Kirche der Reformation?: Erfahrungen mit dem Reformprozess und die Notwendigkeit der Umkehr [2 ed.] 9783788731878, 9783788730666


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Kirche der Reformation?: Erfahrungen mit dem Reformprozess und die Notwendigkeit der Umkehr [2 ed.]
 9783788731878, 9783788730666

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Gisela Kittel / Eberhard Mechels (Hg.)

Kirche der Reformation? Erfahrungen mit dem Reformprozess und die Notwendigkeit der Umkehr

2. Auflage 2017

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3187-8 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de  2016 – 2. Auflage 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Andrea Töcker, Neuendettelsau Hubert & Co., Göttingen

Inhalt

Vorwort ......................................................................................................

11

I. Der Aufbruch der Reformation ..................................................

13

Gisela Kittel Wiederentdeckung des Evangeliums: Martin Luther .........................

15

Eberhard L.J. Mechels Reformierte Akzente ................................................................................

45

II. Wohin führt der Weg der EKD? ...............................................

59

Eberhard L.J. Mechels Das Impulspapier »Kirche der Freiheit« und seine Weichenstellungen Ein Zwischenruf aus dem Jahr 2010 ......................................................

61

III. Gegenwärtige Entwicklungen ..................................................

69

1.

Erfahrungsberichte und Dokumente aus verschiedenen Landeskirchen ..................................................................................

71

1.1 Ein fraglicher Alarmruf und die Ökonomisierung der Kirche .

71

Friedhelm Schneider Epoche der Selbstbeschäftigung Eine Zwischenbilanz zum kirchlichen Impulsprozess ›Kirche der Freiheit‹ .................................................................................

71

6 Hans-Jürgen Volk Kirche – Gemeinwesen oder Großkonzern? Die bedrückende Entwicklung einer Kirche auf Gemeindebasis zum finanzorientierten Konzern ............................................................

Inhalt

87

Friedhelm Schneider Nach dem Umbauprozess ist vor der ernsthaften Reform Was Kirche vom Management lernen kann ......................................... 102

1.2 Entmündigung der Gemeinden und die Zwänge zur Regionalisierung ....................................................................... 117 Christoph Bergner 25 Jahre Reform in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau – eine kleine Bilanz ..................................................................... 117 Andreas Dreyer »Stärkung der mittleren Ebene« Wie sich die Hannoversche Landeskirche von ihren Kirchengemeinden distanzierte .............................................................. 128 Manfred Alberti »Wie das Gemeindeprinzip in der EKiR ausgehebelt wurde« ........... 140 Erklärung des Vorstandes des Evangelischen Pfarrvereins im Rheinland zu den Vorschlägen der Kirchenleitung zur Haushaltskonsolidierung ......................................................................... 162 Georg Hoffmann Umgestaltung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz (EKBO) zum »Erweckungs«-Unternehmen auf der Grundlage eines reformationswidrigen Verständnisses von Gemeinde und Synode ............................................................................. 165 Tobias Scheidacker Das gescheiterte »Reformmodell« der EKBO im Kirchenkreis Wittstock-Ruppin ..................................................................................... 181

Inhalt

7

Wolfgang Noack Verträge dürfen gebrochen werden Erfahrungen mit einer Gemeindefusion in Berlin ............................... 207 Herbert Dieckmann Plädoyer für eine kirchliche Erneuerung von unten ........................... 216

1.3 Übermäßiger Abbau von Gemeindepfarrstellen und ein neues Pfarr-Leitbild .................................................................. 233 Klaus Guhl Pastoren: In Zukunft berufen zum Dienstleister? ................................ 233 Christoph Bergner Warum der EKHN die Pfarrer abhandenkommen Zu den Gründen einer verfehlten Personalpolitik ............................... 240 Friedhelm Maurer Auswahl- und Bewerbungsverfahren in der Evangelischen Kirche im Rheinland Das Pfarrbild, die theologischen Häresien und die Übergriffigkeiten in kirchlichen Casting-Veranstaltungen ............................................... 252 Herbert Dieckmann KMU-Schock für alle Reformer Die neue Kirchenmitgliederbefragung als Lernchance für unsere Kirche ............................................................................................ 268

1.4 Herrschaft von Menschen über Menschen .................................. 289 Hans-Gerd Krabbe Meinungsfreiheit in der Kirche? Badische Landeskirche im Jahr 2010 ..................................................... 289

8

Inhalt

Siegfried Stange Ausgrenzung innergemeindlicher Opposition Erfahrungen eines engagierten Gemeindegliedes im Umbauprozess der Evangelischen Kirche ............................................. 293 Gisela Kittel Der »Ungedeihlichkeitsparagraf« oder die Zwangsversetzung von Pfarrern und Pfarrerinnen wegen einer »nachhaltigen Störung in der Wahrnehmung des Dienstes« .......................................................... 302 Dirk Noack Es geht seinen Gang Eine Abberufung in der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens ................ 307 Annett Benz »Von Aktivitäten zur Aufarbeitung des Konflikts muss gegenwärtig Abstand genommen werden« Ein Abberufungsverfahren in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers ......................................................................... 312 Sabine Sunnus / Barbara Völksen Das ganze Elend Die Angst vor einer mündigen Gemeinde ............................................ 319

1.5 Die Rolle der Synoden ..................................................................... 329 Manfred Alberti Reform des Leitungssystems durch Synoden ....................................... 329

2.

Theologische Anfragen ................................................................... 335

Eberhard L.J. Mechels Der Reformprozess als Strategie der Integration von Christentum, Kirche und Gesellschaft ........................................................................... 335

Inhalt

9

IV. Umkehr ist nötig ........................................................................... 347 Holger Forssman Evangelium hören .................................................................................... 349 »Evangelium hören« Wider die Ökonomisierung der Kirche und die Praxisferne der Kirchenorganisation Ein theologischer Ruf zur Erneuerung aus der Ev.-Luth. Kirche in Bayern im Jahr 1999 (Kurzfassung) .................................................. 351 Wormser Wort Nein zum bisherigen Umbauprozess der Kirche durch die EKD ..... 357 Gisela Kittel und Autorenteam Schritte in eine andere Richtung ............................................................ 360

Autorinnen- und Autorenverzeichnis ................................................... 371

Vorwort

Die in diesem Buch gesammelten Berichte und Dokumente machen anschaulich, welch ein Umbauprozess sich gegenwärtig in der Evangelischen Kirche in Deutschland vollzieht. Zwar kommt nicht jede deutsche Landeskirche in diesem Buch vor. Doch die Berichte aus vier großen Kirchen führen bereits vor Augen, welch ein Prozess in nahezu gleichartigen Schritten früher oder später alle Landeskirchen erfasst – wenn dieser Entwicklung nicht noch Einhalt geboten wird. Der Umbauprozess wurde und wird mit Argumenten begründet und durchgesetzt, die der kritischen Nachfrage nicht standhalten und die von den realen Entwicklungen bereits überholt sind. Trotzdem gehen die Verantwortlichen – sie werden in diesem Buch »die Reformer« genannt – ihren Weg unbeirrt weiter. Nach evangelischem Verständnis, wie es in den Bekenntnissen der Reformationszeit neu formuliert wurde, ist die »heilige christliche Kirche … die Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden« (Das Augsburger Bekenntnis, Artikel 7, vgl. EG 857). Sie ist Gemeindekirche, die Gemeinschaft jener, die im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung mit Jesus Christus und untereinander verbunden sind und versuchen, nach seinem Wort in seiner Nachfolge zu leben. Doch im gegenwärtig betriebenen sogenannten »Reformprozess« wird eine andere Kirche Zug um Zug und leider auch unter Druck und Zwang durchgesetzt: Eine zentralistisch organisierte Behördenkirche, in der die Gemeinden und ihre Vorstände entmündigt, hauptamtlich und ehrenamtlich arbeitende Gemeindeglieder verdrängt, Pastorinnen und Pastoren zu Dienstleistenden degradiert werden und insgesamt die Arbeit mit den Menschen an der Basis durch rigorose Sparmaßnahmen immer mehr eingeschränkt wird.

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Vorwort

Gegen diese Entwicklung versucht unser Buch Kräfte des Widerstands zu wecken und zu stärken. Es will aufklären, indem es die Folgen aufdeckt, die sich in den reform- bzw. umbaubereiten Kirchen schon heute zeigen. Zugleich will es bewusst machen, welche theologische und kirchenpolitische Konzeption die Umbaumaßnahmen hintergründig leitet. Mit dem, was das Neue Testament, was die Reformation und die Evangelische Kirche von jeher als christliche Kirche verstehen (vgl. die Barmer Erklärung EG 858), hat diese »Reform« nichts zu tun. Die Betreiber des in diesem Buch beschriebenen Kirchenumbaus haben sich von dem bisher geltenden evangelischen Konsens stillschweigend verabschiedet. Wir publizieren den vorliegenden Band in der Hoffnung, dass er einen Beitrag leistet zur Umkehr unserer Evangelischen Kirche von einem Weg, auf den sie sich spätestens mit dem sog. »Impulspapier« 2006 begeben hat. Die Hoffnung ist begründet. Es regen sich zunehmend Kritik und Widerspruch an der kirchlichen Basis. Wenn dieses Buch denen Mut macht, die sich als engagierte evangelische Christen um den Weg ihrer Kirche sorgen, wenn es sie zu verstärktem Engagement gegen den zur Herrschaft gekommenen Umbau-Kurs befähigt, wenn Schritte in eine andere Richtung möglich werden, dann hat dieses Buch seinen Zweck erfüllt. Die Notwendigkeit echter, am Bekenntnis des christlichen Glaubens orientierter Reformen käme wieder in den Blick. Detmold und Westoverledigen, im Januar 2016

Gisela Kittel Eberhard Mechels

I. Der Aufbruch der Reformation

Gisela Kittel

Wiederentdeckung des Evangeliums: Martin Luther Wiederentdeckung des Evangeliums: Martin Luther

1 Das Tor zum Paradies »Ein ganz ungewöhnlich brennendes Verlangen hatte mich gepackt, Paulus im Römerbrief zu verstehen; aber nicht Kaltherzigkeit hatte mir bis dahin im Wege gestanden, sondern ein einziges Wort, das im ersten Kapitel steht: ›Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart‹ (Röm. 1,17). Denn ich haßte diese Vokabel ›Gerechtigkeit Gottes‹, die ich durch die übliche Verwendung bei allen Lehrern gelehrt war, philosophisch zu verstehen von der sogenannten formalen oder aktiven Gerechtigkeit, mittels derer Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft. Ich aber, der ich, so untadelig ich auch als Mönch lebte, vor Gott mich als Sünder von unruhigstem Gewissen fühlte und mich nicht darauf verlassen konnte, daß ich durch meine Genugtuung versöhnt sei, liebte nicht, nein, haßte den gerechten und die Sünder strafenden Gott und war im stillen, wenn nicht mit Lästerung, so doch allerdings mit ungeheurem Murren empört über Gott: Als ob es wahrhaftig damit nicht genug sei, daß die elenden und infolge der Erbsünde auf ewig verlorenen Sünder mit lauter Unheil zu Boden geworfen sind durch das Gesetz der zehn Gebote, vielmehr Gott durch das Evangelium zum Schmerz noch Schmerz hinzufüge und auch durch das Evangelium uns mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn bedrohe. So raste ich wilden und wirren Gewissens; dennoch klopfte ich beharrlich an eben dieser Stelle bei Paulus an mit glühend heißem Durst, zu erfahren, was St. Paulus wolle. Bis ich, dank Gottes Erbarmen, unablässig Tag und Nacht darüber nachdenkend, auf den Zusammenhang der Worte aufmerksam wurde, nämlich: ›Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben.‹ Da begann ich, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als die, durch die als durch Gottes Geschenk der Gerechte lebt, nämlich aus Glauben … Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sofort die ganze Schrift ein anderes Gesicht … Wie sehr ich vorher die Vokabel ›Gerechtigkeit Gottes‹ gehaßt hatte, so pries ich sie nun mit entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort. So ist mir diese Paulus-Stelle wahrhaftig das Tor zum Paradies gewesen.«1 1 Aus der Vorrede Luthers zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner lateinischen Schriften im Jahr 1545, Weimarer Ausgabe der Werke Luthers (WA) 54; 179–187: 185ff. Hier zitiert nach: K. Bornkamm / G. Ebeling (Hg.), Martin Luther. Ausgewählte Schriften I, Frankfurt a.M. 1982, 13–25: 22ff. Im Folgenden werden die

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Gisela Kittel

In der hier beschriebenen Weise vollzog sich im Turmstübchen eines Klosters in einem bis dahin unscheinbaren mitteldeutschen Städtchen die Initialzündung zur Reformation.2 Sie war die Einleitung zu einer Epochenwende, auf die wir noch heute zurückblicken und von der Impulse ausgingen, die bis in die Neuzeit hereinreichen, ja, noch heute – trotz aller Traditionsabbrüche – unser Bewusstsein prägen. Diese Epochenwende begann in der Stille, in der Abgeschiedenheit einer klösterlichen Studierstube, als ein unbekannter Mönch mit brennendem Herzen über die Bibel gebeugt saß und über Sinn und Wortzusammenhang einer Paulus-Stelle nachdachte. Es ist hier nicht der Ort, Luthers Lebensweg nachzuzeichnen. Aber die Frage, die Luther umtrieb und so intensiv in die Bibel hineinhorchen ließ, sei doch angedeutet. »Ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass ich durch meine Genugtuung versöhnt sei«, sagt Luther. »Ich liebte nicht, nein ich hasste den gerechten und die Sünder strafenden Gott.« Was Luther in seiner Klosterzeit umtrieb und was dann auch später immer wieder als Anfechtung über ihn hereinbrach, war die Frage nach einer letzten Gewissheit. Was hält stand, wenn ich einmal über mein Leben Rechenschaft geben soll? Was hält stand, wenn Sterben, Tod und Verwesung auf mich zukommen? Wo soll ich bleiben, wenn ich einmal dem letzten Richter gegenübertrete? Das Mittelalter hatte, trotz aller Spielarten scholastischer Theologie, doch nur eine Antwort. Der Mensch und die göttliche Gnade wirken zusammen. Wenn der Mensch tut, was in seinen Kräften steht, kommt ihm die Gnade Gottes entgegen und macht ihn fähig, das Gebot der Gottesliebe (Mt 22,37) zu erfüllen. Sie flößt dem Menschen einen Habitus ein, eine Ausstattung, mit der gerüstet er gute Werke vollbringen kann bis hin zur Gottesliebe, in der Gott um seiner selbst willen geliebt wird. Aber diese Werke muss der Mensch aus eigenem Antrieb immer wieder neu hervorbringen, damit er sich an das Gutsein gewöhnt und am Ende die Vollkommenheit erlangt. Zitate aus der »Weimarer Ausgabe« mit dem Kürzel WA und – sofern in Übersetzung und nach heutigem Deutsch aus »Ausgewählte Schriften« zitiert – zusätzlich mit dem Kürzel AS im fortlaufenden Text angegeben. 2 Luther hat in späteren Tischreden wiederholt von diesem Geschehen erzählt. Vgl. Heinrich Fausel, D. Martin Luther. Leben und Werk 1483 bis 1521, Siebenstern Tb 63, 54–56. In WA TR 3; 3232 c spricht Luther sogar davon, dass ihm die Öffnung der Schrift »in diesem Turme und Gemache« widerfahren sei. »Die schriefft hat mir der Heilige Geist in diesem thurn offenbaret.«

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Luther erlebte an sich selbst das Gegenteil. Er konnte seinen Willen nicht lenken, nicht aus sich selbst die reine Gottesliebe hervorbringen. Im Gegenteil: Je mehr er versuchte, ein nach Gottes Willen »gerechtes« Leben zu führen, umso tiefer geriet er in die Gefangenschaft des Selbst-Seins, in die Gefangenschaft der Sünde hinein. Im ersten reformatorischen Lied, das Luther dichtete, hat er in den Anfangsstrophen diesen Zirkel beschrieben. Es ist das Lied »Nun freut euch lieben Christen g’mein« (EG 341), 1523 verfasst und in das erste reformatorische Liederbuch aufgenommen. In ihm heißt es, nun aber nicht mehr nur für Luther allein geltend, sondern für die ganze in Jesus Christus erlöste Christengemeinde: »Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war ich verloren, mein Sünd mich quälte Nacht und Tag, darin ich war geboren. Ich fiel auch immer tiefer drein, es war kein Guts am Leben mein, die Sünd hatt’ mich besessen« (EG 341,2).

Doch könnte der Mensch nicht auf seine große Lebensleistung, seine Verdienste und großartigen Werke zurücksehen? Könnte er sich nicht in einer letzten Kraftanstrengung vornehmen, sein Leben zu ändern und in Zukunft ein besseres, Gott wohlgefälliges Leben zu führen? Luther dichtet weiter: »Mein guten Werk, die galten nicht, es war mit ihn’ verdorben; der frei Will haßte Gotts Gericht, er war zum Gutn erstorben; die Angst mich zu verzweifeln trieb, daß nichts denn Sterben bei mir blieb, zur Höllen mußt ich sinken« (EG 341,3).

In der letzten, tiefsten Verzweiflung des Menschen an sich selbst und allem, was er bewirkt hat, was ihm zwischen den Fingern zerronnen ist, worin er versagt hat, hält gar nichts stand. Nicht die eigene Gerechtigkeit, innere Stärke, Größe oder Tüchtigkeit können in der letzten Anfechtung Halt geben. Solange Menschen noch darauf bauen und daraus leben wollen, sind sie verloren. Was allein Rettung bringt, ist ein Geschehen, das ganz von außen kommt. Ohne Vorbedingung, ohne eine geforderte Vorleistung des Menschen hat sich der allmächtige und gnädige Gott zu dem in der Sünde gefangenen Menschen herabgeneigt, ist in seinem Sohn Jesus Christus für ihn und mit ihm den Weg durch Sünde und Tod gegangen und hat ihn so in die Liebe und das Leben seines Sohnes aufgenommen. »Allein« um Christi willen, »allein« aus Gnade, »allein« im Wort Gottes,

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das den Menschen gerecht spricht, ist ein Mensch, der dies im Glauben für sich wahr sein lässt, gerecht vor Gott. Auf dieses »allein«, auf diese »particula exclusiva«, kommt bei Luther und der von ihm ausgehenden reformatorischen Bewegung alles an. »Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend übermaßen; er dacht an sein Barmherzigkeit, er wollt mir helfen lassen; er wandt zu mir das Vaterherz, es war bei ihm fürwahr kein Scherz, er ließ’s sein Bestes kosten. (EG 341,4) Er sprach zu seinem lieben Sohn: ›Die Zeit ist hier zu erbarmen; fahr hin, meins Herzens werte Kron, und sei das Heil dem Armen und hilf ihm aus der Sünden Not, erwürg für ihn den bittern Tod und lass ihn mit dir leben.‹« (EG 341,5)

Es ist umstritten, wann sich das sog. »Turmerlebnis« und damit Luthers Neuentdeckung der »Gerechtigkeit Gottes« ereignet hat. Seine eigenen Angaben zu diesem Ereignis sind verwirrend. Doch aufgrund sachlicher Erwägungen muss das »Turmerlebnis« bereits einige Jahre vor Beginn des Ablassstreites eingetreten sein. Denn schon in seinen frühen Disputationen wendet sich Luther gegen Grundauffassungen der scholastischen Theologie. Er bestreitet das Axiom von der Willensfreiheit des Menschen3 und stellt der »Theologie der Herrlichkeit«, die Gott aufgrund natürlicher Erkenntnis als das höchste Seiende denken will und entsprechend dem Menschen die Aufgabe zuschreibt, durch Erkenntnis und gute Werke dieser obersten Spitze entgegenzustreben, die »Theologie des Kreuzes« gegenüber.4 Aber nicht nur im Schulbetrieb der Wittenberger Universität, auch als Seelsorger seiner Mönchsbrüder5 tröstet und 3 So in der »Disputatio contra scholasticam theologiam« am 4. Sept. 1517. WA 1; 224–228. Luther hatte die Thesen aufgestellt. Ein Schüler Luthers musste sie bei seiner Doktor-Promotion verteidigen. In diesen Thesen heißt es z.B.: »Der Mensch kann nicht aus natürlichen Kräften wollen, dass Gott Gott sei, vielmehr möchte er, dass er selbst Gott ist und Gott nicht Gott ist« (These 17). »Die beste und untrügliche Vorbereitung auf die Gnade und einzige Disposition ist die ewige Erwählung und Vorausbestimmung Gottes« (These 29). »Auf der Seite des Menschen aber geht nichts anderes als Indisposition, ja Rebellion, gegen die Gnade der Gnade voraus« (These 30). 4 So in der Heidelberger Disputation, die anlässlich des Ordenskapitels der deutschen Augustinerkongregation am 26. April 1518 in Heidelberg stattfand. WA 1; 353–374. Auch hierzu hatte Luther die Thesen aufgestellt und nachträglich mit Beweisen (probationes) versehen. Wichtig und an die Kreuzestheologie des Apostels Paulus angelehnt sind die Thesen 19 bis 24 und ihre Erläuterungen (probationes). 5 Luther war im Mai 1515 zum Distriktsvikar über die elf kursächsischen Klöster des Augustiner-Eremiten-Ordens ernannt worden und in dieser Funktion für die Konvente zuständig.

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ermahnt Luther schon im April 1516 seinen Mönchsbruder Georg Spenlein ganz im Licht der neuen reformatorischen Erkenntnis: »Außerdem möchte ich gern wissen, wie es um Deine Seele steht, ob sie denn nicht endlich, ihrer eigenen Gerechtigkeit überdrüssig, lernt, in Christi Gerechtigkeit aufzuatmen und auf sie zu vertrauen. Denn heutzutage brennt die Versuchung der Vermessenheit in vielen Menschen und in denen besonders, die mit allen Kräften gerecht und gut sein wollen. Sie kennen die Gerechtigkeit Gottes, die uns in Christus so überreichlich und umsonst geschenkt ist, nicht und trachten in sich selber so lange gut zu tun, bis sie die Zuversicht haben, vor Gott bestehen zu können, gleichsam bekränzt mit ihren Tugenden und Verdiensten, was doch unmöglich sein kann. Du lebtest hier bei uns auch in dieser Meinung. Vielmehr, diesem Irrtum; und auch ich bin darin gewesen, ja, noch jetzt kämpfe ich gegen diesen Wahn und habe noch nicht ausgekämpft. Darum, mein lieber Bruder, lerne Christus, und zwar den gekreuzigten; lerne ihm singen und in der Verzweiflung an Dir selbst zu ihm zu sagen: ›Du, Herr Jesus, bist meine Gerechtigkeit, ich aber bin Deine Sünde. Du hast auf Dich genommen, was mein ist, und mir geschenkt, was Dein ist. Du hast auf Dich genommen, was Du nicht warst, und mir geschenkt, was ich nicht war.‹ Sei auf der Hut, daß Du nicht eines Tages zu solcher Reinheit strebst, daß Du Dir gar nicht als Sünder vorkommen, ja gar keiner mehr sein willst. Christus aber wohnt nur in (unter) den Sündern. Darum ist er doch vom Himmel herabgestiegen, wo er unter den Gerechten wohnte, damit er auch unter den Sündern wohne. Dieser seiner Liebe sinne immer wieder nach, und Du wirst einen allersüßesten Trost erfahren. Denn wenn wir durch unser eigenes Sorgen und Grämen zur Ruhe des Gewissens gelangen müßten – wozu wäre er dann gestorben? Darum wirst Du nur in ihm durch getroste Verzweiflung an Dir und Deinen Werken Frieden finden … Wenn Du das fest glaubst, wie Du mußt …, so nimm auch Du die ungehorsamen und noch irrenden Brüder an und ertrage sie geduldig und mache aus ihren Sünden Deine eigenen; und wenn Du etwas Gutes an Dir hast, so laß es ihnen gehören. Denn so lehrt der Apostel: ›Nehmet einander an, gleichwie Christus euch hat angenommen zur Ehre Gottes‹ (Röm. 15,7) … Unselig aber ist die Gerechtigkeit dessen, der andere, die er für schlechter hält als sich selbst, nicht ertragen will und auf Flucht und Rückzug in die Einsamkeit sinnt, da er doch bei ihnen bleiben und ihnen in Geduld, im Gebet und durch sein Beispiel hilfreich sein sollte … Wenn Dir also etwas fehlt, wirf Dich dem Herrn Jesus zu Füßen und bitte ihn darum. Er wird Dich alles lehren – siehe nur an, was er für Dich und für alle getan hat, damit auch Du lernst, was Du für andere zu tun schuldig bist. Wenn er nur unter Guten hätte leben und nur für seine Freunde hätte sterben wollen, für wen wäre er denn dann überhaupt gestorben, oder mit wem hätte er jemals leben können?« (WA Br 1; 35f./AS VI, 13–15).

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2 Der Zusammenstoß mit der mittelalterlichen Kirche Der Zusammenstoß mit der mittelalterlichen Kirche ereignete sich für Luther an einer Stelle, die er nicht vorausgesehen und nicht gewollt hatte. Er hatte die Auseinandersetzung auf dem Feld der Theologie, in der Diskussion der Grundlagen der scholastischen Wissenschaft gesucht. Doch nun, schon ab dem Frühjahr 1517, wird er als Seelsorger und Beichtvater an der Pfarrkirche in Wittenberg mit einem ganz praktischen Problem konfrontiert. Jenseits der kursächsischen Landesgrenze macht ein Predigermönch mit Namen Johann Tetzel auf sich aufmerksam, der »Gnade um Geld« verkauft und mit »gräulichen« Sprüchen, die Luther berichtet werden, die Wirkung der von ihm vertriebenen Ablassbriefe anpreist.6 Luther ist erschrocken, und sein Erschrecken steigert sich noch, als er ein Büchlein der Ablassverkäufer in die Hand bekommt, das – mit dem Wappen des Erzbischofs von Magdeburg und Mainz versehen – Instruktionen für Ablassprediger enthält, die jedenfalls zum Teil den ungeheuerlichen Sätzen Johann Tetzels entsprechen. Luther weiß zunächst noch nicht, dass der Erzbischof diese Ablassprediger losgeschickt hat, um seine Schulden im Fuggerhaus in Augsburg bezahlen zu können. Er weiß nicht, dass die Kurie wohl unterrichtet ist, ja selbst am lukrativen Ablasshandel verdient, da Erzbischof Albrecht ungefähr die Hälfte seiner Einnahmen nach Rom abführen muss, um seine Amtseinsetzung, den Erwerb des erzbischöflichen Palliums, bezahlen zu können. Denn dort werden die Ablassgelder für den Bau des Petersdomes, den wir noch heute bestaunen, gebraucht. Luther glaubt, dass der Papst den Ablasshandel sofort unterbinden würde, wenn er von der Geldeintreiberei durch die Ablasshändler erführe,7 und dass auch der Erzbischof über den Inhalt des mit seinem Wappen versehenen Instruktionsbüchleins nicht genügend informiert sei.8 Um eine Diskussion in Gang zu bringen, formuliert Luther 95 Thesen 6 Vgl. Luthers Bericht über das Auftreten Tetzels, seine »Artikel« und die eigene Reaktion darauf in der Schrift »Wider Hans Worst« (1541), WA 51; 538,23–541,20. In einem kürzeren Ausschnitt abgedruckt bei H. Fausel, a.a.O., 84–86. 7 Vgl. These 50: »Lehren muß man die Christen: Wenn der Papst die Beitreibungen und die Schinderei der Ablaßprediger wüßte, wollte er lieber, daß die St. Peterskirche in Asche verwandelt, als daß sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe gebaut würde.« Ähnlich auch die Thesen 42; 48; 51. WA 1; 233–238. Zitat nach der Übersetzung von H. Fausel, a.a.O., 96. 8 Vgl. Luthers Brief an den Erzbischof Albrecht von Mainz vom 31. Oktober 1517. WA Br 1, 110–112. Abgedruckt und übersetzt bei H. Fausel, a.a.O., 86–88.

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und hängt sie am 31. Oktober 1517, am Tag vor dem Allerheiligen-Fest, an der Tür der Schlosskirche in Wittenberg auf. Also kein »Thesenanschlag« mit dröhnenden Hammerschlägen. Keine Initiierung einer großen Volksbewegung. Es ist sogar umstritten, ob Luther die Thesen überhaupt öffentlich anbrachte. Nur eins steht fest. Die Thesen sind in lateinischer Sprache gehalten. Sie wenden sich nicht an den einfachen Mann, sondern wollen die Kollegen zu einer wissenschaftlichen Disputation einladen, wie sie – man denke an die früheren Disputationen – im Universitätsbetrieb üblich waren. Und Luther schickt einen Thesenabdruck am gleichen Tag an den Erzbischof, um ihn über den Gräuel der Ablassprediger und die Kritik daran zu unterrichten. Er bittet in seinem Brief, das Instruktionsbuch wieder einzuziehen und den Ablasspredigern eine andere Predigtweise zur Auflage zu machen.9 Doch – und auch dies steht fest – nichts geschieht. Niemand meldet sich, um mit Luther über seine Thesen zu disputieren. Auch die erzbischöfliche Behörde macht, was bis heute die meisten Kirchenbehörden in ähnlichen Fällen tun, nämlich gar nichts. Die Kirchenbehörde schweigt (jedenfalls nach außen) und lässt die Anfrage ins Leere laufen. Da sendet Luther – ungefähr elf Tage später – seine Thesen an gute Freunde in Nürnberg und Erfurt. Und diese erkennen die Brisanz der Thematik. Sie verbreiten die Thesen weiter, die Buchdrucker werden aufmerksam, plötzlich liegen die 95 Thesen auch in deutscher Sprache vor und verbreiten sich nun wie ein Lauffeuer durch die deutschen Lande. Jetzt erst wacht die offizielle Kirche auf. Jetzt fangen die kirchlichen Apparate an zu reagieren. Aber in einer Weise, wie sie in Kirchenapparaten bis heute vielfach üblich ist. Keine Nachfrage nach dem Missstand, an dem sich Luthers Kritik entzündete. Keine Auseinandersetzung über Ablasspraxis und die auch gegen gut katholische Lehre verstoßenden Ablasspredigten der Ablassverkäufer. Nein, der Unruhestifter, der Störenfried muss weg. Und so beginnt gegen Luther ein Ketzerprozess zu laufen. Der mächtige Orden der Dominikaner (dem auch Tetzel angehörte) reicht in Rom eine Anzeige wegen Verdachts der Ketzerei ein. Nach einer Predigt Luthers über die Grenzen des Bannes im Mai 1518, von »gräulichen Spähern« in Wittenberg abgehört,10 wird diese Anzeige sogar auf die Anklage wegen 9 A.a.O., 88. 10 Heinrich Boehmer, Der junge Luther, 5. Aufl., Stuttgart 1962, 188.

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Gisela Kittel

»notorischer« Ketzerei erweitert. Der Ketzerprozess wird eröffnet, und es kommt zur offiziellen Zitation Luthers nach Rom, damit er sich dort verantworte. Dann folgt in Augsburg das Verhör vor dem päpstlichen Legaten Cajetan und – nach einer politisch bedingten längeren Unterbrechung des Verfahrens – zunächst die Bann-Androhung, dann im Januar 1521 die Überstellung und Veröffentlichung der Bannbulle selbst, die zwei umherreisende päpstliche Abgesandte (Eck und Aleander) dem Volk bekannt machen. Schließlich lässt am Ende des Wormser Reichstags der junge Kaiser Karl V. dem Kirchenbann die reichsrechtliche Acht folgen. Luther ist nun in Bann und Acht getan. Gemäß dem »Wormser Edikt«11 dürfen seine Bücher nicht mehr gekauft, verkauft, gelesen, behalten, abgeschrieben, gedruckt etc. werden. Er selbst ist unverzüglich zu ergreifen und dem Kaiser zu überstellen, der ihn seinerseits an die kirchliche Inquisition ausliefern wird. Niemand darf Luther Obdach, Nahrung und Hilfe gewähren. Auch alle seine Anhänger trifft das gleiche Schicksal. Sie sollen ergriffen und ihre Güter sollen eingezogen werden, wenn sie nicht ihren unrechten Weg verlassen und die päpstliche Absolution erlangen. Man kann nur staunen, dass Luther überlebt hat. Es hätte ihm ebenso gehen können wie den beiden Augustinermönchen in den Niederlanden, die sich zu Luthers Lehre bekannt hatten, nicht widerriefen und dafür, angeklagt und verurteilt durch die Universität Löwen, in Brüssel auf dem Marktplatz verbrannt wurden.12 Wenn Luther dieses Schicksal erspart blieb, wenn sich überhaupt der Zeitraum zwischen den ersten Denunziationen in Rom (Ende 1517) und der Verfügung von Bann und Acht (1521) so hinauszögerte, ist dies den damaligen kirchenpolitischen Konstellationen zu verdanken. Der Papst wollte die Wahl des Spaniers Karl zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation aus machtpolitischen Erwägungen verhindern. Dazu erhoffte er sich die Unterstützung des sächsischen Kurfürsten Friedrichs des Weisen. Dieser aber war ein bedächtiger, zaudernder Landesherr. Und er war von kurfürstlichen Räten umgeben, die auf der Seite Luthers standen. So bestand 11 Heiko A. Oberman, Die Kirche im Zeitalter der Reformation. Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen III, 4. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1994, 62–65. 12 Luther hat, als er davon erfuhr, in großer Erregung zum ersten Mal ein Gedicht geschrieben: »Ein Lied von den zwei Märtyrern Christi, zu Brüssel von den Sophisten von Löwen verbrannt, geschehen im Jahr 1523«. WA 5 Lied Nr. 23. Ebenfalls abgedruckt in: AS V, 259–262. Bewegend ist auch Luthers Brief »an die Christen im Niederland 1523«. WA 12; 77–79. AS III, 212–214.

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seine Politik im Hinauszögern. Er bewirkte, dass Luther nicht in Rom, von wo aus er kaum wieder zurückgekehrt wäre, verhört wurde, sondern auf deutschem Boden.13 Auch sollte Luther nach Augsburg und später nach Worms nur unter der Bedingung freien Geleits reisen. Das immer wieder vorgetragene Argument des Kurfürsten, warum er Luther nicht ausliefere, lautete, dass über Luthers Lehre vor einem ordentlichen Schiedsgericht verhandelt werden müsse, Luther ja noch gar nicht gehört, nicht von geschulten Theologen widerlegt worden sei.14 Die durch all diese Umstände eingetretene Verzögerung aber arbeitete für die neue Bewegung, die immer mehr zu einer Volksbewegung wurde. Als die päpstlichen Legaten 1521 durch Deutschland reisten, um die Bannbulle gegen Luther zu veröffentlichen, meldete Aleander mit Bestürzung nach Rom, dass für neun Zehntel der Leute in den deutschen Landen das Feldgeschrei »Luther« sei und für die übrigen, falls ihnen Luther gleichgültig ist, wenigstens »Tod der römischen Kurie«.15 Die Atempause war aber auch für die theologische Entwicklung Luthers wichtig. Herausgefordert durch die bösartigen und allzu törichten Kommentare und »Widerlegungen« seiner theologischen Gegner, wurde Luther angetrieben, die Konsequenzen des wiederentdeckten Evangeliums immer weiter zu bedenken und für alle Fragen des kirchlichen Lebens geltend zu machen. In den dreieinhalb Jahren zwischen dem Thesenanschlag und dem Wormser Reichstag hat sich Luther in einer den Atem raubenden Geschwindigkeit entwickelt: vom gehorsamen und ehrerbietigen Sohn der katholischen Kirche, als der er sich noch in den Ablassthesen zeigt, zum »Rebellen«16, der der mittelalterlichen Papstkirche in theologischer wie geistlicher Hinsicht buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzog.

13 Vgl. Luthers Rückblick (s. Anm. 1) WA 54; 180,21ff. 14 Vgl. u.a. Luthers Tischrede im Jahr 1540, WA TR 5; 5375c oder Luthers Brief an Spalatin WA Br 2, 135,30ff. Beide Quellen abgedruckt bei H. Fausel, a.a.O., 126 und 186f. In welcher Weise sich der Kurfürst bemühte, Luther in Worms ein Verhör durch ein »objektives Gelehrtengericht« zu verschaffen, beschreibt Martin Brecht, Martin Luther, Band 1. Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 1981, 413–426. 15 Vgl. Heinrich Böhmer, a.a.O., 308. 16 Formulierung von Heinz Schilling, der aus der Perspektive eines Historikers vor wenigen Jahren eine große Luther-Biografie geschrieben hat: »Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie«, München 2012. Ob Berichtigungen und Kritik gegenüber der theologischen Lutherforschung immer im Recht sind, ist allerdings zu fragen.

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3 Befreiende Wirkung des Evangeliums 3.1 Wort und Glaube Heinrich Fausel: »Umkleidet mit göttlichem Glanze sieht sich die römische Kirche in der Welt stehen. Sie ragt hinauf zur Höhe des Himmels, wo die Seligen im Triumphe endgültiger Überwindung wohnen; sie erstreckt sich hinein ins Fegefeuer, wo die armen Seelen zur Reinigung Pein leiden; sie umfaßt mit ihrer Herrschaft auf Erden alle Gläubigen, die mit Christus verbunden sind. Es ist ein wunderbarer Stufenbau, der von der Dreifaltigkeit über die Engel bis herunter auf die Erde reicht; in diesem abgestuften und wohlgeordneten Weltgebäude hat die Kirche die Schlüsselstellung. Christus hat sie gestiftet und in ihr den Schatz des Heils und der Gnade niedergelegt; er hat sie mit aller Vollmacht ausgerüstet, um die Menschheit auf den Weg des Heils zu führen und darauf zu erhalten. Er hat hierzu den besonderen geistlichen Stand, den Klerus, eingesetzt. ›… kraft der Weihegewalt … sind die Priester der Kirche befähigt, den Schatz der übernatürlichen Gnade durch die Sakramente vollkräftig auszuteilen; und kraft der Regierungsgewalt …, welche die Bischöfe ausüben, hat die Kirche die gesetzliche Leitung und geistliche Führung über ihre Glieder in der Hand. Alle Gewalt im Himmel und auf Erden eignet dieser römischen Kirche. Weil sie das ewige Heil verwaltet und darum alle Fragen des Gewissens und Glaubens entscheidet …‹«17 Die mittelalterliche Kirche ist die Verwalterin der göttlichen Gnade. In sieben Sakramenten, die den Menschen von der Geburt bis in die Sterbestunde begleiten, vermittelt sie den Zugang zum Heil. Sie kann ihn freilich durch Entzug der Sakramente auch verschließen. Dabei werden die Sakramente (Taufe, Firmung, Abendmahl, Buße, Priesterweihe, Eheschließung, letzte Ölung) als heilige Handlungen angesehen, durch die in Verbindung mit einem äußerlichen Akt und begleitet von bestimmten Formeln und Gebeten übernatürliche Gnadenkräfte in den Menschen eingehen. Diese Gnadenkräfte sind geradezu substanzhaft gedacht. Sie werden in den Menschen »eingegossen«, sodass er, ausgerüstet mit diesen Kräften, das Heil erringen kann. Und die Sakramente wirken durch den Vollzug – »ex opere operato«. Die Personen, die das Sakrament austeilen oder empfangen, spielen keine Rolle. Allerdings darf sich der 17 Heinrich Fausel, a.a.O., 207f.

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Empfänger nicht im Stand der Todsünde befinden. Er darf der Gnade keinen »Riegel vorschieben«. Aber das Wichtigste: Der Empfang der übernatürlichen Gnadenkräfte ist heilsnotwendig! Ohne die Übermittlung der Gnade, ohne Empfang der Sakramente ist der Mensch verloren. Ein Mensch, den die Kirche in den Bann tut, ihn damit also von den Sakramenten ausschließt, geht der ewigen Verdammnis entgegen, es sei denn, dieser Mensch kehrt reumütig in den Schoß der Kirche zurück und nimmt die mit der Absolution verbundenen Kirchenstrafen willig auf sich. Es ist einsehbar, dass sich Luther, als er den Bannstrahl der Kirche auf sich zukommen sah, mit der Macht und Wirksamkeit des Bannes auseinandersetzen musste. Er tat es in einer Predigt am 15. Mai 1518, die aber nicht erhalten ist. Da jedoch »etliche gräuliche Späher« seine Predigt abgehört hatten und den Inhalt verleumderisch verdreht nach Rom weitergaben (wo auch gleich die Anklage wegen Ketzerei wesentlich verschärft wurde), fühlte er sich genötigt, in einer kleinen Schrift, zunächst in lateinischer, dann in deutscher Sprache, seine Meinung über die Bedeutung und Macht des Bannes zu veröffentlichen.18 In dieser Schrift finden wir gleich zu Beginn die entscheidende Weichenstellung. Die Kirche kann zwar mit dem Machtmittel der Bannung einen Menschen aus der Gemeinschaft der Glaubenden ausschließen. Aber sie kann ihn nicht aus der geistlichen Gemeinschaft mit Gott und Jesus Christus verbannen. Denn den Glauben, die Hoffnung und die Liebe kann keine Kreatur geben oder nehmen außer Gott allein. Zwar soll der vom Bann Betroffene in sich gehen, diese kirchliche Maßnahme zu seiner Gewissensprüfung und Besserung gebrauchen, aber Trennung von Gott bewirkt der Bann nicht. Und ein Mensch, der unrechterweise in den Bann getan ist, dem kann dieser kirchliche Akt gar nichts anhaben. Ja, der zu Unrecht Gebannte soll ja nicht aufhören, das zu tun und zu sagen, wofür er von der Kirche in den Bann getan worden ist. Aber Luther belässt es nicht bei dieser Auseinandersetzung. Ab dem Jahr 1519 befasst er sich intensiv mit den Sakramenten der Kirche. In einem Sermon nach dem anderen behandelt er die wichtigen Sakramente (Ster-

18 In WA 1; 638–643 ist die lateinische Fassung von 1518 abgedruckt. In WA 6; 63–75 findet sich der 1520 herausgegebene deutsche Text: »Ein Sermon von dem Bann«.

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bebereitung, Buße, Taufe, Abendmahl)19 und entfaltet, wie reich und tröstlich sie in Wahrheit sind. Dabei geht er immer in der gleichen Weise vor. Er beschreibt die äußere Handlung, mit der das Sakrament verbunden ist. Diese ist nicht mehr als ein Zeichen, ein Sichtbar-Machen dessen, was von Gott her geschieht. Der Kern des jeweiligen Sakramentes aber ist seine »Bedeutung«, das Evangelium, das in diesem Zeichen veranschaulicht wird. Es ist verdichtet im Wort der Verheißung: »Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig« (Mk 16,16); »nehmet hin und esset …« (Mt 26,26–28). Solche Worte, zeichenhaft verdeutlicht und dem Einzelnen zugesprochen als göttliche Worte, die ihn persönlich meinen, darf und soll der Mensch glauben, sich ihnen öffnen, ihre Wahrheit über alles stellen, was ihm Zweifel verursacht oder wie sehr er seine Unwürdigkeit in sich zu spüren meint. »Hierauf kommt es nun am allermeisten an: daß man die heiligen Sakramente, in denen Gottesworte, Zusagen, Zeichen geschehen, hoch achte, in Ehren halte, sich auf sie verlasse, das ist, daß man weder an den Sakramenten noch an den Dingen, deren sichere Zeichen sie sind, zweifle. Denn wenn daran gezweifelt wird, so ist alles verloren. Denn wie wir glauben, so wird uns geschehen, wie Christus sagt (Matth. 21,21)« (WA 2; 685–697: 693,16ff./AS II, 15–34: 27f.). »Es liegt nicht am Priester, nicht an deinem Tun, sondern ganz an deinem Glauben, so viel du glaubst, so viel du hast« (WA 2; 713–723: 719,7f.).

Luther möchte in seinen Sermonen über die Sakramente zeigen, »dass die ganze Kirche voll ist von Vergebung der Sünde« (WA 2; 722,24f.). Aber diese Fülle, diese Vergebungskraft ist nun gefesselt; sie ist eingeschränkt durch menschliche Zusätze. So ist das Volk Gottes seiner Freiheit beraubt worden wie einst das Volk Israel in der babylonischen Gefangenschaft. Dem Antichrist ist es gelungen, die Sakramente in Fesseln zu schlagen. So macht sich Luther daran, in eben den Wochen, in denen die beiden päpstlichen Legaten durch Deutschland ziehen, um die Bannbulle zu veröffentlichen, seinerseits eine Anklageschrift zu verfassen, in der er aufführt, in welcher Weise die römische Kirche die Wahrheit entstellt hat. Es ist die große Reformationsschrift »De captivitate babylonica ecclesiae praeludium«20 (Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche. Präludium). Ein Präludium ist die Schrift daher, weil sie nur ein Vorspiel des »Widerrufes« sein soll, den der Papst von ihm fordert. Es 19 Luther wird die Sakramente später auf die beiden Sakramente »Taufe« und »Abendmahl« reduzieren, weil nur sie auf göttliche Einsetzung zurückgehen. 20 WA 6; 497–573.

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wird noch mehr kommen. Luther nimmt in dieser Schrift noch einmal zu den einzelnen Sakramenten Stellung, aber nun in der Weise, dass er aufzeigt, in welche Gefangenschaft die Papstkirche die Christenheit geführt hat und wie sehr das Wort der göttlichen Verheißung im Sakrament des Brotes (Abendmahl), der Taufe und der Buße verdunkelt wurde. Betrachtet man Luthers Sakramentsschriften im Vergleich zu Liturgie und Umgang mit den Sakramenten in seiner Zeit, so ist eine großartige Konzentration und Verdichtung festzustellen. Alles spitzt sich zu auf die beiden Pole »Wort« und »Glaube«. Das Wort Gottes ist unumstößlich. Es tut, was es sagt. Die Antwort des Menschen aber besteht darin, dass er sich dieses Wort sagen lässt, dass er es festhält und »glaubt«. »Denn Gott hat – wie ich sagte – mit den Menschen niemals anders gehandelt und handelt nicht anders mit ihnen als durch das Wort der Verheißung. So können auch wir wiederum mit Gott niemals anders handeln als durch den Glauben an das Wort seiner Verheißung« (WA 6; 516,30–32. Übersetzt). »Es kann der Mensch auf keinem anderen Weg mit Gott zusammenkommen oder handeln als durch den Glauben. Das heißt, dass nicht der Mensch durch irgendwelche eigenen Werke, sondern Gott durch seine Verheißung der Urheber des Heils ist. So dass alles hänge, getragen und erhalten werde im Wort seiner Macht, durch das er uns gezeugt hat, auf dass wir ein Anfang seien seiner Kreatur« (WA 6; 514,21–25. Übersetzt).

Der fundamentale Unterschied zwischen den mittelalterlichen Kategorien und Luthers neuer Sicht wird hier deutlich. Luther denkt personal, nicht in den Kategorien von Substanz und dinglicher Vermittlung. Gott spricht den Menschen an, und der Mensch hört und antwortet im Glauben. So ist die Gnade Gottes auch keine neutrische Kraft, kein Fluidum, das eine kirchliche Institution als ihren Besitz verwaltet. Sie ist die Zuwendung des erbarmenden Gottes, dem Menschen vermittelt und zugesprochen durch Gottes verheißendes Wort, dem sich der Mensch im Glauben öffnen darf, damit er zum Leben komme und getröstet werde. Mit dieser neuen Lehre ist die Macht der mittelalterlichen Kirche gebrochen. Sie hat keine Gewalt mehr über die Gewissen der Menschen. Der Mensch ist unmittelbar zu Gott, seinem Urteilsspruch übergeben. Es ist ein Urteil, das ihn richtet, das ihn aller eigenen Gerechtigkeit und Verdienste entkleidet, alle falschen Stützen, auf die er baut, zerschlägt, und das den so arm gewordenen Menschen dennoch in das Licht des grundlosen göttlichen Erbarmens rückt. Keine menschliche Instanz kann sich

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in dieses Geschehen einmischen, kein Priester, Bischof oder Papst, auch kein Fürst oder Kaiser dazwischentreten. »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.« Frei in seinem Gewissen, frei von jeder Bevormundung, die ihn zur Erlangung seines Heils bestimmte menschliche Wege vorschreibt, frei auch von aller Angst, in der er sich um sich selbst, seinen Lebenssinn, seine Lebensleistung Sorgen machen müsste, kann er sich um den Nächsten kümmern, für seine Aufgaben in der Welt bereitstehen. 2 Glaube, der in der Liebe tätig ist Was hält stand? Woran kann sich ein Mensch noch festhalten, wenn er an sich selbst und an allem, worauf er einmal gebaut hat, verzweifeln muss? Die Antwort, die Luther in den Schriften des Paulus fand, lautete, dass nichts, was ein Mensch in sich oder um sich herum suchen mag, dann noch Halt gibt. Einzig das, was außerhalb seiner Person und seines irdischen Lebens steht, kann ihn durch die letzte Anfechtung hindurchtragen, nämlich die Treue und das grundlose Erbarmen des dem Menschen in Jesus Christus offenbar gewordenen Gottes. Noch in einer viel späteren Schrift, dem großen Kommentar über den Galaterbrief im Jahr 1535, hat Luther diese Antwort in eindrucksvoller Klarheit formuliert: »Aber dies ist der Grund, warum unsere Theologie gewiss ist: Weil sie uns von uns selbst wegreißt und uns außerhalb von uns stellt (et ponit nos extra nos), so dass wir uns nicht mehr stützen auf unsere Kräfte, Gewissen, Sinn, Person, Werke, sondern darauf stützen, was außerhalb von uns (extra nos) ist, das ist die Verheißung und Wahrheit Gottes, die nicht hinfallen kann« (WA 40 I; 589,25–28. Übersetzt).21

Luthers Antwort hat nicht nur im katholischen Raum, sondern auch unter evangelischen Christen immer wieder Kopfschütteln und Ärgernis hervorgerufen. Macht die Lehre von der Rechtfertigung des Menschen »allein aus Gnade« nicht allzu bequeme und faule Leute? Schlägt sie nicht allzu leicht in eine »billige Gnade« um, auf deren Kosten der Mensch ruhig weiter sündigt, selbstzufrieden in seinem alten Leben ver21 Luther hatte im Jahr 1531 die dem Kommentar zugrunde liegende Vorlesung über den Galaterbrief gehalten, die in der Mitschrift Georg Rörers erhalten und in WA 40 I parallel zum Text des Kommentars mit abgedruckt ist (vgl. WA 40 I; 589,8– 10).

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harrt? Der Einwand scheint berechtigt. Und doch ist Widerspruch angesagt. Denn die Lehre Luthers kann auch als ein unerwarteter, wunderbarer Trost vernommen werden und ist durch die Jahrhunderte hindurch auch immer wieder so gehört worden – dort, wo ein Mensch im Abgrund der Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit zu versinken droht. Denn nun wird einmal etwas anderes laut. Hier werden Menschen nicht mit dem drohenden Zeigefinger, dem ewigen »Du sollst«, »eigentlich müsstest du« angesprochen. Hier heißt es einfach nur: »Du darfst«. Du darfst dir etwas schenken lassen. Du darfst das, was du im Urteil Gottes um Jesu Christi willen schon jetzt bist, auch vor dir selbst für wahr und gültig halten. Du darfst »glauben«. Und das heißt bei Luther: an diesem Gnadenwort festhalten, sich darauf verlassen und darin fröhlich sein. Und das gegen allen Augenschein, gegen alles Fühlen und Erfahren, die das Gegenteil zu beweisen scheinen. In einer Predigt über das Auferstehungskapitel 1. Kor 15 hat Luther das Festhalten des Glaubens an Gottes Zusage trotz aller gegenteiligen Erfahrungen mit starken Worten beschrieben: »Das ist wahrlich wahr: wenn’s nach dem Fühlen gälte, so wäre ich verloren, aber das Wort soll über mein und aller Welt Fühlen gelten und wahr bleiben, wie gering es auch scheinet und dazu auch schwächlich von uns geglaubt wird. Denn das Werk sehen und erfahren wir alle, daß uns die Sünde schlechts (schlechterdings) verdammt und zur Hölle verurteilt, der Tod uns und alle Welt frisset, daß ihm niemand entgehen kann. Und du sagst mir vom Leben und Gerechtigkeit, des ich nicht ein Fünklein sehe, und freilich gar ein schwach Leben sein muß? Ja wahrlich ein schwach Leben unseres Glaubens halber, aber wie schwach es ist, wenn nur das Wort und das kleine Fünklein des Glaubens im Herzen bleibt, so soll ein solches Feuer daraus werden des Lebens, das Himmel und Erden füllet und beide, den Tod und alles Unglück, verzehren wie ein Tröpflein Wassers und den schwachen Glauben durchreißen, daß man keine Sünde noch Tod mehr sehen noch fühlen soll. Aber da gehöret ein starker Kampf zu, daß man das Wort behalte wider unser Fühlen und Sehen« (WA 36,497,19ff.). »Was soll ich tun? Soll ich nach solchem Fühlen und meinem Vermögen schließen, so müßte ich und alle Menschen verzweifeln und verderben. Will ich aber, daß mir geholfen werde, so muß ich wahrlich mich herumwenden und nach dem Wort sehen und dem nachsprechen: Ich fühle wohl Gottes Zorn, Teufel, Tod und Hölle, aber das Wort sagt anders, daß ich einen gnädigen Gott habe durch Christum, welcher ist mein Herr über Teufel und alle Kreaturen. Ich fühle und sehe wohl, dass ich und alle Menschen hinunter im Grab verfaulen müssen, aber das Wort sagt anders, daß ich mit großer Herrlichkeit auferstehen und ewig leben soll« (WA 36,495,3ff.).22 22 Aus einer Predigt Luthers über 1. Kor 15 im Jahr 1532. Hier zitiert nach Hans Joachim Iwand, Luthers Theologie, Nachgelassene Werke 5, München 1974, 206f.

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Dieses Sich-Herumwenden ist der Glaube, welcher »rechtfertigt«. Er rechtfertigt nicht deshalb, weil er in sich selbst irgendwie verdienstlich wäre oder Menschen durch ihn irgendeine Würdigkeit erlangten. Er rechtfertigt, weil er das, was bei Gott schon beschlossen, bei ihm schon Wirklichkeit ist, auch in das von Sünde und Todesschrecken entstellte Leben hereinträgt. Er gleicht einer kleinen Tür, durch die der himmlische Glanz Christi, in den gehüllt wir vor Gott stehen dürfen, schon jetzt in unser verdunkeltes Leben scheint. Wo aber dieser Glaube in den Herzen von Menschen aufleuchtet, wo er in ihrem Leben Platz greift, da geschieht tatsächlich etwas. Sie werden frei, Gott in Dankbarkeit zu ehren und ihren Nächsten in Liebe zu dienen. So hat dieser Glaube eine verwandelnde Kraft. Er reißt Menschen aus ihrer Ichbezogenheit heraus und stellt sie in die Weite des Lebens für andere. Im zweiten Teil seiner großen Schrift von der »Freiheit eines Christenmenschen« (WA 7; 20–38/AS I, 238–263) hat Luther diese Freiheit zur Agape entfaltet. »Ein Christenmensch ist« – um des Glaubens willen – »ein freier Herr über alle Dinge«, doch genauso ist er – um der Liebe willen – »ein dienstbarer Knecht aller Dinge«, der dem Nächsten tut, wie Christus ihm getan hat. Wie dieser Glaube wirkt und was er tut, das möge abschließend ein Textabschnitt verdeutlichen, in dem Luther erklärt, was im Römerbrief des Apostels Paulus das Wort »Glaube« bedeutet. Er steht im Vorwort des von Luther auf der Wartburg 1522 ins Deutsche übersetzten Neuen Testaments: »Glaube ist nicht der menschliche Wahn und Traum, den etliche für Glauben halten. Und wenn sie sehen, daß keine Besserung des Lebens noch gute Werke folgen, und doch vom Glauben viel hören und reden können, fallen sie in den Irrtum und sprechen: der Glaube sei nicht genug, man müsse Werke tun, soll man fromm und selig werden. Das macht, wenn sie das Evangelium hören, so fallen sie daher und machen sich aus eigenen Kräften einen Gedanken im Herzen, der spricht: Ich glaube. Das halten sie denn für einen rechten Glauben. Aber wie es ein menschlich Gedicht und Gedanke ist, den des Herzens Grund nimmer erfähret, also tut er auch nichts, und folget keine Besserung hernach. Aber Glaube ist ein göttlich Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott, Joh. 1 (13), und tötet den alten Adam, machet aus uns ganz andere Menschen von Herzen, Mut, Sinn und allen Kräften und bringet den Heiligen Geist mit sich. O, es ist ein lebendig, geschäftig, tätig, mächtig Ding um den Glauben, daß es unmöglich ist, daß er nicht ohne Unterlaß sollte Gutes wirken. Er fraget auch nicht, ob gute Werke zu tun sind, sondern ehe man fragt, hat er sie getan und ist immer im Tun. Wer aber nicht solche Werke tut, der ist ein glaubloser Mensch, tappet und siehet um sich nach dem Glauben und guten Werken und

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weiß weder, was Glaube oder gute Werke sind, wäscht und schwätzt doch viele Worte vom Glauben und guten Werken. Glaube ist eine lebendige, (v)erwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiß, daß er tausendmal drüber stürbe. Und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, trotzig und lustig gegen Gott und alle Kreaturen, welches der Heilige Geist tut im Glauben. Daher der Mensch ohne Zwang willig und lustig wird, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, allerlei zu leiden, Gott zu Liebe und Lob, der ihm solche Gnade erzeiget hat, also daß es unmöglich ist, Werke vom Glauben zu scheiden, ja so unmöglich, wie Brennen und Leuchten vom Feuer kann geschieden werden. Darum siehe dich vor vor deinen eigenen falschen Gedanken und unnützen Schwätzern, die vom Glauben und guten Werken klug sein wollen zu urteilen, und sind die größten Narren. Bitte Gott, daß er Glauben in dir wirke; sonst bleibest du wohl ewiglich ohne Glauben, du dichtest und tuest, was du willst oder kannst.«23

4 Die Kirche in der Verborgenheit und ihre sichtbaren Merkmale Wir können Luthers Neubegründung der Lehre von der Kirche nur verstehen, wenn wir den Hintergrund, von dem sie sich abhebt, mit bedenken. Es ist der Herrschaftsanspruch der mittelalterlichen Kirche, auf die Spitze getrieben in der Bulle »Unam sanctam«, von Papst Bonifaz VIII. am Anfang des vierzehnten Jahrhunderts festgelegt. »Eine heilige, katholische und apostolische Kirche müssen wir anerkennen. Außerhalb ihrer gibt es kein Heil und keine Vergebung der Sünden … Diese eine Kirche hat nur Ein Haupt, nicht zwei Köpfe wie ein Monstrum. Wenn Christus zu Petrus sagte: Weide meine Schafe, so hat er ihm alle, nicht bloß einige übergeben … Dass in der Gewalt dieses Hirten zwei Schwerter seien, ein geistliches und ein weltliches, lehrt uns das Evangelium … Beide Schwerter sind also in der Gewalt der Kirche, das geistliche und das weltliche; dieses muss für die Kirche, jenes von der Kirche gehandhabt werden; das eine von der Priesterschaft, das andere von den Königen und Kriegern, aber nach dem Willen des Priesters und solange er es duldet. Es muss aber ein Schwert über dem andern, die weltliche Autorität der geistlichen unterworfen sein …«24

23 Martin Luther, Vorrede auf die Epistel S. Pauli an die Römer (1522). In: Heinrich Bornkamm (Hg.), Martin Luthers Vorreden zur Bibel, Hamburg 1967, 148f. 24 Vgl. R. Mokrosch / H. Walz, Mittelalter. Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen II, Neukirchen-Vluyn 1980, 157f. Die Übersetzung hier nach H. Schuster u.a. (Hg.), Quellenbuch zur Kirchengeschichte I/II, 8. Aufl., Frankfurt/Berlin/München 1971, 61f.

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Mit diesem theokratisch organisierten Machtapparat hat es Luther zu tun. Ihm bestreitet er immer heftiger, Macht zu haben auch über die Seelen der Menschen. Das beginnt bereits im Sermon von dem Bann, mit dem Luther seine frühere Predigt in deutscher Sprache und inhaltlich erweitert 1520 drucken lässt.25 Es gibt neben der römischen Prachtkirche noch eine andere Gemeinschaft der Heiligen. Sie ist »innerlich, geistlich, unsichtbar im Herzen«, wenn nämlich »jemand durch rechten Glauben, Hoffnung und Liebe eingeleibt ist in die Gemeinschaft Christi und aller Heiligen« (WA 6; 64,3–5). Diese Gemeinschaft kann kein Mensch geben oder nehmen, wie auch kein Bann hier hereinreichen kann. Sondern allein Gott schenkt durch seinen Heiligen Geist diese Gemeinschaft in das Herz des Menschen. Auch in dem ein Jahr später geschriebenen Sermon »Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig« (WA 6; 285– 324/AS III, 8–65) geht Luther von der gleichen Unterscheidung aus. Es gibt verschiedene Weisen, von der Kirche zu reden. Doch so wie die Schrift von der Christenheit redet, ist sie eine Versammlung aller Christgläubigen auf Erden. »Diese Gemeinde oder Versammlung umfasst alle die, die in rechtem Glauben, rechter Hoffnung und rechter Liebe leben, was zur Folge hat, dass der Christenheit Wesen, Leben und Natur nicht eine leibliche Versammlung ist, sondern die Versammlung der Herzen in einem Glauben … Obschon sie also leiblich tausend Meilen voneinander getrennt sind, heißen sie doch eine Versammlung im Geist, weil jeder predigt, glaubt, hofft, liebt und lebt wie der andere, wie wir vom heiligen Geist singen …« (WA 6; 293,1–8/AS III, 19). Bestätigt findet Luther diese Sicht durch das Apostolische Glaubensbekenntnis, in dem es heißt: »Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige katholische (griechisch = allumfassende) christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen«. Nicht zu einem Glauben an die Kirche fordern diese Worte auf, sondern daran, dass es eine heilige, allumfassende christliche Kirche gibt, immer gegeben hat und auch in Zukunft geben wird. Das Apostolikum stellt diese Sätze nun aber, wie Luther bemerkt, in den Glauben. Und das bedeutet, dass auch sie wie all die anderen Sätze, die wir im Apostolikum bekennen, in eine unsichtbare Wirklichkeit hineinweisen, die nicht jedermann vor Augen steht. Luther dazu: »Niemand spricht so: ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige römi25 S. Anm. 18.

