters: Mystik, Mythos, Metaphysik, 25.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

Begriff, der in den praktisch verfassten Lebensvollzug eingreife, sei er selbst praktisch; ein praktischer Gedanke.178 Der Nachweis, dass es sich beim Gottesgedanken um einen praktischen Gedanken handelt, ist der erste Schritt, um auf die marxsche Religionskritik reagieren zu können. Der geglaubte Gott der Bibel sei keine Widerspiegelung des Status quo. In einem zweiten Schritt muss Metz nun zeigen, dass der Gottesgedanke bzw. der Gottesglaube auch legitim sei, denn erst dann sei er auch »wahrheitsfähig«. Wahrheitsfähig sei ein Gedanke dann, wenn er »für alle Subjekte relevant ist – auch für die Toten und Besiegten«179 . Metz weist deshalb darauf hin, dass die biblischen Erzählungen zeigten, dass die Anrede Gottes der Aufruf sei, sich aus »den Zwängen und Ängsten archaischer Gesellschaften«180 zu befreien. Er rege zur Solidarität an und verlange die Konfrontation, sich seiner eigenen Verantwortung zu stellen. »So wie dieser Gottesgedanke z.B. verlangt, sich der Schuld verantwortlich zu stellen, um Subjekt zu bleiben, so auch, sich der Unterdrückung und Menschenverachtung zu widersetzen, um Subjekt zu werden. Oder, dramatischer ausgedrückt: der Kampf um Gott und der Kampf um das freie Subjektseinkönnen aller verläuft nicht gegensinnig, sondern gleichsinnig proportional.«181 Metz optiert hier für eine Bibellektüre, die vornehmlich auf universale Befreiung, Verantwortungsübernahme und Solidarität fokussiert ist und darin subjektbildend wirkt. Feministische und postkoloniale Bibelstudien weisen im Unterschied zu Metz zu Recht darauf hin, dass die Erzählungen der Bibel nicht nur befreiend, sondern oft auch unterdrückerisch verfasst seien und als solche bis in die Gegenwart Verwendung fänden.182 Insofern ist Metz’ Bibellektüre von einer deutlichen Einseitigkeit (einseitig befreiend) geprägt. Dieser Einwand stellt aber nicht die existierenden Umkehrerzählungen in der

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»Er [der biblische Gottesgedanke, P.A.] ist überhaupt kein Überbau-Gedanke zur bereits gebildeten Identität des Subjekts, sondern ein identitätsbildender Gedanke, eingreifend in die Basis der Existenz.« JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 84. 179 Ebd., 82. Hervorhebung im Original. 180 Ebd., 84. 181 Ebd., 84f. Hervorhebung im Original. Ich möchte zum Begriff der Subjektwerdung bei Metz auch auf meine knappen Überlegungen hinweisen: Geitzhaus, Philipp: Subjekt werden! Zur Aktualität des Metz’schen Politikbegriffs, in: Janßen, Hans-Gerd/Prinz, Julia D. E./Rainer, Michael J. (Hg.): Theologie in gefährdeter Zeit. Stichworte von nahen und fernen Weggefährten für Johann Baptist Metz zum 90. Geburtstag, Berlin 2018, 140–143. 182 Vgl. exemplarisch Elisabeth Schüssler Fiorenza: »Als BibelleserInnen haben wir gelernt, an die Bibel mit ei-ner Hermeneutik des Respekts, der Anerkennung, der Zustimmung und des Gehorsams heranzugehen. Statt eine Hermeneutik der Wertschätzung und der Zustimmung zu kultivieren, entwickelt eine kritisch-feministische Interpretation für Befreiung, wie ich dargelegt habe, eine Hermeneutik des Verdachts, die über alle Bibeltexte die Warnung setzt: ›Vorsicht – sie könnten für Ihr Wohlergehen und Überleben gefährlich sein.‹« Schüssler Fiorenza, Elisabeth: WeisheitsWege. Eine Einführung in feministische Bibelinterpretation, Stuttgart 2005, 252. Vgl. zur postkolonialen Bibellektüre: Sugirtharajah, R.S.: Postcolonial Criticism and Biblical Interpretation, Oxford/New York 2002; dazu: Ackermann, Cordula: Modernekritik in der postkolonialen Theologie und der Theologie der Befreiung. Grundfragen am Beispiel von R.S. Sugirtharajah und Gustavo Gutiérrez, Berlin 2021.

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Bibel und damit die metzsche Interpretation in Frage. Mit solchen Einwänden lässt sich jedoch für die Dialektik in Befreiungsprozessen auch in der Bibel und nicht nur in der Geschichte der Moderne sensibilisieren. Wenn Metz von der praktischen Verfassung des Gottesgedankens ausgeht, bedeutet das nicht, dass Gott ausschließlich von der menschlichen – ob individuellen oder kollektiven – Praxis abhänge. In deutlichem Unterschied zu Marx geht Metz nicht davon aus, dass der Gottesbegriff Resultat der menschlichen Arbeitsteilung sei. Wenn Metz von der Bewahrheitung des Glaubens oder des Gottesbegriffs spricht, ist damit vielmehr ein Einstehen für diese Wahrheit gemeint. Ančić formuliert dies folgendermaßen: »Bewahrheiten heißt für Metz mit Berufung auf Joh 3,21 ›glaubwürdig sichtbar machen‹, ›tun‹, ›überzeugend sichtbar machen‹. Nicht also um die Selbstvergewisserung der Wahrheit geht es Metz, sondern um deren Praktisch-Werden.«183 Metz kann deshalb von einem »sichtbar machen« sprechen, da Gott das Andere des Menschen meine, auf das sich der Mensch beziehe. Die menschliche Praxis steht bei Metz immer unter dem eschatologischen Vorbehalt. Für Marx ist dieser Weg nicht möglich, da das Andere der Vernunft für ihn kein Außerhalb des Menschen und seiner Welt darstellt.184 In Metz’ Interpretation handelt es sich bei Marx deshalb um die Annahme einer »hominisierten Welt«, das heißt einer Welt, in der nichts Göttliches mehr wirke und deshalb auch kein Gott sinnvoll denkbar sei: »In diesem Zusammenhang sei – beispielhaft und in der Form eines ersten Hinweises – darauf aufmerksam gemacht, dass die wichtigen und spezifischen Formen des theoretischen Atheismus heute als Auslegungen dieser neuen Welterfahrung ansetzen, als Interpretationen dieses Umschlags von der divinisierten zur hominisierten Welt, von der Welterfahrung einer numinosen ›Natur‹ zur Welterfahrung im Horizont der schöpferischen Freiheit des Menschen und der mit dieser Auslieferung der Welt an die menschliche Freiheit verbundenen Ent-göttlichung dieser Welt.«185 Doch genau diese »Ent-göttlichung« der Welt teilt die Theologie von Metz, wie bereits oben von mir entfaltet. Die Transzendenz Gottes erlaube gerade die Weltlichkeit der Welt. Doch wie kann Metz diese Transzendenz behaupten? Zunächst und vor allem sind es für ihn die biblischen Erzählungen, die den Zugang zur Transzendenz Gottes ermöglichen. Es sind die Erzählungen von Umkehr, Exodus und Nachfolge, die es erlauben, Gott zu denken. Diese Erzählungen »bewahrheiten« den Gottesgedanken.186

183 Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz, 97. 184 Vgl. zum Anderen der Vernunft bei Marx die zentrale Studie von Schmidt, Alfred: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Hamburg 5 2016; Frank, Manfred: Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, München 2 1992. Für den Unterschied zwischen Metz und Marx im Praxisbegriff hebt Ančić zu Recht den hermeneutischen Charakter des metzschen Praxisbegriffs hervor. Praxis ist somit nicht (›bloß‹) unmittelbar politisches Handeln, sondern vor allem der hermeneutische Zugang zum Gottesbegriff. Vgl. Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz, 98–103. 185 JBMGS 1 (Zur Theologie der Welt), 63. 186 »Nach Metz richtet sich der universale Verweltlichungsprozeß und der durch ihn zur Herrschaft gekommene kosmische Atheismus gegen diesen kosmischen Divinismus und nicht gegen ein christliches Weltverständnis.« Ančić: Die »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz, 33.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

4.3.2 Die Rezeption Nietzsches Oftmals, wenn Metz eine Diagnose zum zeitgenössischen Denken liefert, verbindet er diese mit den Namen Hegel und Marx sowie – Nietzsche. Zwischen den ersten beiden und dem dritten klafft ein Abgrund, dem in der Entwicklung von Metz’ Theologie immer mehr Gewicht verliehen wird.187 Sehr grob und allgemein lässt sich dieser Abgrund als derjenige zwischen Moderne und Postmoderne fassen. Hegel und Marx repräsentierten das moderne Denken, Nietzsche hingegen stehe am Anfang des postmodernen Denkens. Insofern Metz sich den Durchgang durch die Aufklärung und damit durch die Moderne und die Postmoderne zur Aufgabe gemacht hat, spielt auch Nietzsche eine zentrale Rolle in seinem Denken. Rudolf Langthaler schreibt treffend: »Freilich, Metz’ neue Politische Theologie ist nicht zuletzt auch als Reaktion auf die kaum überbietbare Provokation Nietzsches zu lesen […].«188 Doch, obwohl Nietzsche diese Position zukommt, findet Metz’ Nietzscherezeption in den Studien über seine Theologie selbst nur äußerst geringen Niederschlag.189 Metz diskutiert vornehmlich drei Topoi Nietzsches: Erstens den vom »tollen Menschen« verkündeten »Tod Gottes«, zweitens, eng damit verbunden, den Begriff des Vergessens und drittens das Motiv der Ewigkeit. Obwohl Nietzsche in den Schriften von Metz oftmals eher wie ein Stichwortgeber erscheint, was ein Grund für die spärliche Auseinandersetzung in der Sekundärliteratur zu Metz und Nietzsche erklärte, schreibt Metz diesen Stichworten höchste Bedeutung für die Interpretation der Gegenwart zu. Mit Nietzsche beansprucht er, auf den Grund der Krisen der Moderne zu gelangen. »Ich zitiere Nietzsche nicht, um ihm nachzusprechen, sondern um meine theologische Zeitdiagnose nicht an sekundären Symptomen festzumachen und um nicht bei sekundären Krisen zu verweilen.«190 Zunächst finden sich in Zur Theologie der Welt (1968) und in Glaube in Geschichte und Gesellschaft (1977) einige Erwähnungen Nietzsches. Etwas ausführlicher geht Metz in seinen Vorlesungen auf Nietzsches Religionskritik ein (JBMV 1, 113–135). Je mehr Metz seine Theologie als eine nach Auschwitz begreift und entfaltet, nehmen auch die kritischen Bezüge zu Nietzsche zu. In: JBMGS 1 (Jenseits bürgerlicher Religion); JBMGS 5 (Theologie versus Polymythie oder Kleine Apologie des biblischen Monotheismus), 14–34; und später sehr intensiv in: JBMGS 4 (Memoria passionis). 188 Langthaler: Gottvermissen, 15. 189 Obwohl Metz vor allem seit den 1990er Jahren immer stärker auf Nietzsche eingeht und diesen mit zentralen inhaltlichen Problemstellungen verknüpft (z.B. mit den Begriffen »Zeit«, »Vergessen«, »Leiden« und »Auschwitz«) gibt es nur wenige Studien, die das Verhältnis von Metz und Nietzsche näher analysieren. Mičkovic, Peters und Thiele verhandeln dieses Verhältnis eher am Rande (aber kontinuierlich). Vgl. Mičkovic: Den Widerspruch denken; Peters: Mehr als das Ganze, bes. 78–81; Thiele: Gott, Allmacht, Zeit. In den großen Festschriften für Metz, die thematisch sehr vielfältig sind, finden sich sogar gar keine nennenswerten Auseinandersetzungen mit Nietzsche. Vgl.: Schillebeeckx, Edward (Hg.): Mystik und Politik. Theologie im Ringen um Geschichte und Gesellschaft, Mainz 1988; Reikerstorfer, Johann (Hg.): Vom Wagnis der Nichtidentität. Johann Baptist Metz zu Ehren, Münster 1998; Polednitschek, Thomas/Rainer, Michael J./Zamora, José Antonio (Hg.): Theologisch-politische Vergewisserungen. Ein Arbeitsbuch aus dem Schüler- und Freundeskreis von Johann Baptist Metz, Münster 2009; Janßen, Hans-Gerd/Prinz, Julia D. E./Rainer, Michael J. (Hg.): Theologie in gefährdeter Zeit. Stichworte von nahen und fernen Weggefährten für Johann Baptist Metz zum 90. Geburtstag, Berlin 2018. 190 JBMGS 4 (Memoria passionis), 75.

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Nietzsches Formulierung des Todes Gottes und der von ihm diagnostizierte Grund für diesen Tod – die kopernikanische Wende Kants, das Ende der Metaphysik, die Entwicklung der Naturwissenschaften – interpretiert Metz als Grundproblem der Moderne. Nietzsche wird hinsichtlich des Todes Gottes nicht als sein Vollstrecker betrachtet, sondern eher als erste Quelle einer Zeitdiagnose, deren Schatten bis in die Gegenwart reichten. Metz stimmt Nietzsches Diagnose in weiten Teilen zu. Tatsächlich seien alle weiteren Krisen der Moderne an den Zustand Gottes geknüpft: insbesondere die »Krise des moralischen Universums«191 , insofern in der gegenwärtigen Postmoderne ein deutliches Desinteresse am Leid der Anderen wahrzunehmen sei.192 Doch im Unterschied zu Nietzsche stellt Metz nicht den Tod Gottes fest, sondern eine »Gotteskrise«. Ich stimme Peters’ Einschätzung zu, »dass eine genaue und bündige Erschließung überaus schwer fällt«193 , dessen, was Metz unter »Gotteskrise« versteht. Metz betont, dass es sich bei dieser Gotteskrise um eine Menschheitskrise handle, »denn Gott ist entweder ein Menschheitsthema oder überhaupt kein Thema«194 . Diese Aussage lässt annehmen, dass Metz von einer Art gemeinsamen Horizont, einem Deutungshorizont, spricht, der wie eine ›große Erzählung‹ wirke, in der alle ihren Platz fänden. Doch scheint es ihm weniger, um einen solchen ordnenden Horizont zu gehen, denn um die Leidempfindlichkeit, die er mit dem Gottesbegriff aufs engste verknüpft sieht. Der moralische Universalismus, auf den Metz abzielt, ist einer, in dem das Recht des Leidenden auf Rettung universal gelte. Metz stellt die Verknüpfung von Gott und Leidempfindlichkeit auch bei Nietzsche fest, dort jedoch in Form der Ablehnung. Er fragt: »Was aber ›ist‹, wenn Gott tot ist? Wo kein Gott, da ist das Vergessen die einzige Bedingung menschlichen Glücks. Nietzsche knüpft seine ›neue Art zu leben‹ an eine Kultur des Vergessens, an jene kulturelle Amnesie, die zunehmend unsere postmoderne Landschaft prägt.«195 Nietzsche knüpfe das menschliche Glück an das Vergessen. Hier gehe es vor allem um das Vergessen von verursachten Leiden. Es handle sich deshalb in Nietzsches Überlegung um eine »Amnesie des Siegers«196 . Metz stellt Nietzsches Diagnose nicht einfach einer christlichen gegenüber. Es ist nicht das Modell der Konfrontation, hier das Christentum, dort Nietzsche (oder ›die Welt‹), das Metz anwendet. Sein Vorgehen erinnert stattdessen an seine Thesen zu den Ursprüngen des modernen Denkens bei Thomas von Aquin bzw. in der Bibel aus Christliche Anthropozentrik. Nur sucht Metz jetzt im Christentum nicht den Grund für die Entwicklung des Freiheitsdenkens und des Subjekts auf,

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Ebd., 77. Metz nennt die »postmoderne« Moral, eine »kleine Moral«: »Diese Kleine Moral, das ist die Moral mit den verkleinerten und beweglichen Maßstäben: mit dem Verzicht auf allzu langfristige, gar lebenslange Loyalitäten, mit dem Selbstverwirklichungsvorbehalt bei jedem Risiko, mit dem Insistieren auf Umtauschrecht bei jeglichem Engagement, aber eben auch ganz allgemein die Moral mit der Individualisierung aller Konflikte, mit der Vergleichgültigung gegenüber dem großen Konsens, mit der Verdächtigung aller universalistischen Begriffe.« Ebd., 77f. Hervorhebung im Original. 193 Peters: Mehr als das Ganze, 70. 194 JBMGS 4 (Memoria passionis), 76. 195 Ebd., 80 196 Ebd.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

sondern die Ursachen der Krise der Moderne. Das Christentum sei nicht so erinnerungsgeleitet, wie es Metz’ Auffassung nach notwendig sei. So fragt er: »Wir kennen im Christentum zwar eine kultische Anamnese; aber haben wir – auch nur in Ansätzen – wirklich eine anamnetische Kultur, die das kultische Passionsgedächtnis an unsere geschichtlichen Erfahrungen zurückbindet und so verhindert, dass es schließlich nur als geschichtsferner Mythos gefeiert wird?«197 Metz kann diese Frage nicht bejahen. Im Christentum und vor allem in den biblischen Erzählungen sei zwar eine Erzählstruktur wesentlich angelegt. Diese finde jedoch nur ansatzweise in der christlichen Praxis Widerhall. Metz vermutet, dass möglicherweise (auch) die »Art der Theologiewerdung« im Christentum die Erinnerungs- und Leidempfindlichkeit verdrängt habe.198 Deshalb drängt er darauf, dieses verschüttete Erinnerungsvermögen für das Christentum und die Theologie wieder zugänglich zu machen. An diesem Vermögen hänge letztendlich die Möglichkeit, weder Gott noch den Menschen sterben zu lassen.199 Mit der Aussage des Todes Gottes und der Verknüpfung von Glück und Vergessen verbindet Nietzsche noch eine zweite Aussage, nämlich diejenige des Todes des Menschen, wie Metz hervorhebt. Im Vergessen zugefügten Leids, im Vergessen der Leidenden und im Vergessen der Taten gehe laut Metz das verloren, was das Menschliche des Menschen ausmache. »Üblicherweise zitieren wir ihn [Nietzsche, P.A.] als den Künder des Todes Gottes im Herzen des europäischen Abendlandes. Vielfach jedoch vergessen wir dabei, dass er selbst aus diesem Tod Gottes eine unerbittliche Konsequenz zieht, nämlich die des Todes des Menschen, jenes Menschen, wie er uns bisher geschichtlich vertraut und anvertraut war. Denn auch Nietzsche redet schon vom Tod des Subjekts, hält das Subjekt für eine bloße ›Fiktion‹ und die Rede vom ›Ich‹ für einen Anthropomorphismus.«200 Das Subjekt, dessen Tod hier verkündet wird, interpretiert Metz weniger im Sinne der Erkenntnis- oder Handlungsfähigkeit, sondern in der Möglichkeit, einerseits Verantwortung für die eigenen Taten übernehmen zu können, andererseits mitleidfähig zu sein.201 Das dritte Motiv, das Metz von Nietzsche nach dem »Tode Gottes« und dem »Vergessen« aufgreift, ist das der Ewigkeit. Ich habe bereits in Kapitel 5.2.3 darauf hinge-

197 Ebd., 80f. 198 Metz stellt in dieser Verdrängung eine antijüdische Ausrichtung fest: »Dieser Verlust gilt üblicherweise keineswegs als solcher, er gilt vielmehr als Sieg, eben als Sieg der theologischen Vernunft, als theologischer Sieg vor allem über die jüdischen Traditionen im Christentum, und er ist doch in meinen Augen zur Wurzel der heutigen Kompetenzkrise des Christentums geworden, der gegenüber – ich wiederhole mich – alle Kirchenkrisen im Christentum sekundärer Natur sind.« Ebd., 79. 199 In Metz’ Gottesverständnis ist es nicht möglich, dass Gott durch die Menschen sterbe, wohl aber dass der Mensch bzw. eine bestimmte Idee des Menschen stirbt. 200 Ebd., 88. 201 In Jenseits bürgerlicher Religion schreibt Metz: »Dieser gleiche Nietzsche wird zum großen Feind des Mitleidens am Leiden der Anderen.« JBMGS 1, 186.

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wiesen, dass Metz seine eschatologische bzw. apokalyptische Theologie, die Zeit als befristete Zeit auffasst, gegen Nietzsches »Wiederkehr des Gleichen« entwirft. Diese sei rückgekoppelt an die These vom Tode Gottes: »Nietzsches Botschaft vom Tode Gottes ist, genau besehen, eine Botschaft von der Zeit.«202 Die Zeit, die Nietzsche meine, sei die Zeit ohne Ende, die ewige Zeit.203 Da diese Zeitvorstellung gegenwärtig die vorherrschende sei, verwendet Metz die metaphorische Formulierung »atmosphärischer Nietzsche«204 . Die Gegenwart, die als Postmoderne charakterisiert wird, zeichne sich durch eine solche Atmosphäre aus. Es ist deshalb nicht das Zeit- bzw. Ewigkeitsverständnis Nietzsches mit seinen verschiedenen ethischen, politischen und philosophischen Implikationen, das Metz hier interessiert, sondern vielmehr die Möglichkeit, einen Referenzpunkt für seine Gegenwartsdiagnose zu finden. Überhaupt rezipiert Metz Nietzsche auf diese Weise: Der Philosoph des 19. Jahrhunderts dient als Referenzgröße für die Ursachen sowie für Kristallisationspunkte gegenwärtiger Krisen, seien sie gesellschaftlich oder kirchlich.205 So sind es auch weder vollständige Veröffentlichungen oder entfaltete Gedankengänge Nietzsches, die Metz aufgreift, sondern einzelne Aussagen unterschiedlicher Werke206 .207

4.3.3 Die Kritik der bürgerlichen Religion Die beiden großen existenziellen Anfragen an das Christentum treten durch Marx und Nietzsche an dieses von außen heran. Metz ist der Überzeugung, dass diesen Anfragen nur sinnvoll begegnet werden könne, wenn sich das Christentum bzw. die Theologie selbstkritisch auf diese Anfragen einlasse. Das heißt, dass die Krisen nicht bloß als von außen kommend aufgefasst würden, sondern vielmehr, dass das Außen als Fremdprophetie auf innere Krisen hinweise. Metz macht noch eine dritte existenzielle Anfrage an das Christentum aus, die viel undeutlicher von außen kommt. Stattdessen handle es sich um eine Krisenerscheinung, die in weiten Teilen die Konstitution des Christentums in der europäischen Moderne betreffe. Gemeint ist das liberale Bürgertum und mit ihm die Entstehung dessen, was Metz »bürgerliche Religion« nennt.

