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German Pages [249] Year 2022
Jörg Vögele, Luisa Rittershaus, Timo Heimerdinger, Christoph auf der Horst (Hg.)
Der Tod und das Meer historische und kunsthistorische Perspektiven
Jörg Vögele, Luisa Rittershaus, Timo Heimerdinger, Christoph auf der Horst (Hg.)
THE CRUEL SEA Der Tod und das Meer – historische und kunsthistorische Perspektiven
Böhlau Verlag Wien Köln
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Umschlagabbildung: Walter Draesner, Tod auf dem Meer, 1922, ©: Grafiksammlung Mensch und Tod, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Korrektorat: Christoph Landgraf, St. Leon-Rot Satz: Bettina Waringer, Wien
ISBN 978-3-412-52642-9
Für Michael Martin (1960–2022)
Inhalt
11 Vorwort
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Maritime Desaster erzählen Irrfahrten und Schiffbrüche in Kunst und Literatur Michael Martin
29
‘A scene of indescribable horror’ Peril, terror and shipwreck in Melville Bay, Northwest Greenland Mark Nuttall
39
Steaming to Death Mortal Fears at the Dawn of the First High Technology John Laurence Busch
49
Bubbles, Bust and the Lutine’s sunken treasure Margrit Schulte Beerbühl
61
The Maritime Dialectic of America’s Coastal
Slave Trade During the Nineteenth Century Jeffrey R. Kerr-Ritchie
69
The Cruel Ship Die Gorch Fock zwischen Grenzerfahrung und Sicherheitsbedürfnis Timo Heimerdinger
79
Skorbut, Fieber und ‚Melancholey‘ Über Seereisen in den Tagebüchern und Berichten von Soldaten und Wundärzten der Vereinigten Ostindischen Kompanie der Niederlande (VOC) Marco Kollenberg
89
When Dying is not the Journey’s End Fighting, Accepting or Overcoming Death at Sea around 1600 Jan Simon Karstens
99
Die vormoderne Seefahrt, eine „verderbliche Kunst“? Sicherheitsanalyse eines spätmittelalterlichen Handelsschiffes Thomas N. Kirstein, Jean-Emmanuel Leroy, Sebastian Ritz
113 „… bin ich nicht der Hofdichter der Nordsee?“ Heines Nordsee-Lyrik zwischen Authentizität, Konstruktivität und Funktionalisierung Christoph auf der Horst
131 Modellierungen des Grausigen Meeresungeheuer in der Dichtung der römischen Kaiserzeit Joachim Fugmann, Thomas Konrad
143 Vom Gehen, Sehen und Sterben Der Tod und das Meer in englischen shipwreck narratives des 17. und 18. Jahrhunderts Franziska Hermes
153 Das Meer, der Tod und die Trauer Über maritime Gedächtnislandschaften Norbert Fischer
173 Sepulkralkulturelle Praktiken der
Bestattung anonymer Strandleichen Zur mythischen Umplatzierung eines Begräbnisplatzes für ertrunkene Seeleute Jürgen Hasse
KATALOG
186 1 Forces of Nature
194 2 Death Turned Pilot
206 3 Journey into Fear – War
216 4 Maritime Disasters – Sunk, Drowned, Shipwrecked
226 5 Death and Redemption − Sea Voyage as an Allegory of Life
234 6 Man Made Disasters −
Exploitation and Marine Pollution
243 Autorinnen und Autoren
247 Danksagung
Vorwort
Das Leben stammt aus dem Meer. Gleichzeitig aber war die See immer auch ein gefährlicher Ort, dem viele Leben zum Opfer fielen. Stürme und Schiffbruch sind untrennbar mit der Schifffahrt verbunden und kosteten ebenso wie unzählige Seekriege viele Menschen das Leben. Die Arbeit an Bord der Schiffe zählt seit jeher zu den gefährlichsten Berufen. Unfälle, Meutereien und Überfälle gingen einher mit Mangelernährung und fehlender Hygiene. Skorbut, Durchfallerkrankungen und Fieber gehörten zu den häufigsten Krankheiten auf See. Aber auch an Land war man nicht gänzlich in Sicherheit vor den Gefahren des Meeres. Sturmfluten und Tsunamis bedrohten die Bevölkerung der Küstenregionen. Seuchen und Epidemien wurden über die Schifffahrtswege in die Hafenstädte eingeschleppt und verbreiteten sich von dort aus ins Hinterland. Und heute ist der maritime Lebensraum selbst bedroht: Erwärmung, Verschmutzung, Plastikmüll, Überfischung etc. Die Ambiguität zwischen Faszination und Schrecken, Abenteuer und Desaster im Verhältnis von Mensch und Meer fand ihren Niederschlag sowohl in der Literatur (man denke etwa an Moby Dick) als auch der bildenden Kunst – Anlass genug für eine internationale Arbeitstagung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (22. bis 23. April 2021), die ausgewählte Aspekte dieses Wechselverhältnisses in kultur-, wirtschaftsund medizinhistorischer Perspektive diskutiert sowie für eine Ausstellung zum Thema mit Arbeiten aus der Grafiksammlung Mensch und Tod der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik betreut wird. Gegenwärtig umfasst die Sammlung etwa 6000 Grafiken aus dem 15. bis 21. Jahrhundert und zählt heute zu den umfassendsten und qualitativ hochwertigsten Grafiksammlungen zu den Themen Sterben, Tod und Totentanz in Deutschland. Die zahlreichen Darstellungen zum Thema Tod und Meer zeigen, wie zentral das Thema bis heute ist. Die internationale und interdisziplinäre Arbeitstagung widmete sich einigen ausgewählten Themen zum Thema Tod und Meer, beginnend mit einer Analyse der schrecklichen Gefahren, die Über- und Irrfahrten zu allen Zeiten und auf allen Meeren bargen. Schiffbruch und Scheitern waren dabei häufig christlich-moralisch konnotiert, als die fatalen Folgen menschlicher Hybris, die sich gegen die Natur und die göttliche Ordnung auflehnte. Sei es, dass die Schiffe in unwirtliche Regionen vorzudringen versuchten, sei es, dass neu entwickelte Techniken, wie die Dampfschifffahrt, erst beherrscht werden mussten. Die Entstehung des modernen globalen Welthandels vergrößerte die Entfernungen und barg neben den Gefahren für Leib und Leben auch das Risiko eines
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Vorwort
finanziellen Desasters. Für eine politisch-menschliche Katastrophe in jüngster Zeit steht mittlerweile der Name Gorch Fock. Obwohl durchaus (hoch)seetauglich konstruiert, drohten auf See mannigfaltige Gefahren. Neben dem Umgang mit Feuer oder Havarien infolge rudimentärer Navigationsmöglichkeiten blieben die ungeheuren Gewalten der See eine ständige Bedrohung und forderten unzählige Opfer. Dies fand auch seinen Niederschlag in der Literatur und nicht zuletzt in der Erinnerungskultur besonders in den Küstenregionen. Die Ausstellung The Cruel Sea zeigt Werke aus der Grafiksammlung Mensch und Tod seit dem 16. Jahrhundert bis zur Kunst der Gegenwart, so unter anderem auch Totentänze, die den Tod auf dem Meer als eine Art zu sterben in ihren makabren Zyklus mitaufgenommen haben. Es sind Darstellungen der Seefahrt gepaart mit Erinnerung, Hoffnung und Sehnsucht; Ansichten der Naturgewalt des Meeres und auch seiner Verletzlichkeit. Die Ausstellung thematisiert die Emotionen, die dieses kraftvolle Element hervorrief und immer noch weckt und zeigt über die Jahrhunderte hinweg, wie sich (kultur-)politische und ökologische Themen in den künstlerischen Werken widerspiegeln. Dabei folgt die Ausstellung sechs ausgewählten thematischen Schwerpunkten: Ausgangspunkt bilden die Naturgewalten (1 Forces of Nature), deren sich der Tod bedient, um sein Werk zu verrichten: Das Schiff allein in Sturm und Wellen. Schwere Wetter und scharfe Klippen bildeten die Szenarien in fast dokumentarisch anmutenden, aber selbstverständlich frei erfundenen Sturm- und Schiffbruchdarstellungen mit meist reichhaltiger Figurenstaffage des 18. und 19. Jahrhunderts. Das stürmische Meer gilt als Metapher für die Ungewissheit der menschlichen Existenz. Die narrativen Elemente steigern die Dramatik und dienen der emotionalen Verstärkung auf Seiten des Betrachters. In zahlreichen Darstellungen bedient sich der Tod, meist dargestellt als lächelndes Skelett, nicht der Naturgewalt des Meeres, sondern übernimmt selbst das Ruder und steuert das Schiff ins Verderben (2 Death Turned Pilot). Ob auf dem Segelboot, dem Fischerboot oder dem Passagierschiff – der Tod führt die Mitfahrenden ins Unglück, häufig triumphierend und grinsend. Über viele Jahrhunderte hinweg war die Seereise eine Fahrt ins Unbekannte, verbunden mit mannigfaltigen Risiken und Gefahren, die zu Kriegszeiten völlig außer Kon trolle geraten konnte (3 Journey into Fear – War). Mit dem Gang an Bord begann oft die Reise ins Ungewisse, in das Abenteuer, in die Furcht, der Tod war der ständige Begleiter – das Schiff des Columbus und das Schiff der Narren segelten in einem Verband. Ihren vollkommenen Schrecken entfaltete die See während der oft mit Brutalität geführten Seekriege. So legt Drehbuchautor Eric Ambler seinem Protagonisten im titelgebenden Film The Cruel Sea von 1953 folgende Worte in den Mund: „The only villain is the sea, the cruel sea that man has made more cruel.“
Vorwort
Die Folge waren maritime Katastrophen – Schiffbruch, ertrinkende Passagiere und Besatzung, sinkende Schiffe (4 Maritime Disasters − Sunk, Drowned, Ship wrecked). So tanzte der Tod auf den Schiffen. Die Träume der Auswanderer platzten angesichts des personifizierten Todes als Kapitän. Die Schiffer, die Reisenden, sie alle wurden ins Unglück gestürzt, sie ertranken oder strandeten – letztendlich blieb nur die Hoffnung auf Erlösung der Seefahrenden. So ist es wenig erstaunlich, dass eine Seereise mit all ihren Höhen und Tiefen als Lebensreise, als Allegorie des Lebens mit Tod und Erlösung interpretiert wurde (5 Death and Redemption − Sea Voyage as an Allegory of Life). Das Meer – der Sturm – das Schiff – das Scheitern – der Hafen: Jedes dieser Bilder löst für sich selbst schon starke Empfindungen und Vorstellungen aus. Insgesamt, als Konfiguration, als Topos, reflektieren die Bilder die Lebensfahrt auf dem Meer der Welt und des Lebens. Ein häufiges Motiv ist der Wal, zum einen in Anlehnung an die biblische Jona-Geschichte als Hoffnungsträger, zum anderen aber auch als alles verschlingendes Monster und Symbol des Teufels. Im 20. Jahrhundert rückt verstärkt die menschengemachte Ausbeutung der Meere, deren zunehmende Verschmutzung sowie die Zerstörung des maritimen Lebensraumes in den Blick (6 Man Made Disasters − Exploitation and Marine Pollution). Selbstverständlich gehört auch der Krieg zu den menschengemachten Katastrophen, weshalb er hier nochmals thematisiert wird. Konkrete Szenarien des Missbrauchs stehen dabei neben Weltuntergangsszenarien: Das Schiff fungiert nicht als Arche, das Schiff der Menschheit ist ein ‚Ship of Fools‘, das dem Untergang geweiht ist – und zurück bleibt ein erschöpfter Tod. Die Grafiken halten auf eine grausame und zugleich faszinierende Weise fest, wie facettenreich das Meer und die Beziehung der Menschen zu ihm war und ist. Die Ausstellung wurde konzipiert von Luisa Rittershaus und Jörg Vögele. Dem Aufbau der Präsentation folgend zeigt der Katalogteil die ausgestellten Werke mit Texten von Sarah Boudaroui unter Mitwirken des Ausstellungsteams aus Lehrenden und Studierenden der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, aber auch der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg sowie der Karls-Universität Prag: Daniel Boumanns, Kathrin Eschenberg, Loredana Fiorello, Timo Heimerdinger, Linda Jarkovska, Tamara Mansaray, Julia Nebe, Rebecca Peters, Christa Reißmann, John Paul Roßmy, Katrin Schröder, Danara Schürmann, Katharina Schuler, Melina Settele und Julian Witzorky.
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Maritime Desaster erzählen Irrfahrten und Schiffbrüche in Kunst und Literatur Michael Martin
Einleitung
Seit Anbeginn erschlossen sich die Menschen ihre Welt aus Fabeln, Mythen, Erzählungen; diese waren Mittel der Sinnstiftung und wurden von Generation zu Generation tradiert. Unter den großen Metaphern und Gleichnissen ist die vom Leben als Seefahrt vielleicht die wirkmächtigste: Sie gibt imaginative Orientierung, umspannt Ausfahrt und Heimkehr, Sturm und Flaute, Navigation und Schiffbruch. Läuft das Schiff ‚aus dem Ruder‘, kann es zu Irrfahrten kommen, schlimmstenfalls zu Schiffbrüchen. Auslösende Momente können Fehlleistungen der Menschen sein (etwa in der Navigation), weit bedeutender sind aber die Naturgewalten, denen der Mensch ausgeliefert ist. Der Philosoph Hans Blumenberg nennt den Schiffbruch „Paradigma einer Daseinsmetapher“;1 kulturhistorisch ist der Schiffbruch der Inbegriff des Scheiterns, man kann auf See wie im Leben Schiffbruch erleiden. Doch warum sind wir so fasziniert von Schiffbrüchen? Vielleicht ist es das Spekulative, die Möglichkeit der Projektion, sich in eine derartige Situation hinein zu fantasieren (und nicht dabei sein zu müssen): Schiffbrüche ereignen sich im Nebulösen (fast ausnahmslos ohne Zuschauer); bisweilen werden Wrackteile an Land gespült, Relikte des Unheils, stumme Mahnung. Hunderte bekannter Vorfälle können nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit nur ein Bruchteil der Realität repräsentiert wird. Ungezählte Schiffe verschwanden mitsamt ihrer Besatzung wort- und erinnerungslos irgendwo im Nirgendwo der unendlichen, oftmals noch weitgehend unbekannten Meere, blieben verschollen. Jenseits der rein numerischen Auflistung kennen wir zahlreiche Zeugnisse von Irrfahrten und Schiffbrüchen, von Überlebenden, aber auch berühmte literarische Darstellungen, von der Odyssee bis zu Seeromanen von Jack London oder Herman Melville, sowie andere künstlerische Umsetzungen; in der Musik etwa Richard Wagners Fliegender Holländer oder in der Malerei die beeindruckenden Gemälde von Vernet, Turner und anderen.
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Michael Martin
Schiffbrüche werfen das Problem der Zeugen- wie der Bürgschaft auf. Sofern es überhaupt Überlebende gab, stellt sich die Frage, was sie bereit waren, über die dramatischen Geschehnisse zu berichten. Davon abgesehen, waren die Berichte stets Dichtung und Wahrheit, Mythos und Medienereignis. Im Schiffbruch kumulieren menschliche Urängste wie Urinstinkte, drohender Tod und Überlebenswillen. Der Kurs des Lebensschiffs ist ständig bedroht, nur bedingt steuerbar, mitunter schicksalhaft, schlimmstenfalls apokalyptisch. Selbst der „Stahlgewitter“-Erprobte Ernst Jünger sah Schiffbrüche als „Weltuntergänge im kleinen.“2 Es kann hier nicht auf alle Wendepunkte des Schiffbruch-Narrativs eingegangen werden;3 im Folgenden soll es um die Rezeption und Umsetzung von Schiffbrüchen und Irrfahrten in Literatur und bildender Kunst gehen. Wie ändern sich die Darstellungen, die dahinterstehenden Diskurse: Religion, Moral, Technikkritik, menschliche Hybris allemal?
Desaster I: Irrfahrten
Das Ur-Narrativ der westlichen Kultur ist die Odyssee, die zum Synonym gewordene Irrfahrt schlechthin. Die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sahen in Odysseus den ersten modernen Menschentyp in der Literaturgeschichte: Er sei der erste Charakter, der sich nicht den Göttern und dem Schicksal ergibt, sondern erfolgreich dagegen ankämpft und damit zum Herrscher über sein eigenes Geschick wird.4 Aber wer sich mit den Göttern anlegt, tut dies nicht ungestraft. Und so entwickelte sich die Unternehmung zu einer jahrelangen Irrfahrt, gespickt mit zahlreichen bekannten Prüfungen, die bis heute zum kulturhistorischen Repertoire gehören. Der Ausgang der Odyssee ist bekannt; für die unzähligen unbekannten Irrfahrten auf See, mit ihren abertausenden Opfern, geistert stellvertretend der „Fliegende Holländer“ rastlos über die Weltmeere. Der Kapitän, der Legende nach ein niederländischer Seefahrer aus dem 17. Jahrhundert, ein obsessiver Charakter, muss immer wieder versuchen, das sturmumtobte Kap der Guten Hoffnung zu umschiffen, wenn es nötig sei, bis zum jüngsten Gericht. Und so kam es. Verflucht, bis in alle Ewigkeit, wie bei Ahab, Strafe für die menschliche Hybris. Und so sehen Schiffsbesatzungen immer wieder Geisterschiffe am Horizont vorbeisegeln, als Menetekel ihres anmaßenden Unterfangens, steuerlos oder wahlweise von lebenden Toten bevölkert.5 Bilder von Irrfahrten sind selten, wenn, wird zumeist jenes grauenhafte Schiff gezeigt. Monotone, scheinbar ereignislose, aus Zeit und Raum gefallene Fahrten eignen sich nun einmal nicht für visuelle Umsetzungen. Die menschlichen Dramen, die sich dabei abspielen, verlieren sich hinter diesem Schleier der sich auflösenden Dimensionen. Dazu bedarf es anderer Künste.
Maritime Desaster erzählen
Richard Wagner war ein theatralischer Mensch. Auf der Flucht vor Gläubigern aus Riga in Richtung London soll das Schiff, auf dem sich die Eheleute Wagner befanden, in einen höllischen Sturm geraten sein, gleich einem Inferno. Im Skagerrak schlagen gewaltige Brecher die Galionsfigur vom Bug, ein böses Omen: Dreimal droht das Schiff zu kentern. Wagner übermannt die Verzweiflung. Nach Tagen lassen die Böen nach, die Agonie verlässt die Reisenden, Richard Wagner ist wieder obenauf. Schon während der ruhigen Fahrt auf die englische Küste zu, verstrickt er in seiner Phantasie die gerade erlebten Abenteuer in windgepeitschter See mit dem, was ihm einige Matrosen an Bord erzählt hatten: eine Schauergeschichte von einem ‚Fliegenden Holländer‘ auf einem Gespensterschiff.6
Überwältigt von den gerade gemachten bedrohlichen Erfahrungen auf See, hat Wagner am Ziel seiner Flucht, in Paris, in nur sieben Wochen seine dramatische Oper: Der fliegende Holländer fertiggestellt. Durch Wagner, der den Aspekt der Geschichte, der Protagonist könne durch das Versprechen ewiger Treue einer liebenden Frau Erlösung finden, Opern-gemäß zu einer zentralen Liebesgeschichte ausbaute, blieb der Mythos vom Fliegenden Holländer bis heute präsent. Wagner faszinierte an dem mythischen Stoff, wie er später ausführte, „ein uralter Zug des menschlichen Wesens: Dieser Zug ist, in seiner allgemeinsten Bedeutung, die Sehnsucht nach Ruhe aus den Stürmen des Lebens.“7 Das ist eine Sichtweise, die des Künstlers; in der Realität galt es, die wilde Fahrt zu domestizieren, in geordnete Bahnen zu lenken, zu ‚navigieren‘. Die drei Ozeane – atlantischer, indischer und pazifischer – bilden das allumfassende, endlose Weltmeer, das lange Zeit ein Ort der Ortlosigkeit war, jahrhundertelang fuhr man ins Ungewisse, bevor Sextant und Kompass eine gewisse Orientierung lieferten.8 Eine gewisse, im Meer der Ungewissheit. Von alters her war die riskante Seefahrt mit Glück/Unglück assoziiert; häufig fand sich die Glücksgöttin Fortuna als Galionsfigur am Bug der Schiffe. Im Zuge der Ökonomisierung der Seefahrt wurde fortuna di mare zum „Terminus technicus für all jene Seegefahren, die einzukalkulieren aktives ‚Risikohandeln‘ meint.“ Dies führte zum Betrieb der Seeversicherung – und damit der historisch allerersten Versicherung überhaupt. Sie erlaubte es, das Walten der fortuna di mare buchstäblich in Kauf zu nehmen, damit bestimmte ,Risiken‘ (abgeleitet von risco, die ‚Klippe‘) zu schöpfen sowie mit ihnen Handel zu treiben. Dieses neue Verständnis des Schiffbruchs markierte den Aufbruch in ein neues Zeitalter des Handels und des ,Risiko-Managements‘.9
Die Fahrt wurde kalkuliert, soweit es ging. Kostspielige Irrfahrten wurden immer seltener, doch maritime Gefahren und Naturgewalten blieben unberechenbar.
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Desaster II: Schiffbrüche
Zu den großen Erzählungen der Menschheit gehört die von der Seefahrt als Lebensweg, aber auch als Grenzverletzung. Das ‚Landlebewesen‘ Mensch verletzt die naturgemäße Ordnung, sobald es sich auf hohe See begibt. Der Philosoph Hans Blumenberg hat in seinem Standardwerk Schiffbruch mit Zuschauer Grundsätzliches formuliert: Zwei Voraussetzungen bestimmen vor allem die Bedeutungslast der Metaphorik von Seefahrt und Schiffbruch: einmal das Meer als naturgegebene Grenze des Raumes menschlicher Unternehmungen und zum anderen seine Dämonisierung als Sphäre der Unberechenbarkeit, Gesetzlosigkeit, Orientierungswidrigkeit. […] Die Irrfahrt ist in ihrer reinen Form Ausdruck für die Willkür der Gewalten, die Verweigerung der Heimkehr, wie dem Odysseus geschieht, die sinnlose Umtreibung und schließlich der Schiffbruch, in denen die Zuverlässigkeit des Kosmos fraglich […] wird.10
Letztendlich, das schwingt auf einer Meta-Ebene bis heute immer mit, ist die Seefahrt eine Form von Sündenfall und der Schiffbruch gerechte Strafe. Blumenberg weiter: Der Kulturkritik ist das Meer immer verdächtig gewesen. Was hätte den Schritt vom Land auf See sonst motivieren können, als der Überdruß an der kargen Versorgung durch die Natur und der eintönigen Arbeit des Landbaus, der süchtige Blick auf Gewinn im Handstreich, auf mehr als das vernünftig Notwendige, für das Philosophenhirne eine Formel leicht auf der Zunge haben, auf Üppigkeit und Luxus?11
Beispielhaft ins Bild gesetzt etwa bei Hans Holbein d.J., der wohl der erste war, der den Schiffbruch in einem Totentanz-Zyklus darstellte (1554). An Bord eines von tosenden Wellen umgebenen Schiffes, die Besatzung in wilder Panik, macht sich ein Knochenmann am berstenden Mast zu schaffen, man ahnt das Ende. Der beigegebene Bibelspruch macht es klar: Das Streben nach Reichtum und Gewinn ist Sünde, das Versinken in Sünde gerechte göttliche Strafe.12 Einen ersten Höhepunkt erreichte dieses Streben im 17. Jahrhundert, dem ‚Golden Eeuw‘ der Niederlande mit den Schiffen der Vereinigten Ostindien-Companie (VOC), die im großen Stil Waren zwischen Amsterdam und den Handelsniederlassungen in „Ostindien“, wie dem legendären Batavia, transportierten. Ganz im Sinne des kulturell die Republik prägenden Pietismus waren auch die Schiffbrüche in der Malerei konzipiert: Prunksucht war verpönt, das Streben nach Erfolg und Reichtum aber durchaus ein hehres Ziel, solange man gottesfürchtig blieb.13 In den Darstellungen von Schiffen in sturmgepeitschter See finden sich immer wieder zwei Elemente: der strafende Levia-
Maritime Desaster erzählen
than in Gestalt eines Wals sowie das „Haus des Herrn“, die Kirche, am Horizont, das „zum Symbol des Glaubens und der Heilshoffnung wird.“14 Dann wird der Schiffbruch in der Kunst zunehmend säkularisiert. Zur Schlüsselkategorie der Ästhetik wird im 18. Jahrhundert das Konzept der „Erhabenheit“, ursprünglich entwickelt von dem irisch-englischen Schriftsteller Edmund Burke.15 Unendliche, gewaltige Dinge (neben dem stürmischen Meer etwa auch mächtige Bergformationen) lassen den Betrachter zunächst erschauern, realisiert dieser aber, dass er selbst nicht unmittelbar in seiner Existenz bedroht ist, gesellen sich dem anfänglichen Schrecken (horror) positive Gefühle (delight) hinzu. Erst jetzt konnte in der Malerei der Bildtypus vom ‚Schiffbruch mit Zuschauer‘ entstehen; zu sehen sind Schiffe in hochdramatischen, lebensbedrohlichen Situationen, aber auch Menschen an Land: Gerettete, Helfer, Zuschauer. Aufgrund von Aufbau und Dramatik der Darstellung kann sich der Betrachter unschwer in die Bild-Realität imaginieren, ohne dabei seinen sicheren Standpunkt aufgeben zu müssen. Genau diese Konstruktion ist hinsichtlich der Ästhetik des Erhabenen Grundvoraussetzung.16 Einer der bedeutendsten Vertreter des ‚Erhabenen‘ war der französische Landschaftsund Marinemaler Claude-Joseph Vernet (1714–1789), der zahlreiche ‚idealtypische‘ Schiffbruch-Darstellungen in bildrhetorischer wie kompositorischer Vollendung schuf, die stilbildend werden sollten. Bei Vernet dominierte das Meer nicht mehr unangefochten den Menschen, wie in der niederländischen Malerei; vielmehr wird die Möglichkeit der Rettung aufgezeigt und der Betrachter stärker emotional einbezogen.17 Um die Wende zum 19. Jahrhundert erschöpfte sich das Interesse an den immer gleichen ‚Idealschiffbrüchen‘ und reale Ereignisse rückten in den Fokus. Ein wesentlicher Grund hierfür war die rapide anwachsende Berichterstattung in der Presse, die sich in aller Ausführlichkeit maritimen Katastrophen und dem Schicksal der Menschen widmete. So entstand der Typus des ‚Dokumentarbildes‘ mit seiner besonderen Wirkkraft. Zu wissen, dass es sich um reale Vorkommnisse handelt, affiziert den Betrachter in besonderer Weise. Man verbindet die abgebildeten Personen mit tatsächlichen Schicksalen, mit Gewissheiten, und so trifft das Moment des Unumstößlichen mit ganzer Wucht. Wie kein anderer vereinte William Turner beide Ansätze,18 zeigt etwa den „delightful horror“, der sich einstellt, wenn sich ein Dampfschiff, Inbegriff modernster Technik, durch die tosende See kämpft – Ausgang offen. Sein Snow Storm: Steam-Boat off a Harbour‘s Mouth aus dem Jahr 1842 sorgte für erhebliche Irritationen. Ein Kommentator meinte, es sei nichts weiter als „eine Masse aus Seifenlauge und Kalk“.19 Es bedurfte der Intervention des damaligen Großkritikers John Ruskin, der befand, dass „all that passages of confusion between earth, sea and air“,20 der einzige Weg sei, die Naturgewalten darzustellen. In ihrer Elementarität, jenseits der Anschauung, möchte man hinzufügen. Das Werk trug ursprünglich den Zusatz „The Author was in this Storm on the Night on the ‚Ariel‘ left Harwich“ und Turner persönlich hat die Fama in die Welt gesetzt, er
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habe sich an den Mast des Schiffes binden lassen, um den Kampf mit Wind und Wellen besonders intensiv zu spüren.21 Das gemahnte nicht nur an die Odyssee, sondern war auch ein Seitenhieb gegen den Realismus von Vernet und anderen. Turner suggeriert Authentizität, um die Dramatik zu steigern, dabei ist die Darstellung dramatisch genug, gerade weil man die Vorgänge eher erahnt. Turner soll dazu geäußert haben: „Ich habe es nicht gemalt, damit es verstanden würde, sondern weil ich zeigen wollte, wie solch ein Schauspiel aussieht.“22 Einen ganz anderen Ansatz wählte der deutsche Romantiker Caspar David Friedrich in seinem in den Jahren 1823/1824 entstandenen Gemälde Das Eismeer. Es stieß in seiner Kargheit viele zeitgenössische Kritiker ab, doch gerade hierin offenbarte sich das ‚Erhabene‘ der Naturgewalten.23 Das Bild zeigt eine arktische Landschaft mit riesigen, sich auftürmenden Eisschollen, unter denen offensichtlich ein havariertes Segelschiff begraben liegt; lediglich ein Stück vom Bug sowie ein gebrochener Mast sind noch sichtbar. Man sieht und hört fast das Knacken der eisigen Stille; fühlt die Hoffnungslosigkeit in menschenleerer Ödnis. Die Katastrophe ist geschehen, das Wrack steckt fest in Raum und Zeit. Das Schicksal der Passagiere? Man ahnt es nur allzu sicher. Anders als in den allermeisten Schiffbruch-Darstellungen, wo noch ein Funken Hoffnung besteht, ob nicht noch wenigstens für einige Rettung möglich ist, stellt Friedrich die Katastrophe ex post dar: „Alles ist bereits entschieden und der eigentliche Schiffbruch längst geschehen.“24
Desaster III: Ausnahmesituationen
Ausnahmesituationen gehören in mehrfacher Hinsicht zu den maritimen Desastern. Stürme oder Flauten, Riffe und unbekannte Küstenverläufe, Navigationsfehler oder Probleme mit dem Schiff (wie der gefürchtete Bohrwurm) sind Ausgangspunkte für Irrfahrten und Schiffbrüche. Gleichzeitig entwickeln diese sich zu Ausnahmesituationen, die bestimmte ‚menschliche Untiefen‘ offenbaren. Was passiert, wenn das Schiff zu sinken droht, wenn es in lebensgefährlichen Situationen darum geht, in ein Rettungsboot zu gelangen? Was passiert, wenn man wochenlang mit wenigen Überlebenden auf offener See treibt, Sonne und Salzwasser ausgesetzt, ohne Lebensmittel und verzweifelt? Wann geht die „Moral über Bord“?25 Über das Schicksal der Schiffbrüchigen wissen wir wenig, sie verschwinden mit den Schiffen im Nirgendwo. In seltenen Fällen treiben sie auf maroden Booten oder festgeklammert an Planken auf offener See, bis sie von anderen Seefahrern glücklich gesichtet und aufgelesen werden. Nicht wenige Berichte sind überliefert; die allermeisten lagern weltweit in Archiven, werden gelegentlich – wie Schiffswracks – gehoben, als edierte Dokumente publiziert,26 oder zur Basis wissenschaftlicher Abhandlungen.27
Maritime Desaster erzählen
Nur ganz vereinzelt finden Berichte auf unterschiedliche Weise eine breitere Öffentlichkeit. Der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez hat die Erzählung eines Überlebenden in journalistisch-literarischer Verdichtung in einer Artikelserie im Jahr 1955 publiziert.28 In Edgar Allan Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket, erstmals 1838 erschienen, findet sich die berühmte Szene, in der die verzweifelten Schiffbrüchigen auslosen, wer den anderen als Nahrung dienen soll. Das hat was von Horror, fasziniert Menschen in seiner Scheußlichkeit; doch auch in der Realität ereigneten sich derartige Vorfälle immer wieder.29 Als der Walfänger Essex im Jahr 1820 von einem riesigen Pottwal angegriffen und versenkt wurde, konnten sich Mitglieder der Besatzung auf drei Fangboote retten, die wochenlang auf offener See trieben. Zu einem der Boote verlor man den Kontakt, man hörte nie wieder etwas von ihm und den Menschen darauf. Von Hunger übermannt, beschlossen die Verzweifelten auf den anderen Booten, auszulosen, wer erschossen und verzehrt werden sollte. Nur so konnten sie überleben. Schließlich wurden sie von einem anderen Walfänger vor der chilenischen Küste gerettet, ausgezehrt und dem Tode nah. Von den 21 auf den Booten überlebten acht; der Bericht des überlebenden Obermaat Owen Chase regte Herman Melville zu seinem Werk Moby Dick (1851) an.30 Stellvertretend soll hier auf ein Ereignis aus der langen Reihe der Schiffskatastrophen näher eingegangen werden, das erst durch seine visuelle Umsetzung wahrgenommen wurde und bis heute zu der wohl bekanntesten und eindrucksvollsten Darstellung zum Thema Schiffbruch wurde, gemeint ist der Schiffbruch der Fregatte Medusa aus dem Jahr 1816. Auch Name und Geschichte der Medusa wären vergessen, wenn nicht am Morgen des 17. Juli ein Toppgast der Brigg Argus das treibende Floß erblickt hätte. Es trug, wie sich bald zeigte, nur noch fünfzehn Überlebende auf ihren Planken. Sie schienen wie Gestalten aus dem Jenseits, Geister, die nach einer Irrfahrt am Rande des Hades durch eine Laune des Schicksals Zeugnis irdischer Leidensfähigkeit geben sollten: tatsächlich waren sie in den vergangenen zwölf Tagen durch eine Hölle getrieben, die ihnen die dunkelsten Seiten der menschlichen Natur offenbarte.31
Die Argus rettete die Schiffbrüchigen; über die Geschehnisse auf dem Floß sind wir durch den einzigartigen, detaillierten Bericht der Überlebenden Savigny und C orréard informiert. Im Vorwort hieß es zu dem „schauderhaften Schiffbruch“: „Zwei Unglückliche, demselben wie durch ein Wunder entronnen, übernehmen hier das ebenso herzbrechende wie heikle Geschäft, alle Umstände dieses schrecklichen Ereignisses zu schildern.“ Und: „zuweilen werden wir uns genötigt sehen, grausame Wahrheiten ans Licht zu bringen …“32
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Was hier anklingt, sind die Ungeheuerlichkeiten, die im Anschluss an den Schiffbruch passierten und die man lieber nicht wissen wollte. Es begann damit, dass die Fregatte Medusa, in Rochefort gestartet, vor ihrem Zielort, dem französischen Kolonialgebiet im heutigen Senegal mit 400 Besatzungsmitgliedern und Passagieren an Bord auf Grund lief. Notdürftig zimmerte man ein Floß zusammen, da es zu wenig Rettungsboote gab. Vier von ihnen sollten das Floß rudernd an Land ziehen, was sich schnell als hoffnungsloses Unterfangen erwies. Das Floß, 8 x 15m groß, lag wie Blei im Wasser, man kappte die Seile und überließ die 147 Menschen darauf ihrem Schicksal. Was dann folgte, war die Vorhölle, zwei Fässer Wein, ein Fass Wasser und etwas nasser Schiffszwieback waren schnell verbraucht. Die Sonne brannte erbarmungslos, das Salzwasser entzündete die Wunden der Verletzten, vor Schmerzen schreiend. Einige stürzten sich verzweifelt ins Meer, am 8. Tag erschoss man 65 Schicksalsgenossen und warf die Schwachen und Verwundeten über Bord. Von den Toten aber behielt man einige. Die Unglücklichen, welche der Tod verschont hatte, stürzten sich gierig auf die Toten, schnitten sie in Stücke, und einige verzehrten sie sogleich. Ein großer Teil von uns lehnte es ab, diese entsetzliche Nahrung zu berühren. Aber schließlich gaben wir einem Bedürfnis nach, das stärker war als jegliche Menschlichkeit.33
Obwohl der Schiffbruch der Fregatte Medusa am 2. Juli 1816 zu einem frühen MedienEreignis wurde, wäre er eine Episode aus dem 19. Jahrhundert geblieben, hätte sich nicht ein junger Maler entschlossen, die dramatischen Folgen ins Bild zu setzen. Das epochale Gemälde Floss der Medusa des französischen Romantikers Théodore Géricault gehört zu jenen Ikonografien, die weit über kunsthistorisch interessierte Kreise hinaus Eingang in das kulturelle Tableau der westlichen Welt gefunden haben. Géricault führt „geradezu exemplarisch ein schrecklich-erhabenes Motiv in der akademischen Malweise des ,great style‘ aus, um das Höchstmaß an erhabener Wirkung zu erzielen.“34 Und es steht mit seiner monumentalen Wucht (rd. 5 x 7m, 35qm Malerei!) wie kaum ein anderes Werk für Schiffbruch, Irrfahrt und menschliche Untiefen. Hier zeigt sich die enorme Kraft des Visuellen, seine Evidenz: Der Betrachter erfasst ‚auf einen Blick‘ das Martyrium der Schiffbrüchigen; Leichen und Verzweifelte (in Lebensgröße!) liegen übereinander getürmt auf dem maroden Floß, nur einige scheinen hoffnungsvoll in die Ferne zu zeigen und zu winken. Erst auf den vielleicht dritten Blick, und das ist gewollt, erahnt man am Horizont winzig klein die rettende Argus.
Maritime Desaster erzählen
Fazit
In kultur- wie kunsthistorischer Perspektive waren Seefahrt und Schiffbruch über Jahrhunderte hin christlich-moralisch konnotiert; dann wurden die Darstellungen maritimer Desaster in Wort und Bild im Zuge der Ökonomisierung der Seefahrt ab dem 17. Jahrhundert sukzessive säkularisiert.35 Trotz dieser Transformation blieb die Metaerzählung von der menschlichen Hybris und ihren fatalen Folgen bestehen. Hatte einst der Mensch, begab er sich auf die offene See, gegen die göttliche Ordnung aufbegehrt, sich der Neugier oder später dem Streben nach Luxus hingegeben, war es jetzt die Anmaßung, von Menschen ersonnene Technik könne sich über Naturgewalten hinwegsetzen. Irgendwann folgt zwangsläufig die Strafe. Der Schiffbruch ist die Nemesis der Seefahrt. Die Frage nach der seltsamen Faszination von Schiffbrüchen bleibt, scheint universell und zeitlos. Schon der Römer Lukrez hat in seinem Lehrgedicht De rerum natura aus dem letzten vorchristlichen Jahrhundert darüber reflektiert: Süß ist’s, anderer Not bei tobendem Kampfe der Winde Auf hoch wogigem Meer vom fernen Ufer zu schauen; Nicht als könnte man sich am Unfall andrer ergötzen, Sondern dieweil man es sieht, von welcher Bedrängnis man frei ist.36
Hans Blumenberg selbst hat darauf hingewiesen, dass es Lukrez war, der den Begriff vom „Schiffbruch mit Zuschauer“ geprägt habe. „Nicht darin besteht freilich das Vergnügen“, so Blumenberg, „daß ein anderer Qual erleidet, sondern im Genuß des eigenen Standortes.“37 Es ist wohl weniger der Standort, sondern die Tatsache, selbst nicht betroffen zu sein. Maritime Desaster bedrohen in mehrfacher Hinsicht: anders als an Land, fehlt hier fester Grund; unten ist nur noch unbekannte Tiefe, von der man nichts Genaues weiß, mutmaßlich bevölkert von seltsamen Wesen, gleich dem Hades, der Unterwelt. Nichts wurde lange Zeit mehr gefürchtet – und noch heute fürchtet man die Meerestiefe. Zudem ist man den fundamentalen Naturgewalten ebenso ausgesetzt wie der menschlichen Gewalt. Ob Schiff, Rettungsboot oder Floß – es ist ein abgeschlossener Ort, ohne Möglichkeit der Flucht. Das kann zu großer Solidarität und gegenseitiger Hilfe führen, doch stets droht die Situation zu kippen, es ist eine Frage der Zeit. Hier zeigt sich die entlarvende Kraft der Schiffskatastrophe; angesichts der unfassbaren Naturgewalten auf hoher See offenbaren sich die Untiefen der menschlichen Psyche. Verloren in uferloser Weite, orientierungslos, werden die Menschen auf ihren atavistischen Rest reduziert; der Instinkt siegt über den Intellekt. Und das scheint mir der Kern für das Faszinosum Schiffbruch zu sein. Jenseits aller kulturellen Attitüde,
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weggespült von den Urgewalten, geht es am Ende nur noch um Leben und Tod. Der Schiffbruch evoziert Urängste, erzeugt beim Betrachten ‚horror and delight‘, sind wir doch alle potenzielle Schiffbrüchige. Er ist Daseinsmetapher (Blumenberg) wie Inbegriff des Scheiterns. Das deutsche Wort ‚scheitern‘ geht etymologisch auf das Scheitholz zurück, das ‚zu Scheitern werden‘ eines Schiffes.38 Aber, das ist die andere Seite des Faszinosums Schiffbruch, im Scheitern kann auch etwas Positives liegen. Wer Schiffbruch erleidet, verliert viel, wenn nicht gar alles: sein Schiff, seine Ladung und nicht selten sein Leben. Hoffnungen zerplatzen, Pläne und Lebensentwürfe scheitern. Doch der Schiffbruch birgt mitunter auch Möglichkeiten eines Gewinns – für jene, die ihn überleben oder als Außenstehende betrachten.39
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Wittrock, Nina: „Wie ein Pfeil fliegt er hin, ohne Ziel, ohne Rast“. Der Fliegende Holländer und sein Mythos, in: Mare. Die Zeitschrift der Meere, Nr. 11 (1998), S. 88–95. Wolf, Burkhardt: Kap der Stürme. Der Fliegende Holländer und die Irrfahrten maritimer Globalisierung, in: Baader, Hannah/Wolf, Gerhard (Hg.): Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation. Zürich/Berlin 2010, S. 357–377. Wolf, Burkhardt: Discurso des Scheiterns. Das Schiffbruch-Narrativ und seine Wendepunkte, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 29 (2019), H. 3, S. 481–502. Wolf, Burkhardt: Fortuna di mare. Literatur und Seefahrt, Zürich/Berlin 2013. Zeilinger, Johannes: Der Tod der Médusa, in: Savigny, Jean-Baptiste Henri und Alexandre Corréard: Der Schiffbruch der Fregatte Medusa. Mit einem Vorwort von Michel Tournier, einem Nachwort von Johannes Zeilinger und einem Bildessay zu Théodore Géricaults ‚Floß der Medusa‘ von Jörg Trempler, Berlin 2005, S. 139–188. Ziemann, Sascha: Moral über Bord? Über das Notrecht von Schiffbrüchigen und das Los der Schiffsjungen. Der Kriminalfall Regina v. Dudley and Stephens (MignonetteFall). In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik. (ZIS) 2014, Heft 10, S. 479–488.
Anmerkungen 1 2 3 4 5
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Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am M. 1979. Wolf, Burkhardt: Fortuna di mare. Literatur und Seefahrt, Zürich/Berlin 2013, S. 9. Wolf, Burkhardt: Discurso des Scheiterns. Das Schiffbruch-Narrativ und seine Wendepunkte, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 29 (2019), H. 3, S. 481–502, hier: S. 482. Figal, Günther: Odysseus als Bürger. Horkheimer und Adorno lesen die Odyssee als Dialektik der Aufklärung, Zeitschrift für Ideengeschichte 2 (2008), S. 50–61. Manfred Frank: Die unendliche Fahrt. Die Geschichte des Fliegenden Holländers und verwandter Motive. Reclam, Leipzig 1995; Burkhardt Wolf: Kap der Stürme. Der Fliegende Holländer und die Irrfahrten maritimer Globalisierung, in: Baader, Hannah/Wolf, Gerhard (Hg.): Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation. Zürich/Berlin 2010, S. 357–377. Wittrock, Nina: „Wie ein Pfeil fliegt er hin, ohne Ziel, ohne Rast“. Der Fliegende Holländer und sein Mythos, in: Mare. Die Zeitschrift der Meere, Nr. 11 (1998), S. 88–95, hier: S. 88. Wagner war bereits in seiner Rigaer Zeit durch Heinrich Heine (Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski) auf das Motiv aufmerksam geworden. Später betonte er stets die Bedeutung jener dramatischen Überfahrt für die Ausgestaltung der Oper. Ebd., S. 89. Wolf: Fortuna di mare, S. 136–139. Wolf: Discurso des Scheiterns, S. 499.
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10 Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 10. 11 Ebd., S. 12. 12 Knöll, Stefanie; Der Schiffbruch als moralisch-didaktisches Schauspiel, in: Knöll, Stefanie u. a. (Hg.): Der Tod und das Meer. Seenot und Schiffbruch in Kunst, Geschichte und Kultur, S. 37–41, hier: S. 37. 13 Sitt, Martina/Gaßner, Hubertus (Hg.): Segeln, was das Zeug hält! Niederländische Gemälde des 17. Jahrhunderts, Katalog-Buch zur Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, 04.06.2010–12.09.2010, Hamburg 2010. 14 Nova, Alessandro: Kirche, Nation, Individuum. Das stürmische Meer als Allegorie, Metapher und Seelenzustand, in: Baader/Wolf (Hg.): Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation, S. 67–94, hier: S. 80. 15 Burke, Edmund: A philosophical inquiry into the origin of our ideas of the sublime and beautiful, London 1757. 16 Bertsch, Markus: Zwischen Erhabenheit und dokumentarischem Anspruch. Das Motiv des Schiffbruchs im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Entfesselte Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600, Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle, Hamburg, 29.06.2018– 14.10.2018. Hrsg. von Markus Bertsch und Jörg Trempler im Auftrag der Hamburger Kunsthalle, Petersberg 2018, S. 59–69, hier: S. 60. 17 Nova: Kirche, Nation, Individuum, S. 85. 18 Turner. Horror and Delight. Hg. Hermann Arnhold. Katalog, LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster 2019. 19 Wilton, Andrew: Turner and His Time, London 1987, S. 231; zit. nach: Nova: Kirche, Nation, Individuum. 20 Ruskin, John: Modern Painters, Bd.1, New York 1848, S. 255. 21 Bockemühl, Michael: J.M.W. Turner: The World of Light and Colour, Köln 2015, S. 71. 22 Ebd., S. 6. 23 Grave, Johannes: Caspar David Friedrich und die Theorie des Erhabenen. Friedrichs „Eismeer“ als Antwort auf einen zentralen Begriff der zeitgenössischen Ästhetik, Weimar 2001. 24 Grave, Johannes: Schiffbruch ohne Zuschauer. Caspar David Friedrichs ‚Eismeer‘ als Katastrophenbild, in: Entfesselte Natur. Hrsg. von Bertsch/Trempler, S. 71. 25 Ziemann, Sascha: Moral über Bord? Über das Notrecht von Schiffbrüchigen und das Los der Schiffsjungen. Der Kriminalfall Regina v. Dudley and Stephens (Mignonette-Fall). In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik. (ZIS) 2014, Heft 10, S. 479–488. 26 Ulbricht, Otto (Hg.): Schiffbruch! Drei Selbstzeugnisse von Kaufleuten des 17./18. Jahrhunderts. Edition und Interpretation, Köln, Weimar, Wien 2013. 27 Bähr, Andreas: Listen der Providenz. Schiffbruch in frühneuzeitlicher Autobiographik, in: Bähr, Andreas/Burschel, Peter/Trempler, Jörg/Wolf, Burkhardt: Untergang und neue Fahrt. Schiffbruch in der Neuzeit, Göttingen: Wallstein 2020, S. 11–60. 28 Im Jahr 1970 als Buch erschienen; auf Deutsch: Garcia Marques, Gabriel: Bericht eines Schiffbrüchigen, Köln 1982. 29 Historische Fälle von Seenot-Kannibalismus finden sich in: Simpson, A.W. Brian: Cannibalism and the Common Law: The Story of the Tragic Last Voyage of the Mignonette and the Strange Legal Proceedings to Which It Gave Rise, Chicago 1984.
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30 Philbrick, Nathaniel: In The Heart of the Sea: The Tragedy of the Whaleship Essex, New York 2000. 31 Zeilinger, Johannes: Der Tod der Médusa, in: Savigny, Jean-Baptiste Henri und Alexandre Corréard: Der Schiffbruch der Fregatte Medusa. Mit einem Vorwort von Michel Tournier, einem Nachwort von Johannes Zeilinger und einem Bildessay zu Théodore Géricaults ‚Floß der Medusa‘ von Jörg Trempler, Berlin 2005, S. 139–188, S. 160f. 32 Savigny, Jean-Baptiste Henri/Corréard, Alexandre: Der Schiffbruch der Fregatte Medusa. Mit einem Vorwort von Michel Tournier, einem Nachwort von Johannes Zeilinger und einem Bildessay zu Théodore Géricaults ‚Floß der Medusa‘ von Jörg Trempler, Berlin 2005, S. 13. 33 Ebd., S. 65. 34 von Bruch, Asta: „Quel spectacle hideux! Mais quel beau tableau!“. Die Ästhetik des Erhabenen in Géricaults „Floß der Medusa“, Zeitschrift für Kunstgeschichte 69 (2006), S. 342– 357, S. 349. 35 Mertens, Sabine: Seesturm und Schiffbruch eine motivgeschichtliche Studie, Rostock: Hirnstorf 1987, S. 30–49. 36 Lukrez: Über die Natur der Dinge (De rerum natura), Zweites Buch, neu übersetzt und kommentiert von Klaus Binder, Berlin 2014, S. 71. 37 Blumenberg, Hans: Beobachtungen an Metaphern, in: Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), S. 161–214, S. 178. 38 ‚scheitern‘, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erst bearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version: ‚scheitern‘ in: https://www.dwds.de/wb/ dwb/scheitern [abgerufen am 08.02.2022]. 39 Bähr, Andreas/Burschel, Thomas: Untergang und neue Fahrt. Zur Einführung, in: Bähr, Andreas/Burschel, Peter/Trempler, Jörg/Wolf, Burkhardt: Untergang und neue Fahrt. Schiffbruch in der Neuzeit, Göttingen 2020, S. 7–9, hier S. 7.
‘A scene of indescribable horror’ Peril, terror and shipwreck in Melville Bay, Northwest Greenland Mark Nuttall
In the nineteenth century, for many of those who ventured to the Arctic from more southerly regions on journeys of exploration in search of the Northwest Passage and routes to the North Pole, or on whaling voyages, the blank spaces on Arctic maps and maritime charts still represented some of the Earth’s “most challenging final frontiers”1. Much has been written about how the Arctic has been imagined as a wilderness, a sublime, spectral, empty space, or a place of terror, horror and dislocation.2 In this essay, I consider how Melville Bay, a stretch of water in Northwest Greenland, was thought of and experienced as a cruel sea, “the reputation of which was most unsavory”3. Filled with ice floes and icebergs, and edged by coastal glaciers winding down to the sea from Greenland’s inland ice, Melville Bay was renowned and written about by whalers and explorers as a site of terror, disorientation, trauma and disaster, chaos and cryophobia.
A place of terror and disaster
Melville Bay (Qimusseriarsuaq in Greenlandic, i.e. ‘the great dog sledging place’) is in the northeast corner of Baffin Bay on Northwest Greenland’s continental shelf. Its English name commemorates the second Viscount Melville, Robert Dundas Saunders, who was first lord of Britain’s Admiralty from 1812–1827. In this essay, I refer to it by its English name as this corresponds with the texts and narratives of those non-Indigenous writers who described its characteristics and represented it as a sea of icy desolation, rather than paying attention to it as constituting part of an Indigenous homeland. The bay’s shoreline is an archipelago dominated by bedrock. Around nineteen large glaciers stretch across the coast, calving thousands of icebergs each year, many of which drift southward into the western part of Davis Strait, eventually joining the Labrador Current. Its bathymetry remains largely uncharted in many parts, but it is known to be some 300–500 m deep in places (there is a deep trench of 600–700 m and a deep basin of 1100–1200 m). Two types of sea ice occur in Baffin Bay and Melville Bay: multi-year ice normally enters from the Arctic Ocean as drift ice through Nares Strait and stays
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on the Canadian side of Baffin Bay, while first-year ice is predominant in Melville Bay and the Greenland side of Baffin Bay. Sea ice in Melville Bay forms in late September or early October (although this is being altered by climate change), tends to be land fast, and forms inside the inlets and fjords independently of the ice conditions in Baffin Bay. In the nineteenth century, Melville Bay was imagined, but also experienced, as a place of terror by the whalers who entered its ice-filled stretches on their way to the rich and lucrative Arctic whaling grounds of the North Water polynya – an area of largely open water surrounded by ice – and Lancaster Sound in what is now Canada’s Arctic, as well as by the explorers who sought to chart the Northwest Passage or ventured to Smith Sound and Nares Strait with a view to finding a route to the North Pole. For whalers, the North Water was alluring; for explorers, being first to reach the North Pole was a prize to be attained, with the promise of glory and public recognition to follow. Melville Bay, being a less than open oceanic space, even in summer, made them difficult to reach. Ice was a destructive force. It conspired with wind and currents to hinder and trap ships, unnerve and confuse their crews aboard, and thwart, confound and disrupt the economic venture of whaling and the advance of geographic exploration. Melville Bay was an Arctic region that, while visited regularly by vessels from Europe and North America, was not well charted, its depths unknown, and its coastline hardly mapped until more sustained scientific investigation was undertaken from the mid-twentieth century.4 Yet, this was not an uninhabited, unexplored region empty of human presence, even if whalers and explorers considered and represented it as such. Inuit settlements were concentrated mainly in the Upernavik district, in the most southerly stretch of Melville Bay, and around Cape York at its northwesterly boundary, but it was a place where Inuit hunted and travelled, and writers occasionally remarked on the winter house sites, summer camping places, and graves that were to be found on headlands. The log books of whalers and the narrative accounts of exploration contain descriptions of meeting and trading with Inuit – “the wild Esquimaux who inhabit the shores of the headwaters of Baffin Bay”5, as American explorer Isaac Israel Hayes described them in a way that was characteristic of the time – but provide no insight into their rich and detailed knowledge arising from extensive use and occupancy of the coastal northwest.6 The crews onboard the whaling ships that sailed into the Arctic, mainly from England and Scotland, knew and described Melville Bay as ‘the bergy hole’, ‘the breaking-up yard’, and ‘the whaleship graveyard’. Discovery ships were usually more strongly reinforced than whalers and were not at the same risk of being trapped and lost (the pack ice proved to be more of an inconvenience, slowing them down rather than forcing them to turn back), but whaling vessels became stuck in the ice with alarming frequency. It could often take several weeks to get through the barrier of ice, and many ships never made it across the bay. They struck icebergs or were crushed by what the whalers called ‘thick-ribbed ice’. The North Water beyond seemed near, yet it failed to appear
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on the horizon for days, weeks, and, for some, never at all. Melville Bay was an icy space that, at best, could delay and frustrate, or at worst, could swallow and consume. Strategies for drifting with the current or before the wind7 were often circumvented as crews prepared for and accepted extended periods of immobility in stretches of sea ice as a necessary part of a whaling voyage. Many vessels were wrecked and sank as a result. In The Threshold of the Unknown Region, published in 1873, geographer and explorer Clements Markham wrote about Melville Bay as a place where ships would be crushed “like walnuts”8, and where ice “tore into their sides”. Whalers and explorers alike approached Melville Bay in fearful anticipation, to paraphrase Steve Mentz, of the brutal, wet, icy chaos of catastrophe.9 Despite the dangers, the route across Melville Bay was chosen because a dock could be cut in the fast land ice adhering to the coast should the heavy pack ice endanger a ship.