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sche Kirche, eine Gemeinschaft der Römer; damit es klar sei, dass die heilige Kirche nicht an Rom gebunden, sondern so weit wie die Welt ist, in einem Glauben versammelt, geistlich und nicht leiblich. Denn was man glaubt, ist weder leiblich noch sichtbar. Die äußerliche römische Kirche sehen wir alle; darum kann sie nicht die rechte Kirche sein, die geglaubt wird. Diese ist eine Gemeinde oder Versammlung der Heiligen im Glauben; aber niemand sieht, wer heilig oder gläubig sei« (WA 6; 300f./AS 31).26 Und doch verflüchtigt sich diese Kirche nicht in der Innerlichkeit vereinzelter Personen. Sie schwebt nicht durch den freien Raum des Geistes erleuchteter Seelen. Sie ist in Raum und Zeit vorhanden. Ja, sie erstreckt sich quer durch den Körper der sichtbaren Kirche hindurch, zwar verborgen und doch erkennbar, nämlich an ganz bestimmten Merkmalen – den »notae ecclesiae« (Merkzeichen der Kirche). Dazu Luther weiter: »Die Zeichen, an denen man äußerlich merken kann, wo diese Kirche in der Welt ist, sind die Taufe, das Sakrament (des Altars) und das Evangelium, nicht aber Rom, dieser oder jener Ort. Denn wo Taufe und Evangelium sind, da soll niemand zweifeln, dass da auch Heilige sind, und sollten es gleich lauter Kinder in der Wiege sein. Rom aber oder päpstliche Gewalt ist nicht ein Zeichen der Christenheit, denn diese Gewalt macht keinen Christen, wie die Taufe und das Evangelium tun« (WA 6; 301,3–8/AS III, 31). Auch Luther gibt eine Bestimmung dessen, was die Kirche Jesu Christi ist. Aber seine »Definition« ist eine völlig andere als die vor ihm in der Papstkirche oder nach ihm in täuferischen Kreisen und anderswo gegebene. Die Kirche Jesu Christi ist nicht an Kirchenhäupter, Gremien, Orte und Zeiten gebunden. Die Frage, ob und wo sie ist, lässt sich aber auch nicht von den Menschen her beantworten, die sich in der Kirche sammeln. Die Kirche Jesu Christi ist nicht eine Gemeinschaft der ethisch Vollkommenen, nicht die Gemeinde der wahrhaft Bekehrten oder jener, die den »richtigen« Glauben für sich reklamieren. Luther bestimmt die Kirche von der anderen Seite her. Wie der einzelne Christ nicht durch seine Werke als Christ definierbar ist, so auch nicht die Gemeinde 26 Luther hat diesen Gedanken öfter geäußert, vgl. WA 7; 684,27ff.: »Alle Christen in der Welt beten also: ›Ich glaub in den heiligen Geist, ein heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen‹. Ist der Artikel wahr, so folget draus, daß die heilige christliche Kirch niemand sehen kann noch fühlen, mag auch nit sagen: ›Sieh, hie oder da ist sie. Dann was man glaubt, das siehet oder empfind’t man nit.‹«

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Christi durch ihre menschlichen Aktivitäten oder Eigenschaften. Allein, was Gott tut und getan hat, ist entscheidend. Er hat seinen Sohn für die Sünde der Welt dahingegeben und hat die Predigt dieser Versöhnungstat gestiftet. Wo sein Wort verkündigt wird, da erweckt es, so Er es will, den Glauben durch die Kraft des Heiligen Geistes. Daher ist die Kirche dort, wo das »Evangelium rein gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden« und wo sich Menschen im Glauben um Wort und Sakrament sammeln.27 »Aber niemand sieht, wer heilig oder gläubig sei« (s.o.). So ist die wahre Kirche keine fest umrissene Größe. Sie erstreckt sich durch alle Völker und Zeiten. Sie ist da und war da, wann und wo die Bibel gelesen und das Evangelium verkündigt wurde und noch immer verkündigt wird. Es hat sie auch im finstersten Mittelalter gegeben, und es wird sie geben, auch wenn die »christlichen Völker« ihre christliche Prägung vergessen haben werden. Freilich war und ist diese Kirche nicht dort, wo sich eine prunkende Kirche selbst in Szene gesetzt hat oder auch heute in Szene setzen will. Sie lebt in aller Verborgenheit, wo zwei oder drei versammelt sind im Namen Jesu Christi (Mt 18,20). Wenn das Wort Gottes im Mittelpunkt evangelischer Lehre steht, kann auch die Erneuerung einer sich an das Evangelium haltenden Kirche nur in der Ausrichtung auf dieses Wort hin geschehen. Das begann in Wittenberg spätestens im Jahr 1518, als der junge Gräzist Melanchthon an die Wittenberger Universität berufen wurde. Der Ruf »Zurück zu den Quellen« verband die Wittenberger Humanisten und Theologen.28 »Die Theologie vermag sich mit Hilfe der Kenntnis des Griechischen und Hebräischen von den scholastischen Glossen zu lösen. Wenn man sich den Quellen zuwendet, beginnt man Christus zu schme27 Vgl. den Wortlaut des Artikels VII »Von der Kirche« aus der Confessio Augustana (CA), die der sächsische Kurfürst auf dem Reichstag zu Augsburg im Jahr 1530 dem Kaiser und den Ständen und Fürsten des Reiches vorlegte. Im Jahr 1555 beim Augsburger Religionsfrieden wurde dieses Bekenntnis reichsrechtlich anerkannt und damit das lutherische Bekenntnis offiziell geduldet. In den lutherischen Kirchen gehört die Confessio Augustana bis heute zu den Bekenntnisschriften. Vgl. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition Göttingen 2014, 84–224. Art. VII »Von der Kirche«, 102f. 28 Vgl. Martin Brecht, Martin Luther 1. Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 1981. Daraus: Universitäts- und Wissenschaftsreform im Bund mit dem Humanismus, 264–271.

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cken.« So referiert Martin Brecht Melanchthons Wittenberger Antrittsvorlesung,29 die Luther und seine Freunde mit Begeisterung aufgenommen hatten. Die zukünftigen Prediger sollen die Bibel in ihrer Ursprache lesen können und so durch alle Übermalungen hindurch zur göttlichen Wahrheit vordringen. Doch woher sollte Luther beim Versuch, die Gemeinden zu erneuern, evangelische Prediger nehmen? Die Priester der bisherigen Kirche waren gewohnt, die Messe zu lesen. Sie kannten den Messkanon und die liturgischen Stücke des Gottesdienstes, die Bibel, wenn überhaupt, nur in der Übersetzung der Vulgata. Konnten sie wie auch all jene, die nun aus den Klöstern herbeieilten und Arbeit und Brot suchten, die Schrift nach evangelischer Lehre auslegen? Luther sinnt auf Abhilfe und beginnt noch auf der Wartburg mit der Arbeit an einer »Kirchenpostille«, in der er den Predigern für die Advents- und Weihnachtszeit Predigten zu den Epistelund Evangelientexten der einzelnen Sonn- und Festtage vorlegt. Zu Beginn des Jahres 1524 kommt dann noch eine Fasten-Postille hinzu, in der Predigten für die Fastenzeit bis Ostern enthalten sind.30 Diese Postillen sind nicht nur um der Prediger willen geschrieben, »die es nicht besser kunden«. Luther möchte auch verhindern, »das eyn iglicher predigen wird, was er wil, und an stat des Evangelij und seyner auslegunge widderumb von blaw endten gepredigt wird« (Bemerkung in: Deutsche Messe, WA 19; 95,12–14). Und wie bringt man das Evangelium unter die Leute, in die Herzen der im alten Glauben erzogenen Christen? Schon sehr früh lässt Luther ein Gesangbuch zusammenstellen, in dem zunächst acht, dann über dreißig Lieder enthalten waren: Psalmennachdichtungen, Übersetzungen lateinischer Hymnen, eigene Lieddichtungen, oftmals vertont nach bekannten Hymnen und Liedweisen, vom Mitglied der sächsischen Hofkapelle Johann Walther sogar in vierstimmige Liedsätze gesetzt.31 Alle seine Freunde fordert Luther auf, neue Lieder zu dichten. Auch er selbst geht

29 A.a.O., 267f. 30 Abdruck der Advents- und Weihnachtspostille in WA 10/I.1 und 10/I.2, der Fastenpostille in: WA XVII/II. Freunde haben dann diese Arbeit fortgesetzt, indem sie auch für die anderen Sonntage im Kirchenjahr Texte aus mitgeschriebenen Predigten Luthers zusammenstellten. 31 Vgl. Martin Brecht, in: Martin Luther 2. Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, 132–138. Daraus: Die deutschen geistlichen Lieder, 132–138.

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mit gutem Beispiel voran. Und das neue Lied verbreitet sich. Lutherisch gesinnte Gemeinden erkennt man in der Folgezeit daran, dass sie singen. Doch noch wichtiger ist die Unterrichtung der Laien. Wenn nach der neuen Lehre jeder für sich selbst Antwort geben muss auf den Zuspruch des Evangeliums, wenn keine kirchliche Autorität mehr vorschreibt, was der Einzelne für sein Seelenheil tun soll, muss er auch wissen und begriffen haben, worum es im Evangelium geht. Dazu muss jeder Mensch die Bibel lesen können. So macht sich Luther schon auf der Wartburg daran, die Bibel, zunächst das Neue Testament, in die deutsche Sprache zu übersetzen. Damit auch die heranwachsende Jugend zum Lesen der Bibel fähig wird, sollen die Ratsherren Schulen einrichten, in denen alle Kinder, auch die Mädchen, unterrichtet werden.32 Aber die Menschen müssen das, was ihnen gepredigt und vorgelesen wird, auch begreifen. Dazu schreibt Luther nach den verheerenden Erfahrungen, die die kurfürstlichen Visitationen (ab 1527) hinsichtlich der Unwissenheit der Pfarrer und des Kirchenvolks aufgedeckt haben, zwei Katechismen, einen ausführlichen für Erwachsene und den kleinen Katechismus für die Kinder. In ihnen ist elementar zusammengefasst, was ein jeder Christ »zur Not« wissen muss,33 worüber er Auskunft geben können soll, was ihm aber auch in der eigenen Anfechtung, bis in die Sterbestunde hinein, den Trost des Evangeliums schenkt. In diesem Sinn hat Luther schon bei der Rückkehr von der Wartburg, als er das Chaos und den Bildersturm in Wittenberg stoppen musste, seine erste »Invokavitpredigt« begonnen. »Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert, und keiner wird für den andern sterben, sondern jeder in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen. In die Ohren können wir wohl schreien, aber ein jeder muß für sich selbst geschickt sein in der Zeit des Todes: Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir. Hierin muß jedermann die Hauptstücke, die einen Christen angehen, genau wissen und gerüstet sein« (WA 10 III; 1–64: 1f./AS I, 270–307: 271).34

32 Vgl. Luthers Schriften »An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen« 1524, WA 15; 27–53, und: »Eine Predigt Martin Luthers, daß man Kinder zur Schule halten solle« 1530, WA 30 II; 517–588/AS V, 40–72 und 90–139. 33 Vgl. »Der große Catechismus Deutsch. Kurtze Vorrede« 529, Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 912f. 34 Eine Woche lang, am Sonntag »Invokavit«, dem ersten Sonntag der Passionszeit, beginnend, predigte Luther an jedem Tag in der Stadtkirche und konnte so den Aufruhr überwinden. Vgl. »Acht Sermone D. Martin Luthers, von ihm gepredigt zu Wittenberg in der Fastenzeit 9. –16. März 1522«.

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Die evangelische Kirche, wie Luther sie sich wünscht, hat er im Vorwort zur Deutschen Messe 1526 beschrieben. Allerdings fügt er auch hinzu, dass er die Leute noch nicht habe, mit denen eine solche Ordnung eingerichtet werden könnte: »Aber die dritte Art, die die richtige Art der evangelischen Ordnung haben sollte, dürfte nicht so öffentlich auf dem Platz geschehen unter allerlei Volk. Sondern diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen und das Evangelium mit Hand und Mund bekennen, müßten sich namentlich einschreiben und irgendwo in einem Haus allein sich versammeln zum Gebet, zum Lesen, zum Taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werke auszuüben … Kurz, wenn man die Leute und Personen hätte, die mit Ernst Christen zu sein begehren, so wären die Ordnungen und Weisen bald gemacht« (WA 19; 72–113: 75,3ff./AS V, 74–82: 77f.).

Erst in seiner späten Schrift »Von den Konziliis und Kirchen« beschreibt Luther im Jahr 1539 ausführlicher, wie er sich eine evangelisch ausgerichtete Gemeinde vorstellt (WA 50; 488–653).35 Hier nennt er insgesamt sieben »äußere Zeichen«, an denen man die heilige, christliche Kirche erkennen kann. Sie sind: Gottes Wort, Taufe, Abendmahl, die Schlüsselgewalt nach Mt 18,18, das Predigtamt, der öffentliche Gottesdienst, aber auch das Kreuz, das Christen um ihres Glaubens willen erleiden. Weil von Gott gesetzt, sind dies die eindeutigen und sicheren Merkmale, an denen man erkennen kann, ob eine christliche Gemeinde vorhanden ist oder nicht. Doch auch das Leben der Christen, ihr Umgang miteinander und wie sehr ihr Tun und Lassen den Geboten Gottes im Dekalog entsprechen, kann ein – wenn auch nicht so eindeutiges – Indiz für das Dasein einer christlichen Gemeinde sein (WA 50; 643). Denn »Kirche« ist und bleibt für Luther das »heilige, christliche Volk Gottes«, in dem Christus lebt, wirkt und regiert durch Gnade und Vergebung der Sünde.36 »Aber Ecclesia soll heißen das heilig Christlich Volk, nicht allein zur Apostel Zeit …, sondern bis an der Welt Ende, dass also immerdar auf Erden im Leben sei ein christlich heilig Volk, in welchem Christus lebt, wirkt und regiert per redemptionem (durch Versöhnung), durch Gnade und Vergebung der Sünden, und der Heilige Geist per vivificationem et sanctificationem (durch das Lebendigmachen und Heiligen), durch tägliches Ausfegen der Sünden und Er35 Die Kennzeichen der heiligen christlichen Kirche sind beschrieben im dritten Teil dieser Schrift, vornehmlich 628–643. Dieser dritte Teil ist auch abgedruckt in: AS V, 182–221. 36 Daher ist die Bemerkung von Heinz Schilling, a.a.O., 426, nur zu unterstreichen: »Zeitlebens sah der Reformator Kirche vor allem in der Gemeinde gegenwärtig und nicht in Amtshierarchien oder kirchlicher Bürokratie.«

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Gisela Kittel neuerung des Lebens, dass wir nicht in Sünden bleiben, sondern ein neues Leben führen können und sollen in allerlei guten Werken, und nicht in alten bösen Werken, wie die Zehn Gebote oder die zwei Tafeln des Mose fordern« (WA 50; 625, 21–29).

5 Das Priestertum aller Glaubenden und das Predigtamt Luthers im Jahr 1520 das ganze Reich aufwühlende Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung« (WA 6; 404–469/AS I, 150–237) beginnt mit einem Fanfarenstoß. »Die Zeit des Schweigens ist vergangen, und die Zeit zu reden ist gekommen, wie der Prediger Salomo sagt« (3,7).37 Abgeschottet hat sich die römische Kirche und hinter hohen Mauern verschanzt, sodass sie niemand angreifen, niemand reformieren kann. Wenn man sie mit weltlicher Macht hat bedrängen wollen, sagten der Papst und seine Theologen, dass das weltliche Recht keine Gewalt über sie habe, sondern die geistliche Macht über der weltlichen stehe. Versuchte man, ihnen die Heilige Schrift entgegenzuhalten, behaupteten sie, es gebühre niemandem die Schrift auszulegen als dem Papst. Drohte man schließlich mit einem Konzil, so erdichteten sie, dass niemand ein Konzil einberufen könne als wiederum der Papst. So haben sie sich in eine sichere Burg hinter diese drei Mauern gesetzt und unangreifbar gemacht. Doch Luther hat vor, diese Mauern zu durchbrechen. »Nun helf uns Gott und geb’ uns eine der Posaunen, mit denen die Mauem von Jericho umgeworfen wurden (Jos. 6,20), daß wir diese strohernen und papierenen Mauern auch umblasen und die christlichen Ruten, um Sünde zu strafen, losmachen, um des Teufels List und Trug an den Tag zu bringen, damit wir durch Strafe uns bessern und seine Huld wiedererlangen« (WA 6; 407,4–8/AS I, 155).

Die erste Mauer, die Luther zum Einstürzen bringen will, ist die mittelalterliche Ständelehre, die Unterscheidung zwischen der Geistlichkeit und dem weltlichen Stand. Durch die Weihehandlung der Priesterweihe ist der Klerus mit einer besonderen Heilsgnade ausgestattet, die ihm ein eingedrücktes, unzerstörbares Prägemal (character indelebilis) verleiht. Daher können nur Priester die Messe lesen, die Sakramente spenden, die Beichte abnehmen, predigen, absolvieren und überhaupt alle wesentlichen Funktionen in der Kirche ausführen. Doch wo bleibt in diesem 37 Beginn des Widmungsschreibens an den Kollegen Nikolaus von Amsdorf, WA 6; 404,11f./AS I, 150.

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Lehrsystem die Taufe? Sind nicht alle Christen getauft und haben damit das priesterliche Vorrecht, sich Gott nahen zu dürfen und seine Gnade zu verkünden, empfangen? »Man hat’s erfunden, daß Papst, Bischöfe, Priester und Klostervolk der geistliche Stand genannt werden, Fürsten, Herren, Handwerks- und Ackersleute der weltliche Stand, was eine gar feine Erdichtung und Heuchelei ist. Doch soll sich niemand dadurch einschüchtern lassen, und zwar aus diesem Grund: Alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes, und es ist zwischen ihnen kein Unterschied als allein des Amts halber, wie Paulus 1. Kor,12,12ff sagt, daß wir allesamt ein Körper sind, doch jedes Glied sein eigenes Werk hat, womit es den andern dient. Das alles kommt daher, daß wir eine Taufe, ein Evangelium und ein Glaubensbekenntnis haben; denn die Taufe, das Evangelium und das Glaubensbekenntnis, die machen allein geistlich und Christenvolk. (WA 6; 407,10–19/AS I, 155)

Aus diesem Blickwinkel gesehen, gehören auch die in ihren weltlichen Berufen lebenden Christen dem geistlichen Stand an. Daher können und sollen auch sie sich um den Schaden der Kirche kümmern. »Weil denn nun die weltliche Gewalt wie wir getauft ist und dasselbe Glaubensbekenntnis und Evangelium hat, müssen wir sie Priester und Bischöfe sein lassen und ihr Amt zählen als ein Amt, das der christlichen Gemeinde gehört und nützlich ist. Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, daß es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht jedem ziemt, solches Amt auszuüben. Denn weil wir alle gleichermaßen Priester sind, darf sich niemand selbst hervortun und sich unterwinden, ohne unsere Einwilligung und Wahl das zu tun, wozu wir alle gleiche Vollmacht haben. … So folgt daraus, daß zwischen Laien, Priestern, Fürsten, Bischöfen und, wie sie sagen, Geistlichen und Weltlichen im Grunde wahrlich kein anderer Unterschied besteht als des Amts oder Werks halber und nicht des Stands halber. Denn sie sind alle geistlichen Stands, wahrhaftig Priester, Bischöfe und Päpste, aber nicht gleichen, einerlei Werks, wie auch unter den Priestern und Mönchen nicht jeder dasselbe Werk zu tun hat« (WA 6; 408,8ff./AS I, 156f.).

Luther geht es in der Adelsschrift darum, dass die weltliche Gewalt ihr Amt frei ausüben soll quer durch den ganzen Körper der Christenheit hindurch. Wer schuldig ist, der leide. Ein »Geistlicher« ist genauso der weltlichen Gerichtsbarkeit unterworfen wie jeder andere. Aber es geht um noch mehr. Da der Papst versagt und der Christenheit »anstößig« geworden ist, sollen nun die weltlichen Fürsten einspringen und sich darum kümmern, dass ein freies Konzil abgehalten wird, weil sie »nun auch Mitchristen sind, Mitpriester, mitgeistlich, mitmächtig in allen Dingen« (WA 6; 413,30f./AS I, 165).38 38 Im zweiten Teil der Schrift zählt Luther dann all die Missstände geistlicher und

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In Luthers Adelsschrift ging es darum, dass die weltliche Macht, Kaiser und Fürsten, der ganze Adel deutscher Nation, von der Bevormundung und Vorherrschaft des Klerus befreit würde. Als Mitchristen sollten sie nicht untätig bleiben, sondern sich in der gegenwärtigen Notsituation um den Schaden der Kirche kümmern. Aber die Bestreitung der Lehre von den zwei Ständen, die Aufhebung der Schranke zwischen Laien und Priestern, war so grundsätzlich und von so einschneidender Art, dass sie sich auch in andere Bereiche hinein auswirken musste. Das geschah, als Luther nach Rückkehr von der Wartburg damit begann oder besser: beginnen musste, Gemeinden, die bisher nach alter Ordnung von Messpriestern versorgt wurden, nach der neuen evangelischen Lehre zu reformieren. Dabei ging die Initiative in den meisten Fällen nicht von Luther aus. Die Bitten um Hilfe, die Anfragen, wie sich der Rat eines Ortes in dieser oder jener Frage verhalten sollte, forderten ihn heraus, die Lehre von der freien Gnade bis hinein in die Ordnung einer Gemeinde, ihres Gottesdienstes, ihrer sozialen Regelungen zu bedenken. So geschah es auch, als sich das Städtchen Leisnig (zwischen Leipzig und Dresden gelegen) im Jahr 1523 an ihn wandte. Auch in Bezug auf die Schriften, die Luther dem Rat und der Gemeinde in Leisnig schrieb, ist es hilfreich, die Situation zu kennen, in der diese Schriften entstanden.39 In der Stadt hatte sich die evangelische Lehre ausgebreitet. Sie wollte einen evangelischen Prediger haben. Doch die Pfarrei war einem benachbarten Zisterzienserkloster zugehörig, das damit auch das Recht der Pfarrbesetzung hatte. Wie aber konnten und durften der Rat und mit ihm die kirchliche Gemeinde40 ihre Pfarrstelle gegen den Willen des Klosters, und also gegen das geltende Kirchenrecht, mit einem evangelischen Prediger besetzen? In der Schrift »Daß eine christliweltlicher Art auf, die auf dem Konzil behandelt werden sollen. Es sind »Gravamina«, die auch schon vor ihm in einer breiten Öffentlichkeit gegenüber Rom beklagt wurden. 39 Vgl. dazu Heinrich Bornkamm, Martin Luther in der Mitte seines Lebens. (Aus dem Nachlass herausgegeben von Karin Bornkamm), Göttingen 1979, 115–119. Martin Brecht, Martin Luther 2. Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, 75–77. 40 Zum Verständnis der politischen und kirchlichen Verhältnisse ist der Hinweis von Heinrich Bornkamm, a.a.O., 114, sehr wichtig: Der Rat ist für Luther der Mund der Gemeinde. »Sie hatte ja keinen anderen. Wenn der Rat einer Stadt einen Prediger des Evangeliums verlangte, so tat es durch ihn die Stadt als christliche Gemeinde. Für Luther wie für seine Zeit fallen bürgerliche und kirchliche Gemeinde noch nicht auseinander.«

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che Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursache aus der Schrift« 1523 (WA 11; 408–416/AS V, 8–18) nimmt Luther zu dieser schwierigen Frage Stellung. Auch hier kommt der Grundgedanke des Priestertums aller Glaubenden zum Tragen, jetzt auf die Freiheit zur Pfarrerwahl ausgerichtet. Zunächst wiederholt Luther auch in dieser Schrift sein Verständnis der Kirche: »Aufs erste ist es vonnöten, daß man wisse, wo und wer die christliche Gemeinde sei, auf daß nicht, wie es die Unchristen allezeit gewohnt sind, unter dem Namen der christlichen Gemeinde Menschen menschliche Vorhaben betreiben. Daran aber soll man die christliche Gemeinde mit Gewißheit erkennen, daß da das reine Evangelium gepredigt wird. Denn gleichwie man an dem Heerbanner als einem bestimmten Zeichen erkennt, was für ein Herr und Heer zu Felde liegt, so erkennt man auch mit Bestimmtheit an dem Evangelium, wo Christus und sein Heer liegt. Dafür haben wir eine feste Verheißung Gottes, Jes. 55,10f: ›Mein Wort, spricht Gott, das aus meinem Mund geht, soll nicht leer wieder zu mir kommen, sondern wie der Regen vom Himmel auf die Erde fällt und macht sie fruchtbar, so soll mein Wort auch alles ausrichten, wozu ich’s aussende.‹ Daher sind wir sicher, daß es unmöglich ist, daß da, wo das Evangelium im Gang ist, keine Christen sein sollten, wie wenige es auch immer sein und wie sündlich und mangelhaft sie auch sein mögen; gleichwie es unmöglich ist, daß da, wo das Evangelium nicht im Gang ist und Menschenlehren regieren, Christen sein sollten und nicht bloß Heiden, wie viele es auch immer sein mögen und wie heilig und gut auch immer ihr Wandel sei« (WA 11; 408,5–21/AS V, 8).

Weil die Evangeliumsverkündigung allein Ursprung und Ausweis einer christlichen Gemeinde ist, kann und darf man sich, so argumentiert Luther, in den Fragen der Lehrbeurteilung, der Ein- und Absetzung von Lehrern und Seelsorgern gar nicht nach menschlichen Gesetzen, Recht und Herkommen richten. Allein die Schrift kann hier Wegweisung geben. Und sie tut es. Etwa in dem großen Hirtenkapitel Joh 10, wo Christus davon spricht, dass die Schafe die Stimme des guten Hirten hören und ihm folgen, dass sie aber vor der Stimme eines Fremden und Mietlings fliehen. »Hier siehst du ganz klar, wer das Recht hat, über die Lehre zu urteilen: Bischof, Papst, Gelehrte und jedermann hat die Vollmacht zu lehren, aber die Schafe sollen urteilen, ob sie die Stimme Christi oder die Stimme der Fremden lehren.« (WA 11; 409,26–28/AS V, 10) Daraus folgt nach Luther, dass sich eine christliche Gemeinde, »die das Evangelium hat«, aller kirchlichen Obrigkeit entziehen muss, die gegen Gott und sein Wort lehrt und regiert. Weil die Gemeinde aber dennoch nicht ohne Gottes Wort sein kann, so müssen wir, so sagt Luther weiter, »uns nach der Schrift verhalten und unter uns

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selbst diejenigen berufen und einsetzen, die man dazu geeignet findet und die Gott mit Verstand erleuchtet und mit Gaben dazu geziert hat«. (WA 11; 411/AS V,13) »Denn das kann niemand leugnen, daß ein jeglicher Christ Gottes Wort hat und von Gott gelehrt und zum Priester gesalbt ist, wie Christus spricht Joh.6,45: ›Sie werden alle von Gott gelehrt sein‹, und Ps. 45,8: ›Gott hat dich gesalbt mit Freudenöl vor allen deinen Mitgenossen.‹ Diese Mitgenossen sind die Christen, Brüder Christi, die mit ihm zu Priestern geweiht sind, wie auch Petrus sagt I. Petr. 2,9: ›Ihr seid das königliche Priestertum, daß ihr verkündigen sollt die Tugend des, der euch berufen hat zu seinem wunderbaren Licht.‹« (WA 6; 411f./AS, V, 13)

Luther geht in den Anfangsjahren der Neugestaltung christlicher Gemeinden davon aus, dass solche Gemeinden, die sich der reformatorischen Bewegung anschlossen, auch das Evangelium »haben«, dass sie die Stimme des guten Hirten heraushören und daher die falschen Prediger fliehen. Wie aber ist es, wenn sich die Situation umkehrt? Wenn eine evangelische Gemeinde bzw. ihr Amtmann einen Prediger nicht mehr haben will, weil sie seine an der Schrift ausgerichtete Predigt nicht mag, weil er ihr zu streng ist oder sie sonst etwas an ihm auszusetzen hat? In den späteren Jahren seines Lebens ist auch Luther mit dieser ganz anderen Situation konfrontiert worden. So tritt nun in den Vordergrund, worum Luther auch früher wusste,41 was aber nun ganz neues Gewicht bekommt: Einsetzung und Stiftung des Predigtamtes durch Gott selbst. Als Beispiel seien hier Auszüge aus einem Brief Luthers aus dem Jahr 1543 wiedergegeben.42 Luther vermahnt in diesem Schreiben voller Zorn den Amtmann und Rat der Stadt Creuzburg, weil diese ihren Pfarrer vertreiben wollen. Nicht etwa, weil er eine falsche Lehre verbreitete oder einen anstößigen Lebenswandel führte, soll der Prediger Georg Spenlein (wir kennen ihn als Luthers ehemaligen Klosterbruder) gehen, sondern allein deshalb, weil die Angesprochenen »einen Gram auf ihn geworfen haben«. 41 Lesenswert ist Luthers ausführliches Lob auf das Predigtamt, in: »Ein Sermon oder eine Predigt, dass man Kinder zur Schule halten solle« 1530, WA 30 II; 517–588: 526–553/AS V, 90–139: 98–116. 42 WA Br 10, Nr. 3844, 252–258 (Wiedergabe unten nach heutiger Schreibweise). Eberhard Dietrich hat in mehreren Veröffentlichungen zum Thema heutiger Pfarrerabsetzungen auf diesen Brief und andere Briefe Luthers hingewiesen. Vgl. »Wider Kirchenraub und Kläffer. Luthers Ablehnung einer Zwangsversetzung von Pfarrern«, in: DPfBl 10/2008 oder ders., Die bessere Gerechtigkeit. Plädoyer für ein Pfarrdienstrecht, das Bibel und Bekenntnis gerecht wird, Gabriele Schäfer Verlag 2010, 16f.

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»… Ich hoffe ja, Ihr werdet so viel christlichen Verstand haben, dass ein Pfarramt, Predigtamt und das Evangelium sei nicht unser, noch eines Menschen, ja auch keines Engels, sondern allein Gottes unseres Herren, der es mit seinem Blut uns erworben, geschenkt und gestiftet hat zu unserer Seligkeit. Darum er gar hart urteilt (über) die Verächter und spricht: ›Wer euch verachtet, der verachtet mich‹ … So habt Ihr auch das zu bedenken, weil da kein andere Ursache und Schuld ist, denn dass Ihr einen Gram auf ihn geworfen habt, ohne sein Verdienst, ja um seines großen Verdiensts und treuen Predigt willen, dass es nicht zu tun noch möglich sein will, um eures Grams und Vornehmens willen, einem solchen wohlbezeugten Pfarrer Gewalt und Unrecht zu tun und mit Dreck auszuwerfen … Dazu wenn der gemeine Mann und die liebe Jugend solch gräulich Exempel sehen würde, dass man gelehrte, fromme Pfarrer für ihre Mühe und treuen Dienst also mit Dreck und Schanden belohnt, wer will ein Kind zur Schule ziehen? Wer will mit seiner Kost (auf seine Kosten) studieren? Wo wollen wir denn Pfarrer hernehmen? Ja diesen Schaden sucht der Teufel durch solch euer und euresgleichen Mutwillen … Ihr seid nicht Herren über die Pfarreien und das Predigtamt, habt sie nicht gestiftet, sondern allein Gottes Sohn, habt auch nichts dazu gegeben, und viel weniger Recht daran, als der Teufel am Himmelreich, sollt sie nicht meistern noch lehren, auch nicht wehren zu strafen, denn es ist Gottes und nicht Menschen Strafe … Euer keiner ist, der es leiden kann, dass ein Fremder ihm seinen Diener beurlaubt oder verjagt, den er nicht entbehren könnte. Ja es ist kein Hirtenbube so gering, der von einem fremden Herrn ein krummes Wort litte, allein Gottes Diener, der soll und muss jedermanns Hoddel (Lump) sein, und alles von jedermann leiden. Dagegen man nichts von ihm, auch nicht Gottes eigenes Wort will oder leiden kann. Solche Vermahnung, bitte ich, wollet gütlich verstehen, die ich treulich meine. Denn es ist Gottes Vermahnung« (WA Br 10; 257f.).

Seit den Anfangsjahren der reformatorischen Bewegung haben sich die Zeiten geändert. Und so ist nun auch Luthers Vermahnung eine andere geworden. Das Predigtamt ist eine Stiftung Gottes, so betont er jetzt. Der Prediger steht der Gemeinde gegenüber und kann nicht, wenn er die reine Lehre vertritt und untadelig lebt, einfach verjagt werden. Wer das tut, vergreift sich an Gottes Diener und missachtet das Amt, das er zur Erhaltung des unverfälschten Evangeliums eingesetzt hat. Es »taugt nicht, dass ein jeder, Amtmann, Richter oder Ratsherr, wollt einen Pfarrer (wozu er kein Recht noch Fug noch Sache hat) nach seiner Laune freventlich vertreiben«.43 Die hier besprochenen Aussagen Luthers klingen widersprüchlich. Und doch kommen sie aus derselben Wurzel. Es geht um das Wort Gottes. Es 43 Amtmann, Richter oder Ratsherr handelten in jenen frühen Jahren der Reformation in Vertretung der Gemeinden. S.o. Anm. 41. Sie waren also die »Kirchenvorstände«.

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geht um das unverfälschte Evangelium. Weder darf ein Prediger seine Grenzen überschreiten, seine menschlichen Einfälle und Doktrinen einer Gemeinde aufnötigen und über sie herrschen wollen, noch kann sich eine Gemeinde oder können sich diejenigen, die sie vertreten, über ihren Pfarrer stellen. Sie können und dürfen ihm nicht vorschreiben wollen, wie er anders predigen oder Seelsorge üben soll, wenn er es gemäß seinem Auftrag bisher redlich getan hat. Beide, Prediger und Gemeinde, sind dem Wort Gottes unterworfen. Keiner kann Herr über den anderen sein. Denn der eine Herr, vor dem sich alle zu verantworten haben, ist Jesus Christus allein. Luther hat keine dogmatischen Werke geschrieben. Dazu hatte er keine Zeit und dazu war er wohl auch nicht der Mann. Immer wieder neu und anders herausgefordert, hat er für die Wahrheit des Evangeliums von der den Menschen richtenden und zugleich rettenden Gnade Gottes in Jesus Christus gekämpft. Daher muss, wer ihn verstehen will, auch immer die Situation mitdenken, in die hinein Luther redet. Tut man das, kann man entdecken, dass alle seine Worte derselben Quelle entspringen. Was Luther einst im Turmstübchen des Wittenberger Klosters aufgegangen war und er selbst als »Tor zum Paradies« bezeichnete, hat ihn sein Leben lang nicht losgelassen. In der Vorrede zu seinem großen Galaterkommentar 1535 hat er selbst dies so formuliert: »Denn in meinem Herzen regiert dieser eine Artikel, der Glaube an Christus, aus dem, durch den und in den alle meine theologischen Gedanken fließen und zurück fließen bei Tag und bei Nacht; und ich glaube doch nicht, von der so hohen und weiten und tiefen Weisheit etwas begriffen zu haben als nur ein paar schwache und arme Anfänge und gleichsam Fragmente.«44

44 WA 40 I, 33, 7ff.: »Nam in corde meo iste unus regnat articulus, scilicet Fides Christi, ex quo, per quem et in quem omnes meae diu noctuque fluunt et refluunt theologicae cogitationes, nec tamen comprehendisse me experior de tantae altitudinis, latitudinis, profunditatis sapientia nisi infirmas et pauperes quasdam primitias et veluti fragmenta.«

Eberhard L.J. Mechels

Reformierte Akzente

1 Was ist »reformiert«? 1.1 Was der Ausdruck »reformiert« bedeutet Was der Ausdruck »reformiert« bedeutet, erschließt sich uns, wenn wir in die Geschichte des 16. Jahrhunderts schauen. Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts hatten nicht die Absicht, eine neue Kirche zu gründen, sondern sie wollten ihre Kirche von Grund auf erneuern durch Rückbesinnung und Konzentration auf das, was das Leben der Kirche und den Glauben der Christen trägt: allein das Wort, allein Jesus Christus, allein die Gnade, allein der Glaube. Es war der Wille, die Kirche »von tödlichen Krankheiten zu reinigen«, wie Johannes Calvin sagte. Dass aus der Reformationsbewegung eigenständige Kirchen hervorgingen, war auch in der Reformunwilligkeit der römisch-katholischen Kirche begründet. »Reformiert« nannten sich im 16. Jahrhundert zunächst alle Gemeinden, die evangelisch wurden, es bedeutete also dasselbe wie »protestantisch« oder »evangelisch«. Als konfessionelle Bezeichnung für eine der innerprotestantischen Gruppen (wie wir heute den Ausdruck »reformiert« gebrauchen) setzte sich der Ausdruck »reformiert« erst in den 70er-Jahren des 16. Jahrhunderts durch, nachdem die Bezeichnung »lutherisch« üblich geworden war für Gemeinden und Kirchen, die sich an Luthers Reformation und Lehre orientierten.

1.2 Evangelische des Übergangs bzw. der zweiten Generation Evangelische des Übergangs bzw. der zweiten Generation sind die Reformierten, (Luther ist 1483 geboren, Calvin 1509), das bedeutet: Sie sind evangelisch und teilen mit den Lutheranern die gleichen Grundüberzeu-

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gungen von den evangelischen Wahrheiten, die die Reformation Martin Luthers neu ans Licht gebracht hat. Es ist wichtig, diese grundsätzliche Gemeinsamkeit zuerst in den Blick zu nehmen, um die Unterschiede und die eigenständigen Profile der evangelischen Konfessionen richtig einordnen zu können. Die Reformatoren der zweiten Generation nach Luther standen vor anderen, neuen Herausforderungen, die Situation war anders: Die Gegenbewegung (Gegenreformation) der katholischen Kirche und die zunehmende Verweltlichung des Lebens (Säkularismus), die sich äußerte in schlimmen gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Missständen, drängten andere Fragen in den Vordergrund und riefen nach neuen Antworten. Die Frage Luthers: »Wie kann ich der Gnade Gottes gewiss werden?« behält ihr Recht, und der Heidelberger Katechismus, die wichtigste reformierte Bekenntnisschrift, fragt ebenso: »Wie bist du gerecht vor Gott?« Und er antwortet wie Luther: »Allein durch wahren Glauben …« (Frage 60).

1.3 Die Frage nach den Konsequenzen. Zu dieser grundsätzlichen Gemeinsamkeit kommt aber jetzt ein anderer wichtiger Aspekt, und dessen Bedeutung hängt mit der veränderten geschichtlichen Lage der zweiten Generation zusammen: Welche Konsequenzen hat diese Rechtfertigung des Menschen allein durch die Gnade? Welche Kraft der Veränderung wird in meinem ganz persönlichen Leben freigesetzt, wenn dieses radikal Umstürzende, dieses Wunder in meinem Leben Ereignis wird, wenn ich gewiss sein darf, dass ich ein von Gott aus Gnade angenommener Mensch bin? Was bedeutet es für das Leben und die Gestaltung der christlichen Gemeinde, dass der Sohn Gottes sie zum ewigen Leben erwählt hat und dass er sie versammelt, schützt und erhält? Was bedeutet es für das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft, dass es da eine Gruppe von Menschen gibt, die mit ihrem ganzen Leben zeigen, dass sie Gott dankbar sind, die die Majestät des Herrn der Welt preisen, weil er solche Wohltat ihnen erwiesen hat? Kurz: Neben das Thema »Unverdiente Annahme des Menschen durch Gott« (»Rechtfertigung des Sünders«) tritt mit neuem Gewicht das andere Thema: »Umkehr« (»Heiligung des Gerechtfertigten«); neben das Thema »Glaube« das andere Thema: »Gehorsam«; neben die Frage nach dem, was Gott für uns getan hat, die Frage nach dem, was Gott von uns erwartet,

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nach seinen Geboten; neben die Frage nach dem Grund der Kirche die Frage nach ihrer rechten Gestalt; neben das Kapitel »Von des Menschen Erlösung« das andere Kapitel »Von der Dankbarkeit«. Daraus ergeben sich Besonderheiten, die zusammengenommen das reformierte Profil ausmachen. Zu diesen Besonderheiten – um zunächst das zu erwähnen, was ins Auge fällt, wenn wir eine reformierte Kirche betreten – gehört die hervorgehobene Bedeutung des Bilderverbots. Reformierte Kirchen sind schlichte, schmucklose, bilderlose Räume. Diese Nüchternheit ist Ausdruck eines zentralen Anliegens: Es soll nichts von der Konzentration des Hörens auf das Wort Gottes ablenken. Und wenn wir den Heidelberger Katechismus neben den kleinen oder großen Katechismus Martin Luthers legen, dann fällt sofort auf: Da hat Luther – der mittelalterlichen Tradition folgend – das Bilderverbot weggelassen und dafür das zehnte Gebot in zwei Gebote aufgeteilt. So kam er am Ende wieder auf zehn. Er meinte, dass er dafür gute Gründe hat. Denn Bilder als göttlich anbeten und ihnen dienen, das bedeutet ja, neben Gott noch andere Götter zu verehren. Und das ist ja schon das Thema im ersten Gebot: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Also handelt es sich eigentlich um eine Doppelung, und die kann man auch weglassen. Die Reformierten sagten: Ja, es geht im zweiten Gebot wohl auch um fremde Götter, die wir nicht neben Gott verehren sollen, aber: Es geht auch ganz grundsätzlich um die wahre Gotteserkenntnis. Es geht um die Frage, ob wir uns von Gott ein Bild machen können, ob es möglich ist, über Gott im Bilde zu sein, sozusagen: ein für alle Mal über Gott Bescheid zu wissen. Das ist eine sehr grundsätzliche Frage. Und darum hatte für die Reformierten das zweite Gebot immer besonderes Gewicht: »Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen … Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott …« Offenbar gibt es in der Bibel einen Zusammenhang zwischen Bilderverbot und Gotteserkenntnis. Die Bilder setzen uns nicht mit Gott in Verbindung, sie geben uns keine Erfahrung, keine Erkenntnis Gottes. Jesaja 40,18ff: »Wem wollt ihr denn Gott nachbilden? Oder was für ein Gleichnis wollt ihr ihm zurichten? … 28 Weißt du nicht? Hast du nicht gehört?« – »Die Bilder verhindern gerade das, was sie in ihrer sinnenfälligen Unmittelbarkeit zu ermöglichen scheinen: die lebendige Begegnung

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mit Gott … selbst; sie stellen sich zwischen Gott und den seine Nähe suchenden Menschen« (C. Link, Die Spur des Namens, Neukirchen-Vluyn 1997, 20f.). Calvin sagt das gleich am Anfang seines Unterrichts in der christlichen Religion (Institutio Christianae Religionis, 5. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1988, I,11.1): »Gott allein ist vollgültiger Zeuge von sich selbst … Es steht also fest: Was je an Standbildern errichtet oder an Bildern gemalt wird, um Gott darzustellen, das missfällt ihm stracks als Schändung seiner Majestät.«

2 Botschaft und Ordnung, Wesen und Gestalt der Kirche 2.1 Die christliche Kirche ist die Gemeinde. Die Frage nach der Gestalt der Kirche Wenn grundsätzlich Klarheit gewonnen wurde über den Kern und den Inhalt des christlichen Glaubens (Christus allein, das Wort allein, die Schrift allein, der Glaube allein) und über das Wesen der christlichen Kirche (»Item docent, quod una sancta ecclesia perpetuo mansura sit. Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua pure docetur evangelium et recte administrantur sacramenta.« – »Es wird auch gelehret, dass alle Zeit musse eine heilige Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden.«1), dann wird in der Zeit der Bedrohung und der Gefährdung des Bestandes der reformatorischen Bewegung die Frage nach der Organisation, der Gestalt, der Ordnung des reformatorischen Kirchentums besonders dringlich. Aber welche ist die angemessene Gestalt der Evangelischen Kirche? Und an welchen Maßstäben und Kriterien orientieren wir uns bei ihrer Gestaltung? Dabei geht es keineswegs nur um die Nützlichkeit, die Effektivität oder die Zeitgemäßheit der »äußeren« Organisationsform, die ihr »inneres« Wesen nicht berührt. Die Gestaltung der Kirche darf sich nicht richten nach der Tendenz der politischen Entwicklung im Staat oder nach den Gesetzen der sozialen bzw. ökonomischen Differenzierung in der gesellschaftlichen Umwelt. Die Kirche hat 1 Confessio Augustana VII, zit. nach: Die Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche, Göttingen 2014.

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auch in Hinsicht auf ihre eigene Institutionalisierung ihrem eigenen Lebensgesetz zu folgen und soll nicht Formen der sie umgebenden gesellschaftlichen Lebenswelt kopieren. Das ist die Stoßrichtung der dritten These der Barmer Theologischen Erklärung: »›Lasset uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist‹ (Eph. 4, 15.16). Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte. Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.«2

2.2 Die versammelte Gemeinde als Sozialgestalt des Leibes Christi und die presbyterial-synodale Ordnung »Die christliche Kirche ist die Gemeinde …« Nehmen wir diesen Satz so, wie er gemeint ist, dann müssen wir ihn lesen als einen Identifizierungssatz: Die Kirche i s t Gemeinde. Dabei ist »Gemeinde« exklusiv und konkret zu verstehen. Exklusiv insofern, als »Gemeinde« nicht als Basis und Ausgangspunkt zu begreifen ist, »von dem aus«, wie gern gesagt wird, sich das aufbaut, was wir »Kirche« nennen. Sondern Kirche und Gemeinde, das ist ein und dasselbe. Konkret insofern, als hier nicht von einer Gemeinde-Idee die Rede ist (etwa der unsichtbaren Kirche der wahrhaft Gläubigen), sondern von einem Zusammenkommen von konkreten Menschen an einem konkreten Ort (»ekklesia« bedeutet: Volksversammlung). »Wir tun daher gut daran, bei dem Wort ›Gemeinde‹ … stets das konkrete Moment des Zusammenkommens, der ›Versammlung‹ mit zu denken.«3 Es versteht sich, dass die versammelte Gemeinde Formen der Organisation braucht, Leitungsstrukturen (Presbyterien), Verwaltung, Büro und

2 Zit. nach: Kirche als »Gemeinde von Brüdern«. Barmen III, Gütersloh 1984, 34. Aufl., 130. 3 Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 1962, 585.

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Telefon, Formen der Kooperation zwischen den Gemeinden (Synoden), der Kooperation mit kommunalen und staatlichen Organen, mit den Institutionen der Politik, des Gesundheits- und des Bildungswesens usw. Aber alle diese institutionellen, auf Dauer gestellten Funktionen sind Hilfsfunktionen für die Aktualität dessen, was geschieht, wenn die Gemeinde sich versammelt. Warum? Manfred Josuttis bringt die Antwort kurz und bündig: »In der Gemeinde wird das realisiert, was die Kirche zum Leib Christi macht.«4 Das ist das ganze Geheimnis des Seins der Gemeinde: Christi Gegenwart in ihr als Haupt dieses Leibes. »Die Gemeinde ist Jesu Christi eigene irdisch-geschichtliche Existenzform.«5 – »Er lebt als der Gekreuzigte und Auferstandene auch in himmlisch-geschichtlicher Existenzform: zur Rechten des Vaters.« (Hier kommt die speziell reformierte Lehre des Extra-Calvinistikum zum Tragen.6) Aber Christus ist nicht nur transzendent. »Er lebt in einem besonderen, von ihm geschaffenen und regierten Element dieser Geschichte selbst und also in irdisch-geschichtlicher Existenzform auch mitten in ihr. Dieses besondere Element menschlicher Geschichte und also diese irdisch-geschichtliche Existenzform Jesu Christi selber ist die christliche Gemeinde. Er ist das Haupt dieses Leibes, der Gemeinde.«7 Diese Sozialform »versammelte Gemeinde«, in soziologischer Terminologie: dieses Interaktionssystem in den Medien von Anwesenheit und Sprache, das ist die christliche Kirche. Es ist demnach zu betonen – und dieser für Menschen der Gegenwart mit ihrem individualistischen Religionsverständnis ärgerlichen Konkretion darf nicht ausgewichen werden: Es geht hier um die am gleichen Ort zu gleicher Zeit leiblich anwesenden Menschen. D. Bonhoeffer hat dies in selten erreichter Klarheit auf den Begriff gebracht: »Was heißt es, dass Christus als Wort auch Gemeinde ist? Es heißt, dass der Logos Gottes in und als Gemeinde räumlich-zeitlich Extensität hat. Christus, das Wort, ist geist-leiblich gegenwärtig. Der Logos ist nicht nur schwaches Wort menschlicher Lehre, doctrina, sondern er ist machtvolles Schöpferwort. Es spricht und schafft sich damit die Gestalt der Gemeinde.«8 4 M. Josuttis, »Unsere Volkskirche« und die Gemeinde der Heiligen, Gütersloh 1997, 170. 5 K. Barth, Kirchliche Dogmatik IV,1, 738. 6 Vgl. Heidelberger Katechismus Frage 47 und 48. 7 K. Barth, a.a.O. 8 D. Bonhoeffer, in: Wer ist und wer war Jesus Christus? Seine Geschichte und sein Geheimnis. Hamburg 1962, 33.

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Wirkungsgeschichtlich prägend für das evangelische Kirchentum war das Gegenüber bzw. Gegeneinander zweier Ebenen: der Gemeindekirche und der Staatskirche. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Evangelische Kirche Gemeindekirche. »So wurde zwar der prinzipielle Ausgangspunkt – die Eigenverantwortung und Freiheit der christlichen Gemeinde – nicht aufgegeben. Aber in der neuen Praxis, die sich jetzt durch das massive Eingreifen des Fürsten als ›Notbischof‹ ergab, setzte sich eine Richtung durch, die von diesem Ausgangspunkt fortführte.«9 Das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments 1918 führt nicht zum Verschwinden dieser staatlich-behördlichen Notlösung, nicht zur vollen institutionellen Eigenverantwortung der Gemeindekirche, sondern zur Integration des landesherrlichen Verwaltungsprinzips in die kirchliche Eigenregie. So blieb der alte Hiatus zwischen presbyterial-synodalem Prinzip und konsistorialem Prinzip (die Männer der Bekennenden Kirche nannten das »die alte Behördenkirche«) erhalten. Der Konflikt ist bis heute enorm wirksam und in den letzten 20 Jahren in unerhörter Schärfe wieder aufgelebt. Es kann aber aufgrund des dargelegten Verständnisses von Kirche als Gemeindekirche keine Frage sein, dass die presbyterial-synodale Ordnung als eigenverantwortliche Leitung der Gemeindekirche die Ordnung ist, die dem reformatorischen Verständnis von Kirche am besten entspricht. Es ist nicht zuletzt das Beharren auf diesem Entsprechungsverhältnis, in dem der besondere reformierte Akzent zum Ausdruck kommt.

2.3 Macht – Zucht – Leitung Jesus hat es den Seinen deutlich genug ins Stammbuch geschrieben: »Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der erste sein will, der sei euer Knecht« (Mt. 20,25–27). Wie war es möglich, wie konnte es geschehen, dass dieses Gebot Jesu im Laufe der Geschichte der Kirche aus dem Blick geriet, gar in sein Gegenteil verkehrt wurde? Dass aus der dienenden »Kirche für andere« (D. Bonhoeffer) eine Menschen 9 Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Christentum in der Gesellschaft, 2. Bd., Hamburg 1976, 85.

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beherrschende und unterdrückende Kirche wurde? Gewiss spielt hier die geschichtliche Entwicklung von einer Minderheitskirche zur Mehrheitskirche (die sog. »konstantinische Wende«) eine Rolle und das damit einhergehende Bündnis der Kirche mit der staatlichen Macht. Und noch vieles mehr. Aber im Kern ist dies ein Orientierungs- und Beziehungsproblem. Das Bekenntnis der Urchristenheit sagt, dass Jesus Christus der für uns Gekreuzigte und Auferstandene ist. Dass dieser Gekreuzigte und Auferstandene der Herr ist. In seinem Licht, im Licht des Kreuzes, sind Herrschaft und Macht qualifiziert als die Herrschaft und Macht dessen, der Gott gleich war, der sich entäußerte und Mensch wurde wie wir, der sich erniedrigte zum Tode am Kreuz (Phil. 2,6ff.). Die Macht Jesu Christi ist die Macht der Hingabe und der Liebe. Das ist das Wesen der Macht im Bereich der Herrschaft Jesu Christi und ihr Gegensatz zum Wesen weltlicher Macht. Die Macht der Kirche fand ihre zentrale Begründung im Gedanken, dass Jesus Christus auf Erden einen Stellvertreter hat. Das Orientierungs- und Beziehungsproblem besteht hier darin, dass die Konzeption der Stellvertretung die Abwesenheit dessen voraussetzt, der vertreten wird. Jesus Christus ist aber nicht abwesend, er ist der Auferstandene. Er lebt und ist heute gegenwärtig denen, die sich in seinem Namen versammeln (Mt. 28,20b; 18,20). Darum hat die Kirche »Christus zu ihrem einzigen Haupt, unter dessen Herrschaft wir alle miteinander verbunden sind …«.10 Darum bündelte sich für die Reformatoren das Problem von Herrschaft und Macht im Primat des Papstes. »Das Haupt aber und die Spitze der ganzen Stufenordnung, nämlich die Obergewalt des römischen Stuhls« begründet den Anspruch, »daß allein bei ihnen die katholische Kirche sei.«11 Der Ausgangspunkt dabei ist immer der »Grundsatz: der Bischof von Rom ist … der Statthalter Christi, der das Haupt der Kirche ist; als solcher hat er an Christi Statt die Führung der gesamten Kirche, und die Kirche ist nur dann recht eingerichtet, wenn der römische Stuhl über alle andern die Obergewalt innehat«.12 Aber Christus hat und braucht keinen Stellvertreter.

10 J. Calvin, Institutio IV,6,9. 11 Institutio IV,6,1. 12 A.a.O.

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Calvin sagt: »Es ist mir auch nicht unbekannt, was für eine Ausflucht die Papisten suchen, wenn man ihnen dies vorhält; sie sagen nämlich: Christus wird im e i g e n t l i c h e n Sinne das einige Haupt genannt, weil er allein kraft eigener Autorität und in seinem eigenen Namen regiert; aber das hindert nicht, dass es u n t e r ihm noch ein z w e i t e s , dienstbares Haupt gibt – so drücken sie sich aus! – das auf Erden seine V e r t r e t u n g führt.«13 Dies ist aber nichts anderes als eine Legitimationsstrategie für die Macht, die die Kirche sich anmaßt als weltliche Macht über Menschen. Grundsätzlich gilt, dass alle Träger von Ämtern in der Kirche dieselbe Vollmacht besitzen. Keiner ist dem anderen übergeordnet. So sagt die Confessio Gallicana (Hugenottisches Glaubensbekenntnis), »daß alle wahren Pastoren, an welchem Ort sie auch sein mögen, dasselbe Ansehen und die gleiche Macht haben«.14 Und in der Confessio Helvetica Posterior (Zweites Helvetisches Bekenntnis) heißt es: »Allen Dienern in der Kirche ist eine und dieselbe Vollmacht oder Befugnis gegeben.«15 Deshalb wird die in Trient dogmatisierte hierarchische römische Amtsauffassung verworfen. Dies gilt auch für das Verhältnis der Kirchen und Gemeinden zueinander, da darf es keine Über- und Unterordnung geben. »Keine Gemeinde (Kirche) darf über die anderen Gemeinden das Primat oder die Herrschaft an sich reißen, kein Prediger über die anderen Prediger, kein Ältester über die übrigen Ältesten, kein Diakon über die Diakone. Jede und Jeder hat sich sorgfältigst auch vor dem Verdacht solcher Anmaßung und vor jedem Versuch, sich das Regiment anzueignen, zu hüten.«16 In der Zeit der Reformation und der Gegenreformation wurde die Kirche und ihre »heilige Herrschaft« (Hierarchie) als eine Institution erfahren und erlitten, die weltliche Macht und geistliche Vollmacht ganz perver13 Calvin, Institutio, a.a.O. 14 P. Jacobs, Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in deutscher Übersetzung, Neukirchen 1949, 118: »Wir glauben, daß alle wahren Pastoren, an welchem Ort sie auch sein mögen, dasselbe Ansehen und die gleiche Macht haben unter einem einzigen Haupt, einzigen Herrn und einzigen allgemeinen Bischof, Jesus Christus (Matth. 20,26f.; 18,2ff.), und daß aus diesem Grunde keine Gemeinde irgendeine Obergewalt oder Herrschaft über die andere beanspruchen darf.« 15 Zit. nach P. Jacobs, a.a.O., 223. 16 Emder Kirchenordnung (1571), Artikel 1. Zit. nach P. Jacobs, a.a.O., 252.

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tierte. Luther sagt: Das heißt »den Schuh fein umkehren: mit Eisen die Seelen und mit Briefen den Leib regieren, dass weltliche Fürsten geistlich und geistliche Fürsten weltlich regieren. Was hat der Teufel sonst zu schaffen auf Erden, als dass er mit seinem Volk so gaukele und Fastnachtspiel treibe.«17 Es versteht sich von selbst, dass in der jungen reformatorischen Kirche, die sich erst noch organisieren musste, alle Fragen, die mit Leitung, mit kirchlicher Disziplin (»Kirchenzucht«), mit kirchlichen Ämtern und mit Macht und Herrschaft zu tun hatten, besondere kritische Aufmerksamkeit auf sich ziehen mussten. Wenn Christi Kreuz und Auferstehung maßgebend und leitend sind für das Verständnis von Macht und für den Umgang mit ihr, was bedeutet das für die Leitung der Kirche, der Gemeinden, für ihren Aufbau, ihre Struktur? Die Reformierten haben das Prinzip der Wahl und die Konzeption der kollegialen Gemeindeleitung stark gemacht. Und das nicht bloß, weil sie ein organisatorisches Gegenprinzip zur monarchischpäpstlichen Hierarchie suchten und quasi ein neuzeitlich-demokratisches Prinzip dagegensetzen wollten. Sondern sie waren geleitet von der zentralen Orientierung an der Gegenwart des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Calvins theologische Argumentation an diesem Punkt ist so überraschend wie faszinierend. Er sagt: »Weshalb sagt Paulus nicht: Christus habe e i n e n Menschen über a l l e gesetzt, der seine V e r t r e t u n g führen sollte? … Er sagt: ›Christus hat uns durch seine Himmelfahrt seine sichtbare Gegenwart entzogen; dennoch ist er aufgefahren …, auf dass er alles erfüllte‹ (Eph. 4,10). Die Kirche hat ihn also auch jetzt noch g e g e n w ä r t i g und wird ihn allzeit gegenwärtig haben. Indem nun Paulus die Art und Weise schildern will, in der sich Christus zeigt, verweist er uns auf die Ä m t e r , deren sich Christus bedient. ›In uns allen‹, sagt er, ›ist der Herr nach dem Maße der Gnade, das er jedem einzelnen Glied hat zuteil werden lassen. Darum hat er einige zu Aposteln eingesetzt andere aber zu Hirten. Andere zu Evangelisten, andere zu Lehrern …‹ (Eph. 4, 7; 11). Paulus sagt: ›Christus ist b e i u n s .‹ Wieso? Durch das D i e n s t a m t d e r M e n s c h e n , die Christus zur Leitung der Kirche e i n g e s e t z t hat! Weshalb sagt er nicht lieber: durch das ›dienstbare H a u p t ‹, dem er seine S t e l l v e r t r e t u n g anvertraut hat? Er spricht ausdrücklich von Einheit: 17 WA 11, 269/33–270/4.

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aber das ist Einheit in G o t t und im G l a u b e n a n C h r i s t u s . Den M e n s c h e n schreibt er nichts zu als einen g e m e i n s a m e n Dienst und dazu jedem einzelnen sein besonderes Maß. (Vers 16) … Man möge diese Stelle eindringlich erwägen: es besteht kein Zweifel, dass Paulus hier durchaus das heilige, geistliche Regiment der Kirche hat darstellen wollen, das die Späteren dann als ›Hierarchie‹ bezeichnet haben … Es besteht auch kein Zweifel, dass er die Art der Verbundenheit hat zum Ausdruck bringen wollen, in der die Gläubigen mit C h r i s t u s , i h r e m H a u p t e , zusammenhängen.«18 In dem Maße, in dem sich die Kirche auf das Zentrum ihres Bekenntnisses besinnt, wird sie gefeit sein gegen die Versuchung der weltlichen Macht, diese Droge des Herrschen-Wollens über Menschen. Werfen wir von da aus einen Blick auf das Predigtamt. Ohne Frage kommt ihm im Zusammenhang der kirchlichen Ämter (Lehrer, Älteste, Diakone) besonderes Gewicht zu. Dass es sich beim Predigtamt »um das grundlegend besondere kirchliche Amt handelt, ergibt sich aus der Tatsache, dass rechte Predigt und Sakramentsverwaltung die notwendigen und hinreichenden Bedingungen wie Kennzeichen der wahren Kirche sind.«19 Für das Predigtamt gilt wie für die anderen Ämter, »dass sich niemand aus eigener Machtvollkommenheit eindrängen darf, die Kirche (Gemeinde) zu leiten«, wie die Confessio Gallicana sagt.20 Jeder, der ein Leitungsamt übernimmt, muss ordentlich berufen, d.h. gewählt sein (rite vocatus). Die Frage, wer die Berufung vornimmt, wird in den reformierten Bekenntnisschriften verschieden beantwortet. Nach der hugenottischen Kirchenordnung gilt, dass die Prediger im Konsistorium (Presbyterium) durch die Ältesten und Diakone gewählt werden und dann der Gemeinde, für die sie bestellt sind, vorgestellt werden sollen.21 Dagegen kennt z.B. die Confessio Belgica (Niederländisches Bekenntnis) die Urwahl durch die Gemeindevollversammlung.22 Nach dem über das Prinzip der kollegialen Gemeindeleitung Gesagten ergibt sich ein solches Berufungsverfahren durch Wahl (Presbyteriumswahl oder Gemeindewahl) wie von selbst. 18 19 20 21 22

Institutio IV,6,10. J. Rohls, Theologie reformierter Bekenntnisschriften, Göttingen 1987, 284. Zit. nach P. Jacobs, a.a.O., 119. Confessio Gallicana, vgl. P. Jacobs, a.a.O., 122. P. Jacobs, a.a.O., 169.

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Fragen wir also, wie ein Prediger in sein Amt kommt, so ist die Antwort eindeutig: durch die Wahl seitens der Gemeinde oder ihrer Gremien. Was nun aber die Wahrnehmung des Predigtamtes durch den Prediger angeht, so besteht darin Konsens bei allen Reformatoren, dass der Prediger frei ist gegenüber der Gemeinde. Diese Freiheit ist begründet in seiner Bindung an das Wort der Bibel. Diese Bindung ist streng und exklusiv. Die Verkündigung des Wortes Gottes ist angeleitete, in Dienst genommene Rede von Gott. Die Botschaft der Bibel ist die Norm, nach der der Prediger sich zu richten hat. So sagt Calvin: »Allerdings besteht … zwischen den Aposteln und ihren Nachfolgern der Unterschied, dass jene sichere und beglaubigte Schreiber des Heiligen Geistes waren und ihre Schriften deshalb als Offenbarungsworte zu gelten haben, diese dagegen keine andere Aufgabe haben als zu predigen, was in der Heiligen Schrift überliefert und versiegelt ist.«23 Darum gilt es eben, »alle Erfindungen des menschlichen Verstandes, aus welchem Haupte sie auch schließlich entsprungen sein mögen, fernzuhalten, damit Gottes reines Wort in der Kirche der Gläubigen gelehrt und gelernt werde … Sieh da, das ist jene gewaltige Macht, mit der die Hirten der Kirche, was für einen Namen sie auch tragen mögen, ausgerüstet sein müssen, damit sie nämlich auf Grund des Wortes Gottes zuversichtlich alles wagen, seiner Majestät alle Kraft und Herrlichkeit, alle Weisheit und Hoheit dieser Welt zu weichen und Gehorsam zu leisten zwingen, damit sie ferner, auf seine Macht gestützt, allen Menschen, vom höchsten bis zum geringsten gebieten, … aber alles mit dem Worte Gottes.«24 Diese große Freiheit des Predigers gegenüber der Gemeinde schließt es völlig aus, dass Einzelne oder Gruppen in der Gemeinde Einfluss ausüben auf den Prediger bzw. den Inhalt der Predigt, dass sie gar, wie es gegenwärtig nicht selten geschieht, Druck ausüben und versuchen, die Verkündigung zu korrigieren, weil ihnen ihr Inhalt nicht passt. Denn der Prediger ist ausschließlich an die Heilige Schrift gebunden, nicht an die Zustimmung oder Ablehnung durch die hörende Gemeinde. Die Freiheit der Predigt und des Predigers gegenüber der Gemeinde und die Bindung an die Bibel haben ihren Grund im Wesen der Predigt: Durch sie spricht Gott selbst zu den Menschen. So erklärt Bullinger in der Confessio Helvetica Posterior: »Wenn … heute dieses Wort Gottes 23 Institutio, IV, 8, 9, 5, 787. 24 A.a.O.