202 Ebd., 190. 203 Metz bezieht sich auf das späte Zeitverständnis Nietzsches, in dem nicht mehr der Augenblick und die Vergänglichkeit betont werden, sondern die Ewigkeit. »Obgleich auch nach ihm [Nietzsche, P.A.] die Zeit irreversibel fortschreitet, sind Vergangenheit und Zukunft insofern symmetrisch, als die Zukunft wieder zur Vergangenheit werden kann und sich in der Gegenwart nichts absolut Neues ereignet.« Christians, Ingo: Zeit, in: Ottmann, Henning (Hg.): Nietzsche Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart/Weimar 2 2011, 358–360, hier 359. 204 JBMGS 4 (Memoria passionis), 135. 205 Vgl. zum Verhältnis von Nietzsche und der Postmoderne auch Rehmann, Jan: Postmoderner LinksNietzscheanismus. Deleuze und Foucault. Eine Dekonstruktion, Hamburg 2004. 206 Metz zitiert aus den Bänden 3, 4, 5, 11 und 12 von Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hgg. von Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino, Berlin/New York 1967ff. 207 Eine religionsphilosophische und theologisch reflektierte Annäherung an Nietzsche bietet der Sammelband: Müller (Hg.): Natürlich: Nietzsche.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

Die Entfaltung des Phänomens »bürgerliche Religion« findet bei Metz, wie meistens, nur in Ansätzen statt. Er widmet sich diesem Phänomen hauptsächlich in den 1970er und 1980er Jahren in Glaube in Geschichte und Gesellschaft 208 und in Jenseits bürgerlicher Religion. Metz stellt die These auf, dass es gegenüber der europäischen Aufklärung im Wesentlichen zwei kirchliche Reaktionen gab: Einmal eine Frontstellung gegen die Aufklärung, die sich theologisch als Neuscholastik entwickelte, das andere Mal als distanzlose Übernahme der aufklärerischen Interessen.209 Jene zweite Reaktion ließ das Phänomen »bürgerliche Religion« entstehen: »Das christliche und theologische Interesse wird hier identisch mit den historisch greifbaren neuzeitlichen Interessen an Emanzipation, Mündigkeit, Freiheit. Das Christliche besteht in der Affirmation der neuzeitlichen Prozesse selbst.«210 Die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts bemühte sich, die Aufklärung zu ihrer eigenen Sache zu machen und so der kirchlichen Antiaufklärung entgegenzuwirken. Doch, so Metz weiter, habe sie die »Dialektik der Aufklärung« nicht wahr- und ernstgenommen: »Dass es eine innere Dialektik von Emanzipation, Aufklärung und Säkularisierung gibt, dass die Aufklärung also Probleme aufgeworfen hat über das hinaus, was sie selbst zum Problem erhoben, als Frage auf die Tagesordnung gepresst und zu reflektieren vermocht hat, wird kaum gesehen.«211 Metz diagnostiziert der liberalen Theologie und damit der bürgerlichen Religion eine fehlende Reflexion hinsichtlich der Aufklärung, das heißt hinsichtlich der Kategorien »Emanzipation, Mündigkeit, Freiheit«212 und vor allem hinsichtlich des Aufkommens des »Bürgers«. Metz Rezeption der kritischen Theorie der Frankfurter Schule ist in diesem Zusammenhang überdeutlich. Er greift die zentrale These der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno auf, dass der Aufklärungsprozess als Befreiung vom Mythos angelegt war, aber in dieser Befreiung selbst wieder zum Mythos wurde. Die Frankfurter Theoretiker nennen diese Bewegung in der Vorrede der Dialektik der Aufklärung die »Selbstzerstörung der Aufklärung«. Sie schreiben: »Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, dass die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, dass der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthält, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.«213

208 Das ganze Buch Glaube in Geschichte und Gesellschaft lässt sich meines Erachtens als eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen »bürgerliche Religion« lesen. Metz widmet sich explizit in §3 der Entstehung der bürgerlichen Religion. JBMGS 3.1., 53–68. 209 Ebd., 43–53. 210 Ebd., 48. Genau genommen, spricht Metz hier von der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts. Diese sei aber, wie Metz weiter zeigt, zur vorherrschenden Theologie der bürgerlichen Religion geworden. 211 Ebd. 212 Ebd. 213 Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, 18f.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Entscheidend für die These von Horkheimer und Adorno ist die Annahme, dass die Zerstörung der Aufklärung in dieser selbst begründet liege und nicht äußerlich hinzutrete. Metz teilt das Anliegen, die Selbstzerstörung der Aufklärung zu reflektieren. Durch diese Reflexion nimmt er eine kritische Distanz zu den Zielen der Aufklärung ein und entwickelt so seine Theologie der Welt weiter. Zwar handelte es sich bei Metz von Anfang an nicht um eine affirmative Theologie der Welt. Jetzt arbeitet er jedoch die innere Dialektik des Weltwerdungsprozesses bzw. der Aufklärung noch expliziter heraus. Was bedeutet diese Dialektik für die Theologie? Metz stellt fünf Aspekte heraus, die zum Phänomen »bürgerliche Religion« geführt hätten: 1. eine allgemeine Privatisierung, 2. eine Traditionskrise, 3. eine Autoritätskrise, 4. die Krise der Vernunft und 5. eine Krise der Religion. Die Aufklärung, hier verstanden als historischer Prozess, habe zur Trennung von Staat und Kirche geführt. Auf diese Weise habe die Religion ihre Rolle der allumfassenden Identitätsbildung der Individuen verloren. Nun trete sie im Bereich des Privaten zur Identitätsbildung des Individuums als Bürger nachträglich hinzu. Gesellschafts- und identitätskonstituierend sei vielmehr das Tauschprinzip des kapitalistischen Marktes: »Getragen weiß sich das Bürgertum von einem neuen, alle sozialen Beziehungen stützenden und regelnden Prinzip: dem des Tauschs. Produktion, Verkehr und Konsum sind von ihm her bestimmt. Alle anderen Werte, die das Sozialwesen bisher prägten und nicht unmittelbar zum Funktionieren dieser bürgerlichen Tauschgesellschaft beitragen, treten immer mehr zurück in die Sphäre des Privaten, d.h. in die Sphäre individueller Freiheit.«214 Die Verbindungen, die der Markt zwischen Individuen erzeuge, ließen gleichzeitig andere Bindungen in den Hintergrund fallen bzw. aus dem öffentlichen Bereich treten.215 Das gelte auch für die Religion, die zur »Privatsache«216 werde. Staat, Markt und Religion bzw. Kirche treten so in ein arbeitsteiliges Verhältnis zueinander. Die identitätsbildenden Aspekte, z.B. gesellschaftsgestaltende Entscheidungen, Freiheitsvollzug, Vernunftgebrauch, fielen dem Staat bzw. dem Markt zu, die feierliche Begleitung finde in der Kirche statt.217 Auf diese Weise werde der Bürger das Subjekt der Religion und die Religion werde somit durch den Bürger gestaltet und geprägt. Dadurch verliere das Christentum

214 JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 56. 215 Diese These setzt voraus, dass sich die Gesellschaft (erst) im Zuge der sich ausbreitenden Marktwirtschaft in einen öffentlichen und einen privaten Bereich trennt. Im Hintergrund von Metz’ These dürften wiederum die Analysen der frühen Frankfurter Schule sowie von Marx und Engels stehen. Sie erinnert deutlich an diejenige des Manifests der Kommunistischen Partei (1848): »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹.« Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, 464. 216 JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 56. 217 »Er [der Bürger, P.A.] ist schließlich auch der Schöpfer jener ›Religion‹ […], derer man sich gleichsam als Ornament und Kulisse für bürgerliche Lebensfeiern bedient, privatissime et gratis, und die längst die gängige ist, auch im Normal-Christentum.« Ebd., 54.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

aber seine kritische Spitze, die in der Bibel fundiert sei. Dieses kritische Potenzial, in dessen Zentrum sich die Autorität der Leidenden befinde, gehöre aber Metz zufolge zu den zentralen Charakteristika des Christentums.218 Metz’ Diagnose geht über die Feststellung, dass das Christentum in weiten Teilen zu einer bürgerlichen Religion geworden sei, hinaus. Er prognostiziert bereits mit der Entfaltung dieser These ihre Obsoleszenz, insofern die Phase der Aufklärung und mit ihr das bürgerliche Subjekt an ihr Ende gekommen seien. In Jenseits bürgerlicher Religion drückt Metz seine Vermutung aus: »Wenn ich recht sehe, stehen wir in der End- und Übergangsphase einer geschichtlichen Periode, die gerade deshalb, weil sie ihrem Ende entgegengeht, als Ganze fasslich, überschaubar und charakterisierbar wird. Es handelt sich um jene Periode, die – in freilich vielfach verschlungener Kausalität – geprägt ist von Reformation und bürgerlicher Aufklärung und die wir deshalb als Periode der bürgerlichen Gesellschaft kennzeichnen können. Dabei ist der Begriff ›Bürger‹ und ›bürgerlich‹ zunächst einmal rein historisch gebraucht, und in diesem Sinne lässt sich meines Erachtens davon sprechen, dass wir am geschichtlichen End- und Wendepunkt der sogenannten bürgerlichen Welt stehen.«219 Die Phase des bürgerlichen Subjekts sei, so die Vermutung, an ihr Ende gekommen und werde von einem neuen Subjekttypen oder mehreren Subjekttypen abgelöst. Die Analyse des bürgerlichen Subjekts und der bürgerlichen Religion diene deshalb vor allem einer nachholenden Reflexion, um die theoretischen Bedingungen zu schaffen, diese neuen Subjekte kritisch erkennen zu können. In Glaube in Geschichte und Gesellschaft und in Jenseits bürgerlicher Religion nimmt Metz diesen neuen Subjekttyp noch hauptsächlich im Marxismus wahr. Eine Variante dieses Subjektstyps, die Metz entschieden ablehnt, sei diejenige des »sogenannten real existierenden Sozialismus«. Dieser Subjekttyp sei zwar kein bürgerliches Subjekt mehr, aber es sei auch nicht deutlich, wodurch er sich auszeichne. So fragt er: »Gilt hier nicht, was Th.W. Adorno ahnungsvoll formulierte: ›Das Grauen ist, dass der Bürger keinen Nachfolger fand‹ –?« Was Metz hier genau meint, ist nur indirekt einsehbar, wenn er den anderen Subjekttyp charakterisiert, der ebenfalls marxistisch geprägt sei. Es gehe um ein neues Bewusstsein, das er in der Gesellschaft der Bundesrepublik der 1980er Jahre erkennt: »Dieses Bewusstsein zielt in ersten Umrissen auf eine freie, nachbürgerliche Gesellschaft mit einer neuen Weltwirtschaftsordnung.«220 Es verbreite sich in den christlichen Kirchen in der Bundesrepublik vor allem durch den Austausch mit den lateinamerikanischen Kirchen. Diese Variante stellt Metz

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Peters expliziert die metzsche These treffend: »Auch das Christentum sei zumindest in Europa zu jener ›Religion‹ geworden, die ihm zwar seine Anpassungsfähigkeit ermöglicht, dadurch aber auch seine Authentizität zerstört: die Fähigkeit, Leiden wahrzunehmen.« Peters: Mehr als das Ganze, 71. 219 JBMGS 1 (Jenseits bürgerlicher Religion), 211. Ansatzweise formuliert Metz diesen Gedanken auch in Glaube in Geschichte und Gesellschaft: »Erst in der Revision der Aufklärung durch diese (nicht zuletzt am Widerstand der apologetischen Front des 19. Jahrhunderts abgelesene) Fragestellung kann sich Theologie endlich auch jener Herausforderung stellen, die durch den marxistischen Kampf um ein ›neues Subjekt‹ längst begonnen hat.« JBMGS 3.1., 52. 220 JBMGS 1 (Jenseits bürgerlicher Religion), 218.

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derjenigen des real existierenden Sozialismus der 1980er Jahre entgegen: »Eine in diesem Sinne ›sozialistische Inspiration‹ des politischen Gewissens ist in unserer Kirche nicht mehr schlechthin fremd und erscheint nicht mehr als rundweg antichristlich.«221 Dem Subjekttyp des »real existierenden Sozialismus« hingegen scheint die Dimension der Freiheit und die mit ihr einhergehenden Aspekte (Gewaltenteilung, Oppositionsrecht)222 zu fehlen. In seinen Veröffentlichungen seit den 1990er Jahren greift Metz die These der bürgerlichen Religion kaum mehr explizit auf. Auch ist die Hoffnung auf das nachbürgerliche Subjekt in Gesellschaft und Kirche, das in diesem kritischen Sinne sozialistisch geprägt sei, nur noch selten zu finden. Metz widmet sich nun den Auswirkungen der »Postmoderne«. Seine Analysen zur postmodernen Gesellschaft, zum postmodernen Subjekt sowie zur postmodernen Religion lassen sich als Fortführung seiner Studien zum bürgerlichen Subjekt und zur bürgerlichen Religion interpretieren.

4.4 Zwischenfazit: Vom absoluten Sein Gottes zum vermissten Gott der Lebenden und der Toten Das metzsche Denken wird zu Recht mit dem Stichwort Neue Politische Theologie verknüpft. Seit der Begegnung mit dem Marxismus – hier vor allem mit Ernst Bloch – Mitte der 1960er Jahre formuliert Metz das Programm dieser neuen Theologie. Sie zeichnet sich durch ihren Gesellschaftsbezug, ihren Geschichtsbegriff, ihre Form der Kritik, ihren macht- und herrschaftskritischen Gottesbegriff und ihre wesentliche Interdisziplinarität aus. Sie wurde zu einer Theologie nach Auschwitz, die sich ebenso von der Weltkirche und der Lebensrealität der sogenannten Dritten Welt betreffen ließ und sich selbst (unter anderem deshalb) als nachidealistisch interpretierte. Geht man zeitlich vor das Jahr 1965 zurück, lassen sich neben dem Marxismus noch weitere bedeutende Ausgangspunkte des metzschen Denkens erkennen. Der Blick zurück in die frühen 1960er und 1950er Jahre verändert den Charakter der Neuen Politischen Theologie nicht; er lässt sie nicht in einem grundsätzlich anderen Licht stehen. Vielmehr legt der Blick zurück in die Anfänge des metzschen Denkens seine Auseinandersetzung mit der Ontologie frei, die in seinem späteren Schaffen nur indirekt aufgefunden werden kann.In meiner Darstellung des metzschen Ansatzes einer nachidealistischen Theologie der Welt habe ich gezeigt, wie sich diese Art der Theologie in der Auseinandersetzung mit Heidegger und Rahner entwickelt. Für den frühen Metz wie für Rahner steht das Verhältnis des absoluten Seins Gottes zum Dasein des Menschen im

221 Ebd., 219. Hervorhebung im Original. 222 Metz charakterisiert dieses Sozialismusverständnis folgendermaßen: »Natürlich, davon gehe Ich hier aus, ist in unserer mitteleuropäischen Gesellschaft eine sozialistisch inspirierte Politik nur möglich und verantwortbar auf demokratischem Weg, also in der Gestalt eines demokratischen Sozialismus, der die Errungenschaften der bürgerlichen Freiheitsgeschichte nicht negiert, sondern in geschichtlicher Dialektik beerbt und gerade so das unverzichtbare bürgerliche Erbe rettet. Es geht also in jedem Falle um eine Politik mit anerkannter Gewaltenteilung, mit Oppositionsrecht, Meinungsfreiheit und Volkssouveränität usw.« Ebd., 220.

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

Vordergrund. Genauer müsste man sagen, dass das Verhältnis vom Dasein des Menschen zu Gott betrachtet wird. Metz folgt hier der anthropologischen Wende Rahners, durch die der Mensch als Subjekt in den Blick kommt. Der Mensch wird interpretiert als ein grundsätzlich fragender: als ein sich selbst sowie den Grund und das Ziel seiner selbst befragender. Mit diesen Fragen stoße er auf den absoluten Grund und das absolute Ziel seines Fragens, nämlich Gott. Doch das absolute Sein Gottes ist keines, das vom Menschen her erschlossen werde, sondern vielmehr eines, das als absolutes Geheimnis begegne.Die Annahme dieses Verhältnisses vom Dasein des Menschen zum absoluten Sein Gottes steht im Hintergrund seiner frühen Auseinandersetzung mit Heidegger. In seiner philosophischen Dissertation Heidegger und das Problem der Metaphysik von 1951 kritisiert Metz Heidegger dahingehend, dass Letzterer nicht die Begrenztheit des menschlichen Fragens wahrnehme. Der Mensch könne nicht, so wie es in der metzschen Interpretation Heidegger praktiziere, von sich ausgehend das absolute Sein erschließen. Die Differenz zwischen dem Geheimnis des absoluten Seins und dem Menschen müsse bewahrt bleiben. Der Mensch könne nur auf unterschiedliche Seinsbereiche bzw. Seinsbezirke schließen. Über den Seinsbereich Gottes erfahre der Mensch inhaltlich nur etwas durch Gottes Offenbarung. In dieser Etappe seines Denkens ist Metz noch dem ontologischen Horizont verpflichtet. Die Kritik an Heideggers Ontologie ist zunächst und vor allem eine, die die Ontologie bzw. die Metaphysik – beide werden hier nahezu identisch verwendet – durch die Theologie begrenzt. Metz gewinnt in der Auseinandersetzung mit Heidegger eine Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie, die er in Grundzügen in seinem ganzen Werk beibehält. Die Philosophie müsse sich ihrer Grenzen bewusst werden. Über das Absolute könne nur die Theologie aufgrund ihrer Reflexion der Offenbarung Auskunft geben. Umgekehrt sei die Theologie aber immer auf die grundsätzliche Methodik der Philosophie angewiesen. Das sich-Befragen sei eine philosophische Angelegenheit, welcher die Theologie bedürfe. Die Philosophie stehe im Dienst der Theologie. Beide seien aber gegenseitig notwendig aufeinander angewiesen.Bereits anfanghaft in seiner Dissertation über Heidegger und vor allem in seiner theologischen Dissertation über Thomas von Aquin (Christliche Anthropozentrik von 1962) versucht Metz immer stärker das zu fassen, was unter Dasein verstanden werden kann. Der Mensch sei nicht nur ein fragender, sondern ein weltschaffender und weltsituierter. Dieser Gedanke ist zwar auch schon bei Heidegger zu finden, doch Metz sieht die Notwendigkeit, ihn zu konkretisieren. Welt sei weiterhin als Geschichte, als werdende Welt mit Zukunft aufzufassen. Der Mensch wie die Welt seien wesentlich transzendent, insofern sie immer eine Offenheit in die Zukunft besäßen. Auf stringente Weise kommt Metz von den Kategorien Sein und Dasein auf die Begriffe Welt, Geschichte, Praxis, Subjekt, Zukunft, Eschatologie. Mit ihnen gelte es, Moderne und Aufklärung positiv kritisch – nicht affirmativ – zu rezipieren. An diesem Punkt – vor allem in den Aufsätzen von Zur Theologie der Welt – begegnet Metz dem Marxismus, durch den die Kategorien Geschichte, Welt, Praxis und Zukunft weiter an Kontur gewinnen. Welt wird zur Gesellschaft, die Metz nun durch Markt, Tauschprinzip, Institutionen, die Unterscheidung öffentlich-privat, gesellschaftsverändernde Praxis, Emanzipation und vieles mehr charakterisiert. Gott ist nicht mehr ›nur‹ das absolute Sein bzw. absolutes Woraufhin, sondern wird von Metz als rettender Gott interpretiert.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Die Betrachtung der frühen Phase von Metz zeigt, wie er seine Theologie zunächst im ontologischen Horizont entwickelt und sich nach und nach aus diesem herausschraubt. Es sei die Konkretion, die der Ontologie mangele. Welcher Mensch, welche Welt, welche Geschichte sind gemeint, wenn die Ontologie von ihnen spricht? Die Konkretisierung der Kategorien führt nicht bloß zu einer stärkeren Informiertheit der Theologie, sondern verändert auch theologische Inhalte und Denkweisen. Paradigmatisch lässt sich dies am veränderten Verständnis vom »Gott über uns« zum »Gott vor uns« nachvollziehen. Das Verständnis vom »Gott über uns« ändert sich mit der Kategorie Zukunft, mit der sich eine statische Weltauffassung in eine dynamische wandelt und entsprechend auch die dynamische Seite Gottes in den biblischen Zeugnissen (wieder-)entdeckt wird. Gott kann nun als »vor uns« aufgefasst werden.Die Hinwendung zur Welt als Gesellschaft bzw. zum Menschen als konkret gesellschaftlich und geschichtlich verorteter geschieht bei Metz als Abwendung von einer ontologisch geprägten Transzendentaltheologie. Im Prozess der Hinwendung zur Welt als Gesellschaft geht Metz einen folgenreichen Schritt weiter. Er stößt auf das Andere der philosophischen wie theologischen Vernunft (in Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie von 1985). Damit vollzieht er den entscheidenden Schritt zum nachidealistischen Denken. Metz lässt sich von diesem »Anderen« der Vernunft durch die Bewusstwerdung der Katastrophe von Auschwitz konfrontieren. Auschwitz könne nicht begrifflich eingeholt oder verstanden werden, weder philosophisch noch theologisch. Auschwitz, aber auch andere Erfahrungen des Leids und der Vernichtung, forderten die Theologie auf, Rettung zu denken. Dabei gelte es, den Unterschied der begrifflich erfassten Rettung von der tatsächlich geschehenden – oder nicht geschehenden – Rettung zu wahren. Solche Erfahrungen, die auf das Andere der Vernunft verweisen, limitieren die Vernunft in ihrem Anspruch auf Vollständigkeit (Totalität) und Unbedingtheit (Absolutheit). Auch die Erfahrung des Anderen der Vernunft lasse sich im biblischen Zeugnis auffinden. In Form von Erzählungen transportiere die Bibel Leidens-, Scheiterns-, Hoffnungs- und Rettungsgeschichten. Die Form der Erzählung unterscheide sich deshalb von derjenigen theoretischer Abstraktion. Die nachidealistisch verfasste Theologie richtet ihre Kritik nicht nur an die Vernunft und ihren Totalitätsanspruch, sondern auch an einen ungebrochenen Gottesbegriff. Theologie wird nun zur Theodizee. Theodizee versteht Metz jedoch nicht als begriffliche Versöhnung zwischen Gott und dem Leiden, sondern als dramatische Rückfrage an Gott: Warum rettet Gott nicht? Gottes rettende Anwesenheit wird vermisst. Damit wird Gott in die Verantwortung genommen. Genau in dieser Rückfrage und Inanspruchnahme sowie im Vermissen Gottes verortet Metz sein Gottesargument. Es ist keines, das auf Rationalität aufbaut, sondern eines, dass in der biblisch zugesprochenen Erlösungsbzw. Rettungsbotschaft transportiert wird. Gott bleibt Geheimnis; jedoch wird er nicht aus der Verantwortung angesichts des existierenden Leids genommen. Als eine Theologie, die bemüht ist, in expliziter Weise die Herausforderungen der Moderne und der Postmoderne ins Bewusstsein zu holen, wird die Theologie von Metz zur adäquaten Gesprächspartnerin moderner und zeitgenössischer Atheismen. Ein bedeutender Wesenszug der Moderne und der Aufklärung ist gerade die Loslösung von Kirche, Theologie und Gott. Wie geht Metz mit diesem Selbstverständnis der Aufklärung um? Ich habe gezeigt, dass sich Metz zwei externen Atheismen und einer der Kirche immanenten Auflösung des christlichen Gottesglaubens widmet. Die zwei Atheismen

4. Metz: Der vermisste Gott der Lebenden und der Toten

kommen von Marx und Nietzsche. Ersteren konfrontiert Metz mit der These, dass eine auf Zukunft ausgerichtete Emanzipation lediglich eine halbierte sei. Sie lasse die vergangenen Menschen außen vor. Emanzipation lasse sich jedoch nur dann als ganze auffassen, wenn sie die vergangenen Menschen integriere. Dafür stehe der biblisch bezeugte Auferstehungsglaube. Ein so verstandener Gottesglaube könne auch keine Widerspiegelung des Status quo sein, da es ja gerade um seine Veränderung und nicht um seine Bestätigung gehe. Metz konfrontiert die marxsche Religionskritik mit einer materialistischen Aporie: Das materialistische Denken führe zwar zum Selbstbewusstsein in die eigenen (gesellschaftlichen) Veränderungsmöglichkeiten. Es stoße aber an die Grenze seiner Realisierung, insofern die Vergangenen nicht einbezogen werden könnten. Die Auseinandersetzung von Metz mit Nietzsches Gotteskritik ist anders verfasst als diejenige mit Marx. Mit Marx bzw. mit marxschen Ansätzen beschäftigt sich Metz auf sehr ›rationale‹ Weise. Hier findet über Bloch und Garaudy ein theoretischer Dialog statt. Die Nietzscherezeption funktioniert anders. Nietzsche dient als scharfsinniger Stichwortgeber für eine Gegenwartsdiagnose. Metz tritt weniger in einen Dialog mit Nietzsche, sondern übernimmt zentrale Gedanken Nietzsches, um an ihnen das postmoderne Denken festzumachen. Hier ist es vor allem die Auffassung des Todes Gottes, die mittlerweile in weiten Teilen der Gesellschaft zu einer Banalisierung der Gottesfrage geführt habe. Weiterhin sieht Metz in Nietzsches Wiederkehr des Gleichen – bzw. seiner Zeitauffassung – und seines Imperativs des Vergessens zentrale Merkmale der Gegenwart ausgesprochen. Er übernimmt sie allerdings nicht unter der Annahme des Todes Gottes, sondern einer Gotteskrise. Metz will darüber aufklären, dass sich das Christentum in einer solchen Gotteskrise befinde, da sie dem biblisch bezeugten Gott nur noch wenig Bedeutung zutraue. Eine der schwerwiegendsten Folgen lägen in der abnehmenden Mitleidsfähigkeit. Dieser Krise will Metz mit dem biblischen Erinnerungsdenken entgegenwirken. Die dritte Herausforderung der Moderne für das Christentum sei, so Metz, diejenige der bürgerlichen Gesellschaft und mit ihr die Aufteilung in einen öffentlichen und einen privaten Bereich. Entgegen ihrem Selbstverständnis wurde die Religion in den privaten Bereich gedrängt. Auf diese Weise könne die Religion nicht mehr identitätsstiftend wirken. Der Akteur der christlichen Religion sei nun in erster Linie der Bürger. Das Resultat nennt Metz »bürgerliche Religion«. Die bürgerliche Religion ist die ins Private abgeschobene Religion, die nur noch als Ergänzung zu Staat und Markt hinzutrete. Alle wesentlichen aufklärerischen Errungenschaften, wie die politische Mitgestaltung, Freiheit sowie Mit- und Selbstbestimmung geschehen ohne zentrales Wirken der christlichen Religion. Eine solche angepasste bürgerliche Religion kenne jedoch nicht mehr den kritisch-wirkenden Gott der Bibel. Die Rekonstruktion der metzschen nachidealistischen Theologie hat gezeigt, dass sie tatsächlich fundamentale Bewegungen und Einsichten der Aufklärung nachvollzogen hat. Damit teilt sie in theoretischer Hinsicht viele Aspekte eines kritischen Marxismus, wie er bei Bloch, Adorno, Marcuse und Benjamin zu finden ist. Metz’ Theologie versucht deutlich die von Horkheimer und Adorno formulierte Dialektik der Aufklärung in das theologische Denken kritisch aufzunehmen – und darin Theologie zu bleiben.