Trapped in the middle ice
In this part of the Arctic, whalers referred to the sea ice as the middle ice, of which they had “a great horror of being caught in”10. A successful, and safe, crossing of Melville Bay demanded considerable knowledge, skill and experience of navigation in northern waters. Whalers had a rich, evocative and extensive vocabulary to describe the type, size and shape of Arctic ice – a lexicon described in fine detail by William Scoresby (1820).11 They also needed knowledge of how the wind affected the drift of ice. Robert Anstruther Goodsir, who joined a search for the Franklin expedition in 1849, wrote that Scottish whaling captain William Penny’s experience of the northern ice led him to advise “that the earlier in June the passage through Melville Bay is attempted, the easier it will be effected. He has pointed out to me that the prevailing winds during the month of May and the beginning of June, are from the north or north-east, and that the effects of these are to drive the ice to the southward, consequently slackening it in Melville Bay, and the northern part of the ‘middle ice,’ and thus rendering the passage through it easier during the earlier part of the month of June”12. The observations of Penny and others lent support to the argument that prevailing winds in July came from the south and south-east and packed the ice into Melville Bay. Yet, being able to identify and describe different types of ice and being attentive to the wind was not enough to prevent a ship getting stuck in Melville Bay. The whaling ships set out from their home harbours of Hull, Leith, Aberdeen, Dundee or Peterhead, with their crew members aware there was danger in every voyage. Many must have had a touch of cryophobia as they wondered if they would return to the towns, fishing villages and farms from which they came, or whether they would succumb to the mind-numbing cold or slip into the icy depths of the Arctic’s waters. The 1830 whaling
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season was especially disastrous for the whalers, with the loss of nineteen ships13, which Markham described as “a scene of indescribable horror”14 and, in 1835, twenty ships were trapped in extensive sea ice in what later was referred to as the Baffin Bay Fair. Francis Lee, who was mate aboard the Bon Accord of Aberdeen, wrote of the loss of the ship, along with another Scottish whaler Alfred in Melville Bay on Saturday 3rd July 1847: Morning, the wind increased to a hurricane, with constant thick snow; a very large flow to the westward, the current driving it to the northward and in towards the ship. At half past two, called all hands and lowered the boats down, to haul them on the ice, clear of the fall of the masts; but, alas, sad to relate, the dreadful moment arrived too soon, and we had only time to save five boats before the ship was crushed into a thousand pieces; the Alfred, likewise suffered the same fate. The oldest man there stated that he had never seen two wrecks so complete in so little time, in his life, in four minutes both ships were one mass of broken wood, not a stitch of clothes was saved.15
Surprisingly perhaps, despite the dangers and the loss of dozens of ships, Melville Bay was not a place in which many men died following a shipwreck or from exposure to the elements. For several decades of the nineteenth century, Melville Bay was a busy, often crowded place during summer and early autumn in any given year, even when the whaling trade began to decline during the second half of the century. Shipwrecked sailors could count on being rescued by other vessels – and the terrors of the ice could be escaped by digging out docks in the pack ice with pick axes or, later in the nineteenth century, blasting it with dynamite to ease the pressure and free a ship. Still, Lee’s account illustrates how the fear of death hung over every whaling and discovery voyage, and clung to the pages of their narrative accounts. Robert Brown writes of knowing of “a case in which the vessel went down so suddenly that the cooper, who happened to be in the hold at the time, went down with it before he could escape”16. When death did occur, though, it was more likely to result from illness and accident. Crew members who passed away, and whose bodies did not sink with a ship, were left behind in lonely graves on an island or headland on Greenland’s northwest coast.17 Visiting the northern part of Upernavik district, Brown described the following scene: On these islands are remains of the whalers’ prolonged visits; for in addition to the unfailing sardine box, and bottle, which, all the world over remain the monument of the tourist Briton, we find sadder memorials in the shape of graves of officers and seamen of different ships….All of these graves are mere mounds of stone heaped over the bodies, with a piece of board, telling in rudely cut and not remarkably well-spelled words, the name and designation of the dead man beneath.18
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In narrative accounts of whaling voyages, the loss of a ship is often described and mourned as a death. Entering Melville Bay was likened to entering a graveyard. As Brown put it, “The bottom of Melville Bay must be perfectly paved with wrecks.”19 The increased use of steam-powered ships from the mid-nineteenth century reduced the possibility of being detained and crushed by the ice. However, whalers still entered Melville Bay acutely aware of the fragility of the wooden ship they sailed in, and of the very real possibility of having to abandon it to a slow death as timber was exposed to powerful and destructive non-human forces. Melville Bay continued to be thought of and feared as a place of agitation, disruption and icy dislocation. In Under the Northern Lights, Januarius Aloysius MacGahan called it “a place of evil repute”20, while Edward Lawton Moss, writing in Shores of the Polar Sea observed that “Melville Bay used to be looked upon as a very formidable ‘Pons Asinorum’ at the outset of every voyage”21, indicating how seafarers would expect to be detained – and their vessels wrecked – by the ice barrier. Lingering in the ice and going nowhere, however, also allowed for moments of reflection as well as immersion in the minutiae of everyday life. In 1884, David Moore Lindsay sailed to northern Greenland as surgeon aboard the Dundee whaler Aurora. Under the command of Captain James Fairweather, Aurora had been sealing off Newfoundland earlier that year before it headed to the Arctic on a whaling voyage. Aurora was used occasionally for search and rescue operations and Fairweather also received instructions to look for Adolphus Greely’s United States Lady Franklin Bay Expedition party, which had been lost around Ellesmere Island, west of northern Greenland (Greely’s surviving party was eventually located by another ship, leaving Aurora to resume whaling). Lindsay writes about storms, disorientation, danger, and episodes of near death, but he also details the trivia of life on board. Stuck in the ice in the northern part of Upernavik district, his journal’s entry for Monday, July 9, records At dinner we were discussing vegetables and all agreed that the best on board were the tinned carrots. They were simply boiled and put up in pieces six or seven inches long. They were absolutely as fresh and sweet as the day on which they were prepared. We called them Carnoustie carrots, as they had come from that place. Our Dundee meat was excellent at this time. We had a good supply of it, and very seldom saw salt beef or salt pork on the cabin table during the voyage.22
Melville Bay in art and literature Accounts of exploration to northern Greenland and the High Arctic sold well in the nineteenth century and works of art depicting the Arctic sublime were popular – there was an eager and receptive readership and audience. Shane McCorristine describes how
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…nineteenth-century audiences saw the Arctic as a dreamlike zone that overflowed the cartographic and literary space in which it was traditionally bounded by that tiny group of men that promoted and handled polar exploration. Because of the spectral power of the Arctic as an idea, it could be sensed remotely, dreamed about, imagined and consumed by people who were at a great distance from the Arctic geographically and politically.23
Artists such as the American painter William Bradford made several expeditions to the Arctic and portrayed sea ice, icebergs, and animals. Fascinated by narratives of Arctic exploration in what he referred to as the Frigid Zone (he accompanied Hayes on several trips), Bradford’s paintings An Arctic Summer: Boring through the Pack in Melville Bay (1871) and Panther among Icebergs in Melville Bay (1874) represented aspects of his imaginative geography of and about the Arctic and showed his chartered Scottish steamer Panther, on which he voyaged north in 1869, in various icy scenes. Sketches, paintings and steel engravings by other artists, such as John Sartain’s The “Rescue” nipped in Melville Bay, August 1850; Die Arctic-Gletscher, Melville Bay (1848), which appeared in Meyer’s Universum; and Walter William May’s The Pandora Nipped in the Pack in Melville Bay, which depicted a scene on 24th July 1876 and was also published in The Illustrated London News, similarly played with notions of wilderness, danger, the terrible, and the sublime. They influenced, to some degree, how a general public in Europe and North America came to imagine what northern environments must look like. Melville Bay and the North Water beyond have provided inspiration for novelists, who have drawn from accounts of exploration and whaling voyages to write historical fiction that attempts to capture the experience of the danger and hardship endured in high latitudes, the difficulty of sailing and navigating through the ice, the harshness of Arctic winters, and the deaths of crew members. In The Voyage of the Narwhal, for example, Andrea Barrett has an expedition setting off in 1855 to look for traces of Sir John Franklin’s expedition, which had disappeared searching for a northwest passage through Arctic Canada a decade before. As Narwhal sails north from Upernavik toward Melville Bay, the crew tell stories of ships destroyed by the drifting pack ice. “There was a reason, they said, why Melville Bay was called the breaking-up yard. Ships crushed like hazelnuts, they said, or locked in ice for months.”24 Once Narwhal is in Melville Bay, it struggles through the ice and the crew work for hours, getting nowhere; “an inch, a foot, the length of the ship”25. Barrett has the vessel moving slowly through Melville Bay in a constant struggle with the ice. Once they emerge from it and enter the North Water on a cloudless day, the novel’s central character, Erasmus Darwin Wells, feels “as though he were home during harvest-time”26. Once free of the pack, and in open water, “The air was warm, the water gleaming like steel and the icebergs elevated against the horizon”. The efforts, frustrations and travails of whalers and explorers battling against the ice allows a glimpse of Melville Bay as an altogether different space of adventurous ocean
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in which, as in other parts of the Arctic (as well as on the Antarctic continent), ideologies of white masculinity have been projected and inscribed.27 This is explored in Ian McGuire’s novel The North Water, which was dramatized for television by the BBC and first broadcast in 2021.28 Turning on a theme of horror, brutality and gruesome living conditions, McGuire sets his dark story on a whaler grappling with a cruel Arctic sea, where ice and cold, hunger and fear, an ever-present sense of terror, and the acts of men themselves, are menacing, vicious and destructive. To enter Melville Bay – whether as a whaler or an explorer – was to journey into a realm of ice, turmoil and disruption, into a frigid zone of disorientation that was imagined and written about as a vast unpeopled, terrible solitude. As the ice closed around, and as the mist and fog obscured their view, those on board whaling ships and discovery vessels must have felt as though they were leaving the visible, known world as they sailed into the void. As Heidegger states in his essay The Thing, “The terrifying is unsettling; it places everything outside its own nature”29 and it both hides and reveals itself. For Heidegger, although distances can be conquered, “the nearness of things remains absent” and the possibility of the thing that one wants to become near actually passing by or not being reached at all only enhances a sense of fear, something perhaps experienced by many who sailed into Melville Bay.30 Crossing this zone of ice, though, was to reach another empty space beyond – the North Water. Into this stretch of Arctic vastness, whalers and explorers sailed away from the cruel sea and destructive ice of Melville Bay into a region depicted as having a different atmosphere and light.
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Horová, Mirka: Vast and irregular plains of ice: Wilderness as smooth space in Frankenstein, in: Markus Poetzsch/Cassandra Falke (eds.): Wild Romanticism, London/New York 2021, pp. 189–204, here p. 189. E.g.: Duffy, Cian: The Landscapes of the Sublime, 1700–1830: Classic ground, Basingstoke 2013; McCorristine, Shane: The Spectral Arctic: A history of dreams and ghosts in polar exploration, London 2018; McGhee, Robert: The Last Imaginary Place: A human history of the Arctic world, Toronto 2004; Rix, Robert W.: ‘A strange unearthly climate’: James Hogg’s tale of the Arctic wild, in: Poetzsch, Markus/Falke, Cassandra (eds.): Wild Romanticism, London/New York 2021, pp. 173–188. Lindsay, David Moore: A Voyage to the Arctic in the Whaler Aurora, Boston 1911, p. 131. Nuttall, Mark: Ice and the depths of the ocean: probing Greenland’s Melville Bay during the Cold War, in: Bocking, Stephen/Heidt, Daniel (eds.): Cold Science: Environmental knowledge in the North American Arctic during the Cold War, London/New York 2019, pp. 23–41. Hayes, Isaac Israel: The Open Polar Sea: Narrative of a voyage of discovery towards the North Pole, New York 1867, p. 65. Nuttall, Mark: Climate, society and subsurface politics in Greenland: Under the great ice, London/New York 2017. Cf.: Peters, Kimberley: Drifting: Towards mobilities at sea, in: Transactions of the Institute of British Geographers 40/2 (2015): 262–272. This and the following: Triune, Clements: The Threshold of the Unknown Region, London 1873. Mentz, Steve: Shipwreck Modernity: Ecologies of globalization 1550–1719, Minneapolis 2015. Hayes: Open Polar Sea, p. 59. Scoresby, William: An Account of the Arctic Regions, With a History and Description of the Northern Whale-Fishery, Volume 1, Edinburgh 1820. Goodsir, Robert Anstruther: An Arctic Voyage to Baffin’s Bay and Lancaster Sound, London 1850, p. 71–72. Lubbock, Basil: The Arctic Whalers, Glasgow 1937. Markham: Threshold, p. 170. Lee, Francis: A Private Journal of the Shipwreck of the Barque ‘Bon Accord’ in Melville Bay, Hull 1847, p. 3. Brown, Robert: A cruise with the whalers in Baffin’s Bay, in: The Geographical Review (1873), pp. 51–55, here: p. 52. Nuttall, Mark: S.S. Triune: The loss of a Dundee whaler, in: Polar Record 26/138 (1990): 235. Brown: Baffin’s Bay, p. 52. Ibid.: p. 53. MacGahan, Januarius Aloysius: Under the Northern Lights, London 1876, p. 4.
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21 Moss, Edward Lawton: Shores of the Polar Sea: A narrative of the Arctic expedition of 1875–76, London 1878, p. 13. 22 Lindsay: A Voyage to the Arctic, pp. 132–133. 23 McCorristine: The Spectral Arctic, p. 5. 24 Barrett, Andrea: The Voyage of the Narwhal, London 1998, pp. 62–63. 25 Ibid.: p. 63. 26 Here and following: Ibid: p. 81. 27 E.g.: Giehmann, B.S.: Writing the Northland: Jack London’s and Robert W. Service’s imaginary geography, Würzburg 2011. 28 McGuire, Ian: The North Water, London 2016. 29 Heidegger, Martin: Poetry, Language, Thought, New York 2001, p. 164. 30 Ibid.
Steaming to Death Mortal Fears at the Dawn of the First High Technology John Laurence Busch
At the dawn of the 19th century, the human race remained – practically speaking – in the same place it had been for millennia. To wit, humans were beholden to the omnipotence of Nature, meaning the only way to move themselves from one place to another was by natural methods. On land, this meant foot, hoof, or wheel, all of which were powered by animals; on water, it was either human-driven paddles or wind-driven sails. There was little reason to believe that locomotion for our species would ever be any different. Then, in 1807 – with two revolutions (political and industrial) already shaking the established foundations of human society – a third revolution began. This newest transformation of the human experience began when an American named Robert Fulton built and ran the first commercially successful ‘steam boat’.1 In so doing, Fulton achieved something epically important: he proved that humans could create a technology that possessed an artificial power which allowed them to alter where they were (to practical effect) faster than by natural means. No other invention had achieved such a thing before, and accordingly, steamboats may be considered the first ‘high technology’ in history. In 1812, a Scotsman named Henry Bell constructed the first commercially successful steamboat in all of Europe. In short order, the British contracted the same ‘steamboat fever’ as the Americans, and, in due course, interest in this first high technology spread to the European Continent, and all over the world.2 The first steamboats were relatively fragile vessels. Within their wooden hulls sat a heavy steam engine which, like virtually all such machinery, suffered from power loss when in operation. This meant that vibration within the hull was a common outcome for a steamboat. Furthermore, the paddlewheels mounted on both sides of the hull – also made largely of wood – were susceptible to collision damage, the stress of pushing against strong currents, and water-logging. Because of this fragility, the earliest operators of steamboats kept them on protected rivers. Indeed, the very name of this new vessel – ‘steam boat’ – clearly implied that it should be used in sheltered waterways, because the word ‘boat’ in the English language of the early 19th century (and before) was generally defined as a vessel to be used in protected waters.3
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Fig. 1: “Steamboat Paragon, 1811”; Drawing by Jean Baptiste Marestier. Source: Marestier, J. B.: Mémoire sur les Bateaux à Vapeur des Etats-Unis d’Amérique, avec un appendice sur diverse machines relatives à la marine, Paris, 1824, figure 11.
But it didn’t take long for steamboat operators to begin sending their vessels onto larger bodies of water, such as lakes, bays and sounds. Certainly the operators wanted to introduce service wherever they thought a market could be created. And much of the public was keenly interested in experiencing travel on this ‘new mode of transport.’4 Yet even with the enthusiasm of promoters and public alike, many people who first saw these clanking, smoking contraptions quickly floated a most pressing question: were they safe? As steamboat operators began sending their craft onto larger bodies of water, the fear of possible disaster and death naturally became all the greater. For steamers operating on rivers, lakes, bays and sounds, the public’s fears focused upon five fundamental risks. First among these was exposure to the machinery. While the engine room of a steamboat would normally be off limits to passengers, the rapidly moving parts of the steam engine nevertheless represented a very real risk to crew members working nearby. One of Fulton’s own engineers – experienced though he might have been – was killed by the machinery of the steamboat Nassau on her inaugural day of service in 1814.5 Second – and of greater risk to travelers – were the paddlewheels churning on both sides of the deck. While paddle boxes built over the upper half of the wheels were intended to prevent possible mishaps (and water from splashing up onto the deck), the curiously ignorant were known to stick an arm or leg through one of the maintenance portals located on the deck-side of the paddle boxes, and lose a limb – at the least – in the process.
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The third concern was speed. The first generation of steamboats in the United States typically travelled at about 6 miles per hour (~10 km/h), and could, under the right conditions, achieve 10 miles per hour (~16 km/h). Such unnaturally fast speeds could easily lead to collisions, with rocks, submerged trees (or sawyers), piers, wharves, sailing vessels, or even other steamboats. Of course, such collisions could happen while traveling on a sailing vessel, but the speeds were typically much less, as would be the potential for damage and death.6 The speed with which ‘steamers’ traveled also indirectly contributed to a form of subfear, that being potential neglect of the vessel’s operations. The tempo of steamboat travel was faster than anything ever seen before. With the ability to overcome Nature, these vessels could keep to a precise schedule, making predictable departures, intermediate stops and arrivals. This very quickly created great expectations amongst the traveling public with regard to being ‘on time.’ So, sometimes captains and crews cut corners on maintenance, or other operational aspects of the steamboat, such as disembarking, or transferring to an adjacent steamboat.7 The fourth fear was of even greater concern than all the fears noted so far, and that was the risk from the steam engine’s boilers. These early boilers were constructed of either copper or iron, with plates riveted together, and sealed with molten lead. Normally operating at pressures of 40 to 50 pounds per square inch, a boiler – if not properly maintained and monitored – could burst a seam or just outright explode. The damage to the vessel, the crew and even the passengers could be catastrophic. If the steamboat was operating on the western rivers of the United States, then the fears were even greater, because those craft typically used high pressure steam engines, which normally ran at 100 to 150 pounds per square inch. The fifth and greatest fear of all for both crew and customers was that of fire. Sparks spewing from the funnel could set the back-up sails on fire, although this risk could be reduced by not installing any masts immediately behind the smokestack. Far greater was the danger that if the boilers exploded, a fire could easily result. If the boilers got too hot, the tremendous heat they gave off could combust any flammable material nearby. Once a fire started on a wooden-hulled vessel of any kind, it was incredibly difficult to put out, which was why the rules regarding the use of fire both onboard and while in port were very strict. If a blaze on a steamboat occurred along a river, the only means of avoiding a fiery death was to pile into a rowboat or swim for shore. As has been noted, these risks of death by steamboat were not equal; some were feared more than others. In order to place each of these fears in perspective, a simple matrix (based upon informed judgment) can be created. Without any doubt, the risks of a catastrophic boiler explosion or fire on board were the greatest fears for steaming to death. Once the Napoleonic Wars were over for good in 1815, steamboat operators in the
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Fig. 2: “Steaming to Death Matrix #1,” w/steamboat. Source: J. L. Busch.
U.S. and the U.K. – which remained in the vanguard for advancing this new technology – began to test more robust versions of steam vessels on larger bodies of water. In America, for example, multiple steamboats were operating on the Chesapeake Bay and Long Island Sound by mid-1815, and the first steamer on Lake Erie (the Walk-in-theWater) was introduced in 1818.8 Sending steamboats out onto the open ocean along the coasts of either country was considered an incredibly dangerous undertaking. Even one-time experimental voyages or transfers from one port to another were very risky, and could result in a crippled steamer limping into an intermediate port, or even sinking outright.9 The Americans first accomplished such a transfer in 1809; this was followed by additional one-time voyages in the U.S. and U.K. in 1815 and subsequent years.10 But taking a steamboat along the ocean coast – in sight of land – was one proposition (in which the prospect of rescue was believable); venturing to take a steamer all the way across the ocean was entirely another. Because the technology was so new, steaming continuously all the way across the ocean was an impossibility. So a robust back-up sailing rig – for use when the winds at sea were favorable – would be a must, and this rig would need to be much more extensive than that used on river-running steamboats. A larger hull would be needed too, in order to accommodate a powerful steam engine. Yet in spite of any such modifications, mariners and informed members of the public foresaw numerous risks above and beyond those which threatened a steamboat operating in protected waters. The paddlewheels of a steamboat at sea represented a series of risks. Being made primarily of wood, many feared the wheels could not withstand the powerful push-andpull of the ocean in heavy seas. Furthermore, there was concern that the paddlewheels would act as a drag whenever the vessel was under sail, thereby reducing maneuverabil-
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ity. Additionally, mariners were worried that the paddlewheels and the heavy paddle boxes covering them would serve to destabilize a finely-balanced vessel in rough seas. And finally, some observers thought the paddle boxes themselves could act as wave traps in a storm, potentially pushing the vessel onto its side. Any one of these dangers could lead to the debilitation or even destruction of the steamer. The larger sailing rig needed for an ocean crossing also raised red flags. First was the risk that the more extensive sailing rig could – in conjunction with the unwieldy paddlewheels and paddle boxes – destabilize the vessel’s balance. Second was the risk that if this sailing rig were to collapse in a storm, it might fall upon that part of the steam engine that rose through and above the deck, and cripple it. And third, there was concern that the sparks and cinders emanating from the funnel might set the more prominent and extensive sailing rig on fire. Finally, the risk of boiler explosion and fire was magnified at sea. The steam engine – powerful though it might be – would be placed under tremendous strain during an ocean voyage (due to the powerful forces of currents and waves), increasing the possibility that the crew might over-pressurize the boilers, resulting in an explosion. If a boiler did explode, or the crew lost control of the boiler fires, then the prospect of complete destruction of the vessel had to be considered likely. And in the maritime world, there was arguably no greater irony than to die by fire whilst floating on the very substance that could extinguish it.
Fig. 3: “Steaming to Death Matrix #2,” w/steamboat (ocean) column added. Source: J. L. Busch.
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With so many risks of death by steam at sea to contend with, it is hardly surprising that the vast majority of mariners didn’t think an ocean crossing by a steamboat was possible, and neither did the public. Their conclusion seemed logical, due not only to knowledge of the risks, but also the language used to describe the technology. This was because in early 19th-century English, the word ‘boat’ was generally defined as a vessel to be used in protected waters.11 While there were some exceptions to this definition (such as “lifeboat”), this meaning had held fast for centuries. So when Fulton built his first commercially successful steam vessel in 1807, its fragility led Fulton and others to naturally call it a ‘steam boat.’ Even with the gradual adoption of the new compound word ‘steamboat’ a few years later, the expectation remained the same: these fragile craft must be kept on protected waterways. Taking one out upon the ocean seemed irresponsible, if not practically suicidal. Nevertheless, as steamers continued to advance onto larger bodies of protected water, some intrepid promoters of the new technology wondered how such a vessel might be able to mitigate the matrix of death and successfully cross the ocean. This debate was not a public one, but rather took place largely in private, amongst steamboat captains, investors, shipbuilders and other actors possessing direct experience with the sea. Among their number was a man named Moses Rogers. He had become one of the first steamboat captains in history, taking command of a Fulton rival – the Phoenix – in 1809. In the years that followed, Captain Rogers commanded four different steamboats operating in four different markets, from New York City to Charleston, South Carolina.12 But what really differentiated Rogers from other early steamboat captains was his experience in bodies of water larger and more dangerous than a river. He had run steamers on the Chesapeake Bay, and along the coast between Charleston and Savannah (in the State of Georgia). He also had successfully completed three transfers of steamboats from one port to another by way of the ocean.13 Combined with his prior work as a sailing captain (as far south as Cuba and as far north as the Grand Bank), there was arguably no steamboat captain alive who could match Rogers’ experience with both this new technology and the sea.14 By 1818, Captain Rogers had convinced a group of Savannah merchants to back the construction of a new kind of steam vessel, specifically designed to challenge the sea. Because the steam engines available and the hulls of ocean-crossing vessels were only so large, the back-up sailing rig would be important not only for safety, but conservation of the limited fuel that could be carried. So Captain Rogers’ design called for this ocean steamer to be rigged as a ‘ship’. This terminology was far more than semantics, because just as the word ‘boat’ had a particular definition in English at that time, so too did the word ‘ship.’ ‘Vessel’ was (and still is) the generic term used in the English-speaking maritime world to describe any floating craft. From that universal base, it was necessary in the
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early 19th century to clarify just what type of vessel was under discussion. The type depended upon the sailing rig used to propel the vessel. While there were many rig types, the vast supermajority of vessels fell into one of four categories: sloop, schooner, brig or ship. Each sailing rig had its uses, but for crossing oceans, the strongest, most comprehensive rig was that of a ‘ship,’ which was defined as any vessel with three masts in which the sails were deployed on horizontal poles (or yards) at right angles to the keel (when looking straight down at the vessel). ‘Ships’ crossed the oceans of the world all the time. If Captain Rogers wanted to inspire confidence that his ocean steam vessel could cross the Atlantic safely, then he could do no better than build the first ‘steam ship’ in history. This was precisely what he did.
Fig. 4: “Steamship Savannah, 1819”; Drawing by Jean Baptiste Marestier. Source: Marestier, J. B.: Mémoire sur les Bateaux à Vapeur des Etats-Unis d’Amérique, avec un appendice sur diverse machines relatives à la marine, Paris, 1824, figure 10.
But Captain Rogers did more than that. His design for this first steamship, called the Savannah, incorporated a number of additional features and innovations that were intended to address each of the many fears for any attempt to cross the ocean using the artificial power of steam. When added to the matrix of worries, it can be seen that Rogers addressed every single concern. Skeptics could not easily claim that this new type of steam vessel did not mitigate the chance of being ‘steamed to death.’
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Fig. 5: “Steaming to Death Matrix” #3, w/Steamship Savannah mitigants. Source: J. L. Busch.
In spite of these many safeguards, the mariners of New York City – where the Savannah was built – still did not trust that such an unnatural craft could make it safely across. As far as they were concerned, Captain Rogers was not building a ‘steam ship,’ but rather a ‘steam coffin.’ To muster such a moniker was perfectly natural for a seafarer. In the slang of the maritime world, unsafe vessels had long been referred to as ‘coffins,’ since the shape of a hull bore an uncanny resemblance to a human coffin. That this one would be propelled by steam made it novel, to be sure, but also far more dangerous than the sailing variety. The city of Gotham provided not one member of the steamship Savannah’s eventual crew.15 Nevertheless, by May of 1819, Captain Rogers and a fully-crewed steamship Savannah were ready. Departing from their home port of Savannah, Georgia, they steamed and sailed across the Atlantic to Liverpool, in the United Kingdom. While steam was only used for a fraction of the voyage (due to fuel carriage limitations), it did not matter: the psychological barrier had been broken. It was, in fact, possible to safely cross the ocean using the artificial power of steam. Armed with this successful crossing, the proponents of the ‘new mode of transport’ set to work on improving the technology, so that future crossing attempts featured more powerful engines, larger hulls (for more fuel), and increasingly innovative designs for
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the steam apparatus. Just 19 years after the Savannah’s successful crossing, two British-built vessels – the Sirius and the Great Western – raced across the North Atlantic to become the first to cross continuously under steam power.16 Throughout the remainder of the 19th century (and into the 20th), the risk of death by steam on the oceans of the world remained a real and tangible danger, with thousands of lives lost. Yet with each passing year, the technology improved, and the risks lessened, to the point where being ‘steamed to death’ was still tragic, but a thankful rarity.
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Fulton’s use of ‘steam’ as an adjective for ‘boat’ initially became the norm in the English language. Within a few years, the compound word ‘steamboat’ gradually came into use. Permanent Enrollment, North River Steam Boat, 3 September 1807, Port of New York, RG 26/36/41, National Archives and Records Administration of the United States, Washington, DC. The term ‘steamboat fever’ was commonly used in both the U.S. and the U.K. during this early period. Barclay, J.:, A Complete and Universal English Dictionary, London, 1792, “boat,” and Barclay, J./Shorton, W.: A Complete and Universal English Dictionary, Liverpool, 1816, “boat.” The phrase ‘new mode of transport’ was commonly used in the U.S. to describe early steamboats. “Fatal Accident,” Philadelphia Mercantile Enquirer, 11 May 1814, p. 3. For examples, see [no titles], New York Gazette & General Advertiser, 29 September 1818, p2, and 21 October 1818, p. 2. [no title], Poulson’s American Daily Advertiser, 6 August 1812, p. 3; also: Scott, F. D. (editor/translator)/Klinkowström, A.: Baron Klinkowström’s America: 1818–1820, Evanston, 1952, pp. 5–6. Emmerson J. C., The Steam-Boat Comes to Norfolk Harbor, and the Log of the First Ten Years, Portsmouth/Virginia, 1947, pp. 1-6; Albion, R. G., The Rise of New York Port [1815-1860], New York/New York, 1939, 1967, p. 14; Hodge, W., Papers Concerning Early Navigation on the Great Lakes, Buffalo/New York, 1883, p. 28. For examples, see Heyl, E.: Early American Steamers, Buffalo/New York, 1953–1969, pp. 135–138; and [no title], New-York Daily Advertiser, 30 June 1818, p. 2. Busch, J. L.: STEAM COFFIN: Captain Moses Rogers and The Steamship Savannah Break the Barrier, New Canaan/Connecticut, 2010, pp. 57–60, 75–76; Dodd, G.: An Historical and Explanatory Dissertation on Steam-Engines and Steam-Packets; etc., London, 1818, pp. 253–280. Barclay and Shorten, op. cit. Busch, op. cit., pp. 7–8. Busch, op. cit., pp. 57–60, 75–76, 81–82. The “Grand Bank” was singular in the early 19th century; only later, when multiple banks were detected, was the name pluralized. Busch, op. cit., pp. 187–188. Hosken, J./Claxton, C.: The Logs of the First Voyage, made with the Unceasing Aid of Steam, between England and America, by the Great Western, of Bristol, Bristol, 1838; Smith, J.: Letters upon Atlantic Steam Navigation, etc., London, 1841.
Bubbles, Bust and the Lutine’s sunken treasure Margrit Schulte Beerbühl
Any visitor entering Lloyd’s Insurance Building in London faces the St Jean Ship Bell in the entrance hall. For a long time, the bell was struck whenever a ship was overdue: it was struck once, when a ship was lost and twice, whenever an overdue ship finally arrived. Today the bell is only rung for ceremonial purposes, e.g., on Diana’s death. The bell St Jean originally belonged to the ship Lutine, which was lost at sea on the 9 October 1799 near the Dutch coast. Her loss belongs to the famous cases in line with other maritime disasters, such as the Titanic or the Lusitania. The Lutine has become renowned for several reasons: firstly, due to the dramatic circumstances under which she was lost; secondly, due to the immense treasure she carried; and thirdly, it was the first big insurance case for Lloyd’s. The importance of her fate for Lloyd’s may be concluded from the remarks of the Lloyd’s historian H.G. Lay, who wrote that any history on Lloyd’s that omits the history of the bell and the Lutine relics would be incomplete.1 The first part starts with a few short remarks about the political and economic circumstances, i.e., the burst of a speculation bubble at Hamburg, which caused the dispatch of the Lutine and her loss. The second part deals with the protracted efforts to salvage her valuable freight and the lasting myths of a hidden treasure.
Bubbles and Bust
In the late 1790s, Hamburg experienced a phenomenal economic boom. It was the time of the French Revolutionary and Napoleonic Wars (1792–1815). In 1795, the French Revolutionary Army had occupied the Netherlands and trade shifted to Hamburg and Bremen. Up to that time, Amsterdam had been the second-most important financial centre of the world, surpassed only by London. Merchandise that had previously been transported from England and other parts of the world via Amsterdam and Rotterdam up the Rhine was from then on sent via Hamburg and Bremen to the south of Germany, Switzerland, Italy and Eastern Europe, as well as Turkey. Hamburg became the leading port of entry for colonial goods, and economic relations between Hamburg and London became even closer.
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Another factor that contributed to the bubble was the slave revolt on the French colony of Saint Domingue in 1791. It destroyed the largest cane-sugar-producing region of the world. Given a shortage in production, and at the same time a rising demand in Europe, sugar and coffee became objects of speculation. Sugar and coffee prices rose by three to four times, and profit margins with them. In 1797 and 1798, profits were surging, and many speculators entered the trade in sugar and colonial products, and many firms exceeded their means. Adverse weather conditions in the winter of 1798 to 1799, and also the renewal of war, contributed to the bust in autumn of 1799. The early arrival of the winter had prevented the entry of the last ships of the autumn season in 1798. In anticipation of continuing price and profit increases, large quantities of sugar and coffee had been ordered in the autumn. In the spring of 1799, the market became overstocked. Sugar and coffee prices started to plummet. The renewal of war worsened the crisis, as markets in the south and east of Europe were closed. The crisis peaked between mid-September and October of 1799. Within six weeks, more than 52 leading merchant and banking houses in Hamburg failed with 36 million Mark Banco. The bursting bubble reached London more or less around the same time. Merchant houses worth several million pounds Sterling became insolvent. Failures of leading merchant and banking houses were reported from Amsterdam, Brussels, Basle, Vienna, Russia and Liverpool. Even sugar planters in the Caribbean were drawn into the crisis. With some delay, the crisis reached the towns on the East Coast of the United States. Panic broke out in Hamburg and many other places, for money and credit were scarce. At the height of the crisis, the Hamburg barrister Ferdinand Beneke wrote in his diary: “The market is a true bed of torture. […] No one wishes to trade anymore.”2 In view of the enormous geographical dimension of the crisis, money lacked to pay the bills of exchange, which were due. Those who still had money and bullion held it back, so as not to get into financial difficulties themselves. The urgent question was who could provide liquidity to stop the contagion. At the epicentre of the crisis in Hamburg, the Senate decided to take several measures. The Hamburg Admiralty and the Hamburg Bank provided three million Mark Banco for the support of those unfortunate merchants, who only suffered under a temporary liquidity squeeze, but were not insolvent against securities. Furthermore, two private-loan banks were established, however, all relief measures could not prevent further bankruptcies, and a universal bankruptcy was feared. In Britain, concern spread that the lack of money might jeopardise the fighting strength of their armies against Revolutionary and Napoleonic France. Given the panic and the lack of money, the public looked for support in London. Simon Moritz Bethmann, the renowned Frankfurt banker, who was in Hamburg at that
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time, wrote to his cousin in London: “If not bullion and silver is sent from England quickly to bring cash into circulation, I do not see how those houses, which accepted large sums, will be saved even if they have sufficient assets.”3 As the Hamburg failures threatened more and more firms in London, Liverpool and elsewhere, a group of London merchants turned to the government in London to allow the export of coins and bullion for the support of Hamburg merchants. It is not known how much value was on board the vessel. The ship, Lutine, with her treasure on board, left Yarmouth on 9 October, but she never arrived. She shipwrecked near the island of Terschelling the following night. The bullion and crew were lost. The first news of the loss reached Lloyd’s on 15 October, already four days before the Admiralty received the first official news by a letter from the Vice-Admiral of a sloop stationed near the island of Terschelling. Hamburg did not receive the information before 26 October. By that time, several large merchant houses had stopped payment. Concern grew over the lack of news about the Lutine, for a packet boat that had left Britain about the same time had arrived. However, as soon as Lloyd’s received the news of the loss, they sent off a second vessel with 100 barrels of bullion on board. Panic ceased in Hamburg, when the second vessel arrived. Myths and rumours about the Lutine, her destination, the number of passengers, and her treasure emerged from the very beginning. The Lutine originally belonged to the French Navy. She was launched in France in 1779, but was captured by the British in 1793 and renamed Lutine. It was a thirty-two-gun frigate and was one of the swiftest and best-manned vessels. She was a warship and had taken part in the blockade of Amsterdam only shortly before. In the aforementioned night, strong north-westerly gales threw her out of her track. The place where she was lost was known as one of the most dangerous regions. According to Lloyd’s historian, Frederick Martin, there was hardly another region in the world “more thickly strewn with wrecks.” He described that part of the coast, i.e. the Wattens as “neither land nor water, but compound of both,” with treacherous shoals and ever-changing sand banks. Later salvage attempts, as will be shown below, were frequently hampered by weather conditions, the undercurrents, and shifting sands. As the place where she sunk was not on the actual route to Cuxhaven or Hamburg, rumours emerged about her destination from the very beginning. At the time of financial bust in Hamburg, the imperial envoy of Austria-Hungary, who resided at Hamburg to collect the contributions for the fighting armies of the Empire, mentioned in his reports to the Austrian Court at Vienna the rumours that the Lutine was salvaged and that the money on board, which was destined for Hamburg, was taken by the Duke of York not only for the troops, but that most of it was used for a secret mission against the French troops under General Brune, who was forced to capitulate near Alkmaar on 18 October 1799.4 His information probably rested on newspapers reports, which ex-
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pressed the hope that the Lutine was safe. They based their assumption on the account of the surviving person, who saw no signs of the vessel nor any planks or bodies at the place where he was washed overboard.5 Another myth that runs through the history of the Lutine pertains to the passengers on board and their number. Passengers, besides the crew on a warship, were unusual, so the presence gave rise to speculation. There numbers rose from 20 to several hundred. According to The Times article commemorating the bicentenary of the wreckage: “a grand ball featuring local civic and naval dignitaries was held on board by way of blessing the voyage.” Such stories should be banished to the realm of fairy tales. Moreover, the paper mentions that 240 officers, men and passengers were on board when the Lutine sank.6 There were a few private passengers on board, but probably only few, and only merchants, such as the young Wienholt, son of an English-German merchant family. His body was washed ashore. Letters he had in his pocket allowed for his identification. Besides him, the Duke of Chantillon, son of the Duke of Luxembourg, and a nephew of Mr. Goldsmith lost their lives. The merchant-banker, Mr. Goldsmith, was the one who initiated the bullion transfer to Hamburg, as he himself was threatened with insolvency due to his dealings with several large bankrupt houses in Hamburg. Whether his nephew merely was on board to see his fiancée on the continent, as The Times reported, or underway on business for his uncle, must remain open. The only surviving passenger was a Mr. Schabrack, a notary public.7 The most eminent and lasting myth is about the treasure of the Lutine. It is not known how much bullion she actually carried. The reference to the amount of coins and bullion on board differed from the very beginning. Interestingly, contemporary newspapers downplayed the amount lost. According to Lloyd’s Evening Post, she had only £140,000 on board, pretending that the information was from the Bullion-Office.8 It is, however, doubtful if this was the whole sum. The Wienholt family history mentions that Daniel Wienholt had £40,000 with him on board of the Lutine.9 Deducting the amount of the £140,000 mentioned in Lloyd’s Evening Post would mean that only £100,000 remained for the use of the bankrupt merchants in Hamburg who failed for 36 Million Mark Banco (between 5 and 6 million pounds Sterling). The Times mentioned a sum of £200,000, and the Morning Herald at the beginning of November 1799 a sum of £300,000.10 The General Evening Post “learned from good authority” that there was £600,000 on board.11 Lloyd’s records were destroyed in the fire of 1838, so the actual amount of the bullion and money on board is unknown. It is known that Lloyd’s paid the full sum insured, but at that time the companies never insured the total value, but only a portion.12 Lloyd’s estimated a sum of £1,2 million in 1858. Lost treasures tend to grow in amount, by repute at least, with the passage of time. The Times raised the value of the treasure from £1,5 to £3 million in March 1869, of which £1,5 million was for the English troops in the Netherlands. According to the author of this article,
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the Lutine had also on board the Crown Jewels of the Prince of Orange, which had been reset and polished by an English jeweller in London.13 Frederick Martin, who researched the archives of the Admiralty, proved that this story was without foundation.14 In 1913, the assumption that she held ten tons of specie on board, i.e., 1,9000 bars of gold and 500 bars of silver of a total value of $6,035,000 on board incited further attempts to find the wreck.15
The “bullion fishers”
Already before the Admiralty in London had decided to salvage the Lutine, Lloyd’s had sent agents to the Netherlands in 1799. While the war continued, the agents could not do anything and returned home. It was the beginning of a long and protracted legal struggle between Britain and the Netherlands about the question of who could claim the right of property on the Lutine and her treasure. The Netherlands claimed the right to salvage the frigate and her treasure, as she sank within their territorial waters. Lloyd’s and, in line with the insurer, Britain claimed their rights as owners and insurers. Until the end of the Napoleonic wars, the question remained unsettled. Meanwhile, fishermen living near the place of the shipwreck took the opportunity to enter the wreck and collect coins and bullion. At that time, parts of the Lutine were still visible at the low ebb tides and a channel passing near the wreck allowed them to board her. These fishermen were called bullion-fishers. Between June 1800 and November 1801, they raised bullion and coins up to the amount of £83,000, according to the official declaration of the Dutch government. The authorities granted the fishermen one-third of the bullion and coins. The remainder was brought to the mint in Dordrecht, where it was melted into Dutch money. After 1801, the fishermen lost interest in the Lutine, as they thought they had recovered most of the treasure. Not until after the end of the Napoleonic Wars had either sailors or countries thought any more about the Lutine and her treasure. Meanwhile, the ever-moving tides had covered the wreck. The channel, which had passed near the shipwreck and had allowed the bullion-fishers to enter the ship, had also disappeared. Knowledge was lost about the place of the shipwreck.
“A hidden treasure?”
However, rumours among the local population of a golden treasure hidden in the sands had remained alive. It aroused the interest of Pierre Eschauzier, a rich inhabitant on Terschelling, towards the end of the wars. As the recovered gold and silver bars were
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numbered, he concluded from the sequence of numbers, that about 600 gold bars were still in the belly of the Lutine. He gained the attention of William I., the Dutch King, and obtained a decree in July 1814 that the public exchequer would defray the first expenses. He started dredging for the wreck, which was meanwhile deeply embedded in the sands. After more than seven years of dredging, he had recovered only a few silver and gold coins. Dredgers did not prove to be suitable machines to dig up the wreck. Therefore, Eschauzier decided to acquire a diving-bell in 1821. First, he obtained another decree from the Dutch King that the whole amount of the treasure should be divided equally between the government and him. He then found several wealthy partners who were willing to join him in this venture. Thereafter, he left for London to buy a diving-bell and engaged several experienced divers. The divers searched for the wreck for more than four months, however, in vain. In the end, Eschauzier had spent about £5,000. Eschauzier’s stay in London, his purchase of a diving-bell, and rumours about a treasure still in the Lutine aroused the attention of Lloyd’s. Representatives of Lloyd’s turned to the foreign Secretary George Canning and inquired his opinion as to the right to the treasure. Lengthy diplomatic negotiations began with the Dutch government, which dragged on until 1830. However, the Belgian Revolution and the subsequent independence of Belgium in 1830 stopped all further diplomatic negotiations for the time being. The Netherlands resented Britain’s support of Belgium’s struggle for independence. Again, it took more than ten years before the next negotiations started. They again dragged on for another nine years. In the end, a treaty was concluded between the Dutch government, Eschauzier’s company, and representatives of Lloyd’s. Salvage operations started again in 1857. The forces of nature favoured the venture. Fierce north-westerly gales had again changed the underground of the Wattens, so that relics of the Lutine were re-discovered. In the following summer, divers recovered the abovementioned bell and a broken rudder, in addition to gold and silver bars, Spanish pistols and Louis d’or.16 The rudder was later converted into a table and a chair at Lloyd’s. The salvage operations only continued until 1861, but the realized value was rather disappointing. The final net proceeds forwarded to England amounted to about £25,000.17 In 1886, a gun was recovered from the Lutine, which stood for some time near the entrance of the old Lloyd’s building. Recurrent findings of coins and other bits of remains nourished the assumption that a large part of the treasure was still hidden in the belly of the ship. In 1893 a “Lutine Syndicate”, a Dutch salvage group was established in the Netherlands to organize new salvage campaigns. In 1910, it was taken over by the English “National Salvage Association.”18 The association commissioned Captain Gardner to undertake the recovery. He was an expert in salving sunken ships and had recovered cargoes from a large number of ships.19 New technical devices also inspired the idea to attempt another salvage operation, for, up until the 20th century,
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all the money and bullion was found outside the ship. The belief that the bulk of the treasure was still in the midship section inspired the new attempt in 1911. A strong vessel, the “Lyons” was bought and fitted out for that purpose. According to various descriptions of the ship, it drew only 10ft of water, which allowed her passing over the sandbanks without the danger of stranding.20 She also had special suctions pumps on board, which were capable of displacing vast amounts of sand. Though the owners of Lloyd’s were sceptical about this new undertaking, the association found enough shareholders to finance the rescue campaign. It was concluded that the company was to give 15 percent to Lloyd’s and another 15 percent to the Dutch salvage company, retaining 70 percent for itself.21 In October, The Times reported on the successful attempts of the operation in removing the sand from both outside and inside the Lutine, which allowed divers to walk along her lower hold. The vessel’s magazine in the between decks, where the bullion treasure was supposed to lie, was collapsed and covered with cannon balls, timber, powder and other heavy ballast. The crew had to use dynamite to remove the cannon-balls. The results appeared promising when they began to remove the tiers, for they found more and more coins.22 Adverse weather conditions impeded the work in 1912, so that Gardiner could only hope for better conditions in 1913. The new technical devices used in the new salvage operation gained the attention of American technicians. Articles appeared in several scientific journals describing technical details, as well as detailed information on the difficulties. As with the earlier attempts, also the strong currents und undercurrent, as well as the tides that constantly changed the sandy undergrounds, proved to be the greatest challenges besides the weather conditions. In one of the technical articles, an incident is recorded that seemed to corroborate the idea that a treasure was still hidden in the wreck. It is mentioned that in July 1912, one of divers found a hole in the bottom of the vessel and: “on putting his arm through, was actually in touch the gold bars and to give an almost accurate estimate of their size (they are 7 inches long, 2½ inches wide and 1¼ inches thick). Unfortunately, owing to the removal of the sand from under the bottom, the vessel had canted over when he went down again, the hole being entirely covered.”23 No other information could be found that confirmed this little story. All in all, the results of the new operation were rather disappointing. According to The Times, a 12-pounder gun was found in 1912, which was placed outside the main entrance of Lloyd’s in 1913.24 The outbreak of war ended further efforts. According to a later article in The Times, the salvage proceeds amounted to only £100,000.25 However, myths about the treasure were kept alive by newspaper articles that appeared from to time. Evidently, in 1929, a new attempt was initiated. Lloyd’s gave a concession to the Dutch companies of Dros of Texel and Doeksen of Terschelling on a “no catch, no pay” arrangement.26 For more than four years, the new salvage operations continued without noteworthy results. Weather conditions were not the
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main problems, but the sands. A new apparatus designed by a Mr. Becker, a German engineer who had been in the German Navy during the Boxer Rebellion in China, raised new perspectives for overcoming the difficulty. The new machine that he had constructed at Dortmund was transported in parts on a motor vessel from there to Terschelling. Again, weather conditions prevented progress within the next years. Small items were found, one of which was an ink stand that was presented to the King in 1935.27 Operations probably stopped due to the breakdown of the new machine, for, in 1938, when a new attempt was made, the engineers found the remains of the steel Becker Tower.28 Then a renewed attempt in 1938 became a public event, on which The Times reported nearly daily. The Lloyd’s committee issued a new licence for the salvage of the Lutine. It was granted to the Dutch Billiton Company of Hague. A new dredger, named Karimata, which was built for tin dredging in the Straits of Karimata in the Dutch East Indies, was used. Her deployment in the salvage operation was intended as a last test, before she was to leave for the East Indies. As she was the largest dredger in the world at that time, she raised new hopes about bringing to the surface any remains of the ship or treasure.29 By this time, the supposed value she carried was estimated at £2 million in gold. The Billiton Company turned this operation into a media event. It invited journalists from various countries to stay on the dredger Karimata. The Times sent a special correspondent to Terschelling, who regularly reported from there about the progress of the search during the summer and early autumn of 1938. By the end of July, a gold bar and three cannons were found, of which the gold bar caused a widespread excitement. On the day the news reached Lloyd’s, the Lutine Bell that had been found long ago was rung. Holiday makers started to crowd the island, so that no more accommodation could be had on it. Thousands camped in tents or slept in the open.30 More guns were found, but no more gold bars after that sensational find, and the headline of The Times read a few days later: “The Lutine. A Day of Sand and Shells.” The leading engineer, however, remained optimistic, as they had extended the area of research. He expressed hopes that the following fortnight would show whether the whole venture was attended with success or failure.31 The bits and pieces found thereafter were rather disappointing and difficulties began to mount. Karimata’s move to broaden and deepen the area caused the sands to shift, so that the dredger had to start again at a lower depth.32 In addition, they found that they had an incorrect map of the area. They managed to get an old map from a Dutchman after some delay. Further setbacks followed. The scoop-chain slipped from the ladder and was damaged. As it could not be repaired on the spot, the Karimata had to return to port for repairs. A couple of weeks after her return to the place of the salvage operation, a part of the dredger that discharged the sand broke, and the Karimata had to return to port again. This event caused the company to declare the end of any further undertak-
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ings. According to The Times correspondent, half of the local population welcomed the damaged Karimata when she arrived at Terschelling.33 A year later, the Second World War began. However, the memory of the Lutine and her alleged treasure did not die among the local population, even decades after the end of World War II. Lost treasures do not lose their thrill and continue to captivate people. In 1999, in commemoration of the Lutine, a yacht race was organized. 22 Yachts started from Yarmouth to the Frisian Islands where the Lutine sank.34 Since then, rumours about her hidden gold treasure, allegedly worth at least between 30 to 50 million Euros, still linger on until today, and online media contribute their share to keeping the lure alive.35
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The Maritime Dialectic of America’s Coastal Slave Trade During the Nineteenth Century Jeffrey R. Kerr-Ritchie
The Atlantic slave trade stands as one of the most infamous historical instances of man’s inhumanity to man. More precisely, this triangular business linking European ship owners, insurance companies, states’ officials, captains and crews, African merchants and monarchs, and market sellers and buyers in the Americas rendered the sea cruel. More than twelve million captive Africans embarked on thousands of ships from west, central, and southeastern African forts and ports. Some ten million survived the Middle Passage in reaching South America, the Caribbean, and North America. More than two million perished in transatlantic crossings between the 1840s and 1860s.1 Instead of recalling this gruesome history, the following paper examines a less wellknown cruel sea. The American coastal slave trade operated in the southeast Atlantic, northern Caribbean, and Gulf seas between its commencement in 1808 through its legal abolition in 1864. For more than five decades, scores of thousands of American-born slaves were forcibly transported from the Upper South to the Lower South in hundreds of ships across the aforementioned seas. Many captives survived the journeys, although there were numerous casualties. Others, however, obtained their liberty as a consequence of bad weather, proximate free soil, and shipboard rebellion. I argue that their actions represented acts of humaneness in opposition to the inhumanity of trading bodies across the sea. In short, this paper pursues an alternative dialectic of maritime slavery as well as liberty along coastal America for several decades after the apogee of the Atlantic slave trade. The last two decades have witnessed the proliferation of studies of slavery and capitalism in the nineteenth-century United States.2 These historians link the progress of industrial capitalism with more violent appropriations and efficient mobilization of forms of enslaved labor. Some of slavery and capitalism’s most salient features included the new role of financial credit markets, the regional redistribution of forced labor, and new circuits of production, manufacture, and consumption linking southern cotton plantations with new textile mills located in New England, as well as old England. In contrast
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to older conceptual models of either stage theory – in which slavery preceded capitalism, or slave versus waged labor exemplified incompatible systems of production – this work insists on both their mutuality and connections.3 Slave-produced cotton in the American South was manufactured by factory operatives in northern England’s textile mills as part of a compatible – rather than contradictory – modern economic system. The statistics are staggering. Between the early 1800s and 1860, between 800,000 and 1,000,000 American slaves were forcibly relocated from Upper South states to Lower South states to work primarily on cotton and sugar plantations. By 1860, cotton accounted for 59 percent of total US exports. The physical wealth of the American South exceeded $6.3 billion, of which human property constituted over $3 billion, or nearly half the total.4 In contrast to older arguments that southern slavery was declining – ergo the American Civil War was a tragedy because it was unnecessary – the scholarly consensus today is that the cotton economy was booming, profitable, and invaluable to the economic growth of the slaveholding republic. In 1807, the United States illegalized its citizens’ participation in the Atlantic slave trade. This resulted from a compromise agreed during the writing of the US constitution two decades earlier. Thereafter, merchants could transport slaves in ships only under the official inspection of federal employees who worked in embarkation and disembarkation ports. The latter’s primary function was to ensure that American slave ships were not contravening the federal banning of the Atlantic slave trade. Between 1808 and 1864, more than 50,000 captives in hundreds of slave ships were transported from the ports of Baltimore, Richmond, and Washington DC in the Upper South to Pensacola, Mobile, and New Orleans in the Lower South. In the fall of 1841, for instance, the brig Creole relocated 139 captives, including 76 males and 61 females (gender of 2 infants unidentified). Most were of prime working age: some 80 percent were aged between thirteen (Mary Collins) and twenty-five (Hester Bell).5 This balanced gender ratio and age range supports the argument of a limited sexual division of enslaved labor on cotton and tobacco plantations in the American South, unlike sugar and slavery elsewhere in nineteenth-century Cuba and Brazil that disproportionately enslaved males.6 The profitable US coastal slave trade was abolished in 1864 only as a consequence of the Republican-controlled polity during the waning months of the American Civil War. It is not difficult to identify how this human trafficking rendered these seas cruel without succumbing to the propaganda of American abolitionists opposed to slave trading. Contrary to the paternalist claims of proslavery advocates, slave trading ripped families asunder. The trauma of family separations must have been especially marked for children – thirteen of the captives aboard the Creole during its fateful 1841 journey were aged twelve or under. Moreover, this maritime trade was deadly. Rachel died aboard the brig Tribune while being transported from Alexandria to Natchez. Thirty-one captives perished during an 1831 sea passage. Once arrived, the captives faced auction block
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sale, plantation overwork, and sexploitation if they were female.7 The detailed roles of citizen investors, maritime traders, ship crews, insurance companies, and federal employees in transforming these South Atlantic, North Caribbean, and Gulf seas into violent human spaces awaits further scholarly analysis. At the same time, however, US maritime trading provided captives with new opportunities for obtaining liberty. In 1826 and 1828, forced transportees rebelled aboard the brigs Decatur and Lafayette without success. They sought to humanize the cruel seas by obtaining their natural right of freedom deprived them as a consequence of American slavery. Additional opportunities arose with the advent of British colonial abolition. Begun in 1833 and completed in 1838, British colonial abolition emerged from the increasing volatility of managing colonial slavery illustrated by three massive slave revolts in 1816 Barbados, 1823 Guyana, and 1831/2 Jamaica, together with liberal reform of the British state during the early 1830s.8 As a consequence, the free shores of British Caribbean colonies and American slave states assumed a new spatial proximity after 1833. This was different to when American and British shores were both slave soil. One unintended outcome of what British Foreign Secretary Lord Aberdeen called a “new state of things” was that some captives in the American coastal slave trade gained liberty by landing in British ports or waters. The most spectacular example occurred in November 1841, when nineteen rebels seized the brig Creole. After a fight lasting two hours, which claimed the lives of one passenger, one rebel, together with numerous injuries to the crew, the rebels ordered the ship steered toward the British Bahamas. For ten days, the ship remained moored in Nassau harbor. While the US consul and British colonial officials argued over the captives’ status – the former insisting they were US citizens’ property, the latter that they were at liberty because British colonies were free soil – armed local Bahamians surrounded the Creole in hundreds of small boats thus preventing the ship from transporting its human cargo to New Orleans. Eventually, the former captives walked to freedom.9 As a consequence of several shipboard rebellions – together with slave ships being driven into British ports due to hurricanes and storms – I estimate nearly five hundred captives gained their liberty in the American coastal slave trade between 1826 and 1841.10 The transformation of these cruel seas into a freedom-granting space rested upon these changing spatial and temporal proximities, and how captives responded. To some, this maritime dialectic might appear odd. How could shipboard captives engaged in fighting for their liberty – which usually involved violence, maiming, and killing – possibly represent humane action? This view, however, prioritizes the means over the ends. Free-born Africans who were enslaved sought a return to their natural right of freedom. The same was true of American-born slaves who naturally sought to change their unnatural condition. Moreover, it might be asked: is not the sea cruel be-
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cause of natural elements – typhoons, storms, collisions, sinking, drowning – without evoking human behavior? True, but the reduction of human bodies to the cash nexus, thus fueling a massive business in trading slaves across the oceans cannot be overlooked in any discussion or representation of the cruel sea.11 Finally, dialectical thinking usually assumes some progressive conceptual movement. It is absent in this paper. Although captives’ actions did not end US maritime slave trading, nevertheless, they offered an alternative to the cruel sea due to spatial and temporal proximities. This maritime dialectic of inhumanity and humaneness had broader spatial ripples. Scholars agree that one in ten slave ships experienced a rebellion during the Atlantic slave trade. Eric Taylor’s If We Must Die estimates 493 cases of shipboard revolts between 1509 and 1865.12 Richard Allen carefully counts between 449,896 and 565,193 African and Asian captives transported across the Indian Ocean between 1500 and 1850. At the same time, some sought liberty via the sea. Twenty-eight French ships experienced rebellions between 1787 and 1793.13 Although spatial and temporal proximities were less significant in the Atlantic and Indian Oceans compared to American coastal waters, the key point is that captives’ rebellious actions sought to humanize cruel seas. Human cruelty and humanity at sea also ripples temporally. Between 2014 and 2020, the UNHCR reported more than 20,000 refugees either dead or missing resulting from flight across the Mediterranean Sea.14 These horrific casualty counts were caused less by rough seas than profit-seeking smugglers packing small boats designed for limited occupancy. Tima Kurdi’s memoir represents the most damning indictment of this latest version of rendering the sea inhumane.15 Another recent example involved twenty-one African men, women, and children who lost their lives when their boat capsized off Tunisia in April 2021.16 On the other hand, the Mediterranean Sea provides an escape route for thousands of men, women, and children fleeing political persecution, war zones, poor economies, and most recently the ravages of the pandemic. The UNHCR estimates more than two million refugees arrived by sea in southern Europe over the past several years. The suffering has been immense, refugees have been mistreated, injured, and killed. But many have found new lives and hope as a consequence of their maritime crossings. I wish to conclude with some lines from The Sea is History by Caribbean poet Derek Walcott. Although concerned with the Atlantic slave trade and liberty’s limitations, they gesture toward the sort of maritime oppositions articulated in this paper: […] Then there were the packed cries, the shit, the moaning: Exodus. Bone soldered by coral to bone,
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mosaics mantled by the benediction of the shark’s shadow, […] Then came the white sisters clapping to the waves’ progress, and that was Emancipation– jubilation, O jubilation– vanishing swiftly as the sea lace dries the sun. […]17
Bibliography Allen, Richard B.: European Slave Trading in the Indian Ocean, 1500–1850, Athens, Ohio 2014. Baptist, Edward E.: The Half Has Never Been Told: Slavery and the Making of American Capitalism, New York 2014. Beckert, Sven: Empire of Cotton: A Global History, New York 2014. Johnson, Walter: Soul by Soul: Life inside the Antebellum Slave Market, Cambridge MA 1999. Kerr-Ritchie, Jeffrey R.: Rebellious Passage: The Creole and America’s Coastal Slave Trade. New York 2019. Kerr-Ritchie, Jeffrey R.: Rites of August First: Emancipation Day in the Black Atlantic World, Baton Rouge 2007. Kerr-Ritchie, Jeffrey R.: The U.S. Coastal Passage and Caribbean Spaces of Freedom, in: Pargas, Damian Alan (ed.): Fugitive Slaves and Spaces of Freedom in North America, Gainesville 2018, p. 275–315. Kurdi, Tima: The Boy on the Beach: My Family’s Escape from Syria and Our Hope for a New Home, New York 2018. Marx, Karl and Friedrich Engels: The Communist Manifesto, London 1967. Moyle, Fanny: Turner: The Extraordinary Life and Momentous Times of J. M. W. Turner, New York 2016. Schermerhorn, Calvin: The Business of Slavery and the Rise of American Capitalism, 1815– 1860, New Haven 2015. Shepherd, Verene A.: Maharani’s Misery: Narratives of a Passage from India to the Caribbean, Kingston 2002. SlaveVoyages https://www.slavevoyages.org/, last accessed: 18.02.2022.
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Taylor, Eric Robert: If We Must Die: Shipboard Insurrections in the Era of the Atlantic Slave Trade, Baton Rouge 2006. 21 African Migrants, ahramonline, April 16, 2021, https://english.ahram.org.eg/News/ 409329.aspx, last accessed: 18.02.2022. UNHCR, Operation Data Portal, https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean, last accessed: 18.02.2022 Walcott, Derek: The Sea is History, https://poets.org/poem/sea-history, last accessed: 18.02.2022. Wright, Gavin: Slavery and American Economic Development, Baton Rouge 2006.
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Thanks to Jörg Vögele for organizing the Heinrich Heine University conference, as well as participants for their thoughtful responses. SlaveVoyages https://www.slavevoyages.org/, last accessed: 18.02.2022. Leading proponents include among others: Johnson, Walter: Soul by Soul: Life inside the Antebellum Slave Market, Cambridge MA 1999; Baptist, Edward E.: The Half Has Never Been Told: Slavery and the Making of American Capitalism, New York 2014; Schermerhorn, Calvin: The Business of Slavery and the Rise of American Capitalism, 1815–1860, New Haven 2015; Beckert, Sven: Empire of Cotton: A Global History, New York 2014. The classic stage theory of socio-economic transformation, of course, was memorably stated by Marx and Engels in The Communist Manifesto: “In ancient Rome we have patricians, knights, plebians, slaves; in the Middle Ages, feudal lords, vassals, guild-masters, journeymen, apprentices, serfs… [in the modern epoch] Bourgeoisie and Proletariat.” Historians of slavery and capitalism link planter capitalists with enslaved workers in the modern era. See: Marx, Karl and Friedrich Engels: The Communist Manifesto, London 1967. Wright, Gavin: Slavery and American Economic Development, Baton Rouge 2006, p. 60. Kerr-Ritchie, Jeffrey R.: Rebellious Passage: The Creole and America’s Coastal Slave Trade. New York 2019, chap. 4. Brazilian citizens traded slaves across the Atlantic until an abolition law in 1830 was finally implemented in 1850. Spain allowed slave trading to its Caribbean colonies of Cuba and Puerto Rico through the mid-1860s. Illegal trading of Africans across the Atlantic continued, albeit at lower rates due to felony laws, anti-slave trade treaties, and policing the seas by British and US warships. The new system of Asian indentured servitude that followed the abolition of British colonial slavery in the 1830s rendered the sea cruel. The British ship Allanshaw sailed from Calcutta to colonial Guyana in 1885. Eleven Indian workers died en route, including Maharani who had been sexually assaulted by two sailors, see: Shepherd, Verene A.: Maharani’s Misery: Narratives of a Passage from India to the Caribbean, Kingston 2002.