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durch rechtmäßig berufene Prediger in der Kirche verkündigt wird, so glauben wir, dass Gottes Wort selbst verkündigt und von den Gläubigen aufgenommen wird und dass man kein anderes Wort Gottes erfinden oder vom Himmel erwarten darf.«25 So kann Bullinger sagen: »Die Predigt des Wortes Gottes ist das Wort Gottes.«26 Die Predigt ist ein »Gnadenmittel«, durch das Gottes Geist in den Hörenden den Glauben wirkt. Die mündliche Predigt ist ein Instrument und Medium des Wirkens Gottes, sie ist ein »Kanal der Gnade«. Demnach ist in Bezug auf die Freiheit und die Bindung des Predigers und der Predigt ein Doppeltes festzuhalten: Ihre Freiheit gegenüber der Gemeinde ist begründet 1. in der strengen Bindung an die Bibel; 2. in der Bindung ihrer Wirksamkeit an das Wirken des Geistes Gottes selbst.27

25 P. Jacobs, a.a.O., 178. 26 A.a.O. 27 Dieses sakramentale Verständnis der Predigt als Instrument der Gnade liegt wie im Luthertum so auch in der Mehrzahl der reformierten Bekenntnisschriften vor. Wir finden dort aber auch ein eher signifikatives Verständnis. So in der Confessio Helvetica Posterior, die sagt, dass Gott »das, was er selbst uns innerlich schenkt, äußerlich darstellt …« (zit. nach J. Rohls, a.a.O., 217). Es handelt sich demnach um einen Parallelismus: Die Predigt zeigt äußerlich an, was Gott innerlich schenkt.

II. Wohin führt der Weg der EKD?

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Das Impulspapier »Kirche der Freiheit« und seine Weichenstellungen Das Impulspapier »Kirche der Freiheit« und seine Weichenstellungen

Ein Zwischenruf aus dem Jahr 20101

1 Eine positive Bilanz? Die Bilanz »Reformprozess« der EKD seit der Veröffentlichung des Impulspapiers »Kirche der Freiheit« vom Juli 20062 ist nicht so positiv, wie einige sie gern sehen wollen. Denn erstens sind Bilanzen von der Art »Aufbruch mit Rückenwind«3 wenig überzeugend, wenn dort Reformen als durch »Kirche der Freiheit« »angestoßen« oder »beflügelt« aufgelistet werden, die zum großen Teil vor 2006 bereits abgeschlossen waren (so in der EKHN, 2000) bzw. vor und unabhängig von »Kirche der Freiheit« begonnen wurden und liefen (so in der Badischen Landeskirche, in der Evangelischen Kirche im Rheinland, in der Nordkirche). Und zweitens ist der Tenor dort so überaus positiv, auch von Insidern des EKD-Kirchenamtes, dass Zweifel aufkommen: »›Kirche der Freiheit‹ hat als Katalysator gewirkt und überall die Reformkräfte gestärkt, bestätigt Oberkirchenrat Thorsten Latzel, Leiter des ›Projektbüros Reformprozess im Kirchenamt‹ …»4 – »So viel Aufbruch gab es selten.«5 Demgegenüber fällt auf, dass auf kritische Stimmen wie z.B. die von Michael Welker, Matthias Rein, Christian Möller, Christoph Demke, Rolf Adler, Rolf Festerra, Klaus Douglass, Klaus Hoffmann, Friedrich Weber, Wilfried

1 Zuerst veröffentlicht in: DPfBl 6/2010, 326–329, unter dem Titel: »Wohin führt der Weg der EKD? Ein kritischer Diskurs über das Impulspapier und die Folgen ist bitter nötig«. 2 Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier der EKD, 6/2006. 3 Thomas Krüger, Aufbruch mit Rückenwind. Der Reformprozess in der Evangelischen Kirche hat wichtige Etappenziele erreicht. In: ZZ 9/09, 14–16 ; C. Broelemann, »So viel Aufbruch gab es selten«. Zwischenbilanz für den Reformprozess bei der EKD-Zukunftswerkstatt in Kassel. ZZ 11/09, 48–49. 4 A.a.O., 9/09, 14. 5 A.a.O., 11/09, 48.

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Härle, Isolde Karle, Heino Falcke, Klaus Weber, Christof Dinkel, Günter Thomas, Hans Martin Dober,6 um einige der fundiert argumentierenden Kritiker zu nennen, inhaltlich kaum Bezug genommen wird, sondern allenfalls durch diskreditierend-abschätzige Charakterisierungen. Dazu nur ein Beispiel: »Der Impuls der EKD ›Kirche der Freiheit‹ wurde in der inner- und außerkirchlichen Öffentlichkeit überwiegend positiv aufgenommen … Aus dem Funktionärsmilieu und von Hochschullehrern kam dagegen harsche Kritik.«7 Mit keinem Satz wird hier auf die Argumente und Anfragen eingegangen, sondern es wird schlicht konstatiert: »Im Rückblick auf diese Debatte können sich die Autoren des Impulspapiers nur bestätigt fühlen.«8

6 M. Welker, Freiheit oder Klassenkirche. Mut und Blindheit im Impulspapier des Rates der EKD, in: ZZ 12/2006, 8–11; M. Rein, Wachsen gegen den Trend. Fragen zu Herkunft und Bedeutung eines Leitmotivs im EKD-Impulspapier »Kirche der Freiheit«, in: DPfBl 2/07, 59–64; Chr. Möller, »Aufbruch Gemeinde«. Überlegungen zu Recht und Macht einer christlichen Gemeinde nach biblisch-reformatorischen Ansätzen, in: DPfBl 2/09, 71–75; Chr. Demke, Manches muß man aus der Hand geben, in: ZZ 4/01, 11–12; R. Adler, Kirche als Handwerk? Ein Zwischenruf zum EKDStrukturpapier »Kirche der Freiheit«, in: DPfBl 2/09, 91–94; R. Festerra, Auf dem Weg zu einer anderen Kirche? Ein Plädoyer für die »Gemeindekirche«, in: DPfBl 6/07, 295–299; Kl. Douglass, Liebe und Management. Die Kirche sollte an der Spitze radikal sparen und die Ortsgemeinden aufwerten, in: ZZ 3/06, 18–21; Kl. Hoffmann, Unter die Räder gekommen. In den deutschen Landeskirchen werden Theologie und Gemeindepfarramt diskreditiert, in: ZZ 8/06, 20–21; Fr. Weber, Die Bedeutung der kleinen Landeskirchen, in: ZZ 9/06, 48–51; W. Härle, Als ob alles Beten nichts nützt. Das EKD-Papier zur Reform des deutschen Protestantismus hat theologische Schwächen, in: ZZ 10/06, 22–25; J. Wandel, Behutsam oder radikal? Wie sich deutsche Protestanten die Reform ihrer Kirche vorstellen. Dort: Bericht über das gute Statement von Isolde Karle, in: ZZ 3/07, 15–17; H. Falcke, Noch schaukelt sie. Ist die von der EKD angestrebte »Kirche der Freiheit« die »Kirche für andere« im Sinne Dietrich Bonhoeffers? in: ZZ 107, 12–13; Kl. Weber, »Auf der Schwelle« – Pfarrberuf wohin? DPfBl 11/09, 572–576; Chr. Dinkel, Facetime – Chancen direkter Begegnung. Die Unverzichtbarkeit der Pfarrerin und des Pfarrers vor Ort, in: DPfBl 2/07, 76–81; G. Thomas, 10 Klippen auf dem Reformkurs der Evangelischen Kirche in Deutschland. Oder: Warum die Lösungen die Probleme vergrößern, in: Ev.Theol. 67. Jahrg. 2007, Heft 5, 36–387; H. M. Dober, Pfarrersein unter Marktbedingungen. Das geistliche Amt zwischen Management und Unternehmertum, in: DPfBl. 4/09, 196–201. 7 Hansjörg Hemminger / Wolfgang Hemminger, Erst Fünf vor Zwölf. EKD-Impulspapier: Wie können die nächsten Reformschritte aussehen? In: ZZ 2/07, 44. 8 A.a.O.

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2 Die Strategie der Geringschätzung und der Überforderung der Pfarrer und Pfarrerinnen. Die Abwertung der Ortsgemeinde Deutliche Indikatoren der Gesamtintention des Impulspapiers und seiner Befürworter, nämlich die Kirche von der Organisation her und insofern »von oben« her zu denken, sind die abschätzigen und z.T. diskriminierenden Termini und die Charakterisierungen, mit denen die Wirklichkeit unserer Gemeinden und die Arbeit der in ihnen tätigen Pfarrerinnen und Pfarrer beschrieben werden. Der Geist der Geringschätzung,9 der mancherorts spürbar ist, ist leider auch im Impulspapier wirksam. Unübersehbar sind ebenso die übersteigerten Anforderungen und Erwartungen an Pfarrer, Pfarrerinnen und Gemeinden. Diese lassen befürchten, dass die Latte so hoch gelegt wird, dass es fast unvermeidlich ist, darunter durchzulaufen. Der Imperativ der ständigen Steigerung kann sich ruinös auswirken. »Spätestens mit dem Reformpapier der EKD ist dies auch schriftlich dokumentiert«, dass der Druck auf die Pfarrerinnen und Pfarrer verstärkt wird, »ihre Kompetenzen zu steigern, um den Trend des Mitgliederverlustes umzukehren … ›Das Bild eines idealen Pfarrers / einer idealen Pfarrerin ist implizit prägend, wenn alles zusammen erwartet wird: theologisch und rhetorisch qualifizierte Predigt, liturgisch präsente Gottesdienstgestaltung, sensible und spirituell animierte Seelsorge, religionspädagogisch ansprechende Bildungsarbeit, glaubwürdiges diakonisches Engagement, erfolgreiches Fundraising, kompetente Leitung und Verwaltung, künstlerisch-ästhetische Sensibilität im Umgang mit dem Kirchenraum, professionelle Öffentlichkeitsarbeit und vielleicht noch mehr als dies.‹ Dieser hohe Anspruch ist nicht zu erfüllen … Mit dem im Impulspapier gebetsmühlenartig eingefor9 Klaus Hoffmann, Unter die Räder gekommen. In den deutschen Landeskirchen werden Theologie und Gemeindepfarramt diskreditiert. In: ZZ 8/06, 21. »Es geht in der aktuellen Diskussion mitnichten um eine fehlende Würdigung und mangelnde Aufwertung der Tätigkeit von nicht akademisch ausgebildeten Predigerinnen und Predigern. Es geht vielmehr konkret um die immer unerträglicher werdende Geringschätzung, ja geradezu Verachtung der Theologie und der Arbeit von Theologinnen und Theologen im Gemeindepfarramt. Auf der Synode der Evangelischen Kirche von Westfalen zum Beispiel wird kirchenoffiziell und ohne Widerspruch davon geredet, dass die Streichung von Gemeindepfarrstellen den Gemeinden und Kirchenkreisen zugutekomme … Nicht mehr die in der alltäglichen Wirklichkeit sehr aufwendige und aufreibende und mit einem hohen Maß an Leidenschaft verrichtete Arbeit der Pfarrerinnen und Pfarrer kommt den Gemeinden zugute, sondern die Abschaffung ihrer Stellen. Wann ist je so abfällig und entwürdigend über diesen Berufsstand geredet worden?«

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derten ›Mentalitätswandel‹ bei den PfarrerInnen folgt es dem gesellschaftlichen Trend zu ständiger Optimierung, wie Isolde Karle schrieb: ›Stets muss nach neuen Angeboten gesucht und müssen neue Bedürfnislagen analysiert werden … Das Reformpapier ist … von einem Innovations- und Steigerungsstress gekennzeichnet, der die Pfarrerinnen und Pfarrer und andere kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Dauer auslaugen, erschöpfen und frustrieren wird.‹«10 Klaus Martin Dober hat in einem sehr erhellenden Aufsatz gezeigt, dass hinter diesem Steigerungsdruck das Rollenbild des Pfarrers, der Pfarrerin als des Unternehmers / der Unternehmerin steckt.11 Die Strömung, der Sog des Komparativs, der beständigen Steigerung, des Wachstums, der unablässigen Selbstverbesserung folgt der Dynamik der Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Es ist der Sog, »sich ständig zu einem anderen zu machen«. Dober formuliert demgegenüber mit Recht die Aufgabe der PfarrerInnen heute, »anders anders zu sein«. Die Negativseite dieses übersteigerten Erwartungs- und Anforderungslevels, des gebetsmühlenartig eingeforderten Mentalitätswandels bei Pfarrerinnen und Pfarrern ist die Abqualifizierung der tatsächlich im Pfarramt geleisteten Arbeit. »Gegenwärtige Qualitätsmängel gibt es allerdings auch: Wir setzten die Anzahl von Gemeinden, in denen der Pfarrdienst derzeit in unbefriedigender Qualität getan wird, mangels konkreter Daten mit 20 bis 30 Prozent an.«12 Dieser gewagten und unbelegten Behauptung, mittels derer sozusagen stehend freihändig »angesetzt« wird, wird in einem Wettbewerb im Ungefähren nicht weniger wagemutig eine gerüchteweise kirchenobrigkeitliche Steigerung beigefügt: »Von Personalverantwortlichen der Kirchen kam die Rückmeldung, dass unsere Schätzung zu niedrig liege.« – »Der Geist unterschiedsloser Herabsetzung … beschädigt die ›intrinsische Motivation‹ nachhaltig«, sagt Günter Thomas mit Recht.13

10 Klaus Weber, Auf der Schwelle, in: DPfBl 11/09, 573. 11 Hans Martin Dober, Pfarrer sein unter Marktbedingungen. Das geistliche Amt zwischen Management und Unternehmertum, in: DPf.Bl. 4/09, 196–201. 12 Hansjörg Hemminger / Wolfgang Hemminger, Erst Fünf vor Zwölf. EKD-Impulspapier: Wie könnten die nächsten Reformschritte aussehen?, 46. 13 G. Thomas, a.a.O., 378.

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Ähnlich kreativ sind die Verbalisierungskünste im Negativqualifizieren der Gemeindewirklichkeit: »Milieuverengungen« und »Enge« gehören ebenso zur Gebetsmühle wie »schmoren im eigenen Saft« und »Kirchturmpolitik«.14 Dabei wird wohl übersehen, dass das, was laut Impulspapier verstärkt anzustreben ist, nämlich die Profilgemeinden, sich »(soziologisch betrachtet) doch gerade die Milieuverengung auf die Banner geschrieben haben! … Wer einmal in einer Kulturkirche war, wer die Besucher von Citykirchen beobachten konnte, wer das Akademieleben von innen kennt oder das Angebot eines Touristenpfarrers, der weiß, was die im Zukunftspapier nur den Ortsgemeinden angehängte ›vereinsmäßige Ausrichtung mit deutlicher Milieuverengung‹ (54) ist.«15 Wann ist je so abschätzig über die Wirklichkeit unserer Gemeinden geredet worden? Und wo im Übrigen bleiben die kritischen Anmerkungen zu den Defiziten, den Qualitätsmängeln, dem stümperhaften Management von Kirchenleitungen während der letzten Jahrzehnte (wofür nicht zuletzt auch das Impulspapier ein sprechendes Beispiel ist)?

3 Das Übel der Selbstsäkularisierung der Kirche Das Hauptgewicht meiner Kritik bezieht sich auf eine Reformstrategie, mit der die EKD Zukunftschancen der Kirche dadurch zu sichern versucht, dass sie gesellschaftliche Optimierungsprozesse innerkirchlich kopiert. Es geht hier 1. um den gesellschaftlichen Prozess der zunehmenden Differenzierung, der innerkirchlich wiederholt und verstärkt wird. Angesichts dessen, dass die Kirche in ihren Gemeinden über ein Basissystem verfügt, dessen unersetzbare Stärke in seiner integrativen Qualität liegt, setzt die EKD auf gesteigerte Differenzierung. Sie übersieht, »dass – im Vergleich – die Ortsgemeinde weithin die integrativste Sozialform der Kirche darstellt«. »Dass die besondere Funktion der Kirche in der spätmodernen funktio14 Jürgen Wandel, Ökumenischer Streß. EKD-Synode: Bischof Wolfgang Huber skizzierte den weiteren Weg der Evangelischen Kirche. In ZZ 12/05. Wandel zitiert in seinem Bericht W. Huber, die Kirchengemeinden stünden »in der Gefahr, im eigenen Saft zu schmoren«. 40; Kirche der Freiheit, 37 f. 15 G. Thomas, a.a.O., 364.

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nal differenzierten Gesellschaft in der funktionalen Entdifferenzierung bestehen könnte, kommt leider nicht in den Blick.« Die vorgeschlagene »Landkarte der Kraftorte« ist keine Lösungsstrategie, sondern zeigt eine »tiefgreifende Fehlwahrnehmung vitaler Gemeindearbeit und letztlich einen Irrweg an«.16 Es geht 2. um die innerkirchliche Rezeption und insofern auch Sanktionierung der Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Wirtschaft ist in der modernen hochdifferenzierten Gesellschaft nicht nur ein System, sondern das dominante, weil entwicklungsleitende System. Es ist das ökonomische Paradigma, »das heute alle Lebensbereiche bestimmt … Denn der Markt, d.i. die erste und letzte Wirklichkeit des ökonomischen Denkens – ein Ersatz für die traditionelle Metaphysik, die ihrerseits vom Ersten und Letzten handelte? – erarbeitet unentwegt Alteritäten, dasjenige also, was anders ist.«17 Die Kirche wird in dem Maße, als sie Räume ihres Daseins und Lebens von diesem durchdringenden Einfluss freizuhalten vermag, weil sie einem eigenen Leitparadigma folgt und nicht dem des Geldes, ein Hort des Lebens, ein Ort des evangelischen Zeugnisses von der bedingungslosen Gnade sein. Sie wird – mit den Worten Hans Martin Dobers, der faszinierend gezeigt hat, wie viel wir in dieser Sache immer noch oder schon wieder von Friedrich Schleiermacher lernen können – das »symbolisierende Handeln« gegenüber dem »unternehmerischen Handeln« stark machen. Das Impulspapier folgt der umgekehrten Tendenz und kopiert das ökonomische Leitparadigma. Es geht 3. bei der Stärkung der Zentren und dem Ausbluten der Peripherie um die innerkirchliche Kopie von Prozessen in Staat und Wirtschaft. Damit verstärkt die Kirche den Trend, »der schon die heutige staatliche Kulturund Versorgungspolitik und nicht zuletzt viele Wirtschaftsaktivitäten kennzeichnet: Zugunsten von vitalen Zentren wird das Ausbluten der Peripherie geplant und gezielt vorangetrieben«.18

16 G. Thomas, a.a.O., 364, 366. 17 H.M. Dober, a.a.O., 199. 18 G. Thomas, a.a.O., 368.

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Und 4. ist die mediale Vermittlung resonanzfähiger »Aufwärtsthemen« nichts anderes als die Anpassung an die »medialen Themen- und Aufmerksamkeitszyklen«19 von Wirtschaftsunternehmen, Parteien und Verbänden. Für 3 Millionen Euro sollen jährliche Aufwärtsthemen, »die sich strategisch einsetzen lassen«, medial »in breiteren Bevölkerungskreisen verankert werden«.20 Damit wird geplant, was Günter Thomas die »medial resonanzfähige Selbstfolklorisierung« der Kirche nennt.21 Das alles ist in der Gesamtrichtung ein Prozess der Selbst-Säkularisierung der Kirche. Darum sind fast alle der im Impulspapier vorgeschlagenen Lösungswege geeignet, »die Krise des deutschen Protestantismus nicht zu beheben, sondern dramatisch zu vertiefen und den Mitgliederschwund wie auch den Rückgang der Finanzmittel zu beschleunigen«22. Darin kann die Zukunft der Kirche Jesu Christi nicht liegen, dass sie sich Orientierung suchend von den Leuchtfeuern auf die Sandbank leiten lässt, weil sie Leuchtfeuer mit der Markierung »zukünftiger Ziele«23 verwechselt. Die Kirche hat »mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung … zu bezeugen« (Barmen III), dass sie allein Jesu Christi Eigentum ist. Die Zukunft der Kirche liegt da, wo sie ihrem Auftrag treu bleibt. Dies muss man wohl auch dem Reformierten Bund in Erinnerung rufen, dessen Moderator sich zu der Behauptung verstiegen hat, mit ihrem Reformprojekt befinde sich die EKD auf dem Wege der »theologischen Zentrierung«.24 Dass Reformen für unsere Kirche ebenso nötig sind wie ein

19 G. Thomas, a.a.O., 377. 20 Kirche der Freiheit, 87. 21 G. Thomas, 375. 22 G. Thomas, a.a.O., 363. 23 Kirche der Freiheit, 48. Die Rede von »Leuchtfeuern« ist semantisch verfehlt, denn Leuchtfeuer zeigen Gefahrenquellen an, Untiefen, Sandbänke, die Grenzen der Landebahn des Airports usw. 24 Nicht nachvollziehbar ist für mich als Glied der reformierten Kirche, wie problemblind sich der Reformierte Bund zu diesem brisanten Thema äußert. Vgl. P. Bukowski, Bericht des Moderators zur Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Frankfurt, 29.–31. Oktober, in: die reformierten. upd@te 09.3, 9: »Positiv hervorzuheben ist auch, dass im Zuge des Reformprozesses EKD-weit ein Bemühen um die theologische Zentrierung (!) unseres kirchlichen Auftrags im Gange ist. Die jüngst beschlossenen Kompetenzzentren für Predigt, Gottesdienst und Mission in der Region sind hoffnungsvolle Schritte in die richtige Richtung – lasst sie uns nutzen!«

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effektives Management, ist keine Frage, wohl aber: ob die bisherige Richtung stimmt.

III. Gegenwärtige Entwicklungen

1. Erfahrungsberichte und Dokumente aus verschiedenen Landeskirchen 1.1 Ein fraglicher Alarmruf und die Ökonomisierung der Kirche

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Epoche der Selbstbeschäftigung Eine Zwischenbilanz zum kirchlichen Impulsprozess ›Kirche der Freiheit‹1

1 »Eine Kirchenreform, die wohl zum Scheitern verurteilt sein dürfte«2 Die sogenannten Reformprozesse verlaufen ab einem bestimmten Zeitpunkt in ökumenischer Harmonie. Übereinstimmung herrscht daher ebenfalls aufseiten der Kritik. Von katholischer Seite warnte Paul Zulehner schon früh: »Das mit dem Einsparen und ›kleiner werden‹ verbundene ›downsizing‹ hat zwei fatale Nebenwirkungen: Das Personal wird depressiv, zugleich bleibt die innere Erneuerung aufgrund einer Sanie-

1 Dieser Artikel erschien im Januar 2014 im Deutschen Pfarrerblatt. Er reflektiert und resümiert Erkenntnisse aus insgesamt 15 Artikeln der Serie „Fragen und Probleme rund um kirchliche Reformprozesse“. Der Text von damals wurde für diese Veröffentlichung auf den aktuellen Stand der Statistiken gebracht und inhaltlich aktualisiert. Der Inhalt des Artikels und der Serie wird gerade durch die jüngste Entwicklung eindrucksvoll bestätigt. 2 Christian Grethlein, Problem hinter den Bemühungen um Kirchenreform, in: Praktische Theologie 1/2013, 41.

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rungserschöpfung der Gremien auf der Strecke.«3 Genau dies ließ nicht lange auf sich warten: Die Reformprozesse lösen »bei den verantwortlichen Leitungspersonen und den von Veränderungen betroffenen Menschen Gefühle der Unsicherheit, Angst, Ohnmacht, Trauer und Wut aus. Krankenstand und Personalfluktuation steigen an«4 – so Christoph Meyns, Bischof der Braunschweigischen Landeskirche. Den Sachverhalt bestätigt Ingrid Schneider/EKiR aus einer weiteren Kirche mit ReformImplementationshintergrund und fragt: »Wundert es, dass Symptome wie langwierige Krankheiten, Burn-out, Rückzug auf den kleinen Bereich, Mühe, Presbyter für dieses Amt zu gewinnen, geschweige denn wirklich Wahlen abzuhalten, zunehmen?«5 Die Sache hat noch eine ökonomische Kehrseite: Es ist »fast tragisch zu nennen, dass in der EKD wichtige Ressourcen für eine Kirchenreform verbraucht werden, die wohl zum Scheitern verurteilt sein dürfte«6, meint Prof. Christian Grethlein. Kosten entstanden in Milliardenhöhe7, sind aber nirgendwo in einer Vollkostenrechnung detailliert und transparent, also nachvollziehbar aufgelistet. Also bspw. für die Investitionskosten der Implementationsprozesse der Doppik, Kosten der Fusionen von Landeskirchen, Dekanaten und Gemeinden; nicht zu vergessen Mehrkosten für den laufenden Betrieb (z.B. Doppik, Finanzanlagen) etc. Empirisch ist die Kostensteigerung evident. Christoph Bergner, EKHN: »Insgesamt hat es keine Einsparungen gegeben, sondern Umschichtungen von unten nach oben. Verlierer sind die Gemeinden und der Pfarrdienst. Die Sprache der Reform klingt ökonomisch. Doch die ökonomischen Ergebnisse sind dürftig. Die tatsächlichen Kosten sind hoch.«8 Und werden hoch bleiben. Denn »die Strukturveränderung an sich ist zum Prinzip kirchenleitenden 3 Paul Zulehner, »Kirche umbauen, nicht totsparen«, in: Kirchenreform strategisch! Hrsg. Wolfgang Nethöfel und Dieter Grunwald, Glashütten 2007, 534. 4 Christoph Meyns, DPfBl 7/2013, www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php? a=show&id=3412. 5 Ingrid Schneider, DPfBl 1/2013, www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php? a=show&id=3303. 6 Christian Grethlein, Problem hinter den Bemühungen um Kirchenreform, in: Praktische Theologie 1/2013, 41. 7 Ein Vergleich mit der Einführung nur der Doppik im Bundesland Baden-Württemberg (nicht in den Kommunen!) mit ca. 550 Mio. € lässt eine Schätzung für die Einführung in sämtlichen Landeskirchen in Milliardenhöhe als wahrscheinlich erscheinen; vgl. www.wort-meldungen.de/?p=2039. 8 Christoph Bergner, DPfBl 9/2013, www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv. php?a=how&id=3233; vgl. Christoph Bergner, Die Kirche und das liebe Geld, Stuttgart 2009.

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Handelns geworden. Die Anlage dieses Prozesses löst ständig neue Reformen aus. Die Reform ist zur Dauerbeschäftigung geworden.«9 Kosten entstanden und entstehen weiterhin, die sich niemals werden amortisieren können, selbst wenn dereinst wenigstens ein bescheidener Nutzen sichtbar werden sollte. Eine Opportunitätsbetrachtung würde aufzeigen, was man mit den Unsummen, die in diese Prozesse geflossen sind, mit sinnvollen, den Menschen zugute kommenden Projekten an positiven Wirkungen hätte erzeugen können. Vielen LeserInnen werden Projekte einfallen, bei denen mit oft bescheidenem Mitteleinsatz viel hätte bewegt werden können. Schon hier kann man festhalten: die zurückliegende Dekade ist gerade für die Landeskirchen, die sich der Umsetzung des Reformprozesses verschrieben haben, ein verlorenes Jahrzehnt. Die Ergebnisse werden ebenfalls durch einen Blick auf die Veränderung der statistischen Werte von Austritten (ab 2006 wieder steigend) und Eintritten (ab 2006 wieder sinkend) bestätigt (Quelle: Idea). Austritte und undEintrittte Eintritte in indie dieev. ev. Kirchen Kirchenim imEKD-Raum. EKD-Raum Austritte Tendenzen anhand ausgewählter Jahre der zurückliegenden 2 Dekaden 300000 250000 Austritte Eintritte

200000 150000 100000 50000 0 1996

2001

2006

2011

2013

2014

(Eintritte für 2014 noch nicht vorliegend) Noch deutlicher wird die Dramatik, wenn man die stark fallende religiöse Sozialisierung der nachwachsenden Generation in den Blick nimmt. 9 Christoph Bergner, DPfBl 9/2013, www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv. php?a=show&id=3233.

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Religöse Sozialisation nach Altersgruppen:

Aus einer Veröffentlichung der Bertelsmann-Stiftung auf der Grundlage von Studien von Prof. Detlef Pollack und Olav Müller. Angesichts der Lage nach und mitverursacht durch den Umbauprozess ist Schadensbegrenzung angesagt. Thies Gundlach bemüht angesichts der prekären Lage die biblische Metapher der Wüste.10 Sie impliziert – unausgesprochen – eine lange Durststrecke und eine vage Hoffnung auf blühende Landschaften. Allerdings könnte man dies auch als durchsichtigen Versuch werten, von der Verantwortung für das Resultat abzulenken. Denn »wo immer eine Organisation schlechte Leistungen erbringt, ist mit ihrem Management (der Führung, Anm. F.S.) etwas nicht in Ordnung«11. Der das schreibt, Prof. Fredmund Malik, St. Gallen, gilt als Doyen der verantwortungsethischen, realwirtschaftlichen Managementlehre. Was lief schief im Management der Kirche? Das ist also die Frage. Und wir betrachten mit dieser kleinen Studie die Resultate des bisherigen Reformprozesses gemäß den Kriterien der Akteure – den Kriterien des Managements selbst. Gerade so könnte am Ende die Theologie in der Kirche wieder neu zu ihrem Recht kommen. Und die Soziologie erneut in ihrer Bedeutung bestätigt werden.

10 Autorisiertes Protokoll von Katharina Dang: www.wort-meldungen.de/?p=2259. 11 Fredmund Malik, Management, Frankfurt / New York, 65.

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2 Eine Annäherung: Reform oder Umbauprozess? Seit den 90er-Jahren kommen betriebswirtschaftliche Impulse in die Kirche. Damit verfolgte Ziele sind ursprünglich noch der demokratischemanzipativen Tradition verpflichtet und lauten Transparenz, Partizipation und Nachhaltigkeit.12 Doch schon damals positionierte sich auch McKinsey mit einem »Pro-bono«-Projekt in München und landete mit seinem angebotsorientierten Konzept einen ersten Flopp.13 Das Impulspapier »Kirche der Freiheit« 2006 zeigte dann, dass diese letztgenannte Richtung den Prozess der Reformen usurpiert hatte. Erstes Indiz: Christian Grethlein weist darauf hin, dass frühere Reformen der Evangelischen Kirche stets von den Rändern ausgingen (Wichern, Sulze), bis in die 90er-Jahre, wie partielle Reformen der Nachkriegszeit belegen und von Matthias Hartmann am Beispiel der Kirchenmusik exemplarisch deutlich gemacht wurde.14 Selbst die betriebswirtschaftlichen Ansätze kamen zuerst eher von kirchlichen Rändern, wie die heterogene Teilnehmerschaft und Orte entsprechender Studientage, etwa die Akademie Bad Boll,15 belegen. Auffällig am Impulsprozess »Kirche der Freiheit« ist demgegenüber laut Grethlein, dass er »geradezu aus der Mitte«, also dem Zentrum der Kirche bzw. von »oben«, entspringt.16 Und siehe da: Ab 2007 wurden kirchliche Tagungen zur Reform für Verwaltungs- und Führungskräfte nicht nur zentralisiert, sondern in ökumenischer Harmonie unter dem Bistum Mainz vereinigt. Bei diesen sog. »KVI«-Kongressen handelt es sich jedoch mehr um eine Art Promotion-Veranstaltung für Anbieter und bei dem zugehörigen Fachmagazin »Im Dialog« um ein nach dem Geschäftsmodell der Apotheken-Rundschau17 konzipiertes Periodikum. Kritischer Diskurs war dabei nur selten gefragt.

12 So z.B. in dem in die 90er-Jahre zurückreichenden Projekt »Wirtschaftliches Handeln« der Württ. Landeskirche, vgl. www.wort-meldungen.de/?p=4482. 13 Peter Barrenstein, Erfahrungen mit dem eMp; in: epd, Aus Fehlern lernen? Scheiternde Projekte in einer lernenden Kirche, 31. 14 Vgl. für die Kirche das Beispiel der Kirchenmusik, Matthias Hartmann, DPfBl 10/2012, www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php?a=show&id=3251. 15 Tagungen Kirchliches Finanzmanagement ab 1996 und Facilitiy Management ab 2002. 16 Christian Grethlein, Problem hinter den Bemühungen um Kirchenreform, in: Praktische Theologie 1/2013, 36f. 17 Z.B. mit käuflichen, hochpreisigen »Erfolgsstorys«, ausgedehntem SponsoringSystem etc.

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3 Die Finanzlage – nüchtern betrachtet Der Prozess »Kirche der Freiheit« 2006 setzte ein mit »Krisenalarmismus«18. »Auslöser für die als erforderlich angesehenen Reformen … (stellen) eindeutig die finanziellen Engpässe dar.«19 Die Argumentation ist notorisch: »Auf eine einfache Formel gebracht lautet die Zukunftsperspektive: Die Evangelische Kirche wird im Jahr 2030 ein Drittel weniger Mitglieder als 2002 haben und nur noch über die Hälfte ihrer Finanzkraft verfügen.«20 Dieses Schema taufte man in der EKiR von offizieller Seite sehr erhellend und treffend »einfache Formel«. Ein terminus technicus, den wir gerne aufgreifen und zur allgemeinen Verwendung empfehlen.21 Finanzkrise? Das Thema stand im Raum, und ab 2006 herrscht Alarm. Sicher ist zunächst nur, dass durch litaneiartige Wiederholung bis in die jüngste Zeit22 die »einfache Formel« die kirchlichen Denkkategorien so geprägt hat, dass sie mittlerweile tief im kollektiven kirchlichen (Unter-)Bewusstsein verankert ist. Aber deckt sich das mit der Realität? Die offizielle EKD-Statistik der Netto-Kirchensteuer weist im Zeitraum ab 1985, in dem mit der »einfachen Formel« gearbeitet wird, eine Steigung der nominalen – also in den Haushaltsplänen stehenden – Werte von ca. 2,9 Mrd. € 1985 auf ca. 4,77 Mrd. € 201223 (+64%) aus. Gemäß den Prognosen von 1985 müsste anteilmäßig ein Minus von 35% eingetreten sein. Die Differenz zwischen der Prognose und der Realität beträgt also innerhalb von knapp 30 Jahren 100% (vgl. dazu auch 5.; zu den Realwerten 3b, 3c).

18 Günther Thomas, 11 Klippen auf dem Reformkurs der EKD, in EvTh 2007, 361– 387. 19 Franz-Xaver Kaufmann und Detlef Pollack, Kirchliche Reformbemühungen in soziologischer Perspektive, Ev. Theologie 1/2013, 154. 20 Hans-Jürgen Volk, DPfBl 10/2013, www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv. php?a=show&id=3466. 21 Vgl. www.wort-meldungen.de, Suchfunktion »einfache Formel«. 22 So erst jüngst Bischof Hein, EKKW: »… gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (dazu gehört der Rückgang der Gemeindeglieder und damit der finanziellen Ressourcen).« In Hess. PfBl 5/2013, 115. 23 Wert 2012, vgl. https://www.ekd.de/statistik/finanzen.html; Statistik ab 1953 bei: www.steuer-forum-kirche.de/aufkommen-ev-1953ff.pdf.

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a) Die Einnahmen stiegen, die Ausgaben für Personal wurden ab 2000 deutlich heruntergefahren: Stellen gestrichen, die Löhne über Jahre hin eingefroren, das Weihnachtsgeld gestrichen, die Durchstufungen nach A 14 zeitlich gestreckt, div. Kosten (nicht nur beim Thema Wohnen) auf die PfarrerInnen abgewälzt etc. Die Einnahmen stiegen, und die Überzeugungskraft des Alarms sank. Daraufhin wurde die Argumentation modifiziert: Seit einigen Jahren gelten nicht mehr die Nominalwerte der Kirchensteuereinnahmen (s.o.), sondern die inflationsbereinigten »Real«werte als Problem.24 EKD-Vizepräsident Winterhoff bspw. argumentiert global: »Seit 1994 Kirchsteueraufkommen 9% Zunahme, Kaufkraftverlust in der gleichen Zeit 30%.«25 Hier werden nicht Zahlen oder ausgewählter Betrachtungszeitraum selbst überprüft. Auch das wäre interessant. Entscheidend ist eine andere Frage: Welche Bedeutung hat der Kaufkraftverlust des statistischen Warenkorbes des Otto Normalverbrauchers für die EKD? Dieser Warenkorb und nichts anderes steht nämlich hinter der Inflationsberechnung 24 Vgl. die Jahresberichte der EKHN. Im Bericht 2005/06, 7, wurden noch die Nominalwerte als Problem benannt. Im Jahresbericht 2007/2008 (6, 7) werden, nachdem zuvor ein struktureller (!) Haushaltsüberschuss von 85,4 Mio. € konstatiert wird, das überaus erfreuliche Ergebnis in einem Diagramm mithilfe des – als nunmehr maßgeblich eingeführten – Realwertes klein gerechnet und relativiert. 25 Im Gegensatz zu diesem Minus von real ca. 1% p.a. erklärte jüngst Finanzdezernent OKR Kastrup vor der Landessynode Württemberg: »Seit 1992 gibt es trotz sinkender Mitgliederzahlen ein durchschnittliches Kirchensteuerwachstum von jährlich real 1,9 Prozent.« Quelle: www.wort-meldungen.de/?p=15433.

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und damit der Realwertstatistik. Was bedeutet es also für die EKD, wenn die Kosten für Karotten, Kaffee, für Pkw, die Urlaubsreise o.Ä. steigen? Es ist ja nicht zu bestreiten, dass Realwerte bei differenzierter Anwendung einen dann differenzierten Informationsgehalt liefern. Kirche hängt von fremden Leistungen etwa von Energie ab. Allerdings mit einem geringen, nicht relevanten Haushaltsanteil von 3–4%. Hingegen werden ca. 75% der Ausgaben im eigenen Haus erbracht, sind also keine Fremdleistungen. Diese Ausgaben z.B. für Personal wurden aber über einen langen Zeitraum hin gar nicht erhöht (s.o.) und führten damit zum Realgewinn für den Arbeitgeber. b) Das eigentliche Problem der Realwertstatistiken sei am Beispiel zweier Realwertkurven derselben (!) Nominalwertstatistik veranschaulicht. Die Kurven von 2011 stammen aus der EKHN, und zwar aus zwei aufeinander folgenden Folien (!) eines Papiers der KL zur Pfarrstellenbemessung. Zu beachten ist, dass die Statistik nur den Zeitraum 2000 bis 2010 betrifft (ab 2011 aus damaliger Sicht Prognosen).

Um nicht falsch verstanden zu werden: Beide Kurven sind rechnerisch richtig! Die Unterschiede rühren allein vom unterschiedlichen Startpunkt – einmal 1991, einmal 2000. Beide Kurven weisen aber einen stellenweise um 50–70 Mio. € differierenden Betrag aus (vgl. die Jahre 2004– 2007). Will sagen: Je nach Ausgangspunkt der Betrachtung kann man die Kurven genauso passend erzeugen, wie sie für die je eigene Argumentation aktuell taugen! Eben diesen Sachverhalt bestätigte der Finanzdezer-

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nent der EKHN, Thomas Striegler, seinem Publikum bei einem Vortrag26 auf Nachfrage. Will sagen: Realwertstatistiken und mehr noch davon extrapolierte Realwertprognosen zeigen keinesfalls »objektive« Werte. Ganz im Gegenteil: Die Realwertstatistik drückt die aktuelle subjektive Sicht des Erstellers, sein erkenntnisleitendes Interesse, aus. Das ist zwar auch erhellend – aber das Gegenteil dessen, was normalerweise an »alternativloser Wahrheit« suggeriert wird. Weitere Informationen dazu unter www.wort-meldungen.de. c) Bei einer noch fast aktuellen Darstellung der EKHN27 liegt der damals letzte verfügbare Realwert von 2014 schon 17% über der Ausgangsbetrachtung von 1990.28 Bei der Haushaltseinbringungsrede für den Haushalt der EKHN 2016 des Finanzdezernenten der EKHN, Thomas Striegler, steigt die Realwertkurve sogar leicht an. Die Legende bemerkt dazu verschämt: »Die Trendlinie entspricht einer positiven Seitwärtsbewegung.« Das heißt erstens: Auch Realwertverluste existieren nicht. Zweitens: Finanzprognosen weisen schon im Nahbereich von nur zwei Jahren erhebliche Unschärfen auf! Hochgerechnet auf 20 oder 30 Jahre sind solche Prognosen nicht genauer als – Kaffeesatzleserei! Damit noch nicht genug. Die Landeskirchen haben in den zurückliegenden Jahren steigende Einnahmen, bisweilen Überschüsse – aber letztlich keine Verluste.29 So weist z.B. die EKHN offiziell innerhalb der letzten sieben Jahre von 2006 bis 2012 fünfmal Haushaltsüberschüsse in Höhe von 40 Mio. bis 70 Mio. € aus.30 Zum Vergleich: Der Ansatz für den Gemeindepfarrdienst liegt im selben Zeitraum in der EKHN bei ca. 60 Mio €.31 Die Finanzrücklagen allein der EKHN liegen bei 2,2 Mrd. € (Buchwert),32 EKD-weit bei 30 Mrd.33 Erwähnenswert wäre z.B. noch der Grundbesitz: »Die EKD ist mit 330 000 ha der größte Landeigentümer in

26 Vortrag im »Offenen Haus«, Darmstadt, Februar 2013. 27 EKHN-Jahresbericht 2012/2013, 6. 28 Vgl. http://wort-meldungen.de/?p=12719, Jahresbericht der EKHN 2014/2015, Werte im Diagramm, 6. 29 Wir sehen hier von Finanzskandalen wie der bbz-Affäre einmal ab. 30 EKHN-Jahresbericht 2012/2013, 7; vgl. www.ekhn.de/fileadmin/content/ ekhn.de/download/ekhn-jahresbericht/2012_13Jahresbericht_gesamt.pdf. 31 Vgl. die Jahresberichte der EKHN. 32 Drucksache zur Synode, vgl. www.wort-meldungen.de/?p=4779. 33 Finanzdezernent Thomas Striegler, Vortrag im »Offenen Haus«, Darmstadt.

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Deutschland.«34 Wer redete da von Finanzkrise? Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Zentralkassen der Landeskirchen wurden mit Überschüssen angefüllt. Die Kirchen befinden sich längst auf dem Weg von der Kirchensteuerfinanzierung hin zu einer kapitalbasierten Finanzierung. Was allerdings – erste Voraussetzung – nur mit erheblichen »Anstrengungen«, mit einem weiterhin erheblichen bzw. noch ansteigenden Abzug von Mitteln bei den Arbeitsfeldern an der Basis realisiert werden konnte und kann. Dieser Abzug von Mitteln an der Basis führt zu steigenden Austrittszahlen. Heutige Einsparungen führen also in Zukunft zum Rückgang der Kirchensteuereinnahmen. Wenn man weiterdenkt, muss man konstatieren, dass durch den aktuellen Mittelentzug eine zukünftige Finanzkrise durch die Finanzdezernenten selbst herbeigeführt wird! Die zweite Voraussetzung eines solchen kapitalbasierten Systems liegt außerhalb der Kirche: Die Kapitalanlagen müssten auch angesichts fraktaler Märkte sicher und ertragsfähig sein. In Niedrigzins- und Depressionsphasen setzt das starken Glauben voraus – in die »Märkte« … Profitieren werden auf jeden Fall Consultants, Banken und Fondsmanager. Verlierer sind die Menschen, zu denen die Kirche doch eigentlich – vgl. Mt. 28 – gesandt ist … 4 Der Hintergrund des ökonomischen Drucks auf die Arbeitsfelder Die »einfache Formel« hat innerkirchlich eine wichtige Funktion. Sie liefert die Begründung für den ökonomischen Druck, eine Art Effizienzfetischismus auf Personal, Gemeinden und Dienste/Funktionen. Sie dient also der Umsetzung des Ziels der Reduktion der Gemeinden um 50% von 2007 bis 2030 gemäß Impulspapier. Wird dies mit (prognostizierten) ökonomischen Zwängen begründet, erscheinen solche Zwänge den Betroffenen offensichtlich – wie in der Politik auch – als »alternativlos«. Die Opfer fügen sich – prognosezahlenhörig – in ihr Schicksal. Widerstand, der eigentlich zu erwarten und vielleicht auch begründet ist, unterbleibt. Reduktionen von Zuweisungen und Personal folgen. Und weil diese Argumentationsweise gut funktioniert, wird gleich ein weiteres Instrument hinzugefügt: die Doppik/NKF. Ziel: Den Rechtsträgern in der Gegenwart zusätzlich zu den Kürzungen weitere Mittel zu entziehen. 34 Kirchenland in Bauernhand, Interview mit Steffen Herbst, Präses der Synode der EKM, Publik Forum 23/2013, 24.

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Ein Wahrheitskern des Ressourcenverbrauchskonzepts soll dabei nicht bestritten werden. Es wird aber zum Zwangsregime, wenn Mittel in Größenordnungen entzogen werden, die in der Zukunft real gar nicht benötigt werden. Als anschauliches Beispiel diene die EKiR. Sie bildet Rücklagen für Gebäude gleich doppelt (!) – einmal als Abschreibung und ein weiteres Mal als sog. Substanzerhaltungspauschale. So erzeugt man ökonomischen Druck durch rechnerische (!) Verarmungen. Ein Superintendent hat das auf der Synode in Hilden (2014) zu Recht beanstandet. Nur einer … Am Beispiel der Doppik können sehr eindrücklich die Veränderungen der Zielsetzung, die sich im Laufe des Prozesses ergeben haben, aufgezeigt werden. Waren diese zu Beginn in den 90er-Jahren im Prozess »Wirtschaftliches Handeln« der Württembergischen Landeskirche noch Transparenz, Partizipation, Nachhaltigkeit (s.o.), so mutiert das Ziel wie im o.g. Beispiel augenfällig ungenannt zum Zwangsregime, das der Basis die Mittel für die Arbeit an und mit den Menschen entzieht und der Bürokratisierung und Hierarchisierung, also der Machtstabilisierung dient. Und eben diese Verschiebung markiert den eigentlichen Dreh- und Wendepunkt vom Reform- zum Umbauprozess. Denn dahinter verbirgt sich ein fundamentaler Wechsel des Managementansatzes. Dieser war ursprünglich ein realwirtschaftlicher Customer-Value-Ansatz, ein am Menschen, also auch den Gemeinden, orientierter Ansatz. Dieser Managementansatz steht also theologisch in der Tradition von Barmen. Mit »Kirche der Freiheit« wurde dieser ersetzt durch den Aktionärsansatz des Shareholder-Value, durch einen an Strukturen und den Interessen der Amtskirche orientierten Ansatz. Das 19. Jahrhundert lässt grüßen.

5 Die Problematik von Strategie und Struktur des Umbauprozesses Dazu ein paar wenige Blitzlichter. Strategie: »Eine gute Strategie ist unabhängig von der Möglichkeit, Prognosen zu machen … Das ist eine der wichtigsten Prinzipien der Architektur einer Strategie – dies deshalb, weil die Zukunft nicht prognostizierbar ist – sie war es nie.35 Und sie

35 Vgl. oben, 3. Ergebnis einer Finanzprognose im Nahbereich.

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wird es nie sein.«36 Man vergleiche nur die erheblichen Unschärfen von Finanzprognosen schon im Nahbereich als Anschauungsmaterial.37 Um jetzt keine falsche Abwehrreaktion zu erzeugen: Der Autor Malik relativiert diese Aussage. Auch ich arbeite im Bereich des Immobilienmanagements38 mit Szenarien39. Das darf aber nicht von der Kernaussage ablenken, die zu Recht lautet: Eine gute Strategie braucht zunächst keine Prognose. Dabei ist der Begriff nicht umgangssprachlich zu verwenden, sondern im Sinne einer langfristigen Orientierungsgröße. Das gilt dann selbstredend auch für eine gute kirchliche Strategie. Kirchliche Mitarbeiter bestätigen dies immer wieder. Fazit: Eine Strategie, die wie die »einfache Formel« zentral auf einer Prognose basiert, ist schon deswegen obsolet. Schlimmer noch, denn es gibt eine folgenschwere Abhängigkeit der Struktur von der Strategie: »Structure follows Strategy«40. Eine falsche Strategie, abgeleitet von falschen Orientierungsgrößen, führt dann auch zwangsläufig zu – falschen Strukturreformen.

6 Strukturen In der kirchlichen Diskussion wird der Begriff Reformen nahezu synonym mit dem der Strukturreformen verwendet.41 Liegt in deren Reform das Heil der Kirche? Bei der Fülle von Maßnahmen des Umbauprozesses könnte man diesen Eindruck gewinnen. Leider gibt es aber »keine guten Organisationen«. Eingriffe in die Strukturen sind aufs absolut Nötigste zu reduzieren, gelten diese doch immer als problematisch: »Organisatorische Veränderungen sind bildlich gesprochen vergleichbar mit chirurgischen Eingriffen in einen Organismus – in einen lebenden Organismus ohne Betäubung … Die guten Chirurgen haben gelernt, dass man nicht ohne Not schneidet.«42 Solche guten Chirurgen mit Konzepten minimalinvasiver Eingriffe, sprich systemisch angelegter Reformen, hätte die Kirche durchaus gebraucht. Die gab es. Viele Autoren der Artikelserie sind 36 37 38 39 40 41 42

Malik, a.a.O., 183. Vgl. Punkt 3c, Stichwort Kaffeesatzleserei. Friedhelm Schneider, Kirchliches Immobilienmanagement, Darmstadt 2004. Zu beachten ist auch die Differenzierung zw. Prognose und Szenario! Fredmund Malik, a.a.O., 215. https://www.ekd.de/download/zahlen_und_fakten_2013.pdf; dort 6ff. Malik, a.a.O., 217.

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sich genau an dieser Stelle einig! Nur ein Beispiel, das Rechnungswesen: Die Erweiterung der Kameralistik durch Kosten-Leistungs-Rechnung (KLR) in speziellen Bereichen, etwa der Administration oder dem Immobilienmanagement, das wäre durchaus sinnvoll gewesen. Realisierbar mit finanziell bescheidenem Aufwand, ohne das Personal nennenswert zu belasten und die Gremien durch eine Verkomplizierung letztlich einfacher Sachverhalte mit der Doppik zu entmündigen. Kleine Schnitte, eben Reformen, waren nötig! Der Impulsprozess lieferte hingegen große Operationen, viele große Operationen, bei denen allein schon eine einzige als Jahrhundertwerk43 gilt. Zu viele Großoperationen zu hohen Kosten bei geringen Aussichten auf Verbesserung. Das ist das Problem der Strukturreformen.

7 Erkenntnisgewinne Erste Erkenntnis: Das Papier »Kirche der Freiheit« hat keine Reform angestoßen, sondern einen grundlegenden Umbauprozess initiiert. Reformen sind auf Kontinuität bedacht und wollen den Traditionsabbruch vermeiden.44 Ursprünglich, in den 90er-Jahren, war dies von einem großen Teil der Reformbewegung auch beabsichtigt. Das hat sich mit Kirche der Freiheit geändert. De facto wurde ein realwirtschaftlicher Managementansatz durch einen Aktionärsansatz abgelöst. Im Zentrum steht dann nicht mehr der Mensch, sondern das Kapital. Der Übergang von der Reform zum Umbau wurde exemplarisch am Beispiel des Funktionswandels der Doppik im Prozess verdeutlicht. Die ursprünglichen Ziele von Transparenz, Partizipation, Nachhaltigkeit wichen dem (vorwiegenden) Ziel des Finanzmittelentzugs bei der Basis, also bei der Arbeit am Menschen. Zweite Erkenntnis: Die Orientierungsgröße bzw. Strategie der Umbauprozesse bildet die »einfache Formel« als Langfristprognose der Kirchensteuerentwicklung. Sie entpuppte sich empirisch als Kaffeesatzleserei (vgl. 3.) und aus der Managementtheorie (vgl. 5.) als unhaltbar. Das trifft

43 So Werner Scheler, Vors. Rechnungsprüfungsausschuss Bayern, vgl. www.wortmeldungen.de/?p=1897. 44 A. Baumgartner / O. Fuchs, LthK 8, 3/1999, 927.

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etwas modifiziert auch auf Realwertstatistiken und Prognosen zu, bei denen in erster Linie die Information über das erkenntnisleitende Interesse des Erstellers von Belang ist. Eine dritte Erkenntnis aus einem Artikel von Pfr. Hans-Jürgen Volk45 soll noch ergänzt werden. Der Umbauprozess wird nicht von den Landeskirchen und den Synoden, sondern zentral von der EKD gesteuert. Nicht nur freundlich sagte denn auch EKD-Ratsfrau und Vertreterin der Deutschen Bank Marlehn Thieme an Rekowski gewandt bei der Einführung der neuen Kirchenleitung: »Zwei Ihrer Vorgänger haben der EKD ihre Erfahrung und Kraft der Moderation und Integration zur Verfügung gestellt, indem sie den Ratsvorsitz übernahmen. Dies sichert Ihnen wohlwollende Begleitung und Beobachtung der EKD und ihrer Gliedkirchen zu!«46 Vierte Erkenntnis: Grundlegende Managementprinzipien realwirtschaftlichen Managements werden nicht eingehalten: – analytisch: Extrem unsichere Langfristprognosen der Kirchenfinanzen dienen als Fundament, und man konstatiert »systematische Unklarheiten«47; – methodisch: Die fehlende Lernstruktur macht stutzig: Megaprojekte werden implementiert ohne Pilotprojekte und Evaluationen; Promotion-Veranstaltungen ersetzen einen ernsthaften wissenschaftlichen Diskurs und eine fundierte Weiterbildung; – strategisch: Die zentrale Strategie basiert auf bzw. ist identisch mit langfristigen Finanzprognosen (einfache Formel), also auf Kaffeesatzleserei; – strukturell: Keine kleinen Schnitte, sondern massive Eingriffe wie Zentralisierung (mittlere Ebene), Fusionen etc. verändern die Struktur radikal – ohne Aussicht auf nennenswerte Erfolge. Denn Strukturen können nie gut, schon gar nicht ideal sein;

45 Hans-Jürgen Volk, DPfBl 10/2013; www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv. php?a=show&id=3466. 46 Nachzulesen auf http://www.ekir.de/www/downloads/20130302_PT_Marlehn_ Thieme_Grusswort.pdf. 47 Günter Thomas, a.a.O.

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– kulturell: Die Stärken der Organisationskultur flacher Hierarchien und intrinsischer Motivation werden massiv beschädigt. Emergente Eigenschaften gehen verloren. Die Integrität leidet zunehmend.48 Das Potenzial des Vertrauens wird verspielt. Die Mitarbeiterschaft wird durch die Fülle parallel verlaufender Prozesse (Fusionen, Finanzwesen, Doppik etc.) verschlissen oder in die innere Emigration getrieben; – ökonomisch: Unsummen werden in Milliardenhöhe bei einem extrem schlechten Kosten-/Nutzen-Verhältnis verschleudert. Die wenigen positiven Effekte sind reformunabhängig oder hätten mit einem erheblich geringeren Aufwand und ggf. mit minimalen Schnitten erreicht werden können. Fünfte Erkenntnis. Die theologische Fundamentierung weicht einer Dogmatik der Finanzwirtschaft und des Shareholder-Value. Die theologische Fundamentierung führt – da dürfte in der Kirche kein Zweifel herrschen – zu einer Aufgabenbestimmung der Kirche in der Form der »Kommunikation des Evangeliums«49. Darauf aufbauend sind für das Management Strategien kirchlichen Handelns zu entwickeln. Diese theologische Fundamentierung wird im Umbauprozess durch eine pseudo-betriebswirtschaftliche Dogmatik ersetzt, die auf nicht belastbaren Finanzprognosen, interessegeleiteten Rechenalgorithmen und fraktalen Märkten aufbaut. Kurz: Der Prozess wirft also Rätsel auf. Wie konnte es so weit kommen? Gegen Rätsel hilft allein Aufklärung. Aufklärung – der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Aufklärung in der Kirche – das ist zunächst der Ausgang der Pfarrerinnen und Pfarrer aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit. Dann müssen die zahmen und unkritischen und gerade damit den Protestantismus schädigenden Synoden folgen. Von ihnen müssten die Beschlüsse zu wissenschaftlicher Aufarbeitung und Evaluation erfolgen. Angesichts der deprimierenden Resultate der Umbauprozesse in den Kirchen, die Erfahrung mit der Implementation haben, scheint ein Mo48 Friedhelm Schneider, DPfBl 8/2013. 49 Christian Grethlein, Praktische Theologie, Berlin 2012.

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ratorium zwingend. Die Kirche muss stehenbleiben, innehalten. Eine schonungslose, offene und transparente Bestandsaufnahme des aktuellen Status in den Kirchen mit Implementationshintergrund ist dringend erforderlich. Ist die protestantische Kirche dazu in der Lage? Oder hat man sich schon verrannt, gilt nur das »Augen-zu-und-durch«? Dann droht ernsthafte Gefahr. Denn das ist der Weg, der nur noch tiefer in die Wüste führt. Und dem beschworenen Exodus könnte der Exitus folgen.

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Kirche – Gemeinwesen oder Großkonzern? Die bedrückende Entwicklung einer Kirche auf Gemeindebasis zum finanzorientierten Konzern

Welchem Leitbild folgen die diversen Umbauprozesse evangelischer Landeskirchen eigentlich? Die Vorgabe erfolgte im Jahr 2006 durch das EKD-Impulspapier »Kirche der Freiheit«1. Der Titel klingt gut – fast reformatorisch. Allerdings gehört der Begriff »Freiheit« zu den wohl am stärksten überdehnten und missbrauchten Vokabeln im öffentlichen Diskurs. Vor 1945 sprachen braune Ideologen vom »Freiheitskampf des deutschen Volkes«. Im Vietnamkrieg der 60er-Jahre ging es angeblich um die »Verteidigung der Freiheit«. Ein Ronald Reagan profilierte die angeblich »freie Welt«, zu der natürlich auch Chile unter einem Diktator Pinochet subsumiert wurde, gegenüber dem »Reich des Bösen« im kommunistischen Osten. Im Namen der Freiheit wurden verstärkt ab den 90er-Jahren in immer stärkerem Umfang destruktive Marktmechanismen freigesetzt, die die sozialen Gegensätze global auf bedrückende Weise verstärkten und für finanzstarke Konzerne und Einzelpersonen Freiräume schufen, noch mehr Reichtum anzuhäufen. Der für den »rheinischen Kapitalismus« typische Ordnungsrahmen einer sozialen Marktwirtschaft wurde demontiert. Die Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte verlieh längst überholt geglaubten marxistischen Analysen bittere Aktualität. Schon längst haben sich diese »Märkte« von der sogenannten Realwirtschaft gelöst. Nationalstaaten wie auch Unternehmen der Realwirtschaft gerieten in zunehmende Abhängigkeit vom Finanzmarktgeschehen. Durch Privatisierungsprozesse bei der Energiewirtschaft, der Post oder der Bahn wurde der Sektor eines der demokratischen Kontrolle unterliegenden Gemeinwesens immer mehr reduziert. Ausgerechnet unter einer von SPD und Grünen getragenen Bundesregierung erreichten die Auswirkungen des durch und durch unsozialen neoliberalen »Freiheitsdiskurses« ihren Höhepunkt: Eine Steuerreform 1 https://www.ekd.de/download/kirche-der-freiheit.pdf.

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entlastete vor allem die Vermögenden, die Arbeitsmärkte wurden »flexibilisiert« und »dereguliert« zulasten der abhängig Beschäftigten, die umlagefinanzierten Sozialsysteme geschwächt und durch kapitalgedeckte Elemente ergänzt, was wiederum der Versicherungswirtschaft und der Finanzindustrie Auftrieb verlieh. Diese Skizze soll verdeutlichen, in welchem gesellschaftlichen Kontext die kirchlichen Umbaukonzepte entwickelt wurden. In zentralen Elementen folgen sie einer neoliberalen Agenda und einem säkularen Freiheitsdiskurs. Eine biblisch-theologische Ausarbeitung des Freiheitsbegriffs ist im Impulspapier »Kirche der Freiheit« nur in Spurenelementen wahrnehmbar. Dabei bietet die Bibel reichlich Material, um einen reformatorischen Freiheitsbegriff zu fundieren. Zitiert sei hier Paulus (2. Korinther 3,17): »Der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.« Doch einen handlungsleitenden Bezug auf den paulinischen Freiheitsbegriff (vgl. z.B. auch Galater 4–5) sucht man vergeblich. Was ebenso fehlt, ist die Anknüpfung an das große biblische Freiheitsepos, das den Auszug der Kinder Israels aus der Knechtschaft in Ägypten beschreibt. Das Impulspapier »Kirche der Freiheit« wird so trotz aller gegenteiligen Beteuerungen zu einem einschlägigen Dokument der Selbstsäkularisierung, zumal die angebotenen Umbaumaßnahmen durch einen erstaunlichen Mangel an Originalität auffallen. Mit leichten Modifikationen unter Verwendung theologischer Vokabeln als rechtfertigendem und schmückendem Zierrat wird nachvollzogen, was zuvor im öffentlichen Sektor, ehemaligen Staatsunternehmen wie der »Telekom« oder in Unternehmen der Diakonie bereits auf den Weg gebracht wurde. Was offenbar sehr zielgerichtet angestrebt wird, ist die Transformation2 eines immer noch bemerkenswert vielfältigen protestantischen Gemeinwesens in einen religiösen Dienstleistungskonzern. »Freiheit« heißt hier, dass man die Kirche unter Effizienz- und Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten nach Gutdünken umbauen kann. Damit begibt man sich in einen scharfen Gegensatz zur »Barmer Theologischen Erklärung«.

2 Vgl. meinen Beitrag »Transformation einer Kirche«: http://www.zwischenrufediskussion.de/pages/ekd/transformation-einer-kirche---die-fatalen-folgen-einer-age nda-mentalitaet.php.

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1 Eine angebliche »Finanzkrise« als kirchenpolitischer Hebel Wie gelang es nun, Konzepte durchzusetzen, die bis zum Ende der 90erJahre bestenfalls ein Nischendasein führten und damals niemals mehrheitsfähig gewesen wären? Tatsächlich gab es bei den Kirchensteuereinnahmen aufgrund einer hohen Arbeitslosigkeit und einer schwachen konjunkturellen Entwicklung ab der 2. Hälfte der 90er-Jahre eine Abwärtsbewegung, die sich vor allem durch die Umsetzung einer Steuerreform der damaligen rot-grünen Bundesregierung bis 2005 verschärfte. Zahllose Oberkirchenräte und Superintendenten verkündeten landauf, landab, dass die Zeiten steigender Kirchensteuereinnahmen endgültig vorüber seien und man sich auf eine dauerhaft sinkende Finanzkraft einstellen müsse. Als Ursache für diese »Finanzkrise« wurden nicht etwa die Steuerpolitik oder die wirtschaftliche Entwicklung in den Vordergrund gerückt, sondern die sinkenden Mitgliederzahlen sowie der demografische Wandel. Folgendes Szenario wurde Synoden und anderen kirchenleitenden Organen vorgelegt: im Jahr 2030 wird die Evangelische Kirche lediglich noch 2/3 des Mitgliederbestandes von 2002 haben – vermutlich ist diese Einschätzung realistisch – und nur noch über die Hälfte ihrer damaligen Finanzkraft verfügen. Diese Aussage beruht auf reiner Kaffeesatzleserei und ist durch die positive Finanzentwicklung der vergangenen zehn Jahre faktisch widerlegt. Hiermit war jedoch der Hebel gefunden, Synoden zu Entscheidungen zu drängen, die überwiegend auf eine zentrale Steuerung von Prozessen im Bereich von Finanzen, Verwaltung und Organisation sowie Personalplanung hinausliefen. Landeskirchen wie die Evangelische Kirche im Rheinland mit einer ausgeprägt presbyterialsynodalen Kirchenverfassung wurden durch diese Entwicklung im Kern beschädigt. Die Identität dieser Landeskirche kam immer mehr unter die Räder einer durchaus geschickt vollzogenen Top-Down-Strategie. Verfassungsmäßig schwach ausgestattete Organe wie die Superintendentenkonferenz, z. B. in der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), oder die Kirchenkonferenz der EKD erhielten immer mehr Gewicht. Einst offene und spannende synodale Debatten gerieten vor allem dort, wo es um Finanzen und Verwaltung geht, immer mehr zu Inszenierungen. Ein kleines Netzwerk von Verantwortungsträgern der oberen Leitungsebenen steuert bis heute das synodale Geschehen. Diese Verabredungen eines kleinen Kreises kirchlicher Funktionäre sind geradezu antireformatorisch, da man nicht mit offenen Karten spielt und teil-

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weise an regulären Verfassungsorganen vorbei Entscheidungen durchsetzt. Die Fakten widerlegen den kampagnenartigen, manipulativen und letztlich irrationalen Finanzdiskurs, der damals aus kirchenpolitischen Gründen aufgelegt wurde. Tatsache ist, dass die Kirchensteuereinnahmen seit 2005 deutlich gestiegen sind und dass bereits 2013 ein EKD-weites Allzeithoch bei den Kirchensteuereinnahmen3 erzielt werden konnte. Für die Evangelische Kirche im Rheinland stellt sich die Situation wie folgt dar: Nettokirchensteueraufkommen 2005 EKiR 492 Mio. € 2,95 Mio. Gemeindeglieder

Nettokirchensteueraufkommen 2016 EKiR (Planzahlen) 698 Mio. € 2,66 Mio. Gemeindeglieder (Stand 01.01.2015)

Die EKiR hat also – völlig im Gegensatz zur oben erwähnten Langfristprognose – beim Nettokirchensteueraufkommen innerhalb von zehn Jahren einen Zuwachs von mindestens 206 Mio. € zu verzeichnen. Im gleichen Zeitraum verlor sie etwa 290.000 Mitglieder. Bedenkt man, dass die Planzahlen in der EKiR in den vergangenen Jahren stets positiv überboten wurden, dürfte die tatsächliche Steigerung der Einnahmen nahe 50 % liegen – und dies trotz deutlich sinkender Mitgliederzahlen. Es hat Folgen, wenn einflussreiche Verantwortungsträger der Kirche derart manipulativ vorgehen: 1. Verlust an Glaubwürdigkeit: Es gibt keine Finanzkrise der Kirche. Im Gegenteil: Im Blick auf ihre Finanzkraft nähert sich die Evangelische Kirche ihren besten Zeiten während des Einheitsbooms zu Beginn der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Geld ist da, es wird allerdings verwendet, um die eigene Organisation und Verwaltung zu stärken und Kapital in großem Umfang als Zukunftssicherung zu akkumulieren. Gespart wird bei der Arbeit mit den Menschen vor Ort.