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5. Badiou und Metz im Gespräch

In diesem Kapitel konstruiere ich ein Gespräch zwischen Alain Badiou und Johann Baptist Metz. Ein reales Gespräch zwischen beiden hat es meines Wissens nie gegeben. Ich versuche dennoch, kein ›was-wäre-wenn-Gespräch‹ zu führen, sondern durch die Begegnung beider die jeweilige Position zu erhellen sowie auf Probleme der Positionen hinzuweisen. Doch bevor ich das Gespräch beginne, möchte ich einige Gesprächsbedingungen nennen. Zunächst: Beide Autoren trennt eine fundamentale Differenz. Badiou ist Mathematiker und Philosoph, Metz ist bzw. war katholischer Theologe. Auch wenn Badiou theologische Grundfragen thematisiert und Metz sich intensiv philosophischer Reflexion bedient, sind beide ihren jeweiligen Wissenschaften verpflichtet. Trotz der langen Beziehung, die Philosophie und Theologie pflegen, bleibt ein Gespräch zwischen beiden interdisziplinär. Dementsprechend führe ich keinen Vergleich beider Positionen durch, sondern analysiere bei thematischer Nähe ihre Distanz.1 Mit dem fiktiven Gespräch verfolge ich mindestens drei Ziele: 1. Ich möchte die Theologie von Metz mit der Philosophie Badious vertraut machen. Dem Theologen Metz eröffne ich mit der Philosophie Badious einen besonderen und eigentümlichen Atheismus, der sich von den Atheismen, die Metz kritisch analysiert (Marxismus, Nietzsche, Bürgertum), unterscheidet. Damit ermögliche ich ebenfalls der theologischen Strömung im Anschluss an Metz – der Neuen Politischen Theologie – einen Zugang zu diesem eigentümlichen Atheismus. Dem Philosophen Badiou wiederum begegnet im Werk von Metz eine auf Emanzipation zielende, nachidealistische Theologie, die in kritischer Auseinandersetzung mit der Ontologie Heideggers entwickelt wurde. Als nachidealistisch angelegte Theologie differiert sie ihrerseits von den theologischen Topoi, die Badiou rezipiert. 2. Das Gespräch soll die Reichweite der jeweiligen Argumente überprüfen. Von welchem Gott sprechen Badiou und Metz jeweils? Inwiefern wird die theologische Gottesre-

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Ich halte mich hier an Martin Thieles Charakterisierung des Gesprächs, das er zwischen den beiden Theologen Eberhard Jüngel und Johann Baptist Metz konstruiert hat: »Spannung macht eine gute Theologie aus – und zur Spannung der beiden theologischen Ansätze von Metz und Jüngel gehören Nähe und Distanz ihrer Positionen.« Thiele: Gott, Allmacht, Zeit, 358. Hervorhebung im Original.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

de von der philosophischen Tod-Gottes-Aussage herausgefordert oder gar in Frage gestellt? Ist hier die Unterscheidung von Philosophie und Theologie noch angebracht? 3. Ich ziele mit der Gegenüberstellung der theoretischen Voraussetzungen von Metz und Badiou auf eine Reflexion derselben. Welche theoretischen Werkzeuge prägen die Theologie von Metz und die Philosophie Badious und welche Möglichkeiten und Grenzen gehen mit ihnen einher? In welcher Verbindung stehen die theoretischen Grundlagen mit den jeweiligen inhaltlichen Topoi – insbesondere hinsichtlich des Gottesbegriffs? In einer Linie mit den thematischen Engführungen meiner Studie2 habe ich fünf Diskussionspunkte für das Gespräch ausgewählt: 1. Das Theorieverständnis, 2. die Infragestellung des Gottesbegriffs, 3. der Gottesbegriff, 4. das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit, 5. die Überwindung des Nihilismus. In meiner Darstellung von Badiou und Metz habe ich diese Themen bereits im Hinblick auf den jeweiligen Autor analysiert.3 Im Folgenden werde ich deshalb nur in knapper Form die jeweilige Position zuspitzen und anschließend gemeinsam ins Gespräch bringen. Das erste Unterkapitel ist immer Badiou, das zweite Metz und das dritte dem Gespräch gewidmet.4 Obwohl die fünf Themen in meiner Präsentation unterschiedliche Aspekte behandeln, sind sie doch auf eine Frage hin ausgerichtet: Welche Bedeutung kommt der TodGottes-Aussage Badious aus theologischer Perspektive zu? Die hier in Anspruch genommene theologische Perspektive ist diejenige der nachidealistischen Theologie der Welt von Johann Baptist Metz.

5.1 Das Theorieverständnis Stellte man den theoretischen Bezugsrahmen von Metz in Glaube in Geschichte und Gesellschaft (1978) demjenigen Badious in L’être et l’événement (1988) gegenüber, könnten beide Ansätze kaum weiter auseinander liegen. Denn Ersterer ist deutlich durch die philosophisch und soziologisch geprägte Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule gekennzeichnet. Mit Letzterem versucht Badiou eine axiomatische Ontologie für die Philosophie zu etablieren. Ein Gespräch scheint kaum möglich, da beide Ansätze sich durch ihren gegenseitigen Ausschluss auszeichnen. Zieht man hingegen die Genese des metzschen sowie des badiouschen Denkens in Betracht, lassen sich einige Berührungspunkte ausmachen, die eine Gesprächsgrundlage bieten.

5.1.1 Axiomatische Philosophie: Badiou Als eine von Alain Badious großen Leistungen darf sein Unternehmen der Entfaltung einer axiomatischen Ontologie und Philosophie zählen. Seine These »mathématiques =

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Gemeint sind die Themen in den Kapiteln 4 und 6.2. Ich habe die Darstellung und Schwerpunktsetzung der Themen in den Kapiteln 4 und 6.2 den jeweiligen Autoren angepasst, weshalb ich auf eine vollständige Kongruenz der Darstellung verzichtet habe. Auch in der Darstellungsweise habe ich mich an Thieles Gespräch zwischen Metz und Jüngel orientiert, welches ich für sehr übersichtlich und gelungen erachte.

5. Badiou und Metz im Gespräch

ontologie«5 in L’être et l’événement impliziert diese Axiomatik, insofern es die Axiome der Zermelo-Fraenkel-Axiomatik sind, die Badiou zufolge der Ontologie und damit auch der Philosophie zu Grunde lägen. Was ist ein Axiom? Anindya Bhattacharyya erklärt den Begriff des Axioms folgendermaßen: »When mathematicians call something an axiom, they are not claiming there is anything self-evident about it. Rather the axiom is simply posited as a starting point for logical reasoning. It marks a decision for thought to proceed in one direction and not another, and an inaugural decision at that.«6 Ein Axiom in diesem Sinne markiert den Ausgangspunkt eines Gedankens, der nach und nach entfaltet wird. Mehr noch: Es handelt sich um einen bewussten Ausgangspunkt, eine Entscheidung für diesen und nicht einen anderen Ausgangspunkt. Weiterhin stehen die Axiome und die aus ihnen folgenden Gedanken unter der Prämisse ihrer (formal-)logischen Konsistenz, wie Badiou an anderer Stelle anmerkt.7 Das, was Bhattacharyya für die Mathematiker*innen festhält, gilt gleichermaßen für Badiou seit L’être et l’événement. Das Denken mit Axiomen bzw. das Denken, das in Axiomen seinen Ausgangspunkt findet, kann als der vorherrschende Theorietypus bei Badiou betrachtet werden. Zwar finden sich noch weitere theoretische Ansätze, wie beispielsweise derjenige einer teilenden Dialektik in Théorie du sujet oder das Denken der Ausnahme in Logiques des mondes sowie einzelne Kapitel in L’être et l’événement, die man eine kritische Analyse nennen könnte8 . Diese werden von Badiou jedoch in das axiomatische Denken integriert9 , das heißt, sie gehören zur Entfaltung der getroffenen Entscheidungen bzw. der Axiome. Die Bedeutung des axiomatischen Charakters einer Theorie muss in ihrer Eigenheit erfasst werden. Dieser Theorietypus strukturiert die Gestalt des Denkens und seiner Präsentation. Sätze, wie beispielsweise »Das Eins ist nicht« oder »Gott ist tot« werden zunächst gesetzt. Die folgenden Ausführungen sind im engen Sinne keine Überprüfungen dieser Sätze, wie es für die Überprüfung einer Hypothese gelten würde, sondern Fortschreibungen dieser ersten Sätze. Diese Art der Präsentation lässt Badious Philosophie zuweilen gewagt, polemisch und willkürlich anmuten. Doch Badiou beansprucht, genauso wie in der Mathematik, keine willkürlichen Entscheidungen zu treffen. Um ein Wagnis handelt es sich bei einem gesetzten Axiom dennoch, insofern es nicht auf einem expliziten weiteren Grund fußt. In meiner Analyse habe ich mich im Wesentlichen auf Badious Ontologie fokussiert. Badiou selbst unterscheidet explizit zwischen der Ontologie und der Philosophie. Seit die Ontologie von der Mathematik und nicht mehr von der Philosophie betrieben werde, könne sie aus dem Bereich der Philosophie herausgelöst werden. Die Philosophie könne

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ABEE 12 [20]. Bhattacharyya, Anindya: Axiom, in: Corcoran, Steven (Hg.): The Badiou Dictionary, Edinburgh 2015, 21–23, hier 21. Vgl. ABEE 52 [58]. Ich habe die Meditation 15 zu Hegel in L’être et l’événement (ABEE 181–190 [185-195]) als solch eine kritische Analyse herausgestellt, insofern Argumente – hier Hegels – diskutiert und überprüft werden, um zu einem Urteil zu gelangen. Meinen hier zugrunde gelegten Kritikbegriff entnehme ich von Hindrichs: »Dieser griechischen Wurzel zufolge besteht Kritik in der unterscheidenden Entscheidung eines Urteils.« Hindrichs: Zur kritischen Theorie, 12–45, hier 12 sowie Kapitel 4.1.5. Diese Integration gilt erst seit L’être et l’événement (1988).

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

sich auf die Aufgabe, Begriffe für Wahrheitsprozesse, Ereignisse und Subjekte zu erzeugen, konzentrieren. Da Badiou die ontologischen Überlegungen seinen philosophischen stets voranstellt und Letztere auf Erstere aufbaut, ist meines Erachtens diese Trennung nicht notwendig. In jedem Fall gilt aber der axiomatische Charakter gleichermaßen für Badious Ontologie wie für seine Philosophie.

5.1.2 Nachidealistische Theologie: Metz In Metz’ früher Phase lässt sich sein Denken am ehesten dem transzendental-theologischen Ansatz Rahners zuordnen. Mit Rahner teilt er die ›Wende zum Subjekt‹ in der Theologie und in der Philosophie.10 Dieses Grundanliegen findet sich bereits in seiner ersten philosophischen Dissertation über Heideggers Metaphysik(kritik). Die Möglichkeiten wie Grenzen des Denkens über den Grund und das Ziel des Seins und damit über Gott finden sich im Subjekt, so der Ansatz. Und mehr: Sie müssen an das Subjekt rückgebunden sein. Diese Wende zum Subjekt führt Metz Schritt für Schritt zu einer Analyse dessen, was und vor allem wer dieses Subjekt ist und wie die Welt, in der es sich befindet, gestaltet ist. Spätestens die Begegnung mit dem kritischen Marxismus Blochs und der Frankfurter Schule gibt Metz die theoretischen Werkzeuge an die Hand, das Subjekt und seine Welt differenzierter zu erfassen. Seine Ontologiekritik von 1951 führt Schritt für Schritt über die Begriffe Welt, Geschichte, Zukunft und Gesellschaft zur kritischen Gesellschaftstheorie (ab 1965). Diese theoretischen – (sozial-)philosophischen – Werkzeuge verwendet Metz mit dem Ziel, seine Rede von Gott weltbezogener als noch im transzendental-theologischen Ansatz gestalten zu können. Der Mensch sei somit nicht nur als das besondere sich selbst befragende Sein, das heißt als Dasein, aufzufassen, sondern als konkreter in einer konkreten Welt, die zeitlich bestimmt ist. Die Welt sei gleichzeitig eine durch die Menschen bearbeitete und eine der Veränderung unterworfene. Kritisch sind diese gesellschaftstheoretischen Erkenntnisse, insofern mit ihnen die gesellschaftliche Funktionsweise erkannt und dadurch verändert werden soll. In diesem Sinne ist sie herrschaftskritisch ausgerichtet, da sie bestehende Herrschaftsverhältnisse auf ihre Veränderbarkeit und ihre Überwindbarkeit hin denkt. In einem zweiten Durchgang richtet sich die Kritik auch auf sich selbst. Die Befreiung von Herrschaft sei nicht im Sinne eines Fortschrittsmodells möglich, da sie sich sonst »halbieren«11 würde. Die Befreiung von Herrschaft – Emanzipation – wäre auf Kosten der Vergangenen erkauft. Vor allem in der Hoffnung auf Rettung der Lebenden wie der Toten komme die Theologie zum Tragen. Metz’ theoretischer Ansatz zeichnet sich somit einerseits durch die Rezeption kritischer Gesellschaftstheorie, andererseits durch die Produktion einer kritischen Theologie aus. Seine Funktionsweise ist grundsätzlich überprüfend und urteilend. Diese beiden Aspekte zeichnen das Denken als Kritik aus. In ihrem Interesse auf Veränderung kommt ihr weiterhin ein dialektisches Moment zu. So fasst es Metz im dritten Kapitel von Zur Theologie der Welt zusammen:

10 11

Vgl. Kapitel 4.1.1. Vgl. Kapitel 4.2.2.

5. Badiou und Metz im Gespräch

»Wenn wir [gemeint ist die Kooperation von Christ*innen und Nicht-Christ*innen, P.A.] uns auch nicht direkt und unvermittelt über das einigen können, was Freiheit, Friede und Gerechtigkeit positiv sind, so haben wir doch eine lange gemeinsame Erfahrung dessen, was Unfreiheit, Unfriede und Ungerechtigkeit sind. Diese negative Erfahrung bietet die Chance zur Einigkeit – weniger im positiven Entwurf der gesuchten Freiheit und Gerechtigkeit, als im kritischen Widerstand gegen das Grauen und den Terror der Unfreiheit und der Ungerechtigkeit.«12 Den dramatischen Herausforderungen der Gegenwart (Unfreiheit, Unfriede, Ungerechtigkeit) könne und müsse nichts adäquat Positives entgegengesetzt werden. Die Negation dieser – durch eine Gesellschaftstheorie vermittelten – Erfahrungen reiche aus, um ihnen zu begegnen. Begrifflich könne diesen Herausforderungen auch gar nicht adäquat begegnet werden, da sich diese Erfahrungen nicht begrifflich aufheben ließen. Genau diese Erkenntnis lässt Metz seinen Ansatz als einen »nachidealistischen« charakterisieren. Das Nachidealistische besteht in der Erkenntnis, dass die begrifflich verfasste Vernunft weder absolut noch total ist, sondern das Andere ihrer selbst vorausgesetzt hat. Für Metz sind es vor allem die Leidensgeschichten sowie Gott, die sich nicht abschließend in die Vernunft integrieren ließen.

5.1.3 Denken ohne Fundament Betrachtet man die beiden Theorieverständnisse von Badiou und Metz, tritt ein gemeinsamer Aspekt in den Vordergrund: der Aspekt der Entscheidung. Mit seinem axiomatischen Ansatz will Badiou die Bedeutung des Entscheidungsmoments für eine Theorie – bzw. allgemeiner für das Denken – hervorheben. Entscheidungen müssten auch deshalb getroffen werden, weil kein selbstverständlicher und unhinterfragbarer Grund für die Theorie gegeben sei. Bereits in der Axiomatik drückt sich die Annahme des Todes Gottes aus, da sie nicht von einem ersten Grund ausgeht. Badiou kann auf die Arbeit der Mathematik verweisen, die, statt eines ersten Grundes bestimmte Sätze – die Axiome – setzt und so zu Theorien und neuen Erkenntnissen gelangt. Diese Arbeitsweise der Mathematik, so Badious Überzeugung, lasse sich auch auf die Philosophie bzw. die Ontologie übertragen. Entscheidungen, im Sinne eines Freiheitsvollzugs, kommen bei Metz ebenfalls zum Tragen. Hier sind es insbesondere seine frühen Schriften, die der transzendental-theologischen Phase zugeordnet werden können, in denen er den Freiheitsvollzug hervorhebt. Zwei miteinander verwobene Annahmen spielen für Metz diesbezüglich eine Rolle. 1. versucht Metz nachzuweisen, dass das Christentum eine frühe Form der Mythologiekritik war, die sich gegen die Vorstellung eines mechanistischen Naturzusammenhangs gewendet habe. Umgekehrt heißt das: Die grundsätzliche Leugnung von Freiheit wäre dem Mythos zuzuordnen. 2. – und mit dem ersten verknüpft – fasst der frühe Metz den Menschen als grundsätzlich fragenden und sich selbst befragenden auf. Als sich selbst 12

Und Metz ergänzt mit einer Anmerkung: »Diese ›negative Vermittlung‹ des positiv Humanen ist entwickelt am nachhegelianischen ›dialektischen‹ Vermittlungsproblem. Dabei enthält diese ›negative Vermittlung‹ ein Element der Hoffnung, das sich als (und nur als) ›Kritik der Gegenwart‹ versteht.« JBMGS 1 (Zur Theologie der Welt), 116; Anm. 10.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

befragender ziele der Mensch auf den Grund und das Ziel seines Seins. In diesem Frageprozess finde der Mensch die Möglichkeit, auf die Anrede Gottes zu antworten. Auch das Antworten muss Metz als Freiheitsvollzug auffassen, um nicht in ein mythisches Konzept abzugleiten. So lässt sich die Offenbarung Gottes ebenfalls nicht als Naturzusammenhang, sondern als Freiheitsgeschehen begreifen. Obgleich Badiou wie Metz die Bedeutung der Entscheidung betonen, ist der Unterschied beider Auffassungen fundamental. Der Mensch als freies Subjekt, das sich entscheidet, findet sich bei Badiou nicht. In seinem Fall werden die wesentlichen Entscheidungen von der Mathematik getroffen. Letztendlich tritt die bzw. der Vollziehende einer Entscheidung in den Hintergrund. Zwar ist es Alain Badiou, der in L’être et l’événement die Behauptung aufstellt, dass Mathematik Ontologie sei. Als Aussage, die den Diskurs über das Sein betrifft, beansprucht diese Aussage jedoch allgemeine Gültigkeit, die deshalb – dem Anspruch nach – prinzipiell von jeder anderen Person getroffen werden könnte. Mit Metz ließe sich deshalb an Badiou die Frage richten, wer in seiner axiomatischen Ontologie und Philosophie die Entscheidungen trifft. Gibt es Agenten (Subjekte) der Entscheidungen? Metz hat auf diese Frage hin in seiner Theologie nach und nach die Agenten von Entscheidungen in den Blick genommen und damit den Weg für eine Betrachtung der Bedingtheit von Entscheidungen bzw. Freiheitsvollzügen eröffnet. Eine weitere Differenz liegt in dem, was ich hier den Grund der Entscheidung nenne. Für Badiou liegt in der Tatsache, dass es keine erste und letzte Ursache, kein Fundament13 des Seins gibt, die Notwendigkeit, Entscheidungen zu fällen. Diese Entscheidungen sind Ausgangspunkte, die seiner Auffassung nach trotz eines fehlenden Fundaments, konsistentes Denken zuließen. Vor dem Hintergrund, dass Badiou den Tod Gottes mit dem Fehlen eines Fundaments verknüpft, böte es sich nun an, bei dem Theologen Metz das Fundament des Seins in Gott zu suchen. Tatsächlich weisen seine ersten Studien in diese Richtung. Metz deutet in Heidegger und das Problem der Metaphysik einen größeren »Seinsbereich« an, der den des Menschen übersteigt, den er Gott vorzubehalten scheint.14 Diese Auffassung modifiziert er in seiner späteren Auseinandersetzung mit der kritischen Gesellschaftstheorie und vor allem in der Thematisierung der Katastrophe von Auschwitz. Nicht nur verlässt Metz den ontologischen Diskurs, auch thematisiert er Gott nicht mehr in der abstrakten Sprache der Ontologie. Stattdessen knüpft er Gott mehr und mehr an einen erfahrungsorientierten Diskurs. Immer stärker spricht Metz von Gott als Geheimnis und vom vermissten Gott. Auf diese Weise wird Gott keine Fundierungsfunktion abgesprochen, jedoch auch nicht positiv bestätigt. Metz bindet die Rede von Gott an die wahrgenommene Erfahrung des Leidens statt an einen gründenden Diskurs. Für das Theorieverständnis bedeutet das, dass es mit einem »Vermissungswissen«15 arbeitet. Statt aus dem Tod Gottes die Konsequenz der Auflösung eines Fundaments zu ziehen, wie Badiou, bleibt Metz in diesem Zusammenhang bewusst vage. Weder muss er die Auflösung eines Fundaments noch eine positive Gottesrede thematisieren, da beides für den erfahrungsorientierten Diskurs keine wesentliche Bedeutung erlangt. Dennoch ließe sich vorsichtig festhalten, dass beide, Badiou wie Metz, nicht von einer ersten und 13 14 15

Vgl. dazu Kapitel 3.2.1 sowie Marchart: Die politische Differenz, 152–177. Vgl. Kapitel 4.1.1. JBMGS 4 (Memoria passionis), 39–45.