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Kerr-Ritchie, Jeffrey R.: Rites of August First: Emancipation Day in the Black Atlantic World, Baton Rouge 2007, chap. 1. Kerr-Ritchie, Rebellious Passage, chap. 6. Kerr-Ritchie, Jeffrey R.: The U.S. Coastal Passage and Caribbean Spaces of Freedom, in: Pargas, Damian Alan (ed.): Fugitive Slaves and Spaces of Freedom in North America, Gainesville 2018, p. 306. This was my modus operandi for participating in the conference. I was struck by the duality of the exhibition’s beautiful artistic representations and the ugliness of death and destruction at sea. As a scholar of maritime slave trading, I saw an opportunity to emphase divergent forms of human behavior at sea. Taylor, Eric Robert: If We Must Die: Shipboard Insurrections in the Era of the Atlantic Slave Trade, Baton Rouge 2006. Allen, Richard B.: European Slave Trading in the Indian Ocean, 1500–1850, Athens, Ohio 2014. UNHCR, Operation Data Portal, https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean, last accessed: 18.02.2022. Kurdi, Tima: The Boy on the Beach: My Family’s Escape from Syria and Our Hope for a New Home, New York 2018. 21 African Migrants, ahramonline, April 16, 2021, https://english.ahram.org.eg/ News/409329.aspx, last accessed: 18.02.2022. Walcott, Derek: The Sea is History, https://poets.org/poem/sea-history, last accessed: 18.02.2022.
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The Cruel Ship Die Gorch Fock zwischen Grenzerfahrung und Sicherheitsbedürfnis Timo Heimerdinger
Am 30. September 2021 fand ein jahrelanges Drama sein – zumindest vorläufiges – Ende: Die Gorch Fock, das bekannte Segelschulschiff der Deutschen Marine, wurde nach einer jahrelangen Problem- und Pannenserie und einer enorm kostenaufwändigen Grundsanierung, die am Ende fast einem Neubau glich, wieder an die Marine zur Rückkehr in ihren Heimathafen, den Marinestützpunkt Kiel-Wik, übergeben (Q1)1 und machte dort am 4. Oktober 2021 an ihrem Liegeplatz – jetzt ‚Gorch-Fock-Mole‘, ehemals ‚Tirpitzmole‘ – fest (Q2). Die Erleichterung über diese Heimkehr war den anwesenden Militärs und Politiker*innen – allen voran der damaligen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer – deutlich anzumerken, beendete sie doch eine nahezu beispiellose Serie technischer, wirtschaftlicher und politischer Verwerfungen rund um den Großsegler, die über mehr als 10 Jahre hinweg für unzählige Artikel und viel Unruhe, Ärger und nicht zuletzt Spott und Häme gesorgt hatte. Es steht zwar zu erwarten, dass dieses Thema noch diverse politische und juristische Nachspiele haben wird (Q3), doch am 4. Oktober 2021 überwogen trotz einzelner Proteste Erleichterung und Freude. Über die wechselvolle Geschichte und die vielen Wendungen und Schwierigkeiten bei der Sanierung des Schiffes ist bereits andernorts ausführlich berichtet worden (Q4), sie sollen daher hier nicht im Zentrum stehen. Der vorliegende Beitrag möchte vielmehr eine These zu der Frage entwickeln, warum die Skandal- und Pannengeschichte der Gorch Fock so viel Empörungspotenzial barg. Sie lautet: Am Beispiel der Gorch Fock zeigt sich ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen den Risiken und Zumutungen des Faszinosums Seefahrt auf der einen und den Kontroll- und Planbarkeitsfantasien eines modernen Militärwesens und einer aufgeklärten Demokratie samt allen Sicherheitsbedürfnissen auf der anderen Seite. Zwar steht die exorbitante Kostensteigerung dieser Sanierung nicht alleine, sondern fügt sich fast nahtlos in eine Serie ähnlich fatal verlaufener öffentlicher Projekte – die Stichworte ‚Berliner Flughafen‘ oder ‚Elbphilharmonie‘ mögen hier genügen. Doch im Fall der Gorch Fock, so möchte ich zeigen, geht das Problem über rein ökonomische Zusammenhänge hinaus und berührt grundlegende Fragen von Gefahr und Unwägbarkeit der Segelschifffahrt und den politischen wie medialen Umgang damit.
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Der ‚weiße Schwan der Ostsee‘ zwischen Erfolgen und Unglücken
Um diese These zu erläutern, ist ein kurzer Ausgriff in die Geschichte der Gorch Fock sinnvoll.2 Seit 1959 werden auf der als ‚weißer Schwan der Ostsee‘ bekannten Gorch Fock, auf ihren weiten Reisen um die Welt oft auch als ‚Botschafterin Deutschlands‘ bezeichnet, Offiziers- und Sanitätsoffiziersanwärter*innen auf mehrwöchigen Lehrgängen ausgebildet. Diese Reisen dauern mehrere Monate, sind ebenso anspruchsvoll wie beliebt, denn ein Segelschiff ist eben eine Welt für sich: Die Attraktivität der GorchFock-Fahrten speist sich aus dem gesamten Bildprogramm maritimer Lebenswelt: Mannschaftserleben auf See, die Auseinandersetzung mit den Naturkräften, sportliche Herausforderungen bei der Arbeit in der Takelage und unter Deck, ferne Länder und fremde Häfen. Gerade auch die Momente von Entgrenzung und einer ganz anderen, als abenteuerlich wahrgenommenen Wirklichkeit sind es, die den Reiz ausmachen. Die Ausbildung soll vor allem die Teamfähigkeit und die physische wie psychische Belastbarkeit der Soldat*innen schulen. Im Idealfall werden die Kadett*innen mit Segelerlebnissen, Sonnenuntergängen und dem guten Gefühl, Teil einer handlungsfähigen Mannschaft zu sein, belohnt (Q5). Doch völlig risikolos ist das Unterfangen nicht, seit 1959 kam es immer wieder – zwar selten, aber doch insgesamt bisher sechs Mal – zu tödlichen Unfällen. Im Jahr 2008 ging die junge Soldatin Jenny Böken unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen nachts vor Norderney über Bord und ertrank, die Eltern führten bis ins Jahr 2020 eine letztlich fruchtlose juristische Auseinandersetzung mit der Bundeswehr; mittlerweile ist das Verfahren eingestellt (Q6). Zuletzt stürzte im November 2010 eine 25-jährige Offiziersanwärterin während eines Hafenaufenthalts in Brasilien, nur zwei Tage nach ihrer Einschiffung, bei Kletterübungen aus der Takelage und verstarb. Daraufhin stellte der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg die Zukunft der Gorch Fock infrage und entzog Kapitän Norbert Schatz bis auf Weiteres das Kommando (Q7).
Untersuchung und Skandalisierung
Es wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt, das Schiff wurde wieder nach Deutschland überführt und die Zustände und Verhältnisse an Bord erfuhren große mediale Aufmerksamkeit. Es folgte ein Ausbildungsstopp bis 2012 und eine breit geführte mediale und politische Auseinandersetzung um dieses Schiff, die Verhältnisse dort während der Ausbildungsfahrten, seine Berechtigung und seine Zukunft. Was war los auf der Gorch Fock, waren die Dinge völlig aus dem Ruder gelaufen, was vollzog sich – von der deutschen, steuerzahlenden Öffentlichkeit unbemerkt und ungeahnt – auf
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und unter Deck des ehrwürdigen Schiffes am anderen Ende der Welt? Die Mischung aus Unglücksmeldungen, Seefahrtsromantik und einer nach Schlagzeilen trachtenden Presseberichterstattung war explosiv. Neben den Unfällen ging es nun auch um eine ganze Reihe anderer Vorwürfe, die Verhältnisse und Gepflogenheiten an Bord betreffend: Drill, ein rüder Umgangston, Alkoholabusus, Willkür, sexuelle Belästigung und auch Demütigungen in sogenannten ‚Ekelritualen‘ seien üblich. In der Zeitung Die Welt stand zu lesen: Auf der Gorch Fock werden Kadetten, die zum ersten Mal den Äquator mit dem Schiff überqueren, getauft. Der ‚Bild‘-Zeitung nach allerdings nicht mit Wasser. So mussten Kadetten im Herbst 2010 in einem Schlauchboot, gefüllt mit Essensresten, eintauchen oder ihrem Vorgesetzten die Füße küssen. Ein Offiziersanwärter sagte der Zeitung, dass die Teilnahme an dem Ritual zwar freiwillig wäre, der Gruppenzwang aber unglaublich hoch sei. ‚Wer nicht mitmacht, grenzt sich aus.‘ Kadetten berichteten der ‚Bild’, dass sich mehrere Teilnehmer der ‚Äquator-Taufe‘ übergaben [i. S. v. ‚erbrachen‘ T.H.]. (Q8)
Mit der genüsslichen und ausgiebigen Skandalisierung in den Medien ging eine ebensolche im politischen Raum einher, die teilweise – so kann man im Rückblick erkennen – von einem gewissen Übereifer gekennzeichnet war. Im Abschlussbericht der Untersuchungskommission wurden zwar gewisse organisatorische Mängel in der Segelvorausbildung, jedoch kein persönliches Fehlverhalten Einzelner festgestellt. Zwar sind Unfälle tragische und grundsätzlich nicht hinnehmbare Vorkommnisse, doch zugleich bleibt ein Segelschiff trotz allen Vorkehrungen und Sicherheitsmaßnahmen notwendigerweise immer ein potenziell riskanter Ort, gerade der Umgang mit den immensen, nie vollständig beherrschbaren Naturkräften macht schließlich einen Gutteil der Faszination aus. Der damalige Kommandant des Schiffes, Fregattenkapitän Nils Brandt, führte im März 2021 aus, worin der besondere Reiz und Zweck der Ausbildung auf einem Großsegler liegt: Zu erleben, dass man nicht einfach nur den Joystick nach vorne legt und in die gewünschte Richtung fährt, sondern dass die Natur einem […] Grenzen setzt, ist enorm wichtig. Wir müssen auch Belastungsgrenzen vermitteln. Weil Seefahrt etwas ist, was ein Großteil unserer Offiziersanwärter und -anwärterinnen so noch nicht erlebt hat. Sie müssen erfahren, was es bedeutet, in Schlechtwetterszenarien mit zwölf Windstärken und zehn Meter hohen Wellen noch Leistung zu bringen. (Q9)
Man geht sicherlich nicht zu weit mit der Behauptung, dass es in militärischen Einheiten nicht immer zimperlich und gelegentlich auch rüde zugeht. Persönlich kann man dazu stehen wie man will. Doch was den Vorwurf der sogenannten Ekelrituale als
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handfeste Vergehen gegen Dienstvorschriften angeht, so kam die Untersuchungskommission zu einem eindeutigen Ergebnis: Der Bericht zitiert „den Flottentagesbefehl, der Äquatortaufen als ‚grundsätzlich erfreuliche Zeichen lebendiger Bordgemeinschaft‘ klassifiziert, die zum ‚festen Bestandteil des Dienstes an Bord von Schiffen und Booten geworden‘ seien und als ‚Brauch‘ das ‚Zusammengehörigkeitsgefühl der Besatzungen‘ stärkte“(Q10). Und mit Bezug auf den konkreten, hier thematisierten Fall war im Spiegel zu lesen: So sei die eklige Suppe in einem Schlauchboot an Deck, in die die Segelschüler zur Äquatortaufe eintauchen müssen, bevor sie einem als Meeresgott Neptun verkleideten Soldaten die Füße küssen, kein Erbrochenes, sondern eine Mischung aus frischen Lebensmitteln. Die braune Brühe sei ‚aus frischen Lebensmitteln, wie z. B. Mehl, Cornflakes, Schokolade, Knoblauch, Fisch und Käse hergestellt und mit Lebensmittelfarbe behandelt‘ worden, damit es [sic] ‚unappetitlich aussah‘. (Q10)
War also alles in bester Ordnung auf der Gorch Fock?
Dies ist eine nur differenziert zu beantwortende, letztlich wahrscheinlich individuell zu bearbeitende Moral- oder Geschmacksfrage. Aus dem angeführten Spiegel-Artikel (Q10) spricht jedenfalls auch eine gehörige Portion Unverständnis, geradezu Entrüstung, mit Skandalisierungstendenz. In der Logik der medialen Empörungsökonomie, kombiniert mit dem politischen Überlebenskampf eines wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens unter Druck stehenden Verteidigungsministers – ironischerweise trat dieser nur wenige Wochen nach der Suspendierung des Kapitäns selbst wegen Plagiaten in seiner Dissertation zurück – ließen sich die Vorgänge um die Gorch Fock sowohl medial wie politisch gut aufgreifen und sehr einfach verwerten. Zugleich jedoch erwiesen sich manche Vermutungen und Behauptungen im Rückblick als übersteigert und jene, die 2011 schon fast das Ende des Segelschulschiffes kommen sahen, wurden durch den weiteren Fortgang der Geschichte eines anderen belehrt. Für eine genauere Einordung der Vorkommnisse in den Jahren 2010/11 ist es daher sinnvoll, zwei Betrachtungsdimensionen zu unterscheiden: die ethnologische und die politische. Unter ethnologischer Perspektive ist das gesamte Geschehen recht einfach als Übergangsritual oder sogar Initiationsritus einzuordnen und somit vielfältig analysiert und beschrieben.3 Die Äquatortaufe ist in dieser Hinsicht einschlägig und bereits ausführlich dokumentiert.4 Im Anschluss an die Ethnologen Arnold van Gennep und Victor Turner oder den Religionswissenschaftler Mircea Eliade sind gerade die Praktiken der Unterwerfung und der Demütigung integraler Bestandteil des Aufnahmeprozederes
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von Initianten in die Gemeinschaft.5 Ekel, Angst, Schmerz und Einsamkeit sind hierbei bewährte Mittel der Drangsal und somit auch der Bewährung, so könnte man sagen, und derartige Praktiken finden sich nicht nur in sogenannten Stammesgesellschaften, sondern ebenso in Sportvereinen, Studentenverbindungen, Schulklassen, Jugendcliquen und auch beim Militär. Dies ist allgemein bekannt, wird immer wieder medial dokumentiert, kommentiert und auch so explizit ethnologisch eingeordnet, dass hierbei fast schon von einem Gemeinplatz gesprochen werden kann. Unter ethnografischer Perspektive ist dies alles also nicht weiter überraschend oder ungewöhnlich, es handelt sich viel eher um eine Art Standardsituation, die auch in der medialen Berichterstattung plastisch dargestellt und erläutert wird (Q11). Gleichwohl sorgen derartige Vorgänge regelmäßig in der Öffentlichkeit für Entsetzen und den Ruf nach Einhalt und Verbot.6 Von der ethnologischen Ebene ist daher die politische zu unterscheiden. Im parlamentarischen Berlin nämlich, in urbanen Redaktionsstuben und auf dem heimischen Sofa – bei der Zeitungslektüre – wirken Berichte von derartigen Vorkommnissen fremd und unpassend, geradezu aus der Wirklichkeit gefallen. In ihrer Gewalthaftigkeit und teilweise auch Archaik stehen sie in einem scharfen Kontrast zu den – zumindest vordergründigen – Prinzipien einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft, in der der Staat das Gewaltmonopol hat und sich an den Prinzipien der Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit ausrichten soll. Gerade auch in der Deutschen Bundeswehr wird als zentraler Bestandteil der sogenannten ‚inneren Führung‘ und damit des soldatischen Selbstbildes nach wie vor das Leitbild des ‚Staatsbürgers in Uniform‘ verfolgt (Q13). Dieses steht für die Werte der Demokratie, der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit. Wie kann es nur sein, so mag sich der eine oder die andere Politiker*in und auch der eine oder die andere Staatsbürger*in ohne Uniform gefragt haben, dass sich dort, gewissermaßen im Untergrund der staatsbürgerlichen Praxis, regelmäßig derartig konträre, scheinbar unzivilisierte und archaische Gepflogenheiten wie Tauch- und Taufrituale vollziehen? Diese Dissonanz war offenbar schwer auszuhalten und für viele nicht zu verstehen (Q14). Die Deutsche Marine reagierte jedenfalls auf die Vorwürfe, die Ausbildungsrichtlinien wurden überarbeitet, die Äquatortaufen und ‚Rituale‘ wurden verboten. Der MarineInspekteur Axel Schimpf meldete in dieser Hinsicht im Jahr 2013 stolz Vollzug: Die Stimmung ist insgesamt gut und man schaut nach vorne. Einige persönliche Eindrücke habe ich bei der Kieler Woche gewinnen können. Was ich dort an Bord gesehen und gehört habe, hat mir gut gefallen. […] Rituale waren noch nie erlaubt. Die dulden wir auch nicht in unserer Marine. Bestimmte Bräuche – so nenne ich sie mal – wie Äquatortaufen oder Polarkreistaufen sind seinerzeit mit der ‚Gorch Fock‘ in die Kritik geraten, obwohl sie sehr streng geregelt waren. Wir haben sie abgeschafft. (Q15)
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Maritime Ambivalenz als Ressource und Problem
Allerdings wird an anderen Stellen des zitierten Interviews auch deutlich, dass sich die aufgeworfenen Fragen und Spannungen nicht so einfach per Weisung wegbügeln ließen, sondern auch innerhalb der Marine durchaus unterschiedlich gesehen wurden. Gerade auch die sehr strikte, geradezu kategorische Antwort des befragen Marine-Inspekteurs auf die Nachfrage bezüglich der neu strukturierten Segelausbildung mit einem Übungsmast an Land, der altgediente Seebären als Kritiker auf den Plan gerufen hatte, ist hier aufschlussreich: Wer sind denn diese Kritiker? Das sind Menschen, die unter anderen Bedingungen aufgewachsen sind und Verantwortung getragen haben. Die Entwicklung ist weiter gegangen. Wir sind in einer völlig anderen Zeit angekommen. Der Übungsmast wird allgemein sehr positiv bewertet und gut angenommen. Es geht darum, Bewegungsabläufe zu üben und erste Trittsicherheit zu gewinnen. Wir nehmen die Kritik zur Kenntnis, aber ich sage: Wir wissen es besser. (Q15)
Offenbar bestanden also Dissonanzen sowohl innerhalb des Marineapparates als auch zwischen den spezifisch maritimen Erfahrungsräumen auf einem Segelschiff einerseits und den Regelungs- und Sicherheitserwartungen an die Ausbildungskontexte insgesamt andererseits. Hinzu kam die Inkongruenzerfahrung zwischen der landseitigen, Zeitung lesenden Öffentlichkeit und den bisweilen rüden oder unappetitlichen Vorkommnissen an Bord. Mit Blick auf das Rahmenthema dieses Bandes lässt sich allerdings auch sagen: Diese Dissonanz liegt nicht nur in den Dynamiken und Strukturen menschlicher Gemeinschaftsbildung, sondern auch in der maritimen Sache selbst. Das Meer ist oft kein freundlicher, sicherer Ort und ein Segelschiff keine Hollywoodschaukel, sondern auch ein Ort der Grenzerfahrung, der Ausgesetztheit und der Bewährung. Gerade dieser Umstand ist es, der den Weiterbestand des Segelschulschiffes argumentativ begründen half, wie der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus 2011 ausführte: Es gibt allgemein eine starke Neigung im Parlament, das Schiff weiter zu betreiben. Auch ich habe mich davon überzeugen lassen, dass bestimmte Ausbildungsziele auf einem Segler auf hoher See intensiver einzuüben und schneller zu erreichen sind. Zum Beispiel die Fähigkeit, auf engstem Raum auch unter Extrembedingungen zu funktionieren. (Q14)
Man kann also schlussfolgern, dass gerade in diesen ‚Extrembedingungen‘ und auch im Bruch mit den üblichen Gepflogenheiten, der Aufhebung ansonsten geltender Ordnungen und Maßstäbe, ein zentraler Reiz der Seefahrt selbst liegt und – so lässt sich darüber hinaus im Anschluss an Victor Turner festhalten – in dieser Destabilisierungs- und
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Entgrenzungserfahrung im Initiationsritual liegt auch der Clou der Schwellenphase. Damit soll gewalthaltigen Praktiken und diskriminierenden oder demütigenden Unterwerfungsritualen keineswegs das Wort geredet werden. Sicherlich gab es offenbar gute Gründe dafür, das Ausbildungsgeschehen auf der Gorch Fock einer genaueren Betrachtung und einer umfassenden Überarbeitung zu unterziehen. Doch meine zentrale These lautet: Die Gorch Fock als Ausbildungsschiff stellt neben allen didaktischen, traditionspflegerischen und nautischen Aspekten auch den Versuch dar, den gesamten Erfahrungs- und Bildhaushalt maritimer Archaik und Grenzerlebens, nicht zuletzt auch die Gefahren der See, lebensnah, pittoresk und attraktiv in den hochstrukturierten, regelkonformen und einem von Kontrollwunsch geprägten Ausbildungskontext des Militärs eines modernen und aufgeklärten demokratischen Rechtsstaates einzupassen. Grundsätzlich ist dies ein gewagtes Unterfangen auf Messers Schneide, ein Spiel mit dem Feuer. Denn wer die Geister maritimen Abenteuererlebens und Gefahrenkitzels ruft, der muss zumindest auch damit rechnen, dass sie entweder ein Eigenleben entwickeln oder eventuell gar nicht mehr so einfach loszuwerden sind. Es ist daher eigentlich erstaunlich, wie lange dies doch insgesamt weitgehend gut ging, und weniger erstaunlich, dass es irgendwann – nämlich im Jahr 2010 – dann doch gehörig knirschte und krachte.
Transformation und Wiedergeburt der Gorch Fock
Die streckenweise lustvoll empörte Diskussion verebbte zwar schließlich und nach einer Zwangspause lief das Schiff im November 2012 wieder zu einer Ausbildungsfahrt aus. Doch die Gorch Fock war noch nicht am Tiefpunkt ihrer Karriere angelangt, schon 2015 spitzte sich die Situation in anderer Hinsicht wieder dramatisch zu: Das Schiff musste in die Werft, es wurden erhebliche technische, das prognostizierte Maß weit übersteigende Mängel deutlich, dem Schiff blieb nichts erspart: Kostenexplosion, Werftpleite, Korruptionsvorwürfe innerhalb der Marine. Aus einigen prognostizierten Werftmonaten wurden rund sechs Jahre, aus einer Reparatur nahezu ein Neubau, aus zunächst erwarteten 10 Mio. Euro Kosten schließlich rund 135 Mio. Euro. Die Vorwürfe angeblicher Schikanen hatten sich zwar weitgehend in Luft aufgelöst, doch Ende 2018 stand das Projekt Gorch Fock trotzdem kurz vor dem endgültigen Aus. Das Ende dieser Episode ist allerdings versöhnlich (Q16). Die Gorch Fock ist Ende 2021 zurück und wieder unterwegs (Q17), aktuell (Januar 2022) bremst nur noch das Coronavirus die Wiederaufnahme des regulären Ausbildungsbetriebes (Q18). Es ist zu hoffen, dass sich künftig keine Unfälle mehr ereignen, doch ein Segeltörn ganz ohne Schrecksekunden, Adrenalin beim Klettern im Rigg und kräftezehrende Manöver in ungemütlichem Wetter wäre eben auch nicht das, was die Kadett*innen erwarten. Die Seefahrt, und mit ihr die Seeleute, stellen nicht nur das romantisch verklärte Gegenbild einer auf
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Kontrolle und Sicherheit bedachten postindustriellen Gesellschaft dar, sondern auch ihr Schreckgespenst. An der Gorch-Fock-Episode wird die potenzielle Unvereinbarkeit von maritimen Entgrenzungsfantasien und zivilgesellschaftlichem Sicherheitsbedürfnis besonders deutlich. Die Frage ist nur: Was bliebe eigentlich vom Abenteuer noch übrig, wenn es ganz ohne Restrisiko daherkäme? Von diesem Spannungsverhältnis lebt die maritime Faszination, so auch dieser Band, manchmal ist es jedoch nur schwer auszuhalten und gänzlich aufzulösen ist es nie. Die See bleibt immer potenziell grausam und unberechenbar, sie macht etwas mit den Menschen, die sie erleben und befahren und sogar die Gorch Fock selbst hat, so könnte man sagen, eine liminale Phase durchlaufen – samt Destabilisierung, Transformation und anschließender Wiedergeburt.
Bibliografie Quellen
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The Cruel Ship
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Literatur
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Anmerkungen 1
Bei diesem Beitrag handelt es sich um die erweiterte und aktualisierte Fassung von Überlegungen in Heimerdinger 2015, er arbeitet schwerpunktmäßig mit digital verfügbaren Quellen, vornehmlich der medialen Berichterstattung, zum Thema. Der Übersichtlichkeit halber werden im Text nur Kürzel angegeben, das ausführliche Quellen- und Verweisverzeichnis mit Auflösung der Kürzel findet sich am Ende des Beitrags. 2 Zur Gorch Fock existiert eine Fülle an vornehmlich populärer Sachbuchliteratur, die hier nicht im Einzelnen aufgelistet wird, exemplarisch sei auf die jüngeren Publikationen Kaack (2012) und Huck (2021) verwiesen. 3 Vgl. klassisch van Gennep (2005) und Turner (2005). 4 Vgl. Bronner (2006) und etwa auch Duisberg (2003). 5 Vgl. Eliade (1988), hier zum Beispiel S. 14, 132 oder 136. 6 Vgl. hierzu etwa die Berichte im Jahr 2017 über jahrelange Vorgänge in österreichischen Skiinternaten (Q12).
Skorbut, Fieber und ‚Melancholey‘ Über Seereisen in den Tagebüchern und Berichten von Soldaten und Wundärzten der Vereinigten Ostindischen Kompanie der Niederlande (VOC) Marco Kollenberg
Tosende Stürme mit haushohem Wellengang, Schiffbruch durch gefährliche Untiefen und verborgene Riffe, oder aber das klassische aus dem Meer hervorbrechende Ungeheuer, in dessen Rachen die vor Schreck erstarrten Seeleute um Hilfe rufend verschwinden. So oder so ähnlich lassen sich die häufigsten Assoziationen beschreiben, wenn nach ‚Tod auf dem Meer‘ in der Frühen Neuzeit gefragt wird – aus gutem Grund! Und wenngleich die Erzählungen über unbekannte Untiere der Tiefe um 1650 langsam an Attraktivität verloren, versprach die Zunahme der lesefähigen und zahlungskräftigen Bevölkerung während des gesamten 17. und 18. Jahrhunderts dennoch ein verlockendes Geschäft für jemanden, der seine Reiseerlebnisse in Form eines spannenden Berichtes veröffentlichen konnte. Zunächst etwas kontraintuitiv zu diesen heute offenkundigen Profitgaranten, finden sich in den frühen Reiseberichten aber auch jene seemännischen Alltäglichkeiten, die es uns heute ermöglichen, ein sehr genaues Bild vom Leben an Bord der Handels- und Transportschiffe zu zeichnen. Bei der Lektüre der zahlreich erhaltenen deutschen Reiseberichte wird recht schnell deutlich, dass auf dem Weg nach Ostindien1 die plötzlich auftretende Gefahr durch Sturm, Riff und Schiffbruch zwar omnipräsent war, der Tod jedoch meist eher schleichend an Bord um sich griff, in Form von Skorbut, Fieber und Ruhr. Anhand der Reiseberichte verschiedener deutscher Soldaten – und besonders einiger Wundärzte – der Vereinigten Ostindischen Kompanie der Niederlande (VOC)2 soll die Wahrnehmung dieser Seite der Seefahrt, quasi eine Chronologie von Mangel, Fieber und Seuche, etwas genauer betrachtet werden.3 In der zweiten Hälfte sollen dann die Ärzte selbst sowie ihre Befähigung, diesen Gefahren zu begegnen, in den Mittelpunkt gerückt werden. Begonnen werden muss mit dem Problem der Nahrungsmittelversorgung, aus dem sich auf See oft weitere Komplikationen für die Reisenden ergaben. Grundsätzlich war es jedoch nicht primär der Hunger, der den VOC-Angestellten die Überfahrt erschwerte, denn für die bis zu acht Monate dauernde Reise zwischen den Niederlanden und Batavia wurden erhebliche Lebensmittelvorräte an Bord eingelagert und streng rationiert.4 Entsprechend gehört eine Beschreibung der Verpflegung an Bord wie selbstverständlich
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Abb. 1: VOC-Soldaten in Uniform um 1783. Noch bis in die 1740er Jahre bestand für die angeheuerten Kompaniesoldaten kein Uniformzwang, sodass die erschöpft und zerschunden in Indonesien anlandenden Männer lange Zeit eher an Söldner aus dem Dreißigjährigen Krieg erinnert haben dürften. Quelle: Rolland, H.: Afteekening van de Uniform voor de Militairen in Indie, Zeichnung von 1783, Atlas of Mutual Heritage / Nationaal Archief, NL-HaNA_4.VEL_1226, Public Domain. https://commons. wikimedia.org/wiki/File:AMH-5460-NA_Uniform_for_VOC_soldiers.jpg
in nahezu jeden Bericht. Der spätere VOC-Buchhalter Christoph Schweitzer vermerkt beispielsweise wie […] für jede Persohn / alle Wochen 3 pf. Zweybacchen Brod / ein halb Schoppen Essich / halb so viel Losbonisch Oel / und täglich 3 Venthausen voll Brandtenwein ¾ Maß scharpff Bier / darzu Stockfisch / oder Erbis in blossem Wasser gekocht / darüber ein wenig Oel und Essich gegosen ist / deß morgens wird außgetheilet / je vor 7. und 8. Personen eine hülzene Schüssel voll gekochte Grütz […] Sonn- Dienst- und Donnerstags Mittags wird / Speck oder Fleisch gekocht.5
Für Probleme sorgte also weniger ein Mangel an vorhandenen Lebensmitteln, von Extremfällen einmal abgesehen, als vielmehr die aus der Notwendigkeit zur langen Haltbarkeit entstehende Eintönigkeit der Speisen.6 Bei zunehmender Reisedauer machten sich bei den Besatzungsmitgliedern Defizitärkrankheiten bemerkbar, die unbehandelt schnell bedrohlich werden konnten. Gerade die Folgen von Skorbut wurden meist recht drastisch geschildert. So führt Wundarzt Johann Schreyer bereits vor dem Kap der Guten Hoffnung aus wie
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[…] jedem das Maul und Zahnfleisch so erfaulet / daß neben den unleidlichen Gestanck die Zähne so loß stunden / daß man sie nicht allein mit den Fingern heraus nehmen / sondern auch mit der Zungen loß stossen kunte.7
Dennoch scheint es nicht richtig, die gängigen Vorurteile des unbehandelbaren Skorbuts weiter zu tradieren, da bei genauerer Betrachtung schon um 1600 auf verschiedene Weise und teils mit Erfolg versucht wurde, diesem Einhalt zu gebieten. Die Tatsache, dass die Krankheit dennoch so prominent in den Schilderungen aus dem 17. und 18. Jahrhundert vertreten ist, verdeutlicht aber, wie umfassend der Vitaminmangel auf hoher See trotz bereits bekannter Behandlungs- und Vorbeugungsmethoden war.8 Neben den fatalen Folgen für das Zahnfleisch der Seefahrer war die Vitamin-CMangelerkrankung auch für Muskelkrämpfe verantwortlich, die Arbeiten an Deck unmöglich machen konnten.9 Unter Umständen konnte es also vorkommen, dass auch auf einem eigentlich voll besetzten Schiff zum Ende der Reise akuter Personalmangel auftrat, was die Handhabung des Schiffes im Ernstfall enorm erschwerte. Spätestens nach etwa fünf Wochen auf See, also meist vor der Westküste Afrikas, begann das in großen Holzfässern mitgeführte Trinkwasser zu faulen. Es wurde auf länger haltbares Bier zurückgegriffen, oft hatte die Mannschaft zuvor aber schon einige unliebsame Erfahrungen machen müssen. VOC-Soldat Daniel Parthey, der für diesen Reiseabschnitt auch die ersten Verstorbenen notiert, schildert recht eindrücklich, dass das Wasser zu diesem Zeitpunkt ungenießbar geworden war, […] weil unser Trinck Wasser (als in welchem Würmer / gleich den grossen Käs-Maden sich befunden) so stinkend worden / daß man auch / wann man solches trinken wollte / die Nasen zuhalten muste.10
Neben den Würmern und Maden, die die Männer wohl oder übel aus dem Trinkwasser filtern mussten, beinhaltete das gar nicht mehr so erfrischende Nass aber immer öfter auch Salmonellen, womit der Themenkomplex der Hygiene an Bord berührt wird. Musste an Bord über längere Zeit auf die Ausgabe faulenden Wassers zurückgegriffen werden, ließen sich bald darauf die ersten Typhusfälle an Bord beobachten. Die in den Berichten als Fleckfieber oder hitziges Fieber bezeichnete Krankheit eröffnet dabei einen für lange Seereisen charakteristischen Krankheitszyklus: Unbehandelt in vielen Fällen durch Darmperforation tödlich, leidet der Typhuskranke auch bei guter Behandlung an erheblichen Durchfallerscheinungen. Auf den Schiffen der VOC befand sich mit dem Galion am Bug nur ein vorgeschriebener Platz, an dem sich die Besatzung erleichtern konnte, allerdings war dieser Ort bei Sturm und Wellengang lebensgefährlich und daher nicht immer zugänglich, wie der eigentlich zum Kaufmann ausgebildete Soldat Johann Gottlieb Worm 1709 auf seiner Reise feststellen musste:
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Bey dergleichen See-Stürmen ist es gefährlich, in die so genannte Gallion zu gehen, […] wo jeder seine Nothdurft s.v. verrichten muß, […], indem die Wellen beständig in dasselbige schlagen, und es öfters gantz mit dem Wasser überstürtzen.11
Hielt die Sturmphase zu lange an, oder war die Person bereits krank, blieb alternativ oft nur der Gang in die Bilge. Die Bilge, also die unterste Ebene des Schiffsrumpfes, in der gerade im 16. und 17. Jahrhundert auch Sand als Ballast mitgeführt wurde, verwandelte sich in solchen Fällen innerhalb weniger Tage in eine stinkende Kloake, in der es vor Parasiten und Ratten nur so wimmelte.12 Es dauerte dann nicht lange, bis andere Mannschaftsteile mit dem Ungeziefer und den Fäkalien in Berührung kamen, sodass die in der Schifffahrt so gefürchtete Dysenterie bzw. die Ruhr in großem Umfang auf dem Schiff grassierte. Um dann der Dehydrierung zu begegnen, die im Zuge dieser Durchfallerkrankung drohte und die durch die salzige Nahrung nur verschlimmert wurde, musste mehr Wasser ausgeschenkt werden, was den Kreislauf von Neuem beginnen lassen konnte. Christoph Frik beschreibt dieses Reisestadium recht anschaulich: […] dannenhero bey täglich anwachsender Hitze / und […] verstunckenen Wasser / ob man gleich noch seine Ranzion reichlichen empfienge / viele anfiengen zu erkrancken / und am Scharbock / rother Ruhr und Wassersucht niederzuliegen / als bekamen wir einen rechten Spital auf unserm Schiff.13
Er führt zudem aus, dass während der Überfahrt immer wieder Fälle der „Rindsblattern“ auftraten, die Gefahr auf See also nicht nur von unerwünschten Parasiten drohte, sondern auch die Nähe zum mitgeführten Nutzvieh tödlich sein konnte. Während dem Skorbut ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die vorgeschriebene Ausgabe von Zitrusfrüchten beizukommen war,14 standen Wundärzte an Bord den Infektionskrankheiten fast machtlos gegenüber – zumal, von den Mangelerkrankungen abgesehen, das oft schon beim Auslaufen aus dem Heimathafen geschwächte Immunsystem der Männer die perfekten Voraussetzungen für die Ausbreitung von Krankheiten bot.15 Natürlich wurde das Sterben an Bord aber auch nicht einfach hingenommen. Der festen Überzeugung, dass unter anderem die schlechten Dämpfe aus dem Schiffsrumpf die Krankheiten verbreiteten, wurde regelmäßig Essig ausgespritzt oder Schießpulver abgebrannt, um dieses Miasma zu vertreiben. Laut Baron von Wollzogen, in der VOC zunächst als Leutnant unter Vertrag genommen, wurde am Ende des 18. Jahrhunderts sogar gezielt versucht, den oben beschriebenen Kreislauf zu durchbrechen, indem „[…] jedem Soldaten täglich 2 Bouteillen Wasser zuzutheilen, und die Reinigung des Wassers durch glühende Kugeln, und durch Sandhinneinwerfen zu bewirken.“16 Gängig war zudem der Versuch der Chirurgen, die Kranken räumlich so gut wie möglich von den anderen Besatzungsmitgliedern zu trennen. Frik zufolge wurden beispielsweise „[…]
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Abb. 2: Mit einer Länge von 68 Metern, 14 Metern Breite und einer Ladekapazität von 1200 Tonnen war die Prins Willem (hier der Replikatbau) das vielleicht größte Retourschiff der VOC-Flotte. Nur 12 Jahre nach Kiellegung erlitt sie 1662 während eines schweren Sturms vor der Küste von Madagaskar Schiffbruch. Quelle: Replica van het VOC-schip Prins Willem (VOC- en vlaggenschip), aangemeerd bij de voormalige marinewerf Willemsoord in Den Helder, Foto durch: Winkelmann, 2005, CC BY-SA 3.0. https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Prins_Willem_Replica_VOC-schip.JPG
da dann auf Pach-Boort die Kranken / und auf Stier-Boort die Gesunden einlogieret […].“17 Wegen der beengten Verhältnisse auf dem Schiff waren diese Trennungen aber oft kaum praktikabel. Die Schiffe der VOC maßen um 1700 je nach Typ etwa 50 x 12 Meter, auf denen nicht selten 300 und mehr Personen über Monate untergebracht werden mussten.18 Ansteckungen durch Tröpfcheninfektionen, Flohbisse und dergleichen mehr waren hier kaum vermeidbar. Und den Stechmücken, die in dem sich ebenfalls in der Bilge ansammelnden Sickerwasser ideale Lebensbedingungen fanden und durch die Malaria auf die Boote kam, war ohnehin kaum beizukommen. Auch wenn sie von den Wundärzten an Bord kaum bekämpft werden konnte und vergleichsweise selten in den Berichten auftaucht, soll anhand der sogenannten ‚Melancholey‘ kurz auf die psychischen Strapazen eingegangen werden, mit der die Männer während einer solchen mehrmonatigen Reise zu leben hatten. Verbalisiert wurde mit diesem Begriff ein Zustand der Trägheit, der Trauer und des Unwohlseins. Ein im Zuge der sie umgebenden Extremsituation – räumliche Beengtheit, ständiger Wechsel zwischen Angespanntheit und Langeweile, Unsicherheit durch das ungewohnte Umfeld und v. a. die nicht nachgebende Hitze –, bei einem nicht genau zu beziffernden Pro-
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zentsatz der Passagiere auftretender Angst- bzw. Trägheitszustand, der humoralpathologisch im 17. Jahrhundert gemeinhin mit der Milz und einem Ungleichgewicht der schwarzen Galle in Verbindung gebracht wurde.19 Vereinzelt schrieben die Soldaten auch von „melancholischer Raserey“, wobei die zuvor zentrale Trägheit einem mal aggressiven, mal verzweifelten Wahn weicht. Parthey zufolge war [d]en 22. diß / […] ein Soldat / Peter Kloppenburg / aus melancholischer Raserey über Borth gesprungen / und hatte sich in der See ersäuft […]“, kurz darauf „[…] fieng das Volck nicht allein Hauffenweis an zu erkranken / sondern es wurden auch ihrer etliche darunter melancholisch und fast rasend.20
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch als Randphänomen kaum beachtet, wurden der im schlimmsten Falle den Freitod des Betroffenen herbeiführenden Melancholie zunehmend Aufmerksamkeit und spätestens seit Beginn des 18. Jahrhunderts umfangreiche medizinische Abhandlungen gewidmet, in denen versucht wurde, den meist rat- und hilflos diesem Zustand gegenüberstehenden Wundärzten Erklärungen und Behandlungsmethoden an die Hand zu geben.21 Übergangen werden darf natürlich nicht, dass das Leid der Männer mit der Ankunft in Batavia kein abruptes Ende fand. Jene Neuankömmlinge, die bereits erkrankt ostindischen Boden betraten, fanden sich ohne Umschweife im örtlichen Lazarett wieder, um dort behandelt zu werden. Van Gelder führt in seiner Abhandlung aus, dass hier oft genug das Gegenteil von Heilung bewirkt wurde,22 was mitunter auch am fehlenden Personal gelegen haben mag, wie der Soldat Christoph Langhans für das Jahr 1694 zu berichten weiß. Demnach sei zwar die Ausstattung gut, allerdings „[…] fehlet es doch am besten / nehmlich an denjenigen / welche Doctores seyn sollten […].“23 Tatsächlich finden wir die von Langhans erwähnte gute Ausstattung auch bei den Wundärzten an Bord wieder. So wurde im Vorfeld jeder Asienfahrt vonseiten der Kompanie eine Medizinkiste gestellt, befüllt entweder direkt von der VOC oder vom örtlichen Apotheker, in der sich etwa 130–150 unterschiedliche Zutaten befanden, mit deren Hilfe eine große Vielfalt an medizinischen Stoffen hergestellt wurde. Aus Pudern und Tinkturen konnten Pflaster bereitet, mit diversen Kräutern Fieber bekämpft werden.24 Skalpelle und andere Instrumente hatte der unter Vertrag genommene Chirurgus aber selbst zu beschaffen, was deren Qualität an dessen finanzielle Mittel band. Um dennoch einen gewissen Standard zu garantieren, wurde dem Schiffsarzt, neben den üblichen zwei Monatsgehältern zur Verpflegung, oft ein drittes Monatsgehalt nach der Heuer ausgezahlt, sodass notwendiges Material in Amsterdam beschafft werden konnte.25 Es darf außerdem nicht darüber hinweggesehen werden, dass jene, die eigentlich angetreten waren, Leben zu retten, durchaus auch den Tod bringen konnten. Mit dem Fortschreiten des 18. Jahrhunderts stellte sich bei der VOC aus verschiedenen Gründen
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ein Mangel an qualifiziertem Personal ein, der sich nicht nur bei zum Beispiel Zimmerleuten, sondern eben auch bei den Wundärzten bemerkbar machte. Die sinkenden Einstellungsvoraussetzungen konnten dafür sorgen, dass sich mitunter ein gerade zwanzig Jahre alter Barbier in Ausbildung plötzlich als dritter Chirurg auf dem Weg nach Batavia wiederfand. Eindrücklich wird dies zum Beispiel von Jacob Haafner beschrieben, dessen Vater (selbst Schiffsarzt) bei der Überfahrt nach Batavia 1766 verstarb und den dreizehnjährigen Sohn zurückließ. Der erwachsene Haafner beschwerte sich später in seinen Ausführungen darüber, dass unter den passenden Voraussetzungen, also bei andauerndem Personalmangel und hinzukommenden Todesfällen unter dem medizinischen Personal, der dritte Schiffschirurg schnell und notdürftig als frisch beförderter oberster Chirurg auf die Patienten losgelassen wurde, was mitunter fatale Folgen für die ohnehin ausgezehrten Menschen auf den Schiffen oder in den Lazaretten hatte.26 Verschwiegen werden darf aber ebenso wenig, dass schon im 17. Jahrhundert einige VOC-Chirurgen die variierende Qualifikation ihrer Kollegen bemängelten. So habe Caspar Schamberger zwar 1643 eine umfassende praktische Prüfung nach den Richtlinien der Amsterdamer Chirurgengilde ablegen müssen, bei welcher neben Standardprozeduren – insbesondere dem Aderlass – auch hochkomplexe Eingriffe vorzuführen waren, etwa das Öffnen und Schließen eines Schädels. Demgegenüber sei es in Middelburg aber noch bis 1648 möglich gewesen, sich als angehender Schiffschirurgus von dieser Prüfung einfach freizukaufen.27 Auch Christoph Frik beschreibt zu Beginn seiner Ausführungen die Umstände seiner Einstellung: Die Präsentation vor den „Herren Chirurgorum“28, die Zahl der zum Prüfexamen anwesenden Personen, wie er die an ihn gestellten Fragen beantworten und anschließend recht lange auf das Ergebnis der Prozedur warten musste. Den Inhalt der Prüfung aber verrät der angehende zweite Schiffsarzt leider nicht, stattdessen widmet er sich dem Lohn, der Zusammensetzung der Flotte und dem Prozess der Einschiffung.29 Daraus darf nicht abgeleitet werden, dass die Wundärzte auf See weniger fähig waren als ihre an Land praktizierenden Kollegen. Nach Bruijn ist lediglich festzustellen, dass die Einstellungsanforderungen für einen Schiffsarzt geringer waren und ein solcher mit einem See-Examen nicht einfach an Land praktizieren durfte. Gleichzeitig war die Kompanie wohl zu dieser Kompromisslösung gezwungen. Eine niedrigere Einstellungshürde vermochte wohl die geringe Attraktivität des Arbeitsplatzes in Teilen zu kompensieren.30 Auch wenn es den Schiffsärzten an Ausrüstung selten mangelte, Brüche und andere offene Wunden professionell versorgt und zum Beispiel Fieber erfolgreich behandelt werden konnte, verstarben im Verlauf der Überfahrt nach Asien dennoch zwischen 5 Prozent und 23 Prozent der Besatzung.31 Zuletzt bleibt also die Frage, warum diese angesprochenen stillen Gefahren nicht deutlich prominenter beschrieben wurden, gerade auch in den Aufzeichnungen der Chirurgen? Grundsätzlich hängt der Inhalt der Aufzeichnungen notwendigerweise von der Wahrnehmung der Reisenden ab, sodass Alltäglichkeiten mit fortlaufender Reisedau-
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er oft immer stiefmütterlicher festgehalten werden. Der Beschreibung fremder Völker, der unbekannten Fauna oder der den Alltag durchbrechenden Ereignisse wird bei der Ausformulierung fast zwangsläufig der Vorzug gegeben – zumal gerade bei den veröffentlichten Reiseberichten immer auch dem Interesse des Lesepublikums Rechnung getragen werden musste, insbesondere dann, wenn Niederschrift und Veröffentlichung im Namen eines adeligen Förderers oder vermögenden Schirmherren geschahen. Unter anderem deshalb erscheinen auch in besonders umfangreichen Berichten – die Ost-Indianischen Reisen von Christoph Frik umfassen beispielsweise knapp 350 Seiten, jene von Christoph Langhans beinahe 700 –, die Auseinandersetzungen mit Krankheit und Tod vergleichsweise wortkarg. Zudem, dies sei als Schlusswort betont, entpuppte sich der Dienst am anderen Ende der Welt für die Männer der VOC nicht selten als genauso lebensbedrohlich wie die monatelange Reise auf der oft grausamen See.
Bibliografie Reiseberichte
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Skorbut, Fieber und ‚Melancholey‘
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Der Begriff ‚Ostindien‘ bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht nur auf das östliche Indien selbst, sondern umfasst vielmehr weite Teile Asiens und Südostasiens, je nach Bericht beginnend bereits am Kap der Guten Hoffnung gen Osten hin bis zur japanischen Küste. Die Vereinigte Ostindische Kompanie der Niederlande (VOC) agierte von 1602 bis 1798 als mit umfassenden Monopol- und Herrschaftsrechten ausgestattete Handelskompanie und verschiffte in dieser Zeit knapp eine Million Menschen in unterschiedlichen Angestelltenverhältnissen v. a. an ihre zahlreichen Niederlassungen in Südostasien. Die veröffentlichten Reiseberichte deutscher VOC-Angestellter bieten sich zu diesem Zweck v. a. deshalb an, weil eine vergleichsweise große Zahl an Schriftstücken erhalten geblieben und leicht einsehbar ist. Da die Kompanie den im Laufe der Zeit immer größer werdenden Personalbedarf unmöglich mit den eigenen Landsleuten zu stillen vermochte, wurden insbesondere für den Soldatendienst viele Arbeitsmigranten eingestellt; auffallend ist besonders die hohe Zahl deutscher Arbeiter und Soldaten auf den VOC-Schiffen. Zu dieser Thematik sei speziell van Gelder, 1997/2004 als weitere Lektüre empfohlen. Demnach stammten im Durchschnitt 51 Prozent der VOC-Soldaten aus dem Ausland, 45 Prozent aus Deutschland und dem Ostseegebiet. Demgegenüber kamen, je nach betrachtetem Jahr, weniger als 20 Prozent der Matrosen aus den deutschsprachigen Gebieten (vgl. Gelder, 2004, S. 44). Ein durchaus bemerkenswerter Anteil des Kompaniepersonals entfiel also auf v.a. deutschsprachige Männer, was den umfangreichen Fundus erhaltener Berichte erklärt. Ein Halt am Kap der Guten Hoffnung wurde erst ab der Mitte des 17. Jahrhunderts zur Pflicht. Zuvor gab es dort kein befestigtes Depot, vgl. Bruijn, 2009, S. 77. Schweitzer, 1688, S. 7. Vgl. Bruijn, 2009, S. 73. Schreyer, 1681, S. 11 f. Vgl. Mayer, 2012, S. 38. Über die genaue Herkunft des Skorbutes wurde lebhaft gestritten. U. a. wurde die Ursache der Krankheit in der unzureichenden Kleidung der Seeleute vermutet oder dem hohen Salzgehalt der Nahrung zugeschrieben, verdorbenes Wasser galt als die Krankheit fördernd und eine Übertragung über die Atemluft wurde diskutiert. Die schon um 1600 in England aufkommende Idee, der Krankheit durch Mitfuhr von Zitronenwasser vorzubeugen, setzte sich letztendlich aber nicht durch, vgl. ebd. S. 39. Um einen Überblick darüber zu bekommen, wie differenziert die Ursachen und die Pathogenese des Skorbuts vor 1700 beschrieben wurden, sei allgemein auf Mayer, 2012 verwiesen. Die Krankheit wurde daher auch oft als ,Faulfieber‘ bezeichnet, nicht etwa, weil das Zahnfleisch zu faulen begann – auch wenn das bei langanhaltendem Vitaminmangel ebenfalls
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geschah –, sondern weil die Männer nicht länger die Kraft hatten zu arbeiten. Mehr dazu vgl. u. a. Schmitt, 2008, S. 272. Parthey, 1698, S. 24. Worm, 1737, S. 27. Genauer bei Schmitt, 2008, S. 253–256. Frik, 1692, S. 20 f. Ab 1760 wurde immer häufiger Sauerkraut als Vitamin-C Lieferant mitgeführt, vgl. Bruijn, 2009, S. 73. Dies gilt besonders für jene Männer, die in den Niederlanden bis zur Musterung bei gewinnorientierten sog. Seelenverkäufern Unterkunft gefunden hatten und oft schlecht versorgt wurden, oder für jene Mannschaften, die wegen ungünstiger Witterung wochenlang auf dem Schiff ausharren mussten, bis ein Auslaufen möglich war, vgl. Bruijn S. 72. Ausführlich zum System der Seelenverkäufer vgl. auch van Gelder, 2004, S. 107–112. Wollzogen, 1794, S. 424. Frik, 1692, S. 20. Für die genaue Unterbringung der Mannschaft an Bord, die Beengtheit und gerade bei Sturm ungenügende Belüftung vgl. Bruijn, 2009, S. 73. Vgl. Mayer, 2012, S. 47. Parthey, 1698, S. 22 f. Behandelt wurde die Thematik beispielsweise in der 1768 in London erschienenen „Dissertation upon the Nerves“ oder in „A Cure for Melancholy“ von 1777. Eine Übersicht ermöglicht hier: Dickson, Leigh Wetherall u. a. (Hg.): Depression and Melancholy, 1600–1800. Vol. 2 Medical Writings, London 2012, S. 141–147 bzw. S. 147–158. Demnach verloren hier zwischen 1640 (dem Jahr, in welchem das Binnenhospital den Betrieb aufnahm) und 1798 etwa 160.000 Personen ihr Leben. Besonders erschreckend: Gerade im 18. Jahrhundert stiegen die Sterbeziffern immer weiter. Knapp 25 Prozent der zwischen 1730 und 1798 eingelieferten Patienten verstarben laut van Gelder im Hospital in Batavia, vgl. van Gelder, 2004, S. 136. Langhans, 1705, S. 179. Vgl. Bruijn, 2009, S. 67. Vgl. ebd., S. 69. Vgl. Kohl, 2006, S. 95–98. Michel, 1999, S. 27. Wenngleich derartige Aussagen in Reisebeschreibungen durchaus im Sinne der Eigenprofilierung erdacht sein können, erscheint die Möglichkeit des Freikaufs in Anbetracht der Profitorientiertheit der Organisation doch durchaus glaubhaft. Frik, 1692, S. 5. Ebd., S. 5 f. Ausführlicher zu den verschiedenen abzulegenden Examina und dem geringen Ansehen der Schiffsärzte unter ihren Kollegen vgl. Bruijn, 2009, S. 62 f. Trotz der gesundheitsgefährdenden Bedingungen an Bord der Schiffe bilden Mortalitätsraten von 23 Prozent eine extreme Ausnahme, nachweisbar immer dann, wenn eine neuartige Viruskrankheit die Besatzung heimsuchte oder eine bekannte Erkrankung wie Typhus durch besondere Umstände begünstigt wurde, vgl. Bruijn, 2009, S. 74.
When Dying is not the Journey’s End Fighting, Accepting or Overcoming Death at Sea around 1600 Jan Simon Karstens
In his report about a futile attempt to build a colony in North America, the English merchant and privateer Edward Hayes tells his readers about a small ship facing a raging storm in mid-September 1583.1 He describes waves as high as towers and howling winds breaking the sails. In the midst of this furious thunderstorm, he found himself sailing east and fighting for his way home against the raging elements. Naturally, Hayes was worried for his own safety; however, he was even more concerned about the life of the expedition’s commander Humphrey Gilbert. The nobleman had deliberatly set sail on the smallest ship of the fleet, called the Squirrel, a tiny vessel compared to Hayes’ own ship. And as Hayes later claimed, it was to be on the deck of this small ship where he saw Gilbert for the last time. During a short calm, Gilbert was standing on the deck of the Squirrel, holding a book to his heart and allegedly called out the words: “We are as near heaven by sea as by land”2 across the sea. Shortly afterwards the storm hit again – this time even harder. And so it came that, as reported by Hayes, “the Frigat was devoured and swallowed up of the Sea.”3 Centuries later, Hayes’ report caught the eye of the American scholar Mary C. Fuller who analyzed it closely.4 To answer the question how Hayes dealt with Gilbert’s death at sea she put the event into context.5 Edward Hayes was a partner of Gilbert who wrote his report with the intention of picking up after a disappointing voyage and rallying support for yet another attempt at colonization. For this, he needed to give meaning to the death of the project’s most prominent and influential leader. Furthermore, he had to explain, why the expedition had been unsuccessful in the first place. As Fuller concluded, Hayes achieved both things by putting the blame on the dead man and presenting his death as an act of redemption. Since Hayes was not the only one with his money and credibility on the line, he soon found others willing to back his line of argumentation.6 Thus, he and the others stated that greed and a lack of devotion to the colonial ideas of the project had been the key issue for its fall. Gilbert, they all said, had been too eager to include privateering and had cared so much for silver stones that he neglected colonization. In doing so, Gilbert had angered God himself who actually wanted England to colonize the New World and convert its inhabitants.7 This is why God had sent mishaps to the expedition and thereby forced its return. Fuller shows how
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Hayes insinuates that Gilbert himself had understood this to be a sign of God’s wrath and that he had therefore chosen to make his voyage home a painful pilgrimage of redemption. This was the reason why he had travelled on his smallest ship and faced the storm calmly. Going even further, Fuller argues that Hayes turns the scene of Gilbert’s death into a moment of redemption for all of England’s maritime endeavors. Because Gilbert had chosen to die, England could send out further expeditions and count on God’s protection. This was possible because the sea – in the narratives of Hayes and others – was the place where men had to face God’s judgement and could earn redemption or prove their faith. These findings are similar to those presented by the Swiss historian Suzanna Burghartz in an article on failure and death in early modern travel reports.8 She first made the point I expanded on in my book on failed attempts to colonize the Americas, that in talking and writing about setbacks there lay opportunities to create identities, vilify enemies and promote ideas. I am including this reference because this chapter draws from the collection of sources I have acquired for my Habilitation to offer new insights into this volume’s key questions.9 This chapter is based on an examination of English and French literary sources, travel reports to be precise, from the middle of the sixteenth to the early seventeenth century that share three characteristics: They portray the sea as a space of danger and death; they present dying as merely one part of a greater journey men undertake when they sail out into the great blue; and finally, they all focus on storms, which connects them well to the case of Humphrey Gilbert. By looking more closely at three different ways of writing about death at sea the chapter will explore how different authors and travellers between 1578 and 1625 imagined the sea itself. Each way will be analyzed in a subchapter of its own: First, fighting against death; second, accepting death; and third, coming back from the dead.
Fighting death
In a heavy storm in July 1578, fifteen English ships had to fight for their lives in the icy waters between Greenland and Baffin-Island and thus provided several authors with a story on which they built the nucleus of the first collective heroification of the common sailor in English history.10 The authors of the travel narratives were all on board the ships themselves, when the impressive fleet had crossed the Atlantic to reach the permanently frozen Baffin-Island. There, they were supposed to build a fort with a permanent garrison, set up a mining operation to dig for gold in the frozen ground, and find a northwestern passage into the Pacific. For the commander of this undertaking, the experienced privateer Martin Frobisher, it was his third and grandest voyage to the
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island. On his first visit, he had scouted for a passage and claimed to have found its entrance, and brought home some rocks. After certain metallurgists claimed they could extract gold from these rocks, a second, bigger expedition followed, this time backed by a whole company of investors. From this second expedition, Frobisher and his men brought home tons of rocks, carved out of the frozen ground. Before the promised gold was even brought forth, Frobisher and his partners pressed for further investment and an even bigger third expedition. His third fleet was scattered apart by storms and found the entrance into the presumed passage blocked by icebergs. While the crews were waiting for an opening, things took a turn for the worse. The wind caused the giant icebergs to move and floating ice broke off, locking the ships in place. George Best, one of the men on board, described how the crews led by Frobisher and the other captains fought off this threat. They used rows, wooden planks, and beams to push the ice away. In some cases, they used ice floats as shields and tied them to their ships, in others they climbed down on icebergs in the middle of the storm to keep them from crushing their ships. Thomas Ellis wrote about this night, and how his men fought “with most willing heartes, venturous mindes, stoute stomachs, & singular manhood.”11 But the fight against death at sea was not just a physical one.12 The author George Best took much time to describe how some of the crew fell to their knees and resorted to prayer. He approved of this as the second, equally important part of their fight for survival. In the end, only one ship fell prey to the icebergs, but all of its crew could be saved. As the expedition recovered from the storm, they found the entrance to the presumed passage open and were able to continue their mission. After digging up hundreds of tons of ore from the frozen ground, they returned home without leaving a garrison behind, because the wood for the fort had been stored on the ship they had lost to the storm. Back in England, the house of cards Frobisher and his partners had built, collapsed. The ore was worthless – all 1,400 tons of it. In fact, as modern analysis has proven, it held less gold than the paving stones in the streets of Devon or London. Without gold, without a fort, and without a proven passage to the Pacific, the whole endeavor seemed to have been in vain. However, something remarkable and powerful came out of that fight against the icebergs: a narrative.13 The crew’s triumph over nature and over death was presented by Best, Ellis and others as a triumph of the English nation, made possible by a heroic collective called “true englishmen and friends”14 of whom every member was a newly invented prototypical heroic english sailor. This was something new. The idea that the common sailors, up to this moment in time mostly despised by the educated leaders of colonial projects, could be heroes was never before stated so clearly. Masters, captains and the holders of letters patent could of course be described as heroes, but no collective of common people.