3 Vgl. http://www.zwischenrufe-diskussion.de/pages/kirche-und-geld/kirchensteu ereinnahmen-auf-rekordniveau.php.

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2. Verlust an theologischer Substanz: Ein unseriöser Finanzalarmismus war der Ausgangspunkt der Umbauprozesse eines vielfältigen kirchlichen Gemeinwesens hin zu einem Dienstleistungskonzern. Das neue kirchliche Finanzwesen (NKF) soll die Gewähr dafür bieten, dass die Orientierung kirchlicher Arbeit an Finanzgrößen bis hin zur kleinsten Landgemeinde durchgesetzt wird. Am Anfang von Entscheidungsprozessen soll die Frage nach den Finanzen stehen, erst dann geht es um die Menschen. Die Reihenfolge müsste umgekehrt sein! Permanente Einsparungen sorgten mit dafür, dass sich eine Herrschaft des Geldes etablieren konnte. Theologie als handlungsleitendes Element von Entscheidungsprozessen wurde marginalisiert. 3. Verlust an Vitalität: Gespart wurde – seit spätestens Anfang der 90erJahre schon beim Pfarrdienst. Küsterstellen wurden reduziert, Jugendleiter- und Kirchenmusikerstellen gestrichen. Gegen den Trend wächst dagegen der Personalbedarf für die kirchlichen Verwaltungen. In der rheinischen Kirche wird dies vor allem verursacht durch das NKF und eine Verwaltungsstrukturreform. Rechnet man diese Entwicklung hoch, dürfte es in wenigen Jahren in vielen Kirchenkreisen der EKiR deutlich mehr Vollzeitstellen in der Verwaltung als im Pfarrdienst geben – eine geradezu perverse Fehlentwicklung. Eine mögliche Erklärung: Verwaltung ist ein Machtinstrument, zumal in einer Kirche, die immer zentralistischer agieren möchte. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden so demotiviert. Die Nähe der Kirche zu den Menschen geht so immer mehr verloren.

2 Verdeckte Operation »erweiterter Solidarpakt« Im Vorwort von »Schöne neue Welt« schreibt Aldous Huxley 1946: »Die größten Triumphe der Propaganda wurden nicht durch Handeln, sondern durch Unterlassung erreicht. Groß ist die Wahrheit, größer aber, vom praktischen Gesichtspunkt, ist das Verschweigen von Wahrheit.« Wer bei Google den Suchbegriff »erweiterter Solidarpakt« eingibt, wird hierzu von kirchenoffizieller Seite aus kaum brauchbares Material finden. Dabei handelt es sich um eine Intervention der Kirchenkonferenz der EKD vom März 2006, die massiv in die Finanzplanung, die Haushaltsgestaltung und die Personalplanung der Landeskirchen eingreift. Vor nur wenigen Landessynoden wurde der Begriff öffentlich erwähnt –

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zumeist den tatsächlichen Sachverhalt verharmlosend im Zusammenhang mit einem Berichtswesen in Richtung EKD. Der »erweiterte Solidarpakt« erinnert an den »Stabilitäts- und Wachstumspakt« der EU. Auch dort geht es um das Sparen um fast jeden Preis, in jedem Fall zulasten der Menschen. Allerdings gibt es zwei Unterschiede: 1. Wo der »Stabilitäts- und Wachstumspakt« der EU die Verschuldung der Staaten eindämmen will, geht es beim EKD-Solidarpakt um Kapitalbildung. 2. Die Regelungen des »Stabilitäts- und Wachstumspaktes« sind den nationalen Parlamenten bekannt und werden dort kontrovers diskutiert. Der EKD-Solidarpakt ist dagegen eine Verabredung weniger Bischöfe und Oberkirchenräte im Rahmen der Kirchenkonferenz. In der kirchlichen Öffentlichkeit wurden diese Verabredungen jedoch nie zur Diskussion gestellt. Presbyterien, Kreis- oder Landessynoden, die in der Evangelischen Kirche eigentlich entscheiden sollten, besitzen vom Inhalt des »erweiterten Solidarpakts« bisher so gut wie keine Kenntnis. Vor allem im Blick auf die Landessynoden ist dies ein skandalöser Tatbestand. Die Regelungen des »erweiterten Solidarpakts« im Einzelnen: Nimmt man die Regelungen des »erweiterten Solidarpakts« ernst, kommt man zu dem Ergebnis, dass – im Moment jedenfalls noch – die Kirchengemeinden in vielen Landeskirchen eine größere Gestaltungsfreiheit im Blick auf ihre Finanzen haben als die Landeskirchen der EKD. Kann man jemanden ernst nehmen, der ernsthaft prognostizieren will, welche Höhe die Inflationsrate im Jahr 2023 hat? Oder der glaubt, belastbare Aussagen über den Umfang der Einnahmen aus der Lohn- und Einkommensteuer im Jahr 2031 machen zu können? Basis der Regelungen des »erweiterten Solidarpakts« ist die Nötigung der Landeskirchen zu einer mittelfristigen und einer langfristigen Finanzplanung. Die mittelfristige Finanzplanung wird für einen Zeitraum von fünf Jahren erstellt, die langfristige Finanzplanung soll einen Zeitraum von 15 bis 25 Jahren umfassen. Dies ist durchaus sinnvoll, wenn einem bewusst ist, dass es sich hierbei um Szenarien handelt, die regelmäßig aufgrund einer aktualisierten Datenlage korrigiert werden müssen. Das Problem sind die prognostischen Annahmen, die man der kirchlichen Finanzplanung zugrunde legen will: – Entwicklung der Einnahmen aus Kirchensteuermitteln: Diese bewegen sich im Gleichklang mit den staatlichen Einnahmen aus der

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Lohn- und Einkommensteuer. Entscheidende Faktoren sind die wirtschaftliche Entwicklung, insbesondere die Lohn- und Einkommenentwicklung sowie die Steuerpolitik. – Prognose des allgemeinen Preisindexes: Den über einen Zeitraum von 15 bis 25 Jahren hochrechnen zu wollen, ist schlicht abenteuerlich. – Gemeindegliederzahlen: Bis heute gibt es keinen belastbaren empirischen Beleg für die Grundannahme, dass der Rückgang der Gemeindegliederzahlen die Einnahmesituation der Kirche signifikant verschlechtern würde. Seit über 10 Jahren steigen die Einnahmen aus Kirchensteuermitteln – trotz zurückgehender Mitgliederzahlen. – Ausgabenentwicklung Grundlage der Finanzplanung der Landeskirchen sind Mindeststandards, die von der Kirchenkonferenz auf Vorschlag des Finanzbeirates der EKD festgelegt werden. Diese Mindeststandards umfassen folgende Punkte: – Aufrechterhaltung der finanziellen Leistungsfähigkeit – Kostenstruktur, insbesondere der Personalkosten – Liquidität und Rücklagen – Verschuldung – Sicherung der Versorgung Jedes Jahr legen die Landeskirchen bis zum 31. März dem Kirchenamt der EKD einen Bericht zu ihrer finanziellen Situation vor, der nach einem vom Finanzbeirat entwickelten und durch die Kirchenkonferenz bestätigten Raster erstellt wird. Die Berichte werden vom Kirchenamt der EKD ausgewertet. Die Ergebnisse berät der Finanzbeirat. Kommt es bei einer Landeskirche zu erheblichen Abweichungen bei den festgelegten Mindeststandards, ergeht ein Schreiben an die betroffene Landeskirche, dem ein anschließendes Gespräch über Lösungsmöglichkeiten folgen soll. Greifen diese Maßnahmen nicht und wird durch Kirchenamt und Finanzbeirat eine »Finanzkrise« einer Landeskirche festgestellt, greifen deutlich härtere Maßnahmen, die von der Kirchenkonferenz »im Benehmen« mit dem Rat der EKD beschlossen werden. Genannt werden die »Aufforderung zur Erstellung eines Sanierungsplans in Abstimmung mit dem Kirchenamt« sowie die »Begleitung der Umsetzungsmaßnahmen durch einen Beauftragten« der EKD. »Bei Erfolg versprechender Mitarbeit der betroffenen Gliedkirchen an der Überwindung ihrer Finanzkrise

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können Unterstützung durch die Gemeinschaft der Gliedkirchen und weitere begleitende Maßnahmen in Aussicht gestellt werden.« Ist dies nicht der Fall, greifen Sanktionen, die bis zum »Ausschluss weiterer Unterstützung für die betroffene Gliedkirche reichen« können. Im Klartext: Bei nicht kooperativem Verhalten gegenüber den EKD-Spielregeln droht der Entzug der Solidarität, also möglicherweise auch der Entzug der Finanzausgleichsmittel. Die einzelnen Landeskirchen sind also im Blick auf ihre Finanzen seit März 2006 nicht mehr Herrin im eigenen Haus. Sie müssen sich den vom Finanzbeirat vorgegebenen Mindeststandards unterordnen und stehen unter Aufsicht der EKD. Dies bestätigte der Finanzchef der EKD Thomas Begrich im Rahmen einer Sendung des RBB: »Im Erweiterten Solidarpakt […] sagen wir: Es sollen aus den aktuellen Haushalten nicht mehr als zehn Prozent aufgewandt werden müssen, um die Pensionen der jetzt im Ruhedienst befindlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu bezahlen. Um das erreichen zu können, muss man ungefähr siebzig Prozent Kapitaldeckung haben.« – »Und solche finanziellen Mindeststandards werden dann auch von uns im Kirchenamt der EKD im Auftrag der Gemeinschaft der Gliedkirchen überwacht.«4 Die Finanzorientierung der Evangelischen Kirche wird durch den »erweiterten Solidarpakt« auf die Spitze getrieben. »Wir können eigentlich derzeit nur dafür sorgen, dass wir alle Überschüsse in den Haushalten und überplanmäßigen Einnahmen […] alles in unsere Versorgungseinrichtungen hineinschieben.« – So der O-Ton von Vizepräsident und EKD-Ratsmitglied Klaus Winterhoff in der RBB-Sendung von Fleischmann. Wer so redet, propagiert eine Shareholder-Value-Orientierung5, 4 Vgl. hierzu die Vereinbarung der Kirchenkonferenz der EKD von 2006: http://wort-meldungen.de/wp-content/uploads/2014/09/erweiterter-Solidarpakt3.pdf. Außerdem sei verwiesen auf ein aufschlussreiches Feature in RBB Kulturradio vom 03.08.2014 mit dem Titel: »Für Pfarrers Rente spekulieren – Kirche an der Börse« (vgl. http://www.zwischenrufe-diskussion.de/pages/kirche-und-geld/kircheund-finanzkapitalismus.php). Autor ist der Journalist Christoph Fleischmann, auf dessen Homepage sich weitere lesenswerte Beiträge auch zu diesem Thema befinden: http://www.christoph-fleischmann.de. – Alle Hinweise gesehen am 26.11.2015. 5 Typisch für shareholder-value-orientierte Unternehmen ist es, der Steigerung des Unternehmenswerts die Belange von Beschäftigten, Kunden, Gesellschaft oder Umwelt unterzuordnen. Kapitalinteressen haben bei einem derart geführten Konzern Vorrang, was dazu führen kann, dass selbst bei einer guten Ertragslage Beschäftigte entlassen und Standortverlagerungen vorgenommen werden. Fehlentwicklungen der Globalisierung, wie sie z.B. Naomi Klein auf eindrückliche Weise in »No Logo« oder »Die Schock-Strategie« beschreibt, sind unter anderem auf diese Orientierung am

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die wir von Konzernen kennen, die trotz befriedigender Ertragslage Beschäftigte entlassen. Der EKD-Finanzchef Thomas Begrich räumt in der gleichen Sendung ein, dass das Vermögen, das die einzelnen Landeskirchen für zukünftige Versorgungsansprüche angesammelt haben, bereits jetzt einen Umfang von 10 bis 15 Milliarden Euro hat. Mittlerweile kann man getrost davon ausgehen, dass die Grenze von 20 Milliarden € überschritten ist. Die Kirchenkonferenz der EKD ist ein recht überschaubares Gremium, dessen Mitglieder bequem im mittelgroßen Konferenzraum eines Hilton-Hotels Platz finden dürften. Mehrfach gab es die Nachfrage, ob Mitgliedern von Landessynoden oder sogar langjährigen Mitgliedern von Kirchenleitungen der Begriff »erweiterter Solidarpakt« etwas sagt. Man wird davon ausgehen können, dass den Landesbischöfen, dem Präses der EKiR oder den Kirchenpräsidenten, den Leitern der landeskirchlichen Verwaltungen sowie den Finanzdezernenten die Beschlüsse aus 2006 im Detail bekannt sind. Wahrscheinlich gehören zu diesem erlauchten Kreis der Wissenden noch ein paar Oberkirchenräte. Ansonsten herrschte bis vor Kurzem weitgehende Unkenntnis selbst bei exponierten Mitgliedern der rheinischen Landessynode. Es spricht vieles dafür, dass z.B. die Kirchenleitung der EKiR die Bestimmungen des »erweiterten Solidarpakts« nie umfassend zur Kenntnis genommen hat.6 Auf der Ebene der Landessynoden war er kein offen diskutiertes Thema. Wenn ein kleiner Kreis klerikaler Oligarchen hinter verschlossenen Türen Verabredungen trifft, wie die in den vergangenen Jahren wieder reichlich fließenden Finanzströme der evangelischen Landeskirchen zu lenken sind und die Synoden dieser Landeskirchen keine Möglichkeit haben, hierzu Stellung zu nehmen, drückt sich darin eine unfassbare Missachtung gegenüber Synoden und synodalen Prozessen aus. Die Filialisierung der Kirchengemeinden ist schlimm genug. Es spricht vieles dafür, dass die einst eigenständigen Landeskirchen in den vergangenen Jahren zu Tochterunternehmen des EKD-Konzerns mutiert sind. Die Landeskirchen sind zunehmend EKD-

Kapital unter Ausblendung bzw. Vernachlässigung anderer Faktoren zurückzuführen. 6 Dies ist umso unverständlicher, da der drastische Sparkurs der EKiR, der Mitte 2013 initiiert wurde, eine direkte Folge der Bestimmungen des »erweiterten Solidarpakts« ist. Bei der Kapitalbildung der Versorgungsansprüche für Pfarrerinnen und Pfarrer verfehlte die EKiR die EKD-Mindeststandards deutlich und wurde EKD-intern als »gesamtkirchliches Risiko« bezeichnet.

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Impulsen ausgesetzt, die verdeckt erfolgen. Dies ist eine Schande für eine Kirche der Reformation!

3 Auf des Messers Schneide: Kirche als Gemeinwesen? Wenn die Geschicke einer Kirche derart bestimmt werden von einigen wenigen, deren größte Sehnsucht es offenbar ist, von den Vermögenden und Mächtigen des Landes als Ihresgleichen angesehen zu werden (wie es z.B. jenes unsägliche EKD-Elitepapier7 dokumentiert), bewegt sie sich in Lichtgeschwindigkeit weg von ihren reformatorischen Wurzeln. Wer immer noch Zweifel daran hat, dass die von der EKD ausgehenden Umbauprozesse dem Konzernleitbild folgen, sollte einmal einen Blick auf die Kursangebote der EKD-Führungsakademie für Kirche und Diakonie8 werfen. Offenbar ist man hier der Ansicht, dass zum Führen und Leiten theologische Kompetenzen am allerwenigsten gehören. Der Fortbildungsschwerpunkt liegt bei Betriebswirtschaft und Management. Makroökonomische, sozialethische oder humanwissenschaftliche Inhalte führen ebenso wie die Theologie ein Schattendasein oder kommen erst gar nicht vor. Das verdeckt vollzogene Konzernleitbild kann sich im äußersten Fall auf ungute protestantische Traditionslinien berufen. Eine fundierte theologische Begründung wird nicht geliefert und ist wohl auch kaum möglich. Durch die summepiskopale Ordnung der evangelischen Landeskirchen, also das landesherrliche Kirchenregiment deutscher Fürsten und die damit verbundene Verbindung von Thron und Altar, war der Protestantismus allerdings schon immer anfällig dafür, gestützt von den damaligen »Eliten« der Barone, Grafen und Könige, gesellschaftlichen Einfluss gewinnen zu wollen. An die Stelle des christlichen Adels treten heute sog. »Verantwortungseliten«, also die Einflussreichen und Mächtigen, die u.a. an den Schalthebeln großer Konzerne sitzen. Sie sollen offenbar Gewähr für die gesellschaftliche Relevanz des Protestantismus der Zukunft bieten.

7 Vgl. hierzu mein Beitrag »Kirche exklusiv«, http://www.zwischenrufe-diskus sion.de/pages/ekd/kirche-exklusiv.php – gesehen am 27.11.2015. 8 http://www.fa-kd.de/.

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In seiner Nachkriegsschrift »Christengemeinde und Bürgergemeinde« von 1946 entwickelt Karl Barth auf dem Hintergrund der Erfahrungen des Kirchenkampfes ein theologisch fundiertes Leitbild von Kirche – nämlich Kirche als Gemeinwesen. Unter Punkt 33 der Schrift formuliert er: »Vielleicht der entscheidende Beitrag der Christengemeinde im Aufbau der Bürgergemeinde besteht darin, daß sie ihre eigene Existenz, ihre Verfassung und Ordnung theoretisch und praktisch dem gemäß gestaltet, daß sie, die direkt und bewußt um jenes gemeinsame Zentrum versammelt ist, den inneren Kreis innerhalb des äußeren darzustellen hat. Der rechte Staat muß in der rechten Kirche sein Urbild und Vorbild haben. Die Kirche existiere also exemplarisch, d.h. so, daß sie durch ihr einfaches Dasein und Sosein auch die Quelle der Erneuerung und die Kraft der Erhaltung des Staates ist.« Unter dem Zentrum versteht Barth die »Botschaft vom König und seinem Reich«. Nahezu prophetisch stellt er die Frage: »Wie soll die Welt die Botschaft … glauben, wenn die Kirche … durch ihr Tun und Verhalten zu erkennen gibt, daß sie selbst gar nicht daran denkt, sich in ihrer eigenen inneren Politik an dieser Botschaft zu orientieren.« Auch Dietrich Bonhoeffer betrachtet die Kirche als Gemeinwesen besonderer Art. Eine Kirche, die ihre eigene »Zukunftsfähigkeit« dadurch sichern will, dass sie sich dominanten gesellschaftlichen und politischen Strömungen anpasst, gefährdet ihre Identität als »eigenes Gemeinwesen«, das sich durch das Amt der Verkündigung wesentlich von weltlichen Ordnungen unterscheidet.9 Sie beschädigt und entwertet das ihr anvertraute Wort, indem sie es seiner handlungsleitenden Funktion beraubt und als nachträgliche Rechtfertigung eigenen Handelns und Entscheidens missbraucht. Wolfgang Vögele beklagt in seinem Beitrag: »Das Abendmahl der Aktenordner – Beobachtungen zum Verhältnis von Theologie und Kirchenleitung«10 mit Recht die Marginalisierung der Theologie und damit auch jenes Zentrums, von dem Bonhoeffer und Barth sprechen: »Das Erfolgsmodell evangelischer Debattenkultur, wie sie von den evangelischen Akademien und dem Kirchentag als intermediären Institutionen jahrzehntelang erfolgreich praktiziert wurde, hat sich aufgelöst in eine klerikale Verlautbarungs- und Marketingkultur. Werbung tritt an die Stelle 9 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Ethik 9. Auflage 1981, 317. 10 http://theomag.de/90/wv12.htm.

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des Austauschs von Argumenten. Anpreisen und Überreden tritt an die Stelle von Abwägen und Begründen. Aber eine kirchliche Theologie, die nicht mehr durch Debatte, sondern durch Öffentlichkeitsarbeit bestimmt wird, unterscheidet sich nicht groß von den Marketingabteilungen der Parteien, der großen Stiftungen oder von Unternehmen.«

4 Kirche – in Freiheit für die Menschen! Ausgangspunkt war die These, dass das Programm der Transformation der evangelischen Landeskirchen in einen nationalkirchlichen, von der EKD dominierten Dienstleistungskonzern ohne den neoliberalen Freiheitsdiskurs nicht denkbar wäre. Noch ist dieser Umbau nicht vollständig vollzogen. War die Evangelische Kirche bis in die 90er-Jahre hinein noch in mancher Hinsicht ein Gemeinwesen, so gleicht sie immer mehr einem Konzern, in dem wichtige strategische Entscheidungen eben nicht mehr debattiert, sondern dekretiert werden. Eine grundlegende Neuorientierung in fiskalischer Hinsicht, wie sie mit dem »erweiterten Solidarpakt« vollzogen wurde, kam erst gar nicht an die kirchliche Öffentlichkeit. Dort, wo es um Finanzen und die Frage der äußeren Gestalt der Kirche ging, wurden Synoden immer mehr zu Inszenierungen nach den Vorgaben weniger Strippenzieher. Zudem: Zentrale Projekte wie das NKF oder die diversen Verwaltungsstrukturreformen dulden von ihrem Ansatz her kein Ausweichen. Dies prägt zunehmend die Atmosphäre im Konzern Kirche, vor allem bei den Beschäftigten. »Denk daran, wer dein Dienstherr ist!« – »In der freien Wirtschaft könnten Sie sich ein derartiges Auftreten nicht leisten!« – Dies sind Beispiele für eher milde Einschüchterungsversuche durch Verantwortungsträger der mittleren und landeskirchlichen Leitungsebene gegenüber Mitarbeitenden in unserer Kirche. Wesentlich gröber ist da schon die öffentliche Drohung mit Zwangsmaßnahmen11 einer Landeskirchenrätin gegenüber engagierten Presbyterien. Seit Mitte 2014 gibt es in der Evangelischen Kirche im Rheinland die Initiative ›KirchenBunt‹, die sich für eine Stärkung der Gemeinden und der kirchlichen Basis einsetzt. Der Vorsitzende 11 Vgl. http://www.zwischenrufe-diskussion.de/pages/ekir/drohung-mit-zwangs massnahmen.php.

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Andreas Reinhold hat die zahlreichen Reaktionen, die uns zu Beginn erreicht haben, in einem bedrückenden Resümee12 bewertet. Ich selbst habe etliche Zuschriften erhalten, unter anderem das Schreiben eines Kollegen mit folgenden Sätzen: »Ich teile die Anliegen von ›Kirchenbunt‹ voll und ganz und bin auch gerne bereit, Euch im Rahmen meiner Möglichkeiten zu unterstützen. Allerdings sind die sehr begrenzt. Bei uns stehen Umstrukturierungsprozesse an, die auch meine Pfarrstelle betreffen. Daher bin ich auf das Wohlwollen meines Superintendenten angewiesen.« In gewisser Hinsicht täte es unserer Kirche gut, wenn sie ihren Beschäftigten mehr »unternehmerische« Freiheit einräumen und Einsatz und Kreativität gerade auch dort loben würde, wo dies gegen den Mainstream geschieht, die Ergebnisse jedoch positiv für die Menschen sind. Das Gegenteil ist der Fall. Die Beschäftigten einschließlich der Pfarrerschaft sollen den Konzernvorgaben folgen, so schädlich dies auch für die Situation vor Ort und so theologisch zweifelhaft die Anordnungen von oben auch sein mögen. Noch verhängnisvoller ist jedoch der grundlegende Irrtum, evangelische Christen mit ihrer relativ geringen Bindung an eine Institution ließen sich zufriedenstellen mit einer von Konformismus geprägten ökonomisierten Organisation, die aktuell ihren wichtigsten Auftrag offenbar darin sieht, möglichst viel Kapital zur Absicherung zukünftiger Versorgungsansprüche anzusammeln. Wenn die Mitgliedschaftsstudien der EKD eins zeigen, dann ist es die Vielfalt der Erwartungen der evangelischen Christen an ihre Kirche, der man gerade in einer von Säkularisierung und einer immer größeren Vielfalt an unterschiedlichen Lebensentwürfen geprägten Gesellschaft nur mit struktureller Vielfalt, mutigen Experimenten vor Ort und einer konsequenten Orientierung an den Menschen begegnen kann. Kirchliche Entscheidungen müssen wieder an den Menschen orientiert sein und weniger an fiskalischen Vorgaben. Vor allem geht es darum, als Kirche stärker von jenem von Barth und Bonhoeffer bezeichneten Zentrum her zu denken und zu handeln, sodass die Botschaft erkennbar auch in kirchlichen Strukturen und Haushalten Gestalt gewinnt. Hier muss wohl das Recht auf geistlichen Ungehorsam zumindest dort in Anspruch genommen werden, wo das eigene Gewissen Widersprüche zwischen Synodenbeschlüssen und Rechtsetzungen

12 Vgl. http://kirchenbunt.de/eine-vergiftete-atmosphaere/.

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gegenüber Bibel und Bekenntnis, insbesondere der Barmer Theologischen Erklärung, wahrnimmt. Gelingt es nicht, in den kommenden Jahren die Finanzorientierung, die Ökonomisierung und die konzernmäßige Zentralisierung zurückzudrängen, wird vermutlich der große Theologe Jürgen Moltmann, auf den die inneren EKD-Zirkel schon lange nicht mehr hören, recht behalten. Vor einiger Zeit stellte er in einem Interview13 fest: »Provokant gesagt: Die Zukunft der Kirche ist freikirchlich. Nicht mehr in meiner und der nächsten Generation, aber so wie die Entwicklung läuft, sehe ich, dass die Zukunft der Kirche eine freiere und freiwilligere sein wird.« Niemand kann dies wirklich wollen. Auch in der Zeit des Kirchenkampfes war die Option »Freikirche« in der Auseinandersetzung mit den »Deutschen Christen« eine Notlösung. Anerkannt werden muss, dass es in etlichen Kirchenleitungen bis hin zu Repräsentanten der EKD eine wachsende Nachdenklichkeit und eine – bisher noch allzu zaghafte – Distanzierung von den Positionen aus »Kirche der Freiheit« gibt. Ein Innehalten oder eine »Umkehr«, wie sie das »Wormser Wort«14 mit Recht fordert, ist noch nicht zu erkennen. Die kirchliche Realität ist auch nicht die eines gut organisierten Unternehmens. Tatsächlich steckt hinter all dem Ökonomismus die alte Behördenkirche in summepiskopaler Tradition. Gewiss wird es auch nach dem Reformationsjubiläum noch evangelische Christen in Deutschland geben. Eine »Kirche der Freiheit«, die zentralistisch wie ein Konzern agiert und unter Vernachlässigung biblischer Grundlagen an einen säkularen Freiheitsdiskurs anknüpft, hat allerdings keine Zukunft. Wir glauben an einen dreieinigen Gott. Gottes Präsenz zeigt sich durch seine Schöpfung. Gott ist ein Gott des Lebens in all seiner Fülle und Vielfalt. Durch Jesus Christus – sein Reden und Wirken, sein Kreuz und seine Auferstehung – offenbart sich Gott als der, der die Liebe ist. Durch den Heiligen Geist erfährt der Mensch Befreiung. »Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit« (2. Korinther 3,17). Eine christliche Kirche ist 13 http://www.jesus.de/index.php?id=885&tx_ttnews%5btt_news%5d=195565&c Hash=6111763aa8056. 14 Das »Wormser Wort« wurde von Mitgliedern des Vereins »Wort-Meldungen« e.V. verfasst und im Umfeld des 73. Deutschen Pfarrertages im Oktober 2014 in Worms beschlossen. Es ist u.a. hier zugänglich: http://wort-meldungen.de/ gesehen am 05.12.2015.

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hieraus folgend Kirche des Lebens, der Liebe und der Freiheit. Dies bezeugt sie mit ihrer Verkündigung, ihren Strukturen, ihrem internen Miteinander und ihrer Zuwendung zu den Menschen auch nach außen. Geschieht dies nicht, stellt sie nur einen Teilaspekt des trinitarischen Zusammenhangs dar, oder folgt sie gar abweichend von ihrem Auftrag mit großer Einseitigkeit säkularen Vorgaben, ist Reformation geboten. Und da eine Kirche immer auch Menschenwerk ist und somit nur in unzulänglicher und manchmal auch entstellter Form »Leib Christi« abbildet, wird der Satz bleibende Gültigkeit behalten: ecclesia semper reformanda est – auf Deutsch: In jeder Zeit muss es Menschen geben, die die Kirche, orientiert an ihren Wurzeln und Lebensquellen, reformieren. Den teilweise tragisch misslungenen EKD-gesteuerten Umbauprozessen gilt es, reformatorische Impulse entgegenzusetzen – im Wissen darum, dass die Reformation von Beginn an auch ein Aufbegehren gegen die Ökonomisierung der damaligen Kirche war, was deutlich wird z.B. in der Auseinandersetzung um den Ablasshandel.

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Nach dem Umbauprozess ist vor der ernsthaften Reform Was Kirche vom Management lernen kann1

Liebe Schwestern und Brüder, sehr geehrte Damen und Herren, ein Schelm, wer bei einem solchen Thema Böses denkt: »Von der Wirtschaft lernen heißt siegen lernen.« Sie in Thüringen stellen sofort die Analogie her zu einem Wort, das in früheren Zeiten lange Jahre zur Propaganda der DDR-Führung gehörte. Das lautete: »Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen.« Es galt so lange, bis Gorbatschow Mitte der 80er-Jahre die Perestroika propagierte. Ab diesem Zeitpunkt geriet das Wort in der DDR-Regierung in Misskredit und wurde zur subversiven Parole bösartiger Regimekritiker. Erwarten Sie also Parallelen zur kirchlichen Lage heute, wenn Sie den Titel so analog formulieren? In der Tat haben Kräfte dominiert, die der Betriebswirtschaft Kräfte für Wachstum gegen den Trend und Erstarkung der Kirche zuschrieben. Betriebswirtschaft hatte in der Kirche spätestens ab der Jahrtausendwende die Theologie als Leitwissenschaft abgelöst. Gewähr für die Ablösung bot (und bietet) auch das biedermannmäßig aus der Wirtschaft anklopfende und arglos eingelassene BeraterPersonal: Unternehmensberater wie Peter Barrenstein von McKinsey oder die Direktorin Marlehn Thieme der Deutschen Bank. Letztere aus einem Unternehmen, das zu Zeiten, als Marlehn Thieme in Führungspositionen der Kirche kam, mit 25% Rendite prahlte, sich dann aber vor zwei Jahren kleinlaut aus triftigem Grund selbst einen Kulturwandel verordnen musste. Seither sitzt das Personal der Wirtschaft in den Führungsetagen der Kirche, im Rat der EKD und der Steuerungsgruppe zum

1 Der Text basiert auf einem Vortrag mit dem Titel „Von der Wirtschaft lernen heißt siegen lernen?!“, gehalten auf dem Pfarrertag des Pfarrvereins Thüringen 2014.

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Kirchenreformprozess.2 Man wird eingedenk schon dieser wenigen Fakten der EKD nicht zu nahe treten, wenn man ihr das Wort »Von der Wirtschaft lernen, heißt siegen lernen« als ihre Parole in den Mund legt. Auch wenn es so nie ausgesprochen wurde, prägt es doch das Denken in den kirchlichen Führungsetagen. Es mag sich um eine »passagere« Position der EKD handeln, die den Zenit schon überschritten hat. Sind doch die Erfahrungen mit diesem Ansatz der Leitwissenschaft Betriebswirtschaft mittlerweile so umfangreich wie ernüchternd. Und man kann wohl behaupten, dass die Phase, in der dieser Ansatz die Köpfe in der EKD beherrschte, schon der jüngsten Kirchengeschichte angehört. Wie sagte Thies Gundlach, der Cheftheologe der EKD, jüngst in einem Vortrag? Er möchte nicht der letzte Mohikaner sein, der zum Impulspapier »Kirche der Freiheit« steht.3 Die Analogie zum DDR-Slogan liegt für Kritiker also durchaus nahe. Es stellt sich nun die Frage: Was aber heißt dies Wort in unserem Munde? Im Munde derer, die den sog. Reformprozess, der im Gefolge von »Kirche der Freiheit« von der EKD über die Landeskirchen gezogen wurde, falsifizieren und kritisieren? Der eigentlich kein Reformprozess, sondern ein veritabler Umbauprozess ist. Was heißt es, wenn wir diesen Satz heute aufgreifen – und ihn positiv gegen seine früheren geheimen Befürworter wenden? Lassen Sie mich dazu etwas ausholen und den Blick aufs Ganze richten, bevor wir den Ausschnitt analysieren: Wir leben heute in einer Zeit, in der die früher in Zeiten sozialer Marktwirtschaft propagierte funktionale Trennung der Systembereiche der Gesellschaft (Wirtschaft, Politik, Religion etc.) an ihr Ende gekommen ist. Denn die »Wirtschaft« beschränkt sich nicht mehr auf ihren Sektor der Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Das hat einen praktischen Grund: Im Finanzkapitalismus ist Kapital im Überfluss an Banken und Börsen vorhanden und sucht Anlagechancen und Höchstrendite. Dazu müssen die Grenzen der Ökonomie zu den anderen Funktionsbereichen überschritten werden. Zu diesem Zweck werden solche anderen Bereiche, wie z.B. die der Daseinsvorsorge, usurpiert. Privatisierung war das

2 Eberhard Cherdron / Martin Schuck, Evangelische Existenz heute; in: DPfBl 10/2012. 3 DPfBl 10/2012 http://wort-meldungen.de/?p=6595.

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Zauberwort und totaler Service das Zuckerstückchen, mit dem der Bevölkerung dies schmackhaft gemacht wurde. Nach Post, Bahn und Telekom in den 90er-Jahren kamen ab 2000 die engeren Bereiche der Daseinsvorsorge: Schule, Universität, Gesundheitswesen (mittelfristig Rückkehr zum DDR-System der Poliklinik) und Justiz an die Reihe (Privatisierung von Vollzugsanstalten in Hessen durch Roland Koch). Übereinstimmend wurde in allen Bereichen das ehemals organisatorisch starke Fachpersonal entmachtet: durch Entzug von Beteiligungsrechten (Universität/Schule), durch Wandel des Bildungssystems von Humboldt’scher Bildung zu Kompetenzvermittlung und damit Infragestellung der klassischen Lehrerkompetenzen, durch die Deklassierung des Ärztestandes zu einer Art Scheinselbstständigkeit, durch die Überlastung des Personals mit einem kaum zu bewältigenden Arbeitspensum (Justiz), unter der die Qualität der Arbeit, die Rechtssicherheit wie auch die Gesundheit der Personen leidet. Diese Ökonomisierung schlich sich ein mit allerlei quasi-eschatologischen Versprechungen, z.B. der Steigerung der Servicequalität, der Illusion einer »totalen« Qualität (TQM) etc. Wie weit Versprechen (Ideologie) und Wirklichkeit auseinanderklaffen, möge ein kleines, aber sprechendes Beispiel demonstrieren. Günther Wallraff studierte in bekannter Manier in einem Incognito-Selbstversuch die Praxis eines Alten- und Pflegeheims in München, dem katholischen Josephstift am Luise-Kisselbach-Platz. Die Zustände waren nach der entsprechenden TV-Sendung ziemlich verheerend. Und dabei prangt ein Qualitätssiegel des TQM an einer Wand der Einrichtung. Darin wird die Note 1, sehr gute Qualität also, bescheinigt. Was hier an einem Beispiel dargelegt ist, können Sie getrost auf das gesamte Gesundheitswesen übertragen. Das System des TQM ist essenzieller Bestandteil neoliberaler Transformationsprozesse. Deren harter Kern aber besteht in nichts anderem als Personalabbau bis zur Grenze der Leistungsfähigkeit des Restpersonalbestandes, Ausbeutung der Gesundheit des Personals, Reduktion der Angebote/Dienstleistungen auf (billige) Standardprodukte (Kernleistungen), Steigerung der Profite der Investoren. Das steht konträr zur sozialen Marktwirtschaft und produziert Widerspruch in entwickelten europäischen Gesellschaften. Um diesen Widerspruch zu unterdrücken, wird ein völlig neues Weltbild, ein ökonomisches Denken, geprägt, das allen anderen Funktionsbereichen aufgedrückt wird. Alle müssen sich nach der neuen No-

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menklatur richten. Alle lassen sich an den neu gesetzten Kriterien messen und bewerten. Diese neuen Kriterien kommen daher als hohle »Plastikworte«, Anglizismen gaukeln eine besondere Aura vor, Euphemismen vernebeln die eigentlichen Aussagen. Und so sind Fehlinformation, Vernebelung und Geheimhaltung wesentlicher Bestandteil des Akzeptanzmanagements des schönen neuen neoliberalen Weltbildes. Dies neue Denken konnte auch in der Kirche Fuß fassen mit dem als Reformprozess titulierten Umbauprozess. Prof. em. Jürgen Moltmann beklagte in einem Vortrag jüngst den »Einzug ökonomischen Denkens in die Kirche«. Darin zieht er die Verbindung zu Barmen I: »… Wo liegen heute jene ›Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten‹ aus Barmens erster These verborgen, die wir zu Götzen machen?« Er fragt und antwortet: »Sind wir wieder in der Situation von vor 1933? Nein, das sind wir nicht! Wir sind in einer ganz anderen Situation. Es droht uns nicht eine ideologische Politisierung der Kirche wie durch die Nazis und die Deutschen Christen damals. Es droht uns aber eine nicht minder gefährliche ideologische Ökonomisierung der Kirchen, wie wir sie auch in anderen Bereichen der Daseinsvorsorge, so z.B. auch an den deutschen Universitäten, erleben. Wie kann Kirche ›effektiver‹ gemacht werden? Wie kann die Zahl der Taufen, Konfirmationen und kirchlichen Amtshandlungen erhöht werden? Wie kann die Kirche auf ihr ›Kerngeschäft‹ verschlankt werden? Wie kann die ›Kirche im Angebot‹ attraktiver werden? Der religiöse ›Service‹ der Kirche an ihren ›Kunden‹ muss verbessert werden. Damit entmündigt man die aktiven Brüder und Schwestern zu passiven ›Kunden‹ und macht aus selbstständigen Gemeinden betreutes Leben in den Kirchen.«4 Man kann eine solche Position wie die von Jürgen Moltmann durchaus verstehen. Das ist auf dem Hintergrund der o.g. globalen Entwicklungstendenzen nachvollziehbar. Da wird aber ein Schwarz-Weiß-Denken gepflegt, das auch bei Kritikern des sog. Reformprozesses nicht unbekannt ist. Aber diese Form der Pauschalkritik ist dennoch zu undifferenziert, erfasst nicht die ganze Wirklichkeit und ist damit in gewisser Weise selbst angreifbar. Und sie enthält nicht die Chuzpe, die vermeintlichen Ökonomen mit den Waffen der Ökonomie selbst zu schlagen. Das haben 4 http://wort-meldungen.de/?p=7347.

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Sie nun aber mir mit dem Vortragstitel, wenn ich das recht verstehe, aufgetragen. Und daran will ich mich gerne versuchen. Denn nur so können wir zur tieferen Erkenntnis kommen, dass ökonomische Argumente, wie am Beispiel einleitend gezeigt, bei den sog. Reformprozessen vielleicht nur vorgeschoben sein könnten, es in Wirklichkeit und im Hintergrund aber um etwas anderes, Tiefgreifenderes geht. Dass mit dem Prozess »Kirche der Freiheit« nicht nur ein Reformprozess, sondern ein veritabler Umbauprozess stattfindet. Lassen Sie uns also etwas genauer hinschauen und differenzieren, um am Ende dann doch wieder einen Ansatz zu finden, die vorhandenen positiven, hilfreichen Aspekte der Ökonomie für die Organisationsführung trotz aller negativen Erfahrungen mit den gesellschaftlichen Ökonomisierungsprozessen oder den sog. »Reformprozessen« erneut schätzen zu lernen und der dem Titel des Vortrages inhärenten Dialektik zu ihrem Recht zu verhelfen. Dies geschieht nicht in erster Linie um der intellektuellen Herausforderung des Titels willen. Wir müssen dies tun, weil die empirische Kirche ihren Schatz in irdenen Gefäßen bewahrt, weil die Kirche als Organisation auch mit professionellen, profanen Instrumenten geleitet und dem Evangelium gemäß gestaltet sein will. Dabei ist darauf zu achten, dass ihre Gestalt dem Inhalt nicht widerspricht (Barmen III + IV). Das ist überaus anspruchsvoll. Als Organisation muss sie damit auch auf die Möglichkeiten zurückgreifen, die gute Organisationsführung bereithält. In der Regel bezeichnet man dies als »Management«. Gutes, richtiges Management, das wäre es, was die Kirche wieder bräuchte. Die Kirche bräuchte es ebenso wie weite Bereiche der »Wirtschaft« selbst, die einen entsprechenden Verlust etwa durch das Eingeständnis von Kulturproblemen teilweise auch selbst thematisiert, wie z.B. die Deutsche Bank.

1 Vom Reformbedarf des klassischen Kirchenmodells nach Barmen … Betrachten wir die Geschichte des Reformprozesses in den Evangelischen Kirchen: Es ging in den 90ern zunächst um einen Reformprozess nach außen, mit dem die Kirche die Differenzierungsprozesse der Gesellschaft nachvollziehen wollte (vgl. »Person und Institution«, EKHN). Kirche musste aber zum anderen auch innerorganisatorisch einen Reformprozess anstrengen. Die Administration war strukturell (hierarchisch), in-

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strumentell (IT) und personell veraltet und – erstarrt. Schon die einfache Datenverarbeitung war mit einer hohen Fehlerquote behaftet (notorisch: einfache Datenreihen wie Meldelisten), die Informationsbasis für Entscheidungen war rudimentär. Wissen war personell gebunden und nicht für die gesamte Organisation verfügbar. Wie auch die Instrumente war das Wissen veraltet. Betriebswirtschaftliches Know-how, buisiness intelligence – Fehlanzeige. Worauf wäre es angekommen? Auf die gezielte, eklektische Übernahme bzw. Adaption von Instrumenten und Strategien aus dem Wissensgebiet des Managements: 1. Finanzmanagement hätte primär organisiert werden müssen als Management der Kosten und nicht – wie in der Doppik und nunmehr der kirchlichen Finanzpolitik vorherrschend – des Vermögens.5 Kostenmanagement würde übrigens gut zur schwäbischen Hausfrau passen. Aber wie gesagt: Darauf stellt das kirchliche Finanzmanagement ja in der Sache gar nicht ab, sondern nur verbal. Und nun muss man schnell ergänzen, dass das ja nur die eine Seite der Medaille ist. Die andere, wichtigere ist die gezielte, richtige Investition! Fehlende richtige, also fehlende inhaltlich ausgerichtete Investitionen verbunden mit Personalabbau (Desinvestition) etwa im Bereich der Jugendarbeit kommen denn auch in der jüngsten, fünften KMU (Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung) schmerzlich im Traditionsabbruch zum Ausdruck!

5 Vgl. zu dieser Aussage die anschauliche Beschreibung bei Manfred Alberti, »Wie das Gemeindeprinzip in der EKiR ausgehebelt wurde«, in III.1.2.

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Religiöse Sozialisation nach Altersgruppen: Diagramm: Aus einer Veröffentlichung der Bertelsmann-Stiftung auf der Grundlage von Studien von Prof. Detlef Pollack und Olav Müller. Und es mag den intelligenten unter den Finanzdezernenten mittlerweile dämmern, dass die zukünftigen Verluste infolge Kirchenaustritten infolge des Traditionsabbruchs deutlich höher sein könnten als die Verzinsung der in den zurückliegenden Jahren durch »Einsparungen« beim Personal gebildeten Rücklagen. 2. Es wäre im Personalmanagement um führendes Dienen gegangen und nicht um die Rückkehr zu autoritärem Gehabe auf der Führungsebene und Kadavergehorsam bei den Schlüsselpositionen (PfarrerInnen). Die veralteten und erstarrten Verwaltungsorganisationen und Leitungen haben intelligente Reformansätze durch die Bank als Angriff auf ihre zum Eigenschutz gebildeten Wagenburgen verstanden.6 Vielmehr folgte man billigsten Einflüsterungen externer Kirchenneulinge (oder soll man sagen: sich selbst spät Berufender?) von Kernkompetenz und Strukturreformen.7 Weiter: Es wäre sowohl um den Schutz des Schatzes der Kompetenzen des gut ausgebildeten Personals als auch der früher in der Kirche weit verbreiteten intrinsischen Motivation gegangen. Was der Umbau brachte: Entmündigung des Fachpersonals, Überlastung durch wenig sinnhafte »Reformen« und rigorosen Personalabbau. Ergebnis: Burn-out und innere Kündigungen von Schlüsselpositionen. 3. Es wäre im Immobilienmanagement um ein Management der Ressourcen und Kosten gegangen und nicht des völlig undifferenzierten Verscherbelns von oft nur vermeintlichen »Lasten«. Hierzu verweise ich auf diverse Publikationen.8 Fehler und Defizite des Managements sind also offensichtlich. Es fehlte an der analytischen Kraft, die Probleme der eigenen, individuellen Organisation »Evangelische Kirche« zu definieren und daraus ein individuelles Strategiekonzept zu entwickeln. Die normativen Vorgaben dazu wä6 Ein Vorgang, der noch intensiver organisationssoziologischer Studien bedürfte. 7 Peter Barrenstein, Gottes Hände tragen uns – Was die Kirche von der Wirtschaft lernen sollte, in: Kanzel und Kontrolle, Hrsg. Bündnis 2008, Tübingen 2002, 67. 8 Friedhelm Schneider, Kirchliches Immobilienmanagement, Darmstadt 2004.

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ren abzuleiten gewesen aus der Theologie selbst. Stattdessen segelte man im Windschatten der neoliberalen Umbauprozesse anderer Institutionen der Daseinsvorsorge (s.o.) und folgte dem Rat externer Berater, deren über die eigenen wirtschaftlichen Interessen hinausgehenden Ziele der Beratung noch nicht einmal kritisch hinterfragt wurden. Alles dies geschah ohne Beachtung gravierender Unterschiede von Kirche und anderen Institutionen. Nur einer sei genannt: Die anderen Institutionen sind sämtlich als Zwangsmitgliedschaft gestaltet. Entkommen nicht möglich. Wo dieser Mitgliedschaftszwang nicht bestand, wie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen, musste er von der Politik hergestellt werden, damit das System nicht kollabierte. In dieser kommoden, von der Mitgliedermeinung unabhängigen Lage der anderen Institutionen ist aber die Kirche gerade nicht. Wobei das Verhalten der Kirche offensichtlich vielfach genauso erlebt wird. Vielen Mitgliedern wurde daher die ehemals fremde Heimat zur nichtssagenden und nichts bietenden Fremde. Wo wir stehen, wird anschaulich, wenn auch eine nur geringfügige Irritation, wie etwa 2014 das »Missverständnis« um die Kirchensteuer auf Kapitalerträge, bereits zu heftigen Erschütterungen führte (und nebenbei auch zu einer unbekannt-prompten Reaktion des EKDFinanzdezernenten Begrich in Form einer eigens flugs zur Sache erstellten Broschüre). Der mittlerweile zu spontaner Labilität neigende Zustand der Kirche mitten in den externen und den eigenen Umbauprozessen ist also nicht allein externen gesellschaftlichen Prozessen geschuldet, sondern zu einem gerüttelt Maß auch dem eigenen, falschen Management. Was richtiges Management in der Kirche ist, zeigt sich dann, wenn die Frage nach der Mitte, der Mitte des Denkansatzes, geklärt ist. Wir müssen in der Kirche wissen, woher wir kommen und was unsere Aufgabe ist. Ist die Mitte theologisch ausgefüllt, dann können die passenden und aktuellen, den Stand der Technik abbildenden ökonomischen Instrumente – wie schon immer in der Kirchengeschichte geschehen – problemlos und hemmungslos angewandt werden. Die Theologie liefert die Zielrichtung, das Management bewerkstelligt die Umsetzung in die Praxis. Ich selbst formulierte dies in meinem Buch »Kirchliches Immobilienmanagement« im Jahr 2004: »Setzt die Kirche diese Erkenntnis in Managementhandeln um, werden in der freien Wirtschaft übliche … Managementstrategien relativiert, teilweise transformiert. Dies Anderssein der

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Kirche oder der entsprechenden Managementstrategien, dieses ›Sichder-Welt-nicht-gleich-Machen‹ heißt aber nicht, dass das Handeln deswegen nicht erfolgreich sein könnte. Ganz im Gegenteil.«9 Bildet die Theologie die Mitte, dann sind dieser Mitte alle Funktionen der Organisation zuzurechnen, die diese Mitte in und mit ihrer Arbeit oder auch symbolisch repräsentieren (s. Grafik). Der Leitung und Verwaltung kommt in diesem Modell eine strikt dienende, eine Servicefunktion zu. Und zwar real, nicht nur verbal! Ihre zentrale Aufgabe besteht darin, dass die Mitte richtig und ausreichend gefüllt wird: dass Arbeit in möglichst großem Umfang mit ausreichend ausgebildetem und motiviertem (!) Personal geschieht und dass dieses ausreichend vorhanden ist und unterstützt und gefördert wird. Dieses Managementmodell korrespondiert mit Barmen III (und IV). Dabei ist aus Managementsicht – und übrigens auch aus finanzieller Sicht (s.u.) – unerheblich, ob die Arbeit an der Basis in der Gemeinde oder aber in Diensten (Funktionspfarrstellen etc.) erfolgt. Entscheidend ist, dass das, was dort passiert, beim Adressaten ankommt und – auf welche Weise auch immer – wirkt.10 Dass an dieser Stelle ein Kapitel Ekklesiologie anschließen kann, muss für Theologen nicht eigens erwähnt werden. (Dieser Satz ist also auf externe Berater gemünzt.)

9 Friedhelm Schneider, Kirchliches Immobilienmanagement, Darmstadt 2004, 36. 10 Achtung: Hier darf das Kundenmuster nicht einfach auf die kirchlichen Leistungen übertragen werden.

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Das also wäre das Modell gewesen, nach dem die Kirche nach innen hin hätte reformiert werden müssen. Und zwar aus theologischer Sicht wie auch aus Sicht richtigen und guten Managements. Vielversprechende Ansätze dazu waren ab der Jahrtausendwende vorhanden.

2 … zum Kirchenmodell des EKD-Umbauprozesses »Kirche der Freiheit« Spätestens seit Mitte der Nullerjahre ist die Entwicklung der frühen Reformansätze der Kirche gekippt: Wie zuvor schon in anderen Institutionen (Bildung, Gesundheitswesen) sollte später auch die Kirche nicht nur eklektisch von der Wirtschaft, vom Management, lernen, sondern vielmehr nach der Struktur von Wirtschaftsunternehmen umgebaut werden. Dieser Prozess war weder theologisch oder gesellschaftlich-soziologisch motiviert, noch war er von einem systemisch-kybernetischen Managementansatz geprägt, der gezielte Schwachstellen und Stärken identifiziert und dazu passgenaue Lösungen entwickelt hätte. Wie sollten das die organisationsunkundigen Berater von außen auch leisten können? Sie hätten es nicht gekonnt, selbst wenn sie es gewollt hätten. Aber darum ging es ja gar nicht. Es ging nicht um die Optimierung der reformbedürftigen Organisation Kirche. Es ging darum, alle Institutionen der Daseinsvorsorge dieses Landes mit einem Einheitskonzept umzubauen, sie »marktkonform« zu machen. Wie später dann sogar die Demokratie selbst »marktkonform« gemacht werden sollte/wird. Die Ökonomie schreckt also selbst vor der Usurpation der Demokratie nicht zurück. Im Zuge dieses vereinheitlichenden Ökonomisierungskonzepts wurden den ehemals demokratisch bottom-up aufgebauten Institutionen Top-down-Strukturen übergestülpt; die mittlere Ebene wurde zur zentralen Leitungsebene der Region mit vielen bzw. allen Kompetenzen, die früher die Gemeinden hatten. Es ging also nicht mehr um inhaltlich theologisch motivierte verbessernde Reformen eines in der Nachkriegszeit über 50 Jahre bewährten Systems, die von der Ökonomie eklektisch das auswählten, was für die Kirche wirklich hilfreich war. Sondern es ging um einen Umbau der Kirche nach Mustern der Wirtschaft unter Anleitung von neoliberalen Beraterteams. Das Agenda-Setting wurde mit dem Impulspapier »Kirche der Freiheit« besorgt. Was dabei herauskam? Ein hierarchisches Modell, bei dem EKD-Gremien als Spitze Entschei-

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dungen treffen, die die Landeskirchen umzusetzen haben. Das konnte jüngst auch anhand des »Erweiterten Solidarpakts« der EKD-Kirchenkonferenz nachgewiesen werden.11 Es kam ein Modell heraus, bei dem Leitung ihre Dominanz über den personellen Ausbau der Administration stärkt. Ein Modell, bei dem die Mitarbeiter, die die eigentliche Arbeit vor Ort in Verkündigung, Seelsorge, Pädagogik, Musik etc. leisten, abgebaut und an den Rand gedrängt werden. Sie müssen mit und von dem leben, was in der Mitte der Organisation, also bei Leitung und Administration, an finanziellen und sonstigen Ressourcen übrig bleibt. Der Verwaltungswasserkopf hingegen wird immer stärker aufgebläht. Hier hat die Kirche ihre Mitte verloren. Sie weiß nicht mehr, was sie eigentlich zusammenhält. Ein fremdes institutionelles Umbaukonzept bildet das neue Zentrum der Kirche. Wie weit weg ist Barmen III, wonach die Kirche auch »die Gestalt ihrer […] Ordnung« nicht »ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen« darf. Man kann das grafisch wie folgt fassen:

11 Vgl. den vorangehenden Beitrag von H.J. Volk.

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Fazit: Von der Wirtschaft lernen heißt siegen lernen. Der mit dem Impulspapier »Kirche der Freiheit« initiierte Umbauprozess der Kirche propagiert Betriebswirtschaft als Lösung für die Reformprobleme der Kirche. Was sich allerdings hinter diesem Konzept verbarg, war ein marktkonformes Umbaukonzept der Kirche analog den gleichzeitig verlaufenden Prozessen in anderen Institutionen des Staates. Betrachtet man das bis heute sichtbare Ergebnis nach ökonomischen Kriterien, fällt es ausgesprochen schlecht aus. Der finanzielle Aufwand dafür war und ist und bleibt hoch, dabei ist die Wirkung entsprechend der empirischen Studie der fünften KMU negativ. Gemäß dem Rationalprinzip der Ökonomie müssen Resultate aber bei gleichem Mitteleinsatz besser/höher werden, wenn sie wirtschaftlich genannt werden sollen. Insofern war der Umbauprozess also der Sache nach nicht zu viel, sondern zu wenig »ökonomisch«. Vor allem aber fehlte es am Ansatz guten und richtigen Managements: Reformen der Kirche, die dem Rationalprinzip der Ökonomie standhalten sollen, müssen immer systemisch-kybernetisch angelegt sein. So gilt heute: nach dem Umbauprozess ist vor einer ernsthaften Reform.

Anmerkungen und Erläuterungen zu speziellen Themen Die beiden o.g. Grafiken sind sehr plakativ und für den einen oder anderen provokativ. Und wie das so ist bei Grafiken und Bildern: Sie können die Wirklichkeit natürlich nicht vollständig fassen. Daher hier noch einige ergänzende Charts, die die oben aufgestellten Thesen belegen. Zur Alternative Gemeindepfarrstellen oder Funktionspfarrstellen aufgrund von Finanzmangel. Oft wurden Gemeinde- und Funktionspfarrstellen von kirchenleitender Seite aufgrund angeblicher Finanzknappheit gegeneinander in Stellung gebracht. Dabei ist die Behauptung fehlender Mittel falsch. Und die im kirchlichen Dienst am Menschen Arbeitenden sollten sich nicht in eine falsche Frontstellung gegeneinander begeben. Dies lehrt ein Blick in die Jahresrechnung der EKHN, hier am Bsp. des Jahres 2008. Bei einem Haushaltsvolumen von 520 Mio. entfallen auf den Gemeindepfarrdienst ganze 58 Mio. €. Selbst wenn man die Versorgungsleistungen addiert, kommt man noch nicht einmal auf 15% des Haushaltsvolumens. Quelle: Jahresbericht der EKHN 2008.

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Friedhelm Schneider

Nimmt man Gemeinde- und Funktionspfarrstellen zusammen und rechnet die Kosten, die kirchensteuerfinanziert sind (staatlich finanzierte Stellen werden also nicht berücksichtigt), dann macht ihr Anteil gerade mal ca. 20% vom Haushaltsvolumen aus. Pfarrstellen im Verwaltungsbereich oder Leitung (wie ganze Dekanstellen) sind dabei aus Gründen betriebswirtschaftlich klarer Differenzierung nicht berücksichtigt.

Pfarrstellenkosten absolut – Vergleich Haushaltsvolumen EKHN 2010 600000 500000 400000 300000 200000 100000 0 Pfarrstellen Gemeinde, Funktion, Anteil Schule, brutto

HH-Volumen

Auf diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Alternative: Gemeindeoder Funktionspfarrstellen ziemlich obsolet ist. Die Frage ist berechtigt:

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Was sind denn die anderen 80 Prozent? Zu dieser Frage vgl. die Jahresberichte der EKHN. Das alles heißt nicht, dass man nun diesen Anteil zementieren müsste, dass nicht auch dort, bei Gemeinde und Funktion, Veränderungen nötig wären. Es sind generell Veränderungen erforderlich, die auf eine höhere Wirkung zielen. Nicht nur in Leitung und Administration, sondern auch bei Gemeinde und Funktion. Aber man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass Gemeinde und Funktion schon heute innerhalb aller Leistungen der Kirche relativ zu anderen Leistungen, etwa der Administration, die höchsten Wirkungen erzielen. Insofern trifft diese Forderung auch Gemeinde und Funktion, aber die anderen Bereiche in deutlich stärkerem Maße. Und man muss ergänzen: Man kann höhere Wirkung bei dieser Art von Arbeit nicht per ordre de mufti verordnen oder per Impulspapier erzeugen. Da könnte das Konzept des »führenden Dienens« schon deutlich weiterhelfen. Das Diagramm unten zeigt die Entwicklung des Anteils der Gemeindepfarrdienste in der EKHN in einer Statistik von 2000 bis 2012. Als Quelle dienen die Jahresberichte der EKHN. Der Anteil von ca. 15% ist also kein Einzelfall, sondern ab 2004 das Durchschnittsmaß. Anteil der Pfarrgehälter (Gemeinde) inkl. Versorgung am HH-Volumen der EKHN

Eine Langfristbetrachtung dieser Kennziffer »Anteil Pfarrgehälter am HH-Volumen« anhand weniger Einzelfälle zeigt am Bsp. der EKHN eine klare Abwärtstendenz ab Anfang der 80er-Jahre mit damals ca. 33%, im Jahr 2000 ca. 23% und heute ca. 15% Anteil. Wobei es sich nur um die direkten Kosten, also Gehälter und Versorgungsleistungen, handelt.

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Hintergrund ist, dass die Kirchensteuereinnahmen gestiegen sind, die Gehälter aber – wie in allen Branchen in Deutschland – ab 2000 mehr oder weniger eingefroren wurden. Das Weihnachtsgeld wurde gestrichen oder durch deutlich geringere andere Zahlungen ersetzt, die Durchstufungen zu höheren Gehaltsstufen wurden gestrichen, teilweise auch die Gehaltsendstufe A 14 auf A 13 abgesenkt (Hannover). Man beachte, dass zusätzlich eine ganze Reihe von Leistungen, die haushaltstechnisch an anderen Stellen als bei den Gehältern verbucht werden, bei dieser Betrachtung noch nicht berücksichtigt sind. So z.B. die Schönheitsreparaturen, Heizkostenzuschüsse, Weiterbildung etc. Auch dort gab es bisweilen drastische Einschnitte zulasten der Pfarrer. Die PfarrerInnen sind in der Entwicklung seit den 80er-Jahren also auch finanziell vom Zentrum in die Peripherie katapultiert worden. Pfarrgehälter (Gemeinde) + Versorgungsleistungen Anteil am Haushaltsvolumen in Prozent

Anteil in % Haushaltsvolumen

1.2 Entmündigung der Gemeinden und die Zwänge zur Regionalisierung

Christoph Bergner

25 Jahre Reform in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau – eine kleine Bilanz1 25 Jahre Reform in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

Seit Mitte der 80er-Jahre wird in der EKHN über nötige Reformen diskutiert. Viele Maßnahmen sind umgesetzt worden, viele sollen noch nötig sein, um die Kirche wirklich zukunftsfest und -tauglich zu machen. Mehr als 25 Jahre sind vergangen. Eine Zeit, die einerseits überschaubar ist, andererseits auch langfristige Entwicklungen sichtbar machen kann. Eine gute Gelegenheit also, Bilanz bzw. Zwischenbilanz zu ziehen. Nach 25 Jahren Reform gibt es ein immer drängender werdendes Problem: Der Kirche geht das Personal aus. Schon 2007 verkündete die Stellvertretende Kirchenpräsidentin einer verblüfften Synode: »Nach Einsicht der Kirchenleitung … ist erkennbar, dass 30% dieser Pfarrstellen (Gemeindepfarrstellen der EKHN, Ergänzung des Vf.) nicht zu besetzen sind. Da können wir gerne gemeinsam überlegen, wie wir uns der Situation stellen. Dass das etwas Provozierendes hat, sich mit dieser Realität auseinanderzusetzen, das ist gar keine Frage. Da müssen wir dran.« Provokation? Was würde wohl passieren, wenn ein Vorstand der Hauptversammlung ein solches Ergebnis langfristiger Planungsbemühungen präsentierte? Und dies Ergebnis auch noch als Provokation deklarierte? Direkt gefragt: Was lassen sich landeskirchliche Synoden eigentlich alles gefallen? Dennoch: Diese Provokation soll in den folgenden Erörterungen aufgenommen werden. Sollten die Reformer die zukünftigen Mit1 Zuerst veröffentlicht im DPfBl 9/2012, 510–513.