5. Badiou und Metz im Gespräch

gründenden Ursache des Denkens ausgehen. Für Badiou ist die Erkenntnis des Fehlens einer ersten Ursache positiv festgelegt. Metz bleibt hier zurückhaltender, insofern er das Fehlen Gottes problematisiert. Die Konfrontation der metzschen Theologie mit Badious axiomatischem Ansatz verhilft ersterer zu einer Reflexion der Frage nach dem Ort Gottes im Denken. Mit einer solchen Reflexion lässt sich der nachidealistische Charakter der Gottesrede bei Metz hervorheben.

5.2 Die Infragestellung des Gottesbegriffs Die Tod-Gottes-Aussage ist, wie ich belegen konnte, eine zentrale für die Philosophie Badious. Seine Philosophie ist wesentlich als eine anti-theologische ausformuliert, in der die metaphysischen Implikationen des Gottesbegriffs infrage gestellt sind. Metz’ Theologie ist die Auflösung des Gottesbegriffs ebenfalls nicht fremd. Jedoch differenziert er zwischen solchen Gottesbegriffen, die sich nicht als tragfähig erweisen und einem, der die Auferstehung der Toten verbürgt. Für ihn führt die Kritik an bestimmten Gottesbegriffen nicht zur Feststellung des Todes Gottes. Bevor ich mich jedoch der Möglichkeit zuwende, wie von Gott gesprochen werden kann, gehe ich auf die Infragestellung16 des Gottesbegriffs von Badiou und Metz ein. Worin liegen die besonderen Merkmale der jeweiligen Infragestellungen der Gottesbegriffe?

5.2.1 Die Auflösung der Totalität und die Affirmation des Unendlichen: Badiou Das entscheidende Argument Badious für die Verabschiedung des Gottesbegriffs liegt in der Auflösung eines konsistenten Begriffs der Totalität bzw. des Einen. Der hier verwendete Begriff des Einen impliziert die klassischen Bedeutungen des Ganzen und der Totalität, wie sie beispielsweise bei Kant17 oder Hegel18 zu finden sind. Eine Totalität sei, so Badiou, weder ontologisch (im Diskurs über das Sein) noch phänomenologisch (im Diskurs über die Erscheinungen) gegeben. Im ersten Fall führe die Auflösung zur Annahme des unendlichen Vielheit-Seins, im zweiten Fall spricht Badiou von den unendlich vielen Welten, die sich nicht in einer letzten übergeordneten Welt zusammenfassen ließen. 16

17

18

Die Formulierung »Infragestellung« ist von mir bewusst gewählt, um nicht die Begriffe Kritik oder Negation zu verwenden. Beide würden dem badiouschen Unternehmen, wie ich mehrfach gezeigt habe, nicht gerecht, da Badiou hinsichtlich des Gottesbegriffs keine Kritik, im Sinne eines erörternden Urteils betreibt. Daraus ist jedoch nicht zu schließen, dass er ›unkritisch‹ – verstanden als naiv – vorgehe, sondern dass sein Ansatz ein axiomatischer ist, der mit dem, was Frank Ruda »bestimmte Affirmationen« nennt, arbeitet. Vgl. Kapitel 3.4.4 meiner Studie und Ruda: For Badiou, 23. So verwendet Kant in der Kritik der reinen Vernunft den Begriff der Totalität als »Inbegriff[] existierender Dinge« (Kritik der reinen Vernunft, A 419/B 447), mit dem er in inhaltlicher Nähe zum modernen Mengenbegriff steht (Deiser: Einführung in die Mengenlehre, 13.), sowie als »ganze Summe der Bedingungen« im Sinne eines Kausalzusammenhangs (Kritik der reinen Vernunft, A 409/B 436 und A 307f./B 364). Vgl. auch dazu Kreis: Negative Dialektik des Unendlichen, bes. 83. Hegel versteht in der Wissenschaft der Logik die Totalität als System, in dem Wirklichkeit und Vernunft zusammengeschlossen sind. Sie ist die »absolute Einheit des reinen Begriffs und seiner Realität« (Hegel: Wissenschaft der Logik II, 573) und betrifft somit »alles« (Ebd., 551).

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Das Argument der Auflösung der Totalität ist, bei genauer Betrachtung, die Konsequenz eines anderen Arguments: das der Affirmation des Unendlichen. Die Entdeckung der Berechenbarkeit des Unendlichen und die mit ihr verbundene (unendliche) Pluralisierung des Unendlichen durch Georg Cantor Ende des 19. Jahrhunderts ist die theoretische Grundlage für Badious Auflösung der Totalität. Cantors Erkenntnisse weisen einerseits auf die Widersprüche im Hinblick auf sehr große Mengen (Allmengen), andererseits auf die Möglichkeit, das Unendliche nicht mehr als Transzendenz auffassen zu müssen, hin. Badiou folgert aus beiden Argumenten, dass weder Gott noch die Welt als Totalität, als Eines, aufgefasst werden könne, da keine Totalität widerspruchsfrei zu denken sei. Die Pluralisierung des Unendlichen lasse wiederum nicht mehr die Verknüpfung von Gott und Unendlichkeit zu. Insofern das Unendliche nichts Transzendentes – der Weltenvielheit Entgegengesetztes – mehr sei, stehe es nicht mehr für ein Gottesargument zur Verfügung. Es ist zu beachten, dass hinsichtlich des Gottesbegriffs beide Argumente formallogisch konzipiert sind. Das heißt: Da ein logischer Widerspruch in der Bildung einer Allmenge (einer Menge aller Mengen) entstünde, sei eine solche Menge nicht möglich. Das zweite Argument der Affirmation des Unendlichen setzt auf den gleichen Widerspruch. Es könne keine größte Unendlichkeit geben, da eine solche wieder eine Menge aller Mengen würde. Das zweite Argument impliziert noch eine weitere Ebene. Nicht nur wird das Unendliche berechenbar gemacht. Indem Badiou das Unendliche als ontologisches Prinzip auffasst, entzieht er dem Endlichen den Geltungsbereich. Der eindeutige Gegensatz von Endlichem und Unendlichem soll damit aufgehoben werden. Das Endliche ist nur noch eine Sonderform des Unendlichen. Auf diese Weise ist das Unendliche als das Andere des Endlichen, wie es im Gegensatz von endlicher Welt und unendlichem Schöpfer gedacht wird, aufgehoben. Wenn Badiou vom Tod Gottes spricht, meint er offenkundig kein reales Sterben, sondern, wie im Falle des Begriffs der Allmenge, die Auflösung seines Begriffs. In Court traité d’Ontologie transitoire spricht er neben dem »Tod« vom »Verschwinden«19 und von der »Absetzung«20 der Götter. Die Kohärenz der Gottesbegriffe soll vor allem durch das Doppelargument der Auflösung des Einen und der Pluralisierung des Unendlichen aufgelöst werden, wie er in Court traité d’Ontologie transitoire prägnant formuliert: »Was die Philosophie betrifft, hat sie die Aufgabe, mit dem Motiv der Endlichkeit und seiner hermeneutischen Eskorte Schluß zu machen. Die Schlüsselfrage ist sicherlich, das Unendliche von seinem jahrtausendealten abgekarteten Spiel abzulösen und es, wie die Mathematik uns seit Cantor auffordert, der Banalität des Vielfach-Seins wieder zurückzugeben. Denn die angenommene Transzendenz des metaphysischen Gottes wird gemäß einer Naht zwischen dem Unendlichen und dem Einen konstruiert.«21 Dass Badiou hier auf den Gott der Metaphysik und nicht auf den der Religionen oder der Poesie anspielt, ändert nichts Wesentliches an dem Argument, da der metaphysi19 20 21

ABCT 22 [20]. Ebd., 23 [21]. Ebd., 21 [19 f].

5. Badiou und Metz im Gespräch

sche Gottesbegriff die größten Herausforderungen für Badious Philosophie impliziert. Die Auflösung des Gottesbegriffs geschah Badiou zufolge zu einem bestimmten historischen Moment, nämlich mit der Begründung der Mengenlehre durch Cantor Ende des 19. Jahrhunderts. Erst seitdem sei der metaphysische Gott – und mit ihm der religiöse wie der poetische – wirkmächtig abgesetzt worden. Genau genommen könne der metaphysische Gott auch nicht sterben, da es sich nur um ein Prinzip – das Prinzip der Verbindung des Einen mit dem Unendlichen – handle. Ein solches Prinzip könne widerlegt werden. Sterben könne hingegen der lebendige Gott der Religionen. Diese Differenzierungen zwischen den verschiedenen Göttern, die Badiou zuweilen vornimmt, funktionieren nicht immer trennscharf. So lässt sich der Tod metaphorisch als Auflösung auffassen. In einem engen Sinne bezeichnet der Tod Gottes bei Badiou nur das Ende der religiösen Götter, deren Tod allerdings nur schwer zu beweisen sei, da es sich um Überzeugungen handle. Er konfrontiert deshalb die Überzeugung vom lebenden Gott schlicht mit seiner »entgegengesetzten Überzeugung«, dass Gott tot sei.22 Erst in einem weiten Sinne zielt die Tod-Gottes-Aussage metaphorisch auf die Auflösung der metaphysischen Verbindung der Totalität mit dem Unendlichen.

5.2.2 Die Kritik an idealistischen Gottesbegriffen: Metz Das die verschiedenen Phasen des metzschen Denkens gleichermaßen durchziehende ›Thema‹ ist Gott. In seinem späteren Denken tritt dieses ›Thema‹ auch als sogenannte »Gotteskrise«23 auf, die Metz vor allem in der Kirche und der Theologie wahrnimmt, mit der er die fehlende Hoffnung auf den rettenden Gott zusammenfasst. Welche Kontinuitäten und welche Brüche in Metz’ Gottesrede auftauchen, thematisiere ich im folgenden Kapitel. Zunächst möchte ich das Gegenstück der Gottesrede von Metz ins Gespräch mit Badiou einbringen: Seine Kritik an bestimmten Gottesbegriffen. Denn diese ist für den metzschen Ansatz, der sich als »Korrektiv« begreift, unerlässlich. Im Vorwort zur fünften Auflage zu Glaube in Geschichte und Gesellschaft charakterisiert er sein Programm folgendermaßen: »Worum also geht es dieser Neuen Politischen Theologie, sofern sie schließlich nichts anderes sein will als dies: Theologie, Rede von Gott in dieser Zeit? Sie hat eingesetzt als eine Art Korrektiv, als Korrektiv gegenüber einer situationsfreien Theologie, gegenüber allen idealistisch geschlossenen oder immer wieder sich schließenden theologischen Systemen. Sie betrachtet sich in diesem Sinne als ›nachidealistisch‹.«24 Eine Theologie als Korrektiv gegenüber anderen Theologien zu behaupten, bedeutet im Letzten, den Gottesbegriff der betrachteten Theologie zu kritisieren. Seine deutlichste Kritik richtet sich, wie Metz hier explizit formuliert, gegen geschlossene theologische Systeme, das heißt, gegen solche Ansätze, die kein Außerhalb des (theologischen) Begriffs kennen oder zulassen. Metz’ zentraler Vorwurf gegen geschlossene theologische

22 23 24

»Nun, ich habe hierüber eine entgegengesetzte Überzeugung. Ich nehme die Formel ›Gott ist tot‹ wörtlich.« ABCT 12 [9]. JBMGS 4 (Memoria passionis), 75. Metz: Vorwort zu 5. Auflage, in: JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 11.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Systeme lautet im Wesentlichen, dass diese die praktische Verfassung des christlichen Glaubens nicht wahrnähmen. Diese praktische Verfassung meint zum einen die Tätigkeit des Glaubens, der als christlicher Glaube den ganzen Lebensvollzug betreffe. Inhaltlich geschärft wird dieser Lebensvollzug durch die mit dem christlichen Glauben einhergehende Wahrnehmung fremden Leids (Compassion). Dieser Vollzug müsse von der Theologie als praktischer, der in Differenz zum theoretischen der Theologie stehe, begriffen werden. Die zweite Dimension der praktischen Verfassung betrifft Gott, der*die nicht als Begriff oder Prinzip geglaubt, sondern der*die erhofft bzw. angezweifelt, gelobt, angeklagt, vermisst usw. werde. Auch diese Dimension gehe nicht im theoretischen Begriff auf und müsse deshalb als das Andere der Vernunft wahrgenommen werden. Andernfalls bestehe die Gefahr eines hermetischen Begriffssystems, das, wie Metz es formuliert, sich durch keine Erfahrungen mehr »irritieren« lasse.25 Solche theologischen Begriffssysteme, zu denen er beispielsweise die Transzendentaltheologie Karl Rahners zählt, nennt Metz »idealistisch«26 . Darüber hinaus spielt für Metz eine weitere Theologiekritik eine bedeutende Rolle: Die Kritik an dem Phänomen, das er bürgerliche Religion nennt. Hier steht weniger ein zu kritisierender Gottesbegriff im Fokus, sondern vielmehr die Regionalisierung Gottes oder gar sein Fehlen. In der folgenden Charakterisierung der bürgerlichen Religion durch Metz lässt sich eine implizite Kritik an einem Gottesbegriff erkennen: »Sie [die bürgerliche Religion, P.A.] ist darum eine extrem privatisierte, für den Hausgebrauch des Besitzbürgers zurechtgemachte Religion; eine Gefühls- und Innerlichkeitsreligion. Von ihr geht keine Gefahr, kein Widerstand, keine Protestation gegen die in der bürgerlichen Tausch- und Erfolgsgesellschaft geltenden Definitionen von Wirklichkeit, Sinn, Wahrheit etc. aus.«27 Zwar richtet Metz seinen Blick vor allem auf den »Bürger«, der das christliche Subjekt ersetzt habe. Aus seiner Kritik am Bürger und der ihm adäquaten Religion lässt sich aber auch eine implizite Kritik an einem Gottesbegriff ausmachen. Wenn die Religion zu einer Innerlichkeitsreligion werde, von der keine Gefahr mehr ausgehe, sei damit auch die Hoffnungsperspektive im Hinblick auf die gerechtigkeitsschaffende Auferstehung der Toten, die von Gott erwartet werde, verloren gegangen. Der Glaube an den biblischen Gott werde in der bürgerlichen Religion durch den Glauben an den Status quo der bürgerlichen Gesellschaft ersetzt. Metz schließt daraus, dass erst die Kritik an einem bürgerlichen wie idealistischen Gottesbegriff Zugang zur biblischen Gottesrede ermöglicht.

5.2.3 Mathematische versus praktische Vernunft Die Infragestellung bestimmter Gottesbegriffe ist zentraler Bestandteil der Philosophie Badious. Blickt man von dieser Warte auf die Theologie von Metz, kann dort ebenfalls

25 26 27

Sehr deutlich wird der Vorwurf fehlender Irritation in der Hase-Igel-Parabel in: JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 175–181. Ebd., 177. Ebd., 66.

5. Badiou und Metz im Gespräch

die Infragestellung von Gottesbegriffen als ein bedeutender Aspekt interpretiert werden. Dabei fällt auf, dass die zur Disposition stehenden Gottesbegriffe wenigstens teilweise sehr ähnlich gefasst sind. Die Frage, der ich das Gespräch widme, lautet, ob der idealistische Gottesbegriff, den Metz einer Kritik unterzieht, dem metaphysischen Gott bei Badiou entspricht. Sicherlich lassen sich deutliche Unterschiede herausstellen. Der idealistische Gottesbegriff bei Metz bleibt ein theologischer, insofern er vom Gott der biblischen Offenbarung spricht. Der metaphysische Gott bei Badiou ist hingegen ein von jeglichem Offenbarungsgeschehen abstrahierter Begriff. In beiden Fällen handelt es sich jedoch um Vernunftbegriffe, die eine Totalität bezeichnen, und in beiden Fällen wird gerade diese Totalität infrage gestellt. Auch in der Kritik am theologischen Gottesbegriff durch Metz ist es nicht der Bibel- oder Glaubensbezug der problematisiert wird, sondern der Versuch, Gott als Begriff zu konzipieren. Der zentrale Unterschied zwischen Badiou und Metz besteht also nicht darin, ob der Gottesbegriff in Frage gestellt werden müsse oder nicht, sondern in der Zielsetzung der Infragestellung. Hier lassen sich zwei unterschiedliche theoretische Richtungen des 19. Jahrhunderts als Folie nutzen, um den Unterschied nachzuvollziehen. Metz kritisiert den idealistischen (Gottes-)Begriff über das Andere der Vernunft. Die theologische Vernunft soll durch Erfahrung, Praxis und geschichtliche Veränderung irritiert und dadurch begrenzt werden. Die Wahrnehmung eines Außerhalb der Vernunft lässt nicht die Annahme einer totalen Vernunft zu. In Metz’ Kritik sind somit deutliche Spuren der Vernunftkritik von Marx (und Schelling) zu erkennen.28 Badious Infragestellung des metaphysischen Gottesbegriffs baut hingegen auf den logisch-mathematischen Überlegungen Cantors auf, wie er explizit formuliert. Hier wird die Vernunft nicht mit einem Außerhalb konfrontiert und limitiert, sondern auf ihre inneren Widersprüche hin überprüft. Badiou vermeidet allerdings die Rede von der Vernunft. Wie ich bereits mehrfach erwähnt habe, thematisiert Badiou den Akteur (das Subjekt) des Denkens und somit auch die Vernunft in der Regel nicht. Die Widersprüche werden somit nicht in der Vernunft, sondern in der Logik gesucht bzw. durch sie unterbunden.29 Vor dem Hintergrund der metzschen Theologie lässt sich die Frage anschließen, ob Badious Konzept nicht doch ein idealistisches – im Gegensatz zu seinem materialistischen Anspruch – bleibt, wenn die grundlegenden Erkenntnisse innerhalb der mathematischen Logik gewonnen werden. Für Metz gilt die Annahme, dass sich das Leid nicht vernünftig repräsentieren lasse, gleichermaßen für die Mathematik. Auch und gerade sie könne Leid nicht erfassen. Es geht Metz nicht darum, der Logik eine bloße ›Unlogik‹

28

29

Die Spuren von Marx sind in Metz’ Werk offenkundig. Schellings Vernunftkritik spielt bei Metz hingegen keine explizite Rolle. Mit dem Hinweis auf Schellings Vernunftkritik möchte ich vielmehr der Schellingforschung seit den 1990er Jahren im Hinblick auf seine Kritik an Hegel und seinen Einfluss auf Marx Rechnung tragen. Vgl. Frank, Manfred: Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marx’schen Dialektik, in: Ders.: Auswege aus dem Deutschen Idealismus, Frankfurt a.M. 2007, 271–293. Es gibt bei Badiou allerdings auch das Andere der Logik in Form des Ereignisses. Dieses spielt jedoch für die Infragestellung des Gottesbegriffs keine Rolle. Badiou verabschiedet den Gottesbegriff auf der Ebene der Logik-Ontologie und nicht durch seine Ereignistheorie.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

entgegenzuhalten, sondern zu betonen, dass sich Leidenserfahrungen auf einer ganz anderen Ebene befinden als Diskurse, denen eine formale Logik zugrunde liegt. Badiou würde sich gegen einen solchen Idealismusvorwurf wehren, sieht er sich doch explizit einem Materialismus verpflichtet. Der materialistische ›Ankerpunkt‹ Badious liegt, seiner Auffassung nach, in der Entfaltung einer Ontologie. Die Mathematik ermögliche die Erkenntnis der Struktur der Welt und dessen, was es gibt. Sie schaffe Transparenz. Die Welt sowie die Ontologie sei, wie Badiou betont, nicht mathematisch, sondern die Mathematik ermögliche die Erschließung der Welt. Wird mit der Mathematik der Gegensatz von Innen und Außen, von Vernunft und Welt fallen gelassen? In einem sehr aufschlussreichen Gespräch zwischen Nancy und Badiou, das Jan Völker 2016 in Berlin organisierte und moderierte, gibt Badiou Einblick in seinen Vernunftbegriff, der nur selten explizit von ihm thematisiert wird. Auf die Frage Völkers, wie er zu Kant stehe, antwortet Badiou: »Ich mag ihn [Kant, P.A.] nicht sonderlich, weil ich, […] das Motiv der ›Grenzen der Vernunft‹ nicht mag. Was die Kritik der reinen Vernunft anbelangt, mag ich das eigentlich kritische Ziel nicht, das darin besteht, die Grenze der reinen Vernunft, der kognitiven Rationalität, zu fixieren. Ich affirmiere, dass die Vernunft, einschließlich der reinsten – sagen wir der mathematischen Vernunft – ohne Grenze ist, absolut.«30 Badiou begreift die Vernunft, die sich bei ihm vor allem als mathematische Vernunft ausdrückt, als grenzenlose, die schlicht alles prinzipiell erfassen könne. Ein solches Verständnis fasst die Vernunft nicht nur absolut, sondern auch total. Als grenzenlose integriert sie alles. Sie entspricht dem Ort des Absoluten, den Badiou in L’Immanence des vérités präsentiert. Lässt man Badious Versicherung, eine materialistische Theorie zu entwerfen, außen vor, entspricht sein Ansatz einer absoluten und totalen (mathematischen) Vernunft dem Idealismus, der von Metz kritisiert und abgelehnt wird. Eine solche Vernunft ließe sich, in den Worten Metz’, von Erfahrungen – besonders von Leidenserfahrungen – nicht irritieren. Badiou widerspricht diesem Einwand nicht, sondern bestätigt ihn vielmehr. Die Vernunft brauche und dürfe sich nicht irritieren lassen. Stattdessen müsse es ihr um mögliche Erkenntnis gehen: »Ich glaube, dass alles absolut erkannt werden kann! […] Ich sage nicht, dass wir absolut alles kennen. Ich sage, dass das Axiom des Erkennens als solchem darin besteht, dass wir alles erkennen können. Es gibt Nicht-Erkanntes, es gibt Unerkanntes, aber es gibt kein im eigentlichen Sinn Unerkennbares.«31 Badiou sieht keine Notwendigkeit, die Vernunft zu begrenzen, da im Erkennen kein moralisches Problem liege. Doch Metz geht es weniger um ein mögliches moralisches Problem des Erkennens, denn schlicht um die Einsicht, dass Leidenserfahrungen in der Vernunft nicht aufgehen. Die*der Leidende verlange nach dem Ende ihres*seines Leidens und nicht (nur) nach dem Verstehen. Dieses Ende herbeizuführen sei nicht die Aufgabe der Vernunft und gehöre auch nicht zu ihren Möglichkeiten.

30

31

Alain Badiou in: Badiou, Alain/Nancy, Jean-Luc: Deutsche Philosophie. Ein Dialog. Hgg., aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Jan Völker, Berlin 2017, 18. Hervorhebung im Original. Badiou/Nancy: Deutsche Philosophie, 29. Hervorhebung im Original.