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This new idea was promoted in several publications and became solidified when Richard Hakluyt the younger, the most influential promotor of maritime expansion of his age, not only reprinted these works in his collection of travel reports, but fully embraced their narrative.15 In his collection, a corpus that would become the foundation of English maritime and colonial history, he made the fight against death at sea the key-argument as to why England was worthy of a colonial empire: “the englishman […] to the Spaniarde and Portingale is nothing inferiour: and for his hard adventures, and valiant resolutions, greatly superior.”16 So, the close encounter with death solidified the English claim. Or as George Best stated: “The Adventure the more hard, the more honorable.”17 Once again the sea, and especially the stormy sea, was presented as a place where people need to prove themselves – just as it was with the self-sacrifice Humphrey Gilbert. In this case, the English sailors passed a twofold test: a test of strength and capabilities as well as a test of faith. The reward was fame, honor and a narrative that would surpass centuries – although the sailors themselves probably would have liked some of that promised gold.
Accepting Death
The French Calvinist preacher Jean de Léry wrote in his travel narrative about the year 1558 that he and his companions were left with no options, but to choose where they would meet their doom. They could either stay in Brazil and plead for mercy with the commander of a small French outpost who had exiled them to live among the Indians before, or set sail on a damaged ship that had just almost been broken by a storm. In his highly influential travel report Histoire d’un voyage fait en la terre du Brésil, de Léry described this as a desperate situation.18 No matter their choice, the Calvinists’ survival was beyond their own power and in God’s hand. So, how had it come to this, and what kind of narrative did Jean de Léry transfer his experience into? Jean de Léry had come to Brazil in 1557 with a small group of preachers on an invitation from Nicolas Durand de Villegagnon, the commander of a little fortress named Fort Coligny in the bay of Rio de Janeiro.19 Villegagnon was a pious man who had studied with Jean Calvin and believed that faith was the key to conquering the new world. After he arrived in Brazil, he had demanded that his men – for there were no women in his colony – follow a celibate lifestyle and break all ties to native women with whom some sailors and translators had established long term partnerships. When threatened with murder and revolt, he asked Calvin to send a group of preachers to strengthen the moral of his colonists. For this reason, Jean de Léry and other Huguenots came to Brazil. They saw it as their own holy mission to spread Christianity in the New World. But soon after their arrival, all hell broke loose. Villegagnon, albeit an old companion
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of Calvin, was not a protestant and had no sympathy for the religious ideas of those whom he had invited. Conflict arose and finally he forced the Huguenots to leave the fort and live among the Natives. For two months de Léry and his fellows lived with the Tupinamba and tried to find a way home. Finally, a French ship appeared in the bay and the captain offered to take them to France. Villegagnon gave them letters of passage, but forbade them to ever return. On January 4, 1558, the Huguenots left the bay on board the Jacques that carried a heavy load of Direwood, apes, and parrots.20 Soon after departure, they hit heavy waves and the sea rose up and down so much that rocks seemed to emerge dozens of feet above water right next to the ship. Almost eight days of strong adverse winds pushed them against the coast and even scared the sailors. The ship took so much water, the pumps needed to be worked day and night. When the carpenter inspected the hull, he found several cracks and leaks and reported such heavy damage that they had to limp back to Brazil. Back at the bay of Rio de Janeiro, the carpenter and master anxiously discussed if the ship could make the trip home before they finally decided to take the risk. In this situation, the Huguenots had to decide if they wanted to try the voyage again. Considering their options, the men split ways. One group feared to face the ocean once more. They preferred to hope for Villegagnon’s mercy and understanding. The others – to whom Jean de Léry belonged – believed instead they should not plead to a man, but set sail and accept whatever faith god had planned for them. And so, they parted ways. The first group returned and pleaded for mercy with Villegagnon. When they refused to denounce their faith, he had three of them executed. De Léry and the others set out on a tiresome and dangerous journey on a ship that took in water even in calm weather. He explicitly compared boarding the ship with getting into a grave and called the ocean the “tant-terrible element.”21 They faced storms, calms, extreme heat, and above all a raging hunger that drove some sailors close to cannibalism.22 De Léry describes this ordeal for dozens of pages in painstaking detail to illustrate what he and his fellows endured by trusting in God and accepting that he alone decides if they live or die. For their diligence, as he puts it, God rewarded them. He let them survive the cruel sea – or as de Léry says: “subsiste au millieu de la mort”23. Considering the travel narrative as a whole, it is obvious that de Léry is making an argument for basic Calvinist ideas. No man and no deed of your own decides your fate, but only God who knows his chosen ones. Imminent death should therefore be accepted. This argumentation was quite common in Huguenot travel narratives, as Monika Wehrheim-Peuker has shown.24 In her comparison of reports on the fallen French colony in Florida and de Léry’s book, she discovered similar patterns. In the case of de Léry, this is underlined by two contrasts: Those who trust in human mercy must die, while those who face the cruel sea in trust of God’s mercy are saved. To make his Calvinist message even more obvious, de Léry explains that the catholic sailors, who promised do-
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nations to saints in return for a safe passage, played no part in their saving.25 He wrote, the ship had been saved rather despite than because of such useless rituals. In his travel narrative the sea is, just like in the Frobisher reports, portrayed as the place where God works to save his chosen people – only in this case they don’t have to fight for it. All they have to do is accept that he alone decides who survives the storms and the hunger. It is a test, but unlike in the Frobisher narratives, it is only a test of faith, not of capabilities. This is why de Léry’s narrative did not lead to a later protonational glorification of abilities, but instead a religious glorification of the faithful Huguenots as the ones predestined to be saved from the sea.
Returning from death
In the year 1609, the English colony of Jamestown was on the brink of collapse.26 Conflicts with the local Powhatan people had led to a long siege that confined the settlers to their fort. The colony itself was divided and more energy was spent on fighting each other and defending one’s privileges than on ensuring collective survival. Therefore, all hopes lied on a great supply fleet that would bring food and more men. This fleet had been assembled and sent en route from London under command of Thomas Gates. But before the ships with additional 500 colonists reached their destination they were struck by a hurricane on July 25. The ships were scattered and only some arrived at Jamestown, while the flagship Sea Venture with Thomas Gates on board was lost at sea. In Jamestown the situation was desperate, and after more than 40 weeks had passed, it was obvious that Gates and his men had perished and no help was to be expected. But suddenly, the watchmen reported sails on the horizon. It was Gates who came with two self-made ships. He reported to the astonished colonists that he and his men had been stranded on the Isle of Bermuda – until then called the Devil’s Island. They had survived in a place that had previously been deemed unfit for human life for 42 weeks. It is no wonder that these were most welcome news for all who wrote promotional literature on behalf of the Virginia Company which was behind the Jamestown project. After all, they were badly in need for good news. So far, their colony had produced no profit, swallowed a lot of money and suffered a devastating death toll. This is why not one but three books about Thomas Gates’ spectacular return to the world appeared in print: The News from Virginia or The lost Flocke triumphant by Richard Rich; Sylvester Jourdain’s A discovery of the Bermudas otherwise called the Ile of Divels, both in 1610, and in 1625 the True Reportory of the Wreck and Redemption of Sir Thomas Gates, Knight, upon and from the Islands of the Bermudas by William Strachey who was actually on board the ship.27 The choosing of words such as “lost Flocke” and “redemption” shows
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the general tone of these publications: They stated that Gates should have died by all means and his return should therefore be seen as a miracle. Richard Rich who was a promotional author in London put that in verse: it is no idle fabulous tale / nor is it fayned newes; For truth herselfe is heere arriv’d / because you should not muse / With her, both Gates and Newport come / to tell report doth lye / which did devulge unto the world / that they at Sea did dye. […] The Seas did rage, the winds did blowe, / disstressed were they then / Their ship did leake, her tacklings breake, / in danger were her men. / But heaven was Pylotte in this storm / and to an Island neere; Bermoothaws call’ed conducted them / which did abate their fear.28
So, this report also tells about overwhelming danger and salvation by the hand of God. But other than de Léry or the reports on the Frobisher ventures, Richard Rich does not mention the behavior of Gates and his men in the storm. For him that is actually no point of interest, because the sensation of promotional value lies in the return of people proclaimed dead. While this treatment of the cruel sea is obviously different than in the other cases presented here, a closer look at Sylvester Jourdain’s report reveals more familiarities with the other sources.29 Jourdain who was on board the Sea Venture himself describes a fight against the storm and desperate pumping to hold the ship above water. While this is similar to the Frobisher reports, Jourdain adds a twist to his story actually that reminds of Jean de Léry. He says that the men were so spent, they gave up fighting the storm, closed all bulkheads, and simply accepted that God would decide their faith. The sailors and colonists even bade each other a final farewell, getting prepared to die, before, according to Jourdain, God himself actually saved the ship and made some land appear. But when this land was in sight his narrative takes a turn back to the heroic Frobisher reports. Suddenly, the men caught a second wind. They fought the water, manned the pumps, and through heroic effort reached the island. So Jourdain combined the idea of trusting in God with a test of capabilities and the virtues of the English. In doing so, he carried the narrative of their unique maritime abilities further. Throughout all the publications, the arrival of Gates’ men in Virginia was described as a miraculous return from the dead that proved God’s support for the colony. This was the narrative the struggling Company of Virginia needed in order to attract more settlers and funding. But the story did not end in Virginia. The return from the dead was also utilized to promote a whole new colonial endeavor. The fact that the ships stranded in Bermuda was described as a sign from God himself to colonize the island, too. Thus, a new company was founded and the Islands of the Devil were given the new name of “Summer Islands”.30
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Conclusion
In all narratives presented, the sea was a place of danger and a place where man could witness the works of God or the devil firsthand. It was a place where men were put to the test – be it physical or spiritual – and where they had to choose between accepting death as a part of God’s plan or fighting it while still praying for God’s help. As the sources show, the first option was closely linked with forming and strengthening one’s own spiritual and religious identity, while the second one also allowed for the construction of a patriotic, protonational identity. Despite this difference, all cases prove that writing about the cruel sea was interwoven with the religious beliefs of the time. This can be said for Catholics, Protestants, and Calvinists, no matter if they were English- or Frenchmen. Furthermore, facing death at sea was merely one part of an ongoing journey, no matter if you physically died like Humphrey Gilbert, if you survived fighting death like Frobisher or accepting it like Léry or even if you died and returned to the world of the living like Thomas Gates. For all of these men, death was not the end of their story.
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First printed in: Hakluyt: The principall nauigations, pp. 679–727; it circulated since 1583. Hakluyt: The principall nauigations, p. 695. Hakluyt: The principall nauigations, p. 695. Fuller: Voyages pp. 33–36. followed by Fitzmaurice: Humanism, pp. 46–50. For a summary of Gilbert’s projects and the according research: Karstens: Gescheiterte Kolonien, pp. 145–181. 6 For an overview: Fitzmaurice: Humanism, pp. 46–50. 7 Edwards: Edward Hayes, pp. 270–286. 8 Burghartz: Erfolg, pp. 307–324. 9 Karstens: Gescheiterte Kolonien. Further references on the primary sources and historical research can be found there. 10 An overview with an edition of primary sources: McDermott: The third voyage, here p. 202; The conclusion was first drawn by Parker: Books, pp. 65–86 and confirmed and extended by Reimer: Britannia and Fuller:Remembering. 11 See Thomas Ellis’ report, reprinted with comments in McDermot: The third voyage, pp. 195–203 here p. 202; and also George Best’s report, pp. 205–244 here p. 213 and p. 222 f.
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12 Best in McDermott: The third voyage, p. 213 cp. the editors comment on p. 23; See similar conclusions in Burghartz 2005. 13 Fuller: Remembering, pp. 23–67; cp. Lemercier-Goddard: Arctic Mirrors, pp. 55–70. Parker: Books, pp. 75–102. 14 Best: Trve Discovrse, esp. pp. 6–7. 15 Hakluyt: The principall nauigations. 16 Best: Trve Discovrse, p. 4 of the epistle dedicatory. 17 Best: Trve Discovrse, p. 4 of the epistle dedicatory. 18 Léry: Histoire. The voyage home is described in Chapters 21 and 22. 19 On Léry and his work see: Lestringant: Le huguenot; and with an overview of available research Karstens Gescheiterte Kolonien, pp. 1 25–132, p. 188 f. 20 Léry: Histoire, p. 380 f. 21 Léry: Histoire, p. 587. 22 Léry: Histoire, p. 392. 23 Léry: Histoire, p. 401. 24 Wehrheim-Peuker: Die gescheiterte Eroberung, concerning Léry, pp. 237 and 244. 25 Léry: Histoire, p. 401. 26 The literature on the history of this colony is abundant; for an overview of the history, sources and research see Karstens: Gescheiterte Kolonien, pp. 276–297; also: Kupperman: Jamestown project. 27 Rich: Newes from Virginia; Jourdain: A discovery; Strachey: True Reportory. 28 Rich: Newes from Virginia, pp. 1–3. 29 Jourdain: A Discovery, p. 4 f. 30 And the story of their discovery became a founding myth, in: Jourdain; A Plaine description, pp. 9–14.
Die vormoderne Seefahrt, eine „verderbliche Kunst“?1 Sicherheitsanalyse eines spätmittelalterlichen Handelsschiffes Thomas N. Kirstein, Jean-Emmanuel Leroy, Sebastian Ritz
Jahrtausendelang beklagten die Menschen die Gefahren der See. Schon die mythischen Helden des Altertums erlebten das Meer als gefährlichen Ort. Aeneas, Odysseus oder die Argonauten durchlitten vielfältige Abenteuer. Doch auch in der Realität scheint die See kaum sicherer gewesen zu sein. Seneca sprach vom „sogar für die stärksten Männer furchtbaren Meere“2 und Properz nannte „Schiffe, dem Tode willkommene Mittel“.3 Das schwerste Schiffsunglück der Antike überliefert Flavius Josephus, dessen „Schiff […] mitten auf dem Adriatischen Meere unterging.“ Josephus und 80 Mitreisende überlebten nur dank ihrer guten Schwimmkünste, während über 500 Menschen ertranken.4 Auch das Mittelalter berichtet von „Gefahren […] Abenteuern“5 und „greulichen Stürmen“.6 Zu den prominentesten Opfern zählte Richard Löwenherz, der während der Rückreise vom Kreuzzug Schiffbruch erlitt. Zum Dank für seine Rettung stiftete er in Ragusa eine Kirche. Zuvor war schon die Flottille seiner Verlobten, Prinzessin Berengaria von Navarra, vor Zypern in Seenot geraten. Auch in der Frühen Neuzeit scheint die Seefahrt noch immer gefahrvoll gewesen zu sein. Zu den prominenten Zeugen zählte Albrecht Dürer, dem „großer Unrat […] geschah“, als sein Schiff, schon im Hafen, mit einem anderen Segler kollidierte.7 Auch in der Belletristik wurde die See gern als gefahrvoller Ort beschrieben, von Shakespeares Seesturm bis Defoes Robinson Crusoe. Seereisen als Vergnügen erscheinen erst als Phänomen der Moderne. Obwohl viele Text- und Bildquellen die Gefahren der See thematisierten, bleibt deren Aussagekraft fraglich, denn vielen Autoren, Malern oder Grafikern fehlten Kompetenz oder Intention, nautisch resp. technisch exakte Darstellungen zu liefern. Viele Quellen stammen von seemännischen Laien, die die Seefahrt bestenfalls als Passagiere erlebten. Bei fernab der Küste Lebenden bleibt sogar fraglich, ob sie je ein Seeschiff gesehen haben. Ob diese Autoren eigene Erlebnisse auf See oder ihnen Zugetragenes stets objektiv schildern oder auch nur vermeintlich gefahrvolle Situationen richtig bewerten konnten, muss offenbleiben. Zudem thematisieren rein literarische Texte ohnehin eher Außergewöhnliches, hier also Gefahren und Katastrophen. Aber auch das
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Abb. 1: Untergang eines Handelsschiffes. Holzschnitt, Petrarcas Trostspiegel, Augsburg 1539. Quelle: Ottmann, Victor: Die Eroberung des Erdballs. Berlin, 1908, S. 38.
Gros bildlicher Darstellungen von Schiffen war noch an der Schwelle zur Neuzeit eher fantasievoll als exakt. Nautische Fachliteratur blieb lange Zeit die Ausnahme. Erst im Verlauf der Frühen Neuzeit begannen Schiffsbauer, Handelsgesellschaften, Behörden oder Schiffsversicherungen damit, Schiffsverluste oder schiffbauliches Wissen systematisch und in größerem Umfang aufzuzeichnen. Solidere Informationen zu vormodernen Schiffen bieten Wracks. Die Unterwasserarchäologie hat allein im europäischen Raum, einschließlich der Levante und Nordafrikas, schon Tausende von Schiffen entdeckt. Doch die bloße Zahl der Wrackfunde belegt noch keine Sicherheitsmängel historischer Schiffe, denn jedes Schiff sinkt, wenn Havarien, die Gewalten der See oder menschliches Versagen ein gewisses Maß überschreiten oder in einer speziellen Konstellation auftreten. Noch heute gehen weltweit über 100 Handelsschiffe pro Jahr verloren.8 Zu den wichtigsten Unglücksursachen zählt zu allen Zeiten der Seeschlag, also ein durch starken Seegang verursachtes Kentern oder eine Beschädigung des Schiffes, die zu seinem Untergang führt. Hinzukommen Lecks durch Grundberührung oder Strandung, in deren Folge ein Schiff sinkt oder in einer Brandung zerschellt. Grundberührungen und Strandungen bedrohten insbesondere die Segelschiffe, da sie bei ungünstigen Winden leicht auf eine Küste zutreiben konnten. Zudem verloren die Kapitäne auf hoher See rasch die Orientierung, da sie den Längengrad bis Mitte des 18. Jahrhunderts nur schätzen konnten, und ohne exakte Kenntnis des Standortes laufen Schiffe in Küstennähe leicht auf Grund. Weitere
Die vormoderne Seefahrt, eine „verderbliche Kunst“?
Abb. 2: Typisches Hochseehandelsschiff um die Wende zur Neuzeit. Eine für das Spätmittelalter überraschend exakte und detaillierte Schiffsdarstellung. Flugschrift, Holzschnitt, 1493. Quelle: Ottmann, Victor: Die Eroberung des Erdballs. Berlin, 1908, S. 48.
nfallgründe sind Brände und Explosionen. Sie verursachen noch heute rund 20 ProU zent aller Schiffsverluste.9 Noch deutlich gefährdeter waren die hölzernen Schiffe der Vormoderne, auf denen Kerzen, Öllampen und offene Herdfeuer brannten. Mitschuld an vielen Schiffsunglücken trägt menschliches Versagen, das noch immer an 75 Prozent aller Schiffsverluste beteiligt ist.10
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Die menschliche Komponente als Ursache vormoderner Seeunfälle lässt sich heute nur noch schwer messen. Dagegen lassen sich die sicherheitsrelevanten technischen Eigenschaften historischer Schiffe mithilfe moderner Ingenieurwissenschaft berechnen. Ein entsprechendes Forschungsprojekt besteht an der Technischen Universität Berlin.11 Die Grundlage der Untersuchungen bilden Wracks, deren Erhaltungszustand eine digitale Rekonstruktion des Schiffes ermöglicht. Zusätzliche Informationen für die Schiffsrekonstruktion liefern Text- und Bildquellen, deren begrenzte Belastbarkeit aber nur ergänzende Hinweise gestattet. Das so entstandene virtuelle Modell ermöglicht die exakte Berechnung aller qualitäts- und sicherheitsrelevanten Parameter des jeweiligen Schiffes mithilfe der Computerprogramme des modernen Schiffsbaus. Der Validierung der errechneten Werte dienen Tests realer Modelle im Schlepp- und Wellenkanal. Die wichtigsten sicherheitsrelevanten Parameter eines Schiffes sind Hydrostatik, Hydro dynamik und Rumpffestigkeit sowie Leckstabilität und Schwimmfähigkeitsverlust. Von Interesse sind auch Intensität und Auftretenshäufigkeit der Seekrankheit. „Das Schwanken und Stampfen war so groß, dass sich jedermann erbrach“, klagte ein spätmittelalterlicher Passagier.12 Die Seekrankheit war und ist aber nicht nur unangenehm, sie gefährdet auch das Schiff, falls sie die Besatzung in ihrer Handlungsfähigkeit beeinträchtigt. Als Beispiel eines spätmittelalterlichen Kauffahrers erfolgte im Rahmen des oben genannten Projektes eine Sicherheitsanalyse des Schiffes von Newport. Der Segler lief um 1450 vom Stapel und sank rund 20 Jahre später im Hafengebiet der walisischen Stadt Newport. Das 2002 wiederentdeckte Wrack zählt zu den besterhaltenen Kauffahrern seiner Zeit. Größe und Bauart entsprachen den typischen Hochseeschiffen des nordwestlichen Europas. Der rund 29 Meter lange und fast neun Meter breite Dreimaster entstand in klinkerbeplankter Skelettbauweise. Das Eichenholz des Rumpfes stammte aus dem Baskenland, wo das Schiff vermutlich auch gebaut wurde. An Bord gefundene Artefakte belegen Fahrtgebiete zwischen Portugal und England. Folglich befuhr das Schiff auch die stürmische Biskaya und kämpfte dort häufig mit schwerer See. Wie fast alle Hochseehandelsschiffe seiner Zeit beförderte auch das Newportschiff zugleich Fracht und Passagiere, wobei die Frachtbeförderung die Passagiermengen überstieg.13 Reine Fahrgastschiffe liefen erst Ende des 19. Jahrhunderts vom Stapel, als die welt weiten Passagierzahlen deutlich wuchsen. Als Grundlage der Analysen und Berechnungen wurden der Rumpf des Newportschiffs und dessen wesentliche Strukturen als Computer-Modell rekonstruiert. Dabei wurde auch die schiffbauliche Konstruktion nachgebildet resp. berücksichtigt. Dies ist für die Ermittlung der Schwerpunkte, Trägheiten und für die Analyse der Struktur erforderlich und berücksichtigt unter anderem alle relevanten Gewichte und die räumliche Verteilung von Passagieren, Gepäck, Proviant, schiffstechnischer Ausrüstung und Ladung. Anhand des Wrackfundes nicht mehr zu rekonstruierende Schiffsteile
Die vormoderne Seefahrt, eine „verderbliche Kunst“? Abb. 3: Virtuelles Modell des Newportschiffes (Simulation mit irregulärem Seegang). Zur grafischen Vereinfachung wurde nur der Hauptmast dargestellt. Quelle: T. N. Kirstein et al.
wurden durch allgemeine Erkenntnisse zum spätmittelalterlichen Schiffsbau ergänzt. Das Modell basiert im Wesentlichen auf der von Nigel Nayling und Toby Jones vorgeschlagenen Rekonstruktion, deren Daten vom Newport Medieval Ship Project zur Verfügung gestellt wurden. Zentrale sicherheitsrelevante Parameter eines Schiffes ergeben sich zuerst aus der Hydrostatik. Sie betrachtet resp. berechnet die aufrechte Schwimmlage, die Stabilität und den Freibord. Stabilität meint hier die Fähigkeit eines Schiffes, nach einer auslenkenden Krafteinwirkung, zum Beispiel Seegang oder Windböen, in seine Ruhe- resp. aufrechte Lage zurückzukehren. Für Schiffe mit konventionellen Rümpfen, zu denen auch das Newportschiff zählte, bildet die Querstabilität den zentralen sicherheitsrelevanten Faktor. Dabei wird analysiert, welches wiederaufrichtende Moment einer Krängung, also einer Drehung des Schiffes um seine Längsachse, entgegenwirkt, und so das Schiff vor dem Kentern bewahrt. Das wiederaufrichtende Moment lässt sich als Hebelarmkurve darstellen. Je größer der Hebelarm, desto größer das Moment, welches das Schiff in die Ruhelage zurückzwingt. Die Querstabilität des Newportschiffes erwies sich als ausgezeichnet, nicht zuletzt auf Grund seiner großen Breite. Das beste Ergebnis zeigte das Schiff voll beladen, da die Zuladung den Schiffsschwerpunkt senkte.14 Das aufrichtende Moment übertraf sogar das eines modernen Vergleichsschiffes gleicher Größe, das den heutigen Sicherheitsvorschriften entspricht.15 Der Segler kenterte erst bei einer Krängung von fast 120 Grad, das moderne Schiff schon unter 80. Mit Ballast, aber ohne Fracht, sank der kritische Winkel des Newportschiffes auf rund 90 Grad. Bei kleinen Auslenkungswinkeln (Anfangsstabilität)
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Abb. 4: Hebelarmkurven der Querstabilität des Newportschiffes bei verschiedenen Ladefällen und die Hebelarmkurve eines modernen Referenzschiffes zum Vergleich. Quelle: T. N. Kirstein et al.
unterschritt das aufrichtende Moment zwar die Werte des modernen Referenzschiffes, übertraf dieses aber bei großen und damit gefährlichen Auslenkungswinkeln weiterhin erheblich. Die schlechtesten Ergebnisse erzielte das Newportschiff unbeladen und unballastiert, da in diesem Fall der Schiffsschwerpunkt am höchsten lag. Trotzdem kenterte der Segler erst bei einer Krängung von 80 Grad und erreichte damit denselben Wert wie das moderne Vergleichsschiff. Insgesamt erfüllte oder übertraf das Newportschiff alle entsprechenden Sicherheitsvorschriften für moderne Hochseehandelsschiffe.16 Gleiches galt für den Freibord. Er bezeichnet die Höhe des obersten wasserdichten Decks über dem Wasserspiegel mittschiffs und bestimmt den Reserveauftrieb des Schiffes für den Fall eines Lecks. Der Freibord des Newportschiffes betrug in vollbeladenem Zustand 0,65 Meter. Damit erfüllte das Schiff, sogar beladen, die aktuellen Sicherheitsvorschriften.17 Die Hydrodynamik betrachtet und analysiert Art und Stärke der Bewegungen eines Schiffes im Seegang. Anders als in der rein hydrostatischen Analyse kommt die Variable der Zeit hinzu. Starke Schiffsbewegungen im Seegang beeinträchtigen nicht nur das Wohlbefinden der Passagiere und die Arbeitssicherheit der Mannschaft, sondern auch die Sicherheit des Schiffes. Ladung kann verrutschen und die Schwimmstabilität derart beeinträchtigen, dass Wellen den Rumpf beschädigen, Wasser eindringt oder das Schiff kentert. Außerdem belasten die Schiffbewegungen den Rumpf durch ständig wechselnde Zug-, Druck- oder Torsionskräfte. Sind diese Belastungen zu hoch und lang
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Abb. 5: Quadratisches Mittel der absoluten vertikalen Bewegung des Vordecks für das Newportschiff (links) und ein modernes Vergleichsschiff (rechts), jeweils abhängig von Schiffsgeschwindigkeit und Welleneinfallswinkel bei Wellenhöhen von 10 Metern. Quelle: T. N. Kirstein et al.
andauernd, führen sie zu Materialermüdung, die Verbände können sich lockern und Lecks verursachen. Die hydrodynamische Untersuchung des Newportschiffes erfolgte mit der sogenannten Streifenmethode, die für konventionelle Schiffe zuverlässige Ergebnisse liefert. Der Modellierung des Seegangs diente das Joint North Sea Wave Project Spectrum, dessen Parameter den Fahrtgebieten des Newportschiffes im östlichen Nordatlantik und in der Biskaya angepasst wurden. Dabei wurden Seegänge mit unterschiedlichen Wellenhöhen und Wellenperioden untersucht. Dazu zählte auch eine Extremlage mit Zehn-Meter-Wellen und einer mittleren Periode von 12,5 Sekunden. Dieser Seegang trat im Fahrtgebiet des Newportschiffes nur mit einer Wahrscheinlichkeit von unter 0,5 Prozent auf, könnte ihm im Laufe der Jahre aber häufiger begegnet sein.18 Die Simulation des Schiffes lieferte Daten zu den Freiheitsgraden Rollen, Stampfen und Tauchen. Zudem erfolgten Simulationen mit verschiedenen Ladefällen. Dabei zeigte sich, dass der jeweilige Beladungszustand die hydrodynamischen Eigenschaften des Schiffes nur wenig beeinflusste. Daher beschränken sich die nachfolgenden Daten stets auf das voll beladene Schiff.
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Insgesamt erzielte das Newportschiff sehr gute hydrodynamische Werte. Bei geringeren Seegängen traten die stärksten Bewegungen beim Rollen auf, ein für konventionelle Einrumpfschiffe typisches Verhalten. Trotzdem lagen die Werte eher niedrig. Bei Wellenhöhen von zwei Metern, also Seegangsstärke 3, die im Fahrtgebiet häufig auftritt, und einer mittleren Wellenperiode von 6 Sekunden, betrug der Mittelwert des Rollwinkels nur 17 Grad. Dieser Wert wurde zudem nur im Falle hoher Schiffsgeschwindigkeit (6 Knoten) und schräg von achtern kommender See (50–60 Grad) erreicht, sonst aber unterschritten. Bei Wellenhöhen von zehn Metern (Seegangsstärke 8) und einer mittleren Periode von 12,5 Sekunden stieg der durchschnittliche Rollwinkel nur geringfügig auf rund 20 Grad, allerdings auch bei seitlichem Seegang und bei jeder Schiffsgeschwindigkeit. Gute Werte erzielte das Newportschiff auch beim Stampfen. Bei Wellenhöhen von zwei Metern betrug die Vertikalbewegung des Bugbereichs nur einen Meter und mittschiffs mittig, einem stets relativ ruhigen Bereich eines Schiffes, nur einen halben Meter. In extrem schwerer See nahm das Stampfen erwartungsgemäß zu, blieb aber auch hier im vertretbaren Bereich. Bei Wellenhöhen von 10 Metern und im ungünstigsten Fall von See gegenan (d. h. von vorne) und hoher Schiffsgeschwindigkeit stieg die Vertikalbewegung des Buges auf über drei Meter. Mittschiffs wurden 2,5 Meter erreicht. Auch das Auftreten der Seekrankheit an Bord eines Schiffes wurde im Rahmen der hydrodynamischen Untersuchung ermittelt. Zur Berechnung und Bewertung der Seekrankheitsfälle dienen heute mehrere Methoden und Bewertungsmaßstäbe. Die vorliegende Studie nutzt den Motion Sickness Incidence (MSI), der einen leicht verständlichen Indikator verwendet. Dafür betrachtet er die durch das Rollen und Stampfen des Schiffes im Seegang erzeugten Bewegungen und errechnet daraus die Zahl der an Bord befindlichen Personen, die innerhalb von zwei Stunden ernstlicher erkranken. Als Hauptsymptom dient das Erbrechen. Die Zahl der Erkrankten hängt auch vom Bereich des Schiffes ab, da im Seegang die Vertikalbewegungen an Bug und Heck am größten, mittschiffs mittig hingegen am geringsten sind. An Bord des Newportschiffes erkrankten bei Wellenhöhen von zwei Metern im Bugbereich rund 54 Prozent der Menschen, mittschiffs nur 21 Prozent. Im Sturm, bei Wellenhöhen von zehn Metern, stieg diese Zahl auf 73 Prozent im Bug und 50 Prozent mittschiffs. Der MSI bezieht sich aber auf Nichtseeleute, also Passagiere und „Neulinge“ an Bord. Die Krankenzahl bei erfahrenen Seeleuten lag also deutlich niedriger. Folglich behinderte die Seekrankheit die Besatzung eher wenig, ließ aber zahlreiche Passagiere leiden. Neben der Übelkeit kann eine schwere Seekrankheit auch psychische Symptome erzeugen, darunter Panikattacken oder Wahrnehmungsstörungen.19 Damit könnte eine Seekrankheit, kombiniert mit der Seeunerfahrenheit vieler Autoren, auch manch schreckensvollen Seereisebericht erklären. Seneca sprang während einer stürmischen Seereise sogar über Bord, um ans Ufer zu schwimmen – und wäre dabei fast ertrunken. Später erkannte er, dass ihn „nur die Seekrankheit plagte“.20
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Abb. 6: Auftreten von Seekrankheit (MSI = Motion Sickness Incidence) am Beispiel eines Passagiers auf dem Vordeck des Newportschiffes (links) und auf einem modernen Vergleichsschiff (rechts), jeweils abhängig von der Fahrtgeschwindigkeit und der Richtung des Seegangs, Sturm (10 Meter hohe Wellen). Quelle: T. N. Kirstein et al.
Zu den sicherheitsrelevanten Parametern eines Schiffes zählt auch die Festigkeit des Rumpfes, der auf See erheblichen Kräften ausgesetzt ist. Schon der Druck des umgebenden Wassers belastet den Schiffskörper. Hinzukommen die Belastungen durch den Seegang. Ein Schiff muss den dabei auftretenden Zug-, Druck- und Torsionskräften widerstehen können, ohne im direkten Wortsinne Schiffbruch zu erleiden. Die Bewertung des Newportschiffes konzentrierte sich auf eine Längsfestigkeitsanalyse, da Schiffe mit konventionellen Rümpfen in dieser Richtung ohnehin den größten Belastungen ausgesetzt sind. Dabei kommt es zu hohen Biegemomenten, wenn sich das Schiff auf einem Wellenberg oder in einem Wellental befindet, da in diesem Fall die vertikalen Querkräfte über die Schiffslänge sehr ungleichmäßig verteilt sind. Die Belastungen des Newportschiffes wurden mit einem Simulationsprogramm für verschiedene Wellenkonfigurationen ermittelt. Dabei wurden die im Rumpf auftretenden maximalen Spannungen berechnet und mit den Spannungswerten verglichen, bei denen das Rumpfmaterial, in diesem Falle Eiche, reißt oder bricht. Im Falle der größten Belastung, wenn das Schiff auf einem sehr steilen Wellenberg liegt, also nur mittschiffs vom Wasser getragen
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wurde, erreichte die höchste im Rumpf auftretende Spannung 8,44 N/mm². Sie lag damit deutlich unter der Belastungsgrenze von europäischem Eichenholz von 41 N/mm². Ein Versagen des Holzes wäre daher unwahrscheinlich gewesen. Etwas problematischer erscheint die Festigkeit der Verbände. Die Außenhaut des Newportschiffes entstand in der für das Mittelalter typischen Klinkerbauweise, bei der die Schiffsplanken einander überlappten und an den überstehenden Stellen mit Nägeln verbunden wurden. Diese Technik war einfacher und wirtschaftlicher als die Kraweelbauweise21 in Antike und Neuzeit, reduzierte aber die Belastbarkeit der Verbindungen zwischen den Planken und zwischen Planken und Spanten. Folglich war im Bereich der Verbände häufiger mit Materialermüdung und Schäden zu rechnen. Entsprechende Instandhaltungsmaßnahmen und gute Kalfaterung konnten aber helfen, dieses Risiko zu mindern. Zudem ließen sich kleine Undichtigkeiten auch auf See reparieren. Dringt Wasser in den Schiffsrumpf ein, können Schiffe ihre Schwimmfähigkeit oder ihre Stabilität verlieren und sinken. Übliche Leckursachen sind Feuer, Seeschlag, Kollisionen oder Grundberührung. Kleine Lecks verursachte im Mittelalter oft schon die Klinkerbauweise. Zudem zeigten die hydrodynamische Betrachtung und die damit verbundene Simulation des Newportschiffes, dass bei stärkerem Seegang Wellen über die Reling hinausragten und größere Decksbereiche zeitweise unter Wasser setzten. Ob Ladeluken und Niedergänge spätmittelalterlicher Handelsschiffe ausreichend verschalkt (d. h. wasserdicht gemacht) werden konnten, lässt sich aus den archäologischen Befunden nicht mehr erkennen. Die schiffbautechnischen Möglichkeiten lassen aber kaum auf eine absolute Abdichtung schließen. Kleinere Wassermengen oder langsam eindringendes Leckwasser hätten das Schiff aber noch nicht gefährdet, falls Gegenmaßnahmen wie Schöpfen, Pumpen oder Leichtern ergriffen worden wären. Nur größere Lecks brachten das Schiff ernstlich in Gefahr. Zudem breitete sich das Leckwasser im Rumpf rasch aus, da allen vormodernen Schiffen Schotten fehlten.22 Leckwasser kann ein Schiff allein durch sein Gewicht sinken lassen. Das Moment der freien Flüssigkeitsoberfläche hat aber auch einen maßgeblichen Einfluss auf die Schiffsstabilität. So wäre die maximale Stabilität des Newportschiffes bei voller Beladung um mehr als 75 Prozent reduziert und der Kenterwinkel mit 42 Grad mehr als halbiert worden, wenn 52 t Leckwasser in den Rumpf eingedrungen wären. Im Seegang wäre das Schiff jetzt verloren gewesen, auch wenn das Gewicht des Leckwassers allein noch keinen Schwimmfähigkeitsverlust bewirkt hätte. Insgesamt erzielte das Newportschiff gute technische Ergebnisse, übertraf mitunter sogar jene moderner Schiffe und erfüllte eine Reihe heutiger Sicherheitsvorschriften. Vor dem Hintergrund der einst so oft beschriebenen Gefahren der See könnte dieses Resultat überraschen. Allerdings entziehen sich einige der nichttechnischen Risikofaktoren jeder ingenieurwissenschaftlichen Untersuchung. Fehler der Besatzung, mangelnde Wartung,
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unvorsichtiger Umgang mit Feuer oder Havarien infolge rudimentärer Navigationsmöglichkeiten lassen sich kaum berechnen. Zudem sinken auch heute noch Schiffe auf Grund der ungeheuren Gewalten der See. Diese Tatsache muss umso mehr für die viel kleineren Schiffe an der Schwelle zur Neuzeit gegolten haben, die in Stürmen gegen Wellenberge kämpften, die halb so hoch waren wie das Schiff lang. Brecher konnten aus 15 Metern Höhe auf das Deck stürzen, Luken zertrümmern und Menschen von Bord reißen. In derart extremen, wenn auch seltenen Wetterlagen gelangten auch gut gebaute Segler an ihre Grenzen. Doch trotz mancher Risiken war das Schiff von Newport sicher kein Seelenverkäufer, sondern ein mit den beschränkten technischen Mitteln seiner Zeit solide gebauter, seetüchtiger Kauffahrer. Er versah 20 Jahre lang seinen Dienst in einem der schwierigsten Seegebiete der Welt und sank schließlich im Hafen, vermutlich bei Reparatur- oder Wartungsarbeiten. Sicher haben viele Schiffe, so wie jenes von Newport, im Laufe ihres Lebens zahllose Passagiere unbeschadet ans Ziel gebracht. Davon berichten die Quellen wenig – vermutlich zu uninteressant für die Autoren!
Bibliografie Monografien, Sammelwerke
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Zeitschriften
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Thomas N. Kirstein, Jean-Emmanuel Leroy, Sebastian Ritz
Lackner, James: Motion sickness. More than nausea and vomiting, in: Experimental Brain Research, 2014, S. 2493–2510. Nayling, Nigel und Toby Jones: The Newport Medieval Ship, in: International Journal of Nautical Archaelogy, 2014, S. 239–278.
Primärquellen
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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
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Titus Lucretius Carus, de rer. nat. 5, 1006. Lucius Annaeus Seneca, ad Helv. 19, 5. Sextus Aurelius Propertius 3,7,29. Flavius Josephus vit. 3. Helmut Brall-Tuchel (Hg.): Das Pilgertagebuch des Ritters Arnold von Harff (1496–1498). Köln, Wien 2008, S. 88. Johann Goldfriedrich und Walter Fränzel (Hg.), Konrad von Grünemberg: Bericht über die Pilgerfahrt ins Heilige Land 1486. Leipzig 1912, S. 59. Albrecht Dürer: Tagebuch der Reise in die Niederlande. Leipzig, 1930, S. 37 f. Allianz (Hg.): Safety and Shipping Review, 2018. S. 12. Ebd., S. 14. Ebd., S. 18. In diesem Projekt kooperieren die Fachgebiete Technikgeschichte und Meerestechnik/Schiffsentwurf. Projektleiter: Sebastian Ritz und Thomas Kirstein. Johann Goldfriedrich und Walter Fränzel (Hg.), Konrad von Grünemberg: Bericht über die Pilgerfahrt ins Heilige Land 1486. Leipzig 1912, S. 32. Nigel Nayling und Toby Jones: The Newport Medieval Ship. In: International Journal of Nautical Archaeology, 43.2, 2014, S. 239–278; Friends of the Newport Ship (Hg.): The Newport Medieval Ship. 2017. Als voll beladen wurden nach Nayling und Jones 110 t Fracht und 17 t Ballast angenommen. Damit ergab sich ein Gesamtgewicht des Schiffes von 206,5 t. Vgl. Fußnote 13. Da Hochseehandelsschiffe von nur 30 Metern Länge heute nicht mehr gebaut werden, dient hier zum Vergleich ein sog. Arbeitsschiff (Schiff zum Beispiel zur Versorgung von Bohrplattformen etc. auf hoher See).
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16 Resolution MSA.267 (85) – Adoption of the International Code of Intact Stability, 2008 (2008 IS CODE), Part A, Chapter 3 - 3.1 Passenger Ships, S. 17. 17 Internationale Freibordkonvention. Siehe: International Convention of Load Lines, 1966, as Amended by the Protocol of 1988, S. 92 f. 18 E. Charles et al.: Wave Climate in the Bay of Biscay, Spatiotemporal Variability and trend from 1958 to 2008. In: Journal of Climate, Volume 25, 2020, DOI: 10.1175/JCILD-11-00086. 19 James Lackner: Motion sickness. More than nausea and vomiting. In: Experimental Brain Research. 232, 2014, S. 2495 f. 20 Seneca, Epistulae morales 53, 2–4. 21 Kraweelbauweise: Schmalseiten der Planken liegen direkt aufeinander, bilden also außenbords und im Schiff eine glatte Fläche. Sie können dadurch besser an den Spanten befestigt werden. Im Altertum wurden die Planken noch zusätzlich durch Nut und Feder direkt miteinander verbunden. 22 Wasserdichte Abteilungen resp. Unterteilungen im Rumpf.
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„… bin ich nicht der Hofdichter der Nordsee?“ Heines Nordsee-Lyrik zwischen Authentizität, Konstruktivität und Funktionalisierung Christoph auf der Horst
Am 28. August 1826 schreibt Heine von der Insel Norderney aus seinem Freund Friedrich Merckel: „Ich lerne schwimmen.“1 Das ist zunächst nicht überraschend, denn Heine war bereits im Juli 1823 an die Nordseeküste nach Cuxhaven gereist, hatte dort einen sechswöchigen Badeaufenthalt in Ritzebüttel verbracht und damit eine lange Serie von Badekuraufenthalten gestartet. Alleine zwischen 1823 und 1830 hat Heine über neuneinhalb Monate in den verschiedenen Seebädern der Nordseeküste verbracht, das sind im Schnitt etwas über sechs Wochen pro Kuraufenthalt. Schwimmen zu können, musste sich von daher früher oder später als sinnvoll erweisen. Das Motiv schon des ersten von Heine überlieferten Badeaufenthaltes war gesundheitlicher Natur. So schreibt er seiner Schwester: „Liebes Lottchen! Ich bin hier. Mehr kann ich Dir wegen Unwohlseyn heute nicht sagen. Ich will die ganze Cour hier mitmachen und ca 36 Bäder nehmen.“2 Auch alle weiteren Badekuraufenthalte an der Nordsee3 standen im Zeichen rekonvaleszenter Bemühungen: „Liebe, gute Schwester! ich hoffe, daß dieser Brief Dich noch trifft, und zwar in sehr verbesserter Gesundheit. Mit der meinigen geht es so ziemlich. Das Baden in der Nordsee ist immer das heilsamste Mittel für mein Uebel.“4 Dass Heine in der Nordsee das Schwimmen erlernt, ist also erst einmal im Rahmen seiner Gesundheitsbemühungen zu verstehen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn das Meer war auf der einen Seite nicht der typische Ort für therapeutisches Handeln und galt von alters her als ein verfluchter Ort, dessen Schrecken durch biblische und außerbiblische Berichte der Sintflut, durch die Irrfahrten des Odysseus, oder auch durch Vergils Schilderung des Schiffbruchs der Flotte des Äneas genährt und in Kunst und Literatur noch bis in Heines Zeit überliefert worden war. Auch waren Sturmfluten und Schiffbrüche im 19. Jahrhundert traurige Alltagsrealität. So hatte Heine 1833 als Augenzeuge von seinem Kurhotel aus in Boulogne-sur-Mer den Schiffbruch der Amphitrite und die dramatischen, aber letztlich vergeblichen Rettungsbemühungen mitansehen müssen. Von den 136 Menschen an Bord, davon 108 weibliche Häftlinge, konnten nur drei gerettet werden. Auf der anderen Seite war das Meer aber spätestens
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seit dem 17. und 18. Jahrhundert durch eine Fülle von Entdeckungsfahrten, ausführlichen kartografischen Vermessungen, umfassenden Erhebungen und Beschreibungen ozeanischer Fauna und Flora auch Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung geworden, deren Ergebnisse in ebenso vielen Publikationen wie auch Museen der damaligen Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden.5 Selbst das Schwimmen war wissenschaftlich untersucht und das Erlernen seiner Methode beschrieben worden.6
Authentizität
Diese Umkodierung des Meeres von einem Ort des Schreckens zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Betätigung stand in der Folge der von der englischen Naturphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts ausgehenden geistesgeschichtlichen Bewegung der Physikotheologie. Im Kern argumentierte die nachmalig zu einer gesamteuropäischen Bewegung erweiterte Physikotheologie, dass Gott die Natur und damit auch das Meer in einer höchsten Zweckmäßigkeit geschaffen habe. Damit konnte die Anwendung von Naturwirkfaktoren, wie beispielsweise das Meerwasser, für die Gesundheit und die Heilung des Menschen verbindlich gemacht werden, denn Gott habe in seiner weisen Vorsehung für den Menschen ein „Heilsystem der Natur“7 bereitgestellt. Auf der Grundlage dieser Umkodierung des ehemals schrecklichen Meeres zu einem Ort der Fürsorge Gottes entwickelte sich zunächst eine Kaltwasserheilkunde und aus dieser dann ebenfalls von England ausgehend die Meeresheilkunde. Denn aus den zunächst theologischen Einsichten in die Heilkraft des Meerwassers folgten erste Einzelbeobachtungen, dann experimentelle Selbstversuche, daraufhin chemisch-pharmakologische Untersuchungen des Meerwassers, die in Verbindung mit genauen klinischen Beobachtungen gebracht wurden, die an Kranken erhoben worden waren, bis es schließlich zu einem streng kodifizierten System von Behandlungsmethoden, eben der Meeresheilkunde kam. Erste einzelne ärztliche Verschreibungen generierten so zunehmend kollektive Nachfragen, aus denen dann die ersten Seebäder entstanden. Ende des 18. Jahrhunderts war aus der ärztlichen Praxis des Meerwasserdoktors Richard Russel (1687–1759) das Seebad in Brighton entstanden, das Heinrich Heine 1827 aufgesucht hatte. Der therapeutische Kontakt mit dem Meerwasser bestand allerdings nicht im Schwimmen, so wie es bis heute noch ausgeübt wird. Der männliche Kranke setzte sich vielmehr auf den Ratschlag des Badewärters oder auch unabhängig von ihm dem Wellenschlag und dem kalten Wasser (12–14 °C) aus, während die Frauen wie in einem Plongierbad von dem Wärter in eine hohe Welle ein- und untergetaucht wurden. Üblicherweise wurden die Patientinnen und Patienten dafür in eigens konstruierten Badekutschen in das Meer gefahren. Für das Meerbaden selbst hatte Heine das Schwimmen also nicht erlernen müssen. Hier ist eher daran zu denken, dass der wohl zeitgenössisch
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bekannteste Badeführer Norderneys, F.W. von Halems, „Die Insel Norderney und ihr Seebad, nach dem gegenwärtigen Standpuncte“, nicht nur die Chemie des Meerwassers, die unterschiedlichen Arten des Wasserbadens, den Gebrauch der Badekutschen etc. erläutert, sondern im Anschluss an die Wiedergabe einer Schrift Benjamin Franklins – „der große Mann“ –, auch den Personen, die nicht schwimmen können „und von ohngefähr ins Wasser fiele[n]“, empfiehlt, das Schwimmen zu erlernen, um für Gefahrsituationen ausreichend vorbereitet zu sein.8 Das Schwimmenlernen Heines kann auch eine Erklärung außerhalb des medizinisch-therapeutischen Bereichs finden. Denn zeitgenössisch wurde das Schwimmen als eine Praxis der Selbstfindung verstanden. Romantiker übten das Schwimmen als Kampf gegen das Verschlungenwerden, als Beweis männlichen Kräftemessens gegen die Urkraft des Meeres, oder als Sieg über die Elemente aus.9 Ein historisches Beispiel dieser romantischen Kodierung des Meeres ist Lord Byron, der 1810 – enormes Aufsehen erregend – die zwischen 1,3 und 6 km breiten Dardanellen durchschwamm. Diese Affinität des Romantikers zum Meer hat Byron beispielhaft in Childe Harold’s Pilgrimage festgehalten, ein Werk, das Heine gekannt hat.10 Dort heißt es im 4. Gesang: And I have loved thee, Ocean! and my joy Of youthful sports was on thy breast to be Borne like thy bubbles, onward: from a boy I wantoned with thy breakers—they to me Were a delight; and if the freshening sea Made them a terror—’twas a pleasing fear, For I was as it were a child of thee, And trusted to thy billows far and near, And laid my hand upon thy mane—as I do here.11
Und tatsächlich zitiert und variiert Heine mehrfach die erste Zeile.12 Heine scheint auch weitere zeitgenössisch typische romantische Naturerlebnisse gesucht zu haben. So hat er die von Alain Corbin als typisch für diese romantische Zeit beschriebenen Segelfahrten im Sinne von Lustfahrten auf dem Meer unternommen:13 Einen eigenthümlichen Reitz gewährt das Kreuzen um die Insel. Das Wetter muß aber schön seyn, die Wolken müssen sich ungewöhnlich gestalten, und man muß rücklings auf dem Verdecke liegen, und in den Himmel sehen, und allenfalls auch ein Stückchen Himmel im Herzen haben.14
Inwieweit Heine tatsächlich ein aktiver Schwimmer in der Nordsee war – gar im Sinne eines romantischen Schwimmens –, bleibt allerdings fraglich. Denn im Heine-Werk ist
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von Schwimmen nur noch an einer weiteren Stelle die Rede, das aber aus dem Kontext heraus als therapeutisches Baden verstanden werden muss.15 So ernst Heine seine Badekuren auch genommen hat, sie waren nicht alleiniger Grund, über die Jahrzehnte hinweg die mondänen Badeorte der Nordsee- und Atlantikküste zu besuchen. Denn der jüdische Außenseiter, der sich im Juni 1825 christlichprotestantisch hat taufen lassen, wollte am Gesellschaftsleben auch höherer Adelskreise teilhaben können. Die Badeorte mit ihren Angeboten an Spielcasinos, den Flaniermeilen und den Möglichkeiten des erotischen Spiels in den Geschlechterbeziehungen boten ihm hier einiges. So sind Heines Norderneyer Korrespondenzen auch voll von Zeugnissen seiner Spielleidenschaft und entsprechender Geldnöte, auch der erwiderten bzw. unerwiderten Zuneigung zu Frauen des hannöverischen Adels. Entsprechend ambivalent sind dann auch Heines briefliche Kommentare über sein Nordsee-Erleben. So kann es auf der einen Seite schwärmerisch heißen, „O wie lieb ich das Meer, ich bin mit diesem wilden Ellement so ganz herzinnig vertraut worden […].“16 Auf der anderen Seite schreibt Heine auch, dass er auf Norderney „nicht so vergnügt wie vorig Jahr“ lebt, und auch „das Meer erscheint nicht mehr so romantisch wie sonst“. Schon 1825 heißt es: „Es ist ein mißmüthiges Wetter, ich höre nichts als das Brausen der See – O läg ich doch begraben unter den weißen Dünen.“17 Diese durchaus kostspieligen Kuraufenthalte, die sich tatsächlich nur höhere Gesellschaftskreise finanziell erlauben konnten, wurden ihm von seinem reichen Hamburger Onkel Salomon ermöglicht, der seinerseits häufig Bad Doberan, ebenfalls ein zeitgenössisch typischer, extravaganter Badeort an der Ostsee aufsuchte.