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arbeiter vergessen haben? Was 2007 für den Pfarrdienst gesagt wurde, gilt inzwischen auch für andere kirchliche Dienste. Es wird zunehmend schwerer, Kantorenstellen zu besetzen. Ähnliches gilt für den großen Bereich evangelischer Kindertagesstätten. Personal, das der Arbeit ein evangelisches Profil geben könnte, ist immer weniger zu finden. In der ambulanten Pflege deutet sich eine vergleichbare Situation an. Die Situation betrifft nicht nur die EKHN. Aus Bayern wird etwa berichtet: »Die aktuelle Statistik über die Vakanzquote in der bayerischen Landeskirche zeigt, dass in einigen Dekanaten vor allem in Oberfranken und in der Oberpfalz Vakanzquoten von 20 bis fast 30% erreicht werden und keine Entspannung abzusehen ist, weil Bewerbungen ausbleiben.«2

1 Was ist in den letzten 25 Jahren geschehen? In der EKHN begann die Reformbewegung mit der Veröffentlichung von »Person und Institution«. Die Schrift reiht sich ein in eine Fülle von ähnlichen Publikationen in der EKD und ihrer Gliedkirchen. Sie alle gingen von den gleichen Voraussetzungen aus: 1. Die Kirche hat viele Mitglieder durch Kirchenaustritt verloren. 2. Der demografische Wandel wird den Mitgliederschwund beschleunigen. 3. Die Finanzkraft der Kirche wird langfristig abnehmen. 4. Die klassische Arbeit der Kirche in den Gemeinden entspricht nicht mehr der Lebenswelt der Kirchenmitglieder. Der Ton der Reformbemühungen war immer dramatisch. Ein Zuwarten würde – so der Tenor – verheerende Folgen haben. Diese hohe Brisanz, die immer noch zitiert und bemüht wird, wenn neue Reformschritte angemahnt oder umgesetzt werden, begleitet die Diskussion über ein Vierteljahrhundert.

2 Korrespondenzblatt, herausgegeben vom bayrischen Pfarrer- und Pfarrerinnenverein in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Nr. 6, Juni 2011, 97.

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Welche Folgerungen zog die EKHN aus den Analysen? In der EKHN wurde den Kirchengemeinden bescheinigt, dass sie nicht genügend Menschen mit ihrer Arbeit erreichen. Deshalb müssten die Strukturen geändert werden. In einem Prioritätenprozess kristallisierte sich eine neue Stellenstruktur heraus: Auf der Ebene des Dekanats wurden sogenannte Profil- und Fachstellen für Ökumene, Bildung, Gesellschaftliche Verantwortung und Öffentlichkeitsarbeit geschaffen. Ihre Verwirklichung wurde an größere Dekanate gebunden. Damit sollten zugleich Synergieeffekte erzielt werden. Zunächst sollten nur Fusionen genehmigt werden, die zu Kosteneinsparungen führen. Später waren sie auch möglich, wenn sie keine Mehrkosten verursachen. Heute dürfen sie kosten, was sie wollen. Bis zur Herbst-Synode 1997 sollte die Mindestgröße eines Dekanats 40.000 Mitglieder betragen, später wurde sie auf 60 000 bis 70 000 erhöht. Inzwischen plant man noch größere Dekanate. Um der neuen Struktur angemessenen baulichen Ausdruck zu geben, wurden Häuser der Kirche eingerichtet. Von 60 Dekanaten (1997) soll die Zahl der Dekanate bis 2016 auf 25 bis 28 verringert werden. Den Fach- und Profilstellen wurden Arbeitszentren zugeordnet, die die Arbeit koordinieren und Qualitätsstandards sichern sollen. Im Gemeindepfarrdienst wurden 1240 Pfarrstellen (1997) bis 2007 auf 1034 reduziert. Bis 2025 ist eine Reduktion auf 776 Stellen geplant. Im Vorfeld dieser neuerlichen Stellenkürzung haben 17 Dekanatssynoden die Synode gebeten, sich an den bisherigen Beschluss einer 1%igen jährlichen Kürzung zu halten. Es regte sich Widerstand auf Gemeindeseite.3 Während die Kirchenleitung in der EKHN am eingeschlagenen Kurs unbeirrt festhält, gibt es andernorts schon kleine Veränderungen. 2011 hält Dieckmann, Hannover, fest: »Wir sind sehr erfreut, dass die Kirchenleitung nun einsieht, was wir ihr schon vor genau fünfzehn Jahren bei den demütigenden Auseinandersetzungen um Besoldungskürzung, Dienstwohnungs-Überzahlung, Pfarrstellenstreichung, Abweisung examinierter Pfarramtsbewerber, Pastoren-Bedrückung durch Ephoren und KV sowie bei pausenloser Pastorenschelte vergeblich vorgehalten haben: Pastorinnen und Pastoren sind für unsere Gemeinden nicht überflüssige (und daher bedenkenlos einzusparende) Kostenträger, sondern vielmehr 3 Vgl. Kirche ohne (pastorale) Zukunft, Hrsg. C. Bergner / D. Becker / F. Schneider, Resolutionen zur Pfarrstellenbemessung, 40ff., in: www.kirche-der-zukunft.de.

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zentrale Koordinatoren und unersetzliche Begleiter der gesamten Gemeindearbeit, was unsere Gemeindeglieder schon immer wussten.«4

2 Die Kirche als Organisation Doch es geht um mehr. Der Umbau der Kirche ist deshalb von Brisanz, weil damit eine Neukonzeption des Kirchenverständnisses einhergeht. Die Spardebatte dient – wie die faktisch positive Entwicklung der EKHN-Kirchensteuern zeigt – als Vorwand, um Änderungen durchzusetzen. Was zeichnet die neue Sicht auf Kirche und Gemeinde aus? Die Evangelische Kirche betrachtet sich als Großunternehmen, das mit strategischen Zielsetzungen gesteuert werden muss. Die Aufgaben der Gemeinden werden nach funktionalen Gesichtspunkten beschrieben. In der EKHN werden sie in den sogenannten Profil- und Fachstellen abgebildet. Werden diese Aufgaben näher beschrieben, so stellt sich die Frage nach der angemessenen Ausstattung und Umsetzung. Werden entsprechende Qualitäten und Standards definiert, kann die Gemeinde die gewünschten Aktivitäten nicht mehr allein wahrnehmen. Sie braucht also Unterstützung. Diese Unterstützung leistet das Dekanat. Deshalb wird es mit zusätzlichem Personal ausgestattet, das nun für die Gemeinden und das Dekanat arbeiten soll. Das Spezialwissen, das Bildungsarbeit oder gesellschaftspolitische Anliegen erfordern, wird eher von Nicht-Theologen erwartet. Deshalb werden Pfarrstellen umgewidmet und nun von Publizisten, Soziologen oder Pädagogen besetzt. Die Gemeinden ihrerseits sollen sich vernetzen und auf bestimmte Aufgaben konzentrieren, die sie auch in Zukunft noch erfüllen wollen. Die genannten Aufgabenfelder stehen gleichberechtigt nebeneinander, alle dienen der »Kommunikation des Evangeliums«.5

4 Herbert Dieckmann, 4.05.2012 file://home/kim/Arbeitsfläche/Hannover/Hanno verscher Pfarrverein »Berichte vom Pfarrvereinstag«. 5 Perspektiven des Pfarrberufs, Diskussionspapier zum Konsultationsprozess in der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, 2005.

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3 Das organisatorische Dilemma Dieses Konzept hat gravierende Folgen: Es bedarf einer hohen Koordination. Da grundsätzlich jede kirchliche Aktivität zentrale Bedeutung für die Weitergabe des Glaubens haben kann, ist ihre Wirkung zu evaluieren. Das Dekanat muss daher mit neuen Entscheidungsbefugnissen ausgestattet werden, für die zusätzliche finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Neben der organisatorischen Aufgabe ist ein permanenter innerkirchlicher Diskurs nötig. Die Steuerung dieses Prozesses ist eine wichtige Aufgabe der kirchenleitenden Gremien. Sie müssen nun die unterschiedlichen Erfordernisse der Dekanate aufgreifen, ihrerseits Impulse geben und in Synoden durchsetzen. Das wiederum geht nicht ohne eine Stärkung der Leitungsorgane. Im geschilderten Modell entsteht eine Kirche mit aufwendigen Strukturen und einer klaren Hierarchie. Doch das Konzept hat erhebliche Schwächen. Es bricht mit dem protestantischen Prinzip, dass die Kirche aus den Gemeinden, den lokalen Zusammenschlüssen herauswächst. Kleine Einheiten kommen mit wenig Bürokratie aus und schaffen über persönliche Beziehungen Vertrauen und Nähe. Da letztlich die Kirchenleitung alle wichtigen Entscheidungen trifft, verabschieden sich immer mehr Mitarbeitende aus der innerkirchlichen Dauerdebatte. »Die Kuh wird so lange im Kreis herumgeführt, bis sie zusammenbricht«, stellte einmal der Vorsitzende des Finanzausschusses der EKHN fest. (Auch er hat sein Amt inzwischen niedergelegt.) Der Stärkung der Leitungsorgane entspricht die Schwächung der ehrenamtlichen Arbeit in Kirchenvorstand und Synode. Die Fluktuation in den Gremien steigt, die Qualität sinkt. Die EKHN liegt auf der Linie des EKD-Papiers »Kirche der Freiheit« (2006). Um die Urteilsfindung nicht beliebig werden zu lassen, müssen bestimmte Vorgaben gemacht werden. Beispielsweise wird dort die Erhöhung des sonntäglichen Gottesdienstbesuchs von 4% auf 10% der Gemeindeglieder vorgeschlagen. Ein besonderes Problem der Standardisierung besteht darin, dass die kirchlichen Strukturen ständig an neue gesellschaftliche Verhältnisse angepasst werden sollen. Die kirchenleitenden Organe sind also dauerhaft damit befasst, neue Standards zu kreieren. Die ständige Selbstbeschäfti-

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gung kirchlicher Gremien wird zu einem wichtigen Bestandteil des Systems. Für die Gemeinden und Einrichtungen vor Ort gilt es nun, den wechselnden Vorgaben zu entsprechen, um weitere Mittel für ihre Arbeit zu erhalten. Die EKD etwa hält einen Abbau von 50% der Kirchengemeinden für notwendig. Die EKHN ist mit ihren Kürzungsvorstellungen also noch moderat. Das Konzept bedeutet nicht nur einen kirchlichen Dauerstress, sondern zugleich einen enormen Verbrauch an Ressourcen.

4 Das ekklesiologische Problem Die Reformen beruhen auf einem Kirchenverständnis, das der Zürcher Systematiker Walter Mostert (1936–1995) in seiner evangelischen Ekklesiologie kritisch beschrieben hat: »Lange Zeit hat es in der Rezeption vom … soziologischen Gesellschaftsmodell als der letzte Schrei gegolten, Kirche nur noch von ihrer sozialen, empirischen, gesellschaftlichen Seite und Rolle her zu verstehen, also als eine sekundäre Institution. Heute wirkt sich diese Monomanie an der Kirche verheerend aus, weil die Kirche eine religiöse Gemeinschaft ist, zu deren empirischem Bestand eben dieser religiöse Kern vonnöten ist.«6 (Mosterts Analyse erklärt, warum die heute umgesetzten Reformen aus den 70er-Jahren stammen. Sie sind kurioserweise von Anfang an ein Anachronismus gewesen.) Von den sekundären Institutionen gilt für Mostert, dass sie zu einem sozialen Gebilde gehören, aber »ihr Wesen nicht selbst und eigens darstellen«.7 Ihnen stellt er die primären Institutionen der Kirche gegenüber: Predigt, Abendmahl, Taufe und Gebet. Kritisch fragt er: »Ist die Erscheinung der Kirche in ihren sekundären Institutionen, die heute als Inbegriff des Repertoires der Kirche, ihres Weltbezugs angesehen wird, nicht in Wahrheit abstrakt und daher auch wirkungslos, weil in ihr ja das spezifisch Kirchliche weitgehend verdeckt ist?«8 Das Interesse an den sekundären Institutionen erklärt Mostert mit dem Versuch der Kirche, sich »der Zeit anzupassen, ihren politisch-sozialen-ethischen Nutzen zu zeigen, also die Kirche rein funktionalistisch zu betrachten und sie dadurch der Mitwelt 6 W. Mostert, Jesus Christus – Anfänger und Vollender der Kirche, Zürich 2006, 29. 7 A.a.O., 21. 8 A.a.O., 21f.

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zugänglich und akzeptabel zu machen. … Die Kirche versteht sich nur aus ihrer Funktion heraus.«9 Am Beispiel der Seelsorge verdeutlicht Mostert seine Kritik. Mitte der 60er-Jahre wanderte die Seelsorge aus der geistlich-religiösen Sprache aus und wandte sich der Psychologie und der Psychotherapie zu. Das Spezifische der kirchlichen Seelsorge, das den Glauben und das Gottesverhältnis des Menschen in den Blick nimmt, trat in den Hintergrund. Doch die Arbeit des Pfarrers wurde nicht – wie erhofft – attraktiver. Nicht der Pfarrer, sondern der psychotherapeutische Spezialist war nun gefragt.10 In der Funktionalisierung ihrer Arbeit enthält die Kirche der Welt und den Menschen ihre spezifische Erfahrung vor, »den Glauben, das also, wessen die Welt bedarf und was die Welt wirklich verändern würde«.11 Sie selbst aber gerät in eine Identitätskrise. »Sie leiht sich gleichsam ihre Identität aus, läuft in Kleidern herum, die gar nicht die ihren sind und ihr am Leibe schlottern oder ihr viel zu eng sind.«12 Die scheinbare Objektivität, die die Formulierung von Standards suggeriert, existiert in Wahrheit nicht. Der Funktionalisierung der Kirche entspricht eine Subjektivierung des Glaubens. In ihrem Bemühen, den Bedürfnissen der Zeitgenossen und dem gesellschaftlichen Wandel gerecht zu werden, lässt sich die Kirche auf den »subjektivistischen Geist der Neuzeit«13 ein. Dass die Zeitungsmeldung über die Kirche die gleiche theologische Dignität wie der Sonntagsgottesdienst im ekklesiologischen Programm der Kirche bekommen konnte, ist nur über die Wahrnehmung von kirchlicher Arbeit aus der Sicht persönlicher Betroffenheit möglich. Dass der Gottesdienst an sich eine Qualität hat, die ihn von anderen Vollzügen der Kirche grundlegend unterscheidet, ist aus dem Blick gekommen. Entsprechend hält es auch beispielsweise die Impulsstudie der EKD für sinnvoll, an die Stelle des theologisch ausgebildeten Pfarrers ein Netzwerk von Prädikanten zu setzen, die ortsunabhängig eingesetzt werden können. Der Widerspruch zwischen den objektiven Standards, die sich auch in vielen ökonomischen Ansprüchen dokumentieren, und der Subjektivierung des Glaubens lässt sich nicht auflösen. Es sei denn,

9 10 11 12 13

A.a.O., 69. Vgl. 70. A.a.O., 70. A.a.O. A.a.O., 71.

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man schafft eine Kirchenleitung, die jeweils bestimmt, welcher Subjektivierungsschub gerade gewünscht und standardisiert wird. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, dass scheinbar objektive Kriterien eine ganz subjektiv empfundene Religionsausübung hervorbringen. So verweisen die Planer in den Kirchenämtern denn auch immer wieder auf die ausdifferenzierte Gesellschaft und die Individualisierung der Lebensformen, auf die die Kirche in ihrer Arbeit eingehen müsse. Mostert hat die Problematik der Subjektivierung scharfsinnig beschrieben: »Gegen den Bezug des Menschen auf Gott, der das Wesen der Religion ist, setzt sich ein Bezug des Menschen auf sich selbst durch, der als Religion auftritt, aber irreligiös ist … Wir können heute diese Phänomene als Religion ohne Gott beobachten. Religion ist rein subjektives Gefühl, Selbsttranszendierung des Menschen, ohne daß in dieser Transzendenz etwas anderes gesucht wird oder getroffen wird als das Ich.«14 Mosterts Überlegung zeigt die Gefahr subjektiver Zugänge. Wo Religion nur noch als Selbsterfahrung erlebt wird, ist die Gemeinschaft der Kirche bedroht oder doch nur noch als Gemeinschaft Gleichgesinnter möglich. Entsprechend hoch ist die immanente Gefahr der Ausgrenzung Andersdenkender. Die Verdrängung wichtiger kirchlicher Gruppen aus den Leitungsorganen der Kirche gehört zu den Konsequenzen. Die Subjektivierung macht die Kirche auch im Umgang mit ihrer Herkunft anfällig. Der Reformeifer vieler Synoden und Kirchenleitungen erweist sich als traditionsresistent. Es gilt geradezu als besonders reformfreudig, wenn uralte Traditionsbestände der Kirche aktuellen Bedürfnissen geopfert werden. Die Schließung von Kirchen oder der Verkauf von Pfarrhäusern gilt als besonders entscheidungsfreudig. Kürzlich erklärte ein Propst auf einer Dekanatssynode, er habe Angst vor der »Pfarrerkirche«. Die Streichung von Gemeindepfarrstellen käme den Gemeinden zugute. Schließlich sei auf die Ideologieanfälligkeit des funktionalen Kirchenverständnisses hingewiesen. Jesus hat keine neue Religion verkündigt. Das »Christentum ist in seinem Ursprung mit einem Minimum an Institution, Kult, Ritus ausgekommen … Die Kirche hatte einen Herrn, einen 14 A.a.O., 36.

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Glauben als Gottesverhältnis, aber keine Ideologie.«15 Die Kirche der Funktionen dagegen ist verliebt in ihre Selbstdarstellung, ihre gesellschaftliche Relevanz, ihre öffentliche Wirksamkeit. Sie misst ihre Bedeutung in Umfragen und Untersuchungen. Sie macht sich abhängig von Stimmungen in der Gesellschaft. Die Stärke der seit einem Vierteljahrhundert vorgetragenen Argumente liegt darin, dass sie kaum widerlegbar sind. Denn jedem Kritiker kann vorgehalten werden, dass er eben noch in einem milieuverengten Kirchenbegriff gefangen ist und die eigentlichen Aufgaben und Herausforderungen noch nicht erkannt hat. Die konsequente Orientierung an kirchlichen Defiziten, die man niemals wird beheben können, macht jeden Einwand obsolet. Die Reformideologie immunisiert gegen Kritik. Deshalb bedeuten alle Evaluationen nur eine Verschärfung der Gangart. Am offensichtlichsten ist dies bei den Ergebnissen der Mitgliedschaftsstudien der EKD oder auch bei der Evaluation der Mittleren Ebene der EKHN der Fall. Während alle diese Studien seit Jahrzehnten belegen, wie wichtig den Menschen die Gemeinde vor Ort ist, die Kirche, der Pfarrer/die Pfarrerin, Kindergarten und Diakoniestation, planen die Reformer an dieser einfachen Wahrheit vorbei.

5 Was bleibt nach 25 Jahren? 1. Der Selbstbeschäftigungsgrad der Kirche ist erheblich gestiegen. Funktionäre und Technokraten bestimmen die Tagesordnung. Wichtige Themen der Kirche wie z.B. die Bedeutung des Gottesdienstes, die Aufgabe der Seelsorge und des Religionsunterrichts standen seit 25 Jahren nicht mehr auf der Tagesordnung einer Synode. 2. Die Strukturveränderung an sich ist zum Prinzip kirchenleitenden Handelns geworden. Die Anlage dieses Prozesses löst ständig neue Reformen aus. Die Reform ist zur Dauerbeschäftigung geworden. 3. Insgesamt hat es keine Einsparungen gegeben, sondern Umschichtungen von unten nach oben. Verlierer sind die Gemeinden und der Pfarrdienst. 15 A.a.O., 41.

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4. Die Sprache der Reform klingt ökonomisch. Doch die ökonomischen Ergebnisse sind dürftig. Die tatsächlichen Kosten sind hoch. 5. Der Verwaltungsaufwand ist gestiegen. Für seine Verwaltung gibt ein Dekanat etwa das Fünffache aus wie 20 Jahre zuvor. Vermutlich hat die Kirche noch nie so viel Geld für ihre Verwaltung ausgegeben wie heute. Vermutlich waren ihre Organisation noch nie so schlecht und die leitenden Mitarbeiter so gut bezahlt. 6. Die Gemeinden werden zu Filialen der Kirche. Nachdem Kirchenmusiker, Gemeindepädagogen und Fach- und Profilstellen auf der Ebene des Dekanates angesiedelt worden sind, sollen nun die Gemeindepfarrstellen folgen. Sie werden zu Pfarrstellen der Region. Nach den Diakoniestationen sollen auch die Kindergärten aus den Gemeinden abgezogen werden. 7. Das Gegenüber von kirchlichen Mitarbeitern ist nicht mehr die Gemeinde und ihr Kirchenvorstand, sondern ein Gremium, das von der täglichen Arbeit weit entfernt ist und deshalb durch Dokumentationen und Präsentationen unterrichtet werden muss und sich vor allem als Kontrollorgan versteht. 8. Die Kirchenvorstände sind weitgehend entmündigt. Sie werden durch Ehrenamtsakademien darauf vorbereitet, die Arbeit zu übernehmen, die früher durch den Pfarrer gemacht wurde. 9. Die Fluktuation von Ehrenamtlichen ist gestiegen. Gerade kompetente Mitglieder haben die Synoden in den letzten Jahren verlassen. Der Niveauverlust und die hohe Fluktuation erleichtern die Durchsetzung von Reformschritten. 10. Die EKHN hat in den letzten fünf Jahren nichts unternommen, um nachhaltig für pastoralen Nachwuchs zu werben. Das hat verschiedene Gründe. Einer darf dabei nicht übersehen werden: Die Zusammenlegung von Gemeinden, die Fusion von Dekanaten lässt sich besser durchsetzen, wenn kein Personal mehr da ist. 11. Die Dauerdebatte über die Zukunft der Kirche und die stetige Dramatisierung von Problemen machen die Kirche offenbar als Arbeitgeber unattraktiv. 12. Die klassischen Organisationsvorteile der Kirche, flache Hierarchien, hohe Präsenz vor Ort, Selbstorganisation und intrinsisch motivierte Mitarbeiter, sind reduziert worden. 13. Die Reformen werden nicht von den Menschen und den Notwendigkeiten vor Ort her gedacht, sondern von Organisations- und Macht-

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fragen her entwickelt. Sie wirken deshalb nur beschränkt nach außen. Die Evaluation der Dekanatsstrukturreform zeigte, dass das Dekanat kaum wahrgenommen wird. So erklärten etwa 82% der Kirchenvorstände und 71% der Gemeindeglieder, dass sie nicht die Region, sondern die Kirchengemeinde gestärkt sehen möchten. Vom Dekanat wussten nur 21% der Mitglieder bei starker Bindung, 10% bei mittlerer Bindung und 5% bei schwacher Kirchenbindung. Das ursprüngliche Ziel, gerade die Kirchenfernen durch die Dekanatsstrukturreform zu erreichen, wurde bislang verfehlt.

Andreas Dreyer

»Stärkung der mittleren Ebene« Wie sich die Hannoversche Landeskirche von ihren Kirchengemeinden distanzierte »Stärkung der mittleren Ebene«

Die Ausgangslage 2005 Noch vor der Veröffentlichung des EKD-Impulspapiers Kirche der Freiheit im Sommer 2006 begann vor rund zehn Jahren, im Mai 2005, in der Hannoverschen Landeskirche mit der Einbringung des mittlerweile legendären »Aktenstückes 98«1 in die Landessynode ein kirchlicher Reformprozess vergleichbar dem, den die EKD dann im Jahr darauf allen Landeskirchen als strukturellen Veränderungsprozess empfahl – und der wie kein zweites Thema den Protestantismus in der Bundesrepublik in den Folgejahren mit sich selbst beschäftigen und entsprechend seine Außenorientierung mindern sollte. Vorangegangen war der Einbringung dieser Reformagenda die Einsetzung eines synodalen Perspektivausschusses bereits im Juni 2004. Diesem war zur Aufgabe gemacht worden, Antworten auf ein in jenem Jahr aufgetretenes Haushaltsdefizit zu finden, das aufgrund der Änderung des staatlichen Steuerrechts aufgetreten war. Ziel des im Aktenstück skizzierten Reformkonzeptes war nominell lediglich eine dauerhafte Reduzierung des Haushaltsvolumens um 15 % (ca. 80 Mio. € p.a.). Weitaus gravierender aber als alle damit verbundenen schmerzhaften Kürzungen und Streichungen wog, dass das Sparprogramm zugleich zu tiefgreifenden systemischen Strukturveränderungen zum Nachteil der Gemeinden und der Pfarrerschaft führte, deren negative Folgewirkungen heute besonders schmerzhaft zu spüren sind. In deren Konsequenz behielt Kirche nicht mehr ihre zuvor diskursive, basisnahe »Bottom-up«-Struktur bei, die sie zuvor ausgezeichnet hatte, sondern passte sich unter dem Leitwort 1 Aktenstücke der 23. Landessynode, hier: Nr. 98 vom 23.05.2005, endgültig beschlossen 23.11.2005.

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der »Organisationswerdung« dem ökonomischen Paradigma weithin an. Und ebenso wie im EKD-Reformpapier »Kirche der Freiheit«2, wo bereits im Vorwort als Legitimationsgrundlage das Szenario eines dramatischen Mitgliederverlustes und eines noch stärkeren Rückgangs der Finanzkraft der Landeskirchen beschworen wurde, agierte man auch hier.

Aktenstück 98 – Ein Synodendokument verändert die Landeskirche3 Als zentraler Punkt des hier nicht im Einzelnen darstellbaren Aktenstückes im Umfang von 33 Seiten wurde benannt, dass praktisch sämtliche Haushaltspositionen unter der Leitfrage, inwieweit sie für die Erfüllung des kirchlichen Auftrages zukünftig erforderlich seien, durchforstet und mit entsprechenden Kürzungsvorgaben versehen wurden. Ganz so, als wenn zu diesem Zeitpunkt für diese »Kirche der Zukunft« klare Kriterien überhaupt vorgelegen hätten! Dabei wurde nach Bekunden der Wortführer eine »Beweislastumkehr« vorgenommen: »Angesichts der enormen Herausforderungen in den nächsten Jahrzehnten (!)4 ist eine Steuerung der kirchlichen Aufgaben mit den herkömmlichen Mitteln und Methoden nicht mehr leistbar. … Jede kirchliche Aufgabe ist mit der radikalen Frage zu konfrontieren, was der Landeskirche5 (sic!) fehlen würde, wenn es sie (die betr. Aufgabe, Vf.) nicht mehr gäbe.«6 Im Folgenden wird dann ausgeführt: »Nicht mehr die lange und gute Tradition einer Aufgabe ist maßgebend, sondern ihre herausragende Bedeutung für die Zukunft des Protestantismus in unserem Land.« – Mit einer derart maßlosen Sprache, die Schrift und Tradition wie die Besonderheiten von Kirche als Institution bewusst ignorierte und ebenfalls mit keiner Silbe auf bestehende Rechtsverpflichtungen und an Personen gegebene Zusa2 Kirche der Freiheit, 7: Wenn die heute erkennbaren Trends einfach fortgeschrieben werden müssten, so würde nach manchen Einschätzungen die Evangelische Kirche im Jahre 2030 ein Drittel weniger Kirchenglieder und nur noch die Hälfte (sic!) der heutigen Finanzkraft haben. 3 Aktenstück 98 der 23. Landessynode/Bericht des Perspektivausschusses betr. Zukunft gestalten, Hannover 2005. 4 Hervorhebung von mir. 5 Bezeichnenderweise (lapsus linguae) wird hier nicht von den Kirchengemeinden, sondern von der Landeskirche gesprochen, was die leitenden Interessen gut zu erkennen gibt. 6 Aktenstück 98, 8.

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gen einging, veränderte die Landeskirche ihr Gesicht nachhaltig. Als Instrument dazu diente eine Neuordnung der »Stellenplanungs- und Zuweisungskriterien«, die »neu zu entwickeln«7 seien. So wurde bewusst und zielgerichtet eine künstliche Dramatik inszeniert, mit der die Tektonik der Landeskirche dezidiert verändert wurde und zugleich Bewährtes wie Tradiertes in einer Art und Weise aufgegeben wurde, die von der Sache her überhaupt nicht gerechtfertigt und legitimiert war, denn schon bald stieg der Ertrag aus der Kirchensteuer wieder spürbar an. Es ging folglich weniger um ein – teilweise durchaus erforderliches – Kostensenkungsprogramm, sondern zeitgleich wurde auch das innere Gefüge der Landeskirche im Sinne und Geiste einer Hierarchisierung und Umverteilung der Entscheidungsbefugnisse von der bisherigen Basis der Kirchengemeinden auf die Metaebene des Kirchenkreises vorgenommen. Denn als zentrale Handlungsebene dieser projektierten »Kirche der Zukunft« wurde der Kirchenkreis, die sog. »mittlere Ebene«, entdeckt!

Das Finanzausgleichsgesetz (FAG) von 2006 und die Folgen Das letztlich entscheidende Gesetz, mit dem die Finanzverteilung in der Hannoverschen Landeskirche zulasten von Kirchengemeinden und Gemeinde-Pfarrerschaft gravierend verändert wurde, war das sog. Finanzausgleichsgesetz (kurz »FAG«), das die Zuweisungen an die »Planungseinheiten« regelt, zu denen nun Kirchenkreise hochstilisiert wurden.8 Dieses Gesetz stufte Kirchengemeinden von einst nahezu gleichberechtigten selbstständigen Körperschaften innerhalb des kirchlichen Verfassungsaufbaus zu untergeordneten abhängigen Teileinheiten herab, mithin zum letzten und unselbstständigsten Glied in der »von oben« organisierten Verteilungskette kirchlicher Mittel, während die Kirchenkreise und ihre Gremien zeitgleich zu »Steuerungseinheiten« deklariert wurden, die fortan umfangreiche Befugnisse erhielten, um für zukünftige kirchliche Entwicklungen praktisch die allein entscheidende Handlungsebene zu sein. Dies alles geschah im Übrigen ohne wissenschaftliche Be-

7 Ebd., 30. 8 Kirchengesetz über den Finanzausgleich in der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers vom 13.12.2006.

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ratung oder Begleitung, ohne empirische Befragung der Pfarrerschaft und ihrer Vertretungsorgane oder der Kirchenvorsteherschaft, ohne dass dies zuvor in zukunftsweisenden Muster-Kirchenkreisen hinreichend erprobt und tiefer gehend theologisch oder kirchenpolitisch debattiert worden wäre.9 Auch wurden, so weit erkennbar, die staatlichen Stellen, die durch erhebliche Landeszuschüsse im zweistelligen Mio.-€-Bereich die Pfarrbesoldung etc. cofinanzieren, übergangen. So wurde gleichermaßen die zuvor weitgehend föderale Struktur der Landeskirche aus Kirchengemeinden, Kirchenkreisen und Landeskirchenamt, die zuvor ein austariertes Machtgefüge aus einer Vielzahl von Checks und Balances darstellte, durch ein weitgehend hierarchisches System ersetzt. Ganz unverblümt formulierte man diesen gezielt herbeigeführten innerkirchlichen Paradigmenwechsel: »Dem Kirchenkreis als Steuerungs- und Entscheidungsebene auf der Grundlage gesamtkirchlicher Rahmensetzungen wächst im Zuge weiterer Aufgabenübertragungen sowie erweiterter Budgetverantwortung eine noch bedeutendere Rolle zu. … Der Perspektivausschuss empfiehlt, den Weg der Aufgabenübertragung und Budgetierung hinsichtlich der Kirchenkreise konsequent weiterzugehen und die Entscheidung über die Umsetzung der Stellenplanung bezüglich der Pastorinnen und Pastoren10 sowie anderer kirchlicher Berufsgruppen bis zum Jahre 2010 auf die Ebene der Kirchenkreise zu verlagern.«11 – Mit dieser kirchengeschichtlich analogielosen Abschaffung des seit der Reformation bestehenden gemeindlichen Pfarrstellenbesetzungsrechtes12 und der dadurch entstehenden sehr weitgehenden Kirchenkreis-Abhängigkeit der PfarrerInnen wurde der für die pfarramtliche Rechtsstellung zentrale Rechtsgrundsatz der Unversetzbarkeit, der zuvor das Pfarrerrecht bestimmt hatte und für das Selbstverständnis, die Identität und die Gemeinschaft der PfarrerInnen quasi konstitutiv war, außer Kraft gesetzt. Damit wurden auch die sog. Bestallungsurkunden weithin zu Makulatur, weil sie ihrer den Pfarrstellenumfang begrenzenden Schutz9 Erst im Jahre 2010 wurde diesbezüglich der Art. 36 der Kirchenverfassung nachträglich in diesem Sinne geändert. 10 Unter dem Begriff Stellenplanung verbirgt sich in der hann. Landeskirche die Errichtung, Veränderung oder Aufhebung von Pfarr- und Mitarbeiterstellen sowie die Erteilung von Mitversehungsaufträgen etc. 11 Aktenst. 98, 17. 12 Dazu sei auf Luthers grundlegende Schrift »Daß eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen …« von 1523 verwiesen.

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funktion beraubt wurden. Wenn auch nicht dem Rechtssinne nach, so doch der Sache nach stiegen die Ephoren/SuperintendentInnen, die zuvor ein weitgehend klassisch-repräsentatives Aufgabenspektrum im Rahmen der Dienstaufsicht innehatten, aufgrund ihrer neuen Verteilungsmacht von Stellen und Finanzmitteln faktisch zu »Dienstvorgesetzten« mit einem in diesem Gesetz zumindest angedachten Weisungsrecht und Versetzungsbefugnissen auf. Als Teil dieser neuen Systematik wurde zudem der Gemeindedienst-Anteil der Superintendenturen, den sie zuvor stets innegehabt hatten, zumeist reduziert oder gänzlich abgeschafft. Damit wurde die Gleichrangigkeit der Ordinierten mitsamt der Tatsache, dass es in der Evangelischen Kirche nur ein ordiniertes Amt nach CA V. gibt, praktisch weitgehend bedeutungslos.

Das Niedersächsische Landesraumordnungsprogramm Ein weiterer grundsätzlicher Fehler bestand und besteht in der Adaption des Niedersächsischen Landesraumordnungsprogramms13 (LROP) durch die Landeskirche, was die Mittelzuweisungen aus dem sog. Regionalfaktor an die Kirchenkreise betrifft. Dieses Programm benennt für das Land Niedersachsen (dessen Fläche zu ca. 75% zur Hannoverschen Landeskirche gehört) eine Vielzahl von sog. Mittel- und Oberzentren. Pikanterweise regelt nun jedoch das Land selbst die Verteilung seiner Finanzen gerade nicht nach besagtem LROP, die Kirche über einen sog. »Regionalfaktor« von 10% der Zuweisungsmittel aber sehr wohl! Jedoch sind die dort aufgelisteten Mittel- und Oberzentren sehr ungleich auf die 54 Kirchenkreise der Hannoverschen Landeskirche verteilt – mit der Folge, dass einige Kirchenkreise gleich mehrere zuschlagsberechtigte Mittelund Oberzentren haben, andere – ohnehin schon infrastrukturell benachteiligte – jedoch weder das eine noch das andere. Sie gehen folglich leer aus und müssen entweder fusionieren oder notdürftig ohne Regionalfaktor überleben. Dadurch werden die in einem Flächenland wie Nie13 Landes-Raumordnungsprogramm Niedersachsen (LROP) von 1994. – Es stellt nach Aussagen des Landes »die planerische Konzeption für eine zukunftsfähige Landesentwicklung dar«. Abschnitt 2 trifft Regelungen zur Entwicklung der Siedlungsund Versorgungsstrukturen insbesondere in den Themenbereichen Siedlungsentwicklung, Standortfunktionen, Entwicklung der zentralen Orte (Ober- und Mittelzentren) und Entwicklung der Versorgungsstrukturen (niedersachsen.de/portal/ Raumordnung).

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dersachsen vorhandenen beträchtlichen Strukturnachteile ländlicher Regionen weiter verstärkt und die Betroffenen in diesen am schlechtesten ausgestatteten Regionen gegenüber denen in anderen Planungsregionen benachteiligt. Derjenige Kirchenkreis mit der höchsten Prokopfzuweisung erhielt so bspw. im Jahre 2011 einen Zuweisungsbetrag i.H.v. 86,05 € pro Gemeindeglied, der mit der niedrigsten nur 57,74 €, was einer prozentualen Differenz von annähernd 60% (!) entspricht – bei einem damaligen Pro-Kopf-Aufkommen von Kirchensteuern von ca. 150 €/Mitglied und Jahr!14 Mithin geschah dadurch eine Art Preisgabe des Solidaritätsgedankens. Dies war umso unverständlicher, als zum Zeitpunkt der Beschlussfassung die Landflucht von Teilen der Pfarrerschaft längst begonnen hatte und es dringend antizyklischer Steuerung bedurft hätte, anstatt vorhandene Trends noch derart zu verstärken. Die Ungleichverteilung der Mittel – je nach Vorhandensein von »Zentren« – führte in Konsequenz dazu, dass die Pfarrbezirke in den schlecht ausgestatteten Regionen größer ausfielen als die in den finanziell bevorzugten urbanen Regionen. Nach Wohl und Wehe der Kirchengemeinden, nach der Bedeutung ihrer Arbeit gerade in strukturschwachen Regionen, nach den einst gegebenen Zusagen auf Stellensicherheit, mit denen PfarrerInnen einst in diese Regionen entsandt worden waren, wurde ebenfalls nicht gefragt, auch kein Vertrauensschutz für »Altfälle« gewährt, wie es andere Landeskirchen durchaus praktizierten. Auch von einer Evaluation des jeweils zuvor geleisteten Arbeitsumfanges wurde abgesehen – hätte eine solche doch wahrscheinlich zutage befördert, dass die Kirchenaustritts-Quote in den ländlich geprägten Regionen Niedersachsens spürbar niedriger war und ist als die in urbanen Zentrums-Regionen. Aber dafür interessierte sich unter der Ägide der »Beweislastumkehr« ohnehin niemand mehr. – So entstanden per Synodenbeschluss bewusst in Kauf genommene Ungleichgewichte und Veränderungen der bisherigen kirchlichen Landschaft. Es ist des Weiteren bezeichnend, dass die Kirchengemeinden, nach Schrift und Bekenntnis die zentralen Orte kirchlichen Lebens von Verkündigung und Seelsorge, in diesem Gesetz vor allem an einer Stelle überhaupt näher in den Blick geraten: nämlich bei der Anrechnung ihrer Eigeneinnahmen (§ 15–17 FAG), die zum Großteil den Kirchenkreisen zugeschlagen werden und so der gemeindlichen Arbeit vor Ort verloren 14 Vgl. dazu Kirchensteuerstatistik der EKD 2013, Hannover 2014, 2.

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gehen. »Der Kirchenkreis kann bestimmen, dass die Einnahmen (der Kirchengemeinden) ganz oder teilweise an den Kirchenkreis abzuführen sind« (§ 17 FAG). Die Eigeneinnahmen der noch 1.386 Kirchengemeinden aus Pachten, Mieten u.a. machen in Summe immerhin ca. 21 Mio. € aus, die so auch der Basisarbeit verloren gingen!

Die sog. »Grundstandards«15 Die protestantische Selbstvergessenheit und Kirchenkreis-Fixiertheit des Reformprogramms zeigte sich allerdings wohl an keinem zweiten Schriftstück so deutlich wie an den sog. »Grundstandards«, eine Art Zielbestimmungen für das künftige Handeln in den von den Protagonisten als zentrale Handlungsebene ausgemachten Kirchenkreisen. Nicht nur der merkwürdig gekünstelte Begriff »Grundstandard« an sich,16 sondern vielmehr die dahinterstehende Sache einer Auflösung praktisch sämtlicher gemeindlicher Handlungsvollzüge in anscheinend planerisch von unterschiedlichen Mitarbeitergruppen zu bewerkstelligende »Standards«. Hierin zeigt sich in aller Deutlichkeit die Abkehr von allen bewährten theologischen und kirchlichen Kategorien einer gemeindeorientierten, auch in ihrer Organisationsstruktur Schrift und Bekenntnis verpflichteten Kirche mit größtmöglicher Basis- und Personennähe hin zu einer weitgehenden Übernahme des ökonomischen bzw. funktionalistisch-systemtheoretischen Paradigmas für die Kirche,17 das Strukturen als praktisch frei veränderbar ansieht. Kirche wird so unter der Hand zu einer Organisation unter anderen und verliert ihr Spezifikum, ihre Eigenart, ihr Proprium, macht sich dem schema tou kosmou, von dem Paulus spricht, gleich. Statt sich nämlich von unten, aus funktionierenden Ortsgemeinden heraus zu erneuern, wird die (empirisch nicht belegbare) Erwartungshaltung geschürt, eine gemäß Topdown-Logik konstruierte Kirchenorganisation könne die Erwartungen und Bedürfnisse der Gemeindeglieder gut erfüllen – ganz so, als hätten die EKD-Mitglied15 Grundstandards für die Finanzplanung der Kirchenkreise, lt. § 20.2. FAG i.V.m. § 12 RVO über den Finanzausgleich i.d. Ev.-Luth. Landeskirche Hannover. 16 »Standard« bedeutet etymologisch bereits Grundbedingung. Es handelt sich bei dem sonst im Deutschen nicht bekannten und nicht gebräuchlichen Kunstbegriff »Grundstandard« zudem um einen klassischen Pleonasmus, »Weißer Schimmel«. 17 Vgl. hierzu A. Stöber, Kirche – gut beraten?, v.a. 77f.

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schaftsuntersuchungen nicht exakt das Gegenteil zutage befördert, nämlich den nachdrücklichen Wunsch der Basis, gerade die Ortsgemeinden zu stärken und sie personell und finanziell angemessen auszustatten.18 Wie tief greifend der Kulturwandel vorangetrieben wurde, zeigt bereits die Präambel der Grundstandards: »Das Finanzausgleichsgesetz (FAG) geht von der umfassenden und eigenständigen Finanzplanung der Kirchenkreise aus. … Die Finanzplanung ist umfassend, weil sie neben der Stellenplanung auch die allgemeine Finanzplanung und das Gebäudemanagement umfasst (§ 19 Abs. 2 FAG).«19 Damit geriet die Pfarrerschaft in ein deutlich weitergehendes Abhängigkeitsverhältnis als zuvor gegenüber den kirchenkreisleitenden Gremien und Akteuren, welches die Identität der Pfarrschaft und die intrinsische Motivation derselben traf. In Folge führte dies dazu, dass in den meisten Planungsregionen Gemeindepfarrstellen mehr und mehr im Umfang reduziert bzw. sogar ganz aufgelöst wurden, um die dadurch frei werdenden Mittel sodann für beim Kirchenkreis angesiedelte Stabsstellen i.S. Öffentlichkeitsarbeit, Fundraising etc. umzuwidmen. Das Landeskirchenamt beschränkte sich dabei auf eine bloße Kontrolle der Stellenrahmenpläne, die jedoch weitgehend wirkungslos blieb, da für die Kirchenkreise gezielt keine konkreten Obergrenzen für Gemeindebezirke der PfarrerInnen mehr galten, sodass immer mehr Gemeindepfarrstellen im Zuge der »Reform« unter die Räder kamen.20 Hatte so die Zahl der Gemeindepfarrstellen (Vollzeitäquivalente) im Jahre 2000 noch 1.449 betragen, so sank sie infolge der Reform um 20% auf derzeit 1.160 (2016), darin allerdings bereits enthalten die Ephorenstellen, häufig ohne Gemeindeanbindung. So heißt es in den Grundstandards weiter: »Eine bestimmte Mindestausstattung mit Stellen oder Stellenanteilen ist dabei nicht vorgegeben.«21 Die Kirchengemeinden selbst als eigentliche Träger und Akteure der kirchlichen Basisarbeit behielten nur vergleichsweise schwache Mitspracherechte, so hieß es bewusst vage: »… Die Kirchengemeinden … sowie Vertreter und Vertreterinnen der beruflich und ehrenamtlich in den verschiedenen Bereichen eines Handlungsfeldes Tätigen sollen (Hervorhe18 Vgl. dazu z. B. Zwischen Engagement und Indifferenz. V. Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2012. 19 Grundstandards, 1. 20 Die Zahl an Funktionspfarrstellen wurde ebenfalls gekürzt, folgte jedoch einer anderen, hier nicht darstellbaren Systematik. 21 Ebd., 2.

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bung des Vf.) in angemessener Weise in den Planungsprozess einbezogen werden.«22 Die Pfarrerschaft wurde dabei nicht einmal eigens erwähnt und zudem mit dem Begriff ›sollen‹ absichtlich die schwächste und juristisch am wenigsten angreifbare, weil nicht einklagbare Formulierung gewählt. Infolgedessen entschieden sich im Zuge der voranschreitenden Reform zahlreiche PastorInnen für eine sog. Exitstrategie23 und begannen, sich aus den Gemeinden heraus in Richtung Funktionspfarrstellen (oder in andere Landeskirchen) zu verändern, um wenigstens auf diese Art und Weise der neu geschaffenen Kontrolle und der verschlechterten Rechtsposition, die sie in eine Kirchenhierarchie einzubinden versuchte, zu entgehen. Wie weit in dem Strukturpapier auch die Kirchengemeinden als entbehrlich angesehen wurden, lässt auch die nachfolgende Formulierung erahnen. So heißt es unter »Konzeptionelle Dimension des gottesdienstlichen Lebens« sogleich an erster Stelle: »Konzepte über verschiedene gottesdienstliche Angebote in den Regionen oder im Kirchenkreis.«24 Die Tatsache, dass der Gottesdienst die zentrale Versammlung der realen Gemeinde der Gläubigen vor Ort ist, schimmert hier nicht einmal mehr durch! Man fragt sich, wieweit der Glaube an die Machbarkeitsfantasien von Organisationsentwicklung bereits gediehen war, dass Ursprung und Wesen der Kirche derart aus dem Blick geraten konnten.

Das Verteilungsvolumen (Gesamtzuweisung) Unter der Gesamtzuweisung wird der Betrag verstanden, der sämtlichen Planungsbereichen (Kirchenkreisen) für ihre Personal- und Sachmittel zugewiesen wird. Dieser Betrag macht regelmäßig jedoch nur ca. 40 bis 45% des Gesamthaushaltes aus, woran zu erkennen ist, welch großen Anteil alle übrigen Aufgabenbereiche erhalten. Und von diesem Zuweisungsbetrag werden vorab auch noch der Aufwand des Kirchenkreises sowie der kirchlichen Verwaltungsstelle abgezogen, bis dann endlich der Restbetrag auf die Kirchengemeinden aufgeteilt werden kann. Der Protest einzelner Planungsregionen gegen dieses System verhallte bisher.

22 Ebd., 3. 23 Vgl. dazu Abwanderung und Widerspruch von Albert O. Hirschman, 3ff. 24 Ebd., 7.

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Dennoch wird permanent auf das Ungleichgewicht hingewiesen, dass nur ein vergleichsweise geringer Anteil der Gesamteinnahmen weitergeleitet wird. Dies fällt insbesondere dann auf, wenn einmal das fiktive Kirchensteueraufkommen einer Mustergemeinde gegengerechnet wird: Hierbei zeigt sich regelmäßig, dass auch kleinere Gemeinden durchaus höhere Pfarrstellenanteile als derzeit aufbringen könnten, wenn nur ihr Zuweisungsbetrag dies auch zuließe. Von einem geschätzten aktuellen landeskirchenweiten Kirchensteueraufkommen von ca. 196 € pro Kopf (531 Mio. € / 2,7 Mio. Mitglieder, Zahlen von 2015) verbleiben in zahlreichen Regionen gerade einmal ca. 60,- €, also weniger als ein Drittel, wovon der gesamte Personal- und Sachkostenaufwand einer Kirchengemeinde einschließlich ihres Pfarrstellenanteils zu tragen ist – dabei sind die Landeszuschüsse für Pfarrbesoldung u.a. nicht einmal eingerechnet!

Pfarrstellenpauschale Ein weiteres Problem, das sich im Zusammenhang der Verlagerung der Stellenplanung und der Alleinverantwortung über die Finanzhoheit der Kirchenkreise für die Pfarrerschaft ergab, war und ist die sog. Pfarrstellenpauschale. Sie bezeichnet jenen Festbetrag, der aufgrund einer vom Landeskirchenamt berechneten (einheitlichen) Pauschale für den Pfarrstellenanteil jeder Kirchengemeinde dieser anzurechnen und von ihrer Gesamtzuweisung abzuziehen ist. Die Summe betrug anfänglich (2009) 70.900 €, erhöhte sich dann (2013–2016) auf 81 300 Euro p.a. und steigt im Stellenplanungszeitraum 2017–2022 auf vorerst 92 800 € p.a., für Superintendentur-Pfarrstellen gar auf 106 800 €. Der Betrag ergibt sich aus dem Jahresbrutto einer A13/A14-Stelle inkl. Zulagen25 zzgl. des in der Vergangenheit enorm stark angestiegenen Versorgungsaufschlages von derzeit 42%. Da die Pfarrstellenpauschale auf nahezu jedem Kirchenkreistag – einer öffentlichen Kreistagssitzung vergleichbar – frei kommuniziert wird, ergibt sich für die GemeindepastorInnen ein permanen25 Bis zum 01.01.2014 (Wiederherstellung von A14) ergab sich eine Sonderproblematik auch noch dadurch, dass die Pauschale einen Mittelwert aus A13- und A14EmpfängerInnen darstellte und die Lebensjüngeren (nach 1957 geboren) auch noch mit einer Summe angerechnet wurden, die sie gehaltsmäßig gar nicht erreichen konnten, also A13-EmpfängerInnen damit für das Gehalt der A14-Empfänger »öffentlich geradestehen« mussten. Darauf sei hier nur am Rande hingewiesen.

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ter Rechtfertigungsdruck ihren Gemeinden und auch der gesamten Öffentlichkeit gegenüber über diese vergleichsweise hohe Summe. Denn dieser Betrag liegt aufgrund der Pensionskassensystematik logischerweise über den Pauschalen anderer Mitarbeitergruppen und auch scheinbar über den Gehältern anderer öffentlich Bediensteter – eben weil dort kein Pensionskassenanteil ausgewiesen wird. So erscheint der Pfarrer in der Öffentlichkeit als Spitzenverdiener, der er realiter gar nicht ist! Einsparvorgaben der Landeskirche werden systembedingt nun in steter Regelmäßigkeit nahezu automatisch in Pfarrstellenpauschalen umgerechnet, sodass jede Kürzungsvorgabe zuerst einmal auf ein entsprechendes Pfarrstellenkontingent pro Kirchenkreis heruntergebrochen wird. Diese fiktive Summe ist seit der Einführung des FAG quasi zur »Währungseinheit« jeder Sparvorgabe mutiert. Der Legitimationsdruck verstärkt sich verständlicherweise noch einmal in all jenen Gemeinden, in denen Stiftungen, Fördervereine oder Dritte bereit waren, Teilbeträge der Pfarrstelle cozufinanzieren. Die Systemungerechtigkeit besteht nun darin, dass ein derart hoher Rechtfertigungsdruck keiner anderen kirchlichen Mitarbeitergruppe aufgebürdet wird – übrigens auch nicht den KollegInnen in Funktionspfarrämtern bzw. in der Kirchenleitung und ihren teilweise deutlich darüberliegenden Gehältern, die lediglich im Anhang des landeskirchlichen Haushaltsplanes anonymisiert angegeben sind, da es für diesen Personenkreis kein Äquivalent zu öffentlich tagenden Kirchenkreistagen gibt.

… Zehn Jahre später … Eine vorsichtige erste Bilanz nach zehn Jahren zeigt äußerst ernüchternde Ergebnisse. Die Zielvorstellung, neben den finanziellen Einsparungen durch die Strukturveränderungen den versprochenen Aufbruch oder gar eine Trendumkehr im Sinne des erhofften »Wachsens gegen den Trend« herbeizuführen, wird klar verfehlt. Vergleicht man die Mitgliederverluste der einzelnen Landeskirchen miteinander, zeigt sich, dass die Hannoversche Landeskirche im hinteren Mittelfeld landet (11. von 20. Plätzen), knapp vor den östlichen Landeskirchen, die durch Wanderungsverluste allerdings einen negativen Sonderfaktor aufweisen. Der massive Pfarrstellenabbau hat das Vertrauen der Pfarrerschaft in den Dienstherrn beeinträchtigt, die Preisgabe des zuvor geübten »kw-Prinzips« (= Stellen-

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umfangsänderung nur bei Neubesetzung) hat zu einer tief greifenden Verunsicherung geführt, die die intrinsische Motivation spürbar hat sinken lassen. Hinzu kommen verstärkte Wanderungsbewegungen der Pfarrerschaft in Richtung Funktionspfarrstelle oder in Landeskirchen, die bessere Rahmenbedingungen bieten (z.B. bei den Pfarrbezirksgrößen oder der Besoldung). Ein nachvollziehbarer Schritt, wenn in bestimmten Planungsbereichen eine Seelenzahl, die in anderen Landeskirchen für eine 100%-Stelle hinreicht,26 gerade noch als 50%-Stelle bewertet ist.27 Statt gebotener Nachteilsausgleiche und Rechtssicherheit im Pfarrstellenumfang wie in den übrigen beruflichen Rahmenbedingungen (Autonomie), wie sie von anderen Landeskirchen praktiziert werden, verstärkte man durch die Reform ohnehin latente Trends wie den, in urbane Regionen und in besser zu strukturierende Arbeitsbereiche abzuwandern, vehement. Der Nachwuchsmangel für den Pfarrberuf dürfte auch zum überwiegenden Teil hierin wurzeln. Die Zahl an BewerberInnen um Mandate bei Kirchenvorstandswahlen ist ebenfalls rückläufig, denn die Entscheidungsbefugnisse wurden spürbar von der Basis wegverlagert, die Attraktivität kirchlicher Basisämter insgesamt dadurch verschlechtert. Der Kirchenbesuch bzw. die Kasualien konnten ebenfalls nicht erkennbar gesteigert werden, die Austrittszahlen zeigen keine positive Trendumkehr, steigen im Gegenteil wieder an.28 Es bleibt weiteren Untersuchungen vorbehalten, genauer zu prüfen, welche der 20 Landeskirchen das zurückliegende Jahrzehnt am erfolgreichsten bewältigt haben. Zu vermuten ist, dass es diejenigen Landeskirchen waren, die Basisnähe erhalten und alle Mitarbeitergruppen frühzeitig in ergebnisoffene Reformvorhaben einbezogen haben. – Landeskirchen ohne entsprechende »mittlere Ebene« wie Bremen und Reformiert scheinen jedenfalls um keinen Deut schlechter über die Jahre gekommen zu sein. Es bleibt zu hoffen, dass die Verantwortlichen die Systemfehler erkennen und baldmöglichst korrigieren, damit nicht Nachwuchsmangel, Vakanznot, Motivationsverlust und Abwanderung an der Basis zu einer Problemlage führen, aus der kaum noch ein Ausweg hinausführt.29 26 Ausweislich der EKD-Pfarrdienststatistik beträgt die Durchschnitts-Seelenzahl für eine 100%-Stelle 1850 Mitglieder. 27 Vgl. EKD-Pfarrdienststatistik 2009. 28 Vgl. www.Kirchaustritt.de, dort umfangreiches statistisches Material zu Mitgliederverlusten der einzelnen Landeskirchen in Zeitreihen sowie Diagrammen. 29 Vgl. dazu Hirschman, Abwanderung und Widerspruch.

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»Wie das Gemeindeprinzip in der EKiR ausgehebelt wurde«

1 Historie 1.1 Die Gemeinde als zentrales Element kirchlicher Struktur Seit den reformatorischen Trennungen von Gemeinden von der Römisch-katholischen Kirche war gemäß den Kirchenordnungen bis Ende des 20. Jahrhunderts die Gemeinde die entscheidende Instanz der Evangelischen Kirche im Rheinland. Sie hatte das ius liturgicum, das Presbyterium entschied also (evtl. nach einer Gemeindeversammlung) über die Formen des Gottesdienstes. Das Presbyterium wählte die Pfarrer und Pfarrerinnen, stellte Mitarbeitende ein, baute und unterhielt Kirchen und andere Gebäude, verantwortete die Gemeindeverwaltung und beschloss selbstständig den Haushalt der Kirchengemeinde. Allein eine Kirchengemeinde hat bis heute das Recht, als Körperschaft öffentlichen Rechts Kirchensteuern zu erheben. Kirchenkreis und Kirchenleitung führten die ihnen von den Gemeinden durch Synoden übertragenen Aufgaben durch, die eine Gemeinde alleine nicht bewältigen konnte (diakonische Aufgaben wie Obdachlosenarbeit und Beratungsstellen, theologische Ausbildung, Kontakte zu Land und Staat, Landespfarrstellen etc.). Kirchenkreis und Kirchenleitung besaßen gegenüber den Gemeinden ebenfalls Aufsichtsfunktionen, besonders durch Visitationen und Überprüfung der Haushalte und Jahresrechnungen. Eingriffsrechte hatten sie nur bei juristisch bedeutsamen Fehlern der Pfarrer und Angestellten einer Kirchengemeinde (Disziplinarverfahren) und im Falle von Glaubenskonflikten (sehr seltene Lehrbeanstandungsverfahren). Damit sich nicht jede Gemeinde selbst mit dem Finanzamt um Kirchensteuerangelegenheiten kümmern musste, wurden vielfach synodale Ge-

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samtverbände mit dieser Aufgabe betraut. Diese im Auftrag der Gemeinden tätigen Gremien konzentrierten manchmal auch bestimmte Anteile der Kirchensteuer, um einzelne Gemeinden bei größeren Aufgaben, wie einem Kirchenbau, zu unterstützen. An Kirchenkreise und Landeskirche wurden für die Erfüllung ihrer Aufgaben jährlich neu festzusetzende Umlagen von der Kirchensteuer abgeführt. Aber die Gemeinden waren weitgehend autonom in ihren Entscheidungen und den Schwerpunktsetzungen ihrer Gemeindearbeit.

1.2 Probleme in Gemeinden und Kirchen In den 80er- und 90er-Jahren nahm die Zahl der Gemeindeglieder durch Kirchenaustritte, aber auch durch demografische Entwicklungen stetig ab. Damit entstand ein Verteilungsproblem bei den Kirchensteuern: Wer muss bei zurückgehenden Steuereinnahmen Ausgaben senken? Wer muss Arbeit umverteilen? Wie kann man Einnahmen erhöhen? Welche Aufgaben bleiben? Welche Aufgaben müssen gekürzt werden? Solange genügend Gelder hereingekommen waren und die Gemeinden große Rücklagen einsetzen konnten, waren das relativ leicht lösbare Probleme. Um die Jahrtausendwende wurde der Verteilungskampf immer härter, auch wenn faktisch die Kirchensteuereinnahmen längst nicht einen so schwierigen Verlauf nahmen wie befürchtet. Die Landessynode der EKiR versuchte seit 2005 durch eine »Prioritätendiskussion« Lösungen zu finden. Grundsätzliche Fragen löste 2006 die EKD aus mit ihrer Prognose, dass bis 2030 die Zahl der Gemeindeglieder um 30 Prozent und die Kirchensteuern um 50 Prozent zurückgehen würden.

1.3 Ein Lösungsversuch Anfang des 21. Jahrhunderts: Wirtschaft als Vorbild: EKD-Schrift »Kirche der Freiheit« Als Lösung plante die EKD eine große Umwälzung: Aus einer boomenden Phase der deutschen Wirtschaft heraus entstand die Parole »Von der Wirtschaft lernen, heißt siegen lernen.«

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2006 veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) als Leitbild die Schrift »Kirche der Freiheit« mit dem Ziel, Kirche sehr wirtschaftsnah umzugestalten: Alleinstellungsmerkmale für den Wettbewerb, Leuchtfeuer als Werbemittel, hierarchische Gestalt der Kirche, Unterordnung der Gemeindearbeit unter von oben vorgegebene Ziele … Aus der Schwäche einiger Gemeinden und aus einer allgemeinen Verunsicherung heraus nahm sich die EKD unter dem Ratsvorsitzenden Huber das Recht und die Macht, Kirche nach ihren Vorstellungen umzugestalten: Kirche von oben. Leuchtfeuer galten als die werbewirksamen Lichtpunkte, die vermeintlich für die Bevölkerung attraktiv seien und deshalb eine starke werbende Kraft hätten. Eine Verschiebung geldlicher Mittel von Gemeinden weg zu zwölf Leuchtfeuern bildet deshalb eine zentrale Forderung dieser Schrift. Als Leuchtfeuer sollen mehrere zentrale Institutionen geschaffen werden, die öffentlichkeitswirksam agieren sollen: Leuchtfeuer wie bundesweit bekannte Markennamen. In diesem Denkschema wurden deshalb als zentrale Probleme der Kirche Schwachstellen der Gemeinden analysiert: z.B. schlechtes Personal und mangelhafte Öffentlichkeitswirkung. Ein Beispiel: Weil viele Predigten der PfarrerInnen schlecht und unattraktiv seien, sollte in Wittenberg eine neue Zentralinstitution zur Qualitätsverbesserung von Predigten aufgebaut werden. Die bisherigen Aus- und Fortbildungsinstitutionen der theologischen Fakultäten und Pastoralkollegs wurden als unzureichend angesehen. An dieser Schrift haben an maßgeblicher Stelle zwei Menschen aus der Wirtschaft mitgearbeitet: der Deutschland-Chef von McKinsey & Co, München, Dr. Peter von Barrenstein, und das Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, Frau Marlehn Thieme aus Frankfurt. Eine logische Konsequenz dieses Papiers ist eine durchgehende Hierarchisierung der Kirche: Oben wird entschieden, was unten zur Qualitätsverbesserung gemacht werden soll. Z.B. soll durch Zusammenlegungen kleinerer Einheiten (Gemeinden) die Qualität der Arbeit gestärkt werden. PfarrerInnen und Mitarbeitende könnten sich stärker und besser spezialisieren. Der Grundfehler dieses Ansatzes liegt meines Erachtens in Folgendem: Kirche ist nicht Wirtschaft. Kirche und Gemeinden leben nach anderen Gesetzen. Wirtschaft braucht Produkte, die zum günstigsten für den Käufer akzeptablen Preis in bestmöglicher Qualität angeboten werden. Je mehr der Käufer zu zahlen bereit ist für ein Produkt, desto besser floriert

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die Wirtschaft. Ist der Preis für ein Produkt zu hoch, dann helfen nur Einsparmaßnahmen, vor allem am Personal. Ist die Produktqualität zu schlecht, dann müssen Verbesserungsmaßnahmen eingekauft werden, damit die Qualität in den Augen des Verbrauchers akzeptabel ist. Übertragen auf die Kirche bedeutete das: »Wo das beste Produkt angeboten wird, die beste Sonntagspredigt, da strömen die Menschen hin und verlassen ihre eigenen Gemeinden.« Wenn das stimmen würde, dann hätte ich jeden Sonntag vor leeren Bänken predigen müssen, denn eine Preisträgerin des Deutschen Predigtpreises predigte in fünf Kilometern Entfernung von meiner Predigtstätte. Und da sowieso ziemlich viele Gottesdienstbesucher mit dem Auto kommen, hätte es in dem Denkschema der »Kirche der Freiheit« nahegelegen, dass ihre Kirche total überfüllt und meine Kirche leer gewesen wäre. Aber meines Wissens ist keiner meiner Gottesdienstbesucher dorthin gewechselt. Wer in seine Gemeinde bekannte und manchmal sogar berühmte Gastprediger oder Vortragende einlädt, erlebt häufig die Enttäuschung, dass nur wenige Zuhörer kommen. Präses, Bischöfe, Oberkirchenräte und Professoren ziehen oftmals kaum mehr Menschen an als der Ortspfarrer. Denn Kirche lebt gänzlich anders, und an zwei Beispielen sei das verdeutlicht: a) Gottesdienstbesucher suchen natürlich eine gute und akzeptable Predigt, aber sie suchen auch bekannte Gesichter, Austausch mit nahestehenden Personen, sie suchen eine regelmäßige gottesdienstliche Heimat, sie suchen Nähe, Wärme und Vertrautheit. Sie besuchen einen Ort, wo man sich trifft und man sie kennt, wo sie nicht nur eine Nummer oder Zahl sind. Gottesdienstbesucher suchen ihre eigene Gemeinde, in der sie Mitglied sind, die sie mit finanzieren und in der sie aktiv beteiligt sind oder die sie, u.a. bei Presbyteriumswahlen, aktiv mitgestalten können. Dass manche Gottesdienstbesucher zu einer anderen Gemeinde wechseln, weil ihnen dort die Predigtaussage oder die Frömmigkeit näher liegt oder ihre Gemeinde zu konservativ, zu modern oder zu politisch ist, ist verständlich, hat aber nichts mit einem Qualitätsmaßstab zu tun. Wer so tut, als wenn es für alle verbindliche Qualitätsmaßstäbe geben könnte und müsste, der missversteht Gemeinde. Dass jeder Prediger sich individuell verbessern kann, sei selbstverständlich nicht infrage gestellt, aber eine allgemein festzustellende beste Qualität eines Produktes »Got-

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tesdienst« ist nicht die Grundlage für eine gute, funktionierende und attraktive Gemeinde. b) Warum funktioniert Gemeinde anders als die Wirtschaft? In der Wirtschaft werden mit vielen Forschungen und Vorbereitungen Produkte entwickelt. Bis diese Produkte verkaufsfertig sind, muss eine Firma investieren, evtl. sich teure Fachleute einkaufen. Gemeinde lebt anders: Eine Gemeinde kann nicht hoch qualifizierte Fachleute bezahlen, sondern Gemeinde lebt vor allem von den ehrenamtlichen Angeboten der Gemeindeglieder zur Mitarbeit. In ganz begrenztem Rahmen hat eine Gemeinde Mittel, Mitarbeitende z.B. für die Jugendarbeit, Kirchenmusik oder Küsterdienste einzustellen. Aber in fast allen Gemeinden gibt es ein großes Netz von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in Kreisen und Gruppen ihre Fähigkeiten anbieten. Feste können so funktionieren, Kinderarbeit wird vielfach so gestaltet, Bastelkreise und Hauskreise brauchen ehrenamtliches Engagement und Gemeindebriefverteiler und Besuchsdienste stärken die gemeindliche Kommunikation. Das Profil einer Gemeinde wird weitgehend von solchen freiwilligen Angeboten geprägt. Die Gaben der Gemeindeglieder sind die Substanz einer Gemeinde. Aufgabe von Presbyterium und Hauptamtlichen, vor allem der Pfarrer und Pfarrerinnen, ist es, solche Gaben zu entdecken, anzuwerben, zu unterstützen und ihnen einen Rahmen für ihre Arbeit sicherzustellen. Auch die ganz unterschiedlichen Gaben der Hauptamtlichen gehören mit zu diesem Pool einer Gemeinde: Wenn die Kinderflötenarbeit der Kirchenmusikerin regen Zulauf hat, ist das ein Geschenk für den Gemeindeaufbau. Ihr die Leitung des Posaunenchors aufzudrängen, tut niemandem gut. Hier muss Gemeindeleitung sehr flexibel und hellhörig sein, welche Fähigkeiten der Mitarbeitenden in der Gemeinde besonders gut angenommen und gebraucht werden: Der eine Pfarrer quält sich mit vier Getreuen durch die Bibelstunde, der andere kann gar nicht genug Kreise anbieten für alle die, die an seinem theologischen Arbeitskreis teilnehmen möchten. Der eine hat eine florierende Arbeit mit jugendlichen Mitarbeitern, bei dem anderen sind die Gemeindeglieder begeistert von seinem Engagement bei Hausbesuchen und seiner Gabe des Zuhörens.