5. Badiou und Metz im Gespräch

Meines Erachtens dürfte Badiou dazu bereit sein, einen so konzipierten Idealismusvorwurf zu akzeptieren, da es für ihn nichts prinzipiell Unerkennbares gibt. Gleichzeitig würde Badiou jedoch Metz in der Aussage zustimmen, dass es nicht die Aufgabe der Vernunft sei, moralische oder politische Probleme, wie die Herausforderung des Leids, zu lösen. Politische Probleme zählt er einem eigenen Bereich, dem der Politik, zu. Die Ethik wiederum, der es um moralische Fragen gehe, hat in Badious Verständnis nur die Aufgabe, die Erfordernisse unsterblichen Lebens auszuloten. Im Hinblick auf die Infragestellung des Gottesbegriffs ließe sich dementsprechend Badious Ansatz ebenfalls als idealistischer (im metzschen Sinne) auffassen. Es gibt für Badiou keinen Grund, die Vernunft zu begrenzen. Diese Grenzenlosigkeit, die ehemals Gott oder Göttern vorbehalten war, kann er der Vernunft zuschreiben (oder sie kann fallen gelassen werden). Umgekehrt würde Badiou den metzschen Ansatz der Gotteskritik, der auf die fehlende Irritation hinweist, als Obskurantismus abtun.32

5.3 Der Gottesbegriff Mit seiner Tod-Gottes-Aussage hat sich Badiou eindeutig in Stellung gegen ein religiöses wie theologisches Denken gebracht. Die Behauptung, dass Badiou eine Retheologisierung der Philosophie betreibe, ob anerkennend oder ablehnend formuliert, kann nicht überzeugen, wie ich in dieser Studie vielfach gezeigt habe. Dennoch stößt sein Denken in Bezug auf seine Tod-Gottes-Aussage an ungewollte Grenzen. Spätestens in L’Immanence des vérités gelingt es Badiou nicht mehr konsequent das unendliche Vielheit-Sein ohne Eins zu denken, da seine absolute Ontologie die Konsistenz dieses Vielheit-Seins stiftet. Lässt sich also daraus auf ein Gottesargument bei Badiou schließen? Und falls es Anzeichen dafür geben sollte, inwiefern wäre es adäquat, von einem Argument für ›Gott‹ zu sprechen? Bei Metz ist die Sachlage anders als bei Badiou. Sein Denken ist eine grundsätzliche und explizite Apologie des biblisch verbürgten Gottes. Dabei legt er jedoch Wert darauf, dass es sich um ein nachidealistisches Sprechen von Gott handle. Was zeichnet einen nachidealistischen Gottesbegriff aus? Lässt sich der nachidealistische Gottesbegriff einerseits als Gegenentwurf zur Tod-Gottes-Aussage Badious, andererseits als Äquivalent zu Badious (schwachem und nicht intendiertem) Gottesargument sinnvoll interpretieren?

5.3.1 Die nützlichen Gotteselemente: Badiou Hinsichtlich seiner Konzeption einer Ontologie der Vielheiten stößt Badiou in seinem Werk immer wieder an ein Problem. Welcher ontologische Status kommt der Ontologie selbst zu? Wenn mit dem Mengenbegriff der Mengenlehre die Vielheit des Seins ausgesagt werden soll, wird gleichzeitig diese Vielheit in der Einheit der Mengenlehre wieder eingefangen. Zwar ist es überzeugend, dass unter Zuhilfenahme der Mengenleh32

Vgl. ebd. 31. Obskurantismus deshalb, da die uneingeschränkte Reichweite der Vernunft in Frage gestellt würde.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

re ein Denken von unendlich vielen Vielheiten sowie von unendlichen Vielheiten gefördert, vielleicht sogar erst ermöglicht werde, wie es Badiou darlegt. Wenn Badiou daraus schließt, dass mit dem Unendlichkeitsverständnis der Mengenlehre die Eins aufgelöst wurde, gerät er jedoch in Schwierigkeiten. Ist nicht genau der Ort des Absoluten, der Ort, an dem alle Formen des Seienden gedacht werden (können), diese Eins? Dass hier für die Eins der Gottesbegriff eingesetzt werden kann, bietet sich aus zwei Hinweisen an. Erstens: Wenn es Badiou nicht gelingt, die Eins zu widerlegen, ist damit sein zentrales Argument für den Tod Gottes deutlich relativiert. Zweitens betreibt Badiou in L’Immanence des vérités eine bewusste Gratwanderung, insofern er die Vorteile des Gottesbegriffs behalten will, ohne diesen Begriff weiter verwenden zu müssen.33 Die Eins, die die Rede vom Ort des Absoluten transportiert, ließe sich als nicht geglückter Versuch, die Vorteile des Gottesbegriffs beizubehalten, ohne den Begriff selbst verwenden zu müssen, interpretieren. Ob es adäquat ist, den Ort des Absoluten bei Badiou nachträglich »Gott« zu nennen, ist meines Erachtens jedoch sekundär. Wichtiger ist, dass Badiou eine Art metaphysisches Ankerprinzip für das Denken der Vielheiten verwendet. In der Geschichte der Philosophie und der Theologie wurde solch ein Prinzip mitunter Gott genannt, wie bei Spinoza oder Hegel. Beide bezeichnen die Totalität als Gott. Kant hingegen diskutiert in der Kritik der reinen Vernunft die Einheit der Welt auf der einen Seite und die Einheit des transzendentalen Ichs auf der anderen Seite – beides Einheitsprinzipien – grundsätzlich ohne den Rekurs auf Gott. Wenn Badiou an einem Ort des Absoluten festhält, wird er weder den Schatten von Kant noch von Spinoza oder Hegel hinsichtlich des einenden Prinzips los.

5.3.2 Der vermisste Gott der Bibel: Metz Die Rede von Gott kann ohne Zweifel als Zentrum der metzschen Theologie bezeichnet werden. Dabei unterscheidet Metz zwischen einem Gottesbegriff und der Rede von Gott. Einen systematischen Gottesbegriff gibt es bei ihm nicht. Die Rede von Gott geschieht spätestens seit 1965 hingegen in Form des Zeugnisses, der Apologie und der Erinnerung. Worin besteht der Unterschied? Die Erarbeitung eines systematischen Gottesbegriffs ließe zwar logische oder sachliche Widersprüche erkennen und gegebenenfalls ausräumen, er wäre aber nicht in der Lage die Erfahrung des Glaubens und den geglaubten Gott begrifflich zu fassen. Die Apologie begreift den Gott des christlichen Glaubens von vorneherein als weltbezogen und weltirritierend. Theologie als Rede von Gott dient der Reflexion dieser Glaubenspraxis. Für Metz bedeutet das gleichzeitig, dass die Theologie selbst apologetisch verfasst sein müsse: »Dass die Sache des Glaubens nie rein theoretisch verteidigt, dass Religion nicht gerettet werden kann ohne ›apologetische Praxis‹ – genau dies entspricht dem biblischen Befund von ›Apologie‹.«34 Als Reflexion dieses Weltbezugs versteht Metz sie weder als neutrale noch als ›reine‹ Wissenschaft: »Apologie ist und

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Vgl. Kapitel 2.4.4. Und: »Wir müssen daher, wenn ich so sagen darf, auf Gott verzichten, ohne irgendeinen seiner Vorteile zu verlieren.« – »Il nous faut donc, si j’ose dire, renoncer à Dieu sans perdre aucun de ses avantages.« ABIV 38. JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 32.

5. Badiou und Metz im Gespräch

bleibt der Grundzug eigentlich jeder genuin christlichen Theologie: Als Ganze ist sie ein Unternehmen der Verantwortung christlicher Hoffnung und insofern genauso alt wie die Geschichte des christlichen Glaubens und seiner Bestreitungen.«35 Metz’ Apologie besteht jedoch nicht darin, wie vielleicht zunächst unter dem Anspruch der Apologie zu erwarten wäre, bestimmten Anfechtungen bloß eine unreflektierte Rede von Gott entgegenzuhalten. Vor allem in seinen späteren Schriften richtet sich die Apologie immer mehr an Gott selbst. Gott ist diejenige*derjenige, deren*dessen Handeln eingefordert und eingeklagt wird. Metz spricht von Gott auch in der Form eines Vermissens. Wie schützt sich Metz davor, schlicht ein unmögliches Begehren in einen Gottesbegriff zu projizieren oder schlicht einen Gott zu setzen, wo keiner ist – als Projektion, als Bewältigungskonzept trauriger Existenz, als metaphysisches Prinzip? Metz weist darauf hin, dass der Gottesglaube in der Bibel nicht auf simple Harmonie zielt. »War Israel etwa glücklich mit seinem Gott? War Jesus glücklich mit seinem Vater? Macht Religion glücklich? Macht sie ›reif‹? Schenkt sie Identität? Heimat, Geborgenheit, Frieden mit uns selbst? Beruhigt sie die Angst? Beantwortet sie die Fragen? Erfüllt sie die Wünsche, wenigstens die glühendsten? Ich zweifle.«36 Metz konzipiert die Rede von Gott so, dass sie unmittelbar auf bestehende Leidenserfahrungen hinweist. Die Frage nach Gott impliziere somit die Frage nach den leidenden Nächsten wie Fernsten. Die Rede von Gott müsse sich deshalb als »Mystik des Leidens an Gott«37 ausdrücken. Der Gottesbegriff dient in diesem Konzept dazu, die Leidenserfahrungen und Leidensgeschichten nicht »im Vergessen verschwinden zu lassen«38 . Der so verstandene Gottesbegriff hat erinnernde Funktion. Auf diese Weise entgeht Metz zwar nicht unmittelbar der Möglichkeit der Projektion oder Ähnlichem. Er kann aber seine Rede von Gott mit dem universalen Interesse nach Gerechtigkeit verknüpfen und dieses grundsätzlich mit den biblischen Zeugnissen in Einklang bringen. Der apologetische und erinnernde Charakter zeichnet seine Theologie als nachidealistische aus, insofern dieser Charakter auf konkrete Menschen in konkreter Geschichte und Gesellschaft angewiesen ist.

5.3.3 Ein theoretischer oder ein praktischer Gottesbegriff? Entspricht Metz’ Gottesrede dem (schwachen) einenden Prinzip, das ich bei Badiou nachgewiesen habe? Metz’ Gottesrede ist offenkundig nicht an metaphysischen Prinzipien interessiert. Ob ein Gott einende oder gründende Funktion hat, steht für ihn nicht zur Debatte. Genauso wenig spielen die Überlegungen zum Verhältnis SchöpferSchöpfung für ihn eine Rolle, solange beide nur als abstrakte Positionen betrachtet werden. Die Rede von Gott ist bei Metz eine, die immer geschichtlich und gesellschaftlich situiert ist und Gott wird entsprechend aus konkreten Situationen heraus erhofft. Das Desinteresse, das Metz den Fragen nach metaphysischen Prinzipien schenkt, ist

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Ebd. 36. JBMGS 4 (Memoria passionis), 38. Ebd. Ebd.

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keines der Ignoranz, sondern ein bewusstes. Das heißt, dass solche Fragen in den Hintergrund treten müssen, um die Zeugnisse von und die Erfahrungen mit Gott zur Sprache bringen zu können. In diesem Sinne entspricht Metz’ Gottesrede nicht dem badiouschen unintendierten metaphysischen Prinzip der Eins. Genauso wenig lässt sich der metzsche Gottesbegriff unmittelbar in die Tod-Gottes-Aussage Badious, die sich auf den metaphysischen Gott bezieht, einfügen. Der metzsche Gottesbegriff ist nicht als Verbindung des Einen mit dem Unendlichen konzipiert. Ein solcher Gottesbegriff würde bereits ›zu viel‹ von Gott wissen. Anders verhält es sich mit der Tod-Gottes-Aussage Badious, die sich auf den Gott der Religionen bezieht. Hier bedürfe es laut Badiou keines theoretischen Arguments, sondern höchstens einer politischen Geste.39 Dieser Gott ist für Badiou sicher tot und die Aktivitäten der Religionen nur noch »Theater«40 . Badiou dürfte dem metzschen Gottesbegriff, sei er auch noch so schwach ›definiert‹, letztendlich keine Wirksamkeit und kein Recht zubilligen. Insbesondere die Verknüpfung von Gott mit den Leidensgeschichten müsste bei Badiou Skepsis hervorrufen. Denn eine solche Verbindung entspräche auf die eine oder andere Weise den Endlichkeiten der Unterdrückung, die Badiou in L’Immanence des vérités herausarbeitet. Jedes Denken, dass den Menschen als leidend und für Badiou damit als Opfer auffasse, vollziehe eine Geste der Endlichkeit und negiere die unendlichen Möglichkeiten des Menschen. Sein eigenes Menschenbild ist grundsätzlich vom Denken des Unendlichen geprägt. In einem Interview mit Gernot Kamecke formuliert er dieses Anliegen sehr deutlich: »Nun, ›in Unsterblichkeit leben‹ heißt exakt, sich auf treue Weise in einen Wahrheitsprozess einzufügen. […] In einer Treueprozedur lebt man als Unsterblicher, weil die Wahrheiten unsterblich sind.«41 Und weiter: »Je größer die Macht der Ewigkeit über die Individualität wird, desto intensiver ist der Inkorporationsprozess. Die Erfahrung dieses Prozesses ist konkret. Es gibt eine Intensität und diese Intensität kann bekanntermaßen von der Vernachlässigung bis zum Vergessen der Sterblichkeit selbst reichen. In der Geschichte gibt es unzählige Beispiele für Menschen, die die Wahrheit, in die sie sich begaben, ihrer eigenen Existenz vorgezogen haben.«42 Genau diese Verbindung von Unendlichkeit bzw. Ewigkeit und Menschsein widersetze sich Badiou zufolge einem Gottesdenken. Mit Metz könnte allerdings an Badiou zurückgefragt werden, ob es sich bei solchen Erfahrungen von Ewigkeit nicht um die gleichen Vorbehalte handelt, die man in der modernen Religionskritik (z.B. in Feuerbachs Projektionsthese) wiederfindet. Funktioniert das Ewigkeitsgefühl nicht schlicht wie ein Rausch? Umgekehrt: Wird der Rausch des Ewigkeitsgefühls nicht mit der behaupteten Tatsache der Ewigkeit verwechselt? Metz wie Badiou konstatieren beide, dass ihre Perspektive auf den Menschen Universalität beanspruchen könne. Bei Metz gilt das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und der

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Vgl. ABCT 22 [20]. ABCT 13 [11]. Badiou: Bedingungen und Unendlichkeit, 159. Ebd., 161.

5. Badiou und Metz im Gespräch

Wahrnehmung sowie Überwindung von Leid als ein universalisierbares. Und insofern es universalisierbar sei, lasse es eine legitime Gottesrede zu. Badiou verwendet für seine Darstellung einen anderen Diskurs als Metz, weshalb sich die Formulierung eines universalisierbaren Bedürfnisses oder eines universalisierbaren Interesses nicht explizit findet. Wenn Badiou allerdings von der Unendlichkeit des Menschen spricht, liegt dieser Rede immer ein »Axiom der Egalität«43 zu Grunde. Das bedeutet, dass Badiou nicht nur aufgrund einer bewussten oder unbewussten Abstraktion des Menschen alle Menschen meint, sondern, dass er die Gleichheit der Menschen axiomatisch voraussetzt. Das Bedürfnis nach Unendlichkeit entspreche einmal der Grundstruktur der Ontologie der Vielheiten, die für alle Menschen gelte, sowie ebenfalls einem menschlichen Interesse, nach unendlichen Wahrheiten zu streben.44 Der zweite Aspekt lässt sich hingegen nur als eine potenzielle Gleichheit auffassen, denn das Interesse nach unendlicher Wahrheit stehe zwar allen Menschen gleichermaßen offen, konkret entnimmt Badiou es jedoch dem Wirken herausragender Persönlichkeiten, die zeigten, zu was der Mensch fähig sei. Metz’ und Badious Argumentationen verlaufen, trotz Universalisierungsversuch, deutlich unterschiedlich. Mit Badiou ließe sich gegenüber Metz behaupten, dass dieser das Menschsein auf Leiden und auf die Körperlichkeit reduziere, mit Metz ließe sich gegenüber Badiou behaupten, dass dieser die realen Leidensgeschichten missachte und die abstrakten Möglichkeiten mit den realen Gegebenheiten verwechsle. Bei Badiou ist das Streben nach unendlichen Wahrheiten und damit nach Emanzipation durch den Tod Gottes ermöglicht, bei Metz ist Gott gerade der Garant, um die Leidensgeschichten nicht zu vergessen und deshalb Bedingung für umfassende Emanzipation. Eine Überbrückung dieser grundsätzlichen Differenz müsste an das jeweilige Verständnis von menschlichen Leiden und von menschlichen Möglichkeiten rühren.45 Doch jenseits einer solchen Überbrückung ermöglicht die Konfrontation zwischen Metz und Badiou, beide Positionen zu schärfen. Im Hinblick auf eine Theologie, die an Metz anschließt, dienen die (möglichen) Einwürfe Badious dazu, den Emanzipationsgehalt der Gottesrede zu konturieren. Das Ineinandergreifen von Leidenserinnerung und Emanzipationshoffnung ist für Metz an die Gottesrede gebunden, wie umgekehrt die Gottesrede der Leidenserinnerung und der Emanzipationshoffnung bedarf.

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Hirsch, Michael: Das Axiom der Egalität und die elitäre Verselbständigung der Politik. Über Politik und Ethik bei Alain Badiou, in: Knipp, Jens/Meier, Frank (Hg.): Treue zur Wahrheit. Die Begründung der Philosophie Alain Badious, Münster 2010, 63–84. Hirsch verortet zu Recht das Axiom der Gleichheit in Badious Ereignistheorie. Das heißt, ein Ereignis ermögliche, insofern es an potenziell alle Menschen adressiert ist, die Proklamation der Gleichheit. Meines Erachtens lässt sich dieses Axiom bereits in Badious Ontologie der unendlichen Vielheiten erkennen. Ich fasse den Begriff des Leidens hier sowohl individuell wie sozial/kollektiv auf. Vgl. zum Begriff des sozialen Leidens die Beiträge des Bandes Zamora, José A./Mate, Reyes (Hg.): Philosophy’s Duty Towards Social Suffering, Wien/Zürich 2021; Zamora, José A./Mate, Reyes/Maiso, Jordi (Hg.) Las víctimas como precio necesario, Madrid 2016.

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5.4 Unendliche Unendlichkeiten versus Endlichkeit Die Frage nach dem Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit gehört zu den zentralen der Metaphysik und damit der Philosophie und der Theologie. Sie kann als Abstraktion des Verhältnisses von Schöpfung und Schöpfer oder der Überlegungen zum Ursprung oder zur Ursprungslosigkeit der Welt aufgefasst werden. Ebenso kann die Thematisierung des Unendlichen das Menschenbild betreffen. Sind der Mensch und seine Möglichkeiten endlich oder besteht er aus unendlich vielen Möglichkeiten? Durch Kant, Feuerbach und Marx hat das Nachdenken über solche metaphysischen Fragestellungen deutliche Einschränkungen erfahren. Laut Kant könne und müsse zwar über solche Fragen nachgedacht werden. Sie entzögen sich jedoch dem Bereich möglicher Erfahrungen, sodass über sie keine Erkenntnis gewonnen werden könne. Als Postulate der Vernunft seien allerdings die Einheit der Welt, die Unsterblichkeit der Seele oder auch die Willensfreiheit anzunehmen. Feuerbach und Marx binden Erkenntnis noch radikaler an mögliche Erfahrungen. Alle metaphysischen Überlegungen entsprängen der jeweiligen Arbeitsteilung, das heißt den gesellschaftlichen Verhältnissen. Metaphysische Fragen verlieren schlicht ihre Relevanz.46 Wenn Badiou auf die Wiedergewinnung des Unendlichen setzt, betritt er damit aus kritischer und materialistischer Perspektive ungewöhnliches, weil scheinbar längst obsolet gewordenes, Terrain. Muss dieser Schritt nicht als Rückschritt hinter Marx und Feuerbach interpretiert werden? Wird damit nicht einer Spekulation Tür und Tor geöffnet, die der möglichen Erfahrung entzogenen ist? Inwiefern kann Badiou seine Wiedergewinnung des Unendlichen als Tod-Gottes-Argument und als emanzipatorischen Akt qualifizieren? Für Metz ist ein jeglicher Schritt, der sich von der Auffassung der Endlichkeit der Welt und des Menschen entfernt, ein in höchstem Maße problematischer Schritt. Die Leidensgeschichten verlören ihre Bedeutung und würden der Gleichgültigkeit überantwortet. Bewegt sich sein Ansatz damit wenigstens in Grundzügen auf einer Linie mit den Einsprüchen Kants, Feuerbachs und Marx’? Worin besteht der Unterschied? Im Folgenden versuche ich, in knapper Form das jeweilige Verständnis von Endlichkeit und Unendlichkeit nachzuzeichnen. Dabei möchte ich die jeweiligen Emanzipationsüberlegungen in den Unendlichkeits- bzw. Endlichkeitsverständnissen nachvollziehen, um sie anschließend ins gemeinsame Gespräch zu führen.

5.4.1 Die Enttheologisierung des Unendlichen: Badiou Wenn ich von Badious Wiederentdeckung des Unendlichen spreche, gilt die Wiederentdeckung für zwei Diskurse. Im ersten Fall kann von einer Wiederentdeckung des Unendlichen für den im weitesten Sinne marxistischen Diskurs gesprochen werden. Nicht nur zeichnete und zeichnet sich dieser Diskurs in der Regel durch den Relevanzverlust metaphysischer Fragen im Sinne einer Ablehnung aus, sondern auch durch die Weiterentwicklung der Philosophie zur Gesellschaftstheorie oder wenigstens zu einer gesellschaftstheoretisch strukturierten Philosophie. In Grundzügen lässt sich sagen, dass die 46

Vgl. meine Ausführungen in der Einleitung 1.2.