Konstruktivität
Wie wenig originär erlebt und wie künstlich konstruiert Heines Beschreibungen seiner Nordmeer-Erlebnisse sind, zeigt der Prosatext Nordsee III. Es heißt dort, zunächst wieder den Topos der Seelenverwandtschaft mit dem Meer bedienend: Ich liebe das Meer, wie meine Seele. Oft wird mir sogar zu Muthe, als sey das Meer eigentlich meine Seele selbst; und wie es im Meere verborgene Wasserpflanzen giebt, die nur im Augenblick des Aufblühens an dessen Oberfläche heraufschwimmen, und im Augenblick des Verblühens wieder hinabtauchen: so kommen zuweilen auch wunderbare Blumenbilder heraufgeschwommen aus der Tiefe meiner Seele, und duften und leuchten und verschwinden wieder – »Evelina!«
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Man sagt, unfern dieser Insel, wo jetzt nichts als Wasser ist, hätten einst die schönsten Dörfer und Städte gestanden, das Meer habe sie plötzlich alle überschwemmt, und bey klarem Wetter sähen die Schiffer noch die leuchtenden Spitzen der versunkenen Kirchthürme, und mancher habe dort, in der Sonntagsfrühe, sogar ein frommes Glockengeläute gehört. Die Geschichte ist wahr; denn das Meer ist meine Seele – »Eine schöne Welt ist da versunken, Ihre Trümmer blieben unten stehn, Lassen sich als goldne Himmelsfunken Oft im Spiegel meiner Träume sehn.« (W. Müller.)18
Diese gesamte Passage erweist sich als Kompilation unterschiedlicher Quelltexte. Zunächst steht hier die bereits oben angeführte Strophe aus Byrons Child Harold mit dem eröffnenden emphatischen Bekenntnis „Wie liebt‘ ich dich, o Meer!“ Dann hat Heine offensichtlich für die Gestaltung der aus der Tiefe der Seele auftauchenden und dort wieder verschwindenden Traumbilder die Bruchstücke aus Karl Berthold’s Tagebuch herangezogen, die er insgesamt für die Nordsee III benutzt hat:19 In dem jetzigen Zustande gefalle ich mir auf andre Art auf dem Wasser. Seine düstre Fläche ist ein vertrauter Spiegel meiner Empfindungen. Die einförmige Bewegung der Wellen, die sich ewig am Strande brechen, sich hinaufwälzen, als wollten sie sich das Land zu eigen machen, dann vergeblich zurücksinken und immer mit neuer Kraft wiederkehren, ist ein Bild meines nie verlöschenden Schmerzes mit seinen ewig vergeblichen Träumen und Wünschen.20
Und als letzte Quelle dieser kompilierten Passage, aus der er schöpferisch entnommen hat, zitiert Heine aus Wilhelm Müllers Muscheln von der Insel Rügen bzw. die vorletzte Strophe des Gedichts Vineta.21 Heines Nordsee-Reisen und -Badekuraufenthalte sind biografisch fest verankert und haben in der Absicht, seine Gesundheit wiederzugewinnen, ihren konkreten Anlass. So wie Heine seine Reiseeindrücke in Polen, im Harz, in Italien und in England in dem von ihm erneuerten Genre der Reisebilder verarbeitete und gesellschaftskritisch anreicherte, so werden auch die Norderney-Aufenthalte von Heine in Prosa und Lyrik festgehalten. Wahrscheinlich schon mit dem Ritzebütteler Badeaufenthalt beginnend verfasst Heine mehrere Zyklen von lyrischen Seebildern, die noch unmittelbarer unter dem Eindruck der Nordsee-Badeaufenthalte stehen als das spätere Prosa-Reisebild Nordsee III, das wahrscheinlich im Oktober 1826, also erst Wochen nach seinem 1826er Norderney-Aufenthalt in Lüneburg geschrieben wurde.22 Der erste, von Heine Heimkehr
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betitelte Zyklus, enthält sieben Gedichte, die noch in der traditionellen Liedform geschrieben sind. Die beiden anderen Zyklen, die dann im Zusammenhang mit Heines Norderney-Aufenthalten zu sehen sind, tragen die Titel Nordsee I und Nordsee II und sind größtenteils in freien Rhythmen gedichtet. Damit sind die drei Gedicht-Zyklen zwischen 1824 und 1826/27 und damit in einer Zeit geschrieben, in der Heine spürte, dass es mit ihm „als Liederdichter wol ein Ende“ habe und dass die „Prosa [ihn] in ihre weiten Arme“ aufnehmen werde.23 Entsprechend finden sich vor allem für Nordsee I, aber auch für Nordsee II sehr selbstkritische Töne, und Heine ist sich sicher, dass diese Seestücke, die er „allerliebst beschrieben“, beim Publikum „durchfallen“ werden, und er zweifelt grundsätzlich daran, ob der Leser „an den Nordseebildern Geschmack finden wird“, weil „schon allein das ungewohnt-schaukelnde Metrum einigermaßen seekrank“ mache. Damit seien die Seebilder „vielleicht von nicht allzugroßem Werth“, wenn auch „bemerkenswerth“, sodass er sich verpflichtet fühlt, den Zyklus „Nordsee II“ „unendlich besser geben zu müssen“ als noch „Nordsee I“, zweifelt aber gleichzeitig daran, „ob auch Gutes?“ in „Nordsee II“ enthalten sein werde.24 Abschließend heißt es dann: „Daß letzteres Buch [Nordsee II] ein Kriegsschiff ist, das allzuviel Kanonen an Bord führt, hat der Welt e r s c h r e c k l i c h mißfallen.“25 Nach Nordsee II hat Heine dann auch nicht mehr in freien Rhythmen gedichtet, eine Form, die er von Friedrich Gottlieb Klopstock und Johann Wolfgang von Goethe her kannte und im Besonderen dann aus seiner Kenntnis der Dichtung von Ludwig Tieck, Ludwig Robert und Wilhelm Müller ausgebildet hat. Die zeitgenössische Aufnahme ist wenigstens ambivalent zu nennen: Während die einen in den Nordsee-Zyklen bei Heine eine neue Schaffensperiode erkennen wollen und sich freuen, dass Heine mit Nordsee I ein „entscheidendes Zeichen seines inneren und äußern Fortschrittes“ zeige, damit Abstand von seinen „manierirten Liedern“ gefunden habe und sich darin nicht mehr die „Bitterkeit“ der früheren Gedichte wiederfinde26, wird mehrheitlich in den Rezensionen beklagt, dass Gutes eben auch neben Schlechtem stehe: Die Nordsee-Dichtung sei „halb ernst, halb ironisch, jedesmal eine Fratze neben einem Madonnenkopf“, sie sei „halbfertig“, Heine habe durchaus Talent, aber er habe auch „allen heiligen Gefühlen den Krieg erklärt“, beim Lesen der Seestücke paare sich „sehr große Freude mit gleich starkem Un- und Widerwillen“.27 In eindeutig negativen Besprechungen heißt es dann, dass die Sammlung nichts Neues enthalte, „alles liegt wie Kraut und Rüben nebeneinander“ und „Nordsee II“ könnte ebenso gut „Chamäleon“ heißen.28 Selbst Heines Mentor und Freund Karl August Varnhagen von Ense, die bestimmende Figur des intellektuellen Lebens in Berlin, der offensichtlich auf Bitten Heines für ihn wenigstens zwei Gefälligkeitsrezensionen schreibt,29 kann nicht umhin zu bemerken, dass „Nordsee I“ ein Wert nur „nach Ausscheidung einiges Frevels“ zuerkannt werden kann und „Nordsee II“ sei an „köstlichen Gaben“ zwar sehr reich, aber es seien eben „auch andere [Gedichte] darunter, von herberem Geschmack“.30
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Drei Besprechungen fallen aus dem Gesamtbild heraus, weil in ihnen versucht wird, der Naturdichtung Heines eine besondere Qualität im Sinne einer besonderen Naturnähe zu attestieren. Das ist zunächst die bereits oben angeführte Rezension Varnhagens im Berliner „Gesellschafter“, in der der väterliche Freund schreibt, dass Heine in der Nordsee-Lyrik „seine echte Verbindung mit dem Ursprünglichen, der Natur sowohl als auch des Geistes“ zeige. Von dem Heine ebenfalls freundschaftlich zugewandten Willibald Alexis heißt es ähnlich, dass diese Dichtung eine „wahrhafte Auffassung der Natur (die See weht uns an) in ihren Erscheinungen“ besitze. Und Nodnagel, der später eine Biografie über Heine verfassen sollte, schreibt, dass die Nordsee-Gedichte „voll Eigenthümlichkeit, Humor, Kraft und theils großartig wie der Anblick des Meeres selbst“ seien.31 Die innere Abhängigkeit dieser literaturkritischen Urteile voneinander ist geradezu greifbar darin, dass alle drei Besprechungen jeweils im unmittelbaren Fortverlauf der zitierten Stellen Heines dichterisches Talent loben: So schreibt Varnhagen, dass Heine in der Nordsee-Dichtung „sein wahres Dichter-Talent zu sehen, zu bezeichnen!“ zeige, Alexis ergänzt, Heines Nordsee-Gedichte „zeugen vom Talent des Verfassers“, und Nodnagel wünscht emphatisch: „Möge die wahre Muse den Verfasser noch oft besuchen!“32 Diese drei Besprechungen der frühen Rezeptionsgeschichte der Nordsee-Lyrik Heines sind nun insofern interessant, als dass die nachmalige Heine-Philologie vor allem diese Wertungen wieder aufgreift: Heines Nordsee-Lyrik bzw. „neuartige Naturdichtung“ greife nicht länger „auf Requisiten und Kulissen, Klischees und Stereotypen“ zurück, sondern wende sich hin zu „unmittelbar angeschauten und wirklich erlebten Naturbildern“33 und stelle eine „enge Beziehung zwischen dem Thema des Meeres und der Subjektivität des Sprechers“ her.34 So verleihe die „Unverbrauchtheit des Themas dieser Beschäftigung noch einen Anschein von Authentizität“.35 Mit der Neuartigkeit wird Heine dann überhaupt die Urheberschaft der Themafindung zuerkannt: Heine habe „als erster eine konkrete Meeres- und Küstenlandschaft, die Nordsee, zum poetischen Mittelpunktgegenstand“ gemacht36 und die „Entdeckung des in der deutschen Literatur bisher unbekannten Meeresthemas“ gehe auf Heine zurück.37
Funktionalisierung
Das Meer ist aber offenkundig schon vor Heine Thema in der deutschen Literatur gewesen. Nicht nur unübersehbar in Faust II, oder wie bereits oben angeführt in der Meeresdichtung Wilhelm Müllers – wenn hier auch jeweils das Mittelmeer gemeint ist. Auch die Nordsee wird bereits vor Heine in den Gedichten Graf Friedrich Leopolds zu Stolberg-Stolberg, den Heine in seiner Literaturgeschichte Die Romantische Schule ausführlich porträtieren sollte und dessen Literatur Heine schon Anfang der 1820er Jahre wahrgenommen hatte, thematisch.38 Denn es ist auffällig, dass, von der topografi-
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schen Titelgebung Die Nordsee und einer Erwähnung der Nordsee im Gedicht Echo des zweiten Zyklus39 abgesehen, Heine darauf verzichtet, die Nordsee selbst und alle die Merkmale in den beiden Gedichtzyklen zu nennen, die die Nordsee von anderen Meeren unterscheidet. Zwar sind eine allgemeine maritime (Meer, Flut und Ebbe, Strand, Wellen, Möwen, Fische, Meeressturm, Windstille, Sonnenuntergang am Strand, Nordwind, Wolken und Sturm usw.) und auch eine allgemeine nautische Begrifflichkeit (Boote, Segelschiffe, Kajüten, Masten, Steuerrad, Bootsmann, Schiffsjunge, Kapitän, Bussole [Kompass] usw.) in den Seestücken unübersehbar. Aber weder das für die Nordsee typische Wattenmeer – bzw. zeitgenössisch die Watten – noch ihre Priele, und auch nicht die im Verhältnis zum Mittelmeer als dem loco typico klassischer Meeresdichtung weitaus stärker ausfallenden Gezeiten werden von Heine auch nur einmal erwähnt. Heines Hinweis auf den auf der Nordsee üblichen Schiffstyp Ewer findet sich in der Korrespondenz, nicht in der Dichtung. Auch inwieweit Heines Nordsee-Dichtung das Merkmal großer Naturnähe zuzusprechen ist, kann durchaus kritisch gesehen werden. Und das nicht etwa nur, weil Heine von sich behauptete, „In der Kunst bin ich Supernaturalist“40 und damit erklärt, die Natur eben nicht unmittelbar, sondern durch Ideen vermittelt wahrzunehmen und entsprechend darzustellen. Die in der Heine-Philologie behauptete Naturnähe der Nordsee-Lyrik will vor allem deshalb nicht recht plausibel werden, weil nicht alle Gedichte Seestücke sind. So sicherlich nicht das erste und damit programmatisch wichtige Gedicht des ersten Zyklus und die beiden letzten Gedichte des zweiten Zyklus – auch für andere Gedichte muss das kritisch hinterfragt werden. Auch darf nicht übersehen werden, dass der Schauplatz dieser Dichtung viel eher das Mittelmeer als die Nordsee ist. Unübersehbar wird das in dem Motto, das Heine dem gesamten zweiten Zyklus voranstellt, und mit dem er die programmatische Ausrichtung des Zyklus vorgeben möchte. Dieses Motto, „Thálatta! Thálatta!“, das dann das erste Gedicht eröffnet, hat Heine dem Geschichtsbuch Anabasis des griechischen Politikers, Feldherrn und Schriftstellers Xenophon (ca. 430–ca. 354) entnommen. „Thálatta“ ist der befreiende Rettungsruf der griechischen Heeresüberreste, die Xenophon vor den nachsetzenden Persern an das rettende Ufer des Schwarzen Meeres hat führen können: „Das Meer! Das Meer!“ Dieser Rettungs- und Befreiungsruf zum Abschluss einer militärisch höchst prekären Notsituation wird von Heine zu einem Motto umfunktionalisiert, und dieses Motto und der hellenistische Hintergrund prägen dann tatsächlich die folgenden zehn Gedichte, aber auch schon die 12 Gedichte von Nordsee I. Heine lässt in 16 von insgesamt 22 Nordsee-Gedichten große Teile des Figurenpersonals nicht der Geschichte Hellas, aber der griechischen Mythologie aufmarschieren – angefangen von Kronos und Zeus über Juno und Pallas Athene bis hin zu Hebe und Hephaistos mit allen Nymphen, Knaben und Hekatomben von Rindern.41 Diese so detaillierte Ausschmückung der Nordsee-Gedichte durch Figuren und Elemente der griechischen Mythologie ist nicht überraschend,
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denn Heine beschäftigt sich am Norderneyer Strand intensiv mit der Odyssee und der Ilias: „Für den überschickten Homer danke ich Dir. Ich lese ihn, einsam am Strande wandlend; und da kommen mir allerley Gedanken.“42 Nicht nur inhaltlich, auch sprachlich sind diese Nordsee-Gedichte deutlich homerisch.43 Wie kann aber diese prominente Ausstattung der Nordsee-Lyrik mit griechischer Mythologie verstanden werden? Warum steht sie und auch der historische Rettungsund Befreiungsruf auffallend stärker im Fokus der Dichtung als naturnahes Erleben? Zunächst ist hier an das Gedicht An das Meer von Friedrich Leopold Stolberg zu erinnern, das bereits das Meer als den Geburtsort griechischer Mythologie und homerischer Epen im Sinne Heines gestaltet.44 Ein wichtiger zeitgenössischer Hinweis ist dann einer Rezension im Morgenblatt für gebildete Stände vom 29. Juli 1828 zu entnehmen, die der Publizist Ignaz Lautenbacher, der mit Heine an den Neuen politischen Annalen in München zusammengearbeitet hatte, veröffentlicht. Er bemerkt in den Nordsee-Gedichten eine starke Sinnlichkeit und verteidigt diese vor Kritikern: Denn wenn „der Leib so gut aus der Gottes Hand hervorging, wie die Seele aus seinem Athem, so kann ich nicht absehen, warum die Sinnlichkeit nicht eben so gut ihre Verklärung in der Poesie finden dürfe, als die Seele.“45 Lautenbacher führt zusätzlich ein literarhistorisches Argument an, denn Heines Gedichte stünden in einer Reihe vieler Vorgänger in Altertum und Mittelalter, „die man als so sinnlich verschreyt“ wie Heine. Konkret führt er dann unter anderem die Sinnlichkeit der Epen Homers an: Allein, wenn der Dichter [Heine] einen schönen Busen schön findet und in den Reizen des Körpers selbst wieder den Abglanz des Göttlichen erkennt und sich in ihm entzückt, so kann man ihm wohl nach allen seinen metaphysischen Leiden diese körperliche Erholung gönnen. Die größten Dichter aller Zeiten haben diese Apotheose des sinnlichen Lebens und Liebens gefeiert, und Homer fand eben so viel Behagen daran, die herrlichen Ochsenbraten zu besingen, von denen seine Helden schmauseten, als die Umarmungen des Zeus und der Juno, unter denen Lothus, Safran und Hyazinthen sproßten.46
Lautenbacher sagt damit, dass die enorme Homer-Abhängigkeit der Heineschen Dichtung – angefangen bei der Dichte des zitierten hellenischen Figurenpersonals bis hin zu der Homer nachempfundenen Sprache47 – nicht als lyrisches Dekor missverstanden werden dürfe. Homer zu zitieren und die griechische Götterwelt anzuführen habe den Zweck, an die aus der antiken griechischen Welt her bekannte Verherrlichung des Sinnenlebens zu erinnern und für die Gegenwart zu aktualisieren. In einer Besprechung mit dem Titel Über eine gewisse moderne Lehre des Hrn. Heine, die 1831 zu Heines Nachträgen zu den Reisebildern in der in München erscheinenden Eos publiziert wird, wird ex negativo deutlich, dass in den Nordsee-Gedichten nicht etwa nur ein möglichst breites Panorama von Anspielungen auf die griechische Mythologie
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im Sinne einer Bildungshuberei gesehen wurde, sondern diese Gedichte als konkreter Aufruf verstanden wurden, analog zu der in der griechischen Götterwelt gelebten Libertinage auch die zeitgenössische soziale Beziehung von Mann und Frau neu zu denken und in eine sozialreformerische Praxis einzubinden: In welche Lage, würden denn z.B. sein [Heines] Ideal, das griechische Götterleben, und seine sonstigen Theorien die armen Weiber versetzen, wenn sie practisch würden, und Jedermann das Recht hätte, ihre flüchtigen Reize nach Belieben zu genießen, und sie dann sich selbst und ihrer Verzweiflung zu überlassen.48
Und schlussendlich gibt Heine selber eine Erklärung, warum die Götter Hellas seine Gedichte so dominant bevölkern. Denn das dritte Gedicht des zweiten Zyklus betitelt er mit Die Götter Griechenlands und bezieht sich damit auf das fast gleich lautende Gedicht Die Götter Griechenlandes Friedrich Schillers. Dieses zuerst 1788 veröffentlichte Gedicht hatte eine weithin reichende Kontroverse ausgelöst, in der die eine Seite Schiller den Vorwurf der blasphemischen und antichristlichen Einstellung machte, während die andere Seite für Schiller Denk- und Gewissensfreiheit bei selbständig-freier künstlerischen Gestaltung reklamierte. Ungeachtet der großen Unterschiede dieser beiden Gedichte in formaler Hinsicht beklagen sowohl Schiller als auch Heine in ihren Langgedichten den Verlust der Sinnlichkeit, die mit dem Untergang der antiken Welt einherging, und bezichtigen das Christentum, mit seinem Aufstieg die sinnliche Lust verdrängt und verteufelt zu haben. Während Schiller aber die heidnischen Götter Griechenlands in das fiktionale Reich der Poesie verbannt,49 sind für Heine die Götter Griechenlands keineswegs tot. Zwar haben sie die Erde verlassen, aber sie kehren zurück. Noch sind es nachtwandelnde Schatten, aber ihr Pantheon ist am Tageshimmel schon sichtbar.50 Heine bekennt sich zu dieser Religion der Sensualität, die dem sinnenfeindlichen Christentum eine Abfuhr erteilt, und erklärt sich zu einem Vorkämpfer für diese neue Sinnlichkeit: O da faßt mich ein düsterer Groll, Und brechen möcht‘ ich die neuen Tempel, Und kämpfen für Euch, Ihr alten Götter, Für Euch und Eu’r gutes, ambrosisches Recht, Und vor Euren hohen Altären, Den wiedergebauten, den opferdampfenden, Möcht‘ ich selber knien und beten, Und flehend die Arme erheben –51
Das menschlich zentrale Glücksverlangen nach Lust und sensuellem Genuss, nach christlich nicht verurteilter, sündloser Sinnlichkeit fasst Heine hier in die Vokabel des
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„ambrosischen Rechts“. Sie ist für Heine der Schlüsselbegriff, den er immer dann anführt, wenn er literarisch für die Emanzipation des Fleisches eintritt. Die NordseeGedichte Heines stehen damit im Kontext seiner Religions- und Gesellschaftskritik, die in allgemeiner Hinsicht und zunehmend auf linkshegelianischen und französischfrühsozialistischen Grundlagen aufgebaut ist.52 Bereits in der 1824/1825 geschriebenen Harzreise stellt Heine den religiösen Themen und Gegenständen seiner kritischen Reisebeschreibung sinnliche Elemente gegenüber. Wegen ihrer allzu pointiert formulierten Religionskritik hat Heine den folgenden handschriftlichen Entwurf für den Druck nicht berücksichtigt: Auch hingen noch an der Wand Abeillard und Heloise, einige französische Tugenden, nämlich leere Mädchengesichter, worunter sehr kalligraphisch la prudence, la timidité, la pitié etc. geschrieben war, und endlich eine Madonna, so schön, so lieblich, so hingebend fromm, daß ich das Original, das dem Maler dazu gesessen hat, aufsuchen und zu meinem Weibe machen möchte. Freylich, so bald ich mal mit dieser Madonna verheirathet wäre, würde ich sie bitten, allen fernern Umgang mit dem heiligen Geiste aufzugeben, indem es mir gar nicht lieb seyn möchte, wenn mein Kopf, durch Vermittlung meiner Frau, einen Heiligenschein, oder irgend eine andre Verzierung gewönne.53
Diese Manuskriptstelle zeigt, wie frei Heine schon in dieser Zeit das Verhältnis von Sinneslust zu kirchlichen Moralvorstellungen denkt – alleine die Erwähnung des historischen Liebespaars Pater Abeillards und Héloises, die ihre Liebe entgegen aller religiösen Moral und sittlichen Konventionen ihrer Zeit ausgelebt hatten, spricht eine deutliche Sprache. Aber für die Gesellschaftskritik der Nordsee-Gedichte muss er eine verschleiernde Form finden. Denn Heine, als aufmerksamer Beobachter des Literaturmarktes, war nicht entgangen, dass schon der Zyklus Intermezzo im Buch der Lieder ihm letztlich die absatzschädigenden Vorwürfe der Frivolität und der Unzucht eingebracht hatte; von daher musste er auf seine Leserinnen und Leser Rücksicht nehmen. Da er aber nicht auf die gesellschaftskritische Funktion seiner Dichtung verzichten will, passt Heine seine Kritik in die unbedenklichere Gestalt der griechisch-mythologischen Antikenrezeption ein. Denn wie sich die griechischen Götter als unsterblich erweisen, so unausrottbar sind die menschliche Triebnatur sowie menschliches Glücksverlangen und trotzen der Verzichtmoral der christlichen Kirche. Heines Evokationen des hellenischen Pantheons vor allem in Nordsee II und in Die Götter Griechenlands sind damit gegen das zeitgenössische Christentum gerichtet und reklamieren das Recht auf Sinnlichkeit, auf sinnliches Leben und Liebe. Ihren eigenen Charakter gewinnt Heines Nordsee-Lyrik also durch ihre Funktionalisierung für die große Aufgabe einer umfassenden Emanzipation, deren sowohl gesellschaftspolitischen als auch sensualistischen Konturen Heine fast zeitgleich zu den
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Nordsee-Zyklen in einem weiteren Reisebild, der Reise von München nach Genua von 1828, deutlich skizziert: Laßt uns die Franzosen preisen! Sie sorgten für die zwey größten Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft, für gutes Essen und bürgerliche Gleichheit, in der Kochkunst und in der Freyheit haben sie die größten Fortschritte gemacht, und wenn wir einst alle, als gleiche Gäste, das große Versöhnungsmahl halten, und guter Dinge sind, – denn was gäbe es Besseres als eine Gesellschaft von Pairs an einem gutbesetzten Tische? – dann wollen wir den Franzosen den ersten Toast darbringen. Es wird freylich noch einige Zeit dauern, bis dieses Fest gefeyert werden kann, bis die Emanzipazion durchgesetzt seyn wird.54
Diese politische und sinnliche Emanzipation ist Heines großes Thema bereits in den 1820er Jahren – und es ist Heine, der Emanzipation überhaupt zu einem allgemeinen und weitreichenden Schlagwort macht, das dann den gesamten politisch-sozialen Sprachraum ausrichten sollte.55 Wenn Heine sich also als „Hofdichter der Nordsee“ bezeichnet – und diese Selbstkennzeichnung wählt er gegenüber dem Verleger seiner Nordsee-Gedichte, Julius Campe56 – dann sicher nicht im Sinne eines poeta laureatus.57 Ein Hofdichter steht in Diensten eines Fürsten oder absolutistischen Hofes, nicht eines Volkes oder des Dritten Standes, und wird deshalb nicht für die politische oder die Emanzipation des Fleisches eintreten. Tatsächlich will Heine sich mit den Nordsee-Gedichten auch nicht als Hofdichter im Sinne eines offiziellen Dichters für öffentliche Anlässe und nationale Ereignisse inszenieren, sondern er knüpft mit dem Begriff an die in früheren Zeiten ausgeübten Funktionen eines Hofpoeten an. Dieser war ursprünglich ein Kriegsherold gewesen, der auch verpflichtet gewesen war, den militärischen Kampf zu eröffnen, Krieger zum Kampf zu ermutigen und gefallene Helden zu feiern. Im Mittelalter war dann das Aufgabenspektrum des Hofdichters zunehmend unscharf geworden und hatte sich mit den Aufgaben des Hofnarren vermischt, der am Hofe provozieren und irritieren sollte, um seinem absolutistischen Fürsten gegenüber auch ungestraft unbequeme Wahrheiten äußern zu können.58 Offensichtlich versteht Heine sich als Hofdichter einmal im erstgenannten Sinne eines Kriegsherolds und übernimmt die kämpferische Funktion des Hofdichters für die eigene Autorschaft.59 Damit wird auch nachvollziehbar, warum er von der Nordsee II behaupten konnte, dass sie „ein Kriegsschiff ist, das allzuviel Kanonen an Bord führt“.60 Ebenso ist die Figur des Hofnarren Teil dieser Selbstfiguration Heines als kämpferischer Hofdichter.61 Im Schlußwort zu den Reisebildern von 1830 identifiziert Heine sich mit der Figur des Kunz von der Rosen (ca. 1470–1519), des berühmten Hofnarren Kaiser Maximilians I. (1459–1519).62 In der kleinen Erzählung verändert er aber diese historische Person charakteristisch und seinen Zwecken entsprechend, indem er den Hofnarren mit den ikonografischen Zeichen des Urbilds des Emanzipationskampfes, der Französischen Revolution, ausstattet:
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Er drückt ihm bei dem heimlichen Besuch des Kaisers im Kerker das blanke Beil des Scharfrichters in die Hand und setzt ihm statt einer Narrenkappe die rote Jakobinermütze auf.63 Und diese Befreiungsaktion gilt nicht dem Kaiser, sondern dem deutschen Volke.64 Mit dieser Selbstfiguration des Dichters als Herold, die später erweitert wird zu „Künstler, Tribune und Apostel“65, wird deutlich, dass in der Nordsee-Lyrik weniger naturnahes Meereserlebnis oder romantische Naturerfahrung gedichtet sind. Vielmehr will die Meeresdichtung mit ihrem bunten und wilden Treiben, das griechische Mythen und christliche Religion, hohe und profane Themen, pathetische und ironische Stimmungen zusammen- und gegeneinander aufbringt, als funktioneller Ausdruck eines für den Dichter existentiellen Emanzipationskampfes verstanden werden. Das Erleben der Nordsee und gerade auch ihrer elementaren Gewalt ist für Heine Anlass und Grund, die Natur zum Maßstab der Lebensverhältnisse zu machen – sowohl der eigenen, als auch der gesellschaftlichen und politischen.
Bibliografie Baer, Lydia: „Anklänge an Homer (nach Voss) in der ‚Nordsee‘ Heinrich Heines“, in: The Journal of English and Germanic Philology 29, 1930, S. 1–17. Bruchstücke aus Karl Berthold‘s Tagebuch, hrsg. v. Oswald (d.i. Martin Hieronymus Hudtwalker), Berlin 1826. Brummack, Jürgen: Heinrich Heine. Epoche – Werk – Wirkung, München 1980. Byron, George Gordon: The Project Gutenberg EBook of Childe Harold’s Pilgrimage, https://gutenberg.org/cache/epub/5131/pg5131-images.html#link2H_4_0006, letzter Zugriff 14.06.2022. Corbin, Alain: Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750–1840, Berlin 1990. Geistdoerfer, Patrick: L’imaginaire de la Mer: Des Mythes à la Science, in: Alain Corbin: La Mer. Terreur et Fascination, Paris 2011. Graß, Karl Martin/Koselleck, Reinhart: Emanzipation, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/ Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972–1997. Halem, Friedrich Wilhelm von: Die Insel Norderney und ihr Seebad, nach dem gegenwärtigen Standpuncte, Hannover 1822. Heine, Heinrich: Düsseldorfer Heine-Ausgabe, hrsg. v. Manfred Windfuhr, Hamburg 1973–1997. Heine, Heinrich: Heine-Säkularausgabe Berlin, Weimar 1970 ff. Heinrich Heines Werk im Urteil seiner Zeitgenossen. Rezensionen und Notizen zu Heines Werken aus den Jahren 1821–1856, hrsg. v. Eberhard Galley und Alfred Estermann,
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Christoph auf der Horst
Hamburg 1981–1992; fortgeführt von Christoph auf der Horst und Sikander Singh, Stuttgart 2002–2006. Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit – Person – Werk, Stuttgart 2004. auf der Horst, Christoph/Buhl, Anne/Schonlau, Anja: Von der Moral der Natur. Zu Mischformen naturteleologischen und ‚naturwissenschaftlichen‘ Denkens in der Geschichte der Medizin, in: Vögele, Jörg/Fangerau, Heiner/Noack, Thorsten: Geschichte der Medizin – Geschichte in der Medizin. Forschungsthemen und Perspektiven, Münster 2006. Kortländer, Bernd: Die Erfindung des Meeres aus dem Geist der Poesie. Heines Natur, in: Ich Narr des Glücks. Heinrich Heine 1797–1856. Eine Ausstellung zum 200. Geburtstag, hrsg. v. Joseph A. Kruse, Stuttgart 1997. Krüger, Arnd/McClelland, John: Die Anfänge des modernen Sports in der Renaissance, London 1984. Müller, Joachim: Heines Nordseegedichte. Eine Strukturanalyse, in: Joachim Müller: Von Schiller bis Heine, Halle 1972. Paulsen, Reinhard: Schifffahrt, Hanse und Europa im Mittelalter. Schiffe am Beispiel Hamburgs, europäische Entwicklungslinien und die Forschung in Deutschland, Wien 2016. Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke, hrsg. v. Fricke, Gerhard/Göpfert, Herbert G., München 1987.
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Brief Heinrich Heines an Friedrich Merckel vom 28.8.1826, in: Heine, Heinrich: Heine-Säkularausgabe Berlin, Weimar 1970 f., Bd. XX, S. 259. [Hiernach: HSA Band, Seitenzahl] Brief Heinrich Heines an Charlotte Embden vom 28.7.1823, in: HSA XX, 105. So im August/September 1825, im Juli/August 1826 und im August/September 1827 auf Norderney (auch Wangerooge), wie auch in Brighton, Margate und Ramsgate auf der englischen Kanalseite im Juli/August 1827. Im August/September 1829 und im Juli/August 1830 dann auf Helgoland. Brief Heinrich Heines an Charlotte Embden (geb. Heine) vom 10. August 1830, in: HSA XX, 416. Heine hielt sich, nachdem er nach Paris übergesiedelt war, bis 1846 jedes Jahr für mehrere Wochen zu Kuraufenthalten in Badeorten vor allem der französischen Atlantikküste, gelegentlich auch der Pyrenäen auf. Vgl. hierzu Geistdoerfer, Patrick: L’imaginaire de la Mer: Des Mythes à la Science, in: Alain Corbin: La Mer. Terreur et Fascination, Paris 2011, S. 135–147. Vgl. hierzu Krüger, Arnd / McClelland, John: Die Anfänge des modernen Sports in der Renaissance, London 1984. Vgl. zu diesem Topos physikotheologischer Literatur auf der Horst, Christoph / Buhl, Anne / Schonlau, Anja: Von der Moral der Natur. Zu Mischformen naturteleologischen und ‚naturwissenschaftlichen‘ Denkens in der Geschichte der Medizin, in: Vögele, Jörg / Fangerau, Heiner / Noack, Thorsten: Geschichte der Medizin – Geschichte in der Medizin. Forschungsthemen und Perspektiven, Münster 2006, S. 115–124.
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Halem, Friedrich Wilhelm von: Die Insel Norderney und ihr Seebad, nach dem gegenwärtigen Standpuncte, Hannover 1822, S. 160–168. Vgl. hierzu Corbin, Alain: Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750–1840, Berlin 1990. Heinrich Heine hatte sich spätestens Ende der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts intensiv mit Byron beschäftigt und u. a. eine Teilübersetzung des „Manfred“ und ausgewählter Strophen des „Childe Harold“ angefertigt. (Vgl. hierzu Kommentar von Pierre Grappin, in: Heinrich Heine, Düsseldorfer Heine-Ausgabe, hrsg. v. Manfred Windfuhr, Hamburg 1973–1997, Bd. I, S. 1218–1226. [Hiernach: DHA Band, Seitenzahl] „Wie liebt’ ich dich, o Meer! du, meine Freude / Im Jungendspiel‘ schon, wenn dein Busen mich / Forttrug wie Blasen; schon im Flügelkleide / Scherzt’ ich mit deiner Brandung; inniglich / Erfreut‘ sie mich, und wenn die Kühlte dich / Erschreckte, wogt‘ in mir ein süßes Sehnen, / Denn so wie sie dein Kind war, war’s auch ich; Vertraut dir mußt‘ ich, nah wie fern, mich wähnen / Und legte dann, wie jetzt, die Hand auf deine Mähnen.“ (Junker Harold’s Pilgerfahrt, 1830, S. 196). Zit. n. Childe Harold’s Pilgrimage by Lord Byron, Canto CLXXXIV https://gutenberg.org/cache/epub/5131/pg5131-images.html#link2H_4_0006, letzter Zugriff: 11.11.2021.) „O wie lieb ich das Meer.“ (HSA XX, 263.); „Hab immer das Meer so lieb gehabt, […].“ (DHA II, 37.) „Mein Herz gleicht ganz dem Meere, […].“ (DHA I, 217.) Corbin, Meereslust, S. 224 f. Allerdings schreibt Heine hier in distanzierter und ironischer Beobachterperspektive, die sich nicht verträgt mit einem uneingeschränkt zustimmenden Erleben von Reiten und Jagd auf dem Strande. DHA VI, 150. Und seinem Freund Moses Moser schreibt er am 14. Oktober 1826: „Ich miethete mir ein Ever u zwey Schiffer u den Tag über fuhr ich beständig auf der Nordsee herum.“ (HSA XX, 265) Zu dem Schiffstyp Ever vgl. Paulsen, Reinhard: Schifffahrt, Hanse und Europa im Mittelalter. Schiffe am Beispiel Hamburgs, europäische Entwicklungslinien und die Forschung in Deutschland, Böhlau 2016. „Die Jagd am Strande“ dagegen weiß Heine „nicht sonderlich zu schätzen“ – auch wenn er es versucht hat und das „Unglück [hatte], eine junge Möve todt zu schießen“. (DHA VI, 151). „Mit meiner Gesundheit geht es immer besser. Zu ihrer völligen Herstellung brauch ich das hiesige Seebad, und schwimme wieder auf den Wellen der Nordsee, die mir jetzt sehr gewogen ist, weil sie weiß daß ich sie besinge.“ (Brief Heinrich Heines an Karl August von Varnhagen vom 29.7.1826, in HSA XX, 254) Auch Fahrten auf einem Boot bezeichnet Heine als Schwimmen: „Jetzt schwimme ich wieder auf der Nordsee. Das Salzwasserelement sagt mir zu, es wird mir wohl und leicht zu Muth wenn mein Kahn von den Wellen wie ein Ball hin u her geworfen wird, […].“ (Brief Heinrich Heines an Moses Moser vom 8.7.1826, in: HSA XX, 256) Brief Heinrich Heines an Karl Immermann vom 14. Oktober 1826, in: HSA XX, 263. So auch kurz vorher: „Aber dieses wahlverwandt Element thut mir nichts Schlimmes.“ (Brief Heinrich Heines an Julius Campe vom 29. Juli 1826, in: HSA XX, 253) Noch drei Jahre später heißt es: „Das Meer ist mein wahlverwandtes Ellement und schon sein Anblick ist mir heilsam.“ (Brief Heinrich Heines an Moses Moser vom 6. August 1829, in: HSA XX, 362). Brief Heinrich Heines an Christian Sethe vom 1. September 1825, in: HSA XX, 255.
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DHA VI, 150. Vgl. hierzu Kommentar Jost Hermand, in: DHA VI, 750. Bruchstücke aus Karl Bertholds Tagebuch, hrsg. v. Oswald, Berlin 1826, S. 299 f. Vgl. hierzu Kommentar Jost Hermand, in: DHA VI, 750. Vgl. hierzu Kommentar Jost Hermand, in: DHA VI, 724 f. Brief Heinrich Heines an Wilhelm Müller vom 7. Juni 1826, in: HSA XX, 249 f. Brief Heinrich Heines an Friedrich Wilhelm Gubitz vom 3. November 1825, in: HSA XX, 224; Brief Heinrich Heines an Rudolf Christiani vom 7. März 1824, in: HSA XX, 149; Brief Heinrich Heines an Karl Simrock vom 26. Mai 1826, in: HSA XX, 247; Brief Heinrich Heines an Friedrich Merckel vom 6. Oktober 1826, in: HSA XX, 224; Brief Heinrich Heines an Friedrich Merckel vom 13. Oktober 1826, in HSA XX, 262; Brief Heinrich Heines an Joseph Lehmann vom 16. Dezember 1826, in HSA XX, 279. Brief Heinrich Heines an Moses Moser vom 30. Oktober 1827, in: HSA XX, 303 (Hervorhebung von Heine). Heinrich Heines Werk im Urteil seiner Zeitgenossen, hrsg. v. Eberhard Galley und Alfred Estermann, Hamburg 1981, Band 1, S. 218. [Hiernach G/E, Seitenzahl]; G/E, 225. G/E, 221, 232, 242, 291. G/E, 300, 272. So schreibt Heine an Varnhagen am 14. Mai 1826: „Auch hab ich, wie gesagt, in Hinsicht des Buches [„Reisebilder“, in denen „Nordsee II“ integriert war] kein gutes Gewissen, und bedarf dennoch des Ruhmes jetzt mehr als sonst. Nächste Woche, wenn das Buch hier ausgegeben wird (ich bitte Sie das beykommende Ex nicht früher den Leuten sehen zu lassen) will ich Ihnen noch einige Ex der Reisebilder schicken, damit Sie, für deren Besten,wie früher bey den Tragödien, darüber verfügen.“ (HSA XX, 242.) G/E, 215, 286. G/E 215, 242, 308. G/E 215 (Hervorhebung im Original), 242, 308. Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit – Person – Werk, Stuttgart 2004, S. 76. Brummack, Jürgen: Heinrich Heine. Epoche – Werk – Wirkung, München 1980, S. 109. Kortländer, Bernd: Die Erfindung des Meeres aus dem Geist der Poesie. Heines Natur, in: Ich Narr des Glücks. Heinrich Heine 1797–1856. Eine Ausstellung zum 200. Geburtstag, hrsg. v. Joseph A. Kruse, Stuttgart 1997, S. 265. Müller, Joachim: Heines Nordseegedichte. Eine Strukturanalyse, in: Joachim Müller: Von Schiller bis Heine, Halle 1972, S. 495. Höhn, Heine-Handbuch, S. 76. So in „Hellebeck, eine seeländische Gegend“ (1776), „An das Meer“ (1777), „Die Meere“ (1777). (Hellebeck liegt auf Seeland, einer zu Dänemark gehörenden Insel; von daher zählt Hellebeck eigentlich zur Ostsee. Auf der anderen Seite hat Stolberg den Ort Hellebeck in seinem Gedicht in das Nordmeer verlegt. Auch in „Die Meere“ ist explizit von der „NordSee“ die Rede.) Ebenso thematisiert Friedrich Baron de la Motte-Fouqué (1777–1843) in „Runenschrift“ (1813) kurz die Nordsee, und auch das Schauspiel „Pusillanda“ (1783) von Christian Friedrich Sander (1756–1819) spielt auf einer Nordsee-Insel. Die Nordsee hat ebenso schon vor Heine ihren Namen für ein Reisebild hergeben müssen. So in „Flug von der Nordsee zum Montblanc, durch Westphalen, Niederrhein, Schwaben, die Schweiz, ueber
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Baiern, Franken, Niedersachsen zurueck: Skizze zum Gemaelde unserer Zeit“ (1821) von Wilhelm Christian Müller (1752–1831), der nicht mit Wilhelm Müller (1794–1824) verwechselt werden darf. Dieses Reisebild ist keine bloße Reisebeschreibung, sondern vermischt Reiseerlebnisse mit gesellschaftskritischen Beobachtungen, wie später Heine auch. Die Helgoländer sind hier die „kecken Nomaden der Nordsee“. (DHA I, 420) Im Gedicht „Im Hafen“ ist noch vom „Rathskeller zu Bremen“ die Rede. (DHA I, 422) DHA XII, 25. Heines Detailkenntnisse und Wiedergabe der griechischen Mythologie in den Nordsee-Gedichten ist weitaus umfassender, als es hier wiedergegeben werden kann. In wenigen Fällen zitiert Heine auch aus ägyptischer und aus der nordischen Mythologie. Brief Heinrich Heines an Friedrich Merckel vom 16. August 1826, in: HSA XX, 257. Vgl. hierzu Baer, Lydia: „Anklänge an Homer (nach Voss) in der ‚Nordsee‘ Heinrich Heines“, in: The Journal of English and Germanic Philology 29, 1930, S. 1–17. „Der blinde Sänger stand am Meer; / Die Wogen rauschten um ihn her, / Und Riesenthaten goldner Zeit / Umrauschten ihn im Feierkleid. // Es kam zu ihm auf Schwanenschwung / Melodisch die Begeisterung, / Und Ilias und Odyssee / Entstiegen mit Gesang der See.“ (Heinrich Christian Boie (Hg.), Gedichte der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, (Carlsruhe 1794), S. 210). G/E, 339. G/E 340. Lautenbacher bezieht sich hier auf eines der Nordsee-Gedichte, die während des Ritzebütteler Badeaufenhaltes entstanden sind: „Der Abend kommt gezogen, / Der Nebel bedeckt die See; / Geheimnißvoll rauschen die Wogen, / Da steigt es weiß in die Höh‘: // Die Meerfrau steigt aus den Wellen, / Und setzt sich zu mir, am Strand; / Die weißen Brüste quellen / Hervor aus dem Schleyergewand.// Sie drückt mich und sie preßt mich, / Und thut mir fast ein Weh‘; / Du drückst ja viel zu fest mich, / Du schöne Wasserfee. // »Ich presse dich in meinen Armen, / Und drücke dich mit Gewalt, / Ich will bey dir erwarmen, / Der Abend ist gar zu kalt.«“ (DHA I, 220). Heine legt darauf Wert und schreibt bspw. am 1.1.1827 dem Redakteur seiner Gedichte, dass die Formulierung „unauslöschliche Göttergelächter“ in „Die Götter Griechenlands“ ein homerischer Ausdruck sei und deshalb beibehalten werden müsse. (Brief Heinrich Heines an Friedrich Merckel vom 1. Januar 1827, in: HSA XX, 280 und DHA I, 415). G/E 490. „Müßig kehrten zu dem Dichterlande / Heim die Götter, unnütz einer Welt, / Die, entwachsen ihrem Gängelbande, / Sich durch eignes Schweben hält. // Freundlos, ohne Bruder, ohne Gleichen, / Keiner Göttin, keiner Irdschen Sohn, / Herrscht ein andrer in des Äthers Reichen / Auf Saturnus‘ umgestürztem Thron.“ (Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1987, Bd. I, S. 168). „Und am hellblau’n, sternlosen Himmel / Schweben die weißen Wolken, / Wie kolossale Götterbilder / Von leuchtendem Marmor. // Nein, nimmermehr, das sind keine Wolken! / Das sind sie selbst, die Götter von Hellas, / Die einst so freudig die Welt beherrschten, […].“ (DHA I, 412). DHA I, 416. So zum Beispiel in der Philosophiegeschichte „Zur Religion und Philosophie in Deutschland“, die dann schon ideell mit der frühsozialistischen Lehre des Saint-Simonismus unter-
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füttert ist: „Wir wollen keine Sanskülotten seyn, keine frugale Bürger, keine wohlfeile Präsidenten: wir stiften eine Demokrazie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter. Ihr verlangt einfache Trachten, enthaltsame Sitten und ungewürzte Genüsse; wir hingegen verlangen Nektar und Ambrosia, Purpurmäntel, kostbare Wohlgerüche, Wollust und Pracht, lachenden Nymphentanz, Musik und Comödien –.“ (DHA VIII, 61). DHA VI, 567. DHA VII, 70. Vgl. hierzu Graß, Karl Martin / Koselleck, Reinhart: Emanzipation, in: Brunner, Otto, Conze, Werner, Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972–1997, Bd. 2, S. 167–169. Brief Heinrich Heines an Julius Campe vom 29. Juli 1826, in: HSA XX, 254. Zu Heines Lebzeiten wurde 1813 noch Robert Southey (1774–1834) zum poet laureate, zum offiziellen Hofdichter des englischen Königshauses ernannt. Dass Heine hier nicht von einer höfischen Courtoisie spricht, sondern den aufbrausenden und unbezähmbaren Charakter der Naturgewalt des Meeres meint, wird aus dem Gesamtbrief deutlich: „Das Meer war so wild, daß ich oft zu versaufen glaubte. Aber dies wahlverwandte Element thut mir nichts Schlimmes. Es weiß recht gut, daß ich noch toller seyn kann. Und dann, bin ich nicht der Hofdichter der Nordsee? – Sie weiß auch, daß ich noch eine zweyte Abtheilung zu schreiben habe.“ Vgl. hierzu das Lemma „Hofpoet“ der „Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste“, Leipzig 1832, Bd. 9, S. 319 f. In den „Französischen Zuständen“ nennt Heine Mirabeau, den Wortführer des Dritten Standes in der Französischen Revolution in den Generalständen, den „Herold des neuen Weltfrühlings“. (DHA XII, 148.) Vgl. Fußnote 25. An programmatisch wichtiger Stelle, im eröffnenden Gedicht I des ersten Nordsee-Zyklus, bringt Heine die beiden Aspekte des Hofdichters (Herolds) und Hofnarrens in einem poetologisch auf den Gesamtzyklus zu beziehenden Selbstkommentar zusammen – hier allerdings noch auf die Allegorie einer neuen Liebe und jungen Königin bezogen: „Ich gebe dir einen Hofstaat / Von steifgeputzten Sonetten, / Stolzen Terzinen und höflichen Stanzen; / Als Läufer diene dir mein Witz, / Als Hofnarr meine Phantasie, / Als Herold, die lachende Thräne im Wappen, / Diene dir mein Humor.“ (DHA I, 358.) Heine greift zur Schilderung dieser historischen Begebenheit auf Karl Friedrich Flögels „Geschichte der Hofnarren“ (Leipzig 1789) zurück. (Vgl. hierzu Kommentar Alfred Opitz, in: DHA VII, 1803) Flögel erklärt dort auch, dass Hofnarr gelegentlich synonym für Hofpoet verwandt wurde. (S. 183) DHA VII, 270–273. „Denn du, mein Volk, bist der wahre Kaiser, der wahre Herr der Lande – dein Wille ist souverain und viel legitimer als jenes purpurne Tel est notre plaisir, das sich auf ein göttliches Recht beruft, […]. (DHA VII, 272.) DHA VIII, 218.
Modellierungen des Grausigen Meeresungeheuer in der Dichtung der römischen Kaiserzeit Joachim Fugmann, Thomas Konrad
„Viele große Fische“: Meeresungeheuer in der Antike
Die unberechenbare und zugleich geheimnisvolle Wasseroberfläche des Meeres präsentierte sich den Menschen in der Antike auch als ein Horizont – eine Grenze zwischen dem Bekannten über Wasser und dem Unbekannten unter Wasser, die dem Betrachter zugleich beide Welten, in einer mit dem Blick in die Tiefe vermischten Spiegelung, vor Augen führt.1 Der Aspekt des Unbekannten bot der Fantasie freilich zu jeder Zeit einen unermesslichen Gestaltungsraum. Und so füllten die Menschen das Meer nicht zuletzt mit mythischen Ungeheuern, die zwar in unterschiedlichem Maße an existierende Meerestiere2 erinnern, doch dabei ungleich bedrohlicher erscheinen konnten. Wer mit dem ,nassen Element‘ unfreiwillig in Berührung kam, hatte jedoch grundsätzlich – das heißt: von Meeresungeheuern abgesehen – Schlimmes zu befürchten: „A plunge into the water was always a familiar passage to death, by lake or sea.“3 Beide Aspekte – das Undurchdringliche der Meeresoberfläche und die von ihr ausgehenden, durch rohe Naturgewalt verursachten Gefahren – zeigen sich bei Hesiod, wenn er in seinem gattungsgeschichtlich bedeutsamen Lehrgedicht Werke und Tage (um 700 v. Chr.) seinem Bruder Perses folgenden Ratschlag gibt: Doch nach gefährlicher Seefahrt ergreift dich vielleicht ein Verlangen, / wenn die Plejaden die Kraft, die mächtige, fliehn des Orion / und auf der Flucht in das Meer, das dunstverschleierte, fallen; / o wie tobt dann das Wehen von allerlei wirbelnden Winden! / Nicht mehr halte du dann die Schiffe auf schwärzlichem Meere, / sondern bestelle die Erden und denk daran, was ich dir rate. / Aber das Schiff zieh an Land und festige rings es mit Steinen […].4
Das ,dunkle‘ Meer5 ist seit Homer Schauplatz für Erzählungen, in denen sich tapfere Seeleute gegen die Naturgewalt des Wassers zur Wehr setzen müssen. Konkret zeigt sich die Bedrohung durch Meereslebewesen in stets ähnlich aufgebauten Narrativen, wie sie in unterschiedlichen Teilen der Welt seit Jahrtausenden vorkommen: Sie erzählen
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von „großen Fischen“, die ein ganzes Schiff samt Besatzung in die Tiefe ziehen oder Menschen mit ihrem großen Maul verschlucken – wie im Falle der biblischen Jona-Geschichte, deren „großer Fisch“ erst seit dem 11. Jahrhundert als Wal aufgefasst wird.6 In einer Reihe von Erzählungen (wohl indischen Ursprungs) fällt der Mensch dem Sog zum Opfer, den das große Meereslebewesen beim Abtauchen erzeugt: etwa bei dem Versuch, mit dem Schiff eine Insel anzusteuern, die sich bei näherer Betrachtung, so die überraschende Wendung des Plots, als Körper eines großen Fisches entpuppt, der dicht unter der Wasseroberfläche schwimmt.7 Unmittelbarer treffen Mensch und Tier in jenen Erzählungen aufeinander, in denen ein meist als Wal gedeuteter großer Fisch einzelne Personen oder gar eine gesamte Schiffscrew verschluckt: Besonders facettenreich verarbeitet der griechische Satiriker Lukian (2. Jh. n. Chr.) diesen Stoff in seinem parodistischen Reisebericht, den Wahren Geschichten. Unter allerlei „delicious nonsense“8 sticht eine Episode hervor, in welcher der Erzähler samt seiner 50 Mann starken Besatzung auf hoher See von einem Meeresungeheuer von gewaltiger Größe und einer Länge von über 200 km (!) verschluckt wird.9 Den Seeleuten bietet sich im Inneren des Monstrums ein erstaunliches Bild: Es gibt eine aus Schlamm aufgehäufte Insel, einen Wald und mehrere – teils kriegerische – Volksstämme maritimer Physiognomie, etwa ,Krebshänder‘, ,Schollenfüßler‘ und ,Thunfischschädler‘.10 Die Männer befreien sich nach einigen Tagen aus eigener Kraft und entsteigen dem Maul des „großen Fisches“. Obgleich der Erzähler unversehrt davonkommt, schreibt er dem Untier zweifellos eine Tötungsabsicht zu:11 [Der Walfisch] kam mit offenem Maul heran und wühlte von weitem das Meer auf, über und über mit Gischt bespritzt und die Zähne zeigend, die viel höher als die Phallussäulen bei uns waren, alle scharf wie Pfähle und weiß wie Elfenbein. Wir nahmen unter Umarmungen Abschied voneinander und warteten, der Walfisch aber war schon da, schlürfte das Wasser ein und verschluckte uns mitsamt dem Schiff. Bevor er uns jedoch mit den Zähnen zermalmte, rutschte das Schiff durch die Lücken ins Innere.12
Lukian kann auf verschiedene literarische Vorlagen zurückgreifen, doch beruhen seine Schilderungen gleichermaßen auf weit verbreiteten travel-tales, Seemannsgarn aus dem Mittleren Orient, welches er gekannt haben könnte.13 Blicken wir nun auf die Begriffe, die sich für gefährliche „große Fische“ in antiken Texten finden. Zweien begegnen wir in der genannten Passage aus Lukians Wahren Geschichten. Im Morgengrauen zeigen sich der Schiffscrew „Seetiere und viele große Fische“ (θηρία και κήτη πολλά)14. Einer der „Fische“15 verschlingt schließlich das ganze Schiff mitsamt Besatzung. Der Begriff, den Lukian für dieses Untier verwendet, kḗtos (gr. τὸ κῆτος, lat. cetus)16, dessen Etymologie nicht geklärt ist, erfasst das Phänomen der großen Meerestiere indes aus zwei verschiedenen Perspektiven: Anzunehmen ist eine
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weit gefasste Grundbedeutung ‚großes Meertier‘, sodass der Begriff, etwa in Homers Odyssee und bei Aristoteles17, für Robben und Delphine verwendet wird. Auch Wale (gr. φάλαινα, lat. ballaena) werden damit bezeichnet. Doch neben dieser wissenschaftlichbiologischen Bedeutung hat das Wort auch eine mythische, so wenn es für ,Ungeheuer‘ (lat. belua ‚Untier‘; monstrum ‚Ungeheuer‘; daneben anguis, draco, serpens) steht, die sich von den Walfischen sowohl durch ihr Äußeres (man denke dabei in groben Zügen an einen mythischen „Meerdrachen“) als auch durch ihre (übernatürlichen) Fähigkeiten unterscheiden. So ist beispielsweise der piscis grandis der Jona-Geschichte kunsthistorisch betrachtet mitnichten auf den ,Wal‘ festgelegt. In zahlreichen Darstellungen erscheint der ,große Fisch‘ als mythisches Ungeheuer, wie es sich in der Kunst zum Zeitpunkt der Niederschrift des Jona-Buches längst etabliert hatte. Einen umfassenden Katalog der typischen Merkmale dieser mythischen Meereswesen gibt John Boardman: Its tail is fishy, either a dolphin-like crescent, or fuller and fish-like. Its body is serpentine and often scaly with a cushioned underpart, but it may sometimes be given a deeper chest and belly before its long writhing tail. It sometimes has two forelegs like a lion, but these may also take the form of flippers, or it may borrow horse-legs from its cousin the hippocamp. It may have small fins along its body, and often has a spiny back crest. The neck may carry a ruff of spines or angular plates like gills. The ears are usually long and pointed, the forehead lours. The muzzle takes different forms in different periods – like a lion, a dog, a fish, a pig, but a common feature is the furrowed snout, often upturned nose and wicked teeth. A little goatee beard is sometimes worn, or finny gills beneath the lower jaw.18
Im Mythos wirken Meeresungeheuer des Typs Ketos in unterschiedlichen Rollen: Wie antike Darstellungen zeigen, liegt ihre eigentliche Funktion im Transport von Nereiden19 sowie in dienstbaren Tätigkeiten für andere Meeresgöttinnen und -götter, etwa für Poseidon.20 Das Ketos tritt ferner sowohl als ,Schoßhündchen‘ von Göttinnen und Göttern wie auch als aggressives Wesen auf. Gerade diese Funktion als lebensbedrohliches monstrum ist es, welche die verschiedenen Erscheinungsformen von Ungeheuern aus dem Meer in der Dichtung der römischen Kaiserzeit charakterisiert.
Meeresungeheuer in Epos und Tragödie der römischen Kaiserzeit
Ein erstes signifikantes Beispiel für die plastische Modellierung eines Meeresungeheuers bietet Ovid in seinen Metamorphosen, einem mythologischen Epos, das durch die Verknüpfung bekannter wie unbekannter Mythen einen zeitlichen Bogen von der Er-
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schaffung der Welt bis in die Lebenszeit des Dichters unter dem Principat des Augustus schlägt. So wird im vierten Buch die Geschichte von der Rettung der Königstochter Andromeda durch den jungen Helden Perseus erzählt, den Sohn des Zeus und der Danae, die der Göttervater bei einem seiner amourösen Abenteuer in Gestalt eines Goldregens geschwängert hatte (met. 4,664–734): Kassiopeia, die Gattin des äthiopischen Königs Kepheus, hat die Nereiden erzürnt, indem sie die eigene Schönheit als überlegen betrachtet. Zur Strafe schickt Poseidon, der Vater der Meeresgöttinnen, ein Meeresungeheuer (V. 689/727: belua; 715: draco), das Menschen und Tiere verschlingt. Auf den Rat des Orakels lässt der Vater daher seine Tochter an einen Felsen binden, um sie dem Untier als Opfer zum Fraß vorzusetzen. Perseus jedoch, der sich auf dem Heimweg zu seiner Heimatinsel Seriphos in der Ägäis befindet, verliebt sich in Andromeda und verspricht den Eltern die Rettung ihrer Tochter, sofern sie in die Heirat einwilligen.21 Während die verzweifelten Eltern zusätzlich ihr Königreich als Lohn anbieten, hat das Meeresuntier seinen Auftritt:22 Wie ein Kriegsschiff, das angetrieben von den schweißüberströmten Armen junger Männer mit seinem Rammsporn am Bug die Fluten durchfurcht, zerteilt das Ungeheuer mit seiner Brust die Wellen und ist nur noch die Wurflänge einer balearischen Schleuderkugel von seinem Ziel entfernt. Da steigt in diesem Moment höchster Gefahr Perseus dank seiner Flügelschuhe in die Luft, stürzt sich wie ein Adler von oben auf seine ,Beute‘ und attackiert den schwer zu schützenden Rücken der Bestie. Durch die wiederholt angesetzten Stiche des Helden in seinen von Muschelschalen übersäten Rücken schwer verletzt, versucht sich die Bestie wie ein von Hunden gejagter Eber verzweifelt gegen die Angriffe zu wehren, indem sie sich bald aufbäumt, bald Schutz unter Wasser sucht und aus ihrem Schlund das Meerwasser ausspeit, das sich durch sein purpurfarbenes Blut inzwischen dunkelrot gefärbt hat.23 Dies wiederum zwingt Perseus, auf einer Felsenklippe Halt zu suchen, da seine Flügelschuhe, durch die Wasserattacken des Meerungeheuers triefend nass, nicht mehr ausreichend tragfähig sind. Indem er mehrfach den Stahl seines Krummschwertes in dessen Eingeweiden versenken kann, entscheidet er den Kampf zu seinen Gunsten. Mit seinem Kunstgriff, das Auftauchen des Seemonsters mit dem Angriffsmodus eines römischen Kriegsschiffes24 zu parallelisieren, hat Ovid für seine Darstellung eine Inszenierung gewählt, die seinen Lesern entweder aus eigener Kriegserfahrung oder durch die Aufführung von Naumachien (Seeschlachten) in eigens zu diesem Zweck erbauten Spielstätten bekannt war.25 Auch die Parallelisierung des Todeskampfes des Ungeheuers mit demjenigen eines Ebers, der von einer kläffenden Hundemeute gehetzt und gestellt wird, fokussiert den Blick des Lesers auf Situationen, wie sie ihm vor allem von den blutigen Tierhatzen in der Arena (ludi bestiarii bzw. venationes) vertraut waren.26 Eine noch plastischere und fantasievollere Version vom Kampf des Meerungeheuers gegen Perseus bietet der Dichter Manilius, ein jüngerer Zeitgenosse Ovids, in seinem kosmologischen Lehrgedicht (Astronomica). Im fünften und letzten Buch (538–617)
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ist der Fokus der Darstellung, die ihrerseits intertextuell Ovid aufgreift, zunächst auf die unglückliche Königstochter gerichtet, die von ihren Eltern als Opfer für die Bestie (544 belua) auserkoren ist. Einer Braut gleich (545: hic hymenaeus erat) wird sie an den Strand geleitet und an einen Felsen gekettet. Vögel in der Luft und Nereiden im Wasser beklagen ihr Schicksal, selbst das Meer beruhigt seine Wellen (558–564). Da erscheint Perseus auf der Bühne, realisiert scharfsichtig die Lage und ist nach kurzer Verhandlung mit den Eltern bereit, deren Tochter zu retten. Zugleich kündigt sich das Erscheinen des Ungeheuers an. Die Meeresoberfläche hebt sich, und die Wellen versuchen vor der gewaltigen Erscheinung des monstrum zu ,fliehen‘. Dieses aber erhebt seinen Kopf aus den Wellen, sie zerteilend, und speit das Meerwasser aus, welches seine Zähne umströmt (581–584). Sein Körper bewegt sich ruckweise in gewaltigen Windungen vorwärts und bedeckt die ganze Meeresoberfläche. Selbst die Felsen und Berge an Land fürchten sich nun. Andromeda jedoch, voller Vertrauen auf ihren Helden, bewahrt Haltung.27 Perseus seinerseits schleudert den ins Blut der Medusa getränkten Speer auf das Ungeheuer, doch bietet dieses ihm die Stirn, indem es nicht nur seinen Kopf aus den Fluten erhebt, sondern sich mit seinem ganzen Körper in die Luft schraubt. Je höher es steigt, desto höher steigt auch Perseus in die Höhe, ohne von seinen Attacken zu lassen. Doch das Untier gibt nicht auf, sondern schnappt weiterhin mit seinem riesigen Maul nach ihm, seine Zähne knirschen vergeblich in der Luft. Es bläst das Wasser in den Himmel bis zu den Sternen und versucht, den auf seinen Flügelschuhen in der Luft schwebenden Helden mit dem Strahl seines bluterfüllten Geifers nach unten zu ziehen. Doch endlich verlassen das Monster die Kräfte, es sinkt in die Wellen zurück, den weiten Ozean mit seinem gewaltigen Körper bedeckend. Perseus dagegen reinigt seinen Körper vom Blut und löst die Ketten der Jungfrau – voller Freude auf die bevorstehende Vermählung. Derselbe Erzähltypus findet sich auch im Schicksal der trojanischen Prinzessin Hesione und deren Rettung durch Herakles, einen der ,Paradehelden‘ der griechischrömischen Mythologie. Hesiones Vater Laomedon, König von Troja, soll Apollon und Neptun um ihren Lohn für den Bau der Mauern Trojas geprellt haben, weshalb sich beide Götter rächen und Poseidon ein Meeresungeheuer schickt. Wiederum gibt auch hier ein Orakel den Rat, dass das Untier nur besänftigt werden könne, indem Laomedon seine Tochter Hesione diesem zum Fraße vorwerfe. Zufällig kommt Herakles in Troja vorbei, tötet das Ungeheuer und befreit Hesione, wird aber gleichfalls von dem König um seinen Lohn betrogen. Während sich weder in den älteren griechischen Texten28 noch in den Metamorphosen Ovids (11,211 f.) eine Beschreibung des Ungeheuers findet, hat der flavische Dichter Valerius Flaccus (Mitte 1. Jh. n. Chr.) in den Argonautica über die Fahrt griechischer Helden nach Kolchis (heute Georgien) zur Gewinnung des Goldenen Vlies eine längere Passage über diese Heldentat des Herakles eingefügt, die allerdings keine Parallele in seiner Vorlage, dem gleichnamigen Epos des Apollonios Rhodios (3. Jh. v. Chr.), hat. In seiner rund fünfzig Verse umfassenden Darstellung (2,497–
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549) adaptiert Valerius Flaccus für den Auftritt seines Seeungeheuers (498: pestis; 514: monstri) nicht nur virtuos zahlreiche Elemente sowohl aus der Laokoon-Geschichte in Vergils Aeneis (2,212–224) als auch aus den Modellierungen Ovids und des Manilius, sondern steigert seine Inszenierung des Geschehens geradezu ins Hyperbolische, sei es in der Beschreibung der Gestalt des Untiers, sei es in dessen Fortbewegung, sei es in den Aktionen des Herakles29 – dem antiken Prinzip von Nachahmung (imitatio) und Überbietung (aemulatio) folgend. Abschließend soll eine zentrale Szene in der Tragödie Phaedra des Philosophen Seneca († 65 n. Chr.) die skizzierte Entwicklung nochmals illustrieren und vertiefen, da wir hier nicht nur mit zwei Tragödien des athenischen Dramatikers Euripides30 dessen Vorlage besitzen, sondern diese auch mit der epischen Version Ovids in seinen Metamorphosen (B. XV) vergleichen können. Phaedra, die Frau des attischen Nationalheros und Königs von Athen Theseus, verliebt sich in ihren Stiefsohn Hippolytos. Als dieser jedoch ihre Leidenschaft nicht erwidert, verleumdet sie den jungen Mann bei seinem königlichen Vater, der ihn verflucht und seinen Vater Poseidon bittet, ihn zu vernichten. Dieser lässt daher, als Hippolytos mit seinem Wagen am Strand entlangfährt, einen Stier aus dem Meer auftauchen, dessen Erscheinen die Pferde des Hippolytos scheuen lässt, sodass er tödlich verunglückt und sein Körper zerschmettert zurückbleibt. Sein Tod wird, wie für die antike Tragödie üblich, dem Zuschauer in der Form des Botenberichtes vermittelt, dessen narrative Grundstruktur dem Dichter die Möglichkeit eröffnet, die Mittel des epischen Erzählens in die Gattung der Tragödie zu integrieren – eine Option, die vor allem Seneca für seinen Auftritt des Ungeheuers aus dem Meer genutzt hat. Bei Ovid dagegen erzählt der durch die Künste Apollons wiederbelebte Hippolytos selbst seine Geschichte der Nymphe Egeria, der Mutter des Numa Pompilius, des zweiten Königs von Rom. Allen drei Bearbeitungen des Stoffes ist zunächst gemeinsam, dass sich die Katastrophe durch die Elemente der Natur ankündigt, deren Intensität aber von Euripides über Ovid bis Seneca deutlich zunimmt. Kündigt bei Euripides ein Donner aus der Tiefe der Erde und ein dumpfes Rollen eine hochtürmende Woge des Meeres an, die sich rasant schnell auf den Strand zubewegt und aus deren Schwall plötzlich ein schrecklich laut brüllender Stier auftaucht (1201–1217), so ist es bei Ovid bereits eine ungeheure Springflut, die sich einem Berg gleich immer höher türmt und aus der ein Brüllen zu vernehmen ist, als plötzlich nach dem Zerbersten des Wogenkammes ein gehörnter Stier (corniger taurus) auftaucht, der sich bis zur Brust aus dem Meer erhebt und aus seinen weitgeöffneten Nüstern und seinem Maul Meerwasser ausspeit.31 Seneca dagegen präsentiert dem Zuschauer in 27 (!) Versen geradezu ein entfesseltes Inferno der Natur (1007–1034): Das Meer schwillt plötzlich aus der Tiefe an und erhebt sich nun aber bis zu den Sternen (siehe Manilius)! Ein in dieser Kraft bislang unbekannter Sturm peitscht das Meer auf und produziert eine gigantische Flutwelle, die sich rasend schnell auf das Festland zubewegt. Die Woge ist unheilschwanger, denn sie trägt in ihrem Bauch ein
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unbekanntes Wesen. Das Meer brüllt auf, der Kamm der Sturmwelle schäumt und wirft das Wasser an Land wie ein Walfisch (physeter), der das Meerwasser durch sein Maul einzieht und wieder ausspeit. Vor allem aber bringt die Flut ein Ungeheuer (1034: monstrum) zum Vorschein, das alle Knochen erzittern lässt: Wie beschaffen war jene Gestalt des gewaltigen Körpers? Ein Stier, seinen bläulichen Nacken hocherhoben tragend, sträubte seine Mähne jäh empor auf grünlicher Stirne; struppig stehen die Ohren, die Augenkreise haben eine wechselnde Farbe, jene sowohl, die der Herr einer wilden Rinderherde als auch die, welche ein unter den Wellen geborener Stier hätte: von der einen Seite sprühen Feuer seine Augen, von der andern her leuchten sie auffallend durch einen bläulichen Fleck; der fette Nacken erhebt steile Wülste, und die offenstehenden Nüstern schnauben beim klaffenden Atemholen; von festhaftendem Moos grünt die Brust und die Wamme, die breite Flanke ist gesprenkelt von rötlichem Tang; dann schließt sich hinten am Rücken, an ihrem Ende, die Gestalt in eine widernatürliche Bildung zusammen, und das ungeheure Tier schleppt schuppenbesetzt einen unermeßlichen Schwanzteil nach sich.32
Mit dieser fantastischen Modellierung seines Ungeheuers in der Form einer Ekphrasis, die sich durch eine Mischung von Formen, Farben und Massen auszeichnet, hat Seneca ein monstrum geschaffen, das in der antiken Literatur ohne Parallele ist, das aber perfekt der zeitgenössischen Präferenz für das Groteske und Monströse korrespondiert, wie sie auch in anderen Lebensbereichen zu finden ist.33
Schlussbetrachtung
Es ist Zeit, eine kurze Bilanz zu ziehen! Erstens, in allen Beispielen taucht ein furchterregendes Untier aus dem Meer auf und bewegt sich dann Richtung Land bzw. auf das Land. Zweitens, in der Modellierung des Meeresungetüms wie auch in der Inszenierung des Geschehens ist eine klare Steigerung erkennbar, die signifikant von den älteren, meist griechischen Vorbildern abweicht und in der Phaedra Senecas ihren Höhepunkt erreicht. Drittens, mit ihrer Fokussierung auf das Grausige und Fantastische reflektiert diese die Neuorientierung der römischen Ästhetik seit der ausgehenden Republik34 – eine Entwicklung, die nicht nur in der zeitgenössischen Malerei, insbesondere des dritten und vierten Stils der pompeianischen Fresken,35 erkennbar ist, sondern die auch für alle Sparten des stetig ausgebauten Unterhaltungsbetriebes mit seiner Tendenz zum Grandiosen, zur Betonung der Farben sowie zum Streben nach Überraschungen zu konstatieren ist.36 So bestimmten im Theater zunehmend Pracht und Raffinement, Musik und Tanz, erotischer Sinnenkitzel, Frivolität und Obszönität die Aufführungen.