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Gute Gemeindeleitung stärkt die vorhandenen Gaben der ehren-, nebenund hauptamtlich Mitarbeitenden und der Pfarrerinnen und Pfarrer zum Wohle der Gemeinde und versucht nicht, Mitarbeitende in Arbeitsfelder zu pressen, in denen sie und die Gemeindeglieder nicht glücklich sind. Langer Rede kurzer Sinn: Eine gute Gemeindearbeit lebt von den aufzuspürenden und zu fördernden Gaben der Mitarbeitenden und Gemeindeglieder und nicht von einem vom Presbyterium beschlossenen oder gar von oben verordneten Profil oder einer Gemeindekonzeption. Die Entwicklung von Gemeindekonzeptionen dürfte sich inzwischen vielfach als nutzlos aufgewendete Energieverschwendung herausgestellt haben: Indem man die Wunschvorstellungen einiger wichtiger Gemeindeglieder in Presbyterium und Pfarramt formuliert oder die momentanen Highlights der Gemeindearbeit aufzählt, hat man noch kein bisschen Gemeindewirklichkeit verbessert. Normalerweise werden so nur eine momentane Bestandsaufnahme und für notwendig gehaltene Ziele optimiert und in die Zukunft als Zielvorstellung projiziert. Zwei Mankos solcher aufwendigen Arbeit: a) Wenn die Gemeindekonzeption nach Durchlauf unterschiedlichster Gremien fertig beschlossen ist, ist sie oft schon überholt, da ein Mitarbeiterwechsel stattgefunden und der strahlende Erfolg an besonderen Fähigkeiten dieses Mitarbeiters gelegen hat. Einen gerade in dieser Fähigkeit gleichfähigen Mitarbeiter zu finden, ist aber so gut wie unmöglich. Außerdem nimmt man diesem neuen Mitarbeiter die Chance, seine eigenen besonderen Gaben in die Gemeindearbeit einzubringen und für die Gemeinde fruchtbar zu machen. b) Das zweite grundsätzliche Problem: In einer Gemeindekonzeption wird eine Situation oder Wunschvorstellung der Vergangenheit als zu erreichendes Optimum für die Zukunft festgeschrieben. Ein Presbyterium wird so zu einem grundlegenden Fehler verführt: Aufgrund früherer Beschlüsse zu entscheiden, statt die aktuelle Situation zu beleuchten und daraus die besten Beschlüsse zu entwickeln. Presbyteriumsbeschlüsse müssen aber die jeweils aktuelle Situation zur Grundlage haben. In der Wirtschaft sind aus diesen Gründen die vor Jahren aufwendig ausgearbeiteten »Unternehmensleitbilder« längst zu den Akten gelegt worden: als unfruchtbarer, aber sehr aufwendiger Zeitvertreib.

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Gemeinden sind auf die ihnen aktuell freiwillig angebotenen Gaben ihrer Gemeindeglieder und die besonderen Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter angewiesen. Deshalb ist es nur logisch, dass sich inzwischen das Projekt »Kirche der Freiheit« mit seinen Vorgaben von oben weitgehend als Flop erwiesen hat und selbst seine Erfinder zu ihm auf Distanz gegangen sind: Vonseiten der EKD ist dieses Modell nicht mehr zukunftsfähig. Leider haben etliche Landeskirchen momentan daraus noch nicht gelernt und versuchen weiter, ihre Kirche mit Hierarchisierungen und Gemeindegestaltung von oben nach unten zu leiten: Sie verlangen, dass Profile nach vorgegebenen Maßstäben Gemeinden prägen sollen, statt dass die Gaben aller Mitarbeitenden im Mittelpunkt der Gemeindearbeit stehen und gestärkt werden. Erzwungene Gemeindezusammenlegungen statt geförderte Zusammenarbeit gehören zu solchen von oben verordneten Fehlentwicklungen.

2 Wege und Elemente der Entmachtung der Gemeinden der EKiR Auf dieser grundsätzlich falschen Weichenstellung einer Angleichung der Gemeindearbeit an hierarchische Wirtschaftsformen bauen etliche Projekte auf, die in ihrer Gesamtheit die Kompetenzen der Gemeinden in der EKiR so ausgehöhlt haben, dass das Konzept von Gemeinde heute kaum noch funktionieren kann.1 Für eine erfolgreiche Gemeindearbeit muss die Gemeindeleitung, das Presbyterium, sehr gemeindenah und sehr schnell Raum, Zeit, Materialien und Geld zur Unterstützung der von Haupt-, Neben- und Ehrenamtlichen gestalteten Gemeindearbeit bereitstellen. Dabei ist es eine wichtige Leitungsaufgabe, diese Arbeit zu kontrollieren und zu verantworten und bei Problemen hilfreich zur Seite zu stehen. Solche begleitende Arbeit kann nicht von oberen Stellen, etwa dem Kirchenkreis, aus gestaltet werden. Größtmögliche Gemeindenähe ist hier unabdingbar.

1 Zwar trägt momentan noch in vielen Kirchenkreisen zur Beruhigung sehr bei, dass »alles so läuft wie bisher«. Aber diese Ruhe kann sich bei Konflikten oder bei Personalwechsel sehr schnell als sehr trügerisch erweisen, wenn die verschobenen Kompetenzen von Verwaltungsmitarbeitern eingefordert werden.

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Stimmt man dieser grundsätzlichen Sicht von Gemeinde zu, sind in der EKiR in den letzten fünfzehn Jahren gravierende Leitungsfehler gemacht worden:

2.1 Die Diskussion um die Kernaufgaben der Gemeinden Viele Streitfälle in Gemeinden und der Landeskirche kulminierten in der Frage, welche Aufgaben Gemeinden und Pfarrer und Pfarrerinnen wahrnehmen müssen. Aus solchen an das LKA herangetragenen Streitfällen erwuchs die Forderung, dass die Landessynode das Mindestmaß an Kernaufgaben einer Gemeinde festlegen möge. So versuchten Landessynode und Kirchenleitung mit der Prioritätendiskussion 2005/2006, die unverzichtbaren Aufgaben einer Gemeinde festzuschreiben. Gemeinden mussten eine Gemeindekonzeption erarbeiten und ihre Leistungsfähigkeit nachweisen. Superintendenten, LKA und Kirchenleitung bekamen dadurch neue Druckmöglichkeit auf Gemeinden. Sie bekamen Eingriffsrechte, wo vorher die Eigenverantwortung der Gemeinden bestimmend war. In dieser Zeit fällt in der Landeskirche eine in vielen Augen falsche Grundentscheidung: Nicht eine Unterstützung und »Reparatur« von Gemeinden, die ihre Aufgaben nicht ganz erfüllen können, wird beschlossen, sondern die Lösung wird vor allem in einer Zusammenlegung von Gemeinden zu größeren Einheiten gesehen. Bei dem Ziel, gute Qualität durch größere Einheiten zu garantieren, wird übersehen, dass Gemeindeglieder eher Heimat suchen, sich in kleineren Einheiten gerade in ihrer Kirchengemeinde wohlfühlen und ihnen die Nähe zum Pfarrer und zur Pfarrerin als ihren Seelsorgern weit wichtiger ist als die reine Qualität der Predigt. Man erkauft die Problemlösung sehr teuer mit der Zerstörung guter gewachsener Strukturen. Man missachtet, dass Evangelische Kirche so weit wie eben möglich als Kirche in der Fläche anwesend sein müsste: Zentralkirchen als werbende Leuchtfeuer entsprechen, außer am Heiligabend, nicht den Bedürfnissen der Gemeindeglieder.

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2.2 Die Pfarrwahl 2.2.1 Die Möglichkeit zur Abwahl der Pfarrer mit ihren Konsequenzen 2002 wurde für alle PfarrerInnen nach Ablauf von zehn Jahren in einer Stelle ein »Zehnjahresgespräch« über den Pfarrdienst zwischen SuperintendentIn, Presbyteriumsvertretern und PfarrerInnen eingeführt mit der Prüfung, ob ein Rat zum Stellenwechsel geraten erscheint. Das bedeutete erstmalig in der rheinischen Kirchengeschichte: PfarrerInnen sind nicht mehr unabsetzbar, sondern können »entlassen« werden. Sie sind nicht mehr in ihrer Verkündigung geschützt durch den Schutz ihres Dienstherrn, sondern jetzt dem Druck der Gemeinde ausgesetzt. Sie müssen sich anpassen, wenn sie in einer Gemeinde bleiben wollen. Streit zu riskieren, kann mit dem Verlust der Pfarrstelle enden. Dadurch bedingt setzte eine Angst von Theologen um ihre Pfarrstelle ein. Ein ruhigeres und angepassteres Verhalten machte sich breit: Pfarrer verlieren ihre Unabhängigkeit. Ein gutes Verhältnis zu einigen wichtigen Menschen in der Gemeindeleitung – nicht der ganzen Gemeinde oder dem ganzen Presbyterium – wurde zur Pflicht, wenn man sein Gemeindepfarramt behalten wollte. Mobbing konnte jetzt mit einiger Aussicht auf Erfolg Pfarrerinnen und Pfarrer mutlos machen. Eine verheerende Entwicklung in der Landeskirche. Gemeinden machten, wie vorherzusehen war, von diesem neuen Recht der Abwahl so viel Gebrauch, dass in der Landeskirche bald ein Berg von mehr als 100 Pfarrern im Wartestand entstand: Pfarrer und Pfarrerinnen mit Bezügen, aber ohne Gemeindeglieder.

2.2.2 Die Pfarrwahl als »Überforderung« der Gemeinden Die Landeskirche brauchte dringend eine Lösung für ihr selbst eingefädeltes Problem. Zusätzlich stellte sich noch eine andere kritische Konsequenz heraus: Gemeinden suchten sich (evtl aus ganz Deutschland) einen Pfarrer und, wenn er ihnen nicht mehr gefiel, dann schickten sie ihn nach zehn Jahren weg, und die Landeskirche muss ihn für den Rest seines Lebens bezahlen.

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Zudem sank die Gemeindegliederzahl vieler Gemeinden so stark, dass sie sich einen eigenen Pfarrer mit hundertprozentigem Dienstauftrag nicht mehr leisten konnten.

2.2.3 Bestrebungen, die Pfarrwahl den Gemeinden wegzunehmen und an den Kirchenkreis anzubinden Die naheliegende Konsequenz, die Pfarrwahl eine Ebene höher beim Kirchenkreis anzubinden und Pfarrer dann in die Gemeinden zu entsenden, stieß allerdings auf vehementen Protest, weil sie eine Kernidentität evangelischen Glaubens missachtet hatte: die Pfarrwahl der Pfarrer durch die Predigthörer, die Gemeindeglieder. »Dann können wir ja gleich katholisch werden« war noch einer der harmloseren Kommentare aus Gemeindegliedersicht, als Pläne zu einer solchen Kirchenordnungsänderung bekannt wurden. In der Landessynode der EKiR 2006, als in der Prioritätendiskussion ein solcher Vorschlag schon einmal durchdiskutiert wurde, entschied sich die Synode sehr bewusst gegen eine solche Veränderung. Einige Jahr später, 2010, stand eine solche Wegnahme der Pfarrwahl eher indirekt aber konsequent in einer Vorlage für die Personalplanung. Doch der Aufschrei nach Bekanntwerden solcher Überlegungen veranlasste die Synodenleitung zu einer schnellen Klarstellung, dass die Pfarrwahl bei den Presbyterien bleiben soll. Damit ist die Pfarrwahl durch Gemeinde und Presbyterium das einzige wichtige Merkmal von Gemeinde, das den Gemeinden geblieben ist. Alle anderen gravierenden Kompetenzen sind den Presbytern und Presbyterinnen in den letzten Jahren faktisch weggenommen und auf die Ebene des Kirchenkreises verlagert worden.

2.3 Gebäude 2.3.1 Substanzerhaltungsrücklage als Zwang Mit dem Vorwurf, dass viele Gemeinden ihre Gebäude nicht gut genug und mit genügend Geld pflegen würden und es deshalb zu einem Wertverfall käme, wurde um die Jahrhundertwende durch eine Verwaltungsordnung die »Substanzerhaltungsrücklage« eingeführt. Kurz gesagt: Jede

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Gemeinde musste jährlich den Feuerversicherungswert aller Gebäude geteilt durch die vermutliche Lebensdauer des jeweiligen Gebäudes (Kirchen 200 Jahre, Wohnhäuser 80 Jahre, Garagen 20 Jahre) zurücklegen, damit nach Ablauf dieser Zeit dieses Gebäude mit diesem Geld neu gebaut werden könne. So undurchdacht und undurchführbar war eine solche Regelung, dass es Seiten füllen würde, die in den nächsten Jahren durch neue Verordnungen eingeführten Veränderungen an diesem System alle aufzuführen. In der ursprünglichen Fassung hätten manche Gemeinden ihre ganzen jährlichen Kirchensteuereinnahmen nur in diese Substanzerhaltungsrücklage stecken müssen. Dass Gebäude einmal für den kirchlichen Betrieb überflüssig werden könnten und man nicht für einen Neubau Gelder beiseitelegen müsste, fand ebenso wenig Berücksichtigung wie die Überlegung, dass zum Beispiel ererbte Wohngebäude doch nicht die Gemeindefinanzen belasten dürften, sondern zum Nutzen der Gemeinde gestiftet worden sind. Aber auch nach mehr als zehn Jahren unendlicher Veränderungen gibt es im Rheinland noch immer die Absurdität, dass Kirchen geschlossen, verkauft oder dem Verfall überlassen werden, damit man die teure Substanzerhaltungspauschale sparen kann. Ein Beispiel: Ein Berater des Kirchenkreises sagte in einem Presbyterium: »Wie, ihr habt die xy-Kirche immer noch?! Wenn ihr die schließt, spart ihr jedes Jahr schon einmal 25 000 Euro Substanzerhaltungspauschale.« Dass in seiner eigenen Gemeinde eine ebenfalls geschlossene Kirche nutzlos jährlich mit 15 000 Euro Unterhaltungskosten zu Buche schlägt, verschwieg er den Presbytern wohlweislich. Die Kirche mit sehr lebendigem Gemeindeleben wurde ein halbes Jahr später geschlossen – heute ist sie eine Tanzschule. Faktisch ist die Macht über die Gebäude durch solche Regelungen den Gemeinden und Presbyterien genommen worden. Dass die Gemeinden immer weniger in der Fläche präsent bleiben und eine Menge aktiver Gemeindeglieder verlieren, weil ihnen ihre religiöse Heimat genommen wird, rückt erst langsam in den Blickpunkt der Verantwortlichen. »Jede Schließung bringt doch eine Menge Verluste an Gemeindegliedern«, meinte der jetzige rheinische Präses Manfred Rekowski sehr nachdenklich in seinem letzten Kreissynodenbericht 2010 als Superintendent in Wuppertal. Mit Einführung des Neuen Kirchlichen Finanzwesens (NKF) 2006 (s.u. Kap. 2.4) wurde die Situation vollends abstrus: Zusätzlich zur Substanz-

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erhaltungspauschale (Rücklage für einen Neubau) musste jetzt der jährliche Wertverlust der Gebäude abgeschrieben und aus Kirchensteuereinnahmen ausgeglichen werden. Das bedeutet eine doppelte Belastung der Ergebnisrechnung. Immobilienvermögen wird zur Last, gerade für reiche Gemeinden mit großem Gebäudebestand. Für eine Gemeindeleitung verursacht solches Immobilienvermögen vor allem vermeidbare Kosten, sodass es sich nahelegt, als Sparmöglichkeit Immobilien so schnell wie möglich loszuwerden. Wie viel kirchliches Immobilienvermögen ist in den letzten Jahren wegen der innerkirchlichen Kostenfaktoren Substanzerhaltungspauschale und Abschreibung verschleudert worden, statt es so lange wie eben möglich für eine dezentrale Gemeindearbeit nutzen zu können? So bewirkte die zur Erhaltung der Bausubstanz eingeführte Pauschale das genaue Gegenteil: Sie wurde zum Substanzvernichtungsinstrument. Sie ist eine eindringliche Warnung vor vermeintlich guten verwaltungstechnischen Generallösungen von oben bei Fehlentwicklungen unten in einzelnen Gemeinden. Fundierte Beratung für die Gemeinden, die ihre Bausubstanz nicht genügend pflegen, wäre allemal besser gewesen als ein von oben verordnetes Instrument, das starke Fehlentwicklungen nach sich ziehen musste. Fehlentwicklungen in einzelnen Gemeinden wären für die gesamte Kirche leichter verkraftbar als von oben verordnete Fehlentwicklungen bei allen.

2.3.2 Gebäudeverwaltung Die Verwaltung der Gebäude obliegt dem Verwaltungsamt. Wo früher der ehrenamtliche Baukirchmeister, oft ein profilierter Handwerksmeister, auf kleinem Dienstweg mit Presbyteriumsvorsitzendem und Küster viele kleine Schäden ohne großen Aufwand beheben konnte, muss heute eine Maschinerie von hoch bezahlten Verwaltungsfachkräften in Gang gesetzt werden. Unkenntnis der Gebäudegegebenheiten vor Ort und lange Fahrwege fallen dabei ebenfalls sehr negativ ins Gewicht.

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2.4 NKF (Neues Kirchliches Finanzwesen) Seit langer Zeit haben die Gemeinden ihre Gemeindefinanzen durch einen Haushalt geregelt, der nach der kameralistischen Buchführung funktionierte. Sehr einfach, sehr leicht durchschaubar: Jeder Presbyter verstand, dass für jede einzelne Gemeindeaufgabe geplante Ausgaben und vermutete Einnahmen aufgelistet wurden und am Ende Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen sein mussten. 2006 beschloss die Landessynode der EKiR, dass in Zukunft Haushalte in einem »Neuen Kirchlichen Finanzsystem« (NKF) weitgehend analog zur kaufmännischen Buchführung aufgestellt werden müssten: Auf dem Arbeitsmarkt leichter verfügbare Mitarbeiter, die aus der kaufmännischen Buchhaltung in der Wirtschaft kämen, könnte man dann einstellen und auch den Wertzuwachs oder Wertverlust einer Gemeinde könnte man besser ermitteln als durch die kameralistische Haushaltsführung. Diese erdachten Vereinfachungen hatten viele fatale Konsequenzen: Nur ein Beispiel: Erst einmal muss der Wert einer Kirchengemeinde ermittelt werden: Wie viel Wert hat eine zweihundert Jahre alte Kirche, wie viel Wert hat der zehn Jahre alte Projektor und haben die Stühle im Gemeindesaal. Eine teure Bestandsaufnahme war angesagt und Diskussionen über den Bilanzwert von Gemeindebus, Friedhofsbäumen, Kapellen und alter Kaffeemaschine. Jährliche Inventur wurde zu einer neuen zeitraubenden Erfahrung kirchlicher Mitarbeiter. Wert für die Gemeindeglieder: null. Nun muss der jährliche Wertverfall ermittelt werden: bei Gemeindehäusern mit anderen Zeiträumen als beim Filmprojektor. Dieser Bilanzverlust schmälert den verfügbaren Anteil des Haushalts der Gemeinde, und auf einmal hatten gerade die eigentlich reichen Gemeinden mit viel Hausbesitz, Kirchen und Inventar ein Problem: Ihr jährlicher Bilanzverlust fraß ein großes Loch in ihren Gemeindehaushalt. Großer Aufschrei bei den Presbyterien: Durch die Kompliziertheit von NKF waren sie und die Gemeindeverwaltung nur noch begrenzt in der Lage, den Haushalt selbst aufzustellen, sondern das lag nun weitgehend in den Händen der Kirchenkreisverwaltung. Die hatte ihre eigenen Maßstäbe, und den Presbyterien blieb nur die kopfschüttelnde Erkenntnis, dass der Haushalt für sie undurchschaubar und rätselhaft blieb. Sie waren nicht mehr Herr ihres Haushaltes. Hatte ein Presbyterium früher geschätzt, was man wohl in die Gebäuderenovierung stecken musste und

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wollte, wurden nun Zahlen von der Verwaltung z.B. als Substanzerhaltungspauschale vorgegeben. Man konnte nicht mehr nach Haushaltslage verschieben oder investieren, sondern man musste mit den vorgegebenen Daten zurechtkommen. Das bedeutet: In dem verbliebenen verfügbaren Teil musste man sparen, sparen, sparen. Pfarrstellen, Personal, Gruppenunterstützung und Diakonieaufgaben, auf einmal stand alles Wichtige gerade für die engere Gemeindearbeit auf dem Prüfstand. Die Gebäudeunterhaltung dagegen war abgesichert. Zusätzlich hat die Rheinische Landeskirche etwas eingeführt, was eigentlich nichts mit dem NKF zu tun hatte, was aber das Ganze erheblich verkomplizierte: die Methode des »Management by objectives«, das bedeutet: »Führen durch Zielvorgaben«. Konkret: Ein Presbyterium sollte sich im Frühsommer eines Jahres, also vor Haushaltsaufstellung des Folgejahres, Gedanken machen, welche Schwerpunkte es im Folgejahr in der Gemeindearbeit setzen wollte und wie viele Gelder es dort schwerpunktmäßig einsetzen möchte. Dazu gibt es im Haushaltsbuch die »linke Seite« mit allen möglichen Aspekten von Gemeindearbeit: Von praxisfernen Theoretikern war geplant, dass ein Presbyterium alles durchdiskutiert und sich dann für einzelne Schwerpunkte entscheidet. Wenn ein Presbyterium das ernst genommen hätte, dann würde es im ganzen Jahr nichts anderes mehr machen können als diese Schwerpunktdiskussionen. Und nächstes Jahr das Gleiche wieder. Eine völlig überflüssige Diskussion, denn erstens waren durch die oben beschriebenen Maßnahmen nahezu alle Haushalte der Gemeinden so eng geworden, dass man sowieso kaum Spielraum hatte. Und zweitens muss Gemeindearbeit viel zeitnäher geplant und unterstützt werden: Die Chancen ehrenamtlichen Engagements oder die Notwendigkeit dringender Unterstützung weiß man in den wenigsten Fällen schon ein Jahr vorher. Dass anders als versprochen die IT-Systeme für das NKF nur sehr schwer ins Rollen kamen und auch Jahre nach der Einführung noch nicht richtig funktionieren, ist ein kaum verständliches Versagen kirchlicher Verwaltung zur Verärgerung vieler Presbyter, Gemeindeglieder, Angestellter und PfarrerInnen. Dass dieses NKF nicht nur durch die Einführung mit einem Aufwand von -zig Millionen Euro, sondern auch im laufenden Betrieb enorm teuer ist und Gemeinden, Kirchenkreisen und Landeskirche satte Mehrkosten statt der erhofften Einsparungen beschert, braucht man nach dem oben Gesagten wohl kaum noch zu erwähnen. Nutzen für

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die Gemeindeglieder: null. Schaden für die Presbyterien: enorm. Sieger: die aufgeblähte Verwaltung. Wo früher jede Ausgabe vom zuständigen Sachbearbeiter und dem Leiter des Gemeindeamtes, vom Kirchmeister und vom Presbyteriumsvorsitzenden zur Kenntnis genommen, auf Stichhaltigkeit überprüft und gegengezeichnet wurde, unterzeichnet heute als Verantwortlicher im Auftrag des Verwaltungsleiters der zuständige Sachbearbeiter im Verwaltungsamt. Wie gut er bei einer Zuständigkeit für mehrere Gemeinden die Gemeinden, ihre Ausgaben und deren Hintergründe kennt, mag sich jeder selbst ausdenken. Evtl. hat heute ein Baukirchmeister noch das Recht, von Ausgaben zu erfahren: Der Presbyteriumsvorsitzende muss sich mit summarischen Zusammenfassungen über den derzeitigen Stand des Haushaltsbuches begnügen. Nicht nur auf die großen Haushaltsposten wie Gebäudeunterhaltungsrücklage und Verwaltungsamtskosten hat ein Presbyterium keinen Einfluss mehr, selbst über kleine Ausgaben kann ein Verwaltungsmitarbeiter mehr entscheiden als der Presbyteriumsvorsitzende. Der Presbyteriumsvorsitzende (übrigens auch der Superintendent) muss nach dem Verwaltungsstrukturgesetz § 17 (»Gesetzliche Übertragung der Geschäfte der laufenden Verwaltung auf die Verwaltung«) quasi als Bittsteller vor dem entscheidungsberechtigten Verwaltungsmitarbeiter auftreten, wenn sich nicht rechtzeitig Presbyterium oder Kreissynodalvorstand selbst diese einzelne Entscheidung vorbehalten haben. Irgendwie ist das absurd. Ein solches Gesetz tritt die Rechte einer Gemeinde und den Grundsatz presbyterial-synodaler Leitung mit Füßen.

2.5 Personal Mit zunehmender Finanzkrise in den Gemeinden standen immer mehr Mitarbeiterstellen auf wackligen Füßen: In einer Stadt verloren binnen weniger Jahre die Hälfte aller in den Gemeinden vollangestellten A-Kirchenmusiker ihre Stellen. Die Stellen von in den Ruhestand gegangenen Musikern wurden reduziert oder in ihrer Stellenbewertung heruntergestuft. Immer weniger Gemeinden brauchten für Chöre mit schwindenden Mitgliederzahlen viele Kirchenmusikerstunden, und Konzerte durch A-Musiker wurden Gemeinden zu teuer, wenn sie aufgrund der soziolo-

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gischen Zusammensetzung ihrer Gemeinde bei Gemeindegliedern auf wenig Gegenliebe stießen. Ähnliche Alarmsignale kamen aus der Jugendarbeit, wo Gemeinden sich immer weniger Vollzeitjugendleiterstellen leisten konnten, sondern nur Stellen mit begrenzten Wochenstundenanteilen ausschrieben. Daraufhin sah sich die Landessynode zum Handeln herausgefordert: Zur Stärkung der Mitarbeiterstellen wurde ein Konzept zur »Personalplanung« erarbeitet, das die Ausgaben für Pfarrstellen im Verhältnis zu Mitarbeiterstellen begrenzen sollte. Außerdem wollte man für Mitarbeiter attraktive Vollzeitstellen schaffen und hat deshalb die Anbindung von Mitarbeitern an den Kirchenkreis und nicht mehr an die Gemeinden beschlossen. Gemeinden haben nur noch begrenzte Rechte, ihre Stellen auszuschreiben und zu besetzen, Absprache mit Nachbargemeinden ist Pflicht. Hauptamtliche Küster sollten verantwortliche Küster für mehrere Kirchen und Gemeindehäuser in mehreren Gemeinden werden und die Arbeit der gemeindeeigenen Hilfsküster und ehrenamtlichen Küster koordinieren. Kaum ein Küster fand in einem solchen Geflecht von Ober-, Unter- und Nebenküstern seine Arbeit und seine Fähigkeiten gut aufgehoben. Das theoretisch ausgedachte Konzept ging verständlicherweise nicht auf: Gemeinden wollten ihre eigenen Konzepte mit ihren eigenen Angestellten durchführen, damit die Mitarbeiter mit ganzem Herzen in einer Gemeinde tätig würden. Und trotz Personalplanungsgesetz von 2012 standen nicht mehr Gelder zur Verfügung. Konsequenz: Die Lage in der Jugendarbeit und der Kirchenmusik verbesserte sich nicht, sondern wird immer prekärer. Aber eines entwickelte sich sehr gut: Die eigentlich für Mitarbeiter in den Gemeinden gedachten Gelder flossen zuhauf in neue Verwaltungsstellen: fern von Gemeindegliedern und Ehrenamtlichen in Kirchenkreisverwaltungsämter statt in gemeindenahe Gemeindeämter.

2.6 Verwaltung Parallel zum Personalplanungsgesetz wurde eine neue Verwaltungskonzeption erarbeitet: das Verwaltungsstrukturgesetz. Verwaltung wurde auf Kirchenkreisebene konzentriert. Mit Hinweis auf die Kompliziertheit von NKF wurde den noch existierenden Gemeindeämtern die Fähigkeit

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abgesprochen, angemessene Verwaltungsarbeit machen zu können. So hat das am 1. April 2014 in Kraft getretene Gesetz alle Gemeindeämter zwangsweise in eine Kirchenkreisverwaltung integriert: Auch für Verwaltungen von Friedhöfen, Kindergartenverbänden, Diakonischen Werken und anderen kirchlichen Institutionen gab es bis auf ganz wenige Ausnahmen im Namen der versprochenen Synergieeffekte keine Existenzberechtigung mehr. Eine Zwangsverwaltung für alle. Fatal: Anders als bei einem freiwilligen Zusammenschluss, bei dem man verhandeln kann und sinnvollerweise nur bei attraktiven Kostenvorteilen sein eigenes gemeindenahes Gemeindeamt aufgibt, musste man bei einer Zwangsvereinigung alles so nehmen, wie es vonseiten der Verwaltung vorgegeben wird: Kostensteigerungen von 20 bis 30 Prozent beklagten viele Gemeinden, und das bei reinen, oft weit entfernten Verwaltungsämtern, die mit Gemeindegliedern nur sehr selten zu tun haben: Die täglich ansprechbare Servicestation der Gemeinden für ihre Gemeindeglieder ist weggefallen. Gemeindeglieder stören nur den Verwaltungsbetrieb. Dass Verwaltung heute aufwendiger ist und mehr zu tun hat als die Arbeit der zusammengelegten Gemeindeämter, hat mehrere Gründe: Neben dem aufwendigen NKF fällt gerade der Mehraufwand bei Gebäuden und Gebäudeunterhaltung ins Gewicht. Auch werden manche Arbeiten, die früher Ehrenamtliche ohne Bezahlung gemacht haben (Kirchenbuchschreiben, Gemeindebriefschreiben, Gebäudereparaturen), heute vielfach von bezahlten Kräften erledigt, weil sich die alte Struktur ehrenamtlicher Mithilfe in einem Gemeindeamt nicht in einem fernen Kirchenkreisverwaltungsamt realisieren lässt. Verwaltung ist gemeindefern und sieht das auch als Vorteil an: Wenn eine Gemeinde einmal in der glücklichen Lage sei, etwas Neues zu bauen, dann soll die Gemeinde den Gesamtauftrag beschließen und später die Kirche oder das Gemeindehaus schlüsselfertig übernehmen: »Ich kann das Presbyterium doch nicht wegen der Farbe jeder Türe fragen. Meine Fachleute bauen das.« So lautete die (Wunsch-)Konzeption eines verantwortlichen Architekten der neuen Verwaltungsstruktur über das Verhältnis zur Gemeinde als Bauherrn. Eigentlich erscheint es sehr logisch, dass eine Zusammenlegung vieler Gemeindeämter zu einem Kirchenkreisverwaltungsamt erhebliche Einsparungen durch Synergieeffekte nach sich ziehen müsste. Das Gegenteil ist der Fall: Durch die Personalpyramide mit sehr teuren Häuptlingen und vielen Indianern wird der Verwaltungswasserkopf immer größer

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und teurer. Dass die Verwaltung selbst einen immer größeren Anteil an Personalkapazität, Räumen und Geldern für ihre eigene Verwaltung braucht, kommt kirchlicher Arbeit nicht zugute. Vorteil für die Gemeindeglieder: null. Vorteil für die Gemeinden: geringer Kompetenzzuwachs durch teilweise verwaltungsmäßige Professionalisierung der Arbeit. Nachteil: wegfallendes ehrenamtliches Engagement, Gemeindeferne, Wegfall des Gemeindeamtsservice für Gemeindeglieder … Fazit: sehr stark wachsende Kosten für die Institution Verwaltung zulasten der Gemeindearbeit. Die Nachteile für die Gemeinden sind sehr gravierend. Am meisten dürfte ins Gewicht fallen, dass die kompetente Ansprechstelle für Gemeindeglieder durch die verlässlichen Öffnungszeiten eines Gemeindeamtes weitgehend weggefallen ist. Diese gemeindenahe Kommunikations-, Beratungs- und Hilfestätte für ehren-, hauptamtliche und nebenamtliche MitarbeiterInnen ist nicht mehr vorhanden: In vielen Gemeinden hatte das Gemeindeamt wie eine gute Spinne im Zentrum der Gemeinde funktioniert, ein Netzwerk aufgebaut. Pfarrer können aufgrund ihrer Aufgaben eine solche Präsenz und Ansprechbarkeit nicht bieten: Hier entstand nun eine spürbare Fehlstelle. Viele Gemeinden bemühen sich, mit ehrenamtlicher Präsenz einen Ersatz zu bieten, aber die kompetente Beratung und kostenlose Hilfe, zum Beispiel zum Beglaubigen von Kopien, können sie nur in den wenigsten Fällen bieten. Kirchenkreisverwaltung hat auch durch das Landeskirchenamt eine starke Lobby, und in Verwaltungsdingen fühlen sich viele Landessynodale unsicher und möchten das ganze Geschäft möglichst einfach den Fachleuten überlassen. So haben die Gemeinden viele Kompetenzen an die Kirchenkreisverwaltung abgeben müssen. Und damit Verwaltung wirklich gesichert ist, hat man eine Garantie auf einen bestimmten Stellenkegel in das Gesetz eingebaut: Pfarrstellen sind nicht gesichert, Mitarbeiterstellen erst recht nicht: Aber die Verwaltungsmannschaft hat in der Kirche ein garantiertes Lebensrecht: egal, wie viel Arbeit sie schultern muss. Sehr erfolgreiche Lobbyarbeit! Nutzen für die Gemeindeglieder: null! Aber der Schaden für die Kirche ist sehr groß.

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2.7 IT-Struktursäule Leider ist der Leidensweg der rheinischen Gemeinden noch nicht zu Ende: Im Januar 2015 hat die Landessynode beschlossen, nach NKF und Verwaltungsstruktur eine dritte große neue Säule zu bauen: ein landeskirchenweites einheitliches IT-System mit allein im Landeskirchenamt anfangs sechs später zehn hoch dotierten Mitarbeitern. Wenn dann in zwei bis drei Jahren das System einsatzbereit ist, dann sollen möglichst alle Kirchenkreise mit eigenen Personalstellen sich anschließen. Den Landessynodalen wurde Angst gemacht. Z.B.: Es gäbe immer mehr Städte, die wollten unser IT-Sicherheitssystem sehen, sonst gäben sie uns keine Einwohnerdaten mehr! Das sollte signalisieren: Wir haben keine Alternative, als jetzt zu handeln. Kosten: im ersten Jahr knapp eine Million Euro, dann zwei, und wenn dann alle Kirchenkreise mitmachen, können die Kosten bis in die -zig Millionen steigen. Aber dieses Gesamtkonzept hat man schlauerweise der Synode nicht vorgelegt: Sie hätte sonst realisieren können, was für einen riesigen Kostenberg sie damit vor allem den Gemeinden aufhalst. So hat man erst einen ersten Schritt beschlossen und den Synodalen zugesagt, im nächsten Jahr nach den Erfolgen des ersten Schritts den zweiten Schritt zu beantragen: Salamitaktik führt oft zum später bereuten Erfolg. Und wenn dann die landeskirchliche Ebene fertig ist und ihre zehn Stellen auf Dauer mit gut dotierten Fachleuten besetzt hat, dann können die Kirchenkreise schauen, woher sie die Gelder für ihre eigene IT-Struktur bekommen. Ob Kirche ein solches Ebenen übergreifendes abgesichertes System wie ein großer Industriekonzern mit geheimen Erfindungen und internen Strategien überhaupt braucht und ob nicht Einzelsysteme für alle einzelnen Ebenen (LKA, Kirchenkreis, Werke, Gemeinden) wesentlich preisgünstiger, leichter zu handhaben und genauso sicher sind, das wurde nicht erörtert. Und ob man überhaupt einen notwendigen Grad an Sicherheit erreichen kann, wenn alle Theologen und Mitarbeiter ihr eigenes System behalten wollen, ist sehr fraglich: Viele Theologen halten es für herausgeschmissene Zeit und Kapazität, sich mit einem kompliziert abgesicherten System abmühen zu müssen, wo für ihre Arbeit ein ganz einfaches Handy oder Smartphone und ein handelsüblicher Laptop vollkommen ausreichend sind. Die für alle PfarrerInnen eingeführte,

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aber nur von der Hälfte benutzte E-Mail-Adresse …@ekir.de hätte Warnung genug sein können. Aber die Verwaltungslobby sieht das anders und hat ihre Träume von dem Start in ein einheitliches IT-System durchsetzen können.

2.8 Drosselung der Finanzen bis zum Kollaps der Gemeinden Was bleibt den Presbyterien an Kompetenzen? Vor dreißig Jahren waren sie noch die allein verantwortliche Leitung einer Gemeinde. Heute dürfen und sollen sie gerne Spenden sammeln (Fundraising), damit sie möglichst unabhängig von Kirchensteuern lebensfähig sind. Von der eigentlich den Gemeinden zustehenden Kirchensteuer bleibt ihnen nach Abzug der Umlagen für Landeskirche, für Kirchenkreis, Verwaltungsamt, Diakonie, Kindergartenverband und diverse andere Umlagen sowieso nicht viel mehr übrig. Von diesem Rest gehen zwangsweise erst einmal die Substanzerhaltungspauschalen für ihre Gebäude ab. Von dem dann verbleibenden Rest sollen sie ihre Pfarrstelle noch bezahlen, und wenn dann noch Gelder da sind, kann man über Jugendarbeit und Kirchenmusik nachdenken. Gelder für die alltägliche Gemeindearbeit gibt es dann so gut wie nicht mehr: deshalb Fundraising! Da kann sich das Presbyterium austoben an guten Ideen und Engagement: Flohmärkte, Spendenaktionen etc. Leitungsverantwortung hat man den Presbytern weitgehend genommen. Diese Verschiebung massiver Finanzmittel von der Gemeindearbeit zur Verwaltung und zur langfristigen Gebäudeerhaltung macht vielen Gemeinden sehr zu schaffen: Viele Gemeinden klagen über eine deutliche Reduzierung ihrer Finanzmittel für die Gemeindearbeit. Gravierende Einschnitte beim Personal in der Gemeindearbeit sind die notwendige Folge, die von nicht wenigen Gemeindegliedern sehr heftig kritisiert wird. Hier sägt die Kirche an dem Ast, auf dem sie sitzt: Kein Gemeindeglied zahlt gerne Kirchensteuer für eine überdimensionierte Verwaltung und schrumpfende Arbeit in der Gemeinde. Der massive Vertrauensverlust derjenigen Spendenorganisationen, deren hohe Verwaltungskosten vor einigen Jahren öffentlich diskutiert und stark kritisiert wurden, sollte den Kirchen ein warnendes Beispiel sein.

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3 Wohin ist die Macht gegangen? Die früher dezentral bei den einzelnen Gemeinden und ihren Presbyterien angesiedelte Verantwortung für ihre Gemeindearbeit haben die Gemeinden faktisch weitgehend verloren. Sie sind abhängig von Verwaltungsämtern, die nun viele ihrer früheren Aufgaben regeln. Der Machtzuwachs von Superintendent und Kreissynodalvorstand ist dadurch begrenzt, dass diese aus Überforderung auf das Vor- und Zuarbeiten der Verwaltung angewiesen sind und dementsprechend vieles nur abnicken können. Faktisch haben die Gremien der presbyterial-synodalen Leitungsstruktur auf Gemeinde- und Kirchenkreisebene ihre Macht und Verantwortung weitgehend an die Verwaltung verloren. Mit der Entmachtung der Gemeinden verliert die Evangelische Kirche ihr jahrhundertelanges Alleinstellungsmerkmal gegenüber der katholischen Kirche. Gemeinden der EKiR sind nun auch von oben abhängig.

4 Eine Hoffnung: Die Grenzen der Entmachtung sind erreicht! Leitungspersonen in der Verwaltung sind überfordert, wenn sie das alles entscheiden müssen, was früher die Presbyterien nach langem Nachdenken, Diskutieren und Beraten nur für ihre eigene Gemeinde beschlossen haben: Nun machen das einige wenige Verwaltungsmitarbeiter, die oft von der Gemeinde und ihrem Leben wenig Ahnung haben. Das wird nicht lange gutgehen können. So gibt es auch unter den Verwaltungsleitern im Rheinland nicht wenige, die diese ganze Entwicklung und dieses Machtstreben einiger Kollegen sehr kritisch sehen: Sie wissen, dass sie diesen Ansprüchen nie zum Wohle der Gemeinden gerecht werden können. Sie wissen, dass sie sich und ihre Mitarbeiter mit dieser fast grenzenlosen Machtentfaltung total überfordern: Presbyterien einschließlich der PfarrerInnen und der MitarbeiterpresbyterInnen wären allemal die besseren Leiter ihrer Gemeinden. Verwaltung hat eigentlich eine dienende Aufgabe. Im Rheinland haben sich einige Verwaltungslobbyisten zum Herrscher gemacht. Und die Landessynode hat im Vertrauen auf deren Kompetenz das böse Spiel

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mitgespielt. Wer kann und will schon juristisch geschulten Verwaltungsleitern Paroli bieten? Und wenn da noch einige Superintendenten hinter ihnen stehen und die Kirchenleitung nicht deutliche Warnungen ausspricht, dann haben Verwaltungsprofis leichtes Spiel mit den Laien und PfarrerInnen in der Synode. Aber die Entmachtung der Gemeinden und diesen Entzug von Geldern zugunsten der Verwaltung spüren die Gemeindeglieder: Immer mehr Presbyter sind ob ihrer Machtlosigkeit verärgert und enttäuscht und ziehen sich zurück. Gemeindeglieder bezahlen Steuern und haben Ansprüche an Betreuung durch Pfarrer und Gemeindemitarbeiter, die immer weniger erfüllt werden können. Gelder für die Verwaltung über das absolute Mindestmaß hinaus sind herausgeschmissene Gelder, weil sie den Gemeindegliedern nichts bringen. Gemeinden sind auf Motivation vieler Ehrenamtlicher angewiesen. Diese müssen begleitet, angeleitet und motiviert werden. Gemeinden ohne Ehrenamtliche sind tote Gemeinden. Wenn Gemeinden nicht mehr lebensfähig sind, wird die Basis unserer Evangelischen Kirche zerstört. Gemeindeglieder bezahlen ihre Kirchensteuern für eine gute Gemeindearbeit und nicht für eine überdimensionierte Verwaltung. Der Fortschritt der Reformation durch die Einbeziehung der Gemeindeglieder in die Leitung und Verantwortung für die Kirche und den Glauben wird heute durch die Machtverschiebung zugunsten der Kirchenkreisverwaltungen zunichte gemacht. Verwaltung muss bei ihrer dienenden Funktion bleiben. Alleine die dazu vorgesehenen und nach der presbyterial-synodalen Ordnung unserer Kirche berechtigten Presbyterien und Synoden können ihre Gemeinden, Kirchenkreise und die Landeskirche kompetent und angemessen leiten.

Erklärung des Vorstandes des Evangelischen Pfarrvereins im Rheinland zu den Vorschlägen der Kirchenleitung zur Haushaltskonsolidierung1 Erklärung des Vorstandes des Evangelischen Pfarrvereins im Rheinland

Moderne, komplexe Gesellschaften fordern von den Akteuren ständig Entscheidungen, deren Tragweite und Folgekosten nicht realistisch vorhergesagt werden können. Umso wichtiger ist es, dass die Verantwortung gepflegt wird, Entscheidungen zu korrigieren, wenn sich gravierende Folgen ergeben, die nicht bedacht wurden oder gar nicht vermutet werden konnten. Wenn in der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), wie aktuell zu beobachten, die Entscheidungen für ein neues kirchliches Finanzwesen (NKF) und eine Verwaltungsstruktur-Reform Folgen zeitigen, die die Entscheidungsträger nicht bedacht haben oder nicht voraussehen konnten, dann müssen diese Entscheidungen überdacht und die eingeleiteten Prozesse korrigiert oder gar eingestellt werden. Es kann nicht sein, – dass eine auf Qualitätssicherung zielende Verwaltungsreform die Aufwendungen für Verwaltung so heftig steigert, dass dadurch die Qualität der inhaltlichen Arbeit für Menschen erheblichst geschwächt wird, – dass eine der Sorge um die Menschen verpflichtete und deshalb als Körperschaft öffentlichen Rechts hoch geachtete Institution wie die EKiR ihr Personal von Seelsorge und Begleitung auf Verwaltung umschichtet, – dass eine von der Basis her arbeitende Gemeinschaft wie die Evangelische Kirche diese Basis durch Leitungsentscheidungen entmachtet

1 Evangelischer Pfarrverein im Rheinland, Info-Brief Nr. 23/2014.

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und damit viele Kolleginnen und Kollegen, Schwestern und Brüder entmutigt werden, – dass eine christliche Gemeinschaft sich mehr von der »Sorge um morgen« leiten lässt als von den Aufgaben der Gegenwart, – dass eine sich auf die Reformation berufende Kirche keine Kosten scheut, wenn es um Verwaltung geht, gleichzeitig aber inhaltlichtheologische Arbeit bespart und ihre öffentlich wirksamen Bildungseinrichtungen streicht und schwächt (ganz abgesehen von der Frage, wie die gesparten Gelder denn angelegt, d.h. die Vermögenswerte erhalten werden sollen!), – dass eine ecclesia semper reformanda ihre gegenwärtig nötigen Anpassungs- und Veränderungsprozesse auf die Aspekte von Verwaltung und Betriebswirtschaft reduziert und die Probleme auf dieser Ebene meint lösen zu können. Es sind in der Vergangenheit viele Gespräche geführt worden in Kommissionen und Ausschüssen, in öffentlichen Anhörungen und Diskussionen. Zur Verteidigung aller längst getroffenen und zukünftigen Entscheidungen hat sich der Begriff »Sachzwang« eingebürgert. Wir protestieren gegen alle Maßnahmen, die solche Sachzwänge verteidigen oder gar verstärken. Wir tun uns sehr schwer damit, uns in unserem Dienst, zu dem wir ordiniert worden sind, der uns Herzenssache ist, solchen »Sachzwängen« zu unterwerfen; und kommen dabei zunehmend in Gewissenskonflikt, uns ihnen verweigern zu müssen. Wir fordern – ein grundsätzliches Überdenken aller Maßnahmen zum NKF und zur Regionalisierung gemeindlicher Arbeit, eine ausführliche Reflexion und öffentliche Diskussion über die durch die Umsetzung der »Reformen« bereits eingetretenen Folgen, – die Offenlegung der Kosten, die das NKF und die Verwaltungsstrukturreform bisher verursacht haben und voraussichtlich in Zukunft im Dauerbetrieb verursachen werden, – den Erhalt und die Pflege der verbliebenen gesamtkirchlichen Bildungseinrichtungen der EKiR,

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Erklärung des Vorstandes des Evangelischen Pfarrvereins im Rheinland

– die Beteiligung der Kirchengemeinden an der Gestaltung und Erhaltung der Schulen, der Akademie, der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und aller gesamtkirchlichen Bildungsstätten, – die Offenlegung der Kosten der Personalverwaltung (von Maßnahmen wie dem Auswahlverfahren bis hin zu »Perseus«) für Softwareprogramme und für die Hilfe von externen Unternehmensberatungsfirmen, – ein intensives Bemühen, in allen Bereichen der Verwaltung zu sparen. Das derzeit erfreulicherweise noch über den Prognosen liegende Kirchensteueraufkommen in der Evangelischen Kirche im Rheinland erlaubt es unseres Erachtens, hinsichtlich des strukturellen Defizits notwendigerweise zu treffender Entscheidungen doch noch ein Moratorium einzulegen, um irreversible Negativfolgen zu verhindern.

Der Vorstand des Evangelischen Pfarrvereins im Rheinland im Auftrag der Mitgliederversammlung vom 03.11.2014 in Bonn

Georg Hoffmann

Umgestaltung der Evangelischen Kirche BerlinBrandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) zum »Erweckungs«-Unternehmen auf der Grundlage eines reformationswidrigen Verständnisses von Gemeinde und Synode Umgestaltung der Ev Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz

Der mit dem EKD-Papier »Kirche der Freiheit« eingeleitete Reformprozess innerhalb der Evangelischen Kirche ist in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) besonders gründlich umgesetzt worden. Der langjährige Berliner Bischof Wolfgang Huber prägte die Entwicklung der EKBO seit Mitte der 1990er-Jahre und trieb den Reformprozess mit Eifer voran. Das Ziel war »Wachstum gegen den Trend«. Die Landeskirche wurde als Unternehmen umstrukturiert, das den unternehmerischen Zweck hat, die Kirchen zu füllen und neue Kirchenmitglieder zu gewinnen. Etwas zugespitzt könnte man von einem »Erweckungs«-Unternehmen sprechen. Ausgangspunkt der Reformen war jedoch nicht die Feststellung eines geistlichen Mangels, sondern die Sorge um die finanzielle Zukunft und die staatlich privilegierte Stellung als diakonisch-missionarische Volkskirche. Kaum ein Bereich der Landeskirche blieb von durchgreifenden Änderungen verschont. Grundlage der Reformen ist ein reformationswidriges Verständnis von Gemeinde und Synode, das es ermöglicht, Institutionen wie Kirchenkreis, Landeskirche und selbst die EKD als Gemeinde zu verstehen. Die bestehenden Kirchengemeinden erscheinen dann nur noch als Untergliederungen einer größeren Gemeinde. Die Reformen lassen sich demnach als bloße Akte gemeindlicher Selbstverwaltung begreifen. Alle Kritik scheint abzuprallen. Schon per definitionem scheint eine Zentralisierung, Ökonomisierung, Hierarchisierung und Episkopalisierung der Evangelischen Kirche ausgeschlossen zu sein. Der Schein trügt jedoch.

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Nachfolgend sei zunächst die exemplarische Umgestaltung der EKBO dargestellt und dann das ihr zugrunde liegende und mit der Reformation unvereinbare Verständnis von Gemeinde und Synode auseinandergesetzt. 1 Umgestaltung der EKBO zum »Erweckungs«-Unternehmen Den ersten Anstoß für Reformen in der EKBO gaben die Wende 1989/90 und die durch sie ermöglichte Wiedervereinigung beider Hälften der Landeskirche. Damit verbunden waren Einsparmaßnahmen, von denen das Konsistorium besonders betroffen war und womit der Reformprozess seinen Anfang nahm. Die ursprünglich 23 Dezernate des Konsistoriums wurden 1996 zunächst zu 12, dann zu acht und heute zu sieben Abteilungen zusammengefasst. Die Ortsdezernate wurden zuerst in ihren Aufgaben reduziert und dann ganz abgeschafft. In den Ortsdezernaten war für jeden Kirchenkreis ein bestimmter theologischer und ein bestimmter juristischer Referent zuständig, der Kontakt zu seinen Kirchenkreisen und Kirchengemeinden hielt und für alle theologischen oder juristischen Fragen zur Verfügung stand. Die Ortsdezernate waren für das Klima zwischen den Gemeinden und dem Konsistorium wesentlich, da das Konsistorium mit ihnen den Gemeinden brüderlich im Sinne christlicher Dienstgemeinschaft und nicht nur als Behörde in Verwaltungsverfahren entgegentrat. Es gab Anlass für zwei neue Grundordnungen, nämlich 1994 wegen der Wiedervereinigung und 2004 wegen der Vereinigung mit der Ev. Kirche der schlesischen Oberlausitz. Die Grundordnung von 1994 sah bereits vor, dass die Gemeindeglieder Mitglieder der Landeskirche sind, erst seit 2013 sind sie aber auch Mitglieder des Kirchenkreises. Vorstellungen der Reformer finden sich ansonsten erst in der seit 2004 geltenden Grundordnung, die das Pfarramt und die Kirchenkreise stärkte. Die Reformer sehen nämlich einerseits den Pfarrberuf als Schlüsselberuf für die Umsetzung der Reformen an, weil nur er für die ganze Landeskirche stehe und der Dienstaufsicht unterliege,1 und halten andererseits die Kirchen1 So der Leiter der für Kirchenrecht zuständigen Abt. des Konsistoriums der EKBO Martin Richter auf dem Symposion »Kirchenrecht – Kirchenreform« des Ev. Instituts für Kirchenrecht an der Universität Potsdam am 22.6.2012.

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kreise zur Durchführung der Reformen als am geeignetsten, da vor allem Verkrustungen in den Kirchengemeinden aufzubrechen seien.2 Die Kirchenkreise wurden fortlaufend zu immer größeren Kirchenkreisen zusammengeschlossen. Die Superintendenten, die ursprünglich noch mit einer halben Pfarrstelle Dienst in einer Gemeinde taten, waren zunehmend auf das Leitungsamt beschränkt. Die Pfarrer wurden seit 2004 stärker am Vorsitz der Gemeindekirchenräte beteiligt und die Kirchenkreise erhielten das Recht, an die Stelle kirchengemeindlicher Stellenpläne einen kreiskirchlichen Stellenplan zu setzen, womit die Stellenhoheit an den Kirchenkreis kam.3 Die Wiederbesetzung der Pfarrstellen und anderer Stellen in den Kirchengemeinden hängt nunmehr also vom Kirchenkreis ab. Die Abhängigkeit der Pfarrer von Superintendent und Konsistorium wurde wesentlich dadurch erhöht, dass Gemeindepfarrstellen nur noch befristet auf zehn Jahre übertragen werden.4 Das neue Pfarrdienstgesetz der EKD brachte darüber hinaus die Neuerung, dass Pfarrer versetzt werden können, so etwa nach Ablauf der zehnjährigen Befristung oder bei Änderung der kreiskirchlichen Stellenplanung.5 Ehrenamtliche Prediger wurden wegen ihrer gegenüber Pfarrern schlechteren landeskirchlichen Einbindung stiefmütterlich behandelt, indem ihr Auftrag örtlich beschränkt und zeitlich befristet wurde und Amtshandlungen grundsätzlich Pfarrern vorbehalten bleiben.6 Eine direkte Einflussnahme auf gemeindliche Planungen ermöglicht die nach badischem Vorbild gestaltete neue Visitationsordnung,7 die zielorientierte Visitationen mit zwingenden Zielvereinbarungen und späteren Kontrollbesuchen vorsieht. Die Zusammenarbeit in Regionen soll gefördert werden.

2 Thies Gundlach auf der Werkstatt-Tagung des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins in Halle am 21.09.2012. 3 Art. 42 Abs. 2 GO-EKBO vom 21./24. Nov. 2003 (KABl.-EKiBB, 159). 4 § 12 Abs. 4 PfDAG (KABl.-EKBO 2011, 187). 5 § 79 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 PfDG-EKD (KABl.-EKBO 2011, 166). 6 § 4 Abs. 3–-5 des PrädikantenG (KABl.-EKBO 2007, 72). 7 KABl.-EKBO 2008, 199.

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Die erheblichsten Rechtsänderungen gelten seit 2013 infolge einer Änderung der Grundordnung8 und der Einführung eines Gesamtkirchengemeindegesetzes9. Den Kreissynoden wird es überlassen, durch einfachen Mehrheitsbeschluss den Pfarrdienst der Gemeinden im Kirchenkreis in Grundversorger und gemeindeübergreifende Spezialisten aufzuteilen und komplett beim Kirchenkreis anzusiedeln.10 Die Kirchenkreise, deren Mitglieder nun auch die Gemeindeglieder sind,11 können Stellen für kirchengemeindliche Aufgaben beim Kirchenkreis errichten12 und Aufgaben der Kirchengemeinden dem Kirchenkreis übertragen.13 Gemeindefusionen sollen durch die neue Möglichkeit der Bildung sog. Gesamtkirchengemeinden erleichtert werden. Für die in ihnen aufgehenden Gemeinden ist aber keine Garantie für den Fortbestand der örtlichen Untergliederungen vorgesehen, und die Mitglieder des Gemeindekirchenrates werden nicht mehr von der Gemeinde selbst, sondern mittelbar von einer Gemeindesynode nach Maßgabe einer gemeindlichen Satzung aus den Reihen der Mitglieder der Ortskirchenräte gewählt.14 Die Verwaltung des Vermögens der Kirchengemeinden und Kirchenkreise ist als Regelaufgabe dem kreiskirchlichen Verwaltungsamt übertragen. 1992 umfasste der Aufgabenkatalog neun15 Nummern, heute sind es 17. Hinzugekommen sind vor allem 2001 die Wohnungs- und Grundstücksangelegenheiten und die Kindertageseinrichtungen.16 Die Ausnahmetatbestände wurden zunehmend enger. Die Regelaufgaben können seit 2015 vom Kirchenkreisverband, der Träger des Verwaltungsamtes ist, konkretisiert werden. Dabei soll er sich am Anhang zu § 8 des Verwaltungsämtergesetzes orientieren,17 der fast jede denkbare Maßnahme auflistet. Für die Tätigkeit der Verwaltungsämter hat der Kirchenkreisverband eine Gebührensatzung zu erlassen. Im Ergebnis ist die gemeindliche Vermögensverwaltung damit einem Dritten zur entgeltlichen Erle8 KABl.-EKBO 2012, 238. 9 KABl.-EKBO 2012, 240. 10 Art. 1 Nr. 15 des 2. KirchenG zur Änderung der GO vom 21./24.11.2012 (KABl.EKBO, 238). 11 Ebd., Art. 1 Nr. 1. 12 Ebd., Art. 1 Nr. 18 lit. c. 13 Ebd., Art. 1 Nr. 16 lit. a. 14 §§ 4 III, 5 I 3 GKGG (KABl.-EKBO 2012, 240). 15 KABl.-EKiBB 1997, 3. 16 KABl.-EKiBB 2000, 148. 17 KABl.-EKBO 2014, 77ff.

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digung überlassen, wobei die Besonderheit besteht, dass die Verwaltungsämter gleichzeitig mit der Fach- und Rechtsaufsicht insoweit betraut sind, als sie seit 2006 auf rechtliche oder wirtschaftliche Bedenken hinzuweisen haben18 und seit 2015 eine Maßnahme nicht ausführen dürfen, bis die Bedenken behoben sind.19 Die Einführung der doppelten Buchführung im Jahr 2010 ist wegen der Bilanzierung der gemeindlichen Vermögenswerte interessant. Die Bewertungsverordnung20 sieht dafür zwar vor, dass Kulturgüter und Kunstwerke sowie Glocken und Orgeln mit einem Erinnerungswert von jeweils einem Euro bewertet werden sollen. Gleiches gilt für Grundstücke, die zum nicht realisierbaren Anlagevermögen gehören, also insbesondere für Kirch- und Friedhöfe. Für Kirchen kann das Konsistorium aber eine Pauschalbewertung festlegen. Sie sind je nach Alter mit 0,5 oder 1% im Jahr abzuschreiben,21 wofür entsprechende Rücklagen zu bilden sind.22 Dies kann für kleine Gemeinden eine erhebliche finanzielle Belastung darstellen. Die realisierbaren und nicht realisierbaren Vermögensgegenstände sind in der Bilanz auch für Kirchenkreis und Konsistorium einsehbar und für gemeindliche Umstrukturierungen und Fusionen nutzbar. Die traditionellen Kirchenbücher als Sinnbilder des Lebens werden seit 2015 durch eine Loseblattsammlung ersetzt, deren Seiten durch ein EDV-Programm erstellt werden.23 Zur Umsetzung wurde ein Projektvertrag mit dem Rechenzentrum ECKD in Kassel abgeschlossen, das bereits mit dem neuen Verfahren KirA das Meldewesen der EKBO verarbeitet. Dies kostet für jedes Mitglied der unter einer Anschrift gemeldeten Familie eines Kirchenmitglieds unabhängig davon, ob jenes selbst der Kirche angehört, 0,2135 € brutto pro Monat,24 also durchaus schon einmal monatlich rund 2.500,- € für eine Berliner Gemeinde, die allerdings bisher noch von der Landeskirche übernommen werden. Bei einer Umwäl18 19 77). 20 21 22 23 24

KABl.-EKBO 2006, 158. § 12 Abs. 3 in der Fassung des KirchenG vom 5. April 2014 (KABl.-EKBO, 74, KABl.-EKBO 2014, 158ff. Abschreibungstabelle der EKBO (KABl.-EKBO. 2014, 162ff.). § 72 Abs. 6 Satz 1 HKVG (KABl.-EKBO 2010, 87). Melde-, Kirchenbuch- und StatistikG (KABl.-EKBO 2014, 3). Schreiben des Konsistoriums vom 18.11.2014, Gz.: 6.2.10, Az.: 1041-04:05.