5. Badiou und Metz im Gespräch

elfte These über Feuerbach von Marx zum Grunddiktum dieses Diskurses geworden ist. Die Welt solle nicht (bloß) interpretiert, sondern auch mithilfe der Theorie verändert werden.47 Wenn Badiou nun von einer Ontologie unendlicher Vielheiten sowie vom Imperativ des unendlichen bzw. unsterblichen Lebens spricht, irritiert er in hohem Maße diesen marxistischen Diskurs. Der zweite Diskurs, für den die Unendlichkeit wiedergewonnen werden soll, ist der allgemein philosophische (inklusive des marxistischen). Hier geht es jedoch nicht nur um ein alltagssprachliches Unendlichkeitsverständnis, sondern um eines, das den Erkenntnissen der modernen Mathematik entspricht. Trotz seiner grundsätzlichen Skepsis gegenüber Kant, sieht sich Badiou in dieser Hinsicht in einer Linie mit ihm: »Kant fragt, was aus der Tatsache folgt, dass Newtons Physik wahr ist. Und er überlegt, wie der Begriff der Wahrheit philosophisch umgearbeitet werden muss, wenn er der neuen Wahrheit entsprechen soll. In gewisser Hinsicht kann man sagen, dass ich versuche, meinen Wahrheitsbegriff so zu gestalten, dass er mit der Mathematik der reinen Mannigfaltigkeiten […] vereinbar ist.«48 Die Mathematik der reinen Mannigfaltigkeiten, von der Badiou hier spricht, bezeichnet die Mengenlehre. Ebenso wie Kant über die Konstitution der Welt auf der Höhe der newtonschen Physik zu reflektieren beanspruchte, möchte Badiou die Philosophie auf die Höhe der Erkenntnisse der Mengenlehre und insbesondere ihres Unendlichkeitsbegriffs heben. Mit der Mengenlehre, die das Unendliche berechenbar gemacht und unendlich pluralisiert hat, lasse sich Badiou zufolge das Unendliche in der Philosophie immanent denken. Das Unendliche sei nicht mehr als transzendente oder erfahrungsentzogene Größe aufzufassen, sondern es sei handhabbar geworden. Und weiter: Mit der Mengenlehre müsse davon ausgegangen werden, dass das Unendliche die Grundform, das Endliche hingegen die Ableitung bzw. die Besonderheit darstelle. Die unmittelbaren Folgen sind für Badiou die Auffassung des unendlichen Vielheit-Seins sowie des unendlich-Werdens des Menschen durch die Möglichkeit, an unendlichen Wahrheiten teilhaben zu können. Von der Immanenz des Unendlichen bzw. der unendlichen Unendlichkeiten zu sprechen, ist hier eine Hilfskonstruktion, insofern die Rede von einer Immanenz auch eine Transzendenz suggeriert. Die hier angestrebte Immanenz ist jedoch eine, die die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz aufhebt und letztere verschwinden lässt. Man könnte mit Nietzsches Metapher sagen, dass Badiou den Horizont weggewischt hat und es von nun an nur das unendlich offene Meer gibt.49 Wie bei Nietzsche führt auch bei Badiou diese Immanentisierung des Unendlichen zum Tode Gottes sowie zur Einsicht in die unendlichen Möglichkeiten des Menschen.50 Im Unterschied zu Nietzsche setzt

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Vgl. Ruda: For Badiou, 15–25. In der von mir eingefügten Auslassung schreibt Badiou: »[…] mit der figurativen Kunst, mit einer weder epischen noch lyrischen Poesie, und mit der kommunistischen Politik […]«. Insofern es mir hier um die Mathematik geht, kann ich die anderen drei Aspekte lediglich erwähnen. Badiou: Bedingungen und Unendlichkeit, 137. Vgl. die Aphorismen Nr. 124 und 125 in Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, 480f. Vgl. meine Nietzsche-Darstellung in Kapitel 1.2.4.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

diese Erkenntnis jedoch nicht das Wissen um den Willen zur Macht, der hierarchisierend und letztendlich vergewaltigend wirkt, frei, sondern sie hat bei Badiou befreiendemanzipatorische Funktion. In diesem Sinne beansprucht Badiou auch umgekehrt, jegliche Unterdrückungsform auf einen spezifischen Endlichkeitstyp zurückführen zu können. Die wesentliche Unterdrückung bestehe in der Verendlichung des Menschen, seiner Möglichkeiten und seiner Welt.51 In Logiques des mondes charakterisiert Badiou den zeitgenössischen Materialismus als einen demokratischen Biomaterialismus, in dem der Mensch auf seine biologischen Funktionen reduziert werde.52 In L’Immanence des vérités geht er differenzierter vor und präsentiert vier Beispiele gegenwärtiger Unterdrückung: 1. die religiöse Unterdrückung, 2. die staatliche Unterdrückung, 3. die ökonomische Unterdrückung und 4. die philosophische/ideologische Unterdrückung. Alle vier Modelle zeichneten sich Badiou zufolge durch ein Endlichkeitsdispositiv aus.53 Die jeweilige Verendlichung aufzudecken, sei der erste emanzipatorische Schritt. Im Falle der Religion geschehe die Unterdrückung durch die Teilung in einen unendlichen Schöpfer und eine endliche Welt bzw. einen endlichen Menschen. Dem Menschen sei es untersagt, sich die Unendlichkeit aneignen zu wollen, da sie allein Gott zustehe. Ohne die einzelnen Unterdrückungsformen und Endlichkeitstypen hier zu entfalten und zu diskutieren54 , soll der Hinweis ausreichen, dass Badiou die Endlichkeit mit Unterdrückung, die Unendlichkeit hingegen mit Emanzipation verbindet. Die Wiederentdeckung des Unendlichen hat dementsprechend in Badious Verständnis eine genuin politische und ethische Dimension.

5.4.2 Die Wiedergewinnung der Endlichkeit: Metz Für die Theologie von Metz möchte ich hier auf zwei miteinander verknüpfte Endlichkeitstypen eingehen. Der erste ist vor allem in der metzschen Theologie der 1960er und 1970er Jahre zu finden. Hier bezieht sich die Endlichkeit auf die geschichtliche Begrenzung des jeweiligen gesellschaftlichen Zustands und seiner Herrschaftsverhältnisse. Metz denkt die Endlichkeit des Status quo durch die Eschatologie. Die gesellschaftlichen Verhältnisse befänden sich unter dem eschatologischen Vorbehalt. Die Kategorie der Endlichkeit wird philosophisch aus einer Kritik an ontologischen bzw. ontologisierenden Kategorien gewonnen. Die Welt und der Mensch existierten nicht einfach abstrakt, sondern jeweils konkret und seien als konkrete Welten und Menschen der Veränderung unterworfen. In diesem Sinne ist das Endlichkeitsdenken durch den eschatologischen Vorbehalt wesentlich herrschaftskritisch ausgerichtet. Weniger geht es um die Verendlichung des Menschen, denn um die Verendlichung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

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Wie ich in Kapitel 2.4.2 schon dargestellt habe, besteht Badious Unternehmen in L’Immanence des vérités darin »[n]achzuweisen, dass die Endlichkeit das zentrale Motive jeder Unterdrückung ist«. ABIV 77. Vgl. Kapitel 2.3.4. Vgl. Kapitel 2.4.3. Vgl. Kapitel 2.4.2.

5. Badiou und Metz im Gespräch

Mit Hegel und Marx wird Gesellschaft als gewordene und werdende Struktur aufgefasst. Vor allem bei Marx geht es darum, Einsicht in die Veränderungen und Veränderungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Struktur zu erlangen, um diese bewusst beeinflussen zu können. So wird die Verkürzung des Arbeitstags als ein zentraler Schritt auf dem Weg zu einer Veränderung der Eigentumsverhältnisse aufgefasst, der zu einer sozialistischen Gesellschaft führen sollte.55 Metz kritisiert solche und ähnliche Ansätze, die das Emanzipationsgeschick ausschließlich dem Menschen und seiner Zukunft zuschreiben. Das menschliche Engagement werde vielmehr durch das erhoffte eschatologische Wirken Gottes vollendet. Auf abstrahierte Weise ließe sich bei Metz also die endliche Welt und der unendliche Gott gegenüberstellen. Die Unterdrückung bzw. eine Dimension der Unterdrückung besteht hier im Unterschied zu Badiou jedoch in der Verewigung der gesellschaftlichen Verhältnisse, statt in der Verendlichung des Menschen. Der zweite Endlichkeitstyp ist mit dem ersten verquickt. Es handelt sich um die Zeitdimension der Geschichte. Zeit müsse als begrenzt, das heißt, als endliche und befristete Zeit aufgefasst werden. Dieser Endlichkeitstyp ist also nicht qualitativ von dem ersten unterschieden, sondern stellt eher einen besonderen Aspekt des Endlichkeitsdenkens dar. Seit den späten 1970er und 1980er Jahren rückt das Thema der Zeit für Metz ins Zentrum.56 Gott wird nun noch deutlicher als früher als Ende der Zeit aufgefasst. Hier drückt sich das Unendlichkeitsdenken ebenfalls als Ewigkeitsdenken aus. Das Problem des Ewigkeitsdenkens bestehe vor allem darin, dass es die Erinnerung disqualifiziere. Mit dem Ewigkeitsdenken gehe das Vergessen einher, wie Nietzsche bereits prophezeite. Das Ewigkeitsdenken erlaube auch keine Hoffnung auf Rettung bzw. Auferstehung der vergangenen Leidenden mehr.

5.4.3 Die trennende Kategorie des Unendlichen Der philosophische Ansatz Badious sowie der theologische von Metz’ sind beide deutlich dem Interesse nach Emanzipation, das heißt der Befreiung von Fremdherrschaft, gewidmet. Dieses Interesse ist nicht ein untergeordnetes, sondern befindet sich im Zentrum beider Unternehmen. Unter dem, was ich Befreiung von Fremdherrschaft genannt habe, ließen sich einige Gemeinsamkeiten zwischen Badiou und Metz herausstellen. Beide wenden sich deutlich gegen das kapitalistische Marktgeschehen. Mit der Kritik am »Kalkül der rechnenden Vernunft«57 (Metz) sowie an der »kapitalistische[n] Logik des allgemeinen Äquivalents«58 (Badiou) finden beide zunächst eine gemeinsame

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»Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. […] Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.« Marx, Karl: Das Kapital, Bd. 3, in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 25, Berlin 16 2008, 828. Das Thema der Zeit spielt zwar durchgängig für Metz eine bedeutende Rolle. Seit Glaube in Geschichte und Gesellschaft schärft Metz seine Theologie jedoch apokalyptisch an und widmet sich auch in ausführlicheren Beiträgen dem Verhältnis von Gott und Zeit. Vgl. die Aufsätze in JBMGS 5 (Gott in Zeit). JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 58. ABSP 13 [18]. Vgl. auch Badiou, Alain: Wider den globalen Kapitalismus. Für ein neues Denken in der Politik nach den Morden von Paris, Berlin 2016.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Grundlage. Ebenso spielt das Thema der Solidarität, das sich für Badiou deutlich in der Betonung der gemeinsamen Sache migrantischer und nicht-migrantischer Menschen ausdrückt, und bei Metz unter dem Stichwort der Nächsten- und Fernstenliebe firmiert, für beide eine zentrale Rolle. Beide Ansätze sind, obwohl zuweilen sehr polemisch präsentiert, grundsätzlich auf Kooperation ausgerichtet. Nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch setzte sich Metz für den Dialog zwischen Christ*innen (Theolog*innen) und Marxist*innen ein.59 In einem frühen Text zur Neuen Politischen Theologie sucht er nach der »Basis für eine solche Kooperation zwischen Christen und Nichtchristen, zwischen Menschen und Gruppen der verschiedensten ideologischen Ausrichtungen«60 . Und auch Badious Engagement für eine kommunistische Politik ist grundsätzlich nicht dogmatisch, sondern integrativ ausgerichtet, insofern sich das Kommunistische am Gemeinsamen und am Gleichheitsaxiom orientiert.61 In diesem Sinne bietet es sich an, zwischen beiden sehr unterschiedlichen Ansätzen gemeinsame Bezugspunkte zu finden. Dennoch stellen der Gottesbegriff, wenn man ihn nicht politischer Pragmatik unterordnet, sowie das Unendlichkeitsverständnis eine unüberwindliche Grenze zwischen Badiou und Metz dar. Im Unendlichkeitsbegriff schließen sich beide Ansätze gegenseitig aus. Dient bei Badiou die Unendlichkeit der Emanzipation und die Endlichkeit der Unterdrückung, ist es bei Metz genau umgekehrt: Das Bewusstsein der Endlichkeit ermöglicht Emanzipation und das der Unendlichkeit führt zum Vergessen und fördert somit Unterdrückung. Hinsichtlich des Umgangs mit dem gesellschaftlichen Status quo lässt sich dennoch eine Brücke bauen. Beide betonen die Relativität der Stabilität eines jeweiligen gesellschaftlichen Status quo. Metz konfrontiert einen jeden Status quo zunächst mit seiner historischen Relativität, insofern jeder Zustand geschichtlich geworden und somit veränderbar ist. In einem zweiten Sinne ist jeder Status quo aber auch vom eschatologischen Wirken Gottes abhängig. Die christliche Hoffnung zeichnet sich Metz zufolge durch Gottes gerechtigkeitsschaffendes Handeln in der Geschichte aus. Genauer: Dieses Handeln Gottes beendet die Geschichte(n), die als Leidens- und Katastrophengeschichten (im Plural) aufgefasst werden – so die Hoffnung. Ein jeweiliger Zustand wird dementsprechend durch

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An den konkreten Gesprächen der Paulusgesellschaft zum christlich-marxistischen Dialog haben allerdings meines Wissens nur Männer teilgenommen. Vgl. Garaudy/Metz/Rahner: Der Dialog. JBMGS 1 (Zur Theologie der Welt), 115. Vgl. Badiou, Alain: Die kommunistische Hypothese, Berlin 2011; Badiou, Alain: Wofür steht der Name Sarkozy?, Zürich/Berlin 2008. Eine knappe, aber treffende Kritik am Kommunismusbegriff Badious bietet Andreas Arndt: »Bei aller eher vorsichtig angedeuteten Kritik am Terror der Stalinzeit wird die Vorstellung der kommenden Gesellschaft bestimmt von der Annahme, sie lasse sich wie ein selbstbewusstes Individuum modellieren […].« Arndt, Andreas: Geschichte und Freiheitsbewusstsein, Berlin 2015, 154. Ähnlich äußert sich Michael Brie: »Eine auf das Gemeinschaftliche reduzierte Vision des Kommunistischen, in der die Freiheit der Einzelnen schon in der Idee getilgt ist, droht, die Verkehrung von Emanzipation in neue Herrschaft zu begünstigen.« Brie, Michael: Der Kommunismus ist tot – lang lebe der Kommunismus, in: Brangsch, Lutz/Ders. (Hg.): Das Kommunistische. Oder: Ein Gespenst kommt nicht zur Ruhe, Hamburg 2016, 183–216, hier 207.

5. Badiou und Metz im Gespräch

die geschichtliche Veränderung sowie durch das erhoffte Handeln Gottes limitiert. Diese Limitation lässt sich auch als Verendlichung verstehen. Bei Badiou wird ein jeweiliger Status quo – in seiner Terminologie ein »Staat« (»L’état«) – unter bestimmten Bedingungen durch seine innere Struktur brüchig. Ein Status quo sei aufgrund der unmöglichen Erfassung der unendlichen Vielheiten niemals vollständig. Jeder Status quo – jeder Staat – sei notwendig fragil. Meines Erachtens könnte man hier von einer immanenten Limitation eines Status quo sprechen. Der Status quo/Staat wird auf seine Endlichkeit hin entlarvt. Die zeitliche Dimension spielt dabei für Badiou im Unterschied zu Metz keine Rolle. Vor dem Hintergrund der metzschen Theologie lässt sich deshalb an Badiou die Frage richten: Wann wird die Endlichkeit eines Status quo wirksam, wann tritt das Ende des Status quo ein? Für Badiou ist die Frage nicht wichtig. Entscheidend ist, dass ein Status quo – dass jeder Status quo – fragil ist. Mit Badiou ließe sich stattdessen gegenüber Metz konstatieren: Die Hoffnung, die Metz nennt, bleibt eine unmögliche Hoffnung, da es keinen vernünftigen Grund gibt, ein solches Handeln eines Gottes anzunehmen. Man könne nur vom menschlichen Handeln ausgehen. Doch ist nicht der ontologische Nachweis, dass jeder Status quo fragil ist, konsistenter als die Annahme, alles sei geschichtlich kontingent? In beiden Fällen ist ein Bewusstsein von dem, das das Bestehende übersteigt, notwendig. Für Badiou ist dieses Bewusstsein jedoch kein poetisches, rhetorisches oder religiöses »Phantasma«, sondern eine mathematische, das heißt wissenschaftliche Erkenntnis. Dieses Bewusstsein dürfe sich auf die Erkenntnis der Mengenlehre, dass es unendliche Mengen gebe, stützen. Die Mathematik sei selbst eine weltimmanente Schöpfung, die nicht durch irgendein Außerhalb hinzugetreten oder durch einen Gott geschaffen worden sei. Metz könnte diesen Nachweis Badious, dass ein Status quo immer fragil ist, grundsätzlich akzeptieren. Doch sagt die grundsätzliche Fragilität eines Status quo noch nichts über das tatsächliche Bestreben, Stabilität zu erzeugen, aus. Um dies zu erfassen, bedürfte es anderer wissenschaftlicher Methoden (soziologische, politikwissenschaftliche, pädagogische). Doch für Metz dürfte ein anderer Aspekt zentraler sein: Warum sollte sich ein Status quo aus mathematisch-ontologischer Perspektive verändern? Die Mathematik und eine auf dieser aufbauenden Philosophie kann die Notwendigkeit drängender Veränderung nicht ausdrücken. Für diese Frage biete hingegen die Religion und besonders die Bibel ein Bewusstsein und eine Sprache. Die Sprache und ebenso der Gott der Bibel sind dabei nicht auf die Religionen beschränkt, sondern werden offensichtlich auch aus anderen Perspektiven – wie Walter Benjamin, Ernst Bloch oder Jacques Derrida zeigen – aufgegriffen.62 62

Vgl. hier besonders die Rezeption des Messianismusbegriffs. Benjamin, Walter: Theologisch-politisches Fragment, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hgg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 2.1., Frankfurt a.M. 1977, 203f.; Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hgg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1.2, Frankfurt a.M. 1974, 691–704; Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Kapitel 43–55, Frankfurt a.M. 1985, 1405–1417; Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M. 6 2019; Derrida, Jacques: Marx & Sons, Frankfurt a.M. 2004. Vgl. ebenso die Überlegungen von Walzer, Michael: Exodus und Revolution, Frankfurt a.M. 1995 und die aktuelle Studie: Hindrichs, Gunnar: Philosophie der Revolution, Berlin 2017, 295–381.

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Hinsichtlich des Status quo lässt sich festhalten, dass hier weniger der Begriff Endlichkeit oder Unendlichkeit den Unterschied zwischen Badiou und Metz ausmacht, sondern eher das Verständnis von der Limitation. Denn die Endlichkeit bei Metz, wie auch die Unendlichkeit bei Badiou, zielen beide auf die Limitation des Status quo. Dass Badiou hier das Unendliche als Quelle der Limitation verwenden kann, wird durch den mengentheoretisch reflektierten Unendlichkeitsbegriff möglich, der in Metz’ Überlegungen nicht vorkommt. Hinsichtlich der Zeitdimension des Unendlichen bzw. des Endlichen gibt es hingegen eine unmittelbare und gravierende Differenz zwischen Badiou und Metz. Für Metz ist es gerade das Bewusstsein von der Geschichte (als singuläre und als plurale begriffen), das seine Theologie prägt. Es geht ihm darum, Glaube in Geschichte und Gesellschaft zu reflektieren. Geschichte nicht als bloße Fortschrittsgeschichte aufzufassen, gelingt ihm einerseits durch den Erinnerungsbegriff, andererseits durch den Endlichkeitsbegriff. Geschichte sei weder ein Kontinuum noch die Wiederkehr des Gleichen. Geschichte sei stattdessen zeitlich befristet, was Metz der biblischen Apokalyptik entnimmt. Für Badiou gibt es hingegen keinen Grund, eine solche zeitliche Befristung zu denken. Vielmehr spricht er von geschichtlichen Sequenzen und Intervallen, die einander ablösen.63 Eine Sequenz sei eine geschichtliche Phase, die sich um einen besonderen Signifikanten gruppieren lasse. Badiou wendet diesen Ansatz für die sogenannte kommunistische Hypothese an. So gebe es verschiedene Sequenzen, die sich jeweils unterschiedlich um den Signifikanten Kommunismus herum gruppiert hätten. Jede Sequenz habe einen Anfang und auch ein Ende. Eine genaue Analyse des Sequenzverständnisses von Badiou würde hier zu weit führen. Wichtig für das Gespräch mit Metz ist, dass diese Sequenzen nicht qualitativ voneinander geschieden sind. Badiou unterscheidet Phasen der Aktivität und solche der Passivität – nur erstere sind Sequenzen –, eine normative Unterscheidung braucht er dafür jedoch nicht. Es ist dementsprechend nicht nur die mathematische Ontologie der Vielheiten, sondern auch sein Verständnis von Geschichte als sich ablösende Sequenzen, das kein Bewusstsein von drängender Zeit ausdrücken kann und dies auch nicht intendiert.64 Für Metz ist es hingegen das Bewusstsein der Leidensgeschichten, das zum Handeln und Hoffen drängt.

5.5 Die Überwindung des Nihilismus Die Überwindung des Nihilismus, die ich hier thematisiere, bezeichnet in Kurzform das ethische Unternehmen Badious. Das nihilistische Denken sei die große ethische Herausforderung der Gegenwart, der philosophisch dringend zu begegnen sei. Für den Theologen Metz hingegen gehört das Stichwort Nihilismus nicht zum gängigen theologischen Programm. Möglicherweise wider Erwarten kann seine Theologie jedoch im Sinne Badious als nihilistisch interpretiert werden. Es ist die Fokussierung auf den leidenden

63 64

In knapper Form dargestellt in Badiou: Wofür steht der Name Sarkozy?, 111–124. In Théorie du sujet spricht Badiou noch von Perioden (période), statt von Sequenzen. ABTS 59 [71]. Badiou legt Wert darauf, dass auch seine Ereignistheorie nicht mit einer Erwartung verwechselt werden dürfe. Vgl. dazu beispielsweise ABSP, 136 [135].

5. Badiou und Metz im Gespräch

Menschen und auf die Leidensgeschichten, die für Badiou das zentrale Charakteristikum des Nihilismus ausmacht. Im Folgenden möchte ich zunächst Badious Gedanken zum Nihilismus sowie seine Gegenstrategie in Erinnerung rufen.65 In einem zweiten Schritt versuche ich die wenigen expliziten und die vielen impliziten Überlegungen Metz’ zu einem Nihilismusbegriff in Grundzügen nachzuvollziehen, um dann in einem dritten Schritt die metzsche Theologie mit dem denkbaren Nihilismusvorwurf Badious zu konfrontieren. Darüber hinaus möchte ich im Gespräch mit Metz klären, welche Probleme Badious Nihilismusbegriff aufwirft.

5.5.1 Die Teilhabe an ewigen Wahrheiten: Badiou Der Nihilismusbegriff bei Badiou ist in meiner Studie vor allem über den Begriff der ewigen Wahrheiten aufgekommen. Badiou beansprucht, eine Theorie ewiger Wahrheiten auf Grundlage seiner mathematischen Ontologie aufbauen zu können. Ewige Wahrheiten gelten ihm als die anzustrebenden Möglichkeiten des Menschseins. Wahres Menschsein zeichne sich durch die Teilhabe an solchen ewigen Wahrheiten aus und ausschließlich eine solche Teilhabe ermögliche wahres Menschsein. Das denkerische Gegenstück seines Ansatzes charakterisiert Badiou als Nihilismus. An verschiedenen Stellen entwickelt Badiou seine Theorie ewiger Wahrheiten in Kontrastierung zu dem, was man unter dem Begriff Nihilismus zusammenfassen könnte. In Logiques des mondes ist das Gegenstück der sogenannte demokratische Materialismus, in L’Éthique spricht er von der »BioEthik«, unter der er nahezu alle Ethiken (außer seine eigene) fasst. Der zeitgenössische Nihilismus sei Badiou zufolge vor allem durch zwei Aspekte gekennzeichnet, nämlich durch die Kombination aus Resignation und einem destruktiven Willen, der letztendlich ein Todestrieb sei. Die Resignation macht Badiou als verbreitete Umgangsweise mit den ökonomischen Bedingungen des gegenwärtigen Kapitalismus aus. Diesen Bedingungen – dem Marktgeschehen, der Ausbeutung, der Ungleichverteilung von Eigentum – werde weitgehend mit Resignation begegnet. Sie gelten den meisten Menschen als unabänderliche Gegebenheiten. Die Resignation bedeute, dass keine Alternativen gedacht würden. Badious Gedankengang zum Resignationsbegriff ist, unabhängig von der inhaltlichen Bewertung, meines Erachtens plausibel. Badiou verwendet den Begriff der Resignation in einer alltagssprachlich typischen Weise.66 Anders verhält es sich mit dem Konzept des destruktiven Willens bzw. des Todestriebes. Dieser drücke sich nämlich in den Ethiken des Lebens und in den Ethiken der Menschenrechte aus, die dem Wortsinne nach zunächst nicht auf den Tod ausgerichtet sind. Der Todestrieb sei jedoch implizit in den Lebens- und Menschenrechtsethiken vorhanden, insofern sie den leidensfähigen Menschen sowie den Imperativ des nichtLeiden-Sollens zur Grundlage nehmen. In seiner Gegenüberstellung der nihilistischen Position und seiner eigenen Theorie ewiger Wahrheiten und ewigen Lebens kommt Badious Umgang mit der Kategorie des Leidens sehr deutlich zum Vorschein. Seine Philosophie im Allgemeinen und seine Ethik 65 66

Ich bin in Kapitel 3.5 bereits darauf eingegangen. Der Duden definiert Resignation als »das Sichfügen in das unabänderlich Scheinende«. https://w ww.duden.de/rechtschreibung/Resignation (zuletzt abgerufen am 04.02.2023).