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Ebenso boten die Gladiatorenkämpfe und Tierhatzen im Amphitheater, das mit dem 80 n. Chr. eingeweihten Flavium amphitheatrum (Colosseum) seine architektonische Monumentalform gefunden hatte, eine Vielzahl verschiedenster Attraktionen, welche nicht zuletzt auch darauf abzielten, den Zuschauern durch die Präsentation exotischer Tiere bzw. Lebewesen eine Vorstellung von der Größe und Macht des Imperium Romanum bzw. des Kaisers zu vermitteln. Aber nicht nur mit Spielen zu Lande beeindruckte diese Unterhaltungsindustrie ihr Publikum, sondern auch das aquatische Element wurde zunehmend als Medium für die szenische Performanz entdeckt. Seeschlachten fanden nunmehr nicht mehr auf dem offenen Meer statt, sondern in eigens zu diesem Zweck errichteten Spielstätten an Land (naumachiae) oder in einzelnen Amphitheatern wie dem Colosseum, die für Seekämpfe und Tierhatzen geflutet werden konnten.37 Es überrascht daher – viertens – nicht, dass auch die Literatur diese Tendenzen aufgriff und adaptierte, bietet doch das Medium der Sprache ein geradezu ideales Instrumentarium, grausige Szenen und Wesen ebenso facettenreich wie fantastisch zu modellieren, um der Leserschaft einen Schauer über den Rücken zu jagen.38
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Modellierungen des Grausigen
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Anmerkungen 1 2
Vgl. Vermeule, Emily: Aspects of death in early Greek art and poetry, Berkeley/Los Angeles/ London 1979, S. 179 f. Vgl. Engster, Dorit: Knowledge about the Sea and its Creatures in the Roman Empire, in: Muñoz Morcillo, Jesús/Robertson-von Trotha, Caroline Y. (Hg.): Genealogy of Popular Science. From Ancient Ecphrasis to Virtual Reality, Bielefeld 2020 zur Literatur über Meerestiere in der römischen Kaiserzeit.
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3 Vermeule, Aspects, S. 179 f. 4 Hes. Op. 618–626 (Übers. von Schirnding, Albert (Hg.): Hesiod. Theogonie. Werke und Tage, Berlin 2012, S. 131). 5 Griechisch οἶνοψ: ,weinfarbig‘, ,weinrot‘, ,dunkel‘; vgl. hierzu Rutherfurd-Dyer, Robert: Homers wine-dark sea, Greece & Rome 30 (1983), S. 125–128. 6 Vgl. Breitenbach, Alfred/Witte-Orr, Johanna: Art. Ketos (Meerdrache), in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 20 (2004), Sp. 784. 7 Vgl. Coulter, Cornelia C.: The “Great Fish” in ancient and medieval story, TAPhA 57 (1926), S. 33–35. 8 Coulter, Great Fish, S. 40. 9 Vgl. Luc. VH 1,30. 10 Vgl. Luc. VH 1,35 (Übers. Mras, Karl (Hg.): Die Hauptwerke des Lukian. Griechisch und deutsch, München 21980, S. 365). 11 Ähnlich auch die Gleichsetzung des Fischbauches mit der Unterwelt in manchen Deutungen der Jona-Geschichte; vgl. Breitenbach/Witte-Orr, Ketos, Sp. 784. 12 Luc. VH 1,30 (Übers. Mras, Lukian, S. 359). 13 So überzeugend Coulter, Great Fish, S. 39. 14 Luc. VH 1,35. 15 In Übersetzungen häufig mit ,Walfisch‘ wiedergegeben (vgl. Mras, Lukian, S. 359). 16 Vgl. Breitenbach/Witte-Orr, Ketos. 17 Arist. HA 1,5,489b 2. 18 Boardman, John: Very like a whale. Classical sea monsters, in: Farkas, Ann E. (Hg.): Monsters and demons in the ancient and medieval worlds. Papers presented in honor of Edith Porada, Mainz 1987, S. 74. 19 Vgl. Boardman, Whale, Pl. XXII, 2. 20 Vgl. Boardman, Whale, Pl. XXIII, 5. 21 Zum Folgenden vgl. die subtile, die intertextuellen Bezüge sorgfältig dokumentierende Kommentierung durch Barchiesi, Alessandro (Hg.): Ovidio, Metamorfosi, Vol. 2, Mailand 2007, S. 340–343. Zur Figur der Andromeda in Literatur, Kunst und Musik ferner Harrauer, Christine/Hunger, Herbert: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Purkersdorf 92006, S. 417–423 s. v. Perseus (mit weiterer Lit.); ferner Amedick, Rita: Die Schöne, das Seeungeheuer und der Held: antike Bildbeschreibungen und die Ikonographie mythologischer Bilder, Antike Welt 33,5 (2002), S. 527–530. 22 Met. 4,706–708: Ecce, velut navis praefixo concita rostro / sulcat aquas iuvenum sudantibus acta lacertis, / sic fera dimotis impulsu pectoris undis. 23 Met. 721–723: Vulnere laesa gravi modo se sublimis in auras / attollit, modo subdit aquis, modo ferocis / versa apri, quem turba canum circumsona terret. 728 f.: Belua puniceo mixtos cum sanguine fluctus / ore vomit. 24 Allerdings ist dies keine Erfindung Ovids, sondern hat schon in Vergils Aeneis eine Parallele, wo in der Regatta des 5. Buches eines der Schiffe den Namen Pistrix (,Walfisch‘) trägt und überdies mit einem Rammsporn ausgestattet ist (187: rostro premit aemula Pistrix). Dass die Namensgebung teilweise nach Bemalungen am Bug erfolgte, belegt auch der Vergilkommentator Servius (ad Aen. 10,166: solent naves vocabula accipere a pictura tutelarum). 25 Zum Typus der Naumachien s. etwa Garello, Francesca: Sport or showbiz? The “naumachiae”
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of Imperial Rome, in: Bell, Sinclair/Davies, Glenys (Hg.): Games and festivals in Classical Antiquity, Oxford 2004, S. 115–124.; Berlan-Bajard, Anne: Les spectacles aquatiques romains, Rom 2006, S. 11–215; Cariou, Gerald: La naumachie. Morituri te salutant, Paris 2009. 26 Vgl. Sen. Dial. 5,4,3: Ferarum me hercules, sive illas fames agitat sive infixum visceribus ferrum, minus taetra facies est, etiam cum venatorum suum semianimes morsu ultimo petunt, quam hominis ira flagrantis. 27 553–555: servatur tamen in poena vultusque pudorque; / supplicia ipsa decent; nivea cervice reclinis / molliter ipsa suae custos est visa figurae. 28 Vgl. knapp informierend Harrauer/Hunger, Mythologie, S. 294–296 s. v. Laomedon (mit weiterer Lit.); ferner Amedick, Bildbeschreibungen, S. 530–531. Zu Manilius außerdem Voss, Bernd R.: Die Andromeda-Episode des Manilius, Hermes 100 (1972), S. 413–434. 29 Etwa 499–505: pestis …, cuius stellantia glauca / lumina nube tremunt atque ordine curva trisulco / fulmineus quatit ora fragor pelagoque remenso / cauda redit passosque sinus rapit ardua cervix. / illam incumbentem per mille volumina pontus / prosequitur lateri insultans trepidisque ruentem / litoribus sua cogit hiems. Zum Detail s. bes. Stadler, Hubert: Hercules’ Kampf mit dem Seeungeheuer (Val. Fl. 2,497–549), in: Eigler, Ulrich/Lefèvre, Eckard (Hg.): Ratis omnia vincit. Neue Untersuchungen zu den Argonautica des Valerius Flaccus, München 1998, S. 181–196; zum Vergleich mit der Andromeda-Darstellung Ovids außerdem Burck, Erich: Die Befreiung der Andromeda bei Ovid und der Hesione bei Valerius Flaccus (Met. 4,663–764; Argon. 2,451–578), Wiener Studien 89 (1976), S. 221–238. 30 Vollständig erhalten ist nur die jüngere Fassung, der Hippolytos Stephanephóros (428 v. Chr.), nicht dagegen die ältere Version des Hippolytos Kalyptómenos. Während sich in dieser Phaedra direkt an ihren Stiefsohn bzw. an Theseus wendet, benutzt in jener Phaedra ihre Amme, um Hipplytos ihre Liebe zu gestehen, und verleumdet ihn mittels eines Briefes an Theseus, bevor sie Selbstmord begeht. Einen knappen Überblick zu allen Aspekten gibt etwa Harrauer/Hunger, Mythologie, S. 427–430. 31 Met. 15,508–513: cum mare surrexit cumulusque immanis aquarum / in montis speciem curvari et crescere visus / et dare mugitus summoque cacumine findi. / cornigerhinc taurus ruptis expellitur undis / pectoribus tenus molles erectus in auras / naribus et patulo partem maris evomit ore. 32 Phaedr.1035–1048 (Übers. Thomann, Theodor: Seneca. Sämtliche Tragödien, lateinisch und deutsch, Bd. 1, Zürich/Stuttgart 21978, S. 383–385). 33 Vgl. hierzu Segal, Charles: Senecan Baroque: The Death of Hippolytus in Seneca, Ovid, and Euripides, Transactions of the American Philological Association 114 (1984), S. 311–325; Mader, Gottfried: Ut pictura poesis: Sea-Bull and Senecan Baroque, Classica et medievalia 53 (2002), S. 291. 34 Vgl. etwa Jones, Nathaniel B.: Painting, Ethics, and Aesthetics in Rome. Greek culture in the Roman world, Cambridge/New York 2019. 35 Während für den dritten Stil vor allem die Darstellung mythologischer Szenen charakteristisch ist, dominieren im vierten und letzten Stil vor der Zerstörung Pompeiis durch den Ausbruch des Vesuvs 79 n. Chr. fantastische Elemente. Vgl. hierzu etwa Mazzoleni, Donatella/Pappalardo, Umberto: Pompeianische Wandmalerei. Architektur und illusionistische Dekoration, München 2005; Lorenz, Katharina: Bilder machen Räume. Mythenbilder
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in pompeianischen Häusern. Berlin/New York, 2008; einen allgemeinen Überblick gibt Mielsch, Harald: Römische Wandmalerei, Darmstadt 2001. 36 Einen guten Einstieg mit weiterführender Literatur zu allen Aspekten von spectaculum in Rom bietet jetzt Weeber, Karl-Wilhelm: Spectaculum. Die Erfindung der Show im antiken Rom, Freiburg/Basel/Wien 2019. 37 Im Theater schließlich sollte sich in der Folge die spezielle Gattung des Hydromimus entwickeln, einer Form des Pantomimus, dessen Handlung die Einbeziehung des Meeres, etwa in der Geschichte von Hero und Leander, erlaubte bzw. erforderlich machte; vgl. Berlan-Bajard, Spectacles, S. 287–302. 38 In der Folgezeit finden sich sodann detailreiche Ekphraseis bei griechischen Autoren, so etwa im Roman Leukippe und Kleitophon des Achilleus Tatios 3,7–8 und den Eikones Philostrats d. J. 12 (13). Vgl. hierzu Amedick, Bildbeschreibungen, S. 532–534; s. auch Hensel, Andreas: Ästhetik des Grauens, Der Altsprachliche Unterricht 62 (2019), S. 2–11.
Vom Gehen, Sehen und Sterben Der Tod und das Meer in englischen shipwreck narratives des 17. und 18. Jahrhunderts Franziska Hermes
Eine Begeisterung für Schiffbrucherzählungen, obwohl so alt wie die Geschichte selbst, findet sich vor allem in der Frühen Neuzeit, in die schließlich auch das Zeitalter der europäischen Expansion fällt. Vermutlich verunglückten zwar nur vier bis fünf Prozent aller sich damals aufmachenden Schiffe, aber die sich etablierende Kultur des Buchdrucks trug dazu bei, dass sie enorme Sichtbarkeit erfuhren – in Gestalt sogenannter shipwreck narratives. Hinter diesem Begriff verbergen sich Berichte von realen, aber effekthaschend aufgearbeiteten Schiffbruchereignissen, die meist von Überlebenden selbst oder aus ihrer Sicht geschrieben worden waren. Das Genre entwickelte sich zunächst im Portugal des 16. Jahrhunderts und breitete sich von dort in ganz Europa aus, in England vor allem während des ohnehin stark von maritimer Bildsprache geprägten 18. Jahrhunderts. Shipwreck narratives konnten verschiedene Formen annehmen, auch die von Gedichten oder Briefen, waren inhaltlich aber weitgehend deckungsgleich. Zu den wiederkehrenden Themen gehörten vor allem die plastisch beschriebenen Grausamkeiten, die die fast ausschließlich männlichen Autoren an Deck, im Wasser oder am Ufer erfahren hatten, sowie das Sterben, dessen Zeugen sie geworden waren.1 Warum dieser Fokus auf den Tod? Diese Frage zu stellen, scheint müßig. Der Tod war ein fester Bestandteil der frühneuzeitlichen Seefahrt, und zwar nicht nur in Extremsituationen, wie der Schiffbruch eine ist, sondern auch in den Krankheits- und Gewalterfahrungen auf dem Schiff.2 Dies schlug sich entsprechend in shipwreck narratives nieder, zumal der Nervenkitzel, der mit expliziten Todesdarstellungen einherging, den Unterhaltungsfaktor der Berichte steigerte und ihnen auf dem Buchmarkt, der mit preiswerten Druckwerken regelrecht geflutet wurde, sobald ein Schiff verloren gegangen war, einen Vorteil verschaffte.3 Und trotzdem: Es wäre fatal, diese Todesdarstellungen als reine Verkaufsstrategie abzutun, denn dazu wurden sie zu nuanciert und umsichtig ausgearbeitet. Den Autoren war es offenbar wichtig, nicht einfach nur vom Sterben zu berichten, sondern vielmehr davon, wie gestorben wurde. Ergibt sich ein Mehrwert aus dieser Beobachtung, der mehr ist als die Erkenntnis, dass shipwreck narratives immer auch verkauft werden wollten?
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Die kulturhistorische Forschung ist sich dessen sicher. Entgegen skeptischen Meinungen, die shipwreck narratives aufgrund ihrer Popularität und entsprechend reiße rischen Darstellungsform als allenfalls Mischung aus Faktizität und Fiktion begreifen und daher als historische Quellen mindestens problematisch, hat sie argumentiert, dass die Berichte nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Beliebtheit und Konformität interessant sind.4 Denn wer davon ausgeht, dass sie einem breiten Publikum gefallen sollten und womöglich auch nur deshalb so beliebt waren, weil sie einen zeitgenössischen Nerv trafen, dem verraten die verhandelten Themen viel über die sozio-kulturellen Konventionen der Zeit, die sich vor dem Hintergrund der kollektiv erlebten Katastrophe auch ungewohnt geschärft abzeichnen.5 Schiffbrüche werden in dieser Logik zu sichtbarmachenden Ereignissen – gilt dies im Einzelnen auch für das Sterben, das sie dokumentieren? Bei der Beantwortung dieser Frage sollen Benjamin Archer, Anthony Thacher, John Dean und Christopher Langman helfen – der Erste first lieutenant eines Kriegsschiffes, der Zweite Passagier eines Auswandererschiffes, der Dritte Kapitän eines Handelsschiffes und der Vierte sein mate.6 Sie allesamt sind Autoren populärer shipwreck narratives, erlebten aber ungleiche Katastrophen. Benjamin Archer zum Beispiel überlebte den Schiffbruch der HMS Phoenix, ein Schiff der britischen Royal Navy, das innerhalb des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges eingesetzt war und im Oktober 1780 in den tödlichsten im Atlantik je verzeichneten Hurrikan geriet. Archer legt den Fokus seiner Nacherzählung daher vor allem auf die Panik, die während des Sturms herrschte – zumindest unter der Besatzung, nie aber bei ihm selbst: ,Good God! Mr. Archer, we are sinking, the water is up to the bottom of my cot.’ Pooh, pooh! As long as it is not over your mouth, you are well off; what the devil do you make this noise for? I found there was some water between decks, but nothing to be alarmed at.7
Während Archer über Verhalten wie dieses spottet,8 prahlt er selbst mit Stärke, Gelassenheit und Kompetenz – einer Kompetenz, der es seiner Darstellung nach letztlich zu verdanken ist, dass sich von 260 Mann an Bord fast 240 an die südkubanische Küste retten können. Weniger Glück hatte die Watch and Wait, deren Passagier Anthony Thacher war. Er und seine Familie waren 1635, wie viele andere puritanische Familien auch, von England ins koloniale Neuengland ausgewandert, wo sie im August desselben Jahres ebenfalls in einen Hurrikan gerieten. Thachers Schilderungen haben aber nichts gemein mit der Überheblichkeit, die zuweilen aus Archers Darstellung spricht, und dies mag auch der Machtlosigkeit geschuldet sein, mit der er dem Sterben seiner Kinder zusehen musste:
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My Little babe (ah poore Peter) Sitting in hiss Sister Ediths arms Who to the utmost of her power Sheltered him out of the waters, My poore William standing Close unto her. All three of them Looking rufully on mee on the Rocke, there very Countinance Calling unto mee to helpe them.9
Von heftigen Schuldgefühlen geplagt, bleiben er und seine Frau schließlich als einzige Überlebende der ursprünglich 23 Menschen an Bord zurück, „Cast upon an unknowen Land in a wilderness, […] almost naked both of us“.10 Dieser Ort, eine kleine Insel an der Küste des gegenwärtigen Massachusetts, trägt noch heute den Namen Thacher Island. Wiederum anders liest sich die Erzählung um die Nottingham Galley, ein britisches Handelsschiff, das im Dezember 1710 vor Boon Island, heute im amerikanischen Maine, Schiffbruch erlitt. Der 14-köpfigen Besatzung gelang es zwar, die Insel zu erreichen, dort musste sie allerdings knapp 24 Tage in bitterster Kälte ausharren, bis Fischer sie entdeckten. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits vier Besatzungsmitglieder verstorben und in Teilen von ihren ausgehungerten Kameraden gegessen worden. Von diesen Ereignissen berichtete nicht nur der Kapitän John Dean in einem 1711 publizierten shipwreck narrative, sondern auch sein mate Christopher Langman, der kurz darauf eine Gegendarstellung veröffentlichte, in der er Dean beschuldigte, er habe das Schiff für Versicherungsgelder absichtlich zerschellen lassen. Was folgte, war ein heftiger publizistischer Zweikampf, in dessen Mittelpunkt immer wieder die Frage danach stand, wer das kannibalische Treiben auf der Insel zu verantworten hatte. Deans Darstellung nach hat seine Besatzung darauf gedrängt, die Verstorbenen zu essen. Erst nach längerer Abwägung und unter dem Versuch, den inhumanen Akt so geregelt wie möglich zu gestalten, habe er dies schließlich zugelassen – nur, um dann aber mit Besorgnis festzustellen, dass sie mit solch einer Gier gegessen hätten, „that I was constrain’d to carry the Quarters […] quite out of their Reach […] because I found […] their Eyes staring and looking wild, their Countenances fierce and barbarous“.11 Langman wiederum gibt an, es sei in erster Linie Deans Idee gewesen – „no Man that eat more of the Corps than himself“.12 Es sind dies vier unterschiedliche Geschichten von einem, der das Sterben mühelos, wie es scheint, überwindet; von einem, dem, alles genommen, nur das nackte Leben bleibt; und von zweien, die nicht der Kannibale sein wollen, zu dem der jeweils andere sie macht. Und doch zeigt sich selbst hier eine Gemeinsamkeit: Sterben ist eine Gruppenangelegenheit. In all den vier shipwreck narratives begegnen die Autoren dem Tod nicht allein, sondern entweder im Einklang mit ihren Leidensgenossen oder im ausdrücklichen Gegensatz zu ihnen. Im britischen Empire des 17. und 18. Jahrhunderts waren Schiffbrüchige geradezu prädestiniert, den Tod zu einer solchen Frage von Identität und Zugehörigkeit zu machen, denn Schiffbruch gefährdete imperiales An-
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spruchsdenken und wurde als Katastrophe kollektiven Ausmaßes empfunden.13 Amy Mitchell-Cook argumentiert daher, dass es Autoren von shipwreck narratives immer auch darum gegangen sei, „order out of chaos“ zu machen und damit aus dem Schiffbruch ein positives Ereignis, „that reassured audiences of a strong and stable society – a society able to persevere despite the tragedy of shipwreck“.14 Wie insbesondere der Fall der Nottingham Galley zeigt, war die Information darüber, wie genau Schiffbrüchige starben, in diesem Zusammenhang nicht unerheblich, denn sie konnte den Ausschlag in die entweder eine oder andere Richtung bedeuten: kannibalisches Chaos oder zivilisierte Ordnung. Sterben war Überlebenden daher immer auch ein Mittel zur Selbstverortung, erst recht an Bord eines frühneuzeitlichen Schiffes, das ein durch Rang und Macht strukturierter Raum war.15 Benjamin Archer lässt dies deutlich erkennen, denn er reflektiert, dass es in seiner Position als Offizier nicht zulässig gewesen wäre, das Schiff überstürzt oder gar als Erster zu verlassen.16 Vor diesem Hintergrund entpuppt sich seine stark stilisierte Ruhe, die selbst im Angesicht des Todes unerschütterlich bleibt, als der Versuch, den Erwartungen an seine Rolle gerecht zu werden und sie in Abgrenzung zur restlichen Besatzung als überlegen hervorzuheben. Anders ist Anthony Thachers Bericht zu deuten. Auch die Umstände seines Überlebens sind ein Versuch, sich in ein Narrativ einzuschreiben, aber in seinem Fall ist es eines, das unbedingt mit Blick auf seine Identität als puritanischer Siedler gelesen werden muss. Denn in kolonialpolitischen Kontexten sind Erzählungen wie seine als sogenannte sea deliverance narratives bekannt, also als Erzählungen, die maritime Katastrophen unter Zuhilfenahme religiöser Deutungsmuster verhandeln, um die Schwelle zwischen einer alten europäischen und einer neuen kolonialen Identität zu markieren. Die transatlantische Fahrt wird in dem Zuge zum Übergangsritus, zur ultimativen Probe, denn am Schiff hingen die kolonialen Hoffnungen – und an seiner Rettung der Beweis, dass Gott gewillt war, die Kolonisten und ihre Sache zu erhalten und zu leiten.17 Thachers Bemühungen, sich zum Ende seines Berichts in Wildnis und besitzloser Einsamkeit zu verorten, sind daher nicht zufällig. Vielmehr offenbaren sie sich als theologisch codierte Textelemente, die spätestens dann auch als solche zu erkennen sind, wenn er sich gemeinsam mit seiner Frau in eindeutiger Pose inszeniert: als Adam und Eva nämlich, almost naked both of us, die mit der göttlichen Verheißung ausgestattet sind, eine neue Phase der Menschheitsgeschichte zu beginnen – der radikale Neuanfang.18 John Deans und Christopher Langmans shipwreck narratives schließlich sind gerade deshalb so interessant, weil in ihnen zwei Selbstverortungen um die Deutungshoheit konkurrieren. Durch die wiederholte Betonung der ihn umgebenden Grausamkeiten präsentiert sich Dean als „suffering traveller“, also als jemand, der – in den Worten Carl Thompsons – bestanden hat, was Zeitgenossen als „the most extreme test of character and courage, self‐discipline and resolve“ galt.19 Während, wie Dean suggeriert, um
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ihn herum alle zu Wilden werden, wahrt er als Einziger seine Integrität. Eben diese Integrität untergräbt Langman, indem er Dean bezichtigt, das von ihm erfahrene Leid fälschlich dargestellt oder überhöht zu haben.20 Vor dem Hintergrund, dass sich Be satzungen verunglückter Schiffe oftmals vor Versicherungsgesellschaften oder Gerichten zu verantworten hatten, deuten beide Darstellungen auf mehr als nur einen persönlichen Konflikt hin. Vielmehr belegen sie, dass Authentizität und Anständigkeit den Schiffbrüchigen wertvolle Güter waren, die das Sterben auch zu einer rechtlichen Angelegenheit machten.21 Auch wenn sich damit in allen drei Fällen andeutet, dass Todesdarstellungen ein Versuch sein konnten, die Leserschaft in ihrer Auslegung des Schiffbruchs zu beeinflussen, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die in shipwreck narratives geschilderten Begegnungen mit dem Tod komplett konstruiert sein mussten. Das gilt zum Beispiel für das kompetente Krisenmanagement, das Benjamin Archer beschreibt. Zwar lässt er es sich nicht nehmen, wiederholt auf die Aufgeregtheit seiner Kameraden zu verweisen, aber insgesamt ist sein Bericht Zeugnis einer erfahrenen, eifrig und unermüdlich arbeitenden Besatzung. Seine Erzählung lebt von den Schilderungen ihrer Einsatzbereitschaft und ihres „sea-jargon“22, und stellenweise liest sie sich geradezu atemlos.23 Sie ist damit ein anschauliches Beispiel für die maschinenähnliche Effizienz, mit der frühneuzeitliche Schiffsbesatzungen auch deshalb arbeiteten, weil die sie umgebenden Naturgewalten dieser Effizienz eine besondere Dringlichkeit verliehen.24 Ihre routinierten Praktiken prägten das maritime Alltagsleben so sehr, dass sie, wie Robert Foulke zeigen konnte, in Form wiederkehrender Textelemente ein fester Bestandteil historischer Reiseberichte wurden. Die von Foulke identifizierten Motive – strenge Hierarchien bei gleichzeitiger Bedeutsamkeit gemeinschaftlicher Strukturen, zyklische Zeitrhythmen, die den Arbeitsrhythmus an Deck spiegeln, beschleunigte Erzählweisen, sprachliche Eigentümlichkeiten25 – finden sich allesamt auch in Archers Bericht. Das wird umso deutlicher, wenn Archers Darstellungen mit denen Anthony Th achers verglichen werden, der eben auch nur Passagier ist und nicht, wie Archer, sturmerprobter Schiffsoffizier. Thacher und seine Familie sind während der Hektik des hereinbrechenden Hurrikans auffällig regungslos, passiv und ihrer Umgebung entrückt, „there was not one Screech or out cry made, but all as silent Sheepe were contentedly resolved to dye together Lovingly“.26 Diese Passivität gipfelt schließlich darin, dass Thacher selbst im Wasser nahezu untätig bleibt und sich dem Meer, im Vertrauen auf den ihn leitenden Gott, ganz und gar hingibt: I espied a bord or Planke […], and as I was reaching but my Left hand to Lay hold on it, by another wave Coming one the tope of the rocke I was washed away from the rocke and by the violence of the waves was driven hither & thither in the Sea a great while and had many dashes against the Rockes; [...] I saw a peece of the mast […], but Suddenly I
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was over welmed with water and driven to and froe againe and at Last I felt the ground with my right foote. […] I made hast to get out, but was throwen down on my hands with the waves.27
Wiederholt wird Thacher zu Boden geworfen, gewaltsam untergetaucht. Seine Erzählung imitiert den Wellengang und wird schließlich selbst zum Strudel. In der Deutung dieser Gegensätze darf nicht unterschlagen werden, dass Thacher seinen Bericht bewusst als Lehrstück providenzieller Deutung entwarf, zudem trennen ihn und Archer fast 150 Jahre, in denen die Beschreibungsmodi von Seefahrten zunehmend säkularer und handlungsorientierter wurden.28 Und trotzdem ist die Beobachtung, dass sich hier Tatendrang und Tatenlosigkeit gegenüberstehen, aufschlussreich. Während Archer und seine Mannschaft ein in Leistung, Wissen und Anstrengung geeintes Kollektiv bilden, erträgt Thacher sein Schicksal in betont stiller Spiritualität, die im großen Gegensatz zum Getöse am Deck der Phoenix steht. Wo Archer aktiv wird und handelt, ist Thacher zum Zusehen verdammt – er ist ein Voyeur. Dieser Begriff geht zurück auf Michel de Certeau, der sich in „Die Kunst des Handelns“ mit der Frage beschäftigt hat, wie sich Handlungsfähigkeit raumtheoretisch erfassen lässt. Dazu evozierte er das berühmt gewordene Bild der Stadt und ihrer Fußgänger, die „mit unsichtbaren Räumen [spielen], in denen sie sich ebenso blind auskennen, wie sich die Körper von Liebenden verstehen.“29 Den Schritten der raumerprobten Fußgänger gelingt es, sich des städtischen Raumes taktil zu bemächtigen – und ihn, weil sie ihn so in seinen Möglichkeiten realisieren, überhaupt erst zu schaffen. Die Stadt der Sehenden dagegen bezeichnet Certeau nicht als Raum, sondern als toten Ort, weil die ihrer Natur nach unbeweglichen Voyeure keine Möglichkeit zu raumbildenden Handlungen haben. Laut Certeau neigen Voyeure deshalb dazu, die Orte, innerhalb derer sie sich befinden, als statische Anordnungen zu beschreiben, während Fußgänger die sie einfassenden Räume als dynamische Einheit erleben und daher mithilfe von Bewegungslinien darstellen30 – ein Unterschied, der sich innerhalb der shipwreck narratives von Archer und Thacher tatsächlich genauso ausmachen lässt: Während seine berufsbedingte Vertrautheit mit dem Meeresraum bedeutet, dass Archer selbst im Moment des Schiffbruchs handlungsfähig bleibt und als selbstbewusster „Fußgänger“ auftreten kann, ist in Thachers Bericht nicht der Mensch der autonome Akteur, sondern das Meer. Thachers Erzählung fehlt es an dynamischem Handeln, weil sie die Erzählung eines Voyeurs ist, dessen fehlende Raumkompetenzen zur Folge haben, dass er sich ganz und gar in die göttliche Vorsehung ergeben muss. Zu gehen, sprich: zu handeln, beginnt er im Gegensatz zu Archer erst wieder an Land. Wer also über das Sterben als die (Nicht-)Möglichkeit zur Handlung nachdenkt, dem geben die Unterschiede in den Todesdarstellungen in shipwreck narratives Aufschluss darüber, wie historische Akteure sich und die ihnen zur Verfügung stehenden Hand-
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lungsoptionen im Katastrophenfall erlebten. Für Überlebende waren explizite Todesdarstellungen daher nicht ausschließlich etwas, das nur die Sensationslust ihres Publikums befriedigen sollte, sondern, wie Robert Foulke auch für historische Reiseberichte im Allgemeinen schlussfolgerte, „[a] form somehow natural or inherent in the voyage experience itself rather than imposed on it by the writer”.31 Die Literarisierung des Sterbens vermochte, das Erleben der Katastrophe über die Unbeschreiblichkeit des Traumas hinaus zu vermitteln, weil es den Momenten des übereifrigen Handlungswillens einerseits und der gelähmten Hilflosigkeit andererseits eine darstellerische Entsprechung gab. Damit erklären sich auch die Kontraste in der narrativen Gestaltung der hier untersuchten shipwreck narratives. Jeder Bericht ist individuell geformt, weil er die individuellen Handlungsbedingungen eines Schiffbrüchigen abbildet. Sterben wird in diesem Zusammenhang zu einem Kommunikationsmittel, das von der Leserschaft, dank der sich aus den Umständen des Sterbens ergebenden stilistischen Unterschiede in Tempo, Dynamik oder Erzählperspektive, auch intuitiv verstanden werden konnte. Gerade deshalb ließen sich diese Umstände aber auch instrumentalisieren. Klug platziert konnte die Antwort darauf, ob Schiffbrüchige dem Tod kompetent (gehend) oder tatenlos (sehend) begegnet waren, Überlegenheitsansprüchen Ausdruck verleihen, koloniale Fantasien artikulieren oder Feinde diskreditieren, wie Benjamin Archer, Anthony Thacher, John Dean und Christopher Langman eindrucksvoll gezeigt haben.
Bibliografie Archer, Benjamin: Loss of His Majesty’s Ship Phoenix, Off the Island of Cuba in the year 1780, in: Huntress, Keith (Hg.): Narratives of Shipwrecks and Disasters, 1586–1860, Ames 1974, S. 52–64. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin 1988. Dean, John: A Narrative of the Sufferings, Preservation and Deliverance, Of Capt. John Dean and Company; In the Nottingham-Gally of London, cast away on Boon-Island, new New England, December 11, 1710, in: Wharton, Donald P. (Hg.), In the Trough of the Sea: Selected American Sea-Deliverance Narratives, 1610–1766, Westport/London 1979, S. 144–159. Donegan, Kathleen: Seasons of Misery: Catastrophe and Colonial Settlement in Early America, Philadelphia 2014. Foulke, Robert: The Sea Voyage Narrative, New York 1997. Langman, Christopher: A True Account Of The Voyage Of The Nottingham-Galley of London John Dean Commander, From The River Thames to New-England, in: Wharton, Donald P. (Hg.): In the Trough of the Sea: Selected American Sea-Deliverance Narratives, 1610–1766, Westport/London 1979, S. 160–172.
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Vgl. Mitchell-Cook, Amy: Shipwreck Accounts, in: The Oxford Encyclopedia of Maritime History, Hg. John B. Hattendorf, Bd. 3, Oxford 2007, S. 696–699; dies.: A Sea of Misadventures: Shipwreck and Survival in Early America, Columbia 2013, S. 1. Vgl. Schmitt, Eberhard (Hg.): Indienfahrer 2: Seeleute und Leben an Bord im Ersten Kolonialzeitalter (15. bis 18. Jahrhundert) (Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion 7), Wiesbaden 2008. Vgl. Lincoln, Margarette: Shipwreck narratives of the eighteenth and early nineteenth century: Indicators of culture and identity, in: British Journal for Eighteenth-Century Studies 20 (1997), S. 155–172, hier S. 159. Vgl. zum Beispiel Mitchell-Cook, Sea, S. 3. Vgl. Lincoln, Shipwreck, S. 155. Archers und Thachers Berichte waren als Briefe ursprünglich an Verwandte adressiert, Deans und Langmans Erzählungen erschienen als eigenständige Publikationen. Dank Keith Hun-
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tress und Donald P. Wharton liegen sie alle in edierter Form mit Einführungen in Biografien, Publikationsgeschichte und Rezeption vor (siehe dazu die jeweiligen Literaturangaben). An den vieren zeigt sich auch: Shipwreck narratives wurden in der Regel von Kapitänen, Offizieren und Passagieren geschrieben, weniger von gewöhnlichen Seemännern und erst recht nicht von Frauen. Ein class und gender bias muss in ihrer Bearbeitung immer mitgedacht werden; vgl. Mitchell-Cook, Sea, S. 4 und 73. Archer, Benjamin: Loss of His Majesty’s Ship Phoenix, Off the Island of Cuba in the year 1780, in: Huntress, Keith (Hg.): Narratives of Shipwrecks and Disasters, 1586–1860, Ames 1974, S. 52–64, hier S. 59. So schreibt er zum Beispiel auch: „[I] was surprised to find the most swaggering, swearing bullies in fine weather, now the most pitiful wretches on earth, when death appeared before them.“ Archer, Loss, S. 62. Thacher, Anthony: Some part of a Letter of Mr Anthony Thachar Written in New England and sent to his Brother Mr Peter Thachar in Old England Consarning his grat Deliverance Out of the deapes of the Sea, in: Wharton, Donald P. (Hg.): In the Trough of the Sea: Selected American Sea-Deliverance Narratives, 1610–1766, Westport/London 1979, S. 56–64, hier S. 62. Thacher, Part, S. 62 f. Dean, John: A Narrative of the Sufferings, Preservation and Deliverance, Of Capt. John Dean and Company; In the Nottingham-Gally of London, cast away on Boon-Island, new New England, December 11, 1710, in: Wharton, Donald P. (Hg.), In the Trough of the Sea: Selected American Sea-Deliverance Narratives, 1610–1766, Westport/London 1979, S. 144–159, hier S. 154. Langman, Christopher: A True Account Of The Voyage Of The Nottingham-Galley of London John Dean Commander, From The River Thames to New-England, in: Wharton, Donald P. (Hg.): In the Trough of the Sea: Selected American Sea-Deliverance Narratives, 1610–1766, Westport/London 1979, S. 160–172, hier S. 169. Vgl. Thompson, Carl: The Suffering Traveller and the Romantic Imagination, Oxford 2007, S. 111–115. Mitchell-Cook, Shipwreck, S. 699. Vgl. Rediker, Marcus: Between the Devil and the Deep Blue Sea: Merchant Seamen, Pirates, and the Anglo-American Maritime World 1700–1750, Cambridge 1987, S. 154 f. „This won’t do for me, to be the first man out of the ship, and first lieutenant; we may get to England again, and people will think I paid a great deal of attention to myself […]. [I]nstead of being first, I’ll see every man, sick and well, out of her before me.” Archer, Loss, S. 62. Vgl. Wharton, Donald P. (Hg.): In the Trough of the Sea: Selected American Sea-Deliverance Narratives, 1610–1766, Westport/London 1979, S. 8–18; Donegan, Kathleen: Seasons of Misery: Catastrophe and Colonial Settlement in Early America, Philadelphia 2014, S. 2 f.; Sievers, Julie: Drowned Pens and Shaking Hands: Sea Providence Narratives in SeventeenthCentury New England, in: The William and Mary Quarterly 63/4 (2006), S. 743–776, hier S. 753. Vgl. Sievers, Pens, S. 744. Thompson, Traveller, S. 70.
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20 Zum Beispiel: „The Captain likewise falsly magnifies his own Danger of being drowned“. Langman, Account, S. 171. 21 Vgl. Mitchell-Cook, Sea, S. 38–43. 22 Archer, Loss, S. 56. 23 Ein Beispiel für eine solche Passage, die auch den sea-jargon der Mannschaft abbildet, ist folgende: „,By the deep four.‘ Very well, my lad, heave quick. ‚Five fathom.‘ That’s a fine fellow! another cast nimbly. ‚Quarter less eight.‘ That will do, come, we shall get clear bye and bye. ,Mark under water five.‘ What‘s that? ,Only five fathom, sir.‘ Turn all hands up, bring the ship to an anchor, boy. […] What water have you in the chains now? ,Eight, half nine.‘ Keep fast the anchors till I call you. ,Aye, aye sir, all fast.‘“ Archer, Loss, S. 56. 24 Vgl. Rediker, Devil, S. 11, 154 und 162 f. 25 Vgl. Foulke, Robert: The Sea Voyage Narrative, New York 1997, S. 7. 26 Thacher, Part, S. 59. 27 Thacher, Part, S. 61. 28 Vgl. Mitchell-Cook, Sea, S. 4. 29 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 182. 30 Vgl. Certeau, Kunst, S. 188–191 und 217–221. 31 Foulke, Sea, S. 13.
Das Meer, der Tod und die Trauer Über maritime Gedächtnislandschaften Norbert Fischer
Maritimer Tod und maritime Gedächtnislandschaften
Ein hohes, weithin sichtbares Kreuz auf der Insel Memmert bei Borkum erinnerte einst an die Opfer des „Annemarie“-Unglücks, den Untergang eines Schiffes im Jahr 1931 – eine lokale Katastrophe, die bis heute als Zäsur in der Borkumer Inselgeschichte betrachtet wird. Die Tragödie ereignete sich in der Nacht vom 21. auf den 22. September 1931 vor der Insel Memmert und forderte den Tod von 15 männlichen Inselbewohnern. Zwei Jahre nach dem Unglück wurde auf Memmert zunächst ein weithin sichtbares hölzernes Erinnerungskreuz mit der Inschrift „Denke an den Tod! Annemarie Unglück 22.9.1931“ errichtet – bekannt geworden als „Kreuz von Memmert“.1 Später wurde ein bis heute vorhandener Gedenkstein im Ortszentrum von Borkum aufgestellt. Auch literarisch fanden solche maritimen Erinnerungsorte ihren Niederschlag: „Aber ein Denkmal ist es, das zur Erinnerung an die mit der ‚Amazone‘ Verunglückten errichtet wurde. Hundert oder mehr, und ich habe manchmal ihre Namen gelesen. Es ist rührend; lauter junge Leute“. Mit diesen Sätzen thematisiert Theodor Fontane in seinem 1890 publizierten Roman Stine ein Memorial, das an den Untergang des preußischen Militärseglers „Amazone“ vor der niederländischen Nordseeküste am 14. November 1861 erinnert.2 Jan Assmann stellte in seiner Arbeit über das „kulturelle Gedächtnis“ fest, dass der Tod eine „‚Urszene‘ der Erinnerungskultur“ sei.3 „Gedächtnis und Tod entsprechen einander“, vermerkte der französische Dichter Paul Valéry.4 Dies gilt auch für den maritimen Tod. Schon Fernand Braudels aus dem Kontext der „Annales“-Schule hervorgegangenes „Mittelmeer“-Buch liefert grundlegende Anregungen für Studien über Tod, Trauer und Gedächtniskultur im maritimen Kontext.5 Raimund Schulz verwies in seinem 2005 erschienenen Werk Die Antike und das Meer ebenfalls auf die tödlichen Gefahren, als er schrieb, dass für die Küstenbewohner „die Wasserwüste des Meeres Symbol grenzenloser und menschenfeindlicher Naturgewalt“ war.6 Vergleichbares stellte Holger Afflerbach für den Atlantik fest.7 Nicht zuletzt hat das ‚bedrohliche‘ Wasser Eingang in die regionale Erzähl- und Sagenwelt gefunden – wenn etwa nach Anzeichen
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für eine herannahende Sturmflut gesucht wird oder spukhafte Gestalten die Katastrophe begleiten.8 Vor allem aber hat der Tod am und im Meer in der Küstenlandschaft selbst vielfältige materielle Spuren hinterlassen. Dazu zählen – und im Folgenden liegt der Schwerpunkt auf der Nord- und Ostsee – historische Relikte, wie Schiffswracks, oder landschaftliche Spuren, wie jene nach Deichbrüchen im Marschenboden binnenseits entstandenen Ausstrudelungslöcher, die häufig bis heute als Standgewässer erhalten geblieben sind. Ein norddeutscher Heimatkundler umschrieb ihre landschaftshistorische Symbolik einmal poetisch mit folgenden Worten: Es sind die vielen helleuchtenden Wasseraugen aus der grünen Marsch längs der Deichlinien, jene stillen Weiher in Gestalt der vielen Kolke, Braken, Kuhlen oder Wehle, die denjenigen, die sie zu deuten vermögen, mehr sagen können, als je an geschriebenen Worten hat auf ’s Pergament gebracht werden können.9
Daneben sind im reflektiert-intentionalen Handeln gestaltete Muster materiellen Gedenkens entstanden. Es handelt sich um Stelen, Pfähle, Säulen und andere (Klein-) Denkmäler, Reliefs und Tafeln, aber auch um figürliche und abstrakte Darstellungen von Meer, Wellen und Fluten sowie Tod, Verlust und Trauer. Meist an zentralen Schauplätzen der Küstenorte platziert, wie Häfen, Schleusen, Ufer- und Strandpromenaden, lässt sich mit diesen Memorials, wie es Hermann Lübbe formulierte, „Vergangenes gegenwärtig“ halten.10 Ihre Initiatoren sind in der Regel Honoratioren und Repräsentanten lokal- und regionalspezifischer Vereinigungen, zum Beispiel Fischerei-, Schifferund Deichverbände, Fremdenverkehrsverbände oder Vertreter der kommunalen Selbstverwaltung bzw. Kirchengemeinden. Auch die beteiligten Künstler und Handwerker entstammen in der Regel der Region. Diese Ausdrucksformen materieller Erinnerungskultur bilden bedeutende Elemente eines allgemeineren maritimkulturellen Erbes,11 wie es im öffentlichen Raum der Küste zu finden ist. Zu diesem Erbe zählen beispielsweise im Weiteren außer Dienst gestellte und musealisierte Leuchttürme und andere Seezeichen, umgenutzte Hafenspeicher, frei aufgestellte Anker, Schrauben und weitere Schiffsteile oder auch – in den Seebädern – historische Badekarren. Wie die Memorials des maritimen Todes, reflektieren auch sie in öffentlichkeitswirksamen Inszenierungen die regionale Vergangenheit. Sie sind Katalysatoren einer zur Schau gestellten spezifisch maritimen Identität und auch eines regionalspezifischen Tourismuskonzeptes.12 Und nicht zuletzt: Durch solche Schauplätze ist die Geschichte der Küste gleichsam in der Landschaft materialisiert worden. Definitorisch kann ‚Erinnerung‘ dabei als die konkrete Arbeit an der Vergangenheit betrachtet werden. Die Produktion von Erinnerungsorten – also die Erinnerungsarbeit – zeigt sich als Kulturpraxis zwischen Gegenwart und Vergangenheit, dabei basiert sie
Das Meer, der Tod und die Trauer
auf gesellschaftlicher Interaktion. ‚Gedächtnis‘ ist hier als ein kultureller Speicherort zu verstehen und setzt einen gesellschaftlichen Konsens über die zu bewahrenden Inhalte und die gewählten Orte voraus. Klassische Speicherorte eines gesellschaftlichen Gedächtnisses sind beispielsweise Bibliotheken und Museen. Auch Friedhöfe können in ihrer je spezifischen Gestaltung hierzu gerechnet werden. Wie die Grabsteine dort, zählen auch die maritimen Memorials im öffentlichen Raum der Küste zu den materialisierten Ausdrucksformen von Gedächtniskultur – wobei der Begriff ‚Memorial‘ hier im Sinn einer Synthese von ‚Denkmal‘ und ‚Gedenkstätte‘ verwendet wird. Die räumlich-thematischen Materialisierungen maritimer Kultur und Geschichte können dann als ‚Gedächtnislandschaft‘ wahrgenommen werden, wenn sie in verdichteter Form erscheinen. Gedächtnislandschaften sind wie Palimpseste: Produkte gesellschaftlicher Prozesse, die in jeder historischen Periode die Erfahrung der eigenen Vergangenheit neu definieren, reflektieren und adaptieren. Dazu ist es notwendig, dass vor Ort ein gesellschaftlicher Konsens über die Bedeutung des eigenen historisch-kulturellen Erbes hergestellt worden ist.13 Natürlich bildet die maritime Gedächtnislandschaft ein gedankliches Konstrukt. Sie repräsentiert einen spezifischen Blick auf die Küste und akzentuiert einen bestimmten Aspekt. Dadurch aber, dass dieser Aspekt – also die Erfahrung der Katastrophe, der Tragödien, des maritimen Todes14 – über Jahrhunderte in immer wieder neuer Form tradiert worden ist (autobiografisches Schrifttum, Literatur und Kunst könnten hinzugezogen werden, bleiben hier aber ausgespart), gewinnt er an gesellschaftlich-kultureller Relevanz. Seine Materialisierung im Küstenraum verleiht ihm spezifische Signifikanz.
Geschichte, Landschaft und Identität
Identitätsprägende Erfahrungen und Aneignungen geschehen am Meer in der Extremlandschaft eines von Sturmfluten, Gezeitenströmungen und allgemein dem gefahrbringenden Wasser geprägten Raumes, dessen Geschichte von Überschwemmungen und Schiffbrüchen gekennzeichnet ist. Die Menschen mussten lernen, diese Erlebnisse zu verarbeiten. Neben Mythen und Sagen resultierten aus der Erfahrung der Katastrophe vielfältige Materialisierungen des Gedenkens.15 Rekonstruktionen regionaler Vergangenheit können dann funktionieren, wenn sie auf historisch gewachsenen und gesellschaftlich vermittelten Deutungen aufbauen. An den Meeresküsten und den tideabhängigen Strömen gibt es einen verbreiteten Konsens über die historische Erfahrung der Katastrophe – als „Selbstinterpretation einer Regionalkultur“.16 Deren Chiffren bilden nicht nur eine Form der Reflektion über das Geschehene, sondern auch eine identitätsstiftende Selbstvergewisserung der Region.17 Nicht zufällig bezeichnete der britische Historiker Simon Schama einmal die Küstengesellschaften als
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„hydrografische“ Gesellschaften, da ihre Mentalität auf der alltäglichen Auseinandersetzung mit dem Wasser beruhte.18 Auch Dieter Richter verwies darauf, dass Gesellschaft, Kultur und Alltag auf den regionalspezifischen Erfahrungen mit dem Wasser fußen.19 So wurde das todbringende Meer mit seinen Sturmflut-Katastrophen, Schiffs- und Strandungstragödien historisiert und im öffentlichen Raum materialisiert.20 Die Historisierung des maritimen Todes in Form von materieller Gedenkkultur ist ein Phänomen, dessen Anfänge sich im 19. Jahrhundert verorten lassen und das bis in die Gegenwart hineinreicht. Sozial- und mentalitätsgeschichtlich betrachtet entstand es aus Umbruchsituationen. Im 19. Jahrhundert war es zum einen das aufgekommene und sich immer stärker ausbreitende Seebäderwesen, das eine identitätsstiftende Selbstvergewisserung innerhalb der Küsten- und Inselgesellschaften herausforderte. Vor allem an der deutschen Nordseeküste und ihren vorgelagerten Inseln ging dieser Umbruch zum anderen einher mit einem zunehmenden Verlust an politischer Selbstständigkeit der sich zuvor als relativ autonom verstehenden Territorien bzw. Landesgemeinden. Die Küste und die Inseln bildeten gesellschaftlich-kulturell von nun an immer weniger eigene Mikrokosmen, vielmehr unterlagen Lebensformen und Mentalitäten zunehmend bürgerlich-städtischem Einfluss. Lokale Institutionen wurden durch den weite Lebensbereiche normierenden, modernen Staat ersetzt – insbesondere in der preußischen Zeit seit dem späten 19. Jahrhundert. Marktorientiertes Wirtschaften überformte und dominierte zunehmend traditionelle Wirtschaftsformen. Einige soziale Kreise profitierten von dieser Entwicklung, andere verloren eher. In Teilen der Bevölkerung wuchs mit der schrittweisen Ausdehnung des Seebädertourismus und der staatlichen Einflussnahme seit dem 19. Jahrhundert die Furcht vor dem Verlust der zuvor praktizierten relativen Selbstbestimmung und auf einer eher symbolischen Ebene vor Identitätsverlust. Die sich stetig erweiternden Wechselwirkungen mit städtisch-bürgerlichen Diskursen, die ja sowohl wirtschaftliches und gesellschaftlich-politisches Denken und Handeln als auch Kultur und Mentalität umfassten, bedeuteten einen Bruch mit der eigenen Vergangenheit. Eben deshalb vergewisserte man sich noch einmal der identitätsstiftenden Substanz dieser Vergangenheit. In einem distanziert-reflektierten Rückgriff rettete man die eigene Erfahrung des bedrohlichen, todbringenden Wassers vor externen Diskursen, indem man sie im öffentlichen Raum materialisierte und damit gleichsam ‚zur Schau‘ stellte. Akteure waren in der Regel lokale Honoratioren: Pastoren, Amtsvertreter, Kapitäne bzw. Vereinigungen lokaler Interessengruppen (Fischerei, Deichwesen). Im historischen Strukturwandel entstanden nun Erinnerungsorte im Sinne von Pierre Nora: Das Interesse an jenen Orten, an die sich das Gedächtnis lagert […], rührt von diesem besonderen Augenblick unserer Geschichte her. Wir erleben einen Augenblick des Über-
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gangs, da das Bewusstsein eines Bruchs mit der Vergangenheit einhergeht mit dem Gefühl eines Abreißens des Gedächtnisses, zugleich aber ein Augenblick, da dies Abreißen noch soviel Gedächtnis freisetzt, daß sich die Frage nach dessen Verkörperung stellt.21
Auch die Gründung lokaler Heimatvereine und -museen – beispielhaft für die Epoche um 1900 sei „Söl’ring Foriining“ mit seinen Museen auf Sylt genannt – spielten bei diesem historischen Selbstvergewisserungsprozess eine wichtige Rolle. Dieser Prozess hat sich – wie die große Zahl neuer ‚Erinnerungsorte‘ und Memorials aus den letzten Jahrzehnten dokumentiert – bis in die Gegenwart fortgesetzt. Gerade in der Gemengelage von wirtschaftlichem und sozialem Strukturwandel, Alt- und Neubürgern sind die Historisierungstendenzen unübersehbar. Diese symbolisch-historisierende Adaption der Vergangenheit setzt der gesellschaftlichen Fluktuation symbolisch etwas anscheinend Dauerhaftes entgegen. Zugleich können die Memorials des maritimen Todes im Sinne touristischen Marketings für die Profilierung der Küstenregion genutzt werden und erweisen sich zunehmend als Touristenattraktionen.