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zung auf die Gemeinden droht diesen eine erhebliche finanzielle Belastung. Für die kirchliche Statistik eröffnen sich aber ganz neue Felder. Der so gesteckte äußere Rahmen musste nur noch mit Inhalten angefüllt werden. Zu diesem Zweck legte Bischof Wolfgang Huber 2007 das landeskirchliche Perspektivprogramm »Salz der Erde«25 vor, dem 2011 eine Konzeption zur Fortführung des Reformprozesses mit 12 Projekten folgte.26 Projekt 1 sah die Ausbildung von 70 Trainern vor, die die Bedeutung von Zielen lernen und dabei die Gesamtheit der EKBO in den Blick nehmen sollten. In einem zweiten Schritt sollten aus jeder Gemeinde zwei Personen entsprechend fortgebildet werden. Projekt 3 sah sodann vor, dass die Gemeinden unter Hilfestellung der genannten Trainer zwei bis acht Handlungsfelder planten, davon jährlich eins. Mit den Verantwortlichen sollten Zielvereinbarungen geschlossen werden. Visitationen sollten eine Verständigung über Zielsetzungen herbeiführen und die Planungsprozesse motivieren und begleiten. Zur Stärkung der Identität der Mitarbeitenden in den Gemeinden sah Projekt 4 alle fünf Jahre ein Kirchentags-Event auf Landeskirchenebene vor. Ergänzend verabschiedete die Landessynode 2012 das Diskussionspapier »Orientierungspunkte für den Reformprozess«27, das einen missionarischen Ansatz der EKBO feststellte und thematisierte, wie zielorientiert zu handeln ist und wie die Zielerreichung sichergestellt werden kann, etwa durch Einführung eines sog. Interimspfarramtes, bei dem ein ausgewählter Interimspfarrer Vorschläge zu gemeindlichen Strukturveränderungen unterbreitet und die reguläre Wiederbesetzung der Pfarrstelle erst nach Umsetzung dieser Vorschläge erfolgt.28 Nun ist allerdings festzustellen, dass das von den Reformmaßnahmen angestrebte »Wachstum gegen den Trend« bis heute ausgeblieben ist. Stattdessen gibt es eine Erosion auf fast allen Ebenen. Für die Reformer überraschend ergab die fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD aus dem Jahr 2014, dass Religion als Sache des 25 Der Presse- und Öffentlichkeitsbeauftragte der EKBO (Hrsg.), Salz der Erde, Das Perspektivprogramm der EKBO, 1. Aufl. Juli 2007. 26 Einsehbar auf: http://reformprozess.ekbo.de (21.09.2015). 27 Einsehbar ebd. 28 S. 23 des Diskussionspapiers.

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persönlichen Kontakts anzusehen ist. Die evangelischen Christen nehmen die Kirche nicht als Großorganisation, Landeskirche oder Kirchenkreis wahr, sondern als Ortsgemeinde. Innerhalb der Ortsgemeinden sind es die Pfarrer, denen eine überragende Bedeutung zukommt. Es komme fast einem Garantieschein für fortdauernde Kirchenmitgliedschaft und Taufe der Kinder gleich, wenn jemand in einem auch nur losen Kontakt zu einem Pfarrer stehe.29 Der Widerspruch zu den zentralisierenden Tendenzen der Reformen und zu dem in ihnen zum Ausdruck kommenden Verständnis der Pfarrer als austauschbare Dienstleister könnte nicht schärfer sein. Die Reformen sind in religiöser Hinsicht falsch. Ihre wirtschaftsbezogene Sprache passt nur, wenn es den Reformern bloß um die hohe weltliche Bedeutung der Kirche geht. Für diese ist heute prägend, dass die Kirchengebäude durch den massenhaften Zubau von Gemeindehäusern zu Multifunktionszentren umfunktioniert wurden, in denen hauptsächlich ein Eventbetrieb stattfindet. Dieser kostet nicht nur Geld, das die Reformen organisieren sollen, sondern beschädigt auch die Erkennbarkeit und Glaubwürdigkeit von Kirche.30 Multifunktionszentren und Eventbetrieb unterliegen nicht ohne tieferen Grund den Gesetzen des Marktes, bedingen die gegenwärtigen Reformen und gestalten die Kirche zu einem Unternehmen um. Das Reformationsjubiläum mahnt dazu, sich wieder der Werte der Reformation bewusst zu werden. Luther forderte die Beschränkung der Kirche auf ihren durch Jesus Christus bestimmten Auftrag:31 »Nein, Gott will es so haben, daß man in der Kirchen Nichts thun soll, er habe es denn befohlen und geboten, also, daß es Gottes Werk und Ordnung sei. Darumb soll Niemand Etwas thun, es sei denn gewiß, daß es Gott thut, daß es Gottes Wort oder Werk sei; und das darumb: denn

29 Reinhard Bingener, »Erosion auf fast allen Ebenen«, FAZ vom 09.03.2014. 30 Vgl. Dankwart Guratzsch, »Alles außer Gottes Haus«, Die Welt vom 21.07.2013. 31 Martin Luther, »Zweite Auslegung des Briefes St. Petri«, in: Sämmtliche Werke, 52. Band, Frankfurt a.M. und Erlangen 1853, 173f.; fast wortgleich war die erste Auslegung von 1523, Sämmtliche Werke, 51. Band, Frankfurt a.M. und Erlangen 1852, 472.

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Gott will nicht, daß man für ein Gaukelspiel halte, was er mit der christlichen Kirchen thut.«

2 Reformationswidriges Verständnis von Gemeinde, Kirche und Synode Die Reformation machte den Begriff der Gemeinde geltend, und Luther übersetzte überall ecclesia mit Gemeinde. Er stellte damit der katholischen Vorstellung von Kirche als einer staatsähnlichen Institution die Gemeinde entgegen, d.h. die Schar der gläubigen Christen. Die heutigen Reformer machen zwar auch den Begriff der Gemeinde geltend, aber nicht um die Kirche als staatsähnliche Institution zu verhindern, sondern um sie dazu zu machen. Sie deuten nämlich alle kirchlichen Ebenen von der Kirchengemeinde bis zur Landeskirche als Gemeinde,32 womit der Gemeindebegriff jede innerkirchliche Bedeutung verliert, weil alle Reformmaßnahmen nur noch als Akte gemeindlicher Selbstverwaltung erscheinen, die in der menschlichen Freiheit liegen. Wollte Luther deutlich machen, dass die katholische Kirche seiner Zeit nicht identisch ist mit der ecclesia der Heiligen Schrift, weil sie nur eine Institution ist, nicht aber die Gemeinde selbst, so geben die heutigen Reformer vor, die Landeskirche mit ihren Kirchenkreisen sei nicht bloß eine Institution, sondern selbst Gemeinde. Diese Ansicht ist nun aber mit den Kirchenverfassungen nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Grundlage der Erfahrungen der Bekennenden Kirche nicht vereinbar, da sie mit der Kirchengemeinde beginnen und von ihr aus die größeren organisatorischen Komplexe wie Kirchenkreise und Landeskirchen gestalten, diesen jedoch den Gemeindecharakter vorenthalten, indem sie zu ihren Mitgliedern nur Körperschaften machen, nicht aber die Gläubigen. So war eine Landeskirche wie die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg nur die Einheit der zu ihr gehörenden Kirchengemeinden und Kirchenkreise,33 nicht aber die Gesamtheit der in ihr wohnenden Gläubigen. 32 Ulrich Seelemann, »Chancen und Risiken der Veränderung kirchlicher Organisationsstrukturen«, ZevKR 53 (2008), 160.166f. 33 Art. 62 Abs. 1 der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg vom 15. Dez. 1948.

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Am äußeren Aufbau der Kirchenverfassungen änderten die Reformer zwar wohlweislich nichts, inhaltlich versuchten sie aber ihr System in die Kirchenverfassungen dadurch einzuschmuggeln, dass sie ergänzen ließen, dass alle getauften Evangelischen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in der Landeskirche haben, nicht mehr nur Mitglieder ihrer Kirchengemeinde, sondern auch Mitglieder des Kirchenkreises und der Landeskirche sind. Als Schlussstein dieser Entwicklung hat unter Berufung auf die Leuenberger Konkordie die Synode der EKD das Kirchenamt der EKD beauftragt, für die Tagung der EKD-Synode im November 2015 einen Entwurf zur Änderung der Grundordnung der EKD vorzulegen, der verdeutlichen soll, dass nunmehr auch die EKD nicht mehr nur ein Zusammenschluss ihrer Gliedkirchen, sondern selbst Kirche sei. In einem Entwurf heißt es, die EKD sei Teil der einen Kirche Jesu Christi und als Gemeinschaft ihrer lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen selbst Kirche.34 Kirche bedeutet aber nach reformatorischem Verständnis nichts anderes als Gemeinde, die allein durch einen Federstrich dort nicht entsteht, wo nicht wirklich Gemeinde ist. Die Reformer leiten daher die Gemeindequalität von Kirchenkreis, Landeskirche und selbst der EKD aus der heutigen presbyterial-synodalen Verfassung der Evangelischen Kirche her, durch die die verschiedenen kirchlichen Ebenen eine jeweils eigene Kirchenversammlung erhalten, die als Gemeinde angesehen werden könnte. Begrifflich fällt zwar ein Unterschied zwischen Presbytern in der Kirchengemeinde und Synodalen in Kirchenkreis und Landeskirche auf. Gleichwohl setzen die Reformer hier an. Sie gehen dabei von einem altkatholisch anmutenden Verständnis der synodalen Strukturen aus. Nach Ansicht der Reformer sind die heutigen kirchlichen Synoden nämlich keine Parlamente, sondern kirchliche Versammlungen, in denen die Einheit der Gemeinden in der einen Kirche realisiert wird und die dazu da sind, der Stimme des Heiligen Geistes durch eine im Geist versam-

34 Arno Schilberg, »Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Einheit des evangelischen Kirchenrechts seit der Wiedervereinigung«, in: ZevKR 60 (2015), 294, 308–310.

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melte Gemeinde Gehör zu verschaffen.35. »Alle Christenheitsversammlungen sind Ekklesien, Versammlungen Gottes (Christi) mit seinem Volk; ihre Lebensäußerungen sind Gottes Lebensäußerungen.«36 Biblisches Vorbild ist die Apostelversammlung in Jerusalem, die ihren Beschluss mit den Worten »Denn es gefällt dem Heiligen Geist und uns« (Apg 15.28) einleitete. Stellt man die Synoden der Evangelischen Kirche in diese Tradition, liegt es auf der Hand, dass Presbyterium und Synode materiell gleichwertig sind und ein Vorbehalt zugunsten des Presbyteriums nicht begründet wäre, wird doch die Gesamtekklesia in den Synoden sogar noch besser vertreten als in den Presbyterien. Auch die Bildung einer Hierarchie scheint ausgeschlossen zu sein, gilt doch Christi Wort (Lk 22.26–27): »Ihr aber nicht so! Sondern der Größte unter euch soll sein wie der Jüngste und der Vornehmste wie ein Diener. Denn wer ist größer: der zu Tisch sitzt oder der dient? Ist’s nicht der, der zu Tisch sitzt? Ich aber bin unter euch wie ein Diener.« Mit der Wahl in Ämter sollen demnach Dienste zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung übertragen werden, aus denen sich die anderen zurückziehen, für die sie aber die Gesamtverantwortung behalten. Es soll keine Herrschaftsgewalt organisiert oder kontrolliert, sondern arbeitsteilig die Wahrnehmung der Dienste geregelt werden. Der Herr der Kirche wird sichtbar durch die Amtseinführung mit Gebet und Segen einbezogen. Die Dienstübertragung ist somit keine Angelegenheit unter Menschen allein, sondern auch eine Angelegenheit des Herrn der Kirche, der daran beteiligt ist.37 35 Axel Frhr. v. Campenhausen, »Synoden in der evangelischen Kirche«, in: Axel Frhr. v. Campenhausen, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Joachim E. Christoph u.a., Tübingen 1995, 51f. 36 Rudolf Sohm, zitiert nach Wilhelm Maurer, »Typen und Formen aus der Geschichte der Synode«, in: Wilhelm Maurer, Die Kirche und ihr Recht, Gesammelte Aufsätze zum evangelischen Kirchenrecht, hrsg. v. Gerhard Müller u. Gottfried Seebass, Tübingen 1976, 76. 37 Ulrich Seelemann, »Von Nutzen und Zukunft presbyterial-synodaler Strukturen«, ZevKR 60 (2015), 175.177ff.

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Die Reformer bezeichnen dieses System als »genial«.38 Es herrscht aus ihrer Sicht eine brüderliche Christokratie, für die Begriffe wie Brüderlichkeit, Dienst und Einmütigkeit kennzeichnend sind.39 Reformmaßnahmen sind weder vom Gemeindebegriff noch von der presbyterialsynodalen Verfassung her angreifbar. Der Weg scheint frei dafür zu sein, die kirchlichen Strukturen von »oben« her, und dann nicht nach biblisch-theologischen, sondern nach betriebswirtschaftlichen und soziologischen Kriterien zu reformieren, ohne länger noch Einwürfe der Theologie befürchten zu müssen. Mit diesem »genialen« Umwertungssystem glaubt man gegen Einwürfe der Theologie gefeit zu sein, die besagen, dass »Gemeinde« nach evangelischem Verständnis die versammelte Gemeinde als Leib Christi ist (1. Kor 12,12). Die Kritik an den Reformmaßnahmen als Verstärkung der Zentralisierung, Ökonomisierung, Hierarchisierung und Episkopalisierung der Evangelischen Kirche scheint aber nicht nur ins Leere zu laufen, sondern auch unbrüderlich zu sein. Das »geniale System« der Reformer verkennt jedoch, dass kirchliche Strukturen wie Kirchenkreise, Landeskirche und EKD Institutionen und nicht Gemeinde sind. Gegen ihre Gemeindequalität lässt sich zwar nicht einwenden, dass es sich bei ihnen bloß um Körperschaften des öffentlichen Rechts handelt, die mit der Schar der Christen juristisch nicht identisch sind, sondern eigenständige juristische Personen bilden, denn der gleiche Einwand träfe auf die Kirchengemeinden zu. Der Körperschaftsstatus ist also nur für das staatliche Recht bedeutsam, nicht aber innerkirchlich. Die heutigen evangelischen Synoden sind jedoch, so ist einzuwenden, mehr mit Parlamenten als mit der Apostelversammlung in Jerusalem vergleichbar. Ihre Bedeutung liegt nicht in dem pneumatischen Charakter als gottesdienstlich versammelte Gemeinde, sondern im Amt des Kirchenregiments, das sie im Rahmen ihrer Zuständigkeit ausüben.40 Diesem Amt gegenüber behalten die Kirchengemeinden ihre Eigenschaft als Subjekt und verlieren sie nicht an die Gesamtkirche. Soll das Amt des Kirchenregiments gegenüber der Gemeinde ausgeübt werden, setzt das 38 Ebd., 184. 39 Vgl. Hans Martin Müller, »Kirche in der Demokratie – Demokratie in der Kirche?«, ZevKR 44 (1999), 324, 335f. 40 Vgl. Wilhelm Maurer, a.a.O., 93.

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natürlich voraus, dass man unter Gemeinde nicht die Geistgemeinde versteht, sondern eine sichtbare Gemeinde. Wie sollte sonst etwa die Visitation von Gemeinden nach biblischem Vorbild stattfinden? Bei den Altreformierten war Kennzeichen für die sichtbare Gemeinde aber das gemeinsame Abendmahl, der gemeinsame Tisch. Kirchenkreise, Landeskirche und EKD sind synodal verfasste Institutionen, die gegenüber den Gemeinden das Amt des Kirchenregiments ausüben und der Beschaffung und Verwaltung der materiellen und personellen Bedürfnisse der Gemeinde dienen und tun, was eine Gemeinde allein nicht tun kann. Sie sind als solche nicht selbst Gemeinde, d.h. die Schar der gläubigen Christen. Der Staat übrigens ist auch nicht mit seinen Bürgern identisch, sondern eine Institution, die als juristische Person gedacht wird. Schon seit Kaiser Konstantin wurde auch die Kirche als juristische Person und damit als Institution mit verschiedenen Ämtern und mit eigenem Vermögen angesehen. Die Reformation brach hiermit aber und verwarf die ganze Institution Kirche. Sie sah statt der Institution Kirche die Schar der Gläubigen (beim Staat wären es die Bürger) als Kirche an und behielt nur und ausschließlich die alten Ämter bei, soweit sie schriftgemäß waren. Erst die heutigen Reformer machen aus den synodal verfassten Ämtern und damit aus den Institutionen Kirchenkreis, Landeskirche und EKD wieder die Gemeinde, indem sie sich auf die Synoden als »Kirchenversammlungen« berufen. Was also der Organisation des Amtes des Kirchenregiments und der Beschaffung und Verwaltung der materiellen und personellen Bedürfnisse der Gemeinde dient, erklären sie wieder selbst zur Kirche, so als hätte es nie eine Reformation gegeben. Die Evangelische Kirche in Deutschland ist nicht die Evangelische »Gemeinde« in Deutschland, sondern das Evangelische »Kirchenregiment« in Deutschland, wovon »Kirche« nur die populäre Abkürzung ist. Ebenso verhält es sich bei Landeskirchen, Kirchenkreisen und Gesamtkirchengemeinden. Schließlich übersieht das »geniale System« der Reformer auch, dass der Ausspruch Christi, der Vornehmste sei wie ein Diener, ein Ideal aufstellt,

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das die kirchliche Ordnung anzustreben hat, nicht aber schon oder irgendwann Realität ist.

3 Charakter der heutigen presbyterial-synodalen Ordnung Geschichtlich ist darauf hinzuweisen, dass die altreformierten Synoden Amtsträgersynoden waren und in dieser Hinsicht den altkatholischen Bischofssynoden entsprachen. Sie schlossen die Entstehung von Hierarchie aus, solange die Amtsträger noch alle in der Synode selbst erscheinen konnten. Mit der Zunahme der Gemeindezahl und der synodalen Untergliederungen konnte aber nicht mehr jeder Amtsträger selbst zur Synode kommen und es mussten Vertreter bestellt werden. Dafür setzte sich der naturrechtliche Repräsentationsgedanke durch.41 Das Amt der Synode war das Kirchenregiment, dem die Gemeinde unterworfen war. Die Synodalen wurden von den Ältesten gewählt, nicht vom Kirchenvolk direkt.42 Da sich das Synodalwesen nicht in Genf ausbildete, sondern gerade dort, wo die reformierte Kirche dem Druck der Obrigkeit ausgesetzt war, nämlich am Niederrhein, konnte wegen des dort erforderlichen Bekennermuts die Erwählung der Synodalen im Sinne der Prädestinationslehre ohne Weiteres vermutet werden.43 Die Synodalordnung der reformierten Kirche am Niederrhein wurde Vorbild für das ganze evangelische Deutschland,44 jedoch nicht in der ursprünglichen Gestalt, sondern in derjenigen der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung von 1835, und unter Verhältnissen, in denen Bekennermut nicht mehr zu den Eigenschaften eines Synodalen zählen musste. Wie Joh. Victor Bredt dargelegt hat,45 fehlte den in der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung vorgesehenen Synoden nicht nur das Amt des Kirchenregiments, das noch beim König lag, sondern die Kirchenordnung übertrug auch einfach den Ständestaat mit Gemeinde, Kreis und Provinz samt den entsprechenden Organen wie Kreis- und 41 Wilhelm Maurer, a.a.O., 93f. 42 Joh. Victor Bredt, Neues evangelisches Kirchenrecht für Preußen, 1. Bd., Die Grundlagen bis zum Jahre 1918, Berlin 1921, 251. 43 Ebd., 244. 44 Ebd., 257ff. 45 Ebd., 301ff.

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Landtag auf die Kirche und legte die Funktionen ganz entsprechend wie im Staat fest. Die nach dem Untergang des landesherrlichen Kirchenregiments 1918 erlassenen Kirchenverfassungen sahen zwar wie die heutigen Kirchenverfassungen vor, dass die Synodalen nicht direkt vom Kirchenvolk gewählt werden und nicht dieses, sondern die Kirche vertreten.46 Es gab auch schon wie heute nicht nur gewählte Synodale, sondern zusätzlich berufene und geborene. Die Erfahrungen im Dritten Reich führten zu der Forderung, sich von parlamentarischen Vorstellungen strikt abzuwenden und das kirchliche Amt zu betonen. Man verständigte sich letztlich aber auf Kompromisse und führte bloß verstärkt »Siebwahlen« ein, um die kirchliche Autorität der Synodalen und den kirchlichen Charakter der Synoden zu wahren, verfehlte aber auch damit das Ziel »bruderschaftlicher Christokratie«.47 Setzt man die heutigen evangelischen Synoden in die Tradition der altreformierten Synoden am Niederrhein, so lässt sich im Sinne der Prädestinationslehre einwenden, dass die göttliche Erwählung der Synodalen durch eine Wahl, sei es auch eine »Siebwahl«, nicht erkannt werden kann. Die Vermutung für die Erwählung, wie sie in der bedrängten altreformierten Kirche am Niederrhein begründet war, ist unter heutigen Verhältnissen nicht mehr möglich. Nicht günstiger fällt ein Vergleich mit den Amtsträgersynoden aus, deren Autorität auf der Amtsautorität der versammelten Amtsträger beruhte. Bei der Apostelversammlung in Jerusalem war es das Apostelamt, bei den altkatholischen Bischofssynoden die apostolische Sukzession der Bischöfe und bei den altreformierten Synoden die schriftgemäße Ämterverfassung und das dort vorgesehene Amt, das der Synodale in seiner Gemeinde bekleidete.48 Von dem Amt eines demokratisch gewählten Synodalen aber, der in seiner Gemeinde womöglich gar kein Amt innehat, hat jedenfalls Calvin nichts in der Schrift gefunden.

46 Joh. Victor Bredt, Neues evangelisches Kirchenrecht für Preußen, 3. Bd., Die neuen Kirchenverfassungen, Berlin 1927, 75f. 47 Hans Martin Müller, a.a.O., 335f. 48 Wilhelm Maurer, a.a.O., 93.

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Der pneumatische Charakter der gottesdienstlich versammelten Gemeinde ist nun aber erkennbar untauglich, die Autorität der Synode vor einer anderen gottesdienstlich versammelten Gemeinde zu begründen, etwa vor einem Presbyterium. Luther sah in einem Konzil, wofür das Wort Synode ein Synonym ist, auch nichts anderes als ein Gericht49 und hielt dafür schlichtweg in der Schrift gründlich gelehrte Leute für erforderlich.50 Schon Kaiser Konstantin vermahnte ja das Konzil von Nicäa mit folgenden Worten:51 »In Erörterungen über göttliche Dinge hat man die Lehre des Heiligen Geistes als bindende Vorschrift; die evangelischen und apostolischen Bücher samt den Offenbarungsworten der Propheten zeigen uns völlig klar den Sinn der Gottheit. Deshalb wollen wir die Zwietracht ablegen und aus den Worten des Geistes die Klärung unserer Fragen entnehmen.« Die Fähigkeit, diesem Auftrag gerecht zu werden, gewährleistet die demokratische Wahl von Synodalen nicht. Die Aufgaben moderner Synoden liegen meistens auch in Bereichen, die mit diesem Auftrag nichts zu tun haben und in denen sich niemand auf den Heiligen Geist berufen kann, denn dieser ist nicht gegeben, dass er uns etwas außer Jesus Christus eingeben und lehren sollte.52 Der Beistand des Heiligen Geistes schließt auch die Bildung von Hierarchien bei synodalen Entscheidungen und Wahlen nicht aus. Luther schreibt in seiner Schrift »Von Conciliis und Kirchen« aus dem Jahr 1537: »Zum Neunten hat ein Concilium nicht Macht, solche Statut oder Decret zu machen, die lauter nichts mehr suchen, denn Tyrannei; das ist, wie die Bischoffe sollen Gewalt und Macht haben, zu gebieten was sie wollen, und Jedermann müsse zittern und gehorsam sein. Sondern hat Macht und ist schuldig, solchs zu verdammen, nach der heiligen Schrift, 1 Petr. 49 Martin Luther, »Von den Conciliis und Kirchen. 1539«, in: Sämmtliche Werke, hrsg. v. Johann Konrad Irmischer, 25. Bd., Erlangen 1830, 342. 50 Ebd., 350. 51 Zitiert nach Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion, Institutio Christianae Religionis, Nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, 6. Aufl. 1997, IV,8,16 (793). 52 Martin Luther, s. Anm. 49, 332.

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Georg Hoffmann

5,3: Sollt nicht herrschen uber das Volk; und Christus (Luc. 22,26): Vos non sic: Wer Oberst sein will, soll euer Diener sein.«53 Es ergeben sich also folgende Schlussfolgerungen: 1. Die heutigen evangelischen Synoden beziehen ihre Autorität nicht aus dem pneumatischen Charakter als gottesdienstlich versammelte Gemeinde, sondern allein aus dem demokratischen und rechtlich geordneten Verfahren, aus dem sie hervorgehen, und aus dem Amt, das sie ausüben. Die Zentralisierung, Ökonomisierung, Hierarchisierung und Episkopalisierung sind daher eine reale Gefahr für die Kirchen der Reformation. 2. Kreis- und Landessynoden sind Institutionen, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit mit dem Amt des Kirchenregiments betraut sind. Sie vermitteln Kirchenkreis und Landeskirche keine Gemeindequalität. Kirchenkreis und Landeskirche sind Verbände von Gemeinden zur Ausübung des Amtes des Kirchenregiments gegenüber den Gemeinden und zur Erfüllung von Aufgaben, die eine einzelne Gemeinde nicht erledigen kann (Subsidiaritätsgrundsatz). 3. Das Kirchenregiment über die Gemeinde bezieht sich notwendig nicht auf die Geistgemeinde, sondern auf die sichtbare Gemeinde, für die das gemeinsame Abendmahl, der gemeinsame Tisch kennzeichnend ist. Kirchengemeinden, denen der gemeinsame Tisch fehlt, sind Gemeindeverbände, nicht selbst Gemeinde.

53 Martin Luther, s. Anm. 49, 340.

Tobias Scheidacker

Das gescheiterte »Reformmodell« der EKBO im Kirchenkreis Wittstock-Ruppin Das gescheiterte »Reformmodell« der EKBO im Kirchenkreis Wittstock-Ruppin

Vier Jahrzehnte deutsche Teilung haben unterschiedliche Kirchen in Ost und West hervorgebracht. Aufgewachsen bin ich im Osten, als Kind in einer Pfarrfamilie. Kirche war meine Heimat – im Sinne eines echten Miteinanders und einer im Kontrast zur staatlichen Vorgabe anderen Haltung gegenüber den wichtigen Dingen des Lebens. In meiner Kindheitskirche gab es keine Denkverbote und keine für mich spürbaren Hierarchien. Wenn mein Vater mit dem Bischof sprach oder dem Superintendenten, nannten sie sich »Bruder« und meinten das ernst. Man vertraute einander, auch wenn es nicht immer gerechtfertigt war (wie mein Vater nach Einsicht in seine Stasi-Unterlagen später feststellte). Auch ohne das Wissen um die Ausmaße staatlicher Verfolgung wussten wir von ihr, als Familie und als Pfarrstelle. Ich wurde in der Schule systematisch ausgegrenzt, etwa wenn die Klassenfahrt als »Pionierreise« deklariert wurde, damit ich nicht mitkonnte. Das Signal an die anderen Kinder und Eltern war: Haltet euch fern von der Kirche, sonst habt ihr ebenfalls Nachteile. Wer das als Kind lernte, verhielt sich in der Regel auch so als Erwachsener. Das prägte die DDR-Kirche; wir waren nicht nur eine Religionsgemeinschaft, sondern eine verfolgte Religionsgemeinschaft. Welch eine Erlösung war die Wende! Sie versprach uns alle Freiheiten: physisch (keine Mauer mehr), intellektuell (denken und sagen, was man denkt), gesellschaftlich (Demokratie!) und persönlich (Abitur für ein unangepasstes Pfarrerskind, kurz zuvor undenkbar). Wir dachten, dass die Werte, die für uns so wichtig waren und die wir uns so hart erkämpft hatten, für die Menschen im Westen genauso wichtig wären und von diesen ebenso geschätzt würden wie von uns. Vielleicht studierte ich deshalb später Jura – die Lehre des Rechts und der Gerechtigkeit.

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Was wir nicht bedachten, war, dass sich die Westkirche ganz anders entwickelt und ein ganz anderes Selbstverständnis hatte. Sie wurde nicht vom Staat verfolgt, sondern von ihm geschätzt. Die zur Wende regierende Partei trug das »christlich« in ihrem Namen. Der jahrzehntelange tägliche Kampf um die Bewahrung von Werten hatte nur bei uns stattgefunden, nur uns so sehr geprägt. Nach der Wende hatten wir also ein gemeinsames Vokabular, aber ganz andere Vorstellungen davon, was »Kirche« ist. Durch die gemeinsame Sprache fiel das nicht so schnell auf. Jedenfalls erkläre ich mir so rückblickend, was in den letzten acht Jahren in meiner Kirche geschah. Ein Bischof, der aus dem Westen kam, und ein Superintendent, der aus dem Westen kam, und ein Westberliner Konsistorialpräsident mit seinem ganzen Apparat wickelten meine Kirche bei uns im ländlichen Osten nämlich weitgehend ab. In dem Bemühen um Strukturänderungen bedrängten sie Gemeinden, die ihre Freiheit hart erkämpft hatten, und schafften sich Personen vom Hals, die ihrem persönlichen Machtanspruch im Weg standen, unter anderem meinen Vater. Und daneben auch die Kirchengemeinden. Dabei wurde gelogen und denunziert, Macht missbraucht, in Privaträume eingebrochen, getäuscht und betrogen, der letzte Wille Sterbender ignoriert und Stillschweigen der Betroffenen eingefordert – ein echter Krimi. Nur ist es eben nicht mehr im Ansatz das, was ich als eine Kirche betrachte. Intrigen, Karriere- und Machtpolitik, das ist in meinen Augen eher eine Anti-Kirche. Deren Wirken, so wie ich es erlebt habe, möchte ich weder mit meinem Namen oder meiner Person noch mit Geld unterstützen. Im Gegenteil fühle ich mich aufgrund meiner christlichen Überzeugungen verpflichtet, dem Widerstand zu leisten. Deshalb bin ich im Zuge der hier geschilderten Vorgänge aus der Kirche ausgetreten und habe auch meine drei Kinder nicht taufen lassen. Die Werte, die ich ihnen vermitteln möchte, finden sie dort nämlich nicht. Eine tiefere Erosion der Werte einer Religionsgemeinschaft als diese, dass ihre eigenen Kinder sich von ihr aus Überzeugung abwenden, kann ich mir nicht vorstellen. Nachstehend schildere ich die Vorgänge um die kirchenamtliche Abwicklung meiner ehemaligen Kirchengemeinde Manker-Temnitztal anhand unzähliger Gespräche und ebenso unzähliger Seiten von Prozess-

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und Verfahrensakten. Alles ist belegt, und ich bemühe mich um eine möglichst neutrale Darstellung, obwohl es bei dem betroffenen Pfarrer um meinen Vater geht. Anschließend leite ich aus den Geschehnissen Vorschläge für eine Reformation an Haupt und Gliedern ab, die in meinen Augen notwendig ist, um die Kirche wieder auf einen »evangelischen Grund« zu stellen.

A) Vorlauf, Hintergründe und Wege zum Eklat 1 Allgemeine ideologische Vorbereitung Mit den Papieren »Kirche der Freiheit« (EKD, 2006) und »Salz der Erde« (EKBO, 2007) begannen Kirchenleitung und Konsistorium, im Kirchenkreis Wittstock-Ruppin ein »Reformmodell« der Landeskirche zu installieren. Trotz zunächst widersprüchlicher Erklärungen wurde im Lauf der Zeit immer deutlicher, dass eine strukturelle und essenzielle Umgestaltung vor allem der »Kirche auf dem Lande« erprobt werden sollte, von der man sich eine Leitbildfunktion in der ganzen EKBO und eventuell sogar darüber hinaus auch in weiten Bereichen der EKD erhoffte. Zur Erarbeitung des Papiers »Salz der Erde« wurde eine zwölfköpfige »Perspektivkommission der EKBO« unter Hinzuziehung von acht mitarbeitenden Gästen unter Leitung des damaligen Bischofs einberufen. Fünf der insgesamt 20 Personen dieser Kommission, also ein Viertel der Kommissionsbeteiligten, wurden später persönlich im Kirchenkreis Wittstock-Ruppin bei der Einführung und Umsetzung aktiv, namentlich der Bischof selbst, die Pröpstin, der damalige Superintendent, ein nach Rheinsberg geholter ehemaliger Berliner Superintendent i.R. zwecks Pfarrdienst in Rheinsberg und ein Dozent. Vermutlich hat man deswegen den damaligen Superintendenten von Wittstock-Ruppin in die Kommission berufen und dessen ländlichen Kirchenkreis zur Erprobung ausgewählt, weil man sich von Landgemeinden und ihrem Personal weniger Widerstand gegen eine grundsätzliche strukturelle Umgestaltung erwartete als von Großstadtgemeinden. Diese haben oftmals juristisch oder verwaltungsrechtlich sachkundige Kirchenälteste, die über eigene Angelegenheiten und Rechte besser in der

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Lage sind zu wachen als die Menschen in den Dörfern, Kirchenräten und der Kreissynode. 2007 wurden die Gemeindekirchenräte neu gewählt. Der durch die Kreissynode neu besetzte Kreiskirchenrat Wittstock-Ruppin enthielt kein reformkritisches Mitglied mehr, das die zahlreich vorhandenen, widersprechenden Kirchengemeinden hätte vertreten können. Ausscheidende langjährige Mitglieder wurden auf Vorschlag des Superintendenten durch ihm passende neue Köpfe ersetzt. Die ersten Versprechungen im Kirchenkreis für die hauptamtlich Mitarbeitenden gingen dahin, dass eine grundsätzlich neue Arbeitsstruktur zu einer deutlichen Entlastung aller Mitarbeiter, zu einer notwendigen Geldeinsparung und zu der Möglichkeit, die jeweils vorhandenen persönlichen Fähigkeiten und Begabungen in den Arbeitsalltag einbringen zu können, führen würde. Es ginge, so wurde alle möglichen Bedenken zerstreuend immer wieder argumentiert, um die »Erprobung« zukunftsfähigerer Strukturen für die Kirche und die Kirchengemeinden im Kirchenkreis. Dazu sollten ausdrücklich gehören, Dinge, die sich auf dem Weg der Reform und Umgestaltung bewähren würden, festzuhalten, und Untaugliches wieder und immer wieder zu verändern. Es war ein Versprechen auf die eigene Erprobung neuer Wege im Kirchenkreis. Nirgends wurde darauf abgestellt, dass es sich letztlich um fremde Vorgaben handeln würde. In ihren Grundzügen und als »Chefsache« des Bischofs waren sie jedoch vermutlich längst geplant. Nun sollten sie unter Leitung des hierfür ausgesuchten Superintendenten im Kirchenkreis ausprobiert werden. Kollateralfragen durften ausführlich diskutiert, »die Substanz« des Modells jedoch – vgl. später – auf keinen Fall infrage gestellt werden. Die Unterscheidung zwischen substanziellen und nebensächlichen Fragen der Reform stand von vornherein für die hierfür Verantwortlichen fest und wurde kompromisslos vorgegeben, wie der spätere Gang der Dinge zeigte.

2 Vorbereitungen zur Einführung des »Reformmodells« Bereits zu Beginn in 2006/2007 zeigten sich erste Widerstände von insgesamt 20 Kirchengemeinden aus Papenbruch, Blandikow und Liebenthal

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des Pfarrsprengels Papenbruch sowie der Kirchengemeinde Zechliner Land in Dorf Zechlin, Flecken Zechlin, Großzerlang, Kagar, Kleinzerlang, Wallitz, Zechlinerhütte und Zempow. Die Kirchenältesten dieser Gemeinden äußerten früh ihre Bedenken gegen die geplante Bildung von fünf »Gesamtgemeinden« im Kirchenkreis. Diese, so wurde vorgeschlagen, sollten die Qualität einer »Körperschaft öffentlichen Rechts« anstelle der bisherigen Kirchengemeinden durch den ihnen nahe gelegten Verzicht auf die bisherige innerkirchliche Selbstständigkeit als Körperschaft erhalten. Sie verwiesen darauf, dass ihre Gemeinden und Pfarrsprengel in der Fläche schon sehr ausgedehnt seien und sie auch Wert darauf legten, die eigenen Rechte zu behalten und sie nicht an ein Gebilde wie »Gesamtgemeinde« abzutreten. Beide Pfarrer dieser Gemeinden brachten die Positionen ihrer Kirchenräte in den Kirchenkreis ein, woraufhin es zu belastenden und die Pfarrpersonen sowie die ganze Pfarrfamilie bedrückenden Reaktionen aus der Kirchenkreisleitung kam. So forderte der Superintendent gemeinsam mit der konsistorialen Personalreferentin vom Pfarrer der Kirchengemeinde Zechliner Land in einem hierzu anberaumten Dienstgespräch eine schriftliche Erklärung seiner Zustimmung zu dem beabsichtigten Reformmodell im Kirchenkreis und stellte ihm seine kirchenamtliche Umsetzung innerhalb der Landeskirche in Aussicht, sollte dieser nicht dem Erfordernis Genüge tun. Im Konvent wurde später über die Leistung dieser Unterschrift berichtet. Dem Pfarrer und den Ältesten des Sprengels Papenbruch wurde ein sogenannter »Kompromissvorschlag« des Superintendenten während der Kreissynodaltagung im Mai 2007 unterbreitet. Mitglieder des Kreiskirchenrates wunderten sich, dass dieser nicht im Kreiskirchenrat abgestimmt worden war. Er sah enorme, in der Höhe von den Gemeinden des Sprengels an den Kirchenkreis nicht erbringbare Finanzleistungen zur Abgeltung ihrer Selbstständigkeit vor. Allgemein wurde schnell klar, dass es sich hierbei nicht um einen »echten« Kompromissvorschlag handelte, sondern um die Erhöhung des Druckes auf die Kirchengemeinden durch den Superintendenten, die auf den kirchenamtlich vorgesehenen Reformweg nicht einschwenken wollten.

Die Mitarbeiter des Kirchenkreises waren schon früher zu einem »Mitarbeiterkonvent« zusammengeschlossen worden. Geäußerte und nachvollziehbare Bedenken, dass damit die authentischen Stimmen der verschiedenen Berufsgruppen im Kirchenkreis, nämlich Pfarrern, Katecheten und Kantoren, konventual vermischt und damit eventuell auch verloren gehen würden, blieben unbeachtet. Ab 2006 wurden vom Superintendenten die regelmäßig hierzu anberaumten mehrtägigen Kon-

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ventsrüsten und die monatlichen Konvente zur systematischen »Schulung« der Hauptamtlichen in Sachen Reform im Kirchenkreis genutzt. Ein mit ihm befreundeter und aus der Kreiskirchenkasse nach aufgewendeten Stunden bezahlter hessischer Gesprächsleiter moderierte von Anfang bis Ende die Konventsrüsten und zeigte sich ebenfalls immer wieder bei hierzu anberaumten Arbeitstreffen im Kirchenkreis. Geld spielte keine Rolle. Parallel wurden die konsistorialen Juristen systematisch eingebunden und arbeiteten dem Superintendenten für sein Vorhaben im Kirchenkreis zu. Bald galt alle Fortschrittsgläubigkeit in Sachen Reformmodell für den Kirchenkreis als modern. Im Gegensatz hierzu sah man die herkömmlichen Strukturen selbstständiger Dorfgemeinden als veraltet und insofern obsolet.

3 Ideologie des Fortschritts: die Stärkung der »mittleren Ebene« Der Begründungshorizont des Wittstock-Ruppiner Reformmodells passte hervorragend zu einem größeren Kontext. Schon Jahre zuvor hatte man begonnen, darüber nachzudenken, wie die landeskirchliche Ebene von Aufgaben entlastet werden kann. Düstere Finanzprognosen, die einen deutlichen Kirchensteuereinbruch und damit zu erwartende Finanznöte der Kirche vorhersagten, dienten als Katalysator. Immer wieder wurde – zwar zu Unrecht, aber jahrelang im Kirchenkreis und auch in der Landessynode – betont, dass die Wittstock-Ruppiner Reform auch notwendig sei, um den deutlich abnehmenden Finanzierungsmöglichkeiten kirchlicher Arbeit zukünftig besser gerecht werden zu können. Man müsse heute sparen, um morgen zurechtzukommen! Dieses Argument stimmte nachweislich zu keinem Zeitpunkt. Zum einen stiegen nämlich die Einnahmen der Kirchen in Deutschland in den letzten Jahren signifikant von Jahr zu Jahr um mehrstellige Millionenbeträge, da die Arbeitslosigkeit mehr und mehr ab- und damit auch die Kirchensteuereinnahmen deutlich zunahmen. Zum anderen konnte man längst in den nun über mehrere Jahre vorliegenden kreiskirchlichen Haushalten und deren Rechnungslegungen des Kirchenkreises Wittstock-Ruppin nachlesen, dass das »Reformmodell« tatsächlich keine Einspareffekte freisetzte, sondern Gelder lediglich von den Gemeinden zugunsten des Kirchenkreises planmäßig umverteilt wurden. Inzwischen

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wurden nach und nach die enormen Mehrausgaben in bestimmten Ausgabetiteln bekannt, z.B. im Bereich der digitalisierten Kommunikation aller Mitarbeitenden oder bei den unvergleichlich angehäuften Fahrtkosten der Hauptamtlichen. Hatte noch der inzwischen neu gewählte Bischof im Jahre 2013, zuvor Superintendent in Koblenz, die Einsparnotwendigkeit als Argument für das Modell in Wittstock-Ruppin im Nachbarkirchenkreis Kyritz-Wusterhausen ins Feld geführt, verstummten die Stimmen kirchenleitender Personen mehr und mehr in dieser Sache. Auch dort war inzwischen angekommen, dass Wittstock-Ruppin nachweislich keine Spareffekte erzielen konnte. Absichtsvoll ging es nun um die Stärkung der »mittleren Ebene«. Man wollte landeskirchenweit eine deutliche Straffung der Administration durch Delegation von bisher zentralen Aufgaben an die Kirchenkreise und regionalen Verwaltungsämter, denen auch mehr und mehr aufsichtliche Funktionen über die Gemeinden zugeordnet wurden. Das Reformmodell Wittstock-Ruppin zielte auf eine deutliche Verringerung von Kirchengemeinden als juristische Körperschaften. Von ca. ursprünglich 50 Gemeinden im Kirchenkreis sollten am Ende noch fünf »Gesamtgemeinden« verbleiben. Um den Prozess von Fusionen in Gang zu setzen und zu ihm zu motivieren, schuf man eine Art »Fusionsprämie«, die zusätzliche finanzielle Auskehrungen für die fusionswilligen Gemeinden in Aussicht stellte. Der entscheidende Punkt in Sachen »Stärkung der mittleren Ebene« war in Wittstock-Ruppin die in der »Strukturanpassungs- und Erprobungs-Verordnung« (STREP) der Kirchenleitung vorgesehene Verlagerung des grundordnungsgemäßen Rechtes der Kirchengemeinden in Sachen Pfarrstellenbesetzung auf den Kreiskirchenrat. Hierbei handelt es sich um ein Element der Machtpolitik, welches nicht auf Anhieb von den Betroffenen so verstanden wurde, sich retrospektiv aber sehr deutlich abzeichnet. Jedenfalls sollte mit der STREP der Kirchenkreis die Pfarrstellenbesetzung bestimmen, bislang eine Aufgabe der jeweiligen Gemeindeleitung. Insoweit sollte der Kirchenkreis selbst als eine große Gemeinde verstanden werden. Am 31. August 2007 wurde die STREP von der Kirchenlei-

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tung beschlossen. Vorgesehen wurden »Anhörungen« der Kirchengemeinden. Ihnen wurde eine Selbstauflösung als eigene Körperschaft durch Fusion zu den fünf im Kirchenkreis sogenannten »Gesamtgemeinden« nahegelegt. Diese sollten sich aus den bisher selbstständigen Gemeinden, die verschleiernd als jeweilige »Ortskirchengemeinde« bezeichnet wurden, bilden. Auf diesem Wege wurden die Kreissynodalen vermutlich absichtlich getäuscht, die die Rechtsfolgen nicht erfassten. Andernfalls hätten sie niemals der Auflösung »ihrer« Kirchengemeinden zugestimmt. Die falsche Bezeichnung als »Ortskirchengemeinden« führte die Synodalen in die Irre und ließ sie glauben, »ihre« Kirchengemeinden bestünden weiterhin. Diese durch die Kirchenleitung erlassene STREP hätte jedoch auch eine Zwangsfusionierung der widersprechenden Kirchengemeinden im Pfarrsprengel Papenbruch und der im Zechliner Land gegen deren erklärten Willen bedeutet.

4 Das schnelle kirchengerichtliche Scheitern dieser STREP verhinderte die flächendeckende Einführung des Reformmodells Am 1. Januar 2008 sollte die STREP – und damit die neue Struktur im Kirchenkreis – planmäßig in Kraft treten. Die von einer Zwangsfusion bedrohten Gemeinden des Pfarrsprengels Papenbruch und im Zechliner Land reichten in den letzten Tagen ihrer noch vorhandenen Selbstständigkeit Klage vor dem Kirchlichen Verwaltungsgericht ein. Ab 1. Januar 2008 hätten sie das nach Aberkennung ihrer Körperschaftsrechte nicht mehr tun können. Das Gerichtsurteil vom Juni 2008 schlug wie eine Bombe ein: Die erlassene STREP wurde annulliert mit der Begründung, dass es keine gesetzliche Grundlage dafür gibt, durch Kirchenleitungsbeschluss Gemeinden gegen ihren Willen zu fusionieren. Damit wurde eine Neuorientierung von Kirchenleitung, Konsistorium und Kreiskirchenrat notwendig. Die Juristen empfahlen ein »Erprobungsgesetz für den Evangelischen Kirchenkreis Wittstock-Ruppin«, das durch Beschluss der Landessynode im Jahre 2009 »Rechtssicherheit« schaffen sollte. In Wirklichkeit ging es dabei jedoch um die Rettung des nach dem Gerichtsverfahren nur noch in Resten übrig gebliebenen »Reformmodells« in drei von fünf Regionen des Kirchenkreises und der dort inzwischen installierten Gremien. Die drei Gesamtgemeinden bestanden

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nun aus den in ihnen fusionierten Kirchengemeinden, eine Zwangsfusionierung der selbstständig gebliebenen Gemeinden in den zwei Regionen unterblieb, und der Ausschluss des Verwaltungsrechtsweges wurde sichergestellt.

5 Gremien der »Gesamtgemeinde Temnitz« meldeten sich zu Wort Die »Gesamtgemeinde Temnitz« war zum 1. Januar 2008 als eine der drei Gesamtgemeinden im Kirchenkreis durch Fusion von bis dahin drei selbstständigen Pfarrsprengeln in 19 Dörfern entstanden. Zu ihr gehörte der Pfarrsprengel Manker-Temnitztal in den Dörfern Manker, Garz, Küdow-Lüchfeld, Vichel und Rohrlack. Jahre zuvor hatten sich diese Dörfer schon zu der »Kirchengemeinde Manker-Temnitztal« zusammengeschlossen und ihren Gemeindekirchenrat gemeinsam gewählt. Alsbald nach dem 1. Januar 2008 zeigte sich Klärungsbedarf zu vollkommen unklaren Kompetenzabgrenzungen zwischen Ortsgemeindekirchenrat (Orts-GKR) und Gesamtgemeindekirchenräten (GesamtGKR). Wofür sollten die noch 2007 direkt gewählten fünf Orts-GKR in der Gesamtgemeinde, wofür der nun indirekt durch Delegation je eines Mitgliedes der Ortskirchenräte gebildete »Gesamtkirchenrat Temnitz« zuständig sein? Diese und andere Unklarheiten führten zu einer ersten Einbringung von »strukturellen« Bedenken der Gesamtgemeinde Temnitz in die Kreissynode im November 2008 mit Antrag auf und Vorschlägen zu einer umgehenden Klärung.

6 Alter Wein in neuen Schläuchen – Erprobungsgesetz/Satzung statt STREP Der Kreiskirchenrat legte im Januar 2009 einen Entwurf zur rechtlichen Neuregelung der Verhältnisse vor: Die Landessynode könnte mit einem »Erprobungsgesetz« eine rechtliche Grundlage schaffen, auf deren Basis die Kreissynode eine regelnde Satzung erlässt. Die Gesamtgemeinden wurden gebeten, auf der Grundlage der vorgelegten Entwürfe zu diskutieren und zu votieren.

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Die Gesamtgemeindevertretung und der Gesamt-GKR Temnitz beauftragten als hierfür zuständige Gremien der Gesamtgemeinde Temnitz im Februar 2009 einen im Kirchenrecht sachkundigen Rechtsanwalt, ihre Stellungnahme zum Entwurf abzugeben. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes schien notwendig, da juristisches Fach- und Hintergrundwissen aufseiten von Kirchenleitung, Konsistorium und dem von dort beratenen Kreiskirchenrat durchgehend vorhanden, aber in den Gremien der Gesamtgemeinde nicht gewährleistet war. Die Materie an sich war zu kompliziert und die andere Seite voll positioniert, um ohne juristische Kenntnisse beraten zu können und die Angelegenheit zu beurteilen. Man wollte einfach nicht Gefahr laufen, die Gemeindeinteressen außen vor zu lassen. Im Ergebnis der Überlegungen stellten die Gremien der Gesamtgemeinde Temnitz das Reformmodell nicht grundsätzlich infrage. Sie beantragten jedoch einerseits die als dringlich angesehene Kompetenzbeschreibung und -abgrenzung der Orts-GKR mit dem Gesamt-GKR. Andererseits wurde beantragt, bei Pfarrstellenbesetzungen nicht wie vorgesehen die jeweiligen Gremien der Gemeinden zu konsultieren. Vielmehr sollte deren Einwilligung einzuholen sein, so dass das Besetzungsrecht der Gemeinden für ihre Stellen erhalten bleiben würde. Leitend war dabei, dass nicht gegen den Willen einer Gemeinde und ihrer Gremien auf dem Wege eines Kreiskirchenratsbeschlusses Stellenneu- oder -umsetzungen vorgenommen werden sollten. Genau dies jedoch war vorgesehen, und der Superintendent äußerte noch während der Kreissynodaltagung, dieser Antrag der Gremien der Gesamtgemeinde Temnitz ginge »an die Substanz der vorgesehenen Reform«. Aber was war ursprünglich immer betont und versprochen worden? Ein Weg des Probierens und Korrigierens im Kirchenkreis unter Beteiligung aller, nicht ein Wächteramt des Superintendenten über eine offensichtlich von ihm und anderen von Anfang an vorgegebene »Substanz der Reform«. Spätestens hier wurde ein tiefer Zwiespalt zwischen seinem Reden und seinem tatsächlichen Ziel und Tun deutlich.

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B) Der Zweck heiligt nicht die Mittel – Methodenlexikon dieser »Reform« 7 Personalpolitik des Superintendenten mit Rückhalt von Bischof und Konsistorium Zuerst hatten die Pfarrsprengel Papenbruch und Zechliner Land ihre Selbstständigkeit durch das Kirchengericht erstreiten können, nun meldete auch die Gesamtkirchengemeinde Temnitz eigene Vorstellungen an. Würde nun mit der Gesamtgemeinde Temnitz ein Drittel der drei Fünftel der Regionen und Gemeinden, die sich auf die Reform eingelassen hatten, herausbrechen und damit die Mehrheit für die Reform in Kirchenkreis und Kreissynode eindeutig verloren gehen? Das müssen die Sorgen gewesen sein, die den Superintendenten nach geeigneten Methoden suchen ließen, um die Reform und damit auch seinen Ruf in Konsistorium und Kirchenleitung zu retten. Ein persönlicher Karriereknick sollte das Projekt doch vermutlich auch nicht werden. Dabei übersah er, dass die Anträge der Gremien der Gesamtgemeinde Temnitz mit keinem Wort die Reform an sich infrage stellten, sondern lediglich auf die Aussage vertraut hatten, gemeinsam nach dem Besten suchen zu wollen. Die Neuwahl zum Kreiskirchenrat zu Beginn des Jahres 2008 hatte – darauf hatte der Superintendent geachtet – zu einer klaren Positionierung der Reformbefürworter im Kreiskirchenrat geführt. Ab der Einbringung der Anträge der Gesamtgemeinde Temnitz im März 2009 begann er mit heimlichen Gesprächen, die er schließlich in vier von fünf Ortskirchenräten der Gesamtgemeinde Temnitz führte. Zunächst leugnete er das öffentlich. Etwas später gab er es, durch eine intensive Recherche der Lokalpresse überführt, zu. Das Ziel der Gespräche war, die Kirchenältesten zum Austausch der Gesamtgemeindeleitung zu bewegen. Da er die klare Haltung des Gesamt-GKR und des Orts-GKR von Manker-Temnitztal kannte, ließ er diese beiden Kirchenräte unbeachtet und ging heimlich nur bei den anderen »von unten« vor.

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In einem von den insgesamt vier, nämlich im Dabergotzer Orts-GKR, fiel sein Bemühen auf guten Boden. Der Lauf der Ereignisse lässt vermuten, dass er dort über die Möglichkeit einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Pfarrstelleninhaber informiert oder eine solche womöglich sogar empfohlen hat. Vermutlich stellte er schon dort in Aussicht, damit die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den zuständigen Pfarrer der Gesamtgemeinde Temnitz zu beantragen. Dazu instrumentalisierte er in der Ortsgemeinde strittige und zweifelhafte Vermögensfragen, nämlich die Einholung von jahrelang ausstehenden Pachtzahlungen für Kirchenland, die der Gesamtkirchenrat zwischenzeitlich unter Leitung seines nicht hauptamtlich beschäftigten Vorsitzenden rechtskonform und zugunsten des kirchlichen Vermögens der Kirchengemeinde geklärt hatte. Jedenfalls fand der Pfarrer einige Tage später eine kommentarlose, handschriftlich angefertigte »Dienstaufsichtsbeschwerde« dieses Gemeindekirchenrats in seinem Briefkasten vor. Die in ihr genannten Begründungen erschienen schon auf den ersten Blick als falsche Vorwürfe mit jedoch klarer Zielstellung. Der Superintendent schrieb später in seiner vom Konsistorium angeforderten Stellungnahme zu dem Vorgang, sein Vertrauen zu diesem Pfarrer sei zerstört, und er könne sich nicht vorstellen, dass dieser weiterhin in der Gesamtgemeinde Temnitz, im Kirchenkreis bzw. in der Landessynode noch eine Rolle spielen sollte. Diese dem Pfarrer erst im Verlaufe des Verfahrens gegen ihn und viel später anlässlich einer Akteneinsicht bekannt gewordene Einschätzung des Superintendenten ließ sich als dessen Handlungsempfehlung an das Konsistorium verstehen. Im Oktober 2008 beschloss das Kollegium des Konsistoriums entspr. dem Antrag des Superintendenten, ein Disziplinarverfahren gegen den Pfarrer einzuleiten. Erst im Mai 2011 wurde es eingestellt mit dem Bescheid, es gäbe nach Untersuchung der erhobenen Vorwürfe keine disziplinarrechtlich zu ahndenden Dienstvergehen. Gut zweieinhalb Jahre lang diente ein stillstehendes Verfahren als kirchenamtliches Damoklesschwert. Dessen Rechtmäßigkeit, zumindest was diese erstaunlich lange »Bearbeitungszeit« betrifft, ist bis heute nicht nachgewiesen.

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Zu einem Personalgespräch von der Personalreferentin ins Konsistorium geladen, eröffnete diese entsprechend einer vorliegenden Schilderung des einbestellten Pfarrers ein »Gespräch« mit der Frage, ob der Vorgeladene wisse, dass das Konsistorium ihn ohne Weiteres und jederzeit in den Wartestand versetzen könne. Von der auch anwesenden Pröpstin, die er um Auskunft bat, worum es in diesem »Gespräch« denn gehen würde, erhielt er die Auskunft, sie kenne auch keine genauen Vorwürfe, aber man könne ja in den Akten nachschauen. Kurze Zeit später wurde der Pfarrer vom Bischof vorgeladen. Er berichtete dem Gesamt-GKR Temnitz anschließend, dass dieser ihm eine Pfarrstelle in einer Berliner Kirchengemeinde nach eigener Wahl angeboten habe. »Sie wissen, dass wir gute Leute in Berlin brauchen. Die Personalreferentin hat eine Liste vorbereitet, Sie können sich daraus eine Berliner Pfarrstelle aussuchen.« Der Pfarrer erklärte, dass er auf seinem jetzigen Posten bleiben wolle. Er verwies auf sein langjähriges Engagement in der Landessynode, dessen Finanzausschuss, dem Theologischen Prüfungsamt und der Ev. Schule Neuruppin, alles Aufgaben, die er auch weiterhin wahrnehmen wollte. Sichtbar verärgert habe der Bischof ihn dann verabschiedet und dabei geäußert, »dies dann auf dem Verwaltungsweg« regeln zu wollen. Sodann begann ein »Verwaltungsrechtsweg«, welcher zum Ziel hatte, den Pfarrer im Zwangsweg auf eine andere Stelle oder bei gekürzten Bezügen in den Ruhestand zu versetzen. Damit das möglich ist, bedurfte es eines Grundes. Ein solcher lag aber nicht vor. Deshalb wurde versucht, Gründe zu schaffen. Mit erheblichem personellem und zeitlichem Aufwand und teils krimineller Energie begannen die Verantwortlichen, den Pfarrer zu diskreditieren, um ihm sodann »Ungedeihlichkeit« vorwerfen zu können – ein Versetzungsgrund. Jegliches Wehren des Pfarrers gegen die Verleumdungen wurde ihm als Ungehorsam gegen seine Vorgesetzten ausgelegt, eine erneute Ungedeihlichkeit. Da es für einen Pfarrer keinen anderen Arbeitgeber gibt, war er dem – von der Öffentlichkeitsarbeit seiner empörten Gemeindemitglieder abgesehen – schutzlos ausgeliefert.

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8.–10. Für die Schilderung der nächsten drei Jahre beschränken wir uns aus Platzgründen auf einen sehr kursorischen Überblick.1 Am 17. Juni 2009 kamen Bischof und Personalreferentin nach Temnitz und hielten eine Sitzung ab, auf der Probleme des Pfarrers mit seiner Gemeinde geklärt werden sollten, die der Gemeinde nicht bekannt waren. Die vom Bischof geleitete Sitzung entgleiste. Schockierte anschließende Briefe von Gemeindemitgliedern blieben wirkungslos. Mehrere bis dahin in den vier Ortskirchenräten aktive Kirchenälteste legten darauf ihr Amt unter Protest nieder. Sie wollten für die Vorgänge nicht verantwortlich sein. Der Gemeindepädagoge wechselte in die Krankenhausseelsorge, um ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn abzuwenden. Gegen den Pfarrer, der seine Kirche nicht wiedererkannte, wurde im August 2009 ein Amtsenthebungsverfahren mit sofortiger Beurlaubung vom Gemeindedienst in Gang gesetzt. Sodann besetzte die Kirchenleitung den Gesamt-GKR Temnitz mit hierfür vorbereitetem Personal neu. Sie setzte »heimatloses« Pfarrpersonal aus dem Kirchenkreis sowie zwei Entsendungsdienstler anstelle der Hauptamtlichen ein. Der Superintendent führte persönliche Angriffe und öffentliche Verleumdungen in der Presse gegen den Pfarrer, der Bischof unterrichtete die Landessynode falsch und das Konsistorium flankierte das mit einer Dienstanweisung nach der anderen. So wurde das Streben nach uneingeschränkten Machtverhältnissen im Kirchenkreis öffentlich und intern umadressiert zu einem »Fall Scheidacker«. Der Pfarrverein fasste eine spätere Untersuchung zu den Vorgängen wie folgt zusammen: »Im Fall Scheidacker sind die Kirchenleitung und die Synode falsch informiert worden, … In den Anschuldigungen wird vielmehr ein Leitungsversagen erkennbar.« Erst ein Gerichtsverfahren stoppte das Vorgehen vorläufig. Das kirchliche Verwaltungsgericht hob im Oktober 2010 die Amtsenthebung wegen 1 Der Manuskripttext kann in voller Länge im Internet nachgelesen werden: http://www.manker-temnitztal.de.

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Rechtswidrigkeit auf. Daraufhin schlossen die Beteiligten »Vereinbarungen zum Frieden« mit der Kirchengemeinde Manker-Temnitztal und dem Pfarrer, der »zuständiger Geistlicher in Manker-Temnitztal« bleiben sollte und zum 1. Februar 2011 die Pfarrstelle Segeletz im angrenzenden Kirchenkreis Kyritz-Wusterhausen übernahm. An diese Vereinbarungen hielt sich die Kirchenleitung jedoch nicht. Dem Pfarrer wurde die weitere Teilnahme an kirchlichen Gremien untersagt, es wurden Pläne zu seiner Psychiatrisierung diskutiert (die man nach Bekanntwerden fallen ließ) und schließlich wurden Kirchen gegen den Willen ihrer Gemeinde mit Schlössern und Bolzen verriegelt, um Gottesdienste zu blockieren, namentlich eine Taufe. Als diese trotzdem stattfand, gab es einen polizeilichen Blaulichteinsatz wegen Hausfriedensbruchs, im Beisein der bestürzten Tauffamilie.

10 Familien und deren Verstorbene in Geiselhaft oder: Gibt es keine Verantwortung von Theologie, Glaube und Seelsorge mehr? Der Gesamt-GKR sprach kurze Zeit später für den Pfarrer ein »Hausverbot« für alle kirchlichen Gebäude der Gesamtkirchengemeinde aus. Die Personalreferentin flankierte dieses mit einer erneuten konsistorialen Dienstanweisung im März 2013, die das Hausverbot dienstrechtlich absicherte. Man war sich einig geworden, wie man die vom Bischof früher angekündigte Regelung »auf dem Verwaltungsweg« zum Ziel führen und letzte, gerade erst vertraglich fest zugesagte pastorale Zuständigkeiten des Pfarrers beseitigen wollte: durch das Hausverbot. In dem Beschluss des Verwaltungsgerichtes der EKBO vom 5. Juni 2013, das in der Sache vom Pfarrer gegen das ausgesprochene Hausverbot angerufen wurde, heißt es explizit: Von diesem seien ausgenommen »Bestattungen im Interesse der Hinterbliebenen … alle Amtshandlungen auf Friedhöfen und Friedhofskapellen«. Die langjährige Küsterin, Katechetin und Organistin in Garz bat im Frühjahr 2013 über den Krankenhausseelsorger zweimal um einen Besuch ihres langjährigen Pfarrers im Klinikum Neuruppin, um »letzte

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Dinge« mit ihm zu besprechen. Sie informierte ihn darüber, dass sie mit ihrem baldigen Ableben rechne und von ihm in Garz neben ihrem Mann bestattet werden wolle. Sie äußerte die Sorge, dass dies lt. Vermeldungen der Lokalpresse verhindert werden könne. Der Pfarrer tröstete und beruhigte sie und sagte ihr die Ausführung ihres letzten Willens zu. Erst Wochen nach deren Ableben erfuhr er von ihrem Tod. Das Büro der Gesamtgemeinde hatte ihn nicht informiert, und Angehörige waren nicht mehr vorhanden. Im Herbst 2013 verstarb die langjährige Küsterin und zugleich Kirchenälteste von Lüchfeld. Ihr Pfarrer hatte sie jahrelang nach einem Schlaganfall, der sie ans Bett fesselte, besucht. Sie bat ihn immer wieder um eine Beisetzung durch ihn, die er zusagte. Als ihr Tod eintrat, erklärte der Vorsitzende des Gesamtkirchenrates, eine Trauerandacht mit diesem Pfarrer in der Kirche sei nicht möglich, da er Hausverbot habe. Die Angehörigen nahmen traurig Abstand vom letzten Willen der Mutter. Im Frühjahr 2015 verstarb eine »gute Seele« des Küdow-Lüchfelder bis 2011 sich treffenden Frauenkreises der Kirchengemeinde. Rechts neben dem Pfarrer in eingespielter Sitzordnung bat sie immer wieder, er möge sie im Falle ihres Ablebens beerdigen. Er sagte zu. Als sie starb, mühte sich die gesamte Familie um die Ausführung dieses letzten Willens, und nahm – resigniert mit der Auskunft, »es führe da wohl bei den Kirchenleuten kein Weg rein« – davon Abstand. Am 3. Oktober 2015 verstarb ein ehemals Vicheler Gemeindeglied. Sie und ihren Mann hatte der Pfarrer nach deren Zuzug aus Hamburg seit 1993 nach Vichel seelsorgerlich begleitet. Gezeichnet von einer schweren Hüftkrankheit, blieb sie in den letzten Jahren an ihr Bett gefesselt. Schon 2013 hatten sie und ihr Mann bei dem Bestattungsinstitut ihren Beerdigungswunsch bez. des Pfarrers handschriftlich als Vermächtnis hinterlegt. Als sie verstarb, wurde erneut seitens der Vertreterin der Gesamtgemeinde erklärt, dies ginge nicht, das Hausverbot gelte weiter. Der Pfarrer könne ja die Trauerandacht in seinem Sprengel halten und die Pfarrerin der Gesamtgemeinde Temnitz würde dann »den Rest« auf dem Friedhof in Vichel erledigen. Der schon längere Zeit amtsgerichtlich bestellte Pflegebevollmächtigte des Ehepaares bestand jedoch auf der Ausführung des erklärten Willens der Verstorbenen. Die Personalreferentin

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schickte eine »Erinnerung an die Dienstanweisung vom März 2013« an den Pfarrer, in der er aufgefordert wurde, die Amtshandlung abzutreten. Der Bevollmächtigte, der Bestatter, der Ehemann und der Pfarrer ließen sich nicht abhalten und hielten die Trauerandacht am offenen Grabe. Sie entsprachen so dem Willen der Verstorbenen. Auch ein Hinweis auf die kirchengerichtlich bestätigte Regelung bei Bestattungen beeindruckte bei letzterem Vorgang die Gesamtkirchengemeinde und das Konsistorium nicht. Man kann fragen, was Gerichtsurteile dann wert sind. In meinen Augen als Anwalt ist das kein Recht, sondern nur die Fassade von Recht in ansonsten rechtsfreiem Raum. Ungewohnte Willkür bei fehlender Gewaltenteilung. Die inzwischen mehrfach ans Tageslicht getretene systematische Ignoranz in Bezug auf den eindeutig hinterlassenen »Letzten Willen« von Verstorbenen in Manker-Temnitztal erschreckt mich. Sie ist eine Missachtung aller seelsorgerlich-pastoralen Aufgaben eines Geistlichen. Dessen Einsatz wird als Politik, nicht als seelsorgerliche Einlösung pastoraler Zusagen an langjährig betreute Gemeindeglieder verstanden. Die »Geiselnahme« verstorbener Gemeindeglieder mit deren Familien über die Verweigerung der Kirchengebäude für Trauerandachten mit dem Pfarrer ihrer Wahl ist kein Ausdruck einer Kirche auf dem Weg in die Zukunft, sondern ein Zeichen ihres inneren Zerfalls. Die »Kirche der Freiheit« verkehrt sich hierbei zu einem Institut autokratischer Herrschaft über Lebende und Tote. Es kam – wie schon im Februar 2012 zwischen Superintendent und Personalreferentin vereinbart – zu einem zweiten Disziplinarverfahren. Im Oktober 2013, genau fünf Jahre nach der Einleitung des ersten Disziplinarverfahrens, erhob der von der Landessynode inzwischen abgewählte Konsistorialpräsident gegen den Pfarrer Disziplinarklage und beantragte bei der Disziplinarkammer der EKD dessen Amtsenthebung und Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand. Als der Gerichtstermin näher rückte, teilten die Gemeindekirchenräte aus seinem Pfarrbereich Segeletz sowie der Kreiskirchenrat Kyritz-Wusterhausen dem Disziplinargericht und dem Konsistorium mit, dass sie kein Verständnis für dieses Vorgehen gegen ihren Pfarrer haben. Er sei zu diesem Zeitpunkt dort schon mehrere Jahre tätig, und man solle von dem Verfahren Abstand nehmen.