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

im Besonderen ist kaum an den Grenzen des Lebens und des Menschseins interessiert, sondern zielt auf die Entfaltungsmöglichkeiten des Lebens. Leiden und Tod treten hinter der Möglichkeit des Lebens für eine Wahrheit in den Hintergrund, ja, sie verlieren jegliche Bedeutung. Ähnlich wie bei Nietzsche führt auch bei Badiou der Tod Gottes – das Wegwischen des Horizonts – nicht automatisch zum befreiten Menschsein bzw. zu einer befreiten Gesellschaft. Für Nietzsche eröffnet der Tod Gottes allerdings zunächst Chaos und Nihilismus. Beides könne und müsse durch den bewussten Willen zur Macht (wenigstens für manche) jedoch überwunden werden. Badiou verknüpft den Tod Gottes jedoch im Unterschied zu Nietzsche nicht mit dem Nihilismus. Vielmehr eröffne der Tod Gottes die Möglichkeiten des unendlichen und unsterblichen Lebens. Das unendliche Leben trete zwar nicht unmittelbar mit dem Tod Gottes ein. Aber es könne und müsse ergriffen werden. Konkret bedeutet das: Es müssen Wahrheiten geschaffen werden und man müsse an diesen (oder an bereits geschaffenen) teilhaben. Dann könne man von einem erfüllten Leben sprechen.

5.5.2 Compassion als Weltprogramm: Metz Wie bereits erwähnt, findet sich der Nihilismusbegriff in seiner expliziten Form kaum bei Metz. Als solcher ist er in seinen Veröffentlichungen kein Thema. Diese Tatsache ist insofern überraschend, da Nietzsche, der große Referent des Nihilismus, in seiner Theologie durchaus eine bedeutende Rolle spielt.67 Der Tod Gottes und die Wiederkehr des Gleichen werden von Metz wenigstens als gegenwartsdiagnostische Stichworte rezipiert. In Memoria passionis findet sich jedoch eine Passage, in der der Begriff des Nihilismus zwar dem Anschein nach beiläufig auftritt, aber für Metz’ Gottes- und Leidensverständnis von zentraler Bedeutung ist. Metz schreibt in einem Kapitel, in dem er das Konzept des leidenden Gottes kritisiert: »Das Leiden der Leidenden ist ja nichts Großes, Erhabenes, es ist in seiner Wurzel alles andere als ein solidarisches Leiden, es ist nicht einfach Zeichen der Liebe, sondern weit mehr erschreckendes Anzeichen dafür, nicht mehr lieben zu können. Es gibt im menschlichen Leid eine Tendenz zum tödlichen Tod, zum Nihilismus, es ist jenes Leid, das ins Nichts führt, wenn es nicht ein Leiden an Gott ist.«68 Metz nimmt in einem ersten Schritt eine strikte Unterscheidung von Gott und Leiden vor. Gott selbst als Leidenden oder Mitleidenden anzunehmen, führe dazu, dass »das Leiden der Menschen von vornherein theologisch entwichtigt wird. Wenn Gott leidet, dann ist, so heißt es, das Leiden eigentlich kein Einwand mehr gegen Gott.«69 Das Leiden von bzw. der Menschen müsse als solches in den Blick der Theologie geraten. Metz kann damit einerseits den Gottesbegriff vor unberechtigten Anthropomorphismen schützen, andererseits das Leiden als menschliches Leiden wahrnehmen. Auf diese Weise versucht er, die Kategorie des Leidens Ästhetisierungen oder rationalen Erklärungsversuchen zu 67 68 69

Vgl. zu Metz’ Nietzscherezeption das Kapitel 4.3.2. JBMGS 4 (Memoria passionis), 34. Ebd.

5. Badiou und Metz im Gespräch

entziehen. Leiden sei nicht als etwas »Großes, Erhabenes« oder als »Solidarität« und »Zeichen der Liebe« zu interpretieren. Leiden als tatsächlich erfahrenes Leiden – fremdes oder eigenes – zu erfassen, erlaubt Metz die Loslösung aus der von der Ontologie geprägten Transzendentaltheologie und die Entwicklung einer nachidealistischen Theologie der Welt. Ehemals abstrahierende Kategorien, wie Welt, Mensch oder Leid, werden nun von ihm durch Erfahrungen und Erfahrungswissenschaften konkretisiert. In einem zweiten Schritt nimmt Metz eine weitere Unterscheidung vor. Einmal könne Leiden unabhängig von Gott und einmal »mit« Gott erfahren werden. Im ersten Fall spricht Metz vom Nihilismus. Es ist der Zustand, in dem Leid »ins Nichts führt«. Es scheint für Metz ohne Gott keine Perspektive im Umgang mit Leid bzw. in der Transformierung des Leidens zu geben. Umgekehrt ist die Leidenserfahrung »mit« Gott keine, die Gott als solidarischen Leidensgenossen auffasst, sondern die Gottes Abwesenheit im Leiden an- und beklagt. Das Leiden wird auf diese Weise auch zum Leiden an Gott. Die Leidenserfahrung »mit« Gott ist dementsprechend eine, in der Gott in seiner*ihrer anwesenden Abwesenheit wahrgenommen wird. Die Klage über das Leid erhält dadurch ein Ziel, eine Adressatin (Gott) und endet nicht im Nichts. Der Gottesglaube unterscheidet sich vom Nihilismus laut Metz also nicht darin, dass in ihm Gottes (helfende, rettende, beruhigende) Anwesenheit und in jenem ihre*seine Abwesenheit konstatiert werde. In beiden steht Gott nicht rettend zur Verfügung. Der Unterschied besteht vielmehr darin, dass in einem Fall Gottes Abwesenheit beklagt, im anderen Fall ihre*seine Abwesenheit nicht mehr selbst problematisiert wird. Für den Umgang mit den Leiderfahrungen besteht der Unterschied darin, dass im Nihilismus der Tod »tödlich« ist. Es gibt keine Hoffnungsperspektive (z.B. auf Auferstehung) für die*den Tote*n. Anders im Gottesglauben: Hier könne die biblische Verheißung auf Trost und Rettung wirken.70 Die hier vorgestellten Überlegungen zu Metz’ Leidensverständnis sind für seine Theologie durchaus von Bedeutung. An der Fähigkeit, Leiden wahr- und ernst zu nehmen entscheide sich die Legitimität der Gottesrede, wie umgekehrt die Gottesrede für die Wahrnehmung der vielen Leidensgeschichten bürge. Es gibt für Metz gegenüber dem Leiden auch keine ›andere Seite der Medaille‹, die beispielsweise mit Formulierungen eines erfüllten Lebens oder ähnlichem verbunden wäre. Für die metzsche Theologie gibt es die Wahrnehmung des Leidens, die Rettung aus der Leidenssituation, den Trost und das solidarische Handeln der Menschen. Nicht hingegen spricht er vom erfüllten oder geglückten Leben auf positive Weise oder gar losgelöst von den Leidensgeschichten. Die Christ*innen seien jedoch mit einer Aufgabe betraut: Die durch den biblischen Gott geförderte Mitleidsfähigkeit praktisch werden zu lassen: »Compassion« solle zum »Weltprogramm des Christentums« werden.71

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Metz’ Unterscheidung von Gottesglauben und Nihilismus erinnert an die Diskussion zwischen Walter Benjamin und Max Horkheimer, ob die Toten letztgültig tot seien (Horkheimer) oder eine Form der Solidarität mit den Toten möglich sei (Benjamin). Vgl. dazu die Studie Peukert: Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Fundamentaltheorie, bes. 305–310. Ich danke Andreas Hellgermann für diesen Hinweis. JBMGS 4 (Memoria passionis), 150ff.

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»Die Rede vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der auch der Gott Jesu ist, ist nicht Ausdruck irgendeines abstrakten, nicht irgendeines metahistorischen Monotheismus, sondern eines ›schwachen‹, eines verletzbaren, eines empathischen Monotheismus, sie ist im Kern eine leidempfindliche Gottesrede.«72 Für Metz geht mit dem praktizierten bzw. dem praktischen Glauben an den Gott der Bibel das tätige Mitleid bzw. die tätige Compassion einher. Compassion und Gottesrede bilden in Metz’ Theologie eine konstitutive Einheit. Durch diese Gottesrede läuft die Klage über das Leid nicht ins Leere.

5.5.3 Die trennende Kategorie des Leidens Badious und Metz’ Umgang mit dem Nihilismus entscheiden sich beide an der Kategorie des Leidens und der Stellung des Gottesbegriffs zu dieser. Der Gegensatz könnte kaum größer sein.73 Während für Metz die Überwindung des Nihilismus in der leidsensiblen Gottesrede bzw. in der Gottesrede, die genuin von Compassion geprägt ist, liegt, sieht Badiou gerade in einer Leidorientierung jeglicher Art die Wurzel des Nihilismus. Dieser Kontrast lässt sich unter Berücksichtigung der jeweiligen theoretischen Entwicklungen (und Biografien) besser nachvollziehen. Für den Metz der Transzendentaltheologie, das heißt vor 1965, gewinnt die Feststellung, dass die ontologischen Kategorien ihre Gegenstände aufgrund des hohen Abstraktionsgrads nicht fassen können, Kontur. Ihm geht es darum, den Herausforderungen der Aufklärungsphilosophie – vor allem von Kant und Marx – Rechnung zu tragen. Kategorien wie Welt, Mensch, Geschichte sollen an ihren möglichen Erfahrungswert geknüpft werden. Dadurch wird die Welt zu einer sich verändernden Welt, zu einer gesellschaftlichen Welt mit Institutionen, konkreten Produktionsweisen sowie Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Der Mensch ist ebenso keine Monade, sondern mit Bedürfnissen und sozialen Positionen ausgestattet. Geschichte verändert sich nicht bloß, sondern wird von konkreten Menschen bewusst wie unbewusst gestaltet. Die Wahrnehmungen der Ungerechtigkeiten der kapitalistischen Moderne und des Gegensatzes von »Erster-Welt« und »Dritter-Welt« sowie von Auschwitz haben Metz die Kategorie des Leidens immer stärker in den Vordergrund rücken lassen. Er bezieht seinen eigenen biografischen Hintergrund in seine Theologie ein. »Das Thema ›Gott‹ dispensiert auch den Theologen nicht von seiner Biografie.«74 , wie er in Memoria passionis formuliert. Dort beschreibt er seine Erfahrung als 16-jähriger Soldat im Nationalsozialismus. Seine Kompanie wurde von Bombern und Panzern getötet. »Ich erinnere nichts als einen lautlosen Schrei. So sehe ich mich heute noch, und hinter dieser Erinnerung sind meine Kindheitsträume zerfallen.«75 Solche – diese – Erfahrungen stehen

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Ebd., 153. Ich danke hier Thomas Seibert, der mich darauf aufmerksam gemacht hat. JBMGS 4 (Memoria passionis), 95. Ebd., 96.

5. Badiou und Metz im Gespräch

im Zentrum der metzschen Theologie. Seine Gottesrede ist darauf angelegt, diese Erfahrungen »beredt werden zu lassen«76 . Betrachtet man Badious theoretische Entwicklung, liegen hier andere Erfahrungen zu Grunde, die er ebenfalls betont. Für den neun Jahre jüngeren Badiou (*1937, Metz *1928) werden die Aktivitäten gegen den Algerienkrieg in Paris und die politischen und sozialen Geschehnisse um 1968 wesentlicher Ausgangspunkt seines Denkens.77 Im Unterschied zu Metz liegt hier nicht die Erfahrung der Katastrophe, sondern die des Handeln-Könnens zu Grunde, wie er in einer Selbstauskunft über sein Engagement gegen den Algerienkrieg schreibt: »Wir sind nur wenige 1955, nur sehr wenige, die wollen, dass das aufhört, die in einem noch ziemlich großen Durcheinander gegen den Algerienkrieg sind, und wir demonstrieren von Zeit zu Zeit auf dem Boulevard Saint-Michel, indem wir dem Aufruf der damaligen Studentenorganisation UNEF folgen. Wir gehen den Boulevard Saint-Michel hinunter, wobei wir ›Frieden in Algerien!‹ rufen, und wenn wir unten ankommen, erwartet uns die Polizei mit Schlägen der Pelerine (das war die damalige Technik), und wir lassen uns fröhlich niederschlagen. Seltsam ist, dass wir uns nichts anderes sagen können als folgendes: wir müssen weitermachen. […] Ich habe daraus die Überzeugung gewonnen, dass Philosophie existiert, wenn sie den lebhaften Brennpunkt der Zeitgenossenschaft auf sich nimmt.«78 Dass das Niedergeschlagen-Werden nicht nur fröhlich war, räumt Badiou auch ein. Entscheidend ist die Betonung des Weitermachen-Müssens. Sein Denken, seine Philosophie, ist vom Anspruch der Möglichkeiten geprägt. Im Anschluss an Metz lässt sich hier allerdings die Frage stellen: Warum werden die Erfahrungen, die in diesem und anderen Zitaten so eindrücklich und detailliert beschrieben werden, nicht in die Kategorienbildung der Philosophie einbezogen? Sicherlich, Begriffe wie Staat, Ereignis oder Subjekt, die für Badiou zentral sind, erwecken zuweilen den Eindruck des Unmittelbaren. Verbleiben sie jedoch nicht in einem letztlich zu abstrakten Bereich? Lassen sie nicht ein zu weites Spektrum an Erfahrungen zu? Und konkret auf Badious Betonung des Weitermachens bezogen: Was geschieht mit denen, die nicht weitermachen können?79 Wo finden diese ihren Widerhall in Badious Kategorienbildung? Die Frage nach dem Widerhall des Leids bzw. der Katastrophengeschichten in Badious Kategorienbildung ist notwendig. Umgekehrt lässt sich mit Badiou an Metz die Frage richten: Tritt bei Metz durch die Betonung der Leidensgeschichten nicht das Engagement vieler Menschen für eine gerechtere Welt in den Hintergrund? Fällt nicht der Bezug auf engagierte Subjekte der Weltveränderung in Metz’ Theologie nach und nach 76

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Vgl. den für Metz bedeutenden Satz Adornos: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.« Adorno: Negative Dialektik, 29. Vgl. Badious Vortrag Geständnis eines Philosophen in Badiou: Ethik, 123–147. Ebd., 128f. Während der Proteste gegen den Algerienkrieg in Frankreich fanden auch brutale Massaker statt, wie das am 17.10.1961 in Paris, bei dem vermutlich 200 Demonstrierende (zumeist Algerier*innen) von der Polizei getötet wurden. Vgl. https://taz.de/Massaker-an-Algeriern-vor-60-Jahren/ !5805838/(zuletzt abgerufen am 04.02.2023).

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

geringer aus? In Zur Theologie der Welt und in Glaube in Geschichte und Gesellschaft sind diese Bezüge zwar noch deutlich vorhanden – sie sind sogar zentral. Tatsächlich ändert sich vor allem mit der Bewusstwerdung der Katastrophe von Auschwitz diese Perspektive. Die gefährliche Erinnerung an den Tod und die Auferstehung Jesu Christi nimmt nun wesentlich die Katastrophengeschichten, vor allem diejenige des Nationalsozialismus, in sich auf. Diese veränderte Perspektive wird von Metz auch durch kein geglücktes Engagement aufgeweicht – sie bleibt zentral. Und dennoch geht in Metz’ Theologie die widerständige Pointe nicht unter. Mit dem Festhalten an der Gottesrede, die seit der Entfaltung einer Theologie nach Auschwitz auch die Form der Anklage impliziert, will sich Metz der Leere des Todes widersetzen. Die Gottesrede dient dazu, die Leidensgeschichten nicht dem Vergessen zu überantworten. Die Positionen von Badiou und Metz lassen sich hinsichtlich der Überwindung des Nihilismus kaum harmonisieren. Lediglich die Grundeinsicht, einen Nihilismus überwinden oder vermeiden zu wollen, teilen beide. Auch der Imperativ Badious, unsterblich und unendlich zu leben, lässt sich noch an den metzschen Imperativ, dass Leid nicht sein dürfe, herantragen. In beiden steckt der Wunsch, zu leben. Die unterschiedliche Auffassung zur Bedeutung des Leidens lässt sich aber nicht zusammenführen. Genau diesen Unterschied wahrzunehmen, dient dem Verständnis der jeweiligen Werke. Beide Auffassungen sind nicht bloße Meinungen, sondern sie entsprechen theoretischen Grundoptionen, die sich gegenseitig ausschließen. Die theoretische Differenz liegt insbesondere im unterschiedlichen Umgang mit der Ontologie. Drückt sie bei Metz ein Fehlen der Erfahrung aus, dient sie Badiou als Ort der Entscheidung für das Leben als Untersterbliche.

6. Fazit: Gott, Emanzipation und das nachidealistische Denken

Die Auseinandersetzung mit der Tod-Gottes-Aussage bei Alain Badiou und Johann Baptist Metz ist sachlich zu umfassend, als dass am Ende dieser Studie ein Fazit im Sinne eines Abschlusses stehen könnte. Sie ist deshalb zu umfassend, weil entweder Gott oder sein postulierter – und gegebenenfalls begründeter – Tod in der Theologie von Metz und der Philosophie Badious schlicht alles betrifft. Zu der inhaltlichen Dimension tritt eine methodische, formale hinzu: Metz’ Studien entziehen sich dem Systemgedanken; sie sind fragmentarisch, essayistisch und damit in hohem Maß situationsgebunden. Ein abschließendes Wort träfe Metz’ Theologie nicht sachgerecht. Badious Werk zeichnet sich hingegen durch eine grundsätzliche Systematik aus. Doch auch daraus lassen sich nur eingeschränkt letzte Schlüsse ziehen, da diese Systematik auf Setzungen – Axiome – aufbaut und somit von Entscheidungen geprägt ist. Die Systematik impliziert folglich eine Grundlosigkeit sowie eine notwendige Offenheit des Denkens. Aufgrund dieser Einsicht möchte ich im Folgenden anhand von vier Themen einen Zwischenstand1 , von dem aus ich weitere Fragen formuliere, anbieten. Als Zwischenstand beschließt er die vorliegende Studie und weist gleichzeitig über sich hinaus.

6.1 Philosophie ohne Grenzen Badious Tod-Gottes-Aussage speist sich im Wesentlichen durch zwei miteinander verwobene Argumente. Erstens: Eine Menge aller Mengen sei inkonsistent, wie Georg Cantor erkannt hat. Daraus schließt Badiou, dass eine größte Größe, die in der philosophischen Tradition auch das Eine, das Ganze, die Totalität genannt wird, nicht existieren könne. Wenn die größte Größe mit Gott identifiziert wird, folgt daraus, dass auch Gott nicht existieren kann. Badiou kann deshalb von einem Tod und nicht nur von einer Erkenntnis der Nichtexistenz sprechen, da die Einsicht in die Inkonsistenz der Menge aller 1

Ich stimme Adornos Gedanken zu, dass es bei aller tiefen Skepsis gegenüber abgeschlossenen Theorien dennoch »für Augenblicke« der prägnanten Definition – die ich hier als Fazit auslege – bedürfe. Adorno: Negative Dialektik, 167.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Mengen historisch datierbar sei. Sie wurde von Cantor zu einem bestimmten Zeitpunkt Ende des 19. Jahrhunderts bewiesen. Bis dahin habe Gott gelebt. Das zweite Argument, das mit dem ersten eng verknüpft ist, ist das der unendlichen Unendlichkeiten. Die Mengenlehre zeige, dass es keine letzte und vor allem nicht nur eine, sondern unendlich viele Unendlichkeiten gebe. Badiou überträgt diese Erkenntnis auf die Ontologie. Genauer: Badiou erkennt in der Mengenlehre den adäquaten ontologischen Diskurs über das Sein. Entsprechend müsse das Sein als vielfach unendlich aufgefasst werden. Badiou entwirft auf der Grundlage der Mengenlehre eine Ontologie der Unendlichkeiten. Damit ist eine weitere Eigenschaft Gottes – seine*ihre Unendlichkeit – relativiert. Gott könne nun nicht mehr als umfassende Unendlichkeit begriffen werden, da es keine umfassende Unendlichkeit gebe. Mit dieser Art des Denkens führt Badiou eine Grenzenlosigkeit in die Philosophie ein. Die mathematische Vernunft sei eine, die keine Grenzen kenne.2 Es ist die so verstandene Grenzenlosigkeit des Denkens, mit der Badiou in den 1980er Jahren auf die Krise des Marxismus reagiert. Die Grenzenlosigkeit der Philosophie zu erproben, lässt sich als Fortführung seines Unternehmens in Peut-on penser la politique? von 1985 interpretieren. Dort fragte er, wie man sich »von der Ökonomie und vom Marxismus-Leninismus« freimachen könne. Wie werde die Politik wieder »beweglich«?3 Es brauche dafür eine »marxistische[] Heterodoxie«, eine neue Art zu Denken.4 Die Grenzenlosigkeit des Denkens zu konstatieren und zu entfalten entspricht genau dieser Forderung, die Badiou 1985 aufstellte. Mit der Rezeption der Mengenlehre vollzieht Badiou einen Befreiungsschlag vom Marxismus-Leninismus, den er als mechanistisch, starr und letztendlich tot wahrgenommen hatte5 – ohne das marxistische Denken zu verlassen.6 Mit der Entfaltung des grenzenlosen Denkens verabschiedet sich Badiou nicht nur vom MarxismusLeninismus, sondern auch von einem großen Teil der philosophischen Tradition – von demjenigen, der an der Kategorie der Totalität festhält. Im ersten Fall von Badious Unternehmen wird der Tod des Marxismus postuliert, um diesen wieder neu beginnen zu können (1985). Im zweiten Fall wird der Tod Gottes behauptet, ohne Gott wieder auferstehen zu lassen. Vielmehr soll sich das Denken nun ohne Gott entfalten (seit 1988). Ist Badious Versuch geglückt? Ich habe an verschiedenen Stellen gezeigt, dass Badiou im Umgang mit der mengentheoretischen Ontologie auf Schwierigkeiten stößt. Die zentrale Schwierigkeit besteht für Badiou darin, den Ort der Ontologie zu bestimmen. Ist die Ontologie eine Vielheit unter vielen Vielheiten? Damit wäre die mengentheoretische Ontologie eine Regionalontologie und verfügte nur über eine sehr begrenzte Reichweite. Sie wäre eine begrenzte Ontologie.7 Oder ist die mengentheoretische Ontologie eine 2 3 4 5 6

7

Badiou in: Badiou/Nancy: Deutsche Philosophie, 18. Badiou: Ist Politik denkbar? 76. Ebd., 67. »Heute zu sagen, dass der Marxismus vom Standpunkt des lebendigen Denkens aus tot ist, ist eine einfache Feststellung.« Ebd., 59. Vgl. Badiou, Alain : Qu’est-ce que j’entends par Marxisme. Une conférence donnée par Alain Badiou au séminaire étudiant Lecture de Marx à l’École normale supérieure de la rue d’Ulm, Paris 2016. Badiou tendiert in Logiques des mondes zu einer solchen Annahme. Vgl. dazu die Kapitel 2.3 und 3.6.1.