Narrationen des maritimen Todes: Fallbeispiele von der Nord- und Ostseeküste
Jedes Memorial, jeder ‚Erinnerungsort‘ bezieht sich auf eine eigene Narration. So wünschenswert es wäre, die lokalen Kontextbezüge zu vertiefen und die Akteure und ihre Netzwerke zu analysieren,22 so sehr muss es an dieser Stelle bei einem Überblick mit einigen Beispielen bleiben. Zu Beginn ein Blick nach Großbritannien; hier lassen sich anschauliche Beispiele für den Zusammenhang von gefahrvollem Meer, Gedächtnis und Landschaft finden. Als weithin sichtbare Landmarke zeigt sich das „Thousla“-Kreuz an dem schmalen Sund, der zwischen der Isle of Man und der kleinen Nachbarinsel Calf of Man liegt. Es erinnert an den tragischen Schiffbruch eines französischen Schoners mit zwei Todesopfern im Jahr 1858. Zugleich erinnert es an eine heroische Rettungsaktion. Wie bei vielen Memorials lässt sich der Hintergrund als Narration darstellen: In Port St. Mary […] hörte man von dem Unglück und beschloss den Schiffbrüchigen zur Hilfe zu kommen. Da der Wind die Seefahrt von Port St. Mary aus unmöglich machte, schleppte man ein Ruderboot über den Berg zum Sound. […] Drei Stunden lang ruderte seine Besatzung durch den Sturm, bis sie die schwer verletzten Franzosen erreichte und sie in ihr Boot holen konnte. Die Geretteten brachte man zuerst zum Leuchtturm auf dem Calf, später zum Arzt in Castletown und danach zu dem französischen Konsul in Liverpool. […] Auf dem Warnlicht wurde ein Lothringisches Kreuz – es hat oben einen schmalen Querbalken und darunter einen breiteren – zur Erinnerung an die beiden [ver-
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storbenen] Schiffsjungen angebracht. Dieses Kreuz ging 1905 in einem Sturm verloren. An seiner Stelle wurde ein hölzernes Kreuz aufgestellt. 1980 wurde das Kreuz entfernt und durch ein Gaslicht ersetzt, um die Schiffe besser zu warnen. Das Kreuz wurde ein Jahr später am Sound wieder aufgestellt.23
Eine ganz andere Narration repräsentiert ein überlebensgroßes Memorial am Strand des schottischen North Berwick (East Lothian). Es erinnert an einen tragischen Badeunfall am 27. Juli 1889 – in jener Zeit des späten 19. Jahrhunderts, als sich North Berwick zu einem beliebten Badeort zu entwickeln begann. Eine 19-jährige Frau aus Glasgow ertrank beim Versuch, ein kleines Kind vor dem „nassen Tod“ zu retten – das Kind überlebte. Das hoch aufragende keltische Kreuz wurde durch eine öffentliche Spendensammlung finanziert. Ebenfalls an einen Badeunfall erinnert ein Gedenkstein in Binz auf der Ostsee-Insel Rügen, der sich direkt an der Strandpromenade befindet. Ursprünglich an ihrem südöstlichen Ende situiert, wurde der Stein später zentral in der Nähe der Seebrücke neu aufgestellt. Das Unglück geschah am 28. Juli 1912 auf der Binzer Seebrücke: Nach dem Anlegen eines Dampfers war sie überladen, der am Brückenkopf gelegene Anlegesteg brach zusammen, über 70 Menschen stürzten ins Wasser. 16 Menschen, darunter zwei Kinder, kamen durch das Unglück ums Leben.24 Für Diskussionen sorgte, dass der Tod in Sichtweite des Strandes geschah. Aber wegen nicht ausreichender Rettungsgeräte und dem Umstand, dass kaum jemand damals schwimmen konnte, kam es zu der relativ hohen Zahl an Toten. Das Unglück war letztlich der Anlass für die Gründung der Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft (DLRG) 1913 in Leipzig.25 Besonders spektakulär können figürliche Memorials sein. Das überlebensgroße figürliche Memorial der „Madonna der Meere“ von Manfred Sihle-Wissel am St.-PauliFischmarkt in Hamburg ist allen auf See Gebliebenen gewidmet. Es wurde 1985 vom Verein „Platz der Seefahrt“ und den „Cap Horniers“ errichtet. Als Inschrift trägt es ein Zitat des Schriftstellers Joseph Conrad: „Der unvergänglichen See/ den Schiffen die nicht mehr sind/ und den schlichten Männern/ deren Tage nicht wiederkehren“. Durch ihre ausdrucksstarke Gestik charakterisiert ist die „Wartende“ an der Weserpromenade (Kaje) in Brake. Die Steinskulptur wurde im Jahr 1990 von dem Westersteder Bildhauer Norbert Marten geschaffen und zählt inzwischen zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt. Aus der Kunstgeschichte ist das Motiv der ‚Wartenden‘ gut bekannt, etwa durch das um 1840 entstandene Gemälde Wartende Fischersfrau des ansonsten als Marinemaler bekannt gewordenen Heinrich Tank.26 Ein modern gestalteter Brunnen erinnert auf einem zentralen Platz der Hafen- und Werftstadt Elsfleth an jene, die „Auf See Geblieben“ sind. Er wurde 2004 eingeweiht. Gestiftet wurde das Denkmal von einem Elsflether Kapitän und Reeder. Die Gestaltung stammt von dem Bremer Architekten Uwe Hohnholz.
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Der namenlose Seemannstod
Bisweilen sind es ganz individuelle Tragödien, die in der maritimen Gedenkkultur ihre Spuren hinterlassen haben. Ein charakteristisches Beispiel ist das sogenannte ‚Seemannsgrab‘ auf der Halbinsel Holnis an der Flensburger Förde in Angeln. Es ist dem Flensburger Steuermann Peter Thomson gewidmet, der während einer Westindienfahrt 1850 an Cholera erkrankte.27 Wegen der Seuchengefahr durfte sein Schiff den Flensburger Hafen nicht anlaufen und musste in der Förde auf Reede liegen. Der Seemann verstarb an Bord und andere Besatzungsmitglieder begruben ihn an der Küste. Die Grab- und Gedenkstätte zählt inzwischen zu den Sehenswürdigkeiten von Holnis.28 Ein anderes, ebenfalls frühes Objekt für einen einzelnen Verstorbenen befindet sich in der Nähe von Cuxhaven an der Nordseeküste. Im Jahr 1864 wurde in dem kleinen Ort Arensch ein Gedenkstein aufgestellt mit der Inschrift: „Hier ruhet ein unbekannter Seemann. 1864.“ Die weitere Inschrift ist großenteils verwittert und daher kaum noch entzifferbar, nur halbwegs lesbar sind noch die Worte „Sucht ihr …“ und „im Himmel“. Umrahmt ist die Stätte von kopfüber eingegrabenen grünen Flaschen. In der Hofchronik der Arenscher Bauernfamilie Thalmann findet sich dazu folgende, hier auszugsweise zitierte Passage: Am Dünenrand war ein kleiner Friedhof der Heimatlosen. Am 8.5.1864 war eine Seemannsleiche durch die Fluten angespült. Onkel Klaus und mein Großvater hatten sie gefunden. Da sich von den Angehörigen aber niemand meldete, konnten unsere Vorfahren sie dort beerdigen. Sie setzten ihm einen schönen Findling […] Tante Wilhelmine übernahm die Pflege der kleinen Grabstätte. […] Hübsche Tannen zieren das Grab.29
Übrigens erwähnt auch der Schriftsteller Joachim Ringelnatz, der während seines Militärdienstes in der Nähe stationiert war und dem in Cuxhaven ein Museum gewidmet ist, die Anlage in seinem 1928 erschienenen Werk „Als Mariner im Krieg“.30 Der Einzelbestattung für einen unbekannten Seemann korrespondieren die sogenannten Namenlosen-Friedhöfe an der Nordseeküste.31 Es handelt sich um Kleinstfriedhöfe für angeschwemmte, unbekannte Strandleichen. Diese Anlagen zeugen von einem veränderten Umgang mit dem Tod an der Nordsee. Sie wurden eingerichtet, um im Zeitalter des aufkommenden Seebäderwesens gegenüber den städtisch-bürgerlichen Badegästen nicht länger unzivilisiert, ja ‚barbarisch‘ zu erscheinen. Zuvor hingegen hatte man die Strandleichen als sogenannte ‚unehrliche‘ Tote einfach in den Dünen verscharrt. Frühe Anlagen stammen aus den 1850er-Jahren: Es handelt sich um die Namenlosen-Friedhöfe in Westerland auf Sylt sowie auf Spiekeroog (jeweils 1854). Listland auf Sylt folgte 1865. Auf dem Keitumer Kirchhof steht, nahe des Einganges, bis heute ein Findling mit der Aufschrift „Den Unbekannten“. Dieser Gedenkstein ist auch auf Fotos aus der Zeit um 1930 sowie auf einem Gemälde des Keitumer Malers,
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Fotografen und Dichters Magnus Weidemann zu sehen. Das Bild stammt aus dem Jahr 1933 und trägt den Titel Die Seemannsgräber. Der Gedenkstein ist mit neun hölzernen Kreuzen zu sehen, die heute nicht mehr vorhanden sind. Weitere Anlagen gibt es auf der Insel Amrum, auf Neuwerk und auf Spiekeroog. Im Verlauf der Jahrzehnte wurden diese speziellen Friedhöfe für die namenlosen Strandtoten mit Monumenten und Gedenkstätten ausgeschmückt – die einzelnen, bis heute sichtbaren Etappen ihrer Gestaltung speichern den Wandel des Umgangs mit den ‚fremden Toten‘ der See. Einige der Namenlosen-Friedhöfe, wie der auf der Insel Borkum, sind nicht erhalten geblieben.32 So wie diese miniaturhaften Anlagen zunächst wie Fremdkörper in der Küstenlandschaft wirkten, so war auch die reguläre Bestattung der Strandleichen für die Küstengesellschaften etwas Neues. Aber die Küste näherte sich im Laufe der Jahrzehnte immer mehr der städtisch-bürgerlichen Kultur an, und im Zuge dieser Entwicklung wurden die Strandleichen-Friedhöfe zum vertrauten Element der Landschaft. Sie wurden allmählich von der sich ausdehnenden Besiedlung und Bebauung eingeschlossen, liegen heute zumeist inmitten der Ortschaften wie in Westerland oder in Nebel auf Amrum und werden vor Ort sorgsam gepflegt und bepflanzt. Auch diese Erinnerungsorte lassen sich mit je speziellen Narrationen verbinden. Dies gilt beispielsweise für den Namenlosen-Friedhof auf der Insel Neuwerk in der Elbmündung, der frühesten Anlage ihrer Art an der deutschen Nordseeküste. Auf der zu Hamburg gehörenden Insel wurde bereits 1319 ein Friedhof angelegt, unter anderem für die an diesem Ort nicht selten angetriebenen Strandleichen. Er ist wohl zunächst auch für die wenigen Neuwerker Bewohner genutzt worden, bevor diese sich seit dem 16. Jahrhundert auf dem Festland auf dem Döser Kirchhof (heute Cuxhaven) bestatten ließen. Vom Umgang mit Strandleichen auf der Insel Neuwerk zeugt eine Verordnung aus dem Jahr 1672. In ihr heißt es unter anderem, dass für angeschwemmte unbekannte Strandleichen eine Grabstätte mit einem Holzkreuz angelegt werden muss. Bis heute stehen auf der Anlage viele schlichte Holzkreuze ohne jede Inschrift. Inmitten des Begräbnisplatzes befindet sich ein hoch aufragendes Gedenkkreuz mit Gedenkstein. Letzterer wurde 1909 von der Wasserbauinspektion Cuxhaven errichtet, die Initiative und finanziellen Mittel kamen von Kurgästen – nachdem die Insel 1905 zum Seebad geworden und ein Hotel eröffnet war. Das hohe Kreuz wurde 1957 aufgestellt. Der Neuwerker Begräbnisplatz beherbergt auch insofern eine besondere Grabstätte, als sie inmitten der namenlosen Kreuze namentlich gekennzeichnet ist. Hier ruht der Bremer Schüler Herbert Vogel auf Wunsch seiner Eltern, die Stammgäste im Seebad Neuwerk waren. Herbert Vogel war Opfer einer Schiffbruch-Tragödie Mitte August des Jahres 1928 geworden. Damals begaben sich zwei Bremer Schüler, die Brüder Vogel, sowie ein befreundeter junger Engländer – keiner von ihnen über 20 Jahre alt – trotz stürmischen Wetters mit ihrer Sieben-Meter-Segelyacht ‚Kleeblatt‘ von Hamburg aus auf die Elbe in Richtung Nordsee. Das Boot kenterte unterwegs. Es wurde von Fischern auf
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der Robbenplate gefunden, einer Sandbank westlich von Neuwerk. Ein Holzkreuz auf dem Begräbnisplatz der Insel Neuwerk erinnert mit seiner Inschrift an dieses Unglück: „Hier ruht der Unterprimaner Herbert Vogel aus Bremen geb. 4.10.1909 gestrandet 17./18.8.1928 mit der Segelyacht Kleeblatt.“ Die Leichen der beiden anderen Jugendlichen wurden nie gefunden.33 Eine besondere Form der Erinnerung an den Seemannstod gibt es in Keitum, dem früheren Haupt- und Kapitänsort der Insel Sylt. Dort wurde von der Kirchengemeinde im 19. Jahrhundert – genauer gesagt: von 1800 bis 1879 und begonnen von Pastor Erasmus Fangel – ein „Register der zur See Gebliebenen“ geführt. Es umfasst sowohl Einträge für die im Meer ums Leben Gekommenen (wenn möglich mit genauer Angabe von Längen- und Breitengrad) als auch für jene, die während einer Seefahrt in fremden Ländern verstarben. Für diese knapp 80 Jahre wurden 161 entsprechende Todesfälle mit möglichst genauer Beschreibung der Todesursache verzeichnet. Dies ist ein Beleg für große wirtschaftliche Bedeutung des Seefahrerberufs auf der Insel Sylt, zumal angenommen werden kann, dass nicht alle Todesfälle verzeichnet wurden.34
Sturmfluten und Überschwemmungen
Die weitaus größte Zahl an Erinnerungsorten ist Sturmfluten, Deichbrüchen und Überschwemmungskatastrophen gewidmet.35 In der Regel sind sie als Flutmarken in der Küstenlandschaft weithin zu sehen – manchmal meterhoch an zentralen Plätzen aufragend. Häufig sind es hölzerne, an Duckdalben erinnernde Pfähle, an denen mit Metallreifen die Pegelstände historischer Sturmflutkatastrophen verzeichnet sind. Einen historisch frühen Hinweis gibt es für Neuhaus/Oste für den Anfang des 20. Jahrhunderts: „Am Wohnhause bei der Schiffswerft in Neuhaus a. d. Oste befindet sich reichlich 2 Meter hoch, links bei der Eingangstür, ein Merkzeichen über die Fluthöhe. Die Inschrift lautet: ‚Wasserhöhe am 3. und 4. Februar 1825‘.36 Häufig werden Kirchengebäude genutzt, um solche Flutmarken anzubringen. An der Kirche von Heppensen beispielsweise verweist eine Flutmarke auf die legendäre Weihnachtsflut 1717. Auch ein neu gestaltetes Kirchenfenster ist hier dem Thema Sturmflut gewidmet.37 Bis heute erhaltene Beispiele von Sturmflutpfählen sind unter anderem in Büsum, Tönning, St. Peter-Ording, Tümlauerkoog, Husum und Wyk auf Föhr zu finden. In Heiligenhafen an der Ostsee ist es eine modern gestaltete Holzsäule. In anderen Fällen handelt es sich um – bisweilen kleinformatige – Tafeln oder Reliefs, wie in Orth auf Fehmarn, Travemünde, Missunde und Kappeln an der Schlei, auf der Insel Langeneß und in Nebel auf Amrum. An der Außen- und Unterweser finden sich auf der westlichen Seite Beispiele unter anderem in Kirchhammelwarden und Oberhammelwarden. Für die östliche Weserseite sei unter anderem auf die Sturmflut-Erinnerungsmale in
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Dorumersiel und Cappel-Neufeld (Land Wursten) hingewiesen. Weitere Beispiele stehen in Fedderwardersiel (Butjadingen) und Neuharlingersiel (Ostfriesland) – die Aufzählung ließe sich noch deutlich verlängern. In Einzelfällen erinnern auch steinerne Stelen – Grabmälern ähnlich – an Sturmflutkatastrophen. Ein solches Beispiel für die Februarflut 1962 findet sich am Ufer bei Utersum auf der Insel Föhr. Dieses Memorial umfasst zusätzlich – und das ist ungewöhnlich – eine bildliche Darstellung. Sie zeigt überschlagende Wellen einerseits, eine schützende Hand vor einer arbeitenden Frau andererseits – anschauliche Symbolik für die Bedeutung des Küstenschutzes an der Nordsee. Zahlen- und variantenmäßig sind Sturmflut-Memorials an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste breiter gestreut als an der Ostsee. Dies hängt mit den regional unterschiedlichen Erfahrungen zusammen: War es an der Ostseeküste vor allem die Sturmflut von 1872, die Eingang in die Memorialkultur fand,38 so ist die Geschichte der Nordseeküste von mehreren Katastrophenfluten geprägt.39 Die hier durch den Deichbau in einem ursprünglich amphibischen, von ein- und ausströmenden Tiden geformten Raum seit dem hohen Mittelalter geschaffene, geschlossene wasserbautechnische Grenze erwies sich immer wieder als fragil. Die Sturmflutkatastrophen zeitigten für die Marschengesellschaften höchst komplexe Auswirkungen.40 In der Neuzeit gehörten vor allem die teils gut dokumentierte Flutkatastrophe von 1717 (sogenannte ‚Weihnachtsflut‘)41 sowie die Februarflut 1825 zu jenen Ereignissen, die historische Zäsuren darstellten. Bis heute ist vor allem die Flut 1962 im kollektiven Gedächtnis verankert.42 Blicken wir auf einige Beispiele von der Niederelbe, also dem gezeitenabhängigen Teil der Elbe. Diese Region war besonders stark von der Sturmflutkatastrophe vom 16./17. Februar 1962 betroffen.43 Bei Francop im Alten Land befindet sich am Hohenwischer Brack (Ecke Hinterdeich/Hohenwischer Straße) ein künstlerisch gestaltetes Memorial: In Form abstrakter Wellen erinnert es an einen 80 Meter breiten Deichbruch bei der Sturmflutkatastrophe vom Februar 1962. Es stammt vom Moorburger Bildhauer Winni Schaak und wurde 2002 zum 40. Gedenktag der Katastrophe errichtet. Besonders eindrucksvoll ist das Memorial zur Sturmflut 1962 im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, der mit seinen zahlreichen Toten von der Katastrophe in besonderem Maße betroffen war. An vielen Orten finden jährliche Gedenkfeiern statt. Soziale Träger dieser Erinnerungskultur sind unter anderem Deichverbände, kommunale Gremien und lokale Honoratioren. In der Nähe des Stader Hafens und der Schwinge-Schleuse steht ein Memorial, das an die Opfer der Sturmflut vom 16./17. Februar 1962 erinnert. Direkt neben dem Memorial sind zwei historische Flutwarn-Kanonen aufgestellt. Solche Kanonen wurden bereits seit dem 17. Jahrhundert genutzt. Die hier gezeigten wurden bei der Sturmflut vom Februar 1962 ein letztes Mal abgefeuert.44
Das Meer, der Tod und die Trauer
Mit diesen und anderen maritimen Memorials wird sowohl Vergangenheit als auch deren Reflektion in die Landschaft eingeschrieben. Dies kann immer dann als ‚Gedächtnislandschaft‘ wahrgenommen werden, wenn in der räumlich-symbolischen Verdichtung der Relikte und Artefakte ein gesellschaftlich-kultureller Konsens hergestellt worden ist. Die Küste als Extrem-Landschaft ist prädestiniert für eine von Trauer geprägte Arbeit an der Vergangenheit, weil der Schock der Katastrophen – Sturmfluten, Überschwemmungen, Boots- und Schiffsunglücke − über Jahrhunderte erfahren und innerhalb der Bevölkerung tradiert worden ist. Unter diesen besonderen regionalen und topografischen Umständen konnte sich eine spezifisch maritime Gedächtnislandschaft entfalten. Aber Flutmarken – und damit Erinnerungen an Überschwemmungen – sind auch im Binnenland zu finden, vor allem an Flüssen, seltener an Seen.45 Die hydrografische Eigendynamik der Flüsse zeigt sich, wenn sie durch menschliches Handeln nicht zu bändigen sind: wenn sie über ihre Ufer oder Deiche treten und Überschwemmungen hervorrufen. Hochwasser sind bis heute ein unberechenbarer Faktor geblieben. Immer wieder bilden einzelne Überschwemmungskatastrophen bedeutsame Zäsuren in der Geschichte von Donau, Elbe, Rhein, Oder und anderen Flüssen. Natürliche Einflüsse – wie Schneeschmelze und starke Regenfälle – treffen auf wasserbautechnische Veränderungen. Noch die Überschwemmungskatastrophen der jüngeren Vergangenheit, etwa an Elbe und Oder, lassen sich auf anthropogene Einflüsse zurückführen: Einengungen des Flussbettes, verdichtete Bebauung von ursprünglichen Retentionsflächen und Ähnliches spielen hier eine wichtige Rolle.46 Die als intentionale Objekte materieller Memorialkultur zu betrachtenden Beispiele sind in der Regel an Gebäuden oder Brücken am Ufer oder in Ufernähe zu finden, manchmal auch allein stehend. Die angegebenen Höhenmaße sind – wie auch an den Küsten von Nord- und Ostsee – in der Regel als nurmehr symbolisch zu betrachten, stellen also keine empirisch überprüfbaren Pegelmessungen dar.47
Perspektiven der Forschung: Kartografierte Gedächtnislandschaften
Blicken wir abschließend kurz auf einige weitere, im öffentlichen Raum verankerte Gedächtnislandschaften im Umfeld von Tod, Trauer und Erinnerung. Zu denken wäre an jene in Europa und den USA immer zahlreicher werdenden Kreuze am Straßenrand, die an den Verkehrstod erinnern und bisweilen, mit persönlichen Attributen versehen, wie kleine Altäre aufgebaut sind und in die Tradition des gestalteten Raumes (wie Sühnekreuze und Marterln) einzuordnen sind. Die Straße ist ein Raum, der wie nur wenige andere als Symbol der mobilen Gesellschaft gilt.
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Trotz ihres zweifellos provisorischen Charakters haben die Kreuze am Straßenrand eine Memorial-Funktion. Auch aus anderen landschaftlichen Räumen sind solche provisorischen Orte der Erinnerung bekannt. In alpinen Regionen markieren Memorials die Stelle, an denen Bergsteiger den Tod fanden. In vielen Orten und Städten erinnern Hinweistafeln oder Denkmäler an die Opfer von Brand- oder weiteren Katastrophen. Insgesamt sind all diese Erinnerungsorte zu Elementen von spezifischen, lokal und regional geprägten Gedächtnislandschaften geworden. Sie bilden Orte von hoher symbolischer Bedeutung. In einem weiteren Schritt wären eine kartografische Dokumentation und inhaltliche Kontextualisierung aller Erinnerungsorte und Memoriale in bestimmten Flusslandschaften wünschenswert. Denkbar wäre eine Art Inventar im Sinn einer regionalen „Archäologie der Erinnerung“.48
Zusammenfassung: Maritimer Tod – maritime Gedächtnislandschaften
Der maritime Tod hat in der Küstenlandschaft symbolische Spuren hinterlassen: Denkmäler und Reliefs, Flutspuren und Schiffswracks erinnern an die Auswirkungen von Katastrophen. Durch solche Orte wird die Geschichte der Küste in die Landschaft eingeschrieben. Sie befinden sich an zentralen Orten, zum Beispiel am Hafen, an der Promenade oder an Aussichtspunkten. Sie sind Erzählungen einer ganz bestimmten regionalen Geschichte. Einerseits bestehen historische Relikte (zum Beispiel Wracks oder Teile davon) als Zeugnisse der Vergangenheit fort. Andererseits werden Erinnerungsobjekte (zum Beispiel Denkmäler) bewusst geschaffen und in der Landschaft aufgestellt. Sie können an die tragischen Folgen von Schiffskatastrophen oder Überschwemmungen erinnern. Indem spezifisch maritim geprägte Erfahrungen von Tod, Trauer und Erinnerung an der Küste tradiert, reflektiert und materialisiert werden, gewinnen sie historische Bedeutung. „Spezifisch historisch“, so schreibt der Historiker Jörn Rüsen, „wird das Trauern dann, wenn es sich auf konkrete Vorgänge der Vergangenheit bezieht, die dem unmittelbaren Lebenszusammenhang der Gegenwart schon entrückt sind, […] zugleich aber über den Zeitabstand hinaus […] noch bedeutungsvoll und sinnträchtig geblieben sind oder erneut werden können“.49 Erst dieser Prozess ermöglichte es, die historische Erfahrung von Tod und Trauer in Form von Memorials zu materialisieren. Die Memorials am Meer fundieren die identitätsstiftende Wirkung von Tod und Erinnerung in Küstengesellschaften. Sie beschreiben die regionale Vergangenheit sowie die Reflexion über sie. Die Objekte erscheinen entlang der Küste in einer solchen Dichte, dass sie als ‚Gedächtnislandschaft‘ betrachtet werden können. Dazu hat sich ein gesellschaftlicher
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Konsens über die symbolische Bedeutung von Relikten maritimer Katastrophen als Selbstinterpretation der regionalen Vergangenheit und Kultur herausgebildet. Die Positionierung der Memorials an zentralen Orten unterstreicht ihre hohe symbolische Bedeutung. So kann diese Gedächtnislandschaft als symbolische Verdichtung der tragischen Vergangenheit und als Teil des maritimen Erbes der Küste gesehen werden.
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Das Meer, der Tod und die Trauer
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Norbert Fischer
Schama, Simon: Überfluss und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter, München 1988. Schmidt, Claudia: Der maritime Tod. Zeugnisse des maritimen Todes auf dem Keitumer Friedhof und in den Kirchenbüchern, in: Fischer, Norbert u. a. (Hg.): Friedhof am Meer. Der St.-Severin-Kirchhof in Keitum und der Tod auf Sylt, Husum 2016, S. 55–75. Schmidt-Lauber, Brigitta: Maritime Denkmals(er)findung. Ein Küstenort inszeniert seine Geschichte, in: Fischer, Norbert/Schmidt-Lauber, Brigitta/Müller-Wusterwitz, Susan (Hg.): Inszenierungen der Küste, Berlin 2007, S. 184–217. Schulz, Raimund: Die Antike und das Meer, Darmstadt 2005. Smidt-Juist, Peter: Das Kreuz von Memmert. Bearbeitet von Hans und Renate Kolde, Juist 2005. Spata, Manfred: Historische Pegel und Bezugshöhen in Europa, in: Deutsches Schiffahrtsarchiv 21 (1998), S. 379–392. Tauschek, Markus: Kulturerbe: eine Einführung, Berlin 2013. Tiedemann, Hans-Otto: Sturmflutmarken an Angelns Küste, in: Jahrbuch des Heimatvereins der Landschaft Angeln 47, 1983, S. 176–187. Valéry, Paul: Cahiers/Hefte. Band 3. Frankfurt/M. 1989. Vennemann, Julia: Wartende Fischersfrau (Rømø), in: Knöll, Stefanie/Overdick, Michael/ Fischer, Norbert/Overdick, Thomas (Hg.): Der Tod und das Meer – Seenot und Schiffbruch in Kunst, Geschichte und Kultur, Handewitt 2012.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Smidt-Juist, Peter: Das Kreuz von Memmert. Bearbeitet von Hans und Renate Kolde, Juist 2005. Fontane, Theodor: Stine, in: ders.: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Hrsg. von Peter Goldammer et al., Bd. 5, Berlin/Weimar 21973, S. 215. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 33. Valéry, Paul: Cahiers/Hefte. Band 3. Frankfurt/M. 1989, S. 414. Braudel, Fernand: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. 1990. Drei Bände, Frankfurt/Main 1994. Schulz, Raimund: Die Antike und das Meer, Darmstadt 2005, S. 207. Afflerbach, Holger: Das entfesselte Meer. Die Geschichte des Atlantik, München 2001, S. 28 f. Rieken, Bernd: „Nordsee ist Mordsee“: Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Friesen, Münster u. a. 2005, passim. Jungclaus, Rudolf: Die Sturmflut vom 3.–5. Februar 1925 [sic! gemeint: 1825], in: Freiburger Zeitung v. 3.2.1825. Beilage, S. 1; siehe zur Dokumentation von Bracks für eine Region an der Niederelbe: Höft-Schorpp, Susanne u. a. (Hg.), Stumme Zeugen großer Katastro-
Das Meer, der Tod und die Trauer
phen: die Bracks im Alten Land & Buxtehude 2017, Jork 2017. 10 Lübbe, Hermann: Der Fortschritt von gestern. Über Musealisierung als Modernisierung, in: Borsdorf, Ulrich/ Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.): Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte. Bielefeld 2004, S. 13–38, hier S. 13. 11 Zum Erbe-Begriff siehe Tauschek, Markus: Kulturerbe: eine Einführung, Berlin 2013. 12 Fischer, Norbert: Das maritime Erbe. Über Musealisierung, „doppelte Identität“ und Tourismusmarketing an der Nordseeküste, in: Berger, Karl C. u. a. (Hg.): Kulturelles Erbe in Wissenschaft und Gesellschaft. Wien 2009, S. 159–170; ders.: Anker mit Patina: Über die Musealisierung der Küstenlandschaft, in: Kulturen 1, 2007, Heft 2, S. 4–13. 13 Fischer, Norbert: Gedächtnislandschaften in Geschichte und Gegenwart. Kulturwissenschaftliche Studien. Wiesbaden 2016. 14 Gray, Peter/Kendrick, Oliver (Hg.): The memory of catastrophe, Manchester/New York 2004. 15 Die folgenden Abschnitte basieren teilweise auf: Fischer, Norbert: Memorials des maritimen Todes: Über Denkmäler, Grabsteine und Friedhöfe an der schleswig-holsteinischen Nordund Ostseeküste, in: Kieler Blätter für Volkskunde 52, 2020, S. 7–33; ders.; Zur Historisierung des maritimen Todes: Die Nordseeküste als Gedächtnislandschaft, in: Holbach, Rudolf /von Reeken, Dietmar (Hg.): „Das ungeheure Wellen-Reich“ – Bedeutungen, Wahrnehmungen und Projektionen des Meeres in der Geschichte, Oldenburg 2014, S. 87–97; ders.: Gedächtnislandschaft der Katastrophe: Über maritime Memorials und Friedhöfe der Namenlosen an Nord- und Ostsee, in: Knöll, Stefanie/Overdick, Michael/Fischer, Norbert/ Overdick, Thomas: Der Tod und das Meer: Seenot und Schiffbruch in Kunst, Geschichte und Kultur, Handewitt 2012, S. 17–24; ders.: Maritime Gedächtniskultur an der Nordseeküste: Adaptionen der Katastrophe, in: Fischer, Ludwig/Reise, Karsten (Hg.): Küstenmentalität und Klimawandel: Küstenwandel als kulturelle und soziale Herausforderung, München 2011, S. 77–95. 16 Flender, Armin/ Pfau, Dieter/Schmidt, Sebastian: Regionale Identität zwischen Konstruktion und Wirklichkeit. Eine historisch-empirische Untersuchung am Beispiel des Siegerlandes, Baden-Baden 2001, S. 25. 17 Borsdorf/Grütter/Rüsen: Aneignung der Vergangenheit. 18 Schama, Simon: Überfluss und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter, München 1988, S. 59. 19 Richter, Dieter: Das Meer – Geschichte der ältesten Landschaft, Berlin 2014, S. 9; siehe auch Kronfeld-Goharani, Ulrike u. a. (Hg.): Der Mensch und das Meer. Wie Erzählungen unseren Umgang mit dem Ozean beeinflussen, Neumünster 2020. 20 Jakubowski-Tiessen, Manfred: „Trutz, Blanker Hans“. Der Kampf gegen die Nordsee, in: Lundt, Bea (Hg.): Nordlichter. Geschichtsbewusstsein und Geschichtsmythen nördlich der Elbe, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 67−84; Rheinheimer, Martin: Mythos Sturmflut. Der Kampf gegen das Meer und die Suche nach Identität: Demokratische Geschichte 15 (2003), S. 9−58. 21 Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 11. 22 Zur symbolischen Funktion von Denkmälern an der Küste beispielhaft Schmidt-Lauber,
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Brigitta: Maritime Denkmals(er)findung. Ein Küstenort inszeniert seine Geschichte, in: Fischer, Norbert/Schmidt-Lauber, Brigitta/ Müller-Wusterwitz, Susan (Hg.): Inszenierungen der Küste, Berlin 2007, S. 184–217. Leisner, Barbara: Das Thousla-Denkmal auf der Isle of Man, in: Ohlsdorf – Zeitschrift für Trauerkultur 131, 2015, S. 7 f. Karge, Wolf: Illustrierte Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns, Rostock 2008, S. 286– 288. Bartnitzke, Klaus: Chronik der DLRG. Ein historischer Rückblick in Momentaufnahmen. 90 Jahre Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft, Bad Nenndorf 2003. Vennemann, Julia: Wartende Fischersfrau (Rømø), in: Knöll, Stefanie/Overdick, Michael/Fischer, Norbert/Overdick, Thomas (Hg.): Der Tod und das Meer – Seenot und Schiffbruch in Kunst, Geschichte und Kultur, Handewitt 2012, S. 129; siehe zur Biografie: Lier, Hermann Arthur: Tank, Heinrich, in: Allgemeine Deutsche Biographie 37 (1894), S. 372. Zu Seuchen und Bestattungskultur siehe Fischer, Norbert/Neurath, Ulrike: Seuchen und Sepulkralkultur. Wie Epidemien die Bestattung veränderten, in: Friedhof und Denkmal 65, Heft 3/2020, S. 6–13. Ein vergleichbares Beispiel für die Einzelbestattung eines Seemannes außerhalb des Friedhofs befindet sich in Arensch bei Cuxhaven; Fischer, Norbert: Friedhof der Namenlosen: Zwei Schauplätze des maritimen Todes in Cuxhaven, in: Ohlsdorf – Zeitschrift für Trauerkultur 122, 2013, Heft III (www.ohlsdorf-online.de, letzter Zugriff am 31.11.2021). Chronik der Thalmänner zu Arensch 1803–1926, Stadtarchiv Cuxhaven, Signatur B-5106. Ringelnatz, Joachim: Als Mariner im Krieg, Zürich 1994, u. a. Kapitel 16. Hasse, Jürgen: Versunkene Seelen: Begräbnisplätze ertrunkener Seeleute im 19. Jahrhundert, Freiburg 2016; ders.: Friedhöfe für ertrunkene Seeleute: ein Beispiel zur sepulkralkulturellen Bedeutung räumlicher Grenzen auf Friedhöfen, in: Emder Jahrbuch für historische Landeskunde Ostfrieslands 85, 2005, S. 120–135; Norbert Fischer: Tod am Meer – Die Namenlosen-Friedhöfe an der Nordseeküste, in: ders./Markwart Herzog (Hg.): Nekropolis – Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden, Stuttgart 2005, S. 147–159. Siehe dazu den Beitrag von Jürgen Hasse in diesem Buch, S. 173–183. Hierzu und weitere Nachweise Fischer, Norbert: Von Seedeichen und Sturmfluten. Zur Geschichte der Deiche in Cuxhaven und auf der Insel Neuwerk, Stade 2016, S. 258. Schmidt, Claudia: Der maritime Tod. Zeugnisse des maritimen Todes auf dem Keitumer Friedhof und in den Kirchenbüchern, in: Fischer, Norbert u. a. (Hg.): Friedhof am Meer. Der St.-Severin-Kirchhof in Keitum und der Tod auf Sylt, Husum 2016, S. 55–75, hier S. 56 f. Zu Flutmarken an der Nordsee siehe Kempe, Michael: ‚Mind the next Flood!’ Memories of Natural Disasters in Northern Germany from the Sixteenth Century to the Present, in: The Mediveal History Journal 10, 1 + 2 (2007), S. 327–354; zum Vergleich mit der Ostsee siehe Tiedemann, Hans-Otto: Sturmflutmarken an Angelns Küste, in: Jahrbuch des Heimatvereins der Landschaft Angeln 47, 1983, S. 176–187. Müller-Warstade, Wilhelm: Ueber Sturmfluten, in: Unterelbischer Kalender für die Kreise Hadeln, Jork, Kehdingen Neuhaus, 3. Jg., 1912, S. 59–65, hier S. 65. http://www.heppenser-kirche.de/wp/?page_id=64; letzter Zugriff: 04.02.2022. Pelc, Ortwin: Die Ostseesturmflut von 1872. Reaktionen und Folgen im Vergleich, in: ders.
Das Meer, der Tod und die Trauer
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(Hg.): Katastrophen in Norddeutschland. Vorbeugung, Bewältigung und Nachwirkungen vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Neumünster 2010, S. 175–211. Petersen, Marcus/Rohde, Hans: Sturmflut. Die großen Fluten an den Küsten Schleswig-Holsteins und in der Elbe, Neumünster 31991. Allemeyer, Marie Luisa: „Kein Land ohne Deich ...!“ Lebenswelten einer Küstengesellschaft in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2006. Jakubowski-Tiessen, Manfred: Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit, München 1992. Jank, Anna: Wilde Nordsee: Katastrophen-Erleben auf den Halligen Nordfrieslands. Eine psychoanalytisch-ethnologische Studie, Münster/New York 2019. Siehe dazu Heßler, Martina/Kehrt, Christian (Hg.): Die Hamburger Sturmflut von 1962 – Risikobewusstein und Katastrophenschutz aus zeit-, technik- und umweltgeschichtlicher Perspektive, Göttingen 2014. Zum weiteren Umfeld siehe auch Fellmer, Mareike: Bürgerschaftliches Engagement und Sturmfluten. Ausprägungen und Einflussfaktoren am Beispiel des Flussgebiets der Tiedeelbe, Detmold 2014. Ausführlicher dazu Fischer, Norbert: Sturmflutkatastrophe und regionale Identität. Zur maritimen Gedächtnislandschaft an der Niederelbe, in: Stader Jahrbuch 2011 (Stader Archiv – Neue Folge 101), S. 157–170. Ausführlicher Fischer, Norbert: Flusslandschaft und Gedächtniskultur, in: Volkskunde in Sachsen 33/2021, S. 25–41. Zur öffentlichen Wahrnehmung der Oderflut 1997 siehe Döring, Martin: Wir sind der Deich. Zur metaphorisch-diskursiven Konstruktion von Natur und Nation, Hamburg 2005, S. 165–284. Spata, Manfred: Historische Pegel und Bezugshöhen in Europa, in: Deutsches Schiffahrts archiv 21 (1998), S. 379–392. Ranft, Andreas/Selzer, Stefan (Hg.): Städte aus Trümmern. Katastrophenbewältigung zwischen Antike und Moderne, Göttingen 2004, S. 18 f.; siehe dazu die beispielhafte Dokumentation für ein Bundesland: Hochwasser in Thüringen: Hochwassermarken und Hochwassergedenksteine. Erarbeitet von Mathias Deutsch und Karl-Heinz Pörtge, Jena 2018. Rüsen, Jörn: Historisch trauern – Skizze einer Zumutung, in: ders./Liebsch, Burkhard: Trauer und Geschichte, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 70.
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Sepulkralkulturelle Praktiken der Bestattung anonymer Strandleichen Zur mythischen Umplatzierung eines Begräbnisplatzes für ertrunkene Seeleute Jürgen Hasse
An den Ufern der Meere überschneiden sich die Grenzen zweier Welten. An Land ist der Mensch zu Hause; das Meer ist ihm eine nasse Wüste, eine schutzlose Welt voller Gefahren. In der Gegenwart einer technisch modernen Seefahrt können sich ‚nur‘ noch die schlimmsten Ekstasen der Natur zu einer akuten Gefahr für das Leben der Seefahrer verdichten. In früheren Jahrhunderten ‚gab‘ es noch eine unsichere Zahl beängstigender Ungeheuer, von denen sich die Seeleute verfolgt fühlten. Und über allem schwebte die allzeit zu befürchtende Strafe Gottes. Vom Matrosen bis zum Kapitän machte ein jeder über kurz oder lang die Erfahrung einer oft genug katastrophischen Ausgeliefertheit an eine außer sich geratene Natur, die sich an Land in solch grässlichen Gesichtern nicht zeigte. Im 19. Jahrhundert – der Hochzeit der Segelschifffahrt – war der nasse Tod allgegenwärtig. Die meisten Familien, deren Männer zur See fuhren (Frauen gab es in diesem Beruf nicht), hatten schicksalhafte Verluste zu beklagen. Viele kamen von einer Passage nie zurück und waren für immer auf dem Grund der See verschollen, andere wurden in der Fremde als anonyme Leichen auf einen Strand geworfen. Die Spuren langer Zeit des Dahintreibens im Meerwasser machten eine Identifizierung oft unmöglich. Das Scheitern eines Schiffes machte aus einem vitalen Seemann dann nicht selten eine namenlose Strandleiche. Eine Unzahl nicht identifizierbarer Ertrunkener gehört untrennbar zur Geschichte der Seefahrt – nicht erst im 19. Jahrhundert. Solange Menschen zur See fahren, versinken sie mit ihren Schiffen im Meer. Der Tod durch Ertrinken war das wohl größte Risiko, dem sich all jene stellten, die in die mythische Welt der Seeungeheuer, Orkane und Dämonen hinüberschwammen – eine Welt des Abenteuers, des Handels und des gefahrvollen Kampfes mit dem Wal. Unter den auf See Ertrunkenen nahmen die Besatzungen der Walfänger einen Sonderplatz ein, nicht nur im Hinblick auf ihre soziokulturelle Rolle in der Welt der Seefahrer, sondern auch in sepulkralkultureller Hinsicht. So ist von den Borkumer Grönlandfahrern des 18. Jahrhunderts überliefert, dass sie für den schlimmsten aller
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Jürgen Hasse
Fälle mehrere Eichensärge an Bord nahmen, um Mitglieder der Mannschaft, die im Kampf mit dem Walfisch auf See ihr Leben verlieren sollten, wieder in die Heimat zurückzubringen und auf der Insel bestatten zu können.1 Der folgende Beitrag geht der sepulkralkulturellen Frage der Bestattung ‚Namenloser‘ nach. In den Fokus wird nach einer allgemeinen Orientierung das Beispiel der Ostfriesischen Insel Borkum rücken, auf der es zwei Begräbnisplätze gegeben hat, auf denen Namenlose begraben worden sind.
Zur Bestattung von Strandleichen im Allgemeinen
Aus der Geschichte der nordeuropäischen Seefahrt ist bekannt, dass Seeleute, die mit ihren Schiffen gestrandet waren – selbst wenn sie noch lebten – als Menschen von minderem Wert galten. Sonst hätte der schwedische König nicht noch im Jahre 1697 eine Strandordnung erlassen müssen, die das Verbot der Tötung oder Verletzung Schiffbrüchiger aussprach.2 Die Ladung der Schiffe, die mit den Verletzten und Toten auf den Strand gespült wurde oder noch in den Wracks verstaut war, weckte ökonomische Begehrlichkeiten. Deshalb fanden die noch lebenden Seeleute in ihrer Not oft kein Mitleid; vielmehr wurden sie als Hindernis bei der widerstandslosen Aneignung einer kollektiven Beute angesehen. Strandende Wasserleichen waren posthume Weltenwechsler. Ein aus dem Meer auftauchender Leichnam, der schon eine Beute der Fische, Krebse und Dekapoden geworden war, „galt als ein Unbestatteter und damit als einer, dessen Seele die ewige Ruhe versagt blieb.“3 Das Schicksal der meisten auf See Ertrunkenen endete in einer wüstenartigen Welt, in einer abgründigen sozialen Leere und finalen Ferne von allen ehemals nahen Menschen. Für diese Toten gab es kein Totengedenken. Dieser Neutralisierung kam der Umstand entgegen, dass an den Strandleichen in aller Regel keine Hinweise auf eine personale Identität zu finden waren. Es kann aufgrund zahlreicher historischer Quellen davon ausgegangen werden, dass die Beisetzung einer Leiche, die an einen Strand gespült wurde, schon aus hygienischen Gründen nicht nur schnell, sondern auch an Ort und Stelle erfolgen musste, also gar nicht den Charakter einer Beisetzung hatte. Die Durchführung eines überaus einfachen und aufs Nötigste reduzierten Prozederes hatte eher den Charakter einer Entsorgung. Diese erfolgte in der Zeit vor der Schaffung spezieller Begräbnisplätze für Namenlose im dispersen Raum der Strände und Dünen, also überall da, wo man einen Toten finden konnte. Nach Emmanuel Lévinas stellt „der Akt des Begrabens [...] eine Beziehung zum Toten und nicht zum Kadaver dar.“4 In der Bestattung Namenloser konstituierte sich bei der Bestattung aber in erster Linie eine Beziehung zum Kadaver und erst danach eine zur verstorbenen Person. Zwar sagte Rudolf Otto zu Recht: „Nicht der Körper stirbt,
Sepulkralkulturelle Praktiken der Bestattung anonymer Strandleichen
sondern der Mensch stirbt.“5 Vor dem Hintergrund der seinerzeit üblichen Praktiken des Umgangs mit Strandleichen waren die Namenlosen vom ersten Moment ihrer Auffindung an jedoch weniger verstorbene Personen, als tote Körper, die behandelt wurden wie Sachen, die ein seuchenhygienisches Risiko darstellten. Die Beisetzung Namenloser geschah folglich immer auf einer kulturell prekären Grenze, wenn nicht gar in einem kulturellen Niemandsland. An der Stelle der Beisetzung stellte man auch kein auf den christlichen Glauben verweisendes Kreuz auf, sondern rammte meistens nur einen sogenannten ‚Leichenpfahl‘ über dem Grab in den Boden. Dieser war jedoch kein trauerkulturelles Zeichen, sondern lediglich eine Markierung der Lage eines Grabes. Das Stück Holz sollte nicht zuletzt davor warnen, an dieser Stelle erneut einen Toten zu bestatten.6 Aber auch auf den formal eingerichteten Begräbnisplätzen der Namenlosen waren sepulkralkulturelle Riten eher die Ausnahme. Wenn sie praktiziert wurden, so erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, nachdem sich eine rudimentäre Pietät gegenüber dem eher kleinen Kreis der auf See Ertrunkenen herausgebildet hatte. Noch nicht einmal die formalen, also speziell hergerichteten bzw. angelegten Begräbnisplätze der Namenlosen waren Friedhöfe im engeren Sinne. Sie waren weltliche Räume – von keinem religiösen Mythos umfasst. Eher waren sie asymmetrische „Entbindungsstationen“7. Man hatte die Toten zwar aus der Welt der Lebenden herausgeschafft, den Prozess der Entbindung aber eher hygienetechnisch als religiös vollzogen. Eine an Glaubensnarrativen orientierte Ausleitung aus der Welt der Lebenden und Überleitung in eine jenseitige Welt ewig lebender Seelen gab es nicht. Im Folgenden wird als Fallstudie der Bestattung Namenloser das Beispiel der Nordseeinsel Borkum skizziert, auf der es neben der frühen Entsorgung Namenloser am Strand und in den Dünen (im Bereich der sogenannten Dodemannsdelle) später (mindestens ab Anfang des 19. Jahrhunderts) für rund 100 Jahre üblich wurde, die Toten auf einem speziellen Begräbnisplatz für Ertrunkene zu bestatten (dem sogenannten Drinkeldoden-Karkhof ). Ab 1874 wurde dieser dann geschlossen und die Beisetzungen fanden auf dem öffentlichen Friedhof statt.8
Die Dodemannsdelle
Ertrunkene Seeleute dürften an die Strände gespült worden sein, solange die Menschen mit Schiffen die Meere befahren haben. Darüber geben die historischen Quellen Auskunft; diese enthalten aber oft keine Hinweise auf die Orte, an denen die Toten bestattet worden sind. Karl Herquet berichtet im Zusammenhang mit dem Fund von Leichen, die im Jahre 1703 an einen Borkumer Strand gespült wurden, dass der Pastor Kisten für die Bestattung der Ertrunkenen eines holländischen Schiffes in Auftrag ge-
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Jürgen Hasse
Abb. 1: Erste kartografische Erwähnung der Dode Manns Delle im Plan von der Insel Borcum, 1815 (Ausschnitt) Quelle: Staatsarchiv Aurich: Rep. 244 A 02691.
geben habe.9 Wo die Bestattung erfolgt ist, wird allerdings nicht erwähnt. Der reguläre Friedhof aus dem 15. Jahrhundert neben der alten Kirche (ehemals mit einem Leuchtfeuer) dürfte dafür nicht infrage gekommen sein, wenn er auch bis 1873 der reguläre insulare Begräbnisplatz war. Zum einen bot er nicht genug Platz, zum anderen war er für die Bestattung angesehener Kapitäne und Kommandeure der Walfangschiffe reserviert, die im 17. Jahrhundert im Kampf mit dem Wal auf See verunglückten. Während die Besatzungen der Walfangschiffe, die der Insel großen Wohlstand brachten, hoch
Sepulkralkulturelle Praktiken der Bestattung anonymer Strandleichen
angesehen waren, galten namenlose Strandleichen eher als Sachen denn als individuelle Personen. Auch, da man nie wissen konnte, ob sie überhaupt von der Insel stammten und welcher Religion sie (bestenfalls) angehörten, war es seit Jahrhunderten üblich, sie nicht auf einem christlichen Friedhof beizusetzen, sondern an oder in der Nähe der Fundstelle im Sand des Strandes zu vergraben. Eine amtliche Anordnung des Borkumer Inselvogts aus dem Jahre 1780 weist darauf hin, dass am Strand gefundene Tote innerhalb von zweimal 24 Stunden in einer Tiefe von mindestens drei Fuß zur Erde bestattet werden sollten.10 Unter anderem weist dieses Dekret auf die Dodemannsdelle als informellen Begräbnisraum hin.11 Das Tal des toten Mannes war kein umfriedeter Begräbnisplatz, sondern ein unbestimmter Raum in den Dünen, der nur für die Entsorgung von Leichen(resten) namenloser Ertrunkener infrage kam. Die fundstellennahe Bestattung war ganz wesentlich darin begründet, dass die gestrandeten Leichen oft aufgrund ihres Verfallszustandes nicht mehr als transportfähig angesehen wurden und schon zur Vermeidung der Ausbreitung von Seuchen schnellstmöglich mehr ver- als begraben werden mussten, und zwar da, wo sie gefunden wurden. Der topographische Name Dodemannsdelle taucht erstmals auf einer handgezeichneten Inselkarte von 1815 (s. Abb. 1) auf. Dass die topographische Verortung des Raumes im Vergleich historischer Karten mitunter beträchtlich voneinander abweicht, mag daran liegen, dass die in jener Zeit übliche sepulkralkulturelle Praxis gar nicht an eine bestimmte Stelle gebunden war, sondern überall da ihren Ort fand, wo es zu Strandungen gekommen war. Deshalb lässt sich die sogenannte Dodemannsdelle auch auf keiner Karte genau lokalisieren. Sie war eher ein disperser Begräbnis-Raum als ein im mathematischen Raum exakt definierbarer Begräbnis-Platz. Die ungefähre Lage im Bereich der im Nordwesten der Insel gelegenen Dünen erklärt sich aus den West-Ost-Strömungen der Nordsee. Mit anderen Worten: Wenn es auf der Insel zu Strandungen gekommen war, dann wurden die Toten meistens hier auf den Strand geworfen. Das historische Wissen um die Lage der Dodemannsdelle verliert sich mit der Zeit. Auf einem Ortsplan aus dem Jahre 1964 findet sich nur noch ein Eintrag, der auf einen Platz vom Format eines größeren Grundstückes in den Norddünen verweist, das in direkter Nachbarschaft zum Kinderheim Sancta Maria lag.
Der Drinkeldoden-Karkhof
Nach einer Reihe von Quellen ist im Jahre 1853 südlich der Norddünen ein spezieller Begräbnisplatz für namenlose Strandleichen angelegt worden. Er wurde diesen Quellen zufolge aber nur bis 1874 genutzt12, und zwar für die Bestattung von insgesamt (möglicherweise) 34 Strandleichen. Über diesen Platz schrieb Otto Funcke am 30. Juli
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Abb. 2: Parzelle 274 Lage des ehem. Drinkeldodenkarkhofs vor dem ehem. Kinderheim der Katholischen Kirche; Liegenschaftskarte. Quelle: LGLN Niedersachsen.
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1872 unter anderem: „Der Kirchhof selbst ist also durch nichts ausgezeichnet, und wer nicht weiß, daß hier ein Kirchhof ist, geht vorüber und merkt nichts.“13 Schon rund 40 Jahre nach seiner Schließung, die 1874 erfolgte, sei von den Gräbern nicht mehr viel zu sehen gewesen und der Drinkeldoden-Karkhof habe sich „von der näheren und ferneren Umgebung durch nichts mehr unterschieden“14. Er war in seiner Anlage und Gestaltung mit einem umfriedeten Friedhof nie zu vergleichen. Die Situiertheit der Namenlosen spiegelte sich auch im Gesicht der einzelnen Begräbnisplätze wider. Wie die Toten, so waren auch die Gräber ohne Identität. Keiner kannte die Begrabenen als Personen. Es gab zwar Hinterbliebene; aber die lebten in einem Irgendwo und wussten nichts Genaues vom Schicksal eines Seemanns, der mit seinem Schiff untergegangen war. Wer von einer Fahrt nicht nach Hause zurückkam, galt als vermisst. Zwar war für den Seemann der Tod in den Fluten des Meeres in jener Zeit eine relative Gewissheit. Dennoch blieb der anonym Gestrandete ein Solitär, der in gewisser Weise seine eigene Biografie verloren hatte. Deshalb gab es am Ende auch ebenso wenig eine sepulkralkulturell regulierte Ausleitung aus der Welt der Lebenden wie eine Überleitung in die mythische Welt des Glaubens. Der 1874 aufgegebene Drinkeldoden-Karkhof wurde im Jahre 1925 von der politischen Gemeinde Borkum an die Pflegeanstalt St. Georgsstift in Thuine (in der Nähe von Lingen im Emsland) verkauft, die auf der Insel in der Nähe der Norddünen das von Franziskanerschwestern geführte Kinderheim Sancta Maria betrieb. Der Rat der Gemeinde Borkum hatte im Jahre 1929 dann kurz nach dem Verkauf der Fläche beschlossen, den Namen der Parzelle (Drinkeldoden-Karkhof) zu streichen. Nur hatte man damals versäumt, auch die Parzelle mit ihrer exakten Umgrenzung im Kataster löschen zu lassen. Daher war durch die Sichtung von Archivalien die historische Rekonstruktion möglich. Die Leitung des Kinderheims hatte in den Folgejahren begonnen, auf der Fläche des erworbenen Begräbnisplatzes einen Spielplatz anzulegen, den es an alter Stelle (tiefbautechnisch modernisiert) noch heute gibt (s. Abb. 2). In der Literatur ist der Platz nirgends genau lokalisiert, sodass seine exakte Lage lange nicht bekannt war.15 Doch verfügt der Heimatverein der Insel Borkum über eine Handzeichnung, die bereits relativ genau Auskunft über die Lage und Größe des Ortes gab, wenngleich die Skizze nicht maßstäblich und damit ungenau ist. Auch die Angaben über den vermeintlichen Beginn der Bestattungen im Jahre 1853 bleiben unsicher; das Jahr der ersten Nutzung des Begräbnisplatzes ist nicht bekannt. Ein handschriftliches Protokoll aus dem Jahre 1820 gibt aber bereits Auskunft über einen 50 bis 60 Jahre alten ertrunkenen Seemann, der am Borkumer Strand gefunden wurde und dessen Beerdigung „mit seinen sämtlichen angehabten Kleidungsstücken auf dem sogenannten ‚Drinkeldobben-Kirchhof‘“16 durchgeführt wurde. Wenn die Schreibweise auch abweicht (nicht Drinkeldoden-Karkhof, sondern Drinkeldobben-Kirchhof 17), so kann doch nur dieser Begräbnisplatz gemeint gewesen sein, denn es gab keinen anderen mit einem
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ähnlichen Namen. Die Frage, ob Bestattungen an dieser Stelle möglicherweise schon in die Zeit des 18. Jahrhunderts zurückreichen, beantworten die Archivalien nicht. Dagegen ist die Lage des Platzes beinahe auf den Meter genau in der Länge wie der Breite definierbar (s. Abb. 2). Im Stückvermessungshandriss (eine Art Urkarte) der Flur 5 (Borkum) aus dem Jahre 1874 ist die Parzelle 274 explizit als „Begräbnißplatz“ vermerkt. Im Flurbuch der Gemeinde Borkum für das Jahr 1875 wurde das gemeindeeigene Grundstück nach Beendigung der Nutzung als Begräbnisplatz zwar als „Unland“ gekennzeichnet; diese Spezifikation gibt aber lediglich zu erkennen, dass es sich bei dem Grundstück um ein öffentliches, nicht steuerpflichtiges Grundstück handelte. Das Flurstück 274 weist eine Größe von etwa 293 m2 auf und ist ca. 20 x 14 Meter groß.18
Geschichtsklitterung: die symbolische Reinigung
Auf Initiative des Heimatvereins der Insel Borkum wurde ein Memorial angefertigt, das dem Gedenken der ertrunkenen und in den Dünen bestatteten Seemänner gewidmet ist. Am 17. Oktober 2009 wurde es feierlich enthüllt. Zur Aufklärung der Geschichte des Begräbnisplatzes leistet die vor der Gedenksäule angebrachte Bronzetafel indes keinen Beitrag. Im Gegenteil: Sie kann nur als absichtliche Verschleierung der Geschichte der Bestattung Namenloser auf dem Drinkeldoden-Karkhof und im Bereich der Dodemannsdelle in den Dünen verstanden werden. Schon der gewählte Standort des Denkmals ist rund 130 Meter nördlich vom ehemaligen Begräbnisplatz entfernt. Der liegt nämlich nicht auf dem Kamm der Düne, sondern im dahinterliegenden Tal direkt neben dem ehemaligen Kinderheim.19 Nicht genug damit. Das explizit auf den Drinkeldodenkarkhof verweisende Memorial steht ungefähr da, von wo aus sich einst die Dodemannsdelle in Richtung Nordosten als disperser Bestattungsraum ausgedehnt hat (s. auch Abb. 3). Das ist kein Zufall. Dieser (objektiv falsche) Standort ist vielmehr Bedingung einer radikalen und systematischen Geschichtsfälschung, die darauf hinausläuft, den tatsächlich in seiner Größe und Lage belegbaren Bestattungsplatz gänzlich vergessen zu machen. So ist auf dem Text der Bronzetafel unter der Überschrift „Drinkeldodenkarkhof“ zu lesen: „In diesen Dünen fanden die an den Borkumer Stränden angetriebenen, unbekannten Toten ihre letzte Ruhe.“ Die auf dem Drinkeldodenkarkhof begrabenen Seeleute wurden also einfach denen zugeschlagen, die man schon lange vorher im Raum der Dodemannsdelle begraben hatte. Mit anderen Worten: Die Dodemannsdelle wird implizit in Drinkeldoden-Karkhof umbenannt, womit dieser trotz seiner rund 100 Jahre währenden Nutzung aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht werden soll, auf das sich vage Vorstellungen eines mythisch umwobenen Raums nur noch für die schauerliche Inszenierung von Touristenführungen anbieten mögen.
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Abb. 3: Informationstafel zum Drinkeldodenkarkhof vor dem Memorial am Beginn der Zone der ehemaligen Dodemannsdelle.
Der mindere Wert namenloser Strandleichen hat sich somit – gleichsam über die Jahrhunderte hinweg – auch an diesem Ort erhalten – trotz offizieller Bekenntnisse zur historischen Überfälligkeit des Totengedenkens durch die Errichtung einer Gedenksäule. Ganz offensichtlich war die Rettung der Reputation der Kirche wichtiger als das Gedenken der Ertrunkenen. Maßgeblich für die Platzierung des Memorials waren nicht die tatsächlichen Verhältnisse und Geschehnisse in früheren Jahrhunderten, sondern das Ansehen einer Institution. Bis ins 19. Jahrhundert sind die Toten aus Gründen der Seuchenvermeidung an überaus pragmatisch ausgesuchten Plätzen oft nur verscharrt worden. Am Borkumer Beispiel werden sie nun aus Gründen der Imagehygiene mythisierend dahin verschoben, wo sie noch nicht einmal mehr posthum Schaden anrichten können. Es entspricht ganz der Arbeitsweise des Mythos, eine Wirklichkeit zu suggerieren, die es tatsächlich in ganz anderer Weise gegeben hat. Überaus deutlich wird nun, was Roland Barthes meint, wenn er sagt, „der Mythos verbirgt nichts. Seine Funktion ist es, zu deformieren, nicht verschwinden zu lassen.“20
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Bibliografie Barthes, Roland: Mythen des Alltags (aus dem Französischen von Horst Brühmann), Frankfurt am Main 2010. Cherryson, Annia/Crossland, Zoe/Tarlow, Sarah: A Fine and Private Place: The Archaeology of Death and Burial in Post-medieval Britain and Ireland. (Leicester Achaeology Monography 22), Leicester 2012. Funcke, Otto: Reisebilder und Heimatklänge. Dritte Reihe, Bremen 1872. Hasse, Jürgen: Versunkene Seelen. Begräbnisplätze ertrunkener Seeleute im 19. Jahrhundert, Freiburg–Basel–Wien 2016. Herquet, Karl: Die Insel Borkum in kulturgeschichtlicher Hinsicht. Mit einer Karte von 1713. Emden und Borkum 1886 (Reprint), Leer 1991. Jankélévitch, Vladimir: Der Tod (aus dem Französischen von Brigitte Restorff), Frankfurt am Main 2005. Lévinas, Emmanuel: Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996. Löcken, Gerhard: Bilder vom Nordseebad Borkum, der Stätte der Seeheime des K.L.V., Münster 1926. Otto, Rudolf: Aufsätze das Numinose betreffend, Gotha 1923. Rath, Jürgen: Herr, Segne unseren Strand. Vom Umgang mit Schiffbruch und Strandgut, in: Hammer, Peter/Klüver, Hartmut (Hg.): Sicherheit auf See. Schützen – Bergen – Retten. (Beiträge zur Schiffahrtsgeschichte 14), Düsseldorf 2009, S. 5–12. Richter, Dieter: Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft. Berlin 2014. Scherz, C. F.: Die Nordsee-Insel Borkum. Nebst ärztlichen Ratschlägen und Winken, betreffend die Seereise, den Aufenthalt auf der Insel und den Gebrauch des Seebades, Emden–Borkum 1892.
Anmerkungen 1
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„Manchmal barg auch das Schiff neben der willkommenen Beute gar schaurige Frachtstücke. Massive, aus schwerem Eichenholz gezimmerte, wohlverpichte Särge wurden nicht selten ausgeladen.“; Scherz, C. F.: Die Nordsee-Insel Borkum. Nebst ärztlichen Ratschlägen und Winken, betreffend die Seereise, den Aufenthalt auf der Insel und den Gebrauch des Seebades, Emden–Borkum 1892, S. 250. Vgl. Rath, Jürgen: Herr, Segne unseren Strand. Vom Umgang mit Schiffbruch und Strandgut, in: Hammer, Peter/Klüver, Hartmut (Hg.): Sicherheit auf See. Schützen – Bergen – Retten. (Beiträge zur Schiffahrtsgeschichte 14), Düsseldorf 2009, S. 5–12, hier S. 11. Richter, Dieter: Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft. Berlin 2014, S. 34. Lévinas, Emmanuel: Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, S. 94. Otto, Rudolf: Aufsätze das Numinose betreffend, Gotha 1923, S. 167.
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Eine Studie aus Schottland belegt, dass man bei der Aushebung eines Grabes auf Spuren bereits früher erfolgter Beisetzungen gestoßen ist; vgl. Cherryson, Annia/Crossland, Zoe/ Tarlow, Sarah: A Fine and Private Place: The Archaeology of Death and Burial in Post-medieval Britain and Ireland. (Leicester Achaeology Monography 22), Leicester 2012. 7 I. d. S. vgl. auch Jankélévitch, Vladimir: Der Tod (aus dem Französischen von Brigitte Restorff), Frankfurt am Main 2005, S. 11. 8 Vgl. Hasse, Jürgen: Versunkene Seelen. Begräbnisplätze ertrunkener Seeleute im 19. Jahrhundert, Freiburg–Basel–Wien 2016, Kap. 6. 9 Vgl. Herquet, Karl: Die Insel Borkum in kulturgeschichtlicher Hinsicht. Mit einer Karte von 1713. Emden und Borkum 1886 (Reprint), Leer 1991, S. 71 f. 10 Vgl. Anordnung vom 6. November 1780; NLA Aurich Rep. 23, Nr. 541. Dies entsprach aber weniger einer inselspezifischen Tradition als einer im Küstenraum der Nordsee generell geübten Praxis. 11 Vgl. ebd. 12 Alle späteren Bestattungen erfolgten auf dem kommunalen Inselfriedhof. 13 Funcke, Otto: Reisebilder und Heimatklänge. Dritte Reihe, Bremen 1872, S. 91 f 14 Löcken, Gerhard: Bilder vom Nordseebad Borkum, der Stätte der Seeheime des K.L.V., Münster 1926, S. 29. 15 Die letztlich genaue Präzisierung ist Resultat meiner Studie zur Bestattung ertrunkener Seeleute im 19. Jahrhundert; vgl. Hasse, Versunkene Seelen. 16 Protokoll vom Juni 1820; NLA Aurich Rep. 23, Nr. 541. 17 Eine Dobbe ist aber kein Friedhof, sondern eine tiefergelegene Senke, die man als Viehtränke nutzte. Sie kann folglich nicht mit dem Bestattungsplatz identisch gewesen sein. 18 Vgl. auch Hasse, Versunkene Seelen, Kap. 6.4.3. 19 Heute befindet sich im Gebäude des ehemaligen Kinderheims in der Boeddinghausstraße die Mutter-Kind-Fachklinik Sancta Maria, die, wie seinerzeit das Kinderheim, von der Kongregation der Franziskanerinnen vom hl. Georg zu Thuine betrieben wird. 20 Barthes, Roland: Mythen des Alltags (aus dem Französischen von Horst Brühmann), Frankfurt am Main 2010, S. 267.
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1 Forces of Nature A. Brandt (nach Claude Joseph Vernet) Der Seesturm, 19. Jh. Lithografie 48,8 x 69 cm Der Seesturm ist eine Lithografie des Künstlers A. Brandt aus dem 19. Jahrhundert nach einem Gemälde von Claude Joseph Vernet. Das Blatt zeigt ein dramatisches Ereignis auf See in der Nähe eines Hafens. Das Schiff rechts im Bild wurde kurz vor der Ankunft vom stürmischen Wind gegen einen Felsen geschlagen und schon fast von den tobenden Wellen verschlungen. Einige der Passagierinnen und Passagiere konnten sich auf Felsen retten, während andere in den Fluten um ihr Leben kämpfen. Rechts im Bild kniet eine Frau, schaut zum Himmel und betet womöglich für die Errettung. Ein vollbesetztes Beiboot steuert auf den Hafen zu, wo sich bereits einige Personen versammelt haben, unfähig zu Hilfe zu eilen. Mittig im Bild sticht ein Leuchtturm ins Auge, über dem helle Sonnenstrahlen durch die finstere Wolkendecke scheinen. Während das rettende Ufer von der warmen Sonne bestrahlt wird, liegt die rechte Seite des Bildes mit dem gekenterten Schiff im bedrohlichen Schatten der Gewitterwolken. In der Ferne kämpft ein weiteres Schiff gegen den Sturm an und fährt in gefährlicher Schieflage auf der Meeresoberfläche. Ob dieses Schiff unversehrt am Hafen ankommt, bleibt ungewiss.
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Thomas Heawood (vermutlich nach Allart van Everdingen) The Storm, um 1850 Stahlstich 18,9 x 24,5 cm Das Werk The Storm – Der Seesturm von Thomas Heawood (1810–1870) wurde um 1850 geschaffen und im folgenden Jahr veröffentlicht. Es handelt sich um einen Stahlstich, vermutlich nach Vorlage eines Werks des holländischen Malers Allart Everdingen (1621–1675). Schauplatz ist die stürmende See an einer steilen Felsküste. Der Himmel ist von dunklen Wolken bedeckt, tobende Wellen brechen sich an den hohen Klippen, das Wasser schäumt bedrohlich auf. Während das Schicksal der drei Schiffe im Hintergrund ungewiss bleibt, ist die Reise der zwei Schiffe im Vordergrund unumstritten vorbei. Ersteres hat eine gefährliche Schlagseite und die Segel flattern in Fetzen im Wind. Als letzten Ausweg sieht die Besatzung nur die Möglichkeit, mit Seilen an das rettende Ufer zu gelangen. In Anbetracht des starken Sturms und des tobenden Wassers ist es sehr riskant, doch ist der Über lebenswille der Schiffer deutlich größer als ihre Angst. Für das zweite Schiff kommt leider jede Rettung zu spät. Allein die Spitze des Masts ragt einsam über die Meeresoberfläche, der Rest des Schiffes und vermutlich auch ein großer Teil der Besatzung wurden bereits von den Wellen verschlungen.
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François Dequevauvillers (nach Claude-Joseph Vernet) Le Naufrage, 1803–1807 Aus: Simon-Célestin Croze-Magnan, Ennio-Quirino Visconti, Toussaint-Bernard Émeric-David, Le musée français, recueil complet des tableaux, statues et bas-reliefs, qui composent la Collection nationale, Paris: Herhan, 1803–1809 Kupferstich Blatt: 57,5 x 40,5 cm, Bild: 43 x 32 cm Der Kupferstich Le Naufrage wurde zwischen 1803 und 1807 von dem Künstler François Dequevauvillers (1745 bis um 1807) nach einem Gemälde des französischen Künstlers Claude Joseph Vernet (1714–1789) erstellt. Dieser gehört zu den wichtigsten Marinemalern des 18. Jahrhunderts in Frankreich. Das Werk Le Naufrage von Dequevauviller ist Bestandteil des Tafelwerks Le musée francais, erschienen bei L.-É. Herhan. Vernets Original befindet sich aktuell im Musée Calvet in Avignon. Der Kupferstich ist durch eine überzeugende Dramatik und Dynamik gekennzeichnet, was typisch für Vernets Werke ist. So ist auch auf diesem Werk eine Schiffbruchszene an einem felsigen Hafen bei stürmischer Wetterlage abgebildet. Die steilen Felsen am Hafen sind von Bäumen und Sträuchern bewachsen, deren Zweige vom starken Wind umhergeschlagen werden. In der Felswand befindet sich eine Öffnung, durch die ein Gang vermutlich zur nächsten Stadt führt. Dort stehen und knien vier Männer, einer streckt seine Arme in die Höhe. Sie bangen um die Insassen des hölzernen Rettungsbootes, das durch die tobenden Wellen ans Ufer zu gelangen versucht. Ein Mann hat es bereits geschafft und zieht sich völlig erschöpft die Klippen hoch. Etwas weiter im Hintergrund ist ein großer Fels zu sehen, der von stürmendem Wasser umgeben ist. Darauf sind Menschen zu erkennen, die sich aus dem sinkenden Schiff retten konnten, das vom Wind gegen den Felsen geschlagen wurde und nun langsam im Meer versinkt. Sie sind noch weit von der Küste entfernt und können nur hoffen, lebendig dort anzukommen. Vermutlich warten sie auf das Rettungsboot, das sie abholen wird, wenn es die ersten Passagiere heil ans Ufer gebracht hat. Währenddessen müssen sie um ihr Leben fürchten, wahrscheinlich völlig durchnässt vom Regen und von den sich am Felsen brechenden Wellen, die das Wasser hoch aufwirbeln. In der Ferne sind zwei weitere Schiffe zu sehen, die gegen die Wellen kämpfend darauf hoffen, es ohne Verluste ans Ufer zu schaffen. Das katastrophale Ereignis wird von zahlreichen Möwen überflogen. Über dem weiten Meer steht ein finsteres Wolkenbett, aus dem der Regen strömt und dadurch die Hoffnung auf ein heiles Ankommen am Ufer der Schiffe schwinden lässt. Währenddessen werden die Wolken zur Küste hin weniger und im Hintergrund wird die Wolkendecke sogar von der wärmenden und Hoffnung gebenden Sonne durchbrochen.
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Walter Draesner Tod auf dem Meere, 1922 Aus: Ein Totentanz Druck nach Scherenschnitt Blatt: 22 x 29 cm, Bild: 16,7 x 18,3 cm Das Werk Tod auf dem Meere wurde von dem Düsseldorfer Künstler Walter Draesner (1891–1940) 1922 in seinem Buch Ein Totentanz publiziert. Bei allen 22 Blättern handelt es sich um Siebdrucke nach Scherenschnitten. Die von Draesner für diese Thematik gewählte Technik des Scherenschnitts transportiert in ihrer farblichen Schlichtheit und ihrer Reduktion auf Fläche und Kontur eine ohne Dramatik auskommende Ruhe der bis ins Detail ausformulierten Darstellungen. Beim Betrachten dieses Bildes fällt sofort die Tragik des abgebildeten Schiffes ins Auge. Völlig zerrupft und zerrissen treibt es inmitten der stürmenden, hohen Wellen auf offener See. Darüber ragt eine übergroße, skelettartige Gestalt, die förmlich mit der Silhouette des Schiffes verschmilzt und mit großer Freude Masten und Takelage auseinanderreißt. Im Mund hält die Gestalt eine Tabakpfeife, die in diesem Kontext als Vanitassymbol zu deuten ist und – wie auch eine erloschene Kerze – auf die Endlichkeit des Lebens hindeutet. Es ist offensichtlich, wer hier die Führung übernommen hat. Nicht nur der Sturm und die Wellen haben das Schiff heimgesucht, sondern mit ihnen auch der Tod, der es mit sichtbarem Enthusiasmus dem wortwörtlichen Untergang entgegensteuert.
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2 Death Turned Pilot Hans Holbein d. J. (Erfinder der Komposition) Der Schiffmann, 1554 Aus: Icones Mortis Holzschnitt 6,5 x 5 cm Das Werk Der Schiffmann zeigt ein mit den Fluten kämpfendes Schiff auf hoher See. Die Wellen schlagen mit Wucht gegen die Planken. Der stürmische Wind hat Teile des Segels weggerissen und den Mast gebrochen. Das vollbesetzte Schiff ragt mit der Vorderseite etwas in die Höhe. Ein Mann ist auf die vordere Spitze geklettert und streckt die Arme in die Luft, ein weiterer hat sein Bein über den Schiffsrand gehoben. Verzweifelt wollen sie von Bord in das stürmende Meer springen, in der Hoffnung, dem Unglück lebend zu entkommen. Mit panischen Blicken, die Hände in die Luft streckend, schauen die Insassen auf die hohen Wellen. Doch noch viel angsteinflößender ist die skelettartige Gestalt, die sich an den Mast des Schiffes klammert. Es wird jedoch nicht mehr lange dauern, bis sie den bereits gebrochenen Mast los- und das Schiff seinem Schicksal überlässt. Es ist der Tod, der sich noch etwas an der Todesfurcht der Passagiere erfreut, bevor er sie in die Tiefen des Meeres schickt. Es ist das erste Mal, dass der Seefahrer in den Kanon der Figuren einer Totentanzfolge aufgenommen wurde. Die der Darstellung beigefügten Texte markieren die zur damaligen Zeit oft als anmaßend empfundene Seefahrt als genau jene durch Profitgier getriebene Grenzüberschreitung, die unweigerlich ins Verderben führen muss.
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Thomas Rowlandson Death Turned Pilot, 1815 Aus: The English Dance of Death in Twenty-four Monthly Numbers Aquatintaradierung, koloriert 11,5 x 20,2 cm ‚Der Tod an der Pinne‘, so könnte man den Titel des Werks Death turned Pilot des englischen Karikaturisten Thomas Rowlandson (1756–1827) aus dem Jahr 1815 übersetzen. Rowlandson erstellte eine thematisch traditionelle Totentanzserie mit 72 kolorierten Aquatintadarstellungen, die den Titel The English Dance of Death trägt. Der Tod sucht sich in Rowlandsons Werken willkürlich Menschen aus, denen er größtenteils in alltäglichen Lebenssituationen begegnet. Death turned Pilot zeigt eine dramatische Szene in einem kleinen Holzboot inmitten stürmischer Wellen. Die verängstigte Besatzung gibt alles und legt sich mit letzter Kraft in die Riemen, doch für einige ist der Kampf ums Überleben jetzt schon vergebens: Neben dem Boot recken sich nur noch zwei Arme aus dem Wasser, eine Frau greift mit ganzem Körpereinsatz nach ihrem Kind, das bereits aus dem engen Boot herausgefallen ist. Besonders beunruhigend ist der skelettartige Steuermann, der hoch oben und hämisch-grimmig lächelnd über der Szene thront. Der Tod selbst sitzt am Steuer und hält eine Sanduhr empor. Seinen Passagieren zeigt er, dass ihre Hoffnung auf ein Überleben vergeblich ist. Sie können zuschauen, wie ihre Zeit abläuft – das Bild wird zu einem Memento mori.
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Hans Meyer Seemann, 1911 Aus: Ein Totentanz von Hans Meyer, Berlin 1911 Lichtdruck nach Radierung Blatt: 27,6 x 37,4 cm, Bild: 17,7 x 27 cm Das Werk Seemann von 1911 ist ein Lichtdruck und Teil der Erweiterung des Zyklus Ein Totentanz des Berliner Künstlers Hans Meyer (1846–1919), der erstmals 1890 ausgestellt wurde. Abweichend von dem Figurenkanon mittelalterlicher Totentänze, führt Meyer zeitgenössische Personengruppen vor, die vom Tod heimgesucht werden. Das kleine Schiff hat es mit starken Winden und hohen Wellen zu tun. Der ganzen Komposition liegt ein fließendes Oval zu Grunde, das den Tod – nahezu in der Bildmitte – umkreist. Rechts unten schlagen die Wellen empor, der Bug hebt sich, so dass wir in das Innere des Schiffs blicken können. Meyers Bildkomposition ist fließend: Von dem rufenden und mit der Friedensfahne wedelnden Seemann rechts im Bild aus wird der Blick des Betrachters über den unter der Flagge sitzenden Schiffer weiter nach links hoch zu dem sich an den Mast klammernden Mann geleitet. Hier fließt die Bewegung in das wehende Segel, das den Körper des Todes umspannt. Die brausenden Wellen links im Bild nehmen diese Bewegung auf und rahmen das Schiffsheck. Der Steuermann links im Bild lehnt sich mit seinem vollen Gewicht nach hinten und wirkt entschlossen, das Schiff weiter auf Kurs zu halten. Doch die Situation scheint aussichtslos.
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Tobias Weiss Der Tod als Steuermann, 1895 Aus: Ein moderner Todtentanz. Zwanzig Blätter aus dem Bilderbuche des Todes Radierung nach Tuschzeichnung 35,8 x 26 cm Das Werk Der Tod als Steuermann ist Teil des erfolgreichen und sogar in mehreren erweiterten Auflagen erschienen Totentanzzyklus Ein moderner Totentanz, der von Texten des Jesuitenpaters W. Kreiten ergänzt wird. Der Zyklus beginnt mit einem Blatt, auf dem der Tod Weisungen durch einen Engel erhält und zeichnet somit das auf den folgenden Blättern geschilderte Handeln des Todes als eines im Auftrag Gottes aus. In dem vorliegenden Blatt hat der Tod das Steuer übernommen und das Schiff auf einen Felsen gelenkt. In bitterböser Ironie prangt der Name Victoria (die Siegerin) auf dem Bug des Schiffes, das in diesem Augenblick auf den Felsen aufläuft. Hilflos treiben Passagiere im Wasser. Ihre weit aufgerissenen Augen und Münder verdeutlichen die ausweglose Lage, in der sie sich befinden. Selbst ein zu Wasser gelassenes Rettungsboot ist gekentert und bietet keine Hilfe. An Bord verbleibt einzig und allein der Tod. Schelmisch grinsend schaut er den Menschen bei ihrem Todeskampf zu: Der Dampfer stolz durch Sturm und Flut zum Hafen strebte mit Mann und Gut – Ein Krach – der Tod am Steuer lacht, Er hat sie noch rascher heimgebracht.
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Hans Gabriel Jentzsch Der Lotse, 1904 Aus: Ein neuer Totentanz in achtzehn Bildern Holzschnitt Blatt: 31,7 x 23 cm, Bild: 16 x 12 cm Hans Gabriel Jentzsch erstellte 1904 eine Folge von 18 Holzschnitten, die er unter dem Titel Ein neuer Totentanz in achtzehn Bildern in Stuttgart veröffentlichte. Er schließt an die traditionellen Totentanzdarstellungen an und erweitert das klassische Personal um für seine Zeit typische Berufsstände. Der Lotse zeigt das Auslaufen des Schiffes Maria 13 und dessen Besatzung. Nichts ahnend bringen die Schiffer das Schiff in Bewegung und setzen die Segel. Die Wellen peitschen bereits hoch und am Himmel ballen sich dicke Wolken. Vorne im Bild stellt sich der als Lotse getarnte Tod breitbeinig gegen den Wind. In der Hand hält er eine rauchende Pfeife, die in der Tradition der Memento mori-Motivik die Flüchtigkeit des Seins verkörpert. „Fahrt zu, der Wind ist gut“, ruft er der Besatzung heimtückisch zu. Das Ziel ist der Hafen der Ewigkeit.
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Franz Graf von Pocci Der Tod als Fährmann, 1862 Aus: Todtentanz in Bildern und Sprüchen von Franz Pocci Holzschnitt Blatt: 27,9 x 22,7 cm, Bild: 7,4 x 12 cm Die Folge Todtentanz in Bildern und Sprüchen von Franz Pocci wurde 1862 in München publiziert. Der Totentanz besteht aus zwölf Holzschnitten, die allesamt den Tod als Akteur mit verschiedenen Protagonisten zeigen. Das Werk Der Tod als Fährmann zeigt ein kleines hölzernes Boot, in dem zwei Liebende sitzen, sich glücklich in die Augen schauen und den romantischen Ausflug genießen, während der Tod schon längst das Ruder übernommen hat. Die Wolken hinter den Bergen lassen einen Sturm vermuten, der das Boot vermutlich nicht unversehrt am Ufer ankommen lässt. Dass der Tod das Boot mit Absicht in den Sturm steuert, wird durch die sechs Verse unter dem Bild verdeutlicht: Der See ist spiegelklar, Kaum säuselt die Luft im Haar; Doch wartet nur – der Fährmann sagt‘s – Dort über den Bergen schon drohend ragt‘s; Bald naht der Sturm, das Steuer bricht, Ihr glücklichen Liebenden ahn‘t es nicht!
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3 Journey into Fear – War Helmut Voigt Die Abenteurer, Mitte 20. Jh. Federzeichnung in Tusche, laviert Blatt: 29 x 40,4 cm, Bild: 24,5 x 37 cm Das Werk Die Abenteurer wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts von dem Künstler Helmuth Voigt geschaffen. Die Federzeichnung zeigt eine Szene bei dunkler Nacht auf dem offenen Meer. Die wirren Striche am Himmel deuten auf einen starken Sturm hin. Ein gewaltiges Segelboot steuert mit beachtlichem Wind in den Segeln auf den Horizont zu. Dort erhebt sich ein schauriges Wolkengebilde, das sich zu einem Totenkopf formt. Es ist der Tod, der aus schwarzen Augenhöhlen dem Schiff und seiner Besatzung entgegen starrt und auf das tödliche Ende des Abenteuers hindeutet.
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Helmut Plontke Das Schiff des Columbus: Going West, 1977 Aus: Federzeichnungen in New York ausgestellt, 1967–1991 Tuschzeichnung Blatt: 22,5 x 31 cm, Bild: 19 x 26 cm Der deutsche Künstler Helmut Plontke (1922–1991) ist dafür bekannt, schreckliche Kriegsereignisse auf eine groteske und surrealistische Art in seinen Werken zu verarbeiten. Diese Darstellungen wurden maßgeblich von seinen eigenen Erfahrungen als Soldat an der russischen Front, während des Zweiten Weltkrieges, geprägt. Plontke erstellte unter anderem eine Folge von 39 Tuschzeichnungen, die den Titel Federzeichnungen in New York ausgestellt trägt. Hierzu gehört auch das Blatt Das Schiff des Columbus: Going West von 1977. Das Werk zeichnet sich durch einen dynamischen Strich aus. Der Hintergrund wird von einem großen Segelschiff dominiert, dessen Körper sich öffnet wie ein Sarg und einen Totenschädel preisgibt. Im Vordergrund nimmt eine kleine Gruppe friedlicher Personen eine andere, in einem Boot sitzende Gruppe in Empfang. Die Insassen des Bootes haben ihre Hände in die Luft gestreckt und und erscheinen wie im Reigen tanzende Skelette. Die Darstellung zeigt die Ankunft des Schiffes von Columbus. Nicht nur die Seereise selbst konnte tödlich verlaufen. Am Ufer angekommen, waren es primär die Einwanderer selbst, die den Tod verbreiteten, indem sie große Teile der indigenen Bevölkerung überwältigten und zahlreiche Krankheiten einschleppten.
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Ernst Hummel Torpedo, 1946 Aus: Weltkrieg Linolschnitt Blatt: 33 x 20,2 cm, Bild: 17,3 x 14 cm Der Maler und Bildhauer Ernst Hummel (1898–1961) erstellte 1946 die 14 Linolschnitte umfassende Folge Weltkrieg. Das Blatt Torpedo zeigt eine düstere Szene, die sich auf hoher See abspielt. Auf dem bildfüllenden Kriegsschiff im Vordergrund sitzt der Tod als schauriges Gerippe in Übergröße und hält wie ein Spielzeug ein Torpedo in der Hand. Er ist der eigentliche Schlachtenlenker und bestimmt das Kriegsgeschehen letztendlich in seiner gesamten Totalität. Links im Hintergrund ist ein weiteres Schiff zu sehen, das mit dem Bug in die Höhe ragt und höchstwahrscheinlich von einer solch verheerenden Waffe getroffen nun im Meer versinkt. Der dunkle Dampf steigt zu der finsteren Wolkendecke auf, durch die nur ein kleiner Teil des Himmels durchscheint. Die Folgen seines Tuns sind dem Tod nicht mal einen Blick wert – es gibt keine Empathie für die ertrinkende Besatzung. Das Sterben auf See ist kalt, anonym und mitleidlos. Einzige Hoffnung vielleicht: Die Masten des Schiffes ragen ins Helle wie ein christliches Kreuz.
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Fritz Möser Die Überfahrt, 1965 Aus: Totentanz. 10 Linolschnitte Linolschnitt Blatt: 50 x 35 cm, Bild: 37 x 29,2 cm Das Werk Die Überfahrt gehört zu der 1965 veröffentlichten Totentanzfolge des deutschen Linolschnittkünstlers Fritz Möser (1932–2013). Möser war Autodidakt und arbeitete zeitlebens mit dem Medium des Linolschnitts. Er illustrierte zunächst Texte und entwickelte später autonome Zyklen zu Themen der griechischen Mythologie, der Bibel und der Lyrik des 20. Jahrhunderts. Der Zyklus, aus dem das vorliegende Blatt stammt, ist kein Totentanz mit Einzeldarstellungen im klassischen Sinne, sondern ihm liegt ein Narrativ zu Grunde. Die Folge beginnt mit der ersten Begegnung mit dem Tod und endet mit der symbolischen Überfahrt in das Reich der Verstorbenen. Mösers zahlreiche Werke sind geprägt von den eckigen, spitzen und kontrastreichen Elementen, die für die Linolschnitttechnik typisch sind. Die düstere und kontrastreiche Darstellung sowie die scharfen Kanten prägen die ernste und teils bedrohliche Stimmung. Die Überfahrt zeigt ein vollbesetztes Boot auf seinem Weg in das ewige Reich des Todes. Der riesige helle Mond bringt etwas Licht in die dunkle Szene. Auf dem Bug des Schiffes sitzt eine verhüllte Gestalt und wacht über die Passagiere. Die sich fast über das gesamte Bild spannende Sense und die knochige Hand weisen die dunkle Gestalt als den personifizierten Tod aus.
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Hans Witzig Hohe Fahrt, 1918/19 Aus: Totentanz 1914–1918. Dichtungen von Carl Friedrich Wiegand. Mit elf graf. Kunstbeilagen von Hans Witzig Lithografie Blatt: 27,5 x 20,2 cm, Bild: 20 x 16 cm Das Werk Hohe Fahrt von Hans Witzig (1889–1973) ist eine von elf Lithografien des Buches Totentanz 1914–1918, das 1918 von Carl Friedrich Wiegand (1877–1942) durch den Art. Institut Orell Füssli Verlag in Zürich veröffentlicht wurde. Wiegand schrieb für dieses Buch 37 Gedichte, in denen er die Soldaten für ihren Einsatz und ihre Aufopferung für das Vaterland hoch lobte. Illustriert wird das Buch von elf Werken des Züricher Zeichenlehrers und Illustrators Hans Witzig. Eine Pressemeldung berichtet, dass Witzig die Lithografien ursprünglich nicht für Wiegands Texte schuf, sondern dass der Verlag diese unabhängig aus einer bisher unveröffentlichten Serie Witzigs ausgewählt hatte. Die Blätter bilden die Soldaten im Weltkrieg ab und verbinden sich durch ihre dramatische Darstellungsweise perfekt mit Wiegands euphorischen Texten. Die finstere Szene in Hohe Fahrt zeigt den Krieg zu Wasser. Der Tod tritt in Gestalt eines hageren Matrosen auf. Mit dem Rücken zum Betrachter steht er in seinem hölzernen Boot und hält mit aller Kraft sich und das Ruder gegen den hohen Wellengang aufrecht. Er blickt auf die Szene im Hintergrund: Eine große Rauchwolke verschlingt ein Kriegsschiff, von dem nur noch der Geschützturm sichtbar ist. Eine Explosion beendet hier das Leben der Besatzung, es wären nur Wenige von Unzähligen, die auf diese Weise in der Tiefe des Meeres verschwinden.
3 Journey into Fear – War
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4 Maritime Disasters – Sunk, Drowned, Shipwrecked
Michael Rentz Die Schiffenden, 1753 Aus: Geistliche Todts-Gedancken Bey allerhand Gemählden und Schildereyen in Vorbildung Unterschiedlichen Geschlecht, Alters, Standes, Und Würdens-Persohnen sich des Todes zu erinnern Kupferstich Blatt: 32 x 19 cm, Bild: 25,3 x 16,7 cm Die Schiffenden ist einer von 51 Kupferstichen des Nürnberger Künstlers Michael Rentz (1701–1758). Das Werk wurde 1753 in dem Emblem-Buch Geistlichen Todts-Gedancken in Passau abgedruckt. In einem barocken Rahmen eingefasst, wird hier ein Schiffsunglück an einem felsigen Ufer gezeigt. Zwei Männer haben das Unglück überlebt, ringen jedoch mit dem Tod. Während sich der eine an ein Rettungsboot klammert, wird der andere an Land von einem Skelett mit einem Pfeil gejagt. Über dieser Szene befindet sich ein Medaillon mit einem Text. Hier wird auf die Bedeutung der Sterne bei der Navigation verwiesen: „Ohn‘ diesen Schein, kann die Fahrt nicht glücklich seyn.“ Im unteren Teil des Rahmens befindet sich eine Inschriftenkartusche: So läst der schlechte Über-Rest, mit Schröcken und mit grauen Nach so viel angewender Müh‘ sich statt Gewinnes schauen. Drum geh in dich bereue bald, die Menge deiner Sünden. So kanstu doch aus Capo Spej, noch Porto Coeli finden.
‚Capo Spej‘ bezieht sich auf das Kap der guten Hoffnung, das aufgrund seiner Klippen als sehr gefährlich galt. Im Falle eines Unglücks könnte ein Reue zeigender Sünder allerdings immer noch den himmlische Hafen (‚Porto Coeli‘) erreichen.
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Ferdinand Barth Der Tod auf dem Schiff der Auswanderer, 1866 Aus: Die Arbeit des Todes Blatt: 27,7 x 21,8 cm, Bild: 23,6 x 18,1 cm Der Totentanz Die Arbeit des Todes von Ferdinand Barth (1842–1892) ist ein weiteres Beispiel für einen an die klassische Darstellungsform der Totentänze anschließenden Bilderzyklus, der aber anstelle der Ständerevue zeitgenössische Bezüge aufnimmt. Die Szenen sind als Tondo mit schlichtem Rahmen angelegt. Jeder Darstellung ist ein zweizeiliger Reim zugeordnet, in denen der Tod einladende Worte an die ahnungslosen Protagonist*innen richtet. Einen Ausblick auf das, was folgt, gibt die gegenständlich ausgestaltete Initiale des zugeordneten Reimes. Das vorliegende Blatt Der Tod auf dem Schiff der Auswanderer zeigt ein Paar, das bei Nacht ein Segelschiff über einen hölzernen Steg betritt. Mit dem nötigsten Gepäck in den Händen sind sie dabei, ihre alte Heimat zu verlassen und die Reise in ein anderes Land und in ein neues Leben anzutreten. Mit wehleidigem Blick schaut die Frau noch einmal zurück. An Bord werden sie von einer Gestalt in Anzug und Zylinder empfangen. Die Reise wird wohl nicht am erhofften Ziel enden, denn der höfliche Schiffsführer ist der Tod höchst persönlich: Der Wind ist gut, das Schiff bereit, Bei dieser Fahrt geb‘ ich‘s Geleit!
Die historisierte Initiale, mit der dieser Zweizeiler beginnt, beschreibt das tragische Ende der Auswanderer auf dem offenen Meer: Sie zeigt den Tod im Bug des Schiffes sitzen, der hämisch über die Schulter aus dem Bild blickt. Die Segel des Schiffes sind zerrissen, der Mast gebrochen.
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Hans Otto Schönleber Im Meere, 1921 Aus: Ein Totentanz. 12 Kupferstiche von Hans Otto Schönleber Kupferstich Blatt: 32 x 45,2 cm, Bild: 9,2 x 16,3 cm Das Werk Im Meere ist einer von zwölf Kupferstichen von Hans Otto Schönleber (1889–1930), die er 1921/22 unter dem Titel Ein Totentanz. 12 Kupferstiche von Hans Otto Schönleber in München veröffentlichte. Schönleber studierte Medizin und wurde gleich nach Abschluss des Studiums in den Ersten Weltkrieg gezogen. Er erlebte als junger Arzt die Kämpfe am Hartmannswillerkopf und arbeitete bis 1918 in verschiedenen Lazaretten. Nach dem Krieg versuchte er einen Neuanfang als Künstler, gleichwohl ist sein Werk in weiten Teilen von den Kriegserlebnissen geprägt. Im Meere zeigt eine auf den ersten Blick ruhige Szene eines Segelschiffes auf weiter See, den Sonnenauf- oder -untergang im Rücken. Der dunkle Himmel und das Meer trennen sich durch einen klaren Horizont im oberen Viertel des Bildes, wodurch ein Blick in die weite Ferne ermöglicht wird. Dort steuert der Zweimaster auf den nächsten Hafen zu, der nicht mehr weit zu sein scheint. Im Bildvordergrund jedoch treibt der als Skelett personifizierte Tod auf der Meeresoberfläche. Um ihn herum entwickelt sich Wellengang, eine große Woge erhebt sich zu seiner Linken und trägt ihn voran in Richtung des Schiffes, das nichts ahnend genau auf ihn zusteuert. Mit einem schalkhaften Grinsen weiht er die Betrachter*innen in das bevorstehende Ereignis ein: die unwissenden Seemänner ins Jenseits zu führen.
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David Deuchar The Shipwreck, 1803 Aus: The dances of death, through the various stages of human life: wherein the capriciousness of that tyrant is exhibited in forty-six copper plates; done from the original designs ... ; to which are prefixed, descriptions of each plate in French and English, with the scripture text from which the designs were taken Kupferstich Blatt: 19,8 x 15,8 cm, Bild: 7,5 x 5,5 cm The Shipwreck ist einer von 46 Kupferstichen der Totentanzfolge von David Deuchar (1743–1808), der sich in der Umsetzung dieses Sujets an dem Holzschnitt von Hans Holbein aus dem Jahre 1554 anlehnt. Die rettende Küste ist im Hintergrund der Szenerie bereits zu erkennen, jedoch kommt jede Hilfe zu spät. Das vollbesetze Segelschiff, an dessen Mast sich der Tod zu schaffen macht, wird bereits von den Wellen überspült, das Segel ist zerfetzt. Im Angesicht des Schreckens dekliniert Deuchar an den Protagonisten verschiedenste Gefühlsäußerungen durch. Aufgerissene Münder und Augen, hochgerissene Arme, ein in den Händen vergrabenes Gesicht. Zwei Besatzungsmitglieder sind freiwillig über Bord gegangen, der ihren Körpern eingeschriebene Elan vermittelt Hoffnung auf ein Überleben. Die Betrachter*innen aber wissen, wie die Geschichte endet.
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Thomas Rowlandson The Shipwreck, 1814 Aus: The English Dance of Death in Twenty-four Monthly Numbers Aquatintaradierung, koloriert 12 x 21,5 cm In The Shipwreck ist nicht die hohe See Schauplatz des Ereignisses, sondern eine kleine Bucht an einer hohen Felswand am Ufer. Zwei gestrandete Matrosen in zerfetzten Kleidern sitzen erschöpft und verzweifelt nebeneinander im Sand. Links im Bild sind nur noch die Masten eines im Wasser treibenden Schiffes zu sehen. Schnell wird hier klar, dass die beiden einsamen Männer Teil der Schiffsbesatzung waren und sich wohl als einzige Überlebende ans Ufer retten konnten, während die restliche Besatzung ihr Grab in der Tiefe des Meeres gefunden hat. Wären sie nicht von einer steilen Felswand und dem unendlichen Meer eingekesselt, hätten sie sich über ihr Überleben freuen können, doch ist ihre Lage ausweglos. Ihnen gegenüber auf einem Felsbrocken sitzt der Tod. Den Kopf in die Hände gestützt, befindet er sich in einer Konversation mit den beiden Seemännern, die ihn furchtlos anblicken. Die Zeilen unter dem Bild lauten: „Die Gefahren des Ozeans sind vorbei, / der Tod bringt die Matrosen an die Küste.“ Es scheint ein fast friedvoller Moment zu sein und das nahende Ende von den beiden Matrosen akzeptiert.
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5 Death and Redemption − Sea Voyage as an Allegory of Life
Johann Melchior Füssli (Erfinder der Komposition) See-Sturm, 1731 Aus: Physica Sacra Kupferstich Blatt: 39 x 24,4 cm, Bild: 32,5 x 21,4 cm Der dynamisch, dunkle Kupferstich See-Sturm gehört zu Johann Jakob Scheuchzers (1672–1733) publizierter Kupfer-Bibel Physica Sacra (1731). Ein Sturm wühlt das Meer auf, hohe Wellen schlagen in alle Richtungen und dunkle Wolken reichen bis zum Horizont. Inmitten der tosenden Wellen befindet sich ein Segelschiff. Die Besatzung hat sich in der Mitte des Schiffes versammelt und schaut zu einem Mann in weißem Gewand, der über Bord gegangen ist und sich an der Reling festhält. Im Bildvordergrund ragt ein großer Fisch aus dem Wasser. Es handelt sich hierbei um die Darstellung der Bibelerzählung von Jona und dem Wal. In der Geschichte flüchtet Jona vor dem ihm von Gott erteilten Auftrag, der Stadt Ninive den Untergang zu verkündigen, woraufhin Gott einen gewaltigen Sturm schickt und das Schiff, auf dem sich Jona befindet, in Seenot gerät. Das Unwetter beruhigt sich erst, als die Seeleute Jona auf dessen Forderung hin über Bord geworfen haben und er von einem Wal verschlungen wird. Jona fleht um Gnade und wird nach drei Tagen im Bauch des Tieres freigegeben. Nun folgt Jona Gottes Auftrag und verkündigt der Stadt Ninive dessen Botschaft. Als Pendant zur Kreuzigung und Auferstehung Christi im Neuen Testament steht die Walszene im Alten Testament symbolisch für den Glauben an die Rettung der Seele vor dem Tod. Der Rahmen des Bildes zeigt Windallegorien in Form von pustenden Männerköpfen und stammt vom Kupferstecher Johann Daniel Preißler (1666–1737).
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Helmut Plontke Ein Skizzenbuch VII, 1985 Aus: Ein Skizzenbuch Fotolithografie nach Bleistiftzeichnung Blatt: 21 x 14,7 cm, Bild: 13 x 11 cm Der aus Siegen stammende Künstler und Kunstlehrer Helmut Plontke (1922–1991) thematisiert in seinen Werken vor allem Kriege und Mythologien. Nach seinem Abitur 1940 wurde der gerade Achtzehnjährige zum Kriegsdienst eingezogen, den er vornehmlich an der russischen Front leistete und der in seinem späteren Werk nachhaltige Spuren hinterließ. Seine Werke sind von dramatischen Darstellungen geprägt, die meist dem Surrealismus zuzuordnen sind. Ein Skizzenbuch VII (1985) zeigt ein Ereignis auf hoher See. Plontkes flüchtige Striche führen in alle Richtungen und bringen Dynamik in das Werk, das dadurch intuitiv und – wie der Titel schon sagt – skizzenhaft wirkt. Erst beim genaueren Hinschauen erfährt man die eigentliche Handlung. Im Vordergrund ist ein Wal zu erkennen, der mit seinem langen Körper an der Wasseroberfläche ein Segelschiff umschließt und zerstört. Auf der weit aus dem Wasser ragenden Schwanzflosse befinden sich Wrackteile, vielleicht klammern sich auch verzweifelte Seeleute daran fest. Assoziationen zu Herman Melvilles Roman Moby Dick, in denen der unbesiegbare weiße Wal als Sinnbild der Natur mit dem Meer als dunklem Zentrum des Universums gesehen werden kann, sind naheliegend.
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Unbekannter Künstler Allegorie auf den Tod und die Erlösung, 16./17. Jh. Kupferstich 9,1 x 11,6 cm (beschnitten) Der Kupferstich Allegorie auf den Tod und die Erlösung zeigt ein von der Allegorie des Windes aufgepeitschtes Wasser. Rechts im Bild befindet sich ein in einem Boot kniender und zu dem ihm gegenüberbefindlichen Christus betender Mann, eingekreist von allerlei todbringenden Wesen: ein Seeungeheuer, der als Skelett personifizierte Tod, der mit Pfeil und Bogen auf den Mann zielt, eine mit ihrer Musik in den Tod lockende Sirene mit Skorpionsschwanz, eine Schlange als an Adam und Eva angelehntes Symbol für Verführung und Sünde sowie ein Pferde-Ungeheuer. Christus steht von der Aureole des heiligen Geistes gerahmt auf einer Felseninsel mit verschiedensten Unwesen zu seinen Füßen und streckt dem Betenden seine Handflächen mit den Kreuzigungsmalen entgegen. Auf einer weiteren Felsinsel im Hintergrund steht Moses, zu erkennen an den Steintafeln in seiner Hand und den beiden Hörnern auf seiner Stirn. Das aus der Wolkendecke ragende Horn stellt die göttliche Botschaft dar, über die ihm die zehn Gebote übermittelt wurden. Die Seefahrt kann als Lebensreise gedeutet werden, vorbei an vielen Gefahren, die sich mittels des christlichen Glaubens überwinden lassen. Wie ein Leuchtturm weist die Glorie des Heiligen Geistes den sicheren Weg. Das Gesetz, verkörpert von Moses, kann auf Erden zwar etwas Schutz bieten, das himmlische Ziel wird jedoch nur durch den wahren Glauben erreicht.
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Véronique Filozof Die Seefahrer und der Tod, 1976 Aus: Der Totentanz / La danse macabre Faksimiledruck nach Tuschfederzeichnung Blatt: 23 x 27 cm, Bild: 17 x 26 cm Véronique Filozofs Totentanzfolge umfasst 40 Faksimiledrucke nach Tuschfederzeichnungen und ist Teil eines größeren Projekts aus 250 Zeichnungen und Aquarellen, die sie ihrer Heimatstadt Basel widmete. Mit ihren zweidimensionalen jedoch expressiven Figuren und der immer als weißes marionettenhaftes Skelett erscheinenden Todesgestalt sowie den kalligrafisch realisierten Erd-, Himmel- und Raumflächen, die aus Kringeln, Parallelstrichen, Wellen- oder Zickzacklinien bestehen, weisen die Szenen einen einheitlichen Charakter auf. Am linken Bildrand findet sich immer eine Leiste mit einem oder mehreren Tieren – zumeist fantastischen Mischwesen – deren Symbolik den alten Visionen von Tod, Sünde und Gericht entsprechen. In den meisten Bildern der Folge kommt der Tod von links oder führt die Betroffenen nach links fort. Ebenso nach links bewegt sich auch die Prozession der Ständevertreter*innen im traditionellen mittelalterlichen Totentanz. So ist auch das vorliegende Werk Die Seefahrer und der Tod in der für Filozof typischen Weise dargestellt. Der geringe Naturalismusgrad und die fast witzige Darstellung lassen den Tod dennoch nicht weniger beängstigend erscheinen. Das Dampfschiff fährt auf dem offenen Meer, das den gesamten Hintergrund dieses Bildes ausmacht, Eisberge ragen hervor. Die Besatzung sitzt nichts ahnend im Schiffshäuschen, der Kapitän späht durch sein Fernrohr. Einer Gallionsfigur gleich prangt der Tod am Bug des Schiffes, winkend, ein Signalhorn an den Lippen. Das Schiff steuert direkt auf den offenen Mund eines Meeresbewohners zu. Hier ist sicherlich eine Analogie zu der Wal-Figur aus der biblischen Jona-Erzählung auszumachen.
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6 Man Made Disasters − Exploitation and Marine Pollution
Melchior Grossek Die Minen, 1923 Aus: Gestalten des Todes. Ein Totentanz des Weltkrieges von Melchior Grossek Druck nach Scherenschnitt 23,5 x 30 cm Wie viele seiner Zeitgenossen hat auch Melchior Grossek (1889–1967) die Erfahrung des Ersten Weltkrieges in einem Totentanzzyklus verarbeitet, doch war es vor allem der Schmerz um den Verlust seiner im Krieg gefallenen Brüder, der ihn dazu veranlasste. Die bereits im 19. Jahrhundert auftauchende Bildidee bzw. Auffassung des Krieges als ‚Arbeit des Todes‘ liegt allen seinen Blättern zugrunde, die gleicherweise verschiedene Aspekte des Krieges und der Tötungsmaschinerie mit der alten Todes- und Totentanzsymbolik assoziieren. In der traditionellen Personifikation des agierenden Gerippes verkörpert der Tod immer die bestimmende Macht, tritt häufig als übergroße Figur auf. Unverkennbar ist der Versuch, die Totalität des Krieges zu erfassen und zugleich die Allegorisierung des Krieges mit der tradierten Auffassung des Todes als übergeordnete Macht zu verbinden. Das Werk Die Minen zeigt ein großes Dampfschiff auf ruhigem Meer. Im Hintergrund sind die Silhouetten eines Ufers mit Leuchtturm zu sehen. Der Himmel erscheint wolkenfrei, nur der Rauch des Schiffes liegt in der Luft, es ist die sogenannte Ruhe vor dem Sturm. Denn der übergroße Tod beugt sich zu dem Boot herab, greift hinein und lenkt es direkt auf die drei tödlichen Minen im Wasser zu.
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Norbert Salzwedel Fischstillleben in Seelandschaft, 2007 Kupferstich Blatt: 17 x 21,5 cm, Bild: 8,9 x 13,9 cm Der aus Berlin stammende Künstler Norbert Salzwedel (*1950) war zuerst Zeichner, bevor er sich den Grafiken zuwendete, die später in den Vordergrund seines künstle rischen Schaffens rückten. Salzwedel entdeckte nach seinem Grafikstudium die Kaltnadel für sich und schuf viele Werke in dieser Technik. Das Werk Fischstillleben in Seelandschaft – als Exlibris für Marianne Groth geschaffen – zeigt eine morbide Szene. Auch dieses Mal hat der Tod seine Finger im Spiel. Doch trifft es nicht die Menschen, wie in den zahlreichen Werken dieser Ausstellung, sondern die Bewohner des Meeres. Das Bild zeigt die Überreste eines verstorbenen Fisches, der am Ufer des weiten Meeres in einer von Bergen umgebenen Bucht liegt. Durch seine leeren Augenhöhlen hindurch zeigt sich der Horizont, das Maul ist weit geöffnet. In einer fast idyllischen Ruhe, aber mit aufdringlicher Nähe und Detailreichtum steht er für das menschgemachte Resultat von Überfischung und Umweltverschmutzung.
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Horst Meister Der erschöpfte Tod, 2018 Aus: Der Letzte Totentanz Tusche auf Papier 48 x 32 cm „Weltuntergangs-Szenarien gab es zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Vor allem elementare Katastrophen, die sich jenseits von menschlicher Einflussnahme abspielten, wie Epidemien, Erdbeben, Tsunamis etc., führten der Menschheit immer wieder ihre eigenen Grenzen vor Augen. Das 20. und 21. Jahrhundert aber konfrontiert die menschliche Zivilisation mit einem neuen, bisher kaum beachteten Phänomen: die von Menschen gemachte Zerstörung im globalen Ausmaße. Unter dem Sammelbegriff ‚Klimawandel‘ verstehen wir die Summe von systematischen Ausbeutungs- und Zerstörungs-Szenarien der (über-)lebenswichtigen Ressourcen. Inzwischen zeigt dieser ‚Krieg gegen die Natur und gegen die Umwelt‘ bereits globale Auswirkungen, die selbst von den Hauptverursachern nicht mehr geleugnet werden können. Dennoch schreitet der zerstörerische Raubbau an den Lebensgrundlagen für Menschen, Natur und Tiere ungebremst weiter. Die Pole schmelzen aufgrund der Erwärmung rapide ab. Dicht besiedelte Küstenregionen werden überflutet. Der Wasserspiegel der Weltmeere steigt kontinuierlich an. Ozeane und Flüsse verkommen durch die ungebremste Vermüllung zu lebensfeindlichen Kloaken. Pandemien breiten sich aus. ‚Der erschöpfte Tod‘, der auf einer Eisscholle inmitten einer überfluteten Stadtlandschaft hockt, hat offenbar resigniert. Er ist erschöpft und schafft seinen Job nicht mehr. Es wird in dieser Zeit einfach zu viel gestorben … der Tod des Todes.“ Horst Meister
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Simone Vögele Totenschiff, 2017 Tuschezeichnung 24 x 33 cm VG Bild-Kunst 2022 „Totenschiff zeigt ein schon untergegangenes Schiff, bei dem nur die Takelage und Skelette über die Wasseroberfläche ragen. Ein Rettungsboot mit (noch) Lebenden nähert sich, verschmilzt jedoch schon zeichnerisch mit dem Totenschiff. Das Meer lässt sich nur durch die Leere des Blattes erahnen. Der Tod auf dem Meer ist für die meisten Menschen ein Tod der Anderen. Wir sehen das in der Reaktion der Menschen auf die Totenschiffe der Flüchtenden. Das scheint weit weg. Ob es sich nun um eine von der Not diktierte oder freiwillig unternommene Reise handelt, ist ihr Sinnbild fahrendes Schiff und wogendes Meer. Aber der Ort, wo eine Reise stattfindet, liegt irgendwo im Inneren der Reisenden. Jede Reise ist eine Verwirklichung von Reisen, die man sich schon vorgestellt hat. Aber diese eine, letzte Reise betrifft alle. Sie liegt jenseits der Vorstellungen. Schiffe sind im Hafen sicher, aber dafür wurden sie nicht gebaut. Auf die letzte Reise gehen, heißt sterben. Es ist ganz einfach. Bisher hat es noch jeder geschafft. Kunst schafft eine Brücke über die menschlichen Abgründe hinweg, deshalb ist ihr Blickwinkel beachtenswert. Für den Künstler gibt es ein Arbeiten nach dem Sehen und ein Arbeiten nach dem Wissen. Beides hängt dadurch zusammen, dass ein Ding wahrnehmen heißt, in seiner Struktur Form finden. Darstellungen des Todes auf dem Meer finden Formen, die dem Betrachter begreiflich erscheinen, da er die Reise als Aufbruch im Schiff schon im archetypischen Bild über Jahrhunderte hinweg verinnerlicht hat. Mit möglichst wenig Mitteln eine größtmögliche Aussagekraft zu erreichen, ist die Aufgabe der Zeichnung wie ich sie verstehe, um Inhalt und Form zu verbinden: Also das Herstellen einer kleineren Quantität, die den Wert oder die Kraft einer größeren, die jenseits aller Erfahrung liegt, zu vermitteln.“ Simone Vögele
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Autorinnen und Autoren John Laurence Busch is an independent historian who focuses upon the interaction between humanity and technology, specializing in 1st and early 2nd generation steam-powered vessels. His book on the first steamship in history, entitled STEAM COFFIN: Captain Moses Rogers and The Steamship Savannah Break the Barrier, received positive reviews from over two dozen magazines and academic journals on three continents. [email protected] Prof. Dr. phil. Norbert Fischer, M.A., Studium der Volkskunde/Kulturwissenschaft, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Soziologie und Philosophie an der Universität Hamburg; Professor am Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Hamburg. [email protected] Dr. phil. Joachim Fugmann, M.A., ist Dozent für lateinische Philologie und Kulturwissenschaft der Antike an den Universitäten Konstanz und Zürich. Sein Interesse gilt besonders der antiken Biografie und Exempla-Literatur, der lateinischen Epigraphik sowie kulturwissenschaftlichen Themen. [email protected] Prof. Dr. Jürgen Hasse, Studium der Geografie und Kunst; Professor für Geografie und Didaktik der Geografie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkt: Phänomenologische Raumforschung. [email protected] Prof. Dr. phil. Timo Heimerdinger, Studium der Volkskunde, Neueren Deutschen Literaturgeschichte und Deutschen Philologie; Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. [email protected] Franziska Hermes, M.A., Studium der Geschichte und Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie ist Doktorandin am Graduiertenkolleg Global Intellectual History der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr Forschungsinteresse gilt der frühneuzeitlichen Kulturgeschichte, insbesondere der maritimen Geschichte des Britischen Empire. [email protected]
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Autorinnen und Autoren
PD Dr. Christoph auf der Horst, Maître d‘allemand, Leiter des Studiengebiets Deutsch als Fremdsprache an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte Heine-Philologie und Medizingeschichte. [email protected] PD Dr. phil. habil. Simon Karstens, Studium der Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Trier; Fellowships an Auslandsinstituten der Max-Weber-Stiftung in Paris, London und Washington DC; Habilitation 2019 zur Geschichte gescheiterter Kolonialprojekte in Amerika 1492–1620; derzeit Vertretung der Professur für Geschichte der Frühen Neuzeit in Trier, zugleich Lehrbeauftragter an der Hochschule für Archivwissenschaft Marburg. [email protected] Prof. Dr. Phil. Jeffrey Kerr-Ritchie studied history at Kingston University, UK, and University of Pennsylvania, US. He is Professor of history and Director of Graduate Studies at Howard University, Washington D.C. [email protected] Dr. phil. Thomas N. Kirstein studierte Rechtswissenschaften und Geschichte. Er lehrt Technikgeschichte und allgemeine Geschichte an der Technischen Universität Berlin und der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Mobilitäts- und Verkehrsgeschichte. [email protected] Marco Kollenberg M.A., Studium der Geschichte, Germanistik und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam. Die Abschlussarbeit wurde zum Themenbereich ‚Deutsche Soldaten im Dienst der Vereinigten Ostindischen Kompanie der Niederlande (VOC)‘ vorgelegt. Derzeitiger Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Untersuchung von Gewaltkulturen innerhalb des habsburgischen Heeres während der Türkenkriege um 1700. [email protected] Thomas Konrad, Studium der Fächer Latein und Englisch an der Universität Konstanz, dort Akademischer Mitarbeiter und Doktorand im Fachbereich Literatur-, Kunstund Medienwissenschaften. Seine Dissertation befasst sich mit den Astronomica des römischen Lehrdichters Marcus Manilius. [email protected]
Autorinnen und Autoren
Jean-Emmanuel Leroy, M.Sc., Studium des Maschinenbaus und der Technik- und Wissenschaftsgeschichte an der Technischen Universität Berlin und der École Polytechnique Fédérale de Lausanne. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mechanik der TU Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt unter anderem die technische Qualität vormoderner Handelsschiffe. [email protected] Dr. phil. Michael Martin, Studium der Geschichte und Wirtschafs- und Technikgeschichte und Pädagogik an der Ruhr-Universität Bochum; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. [email protected] Professor Mark Nuttall studied sociology and anthropology at the University of Aberdeen and holds a PhD in Arctic Anthropology from the University of Cambridge. Fellow of the Royal Society of Canada; Professor and Henry Marshall Tory Chair, Department of Anthropology, University of Alberta; Adjunct Professor at Ilisimatusarfik/ University of Greenland. [email protected] Luisa Rittershaus M.A., Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und spanische Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie ist Mitarbeiterin am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der HHU Düsseldorf. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt dort auf der Grafiksammlung Mensch und Tod. [email protected] Dipl.-Ing. Sebastian Ritz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Entwurf und Betrieb Maritimer Systeme der Technischen Universität Berlin. Er hält als externer Lehrbeauftragter die Vorlesung Yachtentwurf und Segeltheorie und betrachtet in seiner Forschung auch historische Schiffe. [email protected] Apl. Prof. Dr. Margrit Schulte Beerbühl, Studium der Geschichte, Anglistik, Philosophie und Pädagogik, Fellow der University of Hertforshire und des Historischen Kollegs München, Dozentin für Neuere Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. [email protected]
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Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. phil. Jörg Vögele, M.A., Studium der Anglistik und Geschichte an den Universitäten Konstanz und Bristol; Fellow der Universität Liverpool, Professor für Neuere und Neueste Geschichte; Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. [email protected]
Danksagung Mit freundlicher Unterstützung durch
Stiftung Deutsche Bestattungskultur, Düsseldorf Freundeskreis Geschichte der Heinrich-Heine-Universität e.V. Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Philosophische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf Abteilung Studium Universale der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Dr. Joachim Fugmann, Konstanz Dr. Michael Martin, Bochum Bärbel und Peter Schürmann, Düsseldorf Dr. Karl Sternau, Rheinswalden Prof. Dr. Ralf Vögele, Hohenheim
Dank
Zuletzt möchten wir unserem Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin und seinen Mitarbeiter*innen danken, die uns schon seit Jahren in bewährter Weise unterstützen, allen voran Christa Reißmann und Ulrich Koppitz.