6. Fazit: Gott, Emanzipation und das nachidealistische Denken

absolute Ontologie, das heißt eine, die alle Formen des Denkens impliziert? In diesem Fall wäre die Ontologie universal, ließe sich aber nicht mehr von einer Totalität unterscheiden. Eine absolute Ontologie wäre eine totale (umfassende) Ontologie. Sie wäre eine Menge aller Mengen.8 Das Argument, dass Gott aufgrund der Inexistenz der Totalität tot sei, wäre damit gescheitert. Doch nicht nur formal, sondern auch inhaltlich stößt Badiou auf Schwierigkeiten. Mit einem Denken, das so abstrakt strukturiert ist, gelingt Badiou an mehreren Stellen nicht überzeugend die Verbindung zu konkreten Erfahrungen bzw. zu einem erfahrungsorientierten Diskurs, wie dem der Politik. Ich habe dies für den Begriff der Welt aufgezeigt.9 Müssen im politischen Diskurs eine oder viele Welten konstatiert werden? Badious Überlegungen gehen in diesem Fall in entgegengesetzte Richtungen. Politisch solle die eine Welt, philosophisch hingegen die vielen Welten supponiert werden. Zwar mag auch in einem solchen Auseinanderdriften die Freiheit des Denkens realisiert sein. Die Bedeutung des philosophischen bzw. ontologischen oder phänomenologischen Diskurses wird jedoch sehr undeutlich, wenn der erfahrungsorientierte Diskurs in eine andere Richtung drängt. Die Gefahr, in einen Idealismus, von dem sich Badiou durch die Betonung des materialistischen Denkens lossagen möchte, zu fallen, ist in seiner Philosophie deutlich gegeben. Trotz dieser Schwierigkeiten wäre es ein Kurzschluss, Badious Werk als gescheitert und irrelevant abzutun. Im Gegenteil. Badious Werk lädt vielmehr dazu ein, sich den Herausforderungen emanzipatorischen Denkens über eine Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte, insbesondere mit der Kategorientheorie10 , zu widmen. Dabei geht es weder darum, das Gewicht der Tradition in zeitgenössische Problemstellungen einzuführen, noch diese Problemstellungen auf vergangene Diskussionen zurückzuführen, sondern aus der Philosophiegeschichte Begriffe für gegenwärtige Herausforderungen zu mobilisieren. Dies geschieht positiv, im Sinne des Wahrheits- oder Subjektbegriffs, den Badiou zur Bearbeitung der zeitgenössischen Problemstellung des Nihilismus aus der Philosophiegeschichte entlehnt, sowie problemorientiert, wie im Falle des Gottesbegriffs. Seine Frage lautet, wie ein zeitgenössisches, emanzipatorisches Denken ohne Gott gelingt. Dieser zweite Fall bleibt jedoch auch für Badiou als Herausforderung bestehen. Kritisch gegenüber Badiou lässt sich zurückfragen, inwiefern ein emanzipatorisches Denken auf einen Totalitätsbegriff verzichten kann, ohne – unbewusst – einen Gottesbegriff zu setzen? So kann der Begriff der Totalität bzw. des Ganzen mitunter dazu dienen, den Zusammenhang von Erfahrungen wahrzunehmen, um diesen kritisieren zu können. Nancy Fraser und Rahel Jaeggi haben den Begriff des Ganzen wieder aufgegriffen, um den Zusammenhang gegenwärtig diagnostizierter Krisen zu analysieren: »[Wir] müssen […] die strukturellen Grundlagen der vielfältigen Krisentendenzen in ein und derselben gesellschaftlichen Ganzheit aufdecken: in der kapitalistischen Gesellschaft. […] Irgendwie müssen wir ein neues Verständnis des Kapitalismus schaffen, 8 9 10

Diesen Weg geht Badiou ansatzweise in L’être et l’événement und ausführlich in L’Immanence des vérités. Vgl. die Kapitel 2.2 und 2.3 sowie 3.6.1. Vgl. Kapitel 3.3.3. Vgl. meine knappen Ausführungen zu Kant, Hegel und Marx in der Einleitung, Kapitel 1.2.1ff.

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das die Einsichten des Marxismus mit denen aus neueren Paradigmen vereint u.a. aus dem Feminismus, der Ökologie und dem Postkolonialismus – während man zugleich die jeweiligen blinden Flecke jedes einzelnen vermeidet.«11 Hier dient die Kategorie des Ganzen (»Ganzheit«) der Erfassung des Kapitalismus bzw. dessen, was unter Gesellschaft verstanden werden kann. Das Ganze ist nicht positiv, sondern kritisch konnotiert. Gegenwärtig bieten Fraser und Jaeggi eine Alternative zu Badiou im Umgang mit dem Begriff des Ganzen an. Die philosophischen Möglichkeiten und Fallstricke eines solchen Denkens auszuloten, wären Aufgabe einer weiteren Forschungsarbeit.

6.2 Theologie nach Badiou Wenn ich von einer Theologie nach Badiou spreche, ziele ich auf die zeitliche (post) und nicht auf die inhaltliche (secundum) Bedeutung. Denn Badiou hat weder eine explizite noch eine implizite Theologie entwickelt. In Badious absoluter Ontologie oder in seiner Ereignistheorie (die ich in dieser Studie nicht analysiert habe) Spuren eines Gottesbeweises zu finden, spricht nicht für eine Theologie im Sinne einer reflektierten Rede von Gott, sondern für wahrgenommene Probleme in Badious Begründung des Todes Gottes. Eine Theologie in seinem Werk zu erblicken, würde seine Intention und sein massives Aufgebot an Argumentationsversuchen für eine antitheologische Ontologie der Vielheiten unterschlagen. Nun wäre es möglich, von Badious Werk ausgehend auf Cantor zurückzugehen und dessen theologische Überlegungen zu rezipieren. Denn Cantor hatte eine bestimmte Unendlichkeitsform – das Infinitum Absolutum – Gott vorbehalten. Doch, schlüge man diesen Weg ein, versuchte man einen rationalistischen Gottesbegriff auf Grundlage eines mathematischen Grenzfalls einzuführen. Ein solcher Gottesbegriff entspräche zwar der Vorstellung von Gottes Unendlichkeit, er wäre aber kaum auf biblische Zeugnisse beziehbar. Gott wäre in diesem Fall ein metaphysisches Prinzip. Wie könnte dann eine Theologie nach Badiou gestaltet sein? Eine Theologie nach Badiou wäre eine, die in einem ersten Schritt kritisch seine Tod-Gottes-Argumente überprüfte, sich in einem zweiten Schritt seiner Problemstellungen annähme, um im dritten Schritt Möglichkeiten einer reflektierten Gottesrede zu bieten. Meine Kritik der TodGottes-Argumente Badious hat gezeigt, dass diese gegen seine Intention ein metaphysisches Totalitätsprinzip einführen und darüber hinaus in fundamentale Widersprüche geraten12 . Ein christlicher Gottesbegriff ist von Badiou dann angesprochen, wenn dieser auf dem Konzept der Totalität aufbaut. Die theologische Herausforderung liegt dann aber nicht darin, ob ein solcher Gottesbegriff im Sinne eines Prinzips widersprüchlich oder widerspruchsfrei ist, sondern aufzuzeigen, dass sich ein christlicher Gottesbegriff 11

12

Nancy Fraser in: Fraser, Nancy/Jaeggi, Rahel: Kapitalismus. Ein Gespräch über kritische Theorie, Berlin 2 2021, 24f. Vgl. auch Rahel Jaeggis und Robin Celikates’ Ausführungen zum Konzept des »gemäßigten Holismus« in Jaeggi, Rahel/Celikates, Robin: Sozialphilosophie. Eine Einführung, München 2017, 44–49. Siehe 6.1.

6. Fazit: Gott, Emanzipation und das nachidealistische Denken

nicht als Prinzip aussagen lässt. Auf den Unterschied zwischen einem begrifflichen Gott und einem erhofften Gott hat Johann Baptist Metz in seiner nachidealistischen Theologie der Welt hingewiesen.

6.3 Eine reflektierte Theologie der Welt Badiou verfolgt die Anliegen einer Loslösung vom Marxismus-Leninismus sowie eine Relecture der Philosophiegeschichte unter dem Vorzeichen der Emanzipation. Beide Anliegen sind auch in Grundzügen in Metz’ Theologie zu finden. Nur bearbeitet er diese nicht aus philosophischer, sondern aus theologischer Perspektive. Dabei ist zu beachten, dass die Relecture der Philosophiegeschichte auf kritische und zuweilen auch auf polemische Weise geschieht. So erkennt zwar Metz viele Errungenschaften der Aufklärungsphilosophie Kants, Hegels oder Marx’ an, nur führt er diese Errungenschaften auf die frühen Entwürfe der Theologie bei Thomas von Aquin zurück und relativiert damit die theoriegeschichtliche Bedeutung der Aufklärungsphilosophie.13 Doch stärker als die inhaltlichen Gemeinsamkeiten, sind es die Unterschiede beider Werke, die zur Reflexion anregen. Für die vorliegende Untersuchung ist der Gottesbegriff der zentrale Unterschied. Mit Badious Argumenten für den Tod Gottes lässt sich Metz’ Theologie überprüfen. Welchen Gottesbegriff verfolgt Metz? Und auf welche Weise redet Metz von Gott? Eine genauere Analyse beider Werke hat deutliche Unterschiede in den methodischen Grundlagen aufzeigen können. Die Unterschiede gehen teilweise so weit, dass sie sich gegenseitig ausschließen. So zeichnet sich Badious Werk durch eine Axiomatik aus, die gerade nicht auf kritischen Überprüfungen und Urteilen beruht. Zwar entwickelt Metz keine ausführlichen Erörterungen, sein Fokus richtet sich aber auf kritische Einsprüche – besonders gegen Rahner – und Abgrenzungen gegenüber anderen Werken – gegenüber Heidegger und der »bürgerlichen Theologie«. Darin unterscheidet sich diese Theologie fundamental von einem axiomatischen Denken. Metz’ kritische Distanzierung von Heideggers Ontologie und Rahners (und seiner eigenen) Transzendentaltheologie hat ihn zu einer Theologie der Welt geführt. Seine Kritik impliziert zwei Aspekte: Zum einen werden der Mensch und seine Welt nicht als erfahrbare aufgefasst, sie blieben bei Heidegger und Rahner abstrakte Kategorien. Zum anderen werde Gott bei Heidegger zu stark vom Menschen her gedacht. Es müsse jedoch der Unterschied von Gott und Mensch wahrgenommen werden. Erst dieser ermögliche es, von einem rettenden Gott zu sprechen. Beide Kritikpunkte kommen in der Hoffnung auf Rettung zusammen. Konkrete leidende Menschen bedürften konkreter – und nicht nur begrifflicher – Rettung bzw. Erlösung und diese Rettung sei nur von einem Gott, der weder menschliche Projektion noch vernünftiger Begriff sei, zu erhoffen. Metz’ Theologie überzeugt dort, wo erfahrungsgesättigte (u.a. sozialwissenschaftliche) Erkenntnisse, philosophische Kategorien und biblische Glaubensüberlieferungen zusammengeführt werden und sich gegenseitig transformieren. Die Kategorien des Leids sowie der Hoffnung drücken diese Verbindung besonders deutlich aus. Die Erfahrung von Auschwitz irritiert zutiefst die philosophische Vernunft und die theologische 13

Vgl. Kapitel 4.1.

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282

Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

Gottesrede. Letztere steht von nun an in Gefahr, geschehenes Leid entweder begrifflich aufzulösen oder mit Gott zu versöhnen. Eine Rede von Gott muss sich deshalb ihrer Verantwortung wie ihrer Grenzen bewusst werden. Verantwortung übernimmt sie, indem sie den biblisch zugesagten Trost ins Zentrum rückt. Grenzen hat sie dort, wo sie das Ausbleiben der tröstenden und rettenden Tat Gottes wahrnehmen muss. Wie wäre angesichts dieser Grenzen dann noch theologisch von Gott zu reden?14

6.4 Gott ist tot! – Ist Gott tot? Mit der Aussage des Todes Gottes sah Nietzsche das Ende der Metaphysik und mit ihr das Ende der theoretischen Verbindlichkeit in eine knappe Formulierung gefasst. Gott, Totalität, Wahrheit seien nun obsolet. Badiou teilt zwar mit Nietzsche, dass der Tod Gottes auch das Ende der Totalität impliziere, hält aber strikt am Wahrheitsbegriff fest. Er schlägt folglich eine alternative, aber nicht weniger radikale, Tod-Gottes-These vor. Mit Badiou bleibt die Tod-Gottes-These aktuell und stellt damit die Aufgabe der Theologie fundamental in Frage. Wie lässt sich angesichts einer solchen Infragestellung weiter Theologie treiben und von Gott sprechen? Die Theologie von Metz zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich den großen Herausforderungen der Aufklärung widmet und beansprucht, Theologie im Durchgang dieser Aufklärung zu treiben und zu bleiben. Zu diesen Herausforderungen gehört neben dem Freiheitsbewusstsein des Individuums oder dem veränderten Wahrheitsverständnis15 auch diejenige der Religionskritik. Metz stimmt einigen zentralen Einsichten Nietzsches und damit auch Badious zu. Ein Gott, der als höchstes Prinzip oder letzter Grund gedacht wird, ist tot. Ein solcher Gott wird von Metz als idealistisches Produkt entlarvt. Doch im Unterschied zu Nietzsche und Badiou formuliert Metz die Herausforderung, auf nachidealistische Weise von Gott zu sprechen. Die zentrale nachidealistische Einsicht ist, dass das begriffliche Ganze (Hegel) nicht das Ganze ist, sondern dass die Vernunft vielmehr das Andere ihrer selbst wahrnehmen muss. In diesem Sinne darf für Metz auch der Gottesbegriff kein reiner Begriff bleiben. Reflektiert von Gott zu sprechen, bedeutet für Metz nicht, logisch kohärente Definitionen zu formulieren, sondern einen bestimmten Gehalt aus den biblischen Zeugnissen zu destillieren, der auch heute sinnvoll mit einem Gott verknüpft werden kann. Es handelt sich um die Gehalte des Bundes, des Trostes, der Rettung, der Gerechtigkeit, der Auferstehung und weitere. Wenn diese

14

15

Jan-Hendrik Herbst hat kürzlich eine großartige Studie zur religionspädagogischen Dimension einer emanzipatorischen Gottesrede und -reflexion vorgelegt. Vgl. Herbst, Jan-Hendrik: Die politische Dimension des Religionsunterrichts. Religionspädagogische Reflexionen, interdisziplinäre Impulse und praktische Perspektiven, Paderborn 2022. Ebenfalls möchte ich auf die noch unveröffentlichte Studie von Josef Könning aufmerksam machen, der die politisch-theologische Gottesrede im Kontext aktueller Menschenrechtsfragen (Migration) souveränitätskritisch formuliert. Vgl. Könning, Josef: Theologische Menschenrechtsethik angesichts der globalen Flüchtlingssituation. Eine Neuorientierung entlang der Diskussion um das »Recht, Rechte zu haben« (Hannah Arendt). Unveröffentlichte Dissertation, Münster 2023. Gemeint ist ein Wahrheitsverständnis, das sich nicht nur begrifflich, sondern auch und vor allem praktisch ausdrückt. Vgl. JBMGS 3.1. (Glaube in Geschichte und Gesellschaft), 53–101.

6. Fazit: Gott, Emanzipation und das nachidealistische Denken

Gehalte nicht den berechtigten universalen Emanzipationsinteressen der Menschen im Wege stehen, sondern diese sogar fördern, ist eine erste Bedingung der Gottesrede erfüllt. Die zweite Bedingung besteht darin, die drängenden Emanzipationsbedürfnisse, die Erfahrungen des Scheiterns und die des Leids als Erwartung an Gott zu richten. »Wo war Gott in Auschwitz?«16 fragt Metz. Die nachidealistische Gottesrede zeichnet sich in diesem Sinne dadurch aus, dass sie Gott in Verantwortung für sein*ihr Handeln und Nicht-Handeln nimmt. Metz’ Gottesrede ist als eine schwache hinsichtlich der stringenten Beweisführung konzipiert. Sie ist gleichzeitig eine starke Gottesrede, wenn sie das Recht der Leidenden auf Trost und Rettung verbürgt. Sie ist selbstkritisch, wenn sie das Gottvermissen zulässt. Auf Grundlage dieser Theologie kann Badious Tod-Gottes-Aussage mit dem Bewusstsein des Gottvermissens begegnet werden.

16

JBMGS 4 (Memoria passionis), 21.

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7. Literatur

7.1 Siglen ABCT ABEE ABIV ABLM ABSE ABSP ABTS JBMGS 1

Badiou, Alain: Court traité d’Ontologie transitoire, Paris 1998. Badiou, Alain: L’être et l’événement, Paris 1988. Badiou, Alain: L’Immanence des vérités. L’être et l’événement 3, Paris 2018. Badiou, Alain: Logiques des mondes. L’être et l’événement 2, Paris 2006. Badiou, Alain: Das Sein und das Ereignis, Berlin 2005. Badiou, Alain: Saint Paul. La fondation de l’universalisme, Paris 1997. Badiou, Alain: Théorie du sujet, Paris 1982. Metz, Johann Baptist: Mit dem Gesicht zur Welt, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hgg. von Johann Reikerstorfer, Freiburg i.Br. 2015. JBMGS 2 Metz, Johann Baptist: Frühe Schriften, Entwürfe und Begriffe, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hgg. von Johann Reikerstorfer, Freiburg i.Br. 2015. JBMGS 3.1. Metz, Johann Baptist: Im dialektischen Prozess der Aufklärung. 1. Teilband: Glaube in Geschichte und Gesellschaft, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hgg. von Johann Reikerstorfer, Freiburg i.Br. 2016. JBMGS 3.2. Metz, Johann Baptist: Im dialektischen Prozess der Aufklärung. 2. Teilband: Neue Politische Theologie – Versuch eines Korrektivs der Theologie, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hgg. von Johann Reikerstorfer, Freiburg i.Br. 2016. JBMGS 4 Metz, Johann Baptist: Memoria passionis, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, hgg. von Johann Reikerstorfer, Freiburg i.Br. 2017. JBMGS 5 Metz, Johann Baptist: Gott in Zeit, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, hgg. von Johann Reikerstorfer, Freiburg i.Br. 2017. JBMGS 6.2. Metz, Johann Baptist: Lerngemeinschaft Kirche. 2. Teilband: Lernorte – Lernzeiten, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, hgg. von Johann Reikerstorfer, Freiburg i.Br. 2016. JBMGS 7 Metz, Johann Baptist: Mystik der offenen Augen, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7, hgg. von Johann Reikerstorfer, Freiburg i.Br. 2017.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

JBMV 1

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7.2 Primärliteratur Badiou, Alain: Le concept de modèle, Paris 1969. —: Théorie de la contradiction (1975), in: Ders.: Les années rouge, Paris 2012, 9–95. —: Théorie du sujet, Paris 1982. —: L’être et l’événement, Paris 1988. —: Manifeste pour la philosophie, Paris 1989. —: Conditions, Paris 1992. —: L’Éthique, Paris 1993. Essai sur la conscience du mal, Paris 1993. —: Saint Paul. La fondation de l’universalisme, Paris 1997. —: Court traité d’Ontologie transitoire, Paris 1998. —: Gott ist tot. Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs, Wien 2002. —: Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, Wien/Berlin 2003. —: Das Sein und das Ereignis, Berlin 2005. —: Logiques des mondes. L’être et l’événement 2, Paris 2006. —: Briefings on Existence: A Short Treatise on Transitory Ontology, Albany 2006. —: Theoretical Writings, hgg. von Ray Brassier und Alberto Toscano, London 2006. —: Wofür steht der Name Sarkozy?, Zürich/Berlin 2008. —: Das Konzept des Modells. Einführung in eine materialistische Epistemologie der Mathematik, Wien 2009. —: Ist Politik denkbar? Berlin 2010. —: Logiken der Welten. Das Sein und das Ereignis 2, Zürich/Berlin 2010. —: Die kommunistische Hypothese, Berlin 2011. —: Philosophie und Mathematik, in Ders.: Bedingungen, Zürich 2011, 177–199. —: Les Années Rouges, Paris 2012. —: L’aventure de la philosophie française, Paris 2012. —: »Alexandre Kojève. Hegel en France«, in: Ders.: L’aventure de la philosophie française, Paris 2012, 57–64. —: Louis Althusser. Le (re)commencement du matérialisme dialectique, in: Ders.: L’aventure de la philosophie française, Paris 2012, 111–142. (Erstveröffentlichung in: Critique 240, 5/1967, 438–467). —: Theorie des Subjekts, Zürich/Berlin 2014. —: Das Abenteuer der französischen Philosophie, Wien 2015. —: Alexandre Kojève. Hegel in Frankreich, in: Ders.: Das Abenteuer der französischen Philosophie, Wien 2015, 57–63. —: Bedingungen und Unendlichkeit. Ein Gespräch mit Gernot Kamecke, Berlin 2015. —: Versuch, die Jugend zu verderben, Berlin 2016.

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7.3 Sekundärliteratur Hinweis: Meine früheren Publikationen sind unter Geitzhaus, Philipp gelistet. Ackermann, Cordula: Modernekritik in der postkolonialen Theologie und der Theologie der Befreiung. Grundfragen am Beispiel von R.S. Sugirtharajah und Gustavo Gutiérrez, Berlin 2021. Adorno, Theodor W.: Kants »Kritik der reinen Vernunft« (1959), Nachgelassene Schriften. Vorlesungen, Band 4, hgg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1995. —: Negative Dialektik, in: Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a.M. 7 2015, 7–412. —: Jargon der Eigentlichkeit, in: Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a.M. 7 2015, 413–526.

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

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Der Tod Gottes und das nachidealistische Denken

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Religionswissenschaft Jürgen Manemann

Revolutionäres Christentum Ein Plädoyer 2021, 160 S., Klappbroschur 18,00 € (DE), 978-3-8376-5906-1 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5906-5 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5906-1

Volkhard Krech

Die Evolution der Religion Ein soziologischer Grundriss 2021, 472 S., kart., 26 SW-Abbildungen, 42 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5785-2 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5785-6

Nina Käsehage (ed.)

Religious Fundamentalism in the Age of Pandemic 2021, 278 p., pb., col. ill. 37,00 € (DE), 978-3-8376-5485-1 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5485-5

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Religionswissenschaft Claudia Gärtner

Klima, Corona und das Christentum Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung in einer verwundeten Welt 2020, 196 S., kart., 2 SW-Abbildungen 29,00 € (DE), 978-3-8376-5475-2 E-Book: PDF: 25,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5475-6

Heinrich Wilhelm Schäfer

Die protestantischen »Sekten« und der Geist des (Anti-)Imperialismus Religiöse Verflechtungen in den Amerikas 2020, 210 S., kart. 29,00 € (DE), 978-3-8376-5263-5 E-Book: PDF: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5263-9

Michael Domsgen, Ulrike Witten (Hg.)

Religionsunterricht im Plausibilisierungsstress Interdisziplinäre Perspektiven auf aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen 2022, 370 S., kart., 8 SW-Abbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-5780-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5780-1

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