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Die Kammer verhandelte im Juni 2015 in Hannover. Sie lehnte die vom Konsistorium beantragte Disziplinarstrafe eindeutig ab und schloss das Verfahren ohne Beweisaufnahme einvernehmlich durch einen dringenden Vorschlag des Gerichtes. In der mündlichen Verhandlung wurden die Vertreter des Konsistoriums vom Vorsitzenden daran erinnert, sich gelegentlich zu fragen, ob ihr Vorgehen mit den Grundsätzen christlicher Überzeugung und Handlungsweise noch in Einklang steht. Der Ausgang des Verfahrens beeinträchtigt den weiteren Dienst des Pfarrers nicht. Das Konsistorium hat damit das Ziel auch dieser Disziplinarklage – dessen gänzliche Dienstenthebung – erneut völlig verfehlt.

11 parallel dazu: Wie beseitigt man kirchenamtlich eine ganze Kirchengemeinde? Dem Orts-GKR Manker-Temnitztal wurde zu dessen Erstaunen inzwischen erklärt, dass er seit Beginn der Reform nicht existiert habe und demzufolge auch kein Vertragspartner für die »Vereinbarung zum Frieden« gewesen sei. Diese sei zwar im März 2011 von beiden Seiten unterzeichnet worden. Doch bei nicht existentem Vertragspartner müssten sich die Gesamtkirchengemeinde und der Kirchenkreis nicht daran halten. Das Konsistorium habe zwar seine Einwilligung zu der Vereinbarung mit dem Orts-GKR Manker-Temnitztal erteilt, dieser sei aber von Anfang an kein Vertragspartner gewesen. Argumentiert wurde wie folgt: Die Satzung des Kirchenkreises aus dem Jahre 2009 sei durch die Kreissynode noch nicht in Kraft gesetzt. Also gäbe es nach dem ursprünglichen Scheitern der STREP, die ihrerseits solche vorgesehen hätte, keine Orts-Gemeindekirchenräte. Die »Vereinbarung zum Frieden« sowie alle Beschlüsse des Orts-GKR Manker-Temnitztal seien demzufolge nichtig. Tunlichst vermied man es, diese Aussage im Kirchenkreis WittstockRuppin zu verbreiten, alle anderen 21 Orts-GKR wären doch sehr erstaunt gewesen, erklärtermaßen nicht existent zu sein.

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Dem Orts-GKR Manker-Temnitztal riss nach so langem Weg schon im September 2011 der Geduldsfaden. Deshalb beantragte er bei der hierfür zuständigen Kirchenleitung, den Streit zu beenden durch Genehmigung des Austritts der Kirchengemeinde Manker-Temnitztal aus der Gesamtgemeinde und auch aus diesem Kirchenkreis. Er wollte Frieden finden durch Anschluss an den Nachbar-Kirchenkreis Kyritz-Wusterhausen. Dort hoffte man, dann auch ganz legal wieder auf den langjährigen Pfarrer von Manker-Temnitztal zu treffen. Die Kirchenleitung entschied im Jahre 2012 – nach Einholung der erwartungsgemäß ablehnenden Meinungen des Gesamtkirchenrates und des Kreiskirchenrats in Wittstock –, diesen Antrag abzulehnen. Der Entsendungsdienstpfarrer der Gesamtgemeinde Temnitz erklärte den Kirchenältesten von Manker-Temnitztal – auch hier beflissen seinen Auftrag zur Umgestaltung ausführend –, die Kirche »könne nicht einfach Strukturen ändern, nur weil beteiligte Menschen dies wollten«. Vor dem Hintergrund des vollständigen strukturellen Umbaus im Kirchenkreis war das eine erstaunlich naive Erklärung, aber das störte inzwischen die so im Kirchenkreis Agierenden schon nicht mehr. Der Orts-GKR Manker-Temnitztal hatte bis dahin zu den stattfindenden Gottesdiensten und zu seinen anderen Veranstaltungen auch mithilfe der Aushänge eingeladen. Sie wurden in den Schaukästen ausgehängt, die er vor Jahren in jedem Dorf der Kirchengemeinde hatte aufstellen lassen. Eines Tages sorgte nun der Vorsitzende des Gesamt-GKR durch den Einbau neuer Schlösser für den Verschluss aller Schaukästen. Auf einmal waren nur noch die Vermeldungen der Gesamtkirchengemeinde zulässig. So wurden der Kirchengemeinde Manker-Temnitztal die eigenen Schaukästen zu einer »Verschlusssache«. Schon lange zuvor hatte der Vorsitzende die Verbindungstür zwischen Amtszimmer des Pfarrers und dem Gemeindebüro im Pfarrhaus Manker mit einem Sicherheitssteckschloss versehen, um dem Pfarrer den Zutritt zum Gemeindebüro zu versperren. Im August 2012 kam es mithilfe eines hierfür bestellten Schlüsseldienstes in Abwesenheit des Pfarrers zu einem Einstieg des Vorsitzenden des Gesamt-GKR und des Entsendungsdienstpfarrers in das Amtszimmer und in die Wohnung des Pfarrers in Manker und zur Wegnahme dort noch befindlicher persönlicher Unterlagen, nachdem der Pfarrer schon An-

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fang des Frühjahres vereinbarungsgemäß die Dienstakten übergeben hatte. Der Entsendungsdienstpfarrer verwies bei den hierzu erfolgten anschließenden Auseinandersetzungen auf ein Schreiben eines eher untergeordneten konsistorialen Mitarbeiters, das nach seinen Angaben hierzu die Gesamtgemeinde aufgefordert habe. Nach dieser Aktion zog der Pfarrer im August 2012 endgültig aus dem Dienstbereich des Pfarrhauses Manker aus. Am Ende des Jahres 2013 war neu zu den Gemeindekirchenräten zu wählen. Das Gefühl missbrauchten Vertrauens hatte sich längst eingestellt. Hatten die Kirchenältesten in Manker-Temnitztal bei der Zustimmung zur Bildung der Gesamtkirchengemeinde Temnitz im Jahre 2007 noch auf die Ankündigung vertraut, dass das »Reformmodell« im Kirchenkreis ein Weg des Miteinanders und des Suchens, des Probierens und des Festhaltens von Bewährtem bzw. der Korrektur falscher Schritte werden sollte, war das als Illusion durch den Gang der Ereignisse längst widerlegt. »Das kann doch alles nicht wahr sein« war nun die dominierende Klage, vergeblich hatte man Hilfe beim Kreiskirchenrat, Konsistorium, Landessynode, dem kirchlichen Verwaltungsgericht und sogar beim Bundespräsidenten Gauck gesucht. Der Antrag auf Genehmigung zu einem Wechsel der Kirchengemeinde Manker-Temnitztal in den Nachbarkirchenkreis Kyritz-Wusterhausen war das Resultat inzwischen vollständig zerstörten Vertrauens gegenüber Personen und Gremien im Kirchenkreis Wittstock-Ruppin. Die Enttäuschung und Demotivation darüber, dass auch dieser Weg zum Frieden kirchenamtlich abgelehnt wurde, führte nun zur Amtsniederlegung aller Kirchenältesten von Manker-Temnitztal zum Ende der Legislatur 2013. Niemand von ihnen, die so viele Jahre für die Belange ihrer Gemeinde eingestanden waren, erklärte seine Bereitschaft zu einer erneuten Kandidatur, denn letzte Hoffnungen auf mehr als einen inzwischen sich abzeichnenden »Friedhofsfrieden« in den Dörfern von Manker-Temnitztal hatten sich jetzt längst in Luft aufgelöst. Der Gesamtkirchenrat Temnitz stellte daraufhin drei von vier Kandidaten für einen zu wählenden Gemeindekirchenrat aus neu ins Dorf Zugezogenen zusammen. Die Klage eines ehemaligen Kirchenältesten vor dem Verwaltungsgericht, man könne nicht mit vier Kandidaten vier Älteste wählen, führte zu gerichtlicher Ungültigerklärung des Wahlergeb-

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nisses. Der Kreiskirchenrat setzte den durch Urteil abgesetzten GKR daraufhin als »geschäftsführenden Ausschuss« von Manker-Temnitztal ein. Da sich kein weiterer Kandidat für eine erneute GKR-Wahl in MankerTemnitztal finden ließ, gibt es bis heute diesen Ausschuss.

12 Das Ergebnis vor Ort und im Kirchenkreis – Die zu Beginn des Jahres 2008 unter maßgeblicher Leitung des damaligen Gesamtkirchenrates und seines Pfarrers gegründete Gesamtgemeinde Temnitz ist zerbrochen. Viele bis dahin aktive Menschen haben sich zurückgezogen. – Der schon 2007 gegründete übergemeindliche Chor hat sich längst aufgelöst, ebenso bis dahin lebendige Gemeindekreise in ihr. – Im Jahr 2009 kam es zum Ende der von allen Kirchengemeinden besetzten Gremienarbeit. An ihrer Stelle wurde nun eine Gesamtgemeinde gegründet, die seitdem getreu den amtskirchlichen Vorgaben im Rahmen des »Modellversuches« agiert. – Bestürzt äußern sich Gemeindeglieder seitdem immer wieder darüber, dass seit Jahren eine drastische Reduzierung von Gottesdiensten zu verzeichnen ist. In 18 Orten wird inzwischen nur noch monatlich einmal an fünf Orten Gottesdienst gehalten. – Die bis zum Jahre 2008 im Gebiet der Gesamtgemeinde arbeitenden drei Geistlichen sind zusammengestrichen auf nunmehr 1,25 Stellen. – Alle Hoffnungen, die »Reform« würde helfen, den weiteren Rückgang der kirchlichen Mitgliedschaft in der Gesamtgemeinde Temnitz und im ganzen Kirchenkreis aufzuhalten, werden durch die Statistik widerlegt. Kein Wunder, fehlt es doch bei solchem Personalschlüssel weitgehend an der so notwendigen persönlichen Beziehung zwischen Gemeindegliedern und den Hauptamtlichen. – Die Namen der Pfarrpersonen sind oftmals unbekannt, die »Neuruppiner Pfarrerin«, die zur Überbrückung erscheint, wird als solche bezeichnet. – Das Ende der Kirchengemeinde Manker-Temnitztal führte zum Rückzug aller bisherigen ehrenamtlich Engagierten aus ihren regelmäßigen Aufgaben (z.B. Gemeindebrief austragen, Kirchgeld kassieren, Friedhofsangelegenheiten regeln, Läutedienst, Küsterdienste bei

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Gottesdiensten und Amtshandlungen, Grundstücks- und Gebäudepflege, Teilnahme in Gemeindekreisen und an Gottesdiensten). – Bestattungen werden inzwischen immer häufiger beim Redner angemeldet und nicht mehr – trotz Mitgliedschaft – bei dem von der Gesamtgemeinde vorgehaltenen kirchlichen Personal. Die SED und den staatlichen Druck des DDR-Regimes hat diese Kirche bis zuletzt überlebt. Die Zerstörung von innen heraus binnen weniger Jahre war womöglich effektiver. Wofür steht Kirche, wenn nicht für das Gegenteil dessen, was den Menschen der Region hier vorgelebt wird? Und mit welcher Begründung will man den Menschen, die all dies miterlebt haben, erklären, wozu man Kirche heute braucht? Ich bin nicht der Einzige, der sich abwandte. Schon 2010 gründete sich in Manker-Temnitztal ein »Christlicher Verein Manker-Temnitztal e.V.«, um in monatlichen Frauenkreistreffen und Sonntagsfrühstücken unter dem Dach des kommunalen Dorfgemeinschaftshauses Reste des ehemaligen Kirchengemeindelebens zu pflegen und zu erhalten. Der Verein stellt faktisch eine Ausgliederung von Gemeinschaft aus der Kirche in die verloren gegangene Selbstständigkeit dar. Auf seiner Homepage findet sich die detaillierte Schilderung der hier dargestellten Vorgänge, die Adresse lautet: www.manker-temnitztal.de Den Vertretern der Amtskirche waren die im Internet vorfindbaren unabhängigen Informationen seit Beginn ein Dorn im Auge. Wiederholt verlangten sie die Abschaltung der Homepage, konnten das aber bis heute nicht wirksam geltend machen, da der Verein keine kirchliche Untergliederung darstellt. Es lässt sich im Zeitalter des Internets inzwischen nicht mehr heimlich agieren, und wer dies verlangt, muss sich die Frage gefallen lassen, was er denn vorhat. Das Kopfschütteln über erlebte Kirche vor Ort ist weit über die betroffenen Menschen hinaus zu sehen. Das gilt auch für die angebliche Auswertung des »Modellversuches«, die von der EKD-Beauftragten trotz Einladung, vor Ort zu kommen, unter Ausschluss von Manker-Temnitztal durchgeführt wurde und eine »schöne, heile Erfolgswelt« auf in

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der Landeskirche verteiltem Hochglanzpapier zeigt. Kein Wort findet sich in dieser angeblichen »Evaluation« über den Unfrieden und die Verzweiflung, die das Agieren der Amtskirche im Bereich des Kirchenkreises und seiner Gemeinden verursacht hat. Potemkin lässt grüßen. So ist Wittstock-Ruppin tatsächlich zu einem Modell geworden. Nicht für etwas, das ursprünglich als nachahmenswertes Vorbild gedacht und ausgegeben wurde. Sondern es ist für viele Menschen ein Modell geworden für etwas, was – soweit erkennbar – kein Kirchenkreis in der EKBO bisher übernehmen will. So hat es auch in der Kreissynode des Nachbarkirchenkreises Kyritz-Wusterhausen bei der Plenarabstimmung dieser Frage im Jahr 2014 nicht eine einzige Stimme für den Gedanken einer Fusion beider Kirchenkreise, der angefragt war, gegeben! Die Orientierung dort geht, erschreckt von den Unruhen und dem bekannt gewordenen Unfrieden im östlich angrenzenden Nachbarkirchenkreis WittstockRuppin, inzwischen ganz eindeutig in Richtung Prignitz.

C) Erfahrungen, die der »Modellversuch im Kirchenkreis WittstockRuppin« vermittelt Grundordnungsändernde grundsätzliche Umgestaltungen wie in diesem »Modell« sind für normale Laien in den Gemeinde-, Kreiskirchenräten und -synoden eine nicht verantwortbare Überforderung. Ihnen gegenüber stehen juristische Kirchenprofis im Konsistorium. Die Konsequenzen von deren Vorschlägen sind für Laien oftmals nicht absehbar Ein grundsätzliches Vertrauen in Versprechungen »von oben« ist bei solchen Fragen nicht angezeigt, da Kirchenleitung und Konsistorium durchaus auch eigenen Interessen folgen. Eine unabhängige Rechtsberatung ist jedoch innerkirchlich schwer bzw. kaum für Kirchengemeinden zu finden. Das kirchenamtliche Vorgehen, wie hier geschildert gegenüber hauptamtlichen Mitarbeitern wie Pfarrer oder Kirchengemeinden wie Manker-Temnitztal, ist wegen fehlender Gewaltenteilung in der Kirche kaum zu korrigieren. Landessynode, Konsistorium und Kirchenleitung agieren

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Hand in Hand oftmals mit und durch dasselbe Personal. Auch das kirchliche Verwaltungsgericht wird von diesen besetzt und eingeführt. Was könnten Geschädigte gegen eklatant ungedeihliches Wirken eines Bischofs oder anderer Kirchenfunktionäre, das sich autokratisch gegen Gemeinden oder Mitarbeiter richtet, zukünftig tun? Luther sagte uns das in seiner Schrift »Von Conciliis und Kirchen« aus dem Jahr 1537: »Zum Neunten hat ein Concilium nicht Macht, solche Statut oder Decret zu machen, die lauter nichts mehr suchen, denn Tyrannei; das ist, wie die Bischoffe sollen Gewalt und Macht haben, zu gebieten was sie wollen, und Jedermann müsse zittern und gehorsam sein. Sondern hat Macht und ist schuldig, solchs zu verdammen, nach der heiligen Schrift, 1 Petr. 5, 3: Sollt nicht herrschen uber das Volk; und Christus (Luc. 22,26): Vos non sic: Wer Oberst sein will, soll euer Diener sein.« Das bisher einzig probate Mittel zur Abwehr kirchenamtlicher Übergriffe auf Gemeinden und Mitarbeiter ist die Herstellung einer möglichst breit informierten Öffentlichkeit. Das hat sich beispielsweise an dem verkündeten Vorhaben gezeigt, den Pfarrer zu psychiatrisieren, um ihn dann in den vorzeitigen Ruhestand versetzen zu können. Nach Veröffentlichung der Absprachen zwischen der Personalreferentin und dem Superintendenten leugneten diese zunächst und ließen ihren Plan anschließend wie eine heiß gewordene Kartoffel fallen. Die biblische Handlungsanweisung in Sachen Beleuchtung dunkler Sachverhalte findet sich in Epheser 5,11: »Habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis; deckt sie vielmehr auf.« Nach alledem möchte ich diesen Beitrag nicht schließen, ohne Thesen und Vorschläge aus den geschilderten Hergängen abzuleiten: These Nr. 1: Öffentlichkeit lässt sich im Internetzeitalter von der Amtskirche nicht mehr verhindern. Sie ist nichts anderes als das, was Luther mit seinem Thesenanschlag an der Pforte schon tat. Vorschlag Nr. 1: Besinnen wir uns auf Luther und bemühen uns um größtmögliche Transparenz. Sämtliche kirchliche Vorschriften zur Ver-

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schwiegenheit gehören auf den Prüfstand. Nur so ist kirchliches Leitungshandeln von den Gemeinden zu kontrollieren. These Nr. 2: Als externer Jurist ist der Blick in die kirchenrechtlichen Strukturen für mich wie ein Blick zurück in die Zeit, zurück ins Mittelalter. Und so werden sie auch angewandt. Wir können und wissen es besser und haben im staatlichen Bereich mittlerweile mehrere Generationen Erfahrung mit Gewaltenteilung und Demokratie. Das sollte man doch ohne große Schwierigkeiten übertragen können. Vorschlag Nr. 2: Dringend notwendig ist eine förmliche Gewaltenteilung innerhalb der Kirche, also die förmliche und personelle Entflechtung von Synode, Kirchenleitung und Konsistorium. In diesem Zusammenhang sollte eine Appellationsinstanz für Gemeinden und Mitarbeiter zur öffentlichen Kontrolle vor allem des Konsistoriums als landeskirchlicher Verwaltungseinrichtung errichtet werden. These Nr. 3: Die vertragliche »Vereinbarung zum Frieden« in MankerTemnitztal diente nur der Durchsetzung von kirchenamtlichen Interessen auf anderem Wege. Zusagen von kirchenleitendem Personal hatten ein schnelles Zerfallsdatum. Notwendig zu führende Gespräche wurden auf allen Ebenen behauptet, aber gerichtsnachweislich dann doch nicht geführt. Dies scheint mir ein Symptom des Zerfalls zu sein, kein Ausnahmefall. Denn ohne die weitgehende Deckung des Vorgehens durch sämtliche intern Beteiligte wäre so etwas (einzelnen Amtsträgern) nicht möglich. Der einzelne kirchliche Mitarbeiter steht einem gewaltigen Apparat ausgebildeter Interessenmanager gegenüber, die das kirchliche Dienstrecht zur Durchsetzung ihrer Interessen zu nutzen wissen. Eine starke und unabhängige Gegenpartei ist zur Verhinderung von Willkür, wie ich sie hier geschildert habe, derzeit nicht vorhanden, aber offensichtlich notwendig. So erscheint es nach demokratischen Gesichtspunkten vollkommen weltfremd, dass Stellungnahmen und Gutachten des heute vorhandenen Pfarrvereins zu Personalfragen von Bischof oder Verwaltung einfach kassiert werden und nicht vorlagepflichtig sind. Vorschlag Nr. 3: Es sollte eine wirksame Pfarrvertretung, die rechtlich und personell unabhängig von der Amtskirche als Personalvertretung der Pfarrerschaft arbeitet und eigene Verfahrensrechte besitzt, geschaffen

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und mit ausreichend Mitteln ausgestattet werden, um als Gegengewicht fungieren zu können. These Nr. 4: Die derzeitigen Strukturen scheinen eine angemessene Auswahl von Leitungspersonal der Kirche nicht zu gewährleisten. Das evangelische Leitbild für das kirchenleitende Personal sollte der hierarchiefreie geschwisterliche Dienst an- und miteinander sein, nicht die eher katholische Vorstellung von einer »Kirche von oben nach unten«. In dieser macht ein Bischof Umgestaltungs- und Umsetzungsansprüche und damit unevangelische Ansprüche auf persönliche »Führerschaft« geltend, die wie hier letztendlich dann »auf dem Verwaltungswege« erzwungen werden. Eine Leitungsfunktion in der Evangelischen Kirche darf keinen persönlichen Mehrwert darstellen, sondern nur eine persönliche Mehrdienstpflicht. Auch das hat uns Luther mit obigem Zitat schon gesagt. Die Gemeinden und die Mitarbeiter brauchen engagierte und geistlich orientierte Theologen in der Landeskirche. Es müssen Menschen sein, die leben, was sie reden. Ihnen sollte das Wohl und Wehe der Kirchengemeinden am Herzen liegen. Vorschlag Nr. 4: Kirchliche Leitungsfunktionen sollten temporär begrenzt und in demokratischer Weise nur an solche Personen vergeben werden, die sich im Dienst am Menschen längere Zeit bewährt haben und von ihren örtlichen Gemeindemitgliedern für ein solches Amt empfohlen wurden. Daraus folgt, dass für kirchliche Leitungsämter zukünftig vor allem gemeindeerprobte und -erfahrene Geistliche in Betracht kommen sollten. Auch sollte ihre Besoldung nicht höher sein als die der anderen Pfarrstelleninhaber, da Kirche kein Konzern ist und hierarchische Gehaltsdifferenzierungen falsche Karriereanreize vermitteln. Nebenvergünstigungen und Stellenvorteile sollten angerechnet werden. These Nr. 5 und Fazit: Wenn es keine neue Reformation gibt, hat Kirche in meinen Augen für die Zukunft keine weitere Bedeutung. Aufgrund ihres gewaltigen Vermögens wird sie auch ohne Mitgliedsvolk physisch noch lange überleben, aber bestenfalls als ein Lippenbekenntnis ohne jeden Anspruch auf eine einladende Vorbildfunktion – was man am gescheiterten Modell im Kirchenkreis Wittstock-Ruppin deutlich sehen kann.

Wolfgang Noack

Verträge dürfen gebrochen werden Erfahrungen mit einer Gemeindefusion in Berlin

Die St.-Marien-Kirche stand auf weiter Flur im historischen Zentrum in der durch den Krieg zerstörten Stadt Berlin. Das neu errichtete Zentrum der »sozialistischen Hauptstadt« mit Fernsehturm, Alexanderplatz und repräsentativen Wohnbauten beherbergte überwiegend treue Staatsdiener der DDR, die nichts mit Kirche im Sinn hatten. So entwickelte sich die St.-Marien-St.-Nikolai-Gemeinde zu einer Repräsentations-Gemeinde (es gab den Begriff »Citykirche« noch nicht), die nur ca. 750 Gemeindeglieder und eine große Kirche ohne Gemeindehaus hatte. Da sich nach der Wende an dieser Situation für die St.-Marien-St.-Nikolai-Gemeinde kaum etwas wesentlich änderte, suchte diese Gemeinde nach Partnern, die ihre, vor allen Dingen finanziellen und personellen, Defizite ausglich. So kam es zur Fusion der St.-Marien-St.-Nikolai-Gemeinde mit der Georgen-Parochial-Gemeinde, die ein großes Gemeindehaus besaß, mit der Humboldt-Universität als damals zahlungskräftigem Mieter, und einer Kirche, die zu jener Zeit im Wesentlichen ungenutzt war. Die entstandene Gemeinde hieß nun »Marien-Gemeinde«. Infolge des Zweiten Weltkrieges war die St.-Petri-Kirche schwer beschädigt und in den 60er–Jahren enteignet und abgerissen worden. Nach dem Mauerbau vereinigte sich die Gemeinde mit den im Ostteil liegenden Teilen der Luisenstädtischen Gemeinde und dem im Ostteil liegenden Teil der St.-Thomas-Gemeinde zur St.-Petri-Luisenstadt-Gemeinde mit ca. 1400 Gemeindegliedern. Das Leben der Gemeinde fand im Gemeindehaus in der Neuen Grünstraße statt. Dieses Gemeindehaus war von Superintendent Goltz am 9. April 1892 errichtet worden und die »Urmutter« der Gemeindehäuser in Berlin. Hier hatte auch die Gründung der Evangelischen Frauenhilfe in Deutschland stattgefunden. In der Zeit nach dem 13. August 1961 war dieses Haus auch Sitz des Bischofs und des Konsistoriums der Ostregion der Landeskirche. Das Gemeindehaus beherbergte neben dem Kirchsaal Gemeinderäume für Ge-

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meindearbeit, eine traditionsreiche Kindertagesstätte und bis zur Wende auch eine Tagesstätte für mehrfach-schwerstbehinderte Kinder. Im August 2004 kamen Pläne einer Kooperation zwischen der Marienund St.-Petri-Luisenstadt-Gemeinde auf, die in einem gemeinsamen Kooperationsausschuss mündeten. Seit Februar 2005 wurde aus diesem Kooperationsausschuss der »Fusionsausschuss«. Ziel der St.-Petri-Luisenstadt-Gemeinde war es, durch den Zusammenschluss mit der Marien-Gemeinde die Arbeit der St.-Petri-Luisenstadt-Gemeinde in den nun gegründeten Pfarrbezirken »St. Petri« und »St. Marien« zu sichern, ja auszubauen, wie es im Fusionsvertrag und den dazugehörigen Protokollen festgehalten ist. Die St.-Petri-Luisenstadt-Gemeinde erwartete befruchtende Impulse für beide Gemeindeteile, die sich ergänzen würden. Es sollte eine neue gemeinsame Identität gefunden werden, welches ja als Ziel im Fusionsvertrag formuliert wurde. Auch personell sollte in beiden Gemeindeteilen eine Sicherung der Stellen und somit der Arbeitsgebiete erreicht werden, zumal man feststellte, dass beide Gemeindeteile sich ergänzen würden. Der Petri-Gemeindeteil, durch Einkünfte verschiedener Art finanziell stark (insbesondere aus Mietshäusern, die einen Erlös von mehr als 300 000 € pro Jahr bringen), erfuhr aber nun den Rückbau, begründet durch Gemeindekirchenrats-Beschlüsse, durchgesetzt durch die Mehrheit der Marien-Ältesten gegen die Petri-Ältesten: – Die Küsterei, eine wichtige Institution im Petri-Gemeindeteil, wurde geschlossen. – Große traditionelle Veranstaltungen, wie Osterfrühstück, GemeindeSommerfest und Gemeindeadventsfeier fanden auf Beschluss des Marien-dominierten GKR immer weniger statt, obwohl die Bereitschaft der Petri-Gemeindeglieder vorlag, sich einzubringen. – Zu den hohen Feiertagen lag der Schwerpunkt in der Marienkirche. Hier wurde von der Marien-Seite argumentiert, dass getrennte Gottesdienste zu einer Separierung führen würden und dem Zusammenwachsen hinderlich seien. – Schon zum Osterfest 2009 fand im Gemeindehaus von St.-Petri-Luisenstadt in der Neuen Grünstraße kein Gottesdienst mehr statt. – Auch wurden die Kontakte zu den Petri-Nachbargemeinden (der Ökumenische Kreuzweg zur Passionszeit mit den evangelischen und katholischen und altlutherischen Gemeinden in der Luisenstadt und der Gottesdienst zum neuen Jahr in der katholischen St.-Michael-

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Gemeinde) von der neuen Marien-orientierten Gemeindeleitung abgebrochen. – Der gemeinsame über die Jahre bewährte Konfirmandenunterricht mit St. Thomas fand nicht mehr statt. Die Marien-Pfarrer kooperierten nun mit dem Berliner Dom. – Der Kontakt zur ländlichen Gemeinde in Liebenthal mit dem jährlichen Erntedankbesuch wurde abgebrochen. – Das Gemeindeblatt des Petri-Teils wurde eingestellt und zwölf ehrenamtliche Gemeindeglieder des Herausgeberkreises wurden »nach Hause geschickt«, ohne dass ihre Erfahrung in das nun gemeinsame Gemeindeblatt eingebracht werden konnte. – Dies alles gipfelte in dem Bruch des Fusionsvertrags im Jahr 2010, in dem der wesentlichste Bestandteil, der Erhalt der Predigtstätte Neue Grünstraße, außer Kraft gesetzt wurde. – Kurzum: Der Marien-dominierte GKR hatte am Gemeindeleben im Petri-Teil kein Interesse. Stattdessen wurde personell und auch materiell viel in die St.-Marien-Kirche und das Gemeindehaus in der Waisenstraße gesteckt. Nicht einmal mehr Werterhaltungsarbeiten fanden in der Neuen Grünstraße statt. Die letzte Aktion im Gemeindehaus war vor der Fusion das Herrichten der Treppenhäuser gewesen. – Die Kindertagesstätte im Gemeindehaus in der Neuen Grünstraße, die eine lange Tradition im Gemeindeleben hatte, wurde trotz Protesten der Elternschaft in ein Objekt weit außerhalb des Gemeindegebietes in der Kreuzberger Wrangelstraße umgelegt. Dieses gehörte offensichtlich zu den »Vorarbeiten«, um das Gemeindehaus in der Neuen Grünstraße zu veräußern. – Allen Mietern des Gemeindehauses Neue Grünstraße 19 wurde ab 2012 nach und nach gekündigt. Somit wurde die Veräußerung des Gemeindehauses vorbereitet, obwohl keine finanzielle Not für die Veräußerung bestand. – Es wurden Falschmeldungen publiziert, die aussagten, die Gottesdienste im St.-Petri-Teil (also in der Neuen Grünstraße) hätten nur noch einstellige Besucherzahlen und somit sei der Gottesdienststandort unwirtschaftlich. Schließlich wurde der Gottesdienstort in der Neuen Grünstraße mit superintendentlicher Unterstützung nach dem letzten Gottesdienst am 3. Januar 2010 geschlossen. Der überwiegende Teil der Gottesdienstgemeinde verließ diesen letzten Gottesdienst unter Protest. Der anwesende

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Bischof ließ all dieses ohne Kommentar geschehen. Er äußerte sich zu diesem Vorfall nicht. Gemeindeglieder sammelten gegen dieses Vorgehen Unterschriften und übermittelten diese an den GKR, die Kirchenleitung und den Kreiskirchenrat. Von diesen Gremien kam nicht einmal eine Antwort. Gemeinde wurde hier wie »Luft« behandelt. Es wurde zwar von »Petri«-Ältesten versucht, gegen diesen Beschluss eine einstweilige Anordnung zu erlassen, da die Schließung gegen den Fusionsvertrag verstoße, jedoch ohne Erfolg. Auch wurde daraufhin angesehenen ehemaligen St.-Petri-Pfarrern und solchen, die nie in St. Petri angestellt waren, durch den geschäftsführenden Pfarrer verboten, zu den Vorgängen Stellung zu beziehen. Diese Pfarrer hatten vorgeschlagen, ehrenamtlich Gottesdienste im Gemeindehaus in der Neuen Grünstraße weiterzuführen. Ihnen wurde sogar ein Haus- und Predigtverbot ausgesprochen. Dieses geschah mit konsistorieller Unterstützung. Die betroffenen Pfarrer wurden sogar dazu ins Konsistorium bestellt. Erst zu einem späteren Zeitpunkt wurde dieses »Maulkorbverbot« aufgehoben. Ein Superintendent i.R. von der MarienSeite erhielt jedoch offensichtlich jegliche Unterstützung, gegen diese Bestrebungen, den Predigtstandort in der Neuen Grünstraße im PetriTeil zu erhalten, zu opponieren und »Wahlkampf« für die Kandidaten aus dem Marienteil bei einer GKR-Wahl zu machen. Proteste der Gemeindekreise und Gruppen sowie von Einzelpersonen aus der ehemaligen Petri-Luisenstadt-Gemeinde stießen im GKR und bei den Leitenden in unserer Kirche, bis hin zum Bischof, auf Desinteresse. Briefe wurden weder von der Kirchenleitung, dem Bischof, noch der Pröpstin beantwortet. Man ist wohl an einer ernsthaften Lösung dieses Konfliktes nicht interessiert. Hier scheinen die Erfüllung von Reformpapieren und Strukturwandel von oben vor dem Wohl der Gemeinde zu gehen. Es wurden sogar in einem offenen Brief die andersdenkenden Gemeindeglieder aufgefordert, sich umgemeinden zu lassen. Was ist geblieben: Das traditionell (auch für unsere Landeskirche) wichtige Gemeindehaus in der Neuen Grünstraße 19 wurde an die Immobiliengesellschaft JAAS Investment Group veräußert, die hier Luxuswohnungen einrichtet. Sakrale Gegenstände wie Kreuz, Taufschale etc. wurden unbekannt verbracht.

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Der Frauenkreis trifft sich nun in privaten Räumen ohne gemeindliche Bindung. Der über 15 Jahre existierende Kreis von Eltern mit behinderten Kindern ist in eine andere Gemeinde gezogen, ein Bibelkreis trifft sich weiter in dem Gemeindehaus in der Waisenstraße. Die Junge Gemeinde ist zerfallen, sodass keine Jugendarbeit mehr stattfindet. Obdachlosen-Übernachtungen in den Gemeindehäusern in der Neuen Grünstraße und der Waisenstraße wurden geschlossen. Der überwiegende Teil der am Fusionsprozess beteiligten Petri-Kirchenältesten hat sich umgemeinden lassen. Diesen Schritt haben noch etliche Gemeindeglieder gemacht, die von den Entscheidungen des Marien-dominierten GKR enttäuscht sind. Die Marien-Gemeinde hat durch die Fusion insgesamt ca. 1.500 mehr Gemeindeglieder bekommen, also höhere Kirchensteuerzuweisungen, weiterhin erhebliche Mieteinkünfte aus ehemals Petri-Mietshäusern und den Erlösen des Verkaufs des Petri-Gemeindehauses und eines gemeindeeigenen Sees. Die Anzahl der Pfarrer ist zwar nicht gesunken, doch der sonntägliche Gottesdienst findet nicht mehr an drei Standorten, sondern nur noch in der Marienkirche statt. Anfänglich wurde ein Fahrdienst zur Marienkirche eingerichtet, der jedoch nicht von den Gemeindegliedern angenommen wurde. Viele der Gemeindeglieder nutzen stattdessen die Gottesdienstorte St. Thomas und auch den Berliner Dom und haben sich dahin umgemeinden lassen. Eine wichtige Frage bleibt: Wer kontrolliert hier eigentlich in unserer Landeskirche die Erfüllung von Verträgen? – Oder sind Verträge nichts mehr wert?

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Wolfgang Noack

Anhang 1 Der Fusionsvertrag Die Evangelische Kirchengemeinde St.-Petri-Luisenstadt und die Evangelische Kirchengemeinde Marien schließen den nachfolgenden Fusionsvertrag

In Jesu Namen Eingedenk der besonderen Verantwortung der beiden Gemeinden für die Verkündigung des Wortes Gottes im Bereich der Berliner Stadtmitte und im Vertrauen auf den gemeinsamen Herrn Jesus Christus beschließen die beiden genannten Gemeinden ihre Vereinigung zum 01. Januar 2006. Der Name der vereinigten Kirchengemeinde lautet: Evangelische Kirchengemeinde St. Petri – St. Marien Sie ist Rechtsnachfolgerin der beiden diesen Vertrag abschließenden Kirchengemeinden. 1. Drei Predigtstätten, die zugleich als Gemeindeorte fungieren, werden beibehalten. Es handelt sich um das Gemeindehaus in der Neuen Grünstraße, das in der Waisenstraße und die St. Marienkirche. Die vereinigte Gemeinde wird sich für eine sichtbare Erinnerung an die im Krieg zerstörte St.-Petrikirche einsetzen. 2. Die vereinigte Gemeinde besteht aus zwei Pfarr- und Wahlbezirken, und zwar St. Petri (Gebiet der Gemeinde St.-Petri-Luisenstadt) und St. Marien (Gebiet der Gemeinde Marien). 3. Bis zur Neuwahl des Gemeindekirchenrates besteht der Gemeindekirchenrat der vereinigten Kirchengemeinde aus den Mitgliedern der bisherigen Gemeindekirchenräte beider Gemeinden. Die Amtszeit

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Verträge dürfen gebrochen werden

aller Ältesten endet mit der Einführung der im Herbst 2007 gewählten Ältesten. 4. Fusionsbedingte Entlassungen werden ausgeschlossen. Hinsichtlich des Umfanges der Aufgaben im Pfarrdienst in der vereinigten Gemeinde wird die Ausschreibung und ordentliche Besetzung der Pfarrstelle beantragt, die derzeit durch einen Pfarrer im Entsendungsdienst verwaltet wird. 5. Immobilien der Gemeinde sollen nicht veräußert werden. 6. Die Protokolle des gemeinsamen Ausschusses vom 14. und 22. Februar sowie vom 22. März und 19. Mai 2005 sind diesem Vertrag als sinngemäße Auslegung in der Anlage beigefügt. Berlin, den 23.09.2005 Für die Ev. Kirchengemeinde St.-Petri-Luisenstadt 3 Unterschriften, Siegel

Für die Ev. Kirchengemeinde Marien 3 Unterschriften, Siegel

Anhang 2 Vergeblicher Protest von Gemeindegliedern Wir, die Unterzeichner, fordern vom Gemeindekirchenrat der Ev. Kirchengemeinde St. Petri – St. Marien die Rücknahme der Absicht der Entwidmung des Gemeindehauses in der Neuen Grünstraße 19 mit dem Gemeindesaal. Der Zusammenschluss der Mariengemeinde mit der St.Petri-Luisenstadt-Gemeinde geschah in der Absicht und Erwartung, die Gemeindearbeit am Standort Neue Grünstraße nach Pensionierung von Pfarrer Reichmayr zu sichern. Im Fusionsvertrag wurde der Predigtort Neue Grünstraße festgehalten, ebenso wurde auch eine Veräußerung von Grundstücken ausgeschlossen. Mit Marien-Mehrheit gegen die Stimmen der Petri-Ältesten wurden die regelmäßigen Gottesdienste dort eingestellt, Veranstaltungen wie Weltgebetstag der Frauen, Adventsfeier u.v.a.m. untersagt. Auf einer nach GO erzwungenen Gemeindeversammlung wurde eine Resolution von 84 Gemeindegliedern übergeben, die den Erhalt der Predigtstätte forderten. Auch wurde dem Willen zum Erhalt der Predigtstätte Neue Grünstraße, der auf einer von GenSup. i.R.

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Wolfgang Noack

Passauer geleiteten Vermittlungsveranstaltung kundgetan wurde, vom Marien-dominierten GKR nicht stattgegeben. – Alle diese Aktivitäten sowie Briefe der Gemeindekreise aus dem Petri-Teil und zahlreicher Einzelpersonen an den GKR, an den KKR, den Superintendenten und auch den Bischof sind ohne Wirkung gewesen. Stattdessen wurden immer mehr Beschlüsse durch den Marien-dominierten GKR gegen die Stimmen der Ältesten aus dem Petri-Teil gefasst, die die Intention der Fusion ad absurdum führten. Das Gemeindehaus wurde dadurch immer mehr seiner Funktion beraubt. Hier wurde und wird auch weiterhin christliches Leben in Wort und Tat gelebt:  Hier wurde die Evangelische Frauenhilfe in Deutschland gegründet.  Hier war über Jahrzehnte der Ort, in dem sich die Leitung der Ostregion unserer Landeskirche befand.  Hier fand der »Kirchentag von unten« statt.  Hier begannen in der WendeZeit die Demos gegen den Wahlbetrug der SED.  Hier befand sich die erste Fördertagesstätte für mehrfach-schwerstbehinderte Kinder in OstBerlin.  Hier befindet sich die älteste Kindertagesstätte unserer Stadt seit nunmehr über 130 Jahren in Kontinuität.  Hier befindet sich ein architektonisch interessanter Gemeindesaal, der im Kirchenkreis seinesgleichen sucht.  Hier trifft sich unter Leitung von Pfr. i.R. Heidler nach wie vor der Bibelkreis, der in St.-Petri-Luisenstadt seinen Ursprung hat.  Hier trifft sich unter Leitung von Pfarrerin i.R. Gutzeit nach wie vor der Frauenkreis, der in St.-Petri-Luisenstadt seinen Ursprung hat.  Hier trifft sich unter Leitung von Herrn Hammer nach wie vor der Gemeindechor, der in St.-Petri-Luisenstadt seinen Ursprung hat.  Hier trifft sich unter Leitung von Pfarrer i.R. Reichmayr nach wie vor der Seniorenkreis, der in St.-Petri-Luisenstadt seinen Ursprung hat.  Hier trifft sich unter Leitung von Herrn Noack nach wie vor der Elternkreis für Familien mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, der in St.Petri-Luisenstadt seinen Ursprung hat.  Hier probt die Ökumenische Seniorenkantorei … Solch ein kirchlicher Ort wie die Neue Grünstraße 19 ist nicht nur für die eigene Gemeinde, sondern auch für den Kirchenkreis, für die Landeskirche und auch für die Evangelische Kirche in Deutschland von Bedeutung und erhaltenswert und muss weiterentwickelt werden. Solch einen Ort gibt man nicht für vage Projekte auf! Der Erhalt der Neuen Grünstraße 19 ist Auftrag an die Kirche 19. Februar 2012

198 Unterschriften

Verträge dürfen gebrochen werden

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Anhang 3 Presseerklärung vom 22. Juli 2010 von Rechtsanwalt Hoffmann Gemeindefusionen: Fusionsverträge sind rechtlich wertlos Urteilsbegründung in Sachen St. Petri – St. Marien in Berlin liegt vor Am 31. Mai 2010 hatte das Verwaltungsgericht der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) über die Klage des Pfarr- und Wahlbezirks St. Petri gegen den Gemeindekirchenrat (GKR) der Ev. Kirchengemeinde St. Petri – St. Marien (Ev. Kirchenkreis BerlinStadtmitte) zu entscheiden gehabt. Es ging um die Einhaltung des Fusionsvertrages anlässlich der Gemeindefusion im Jahr 2006. Streitauslösend war die Schließung des Gemeindehauses von St. Petri in der Neuen Grünstraße 19, 10179 Berlin-Mitte, als Predigtstätte durch den GKR. Nunmehr liegt die schriftliche Urteilsbegründung vor. Kernsatz des Urteils ist, dass es keine Rechtssubjekte gibt, die die Rechte aus einem Fusionsvertrag geltend machen können. Aufgrund dieses vom Gericht aufgestellten Grundsatzes hatte die Klage von St. Petri keinen Erfolg, ohne dass es auf den Inhalt des Fusionsvertrages weiter angekommen wäre. Das Gericht ist der Auffassung, dass der klagende Pfarr- und Wahlbezirk nicht als Vereinigung im Sinne der Prozessordnung anzusehen sei, die an einem Prozess beteiligt sein kann, und dass die in einem Wahlbezirk gewählten Ältesten die ganze Gemeinde repräsentierten und nicht nur ihren Wahlbezirk. Damit gibt es in der Tat niemanden, der einen Fusionsvertrag einklagen könnte.

Herbert Dieckmann

Plädoyer für eine kirchliche Erneuerung von unten1

Die un-heimliche Wiederkehr der fatalen Fortschrittsideologie des 19. Jahrhunderts »Warum setzen Sie sich denn nicht an die Spitze der Bewegung einer erneuerten Kirche? Warum verharren Sie derart stark im Herkömmlichen?« So fragte im Jahre 2003 eine reformbegeisterte Kirchenvorsteherin und Synodalin ganz erregt unsere Pfarrvertretung. Uns erstaunte ihre Frage sehr: Hatte nicht gerade die Pfarrerschaft in den letzten drei Jahrzehnten – oft gegen erbitterten Widerstand von Kirchenvorständen und Synodalen – unsere damals abständige Kirche beharrlich zum überfälligen »Aggiornamento« gedrängt und eine Vielzahl kirchlicher Veränderungen angestoßen und durchgeführt, um Gottes Christus-Evangelium Zeitgenossen näherzubringen durch neue Gottesdienstformen, einfühlsam gestaltete Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Beerdigungen, jugendgerechte Konfirmandenarbeit, sozialethisch engagierte Gemeindegruppen, attraktive Gemeindefeste, kreative Kirchentage, eine vielseitige Kirchenmusik, die auch das neue Gesangbuch eindrucksvoll geprägt hat? Doch in der weiteren Debatte bemerkten wir rasch: Die angeblichen »Reformer« fragten gar nicht mehr nach inhaltlicher Erneuerung. Ihre Reformabsicht zielte fast ausschließlich auf Strukturveränderungen wie Gemeindefusionen, Streichung von Gemeindepfarrstellen bei bewusster Bevorzugung gemeindeferner Kirchenkreise und Funktionsstellen für Öffentlichkeitsarbeit, Fundraising, »Innovation«, Jugend-, City-, Tourismus-, Akademie-Gemeinden u.a.m. Dabei ging es vor allem um die Neuverteilung vorhandener Finanzmittel!

1 Überarbeitung des Artikels: »Kirche zwischen Veränderung und Beharrlichkeit«. Überlegungen zum evangelischen Selbstverständnis, erschienen im DPfBl 2/2009.

Plädoyer für eine kirchliche Erneuerung von unten

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Zur Durchsetzung dieser Umverteilung wurde ungeniert die längst widerlegte kulturprotestantische Fortschrittsideologie des 19. Jahrhunderts reaktiviert und mit ihr unterstellt, jede Veränderung sei prinzipiell allein schon wegen ihrer Neuheit (und darum auch ohne jede vorherige Überprüfung) stets die zwangsläufig bessere Weiterentwicklung des derzeitigen Zustandes. Danach gingen die Strukturveränderer geradezu lehrbuchmäßig vor: Sie redeten, durch clevere Beratungsindustrie vom Schlage McKinseys2 kraftvoll unterstützt, bisher erfolgreiche zentrale kirchliche Handlungsfelder wie Ortsgemeinden und deren pastorale Gemeindearbeit systematisch schlecht, um Gemeinden leichter finanziell und personell »enteignen« und ihre kostspieligen Änderungen bequemer durchsetzen zu können.

Die gezielte Abwertung der Gemeinde-Pfarrerschaft Wie es nun diesen »Reformern« gelingt, im Widerspruch zu jeder Gemeindeerfahrung ein negatives Pfarrerbild zu erschaffen, das hat uns einmal auf dem Deutschen Pfarrertag in Fulda im Jahre 2006 Ursula Ott, Chefredakteurin der mit vier Mio. € jährlich von der EKD finanzierten Beilagen-Zeitung chrismon, beispielhaft vor Augen geführt: »Ich habe mich beim Einschulungsgottesdienst meines Kindes mit all meinen Unsicherheiten vom Ortspastor nicht abgeholt gefühlt. Und diese negative Erfahrung beschrieb ich danach in der chrismon-Zeitschrift!« Natürlich hatte Ursula Ott, wie sie später einräumte, niemanden der 149 übrigen Gottesdienstbesucher nach deren Erlebnis befragt. Auch wusste sie nichts von den jährlich vielleicht 8.000 evangelischen Einschulungsgottesdiensten in unserem Land, die nahezu ausnahmslos die meisten Besucher tief berühren und mit großer Dankbarkeit gegenüber ihre Orts-PastorInnen erfüllen. Doch über eine Million chrismon-Lesende erfuhren nun von diesem singulären Negativerlebnis und würden damit zumindest unterschwellig auf die gesamte evangelische Gottesdienstpraxis bei Einschulungen schließen.3 2 Zur Kritik der Diplomökonomin Anna Stöber am sog. München-Programm von McKinsey s. Anm. 13. 3 Wie nachdrücklich Ursula Ott sich selbst jedoch gegen vergleichbare Einzelkritik zu verteidigen weiß, das demonstriert sie in ihrer schroffen Reaktion auf den Vorwurf einer SPIEGEL-ONLINE-Redakteurin, die am 12.11.2015 nach dem zufälligen

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Leider geht das EKD-Impulspapier bei seinem Abwertungsinteresse genauso vor wie Ursula Ott: Nach dem sog. »Bahngesetz«, dass angeblich ein verspäteter Zug das gute Image von fünfzig pünktlichen Zügen4 verderbe, entwickelt die Kirchenleitung offensichtlich aus Einzelbeschwerden ihr Negativbild von PastorInnen. Dabei unterliegt sie der gleichen mehrfachen Perspektiv-Verzerrung wie die chrismon-Redakteurin: Denn die – individuell selbstverständlich ernst zu nehmende – Kritik jenes Teilnehmers z.B. an einer Trauerfeier besagt so gut wie gar nichts über die – womöglich sehr positive – Einschätzung der übrigen 50, 100 oder 200 Besucher dieser Amtshandlung. Zudem bleibt völlig unbekannt, wie die vielleicht 2.000 Teilnehmer der weiteren 49 Trauerfeiern im letzten Jahr die Gemeinde-PastorIn erlebt haben, ganz zu schweigen von den Erfahrungen mit Trauerfeiern in den insgesamt 16 000 Kirchengemeinden der EKD im vergangenen Jahr. Doch von solchen Gegenargumenten unbeeindruckt, produziert die EKD ihr negatives Pfarrbild: Nach einigen obligaten Bemerkungen zur Wertschätzung des Pfarramtes als »Schlüsselberuf« attestiert das Impulspapier übergangslos und unbegründet der gesamten PastorInnenschaft eine »geistliche und mentale Orientierungskrise«, eine »separatistische« Selbst- und Gemeindebezogenheit (!) bei fehlender Identifizierung mit der Gesamtkirche, eine »überzogene Autonomievorstellung« etwa als »Bezirkspapst« oder »eigener Bischof«, einen Mangel an professioneller Qualität und »ein Schwinden ihrer Amtsautorität«. Ja, sie macht sogar unterschwellig die PfarrerInnenschaft für die zunehmenden Mitgliederverluste verantwortlich: »Obwohl die Zahl der Gemeindeglieder in den letzten dreißig Jahren um mehrere Millionen Menschen zurückgegangen ist, stieg die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, namentlich im Pfarrdienst, erheblich an.«5

Leseeindruck ihrer Tochter über einen chrismon-Artikel zu jugendlicher Sexualität (»voll eklig«) vor »Kinderporno« gewarnt und angefragt hatte, warum Protestanten sich in dieser Form an der Debatte beteiligten. Ott erwidert forsch, es seien »laut Berichten von Lehrern Pornos normal« und es sei deshalb unwahrscheinlich, »dass ausgerechnet ein Interview im guten alten Holzmedium Zeitschrift die Synapsen blöd verknotet«. Gleichzeitig springt ihr die chrismon-Mitherausgeberin und Präses der Westfälischen Kirche, Annette Kurschus, bei und wiegelt rasch ab: »Hier werde lediglich in alter SPIEGEL-Manier gegen ›die Kirche‹ geschossen.« Selbstkritische Einsicht, die Ott von anderen so vehement einklagt, sieht anders aus! (s. Evangelische Zeitung für Niedersachsen, Nr. 47, 22.11.2015, 8). 4 EKD-Impulspapier von 2006, 50. 5 Ebd., 28.

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Dabei ist in Wirklichkeit nur die Zahl der MitarbeiterInnen exorbitant gestiegen: in der Hannoverschen Landeskirche z.B. zwischen 1954 und 2015 um 423% (!) (von 5000 auf 21 167), die Zahl der MA-Vollstellen sogar um 735% (!) (von 1700 auf 12 495). Die Zahl der Gemeinde-Pfarrstellen dagegen ist im gleichen Zeitraum von 1328 auf 1170, also um 14% gesunken, nachdem sie zwischenzeitlich bis 1995 nur um 16%, d.h. auf 1550 gestiegen war, dann aber bis 2015 um 25% gekürzt wurde!

Das sehr positive Pastorenbild der Kirchenglieder-Mehrheit Im scharfen Kontrast zum irrealen Pfarrerbild der EKD von 2006, das sich eindeutig erkennbar kirchlichem Verteilungsinteresse verdankt, schätzen die Kirchenglieder ihre Gemeinde-PastorInnen außerordentlich. Und das hätten auch die EKD-Impulspapier-Autoren den vier von der EKD seit 1972 selbst verantworteten Kirchenmitgliedschafts-Untersuchungen mühelos entnehmen können. Gerade einmal vier Jahre zuvor hatte noch die KMU IV der EKD von 2002 eindrucksvoll aufgezeigt, wie wenig das Pfarramt von der gegenwärtigen Relevanzkrise der Kirche betroffen war, weil PastorInnen weiterhin in Kirche und Gesellschaft ein sehr hohes Ansehen genossen. Für die überwiegende Mehrheit der Kirchenglieder waren sie Hauptadressaten ihrer Erwartungen an kirchlich-pastorale Arbeit, wichtigste kirchliche Sympathieträger, wesentliche Garanten für die kirchlich-religiöse Sozialisation und anerkannte Repräsentanten der Gemeinden: 92% der Kirchenglieder, im Osten sogar 94%, die einen persönlichen Kontakt mit einer PastorIn hatten (und das sind immerhin 53%!), beurteilten diese Begegnung als gut und sehr gut, niemand als schlecht, und nur 7% sagten: »teils/teils«; 80% der Kirchenglieder erwarteten von ihrer Kirche pastorale Arbeit. 85% der Kirchenglieder kannten ihre OrtspastorIn, selbst in München waren es noch 69%! 60% der Kirchenglieder hielten PastorInnen für Personen, die ihr Verhältnis zu Glaube, Religion und Kirche geprägt hatten. Weit abgeschlagen folgten Lehrer (33%) oder Jugendgruppen-Leiter (26%). Nur 10% zeigten sich in dieser Frage durch öffentliche Repräsentanten beeinflusst, nur 1% durch das Internet.6 Auch beim allgemeinen gesellschaftlichen Berufsranking 6 Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006, 67.

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Herbert Dieckmann

standen PastorInnen mit 39% nach Ärzten, aber vor Hochschullehrern (34%), Grundschullehrern (33%) oder Unternehmern (31%) auf dem sehr respektablen zweiten Platz.7 Dieses ungewöhnlich gute Image der PastorInnenschaft als Haupterwartungs- und Sympathieträger, als Sozialisationsgaranten und Gemeinderepräsentanten motivierte die klare Mehrheit der Kirchenglieder (und Kirchensteuerzahler) zu einem eindringlichen Plädoyer für eine »gemeindlich-pastorale Begleitungskirche«, in der die persönliche Begegnung mit PastorInnen keineswegs jederzeit, überall und für alle, wohl aber in Notsituationen und an allen existenziell wichtigen Punkten des Jahreskreises und Lebenslaufes gezielt erwartet wurde. Eine aktive Mitarbeit an dieser »Begleitungskirche« lehnte die große Mehrheit der Kirchenmitglieder offensichtlich ab: Nur ca. 4% arbeiteten ehrenamtlich mit.

Die interessengeleite Abwertung der Ortsgemeinde durch die »Reformer« Ebenso wie die gemeindlich hoch geschätzten OrtspastorInnen wurden auch die sehr erfolgreichen kirchlichen Handlungsfelder der Ortsgemeinden aus durchsichtigen Verteilungsgründen radikal entwertet. Sie seien milieuverengte und veraltete Auslaufmodelle, die angeblich nur kleine innerkirchliche Zirkel erreichten. In einer mobilen Gesellschaft nähmen Menschen vor allem über Medien und an bestimmten Hauptorten wie z.B. der Dresdener Frauenkirche oder dem Berliner Dom »Kirche« wahr. So behauptete das EKD-Papier doch allen Ernstes, eine Vielzahl von evangelischen Christinnen und Christen empfänden sich als Mitglied der EKD und nicht der Ortsgemeinde. Diese auch 2006 schon abwegige EKD-Behauptung wird nach den Befunden der KMU V von 2012 niemand mehr wiederholen.8 Denn 69% der Evangelischen zeigten sich mit ihrer Ortgemeinde verbunden: 22,8% sogar sehr, 22,2% ziemlich; 23,8% etwas,9 darunter auch die oft als gemeindefern eingeschätzten

7 Allensbacher Berichte von 2008, Nr. 2, 2. 8 S. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh, Dezember 2015. 9 S. ebd., 51 u. 469.

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sehr »Mobilen«,10 während sich mit der »ev. Kirche« nur 15,7% sehr, aber 28,3% ziemlich und 24,9% etwas verbunden fühlten.11 Dabei liegt die tatsächliche Verbundenheit mit der Ortsgemeinde sehr wahrscheinlich viel höher: Denn die Frage 10a begünstigt durch Erstnennung und Alleinstellung die – übrigens sozial wie rechtlich gar nicht vorhandene – sog. »evangelische Kirche« und verleitet dazu, die bestehende ortsgemeindliche Verbundenheit auch auf die Fiktion »ev. Kirche« zu übertragen. Im Gegenzug benachteiligt die folgende Frage 11 die Ortsgemeinde durch deren Einebnung in andere »Bereiche kirchlicher Arbeit«. Der allein aussagekräftige Direktvergleich zwischen Ev. Kirche in Deutschland, Landeskirche und Ortsgemeinde wird tunlichst vermieden. Der hätte mit Sicherheit deutlich höhere ortsgemeindliche Verbundenheitswerte ergeben, wie der Vergleich mit den Landeskirchen zeigt.12 Doch selbst diese immer noch stark behinderte Wahrnehmung ortsgemeindlicher Verbundenheit widerlegt bereits nachdrücklich die falsche »Reform«-Vorstellung, »Kirche müsse in der mobilen Gesellschaft ihre Strukturen grundlegend umbauen bzw. die Ortsgemeinde sei nur etwas für die rückständigen, konservativen, nicht mobilen Gemeindeglieder«13. Darum erinnert Prof. Gerald Kretschmar, Tübingen, vom Wissenschaftlichen Beirat der EKD bei seiner Auswertung der KMU V noch einmal nachdrücklich daran, »dass es die gewachsenen volkskirchlichen Strukturen sind, die … die Konturen der Kirchenbindung konstituieren und deren Stabilität ermöglichen«14. Dennoch sollte, wie 2006 die EKD tatsächlich vorschlug, bis 2030 die Hälfte dieser angeblich »antiquierten« Ortsgemeinden liquidiert und stattdessen 50% der Geld- und Personalmittel in neu angesagte ProfilGemeinden gesteckt werden. Erfreulicherweise hatte die damalige hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann am 15.06.2007 vor der Landessynode diese abenteuerliche EKD-Argumentation sofort zurückgewiesen. Allerdings haben seitdem etliche Gremien und Entscheidungsträger der Landeskirche die völlig ungerechtfertigte Abwertung der Ortsgemeinde bei gleichzeitiger Aufwertung von Regionen, Kirchenkreisen und Sondergemeinden immer noch nicht aufgegeben. 10 11 12 13 14

S. ebd., 65. S. ebd., 468. S. ebd., 469. Isolde Karle, ebd., 122. S. ebd., 218.

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Nur die Ortsgemeinde erreicht alle Kirchenglieder Leider ist den Kritikern der Ortsgemeinde zumeist nicht klar, dass jede volkskirchliche Gemeinde sich stets in vier unterschiedlich große Teilgemeinden untergliedert: 1. Gottesdienstgemeinde (ca. 4%) 2. Gruppen- oder Vereinsgemeinde (ca. 10%) 3. Veranstaltungs-Gemeinde (ca. 30%) 4. Amtshandlungs-Gemeinde: Taufen, Konfirmationen, Trauungen, Beerdigungen (100%) Im Gegensatz zu Sondergemeinden wie City-, Tourismus- oder Akademiegemeinden, die tatsächlich milieuverengt sind, weil sie stets nur bestimmte Zielgruppen ansprechen, erreicht gerade die Ortsgemeinde durch ihre beiden größten Teil-Gemeinden im Veranstaltungs- und vor allem im Amtshandlungs-Bereich als einzige kirchliche Handlungseinheit wirklich alle Kirchenglieder und Kirchensteuerzahler und zudem noch weite Teile der Gesellschaft. Im Übrigen hat auch die Mehrzahl der Teilnehmer an Sondergemeinden regelmäßige und vorhergehende Kontakte zu ihren Ortsgemeinden. Selbst die kleine Teilgemeinde der Gottesdienste führt Sonntag für Sonntag, insbesondere aber an besonderen Festtagen, Menschen verschiedener sozialer Milieus zusammen.15 Dabei werden alle Gemeindeglieder in erster Linie durch Gemeinde-PastorInnen erreicht, die Zugang zu allen vier Teilgemeinden haben, insbesondere zu der AmtshandlungsGemeinde, der auch die 70 bis 80% kirchlich Distanzierten angehören. Durch unsere Ortsgemeinden – und nicht durch irgendwelche Sondergemeinden – wird also gerade diese größte Gruppe unserer Kirchenmitglieder und Kirchensteuerzahler erreicht und an unsere Landeskirche gebunden. Nur in der Ortsgemeinde, die nach neutestamentlicher Auffassung die Gesamtkirche repräsentiert (1. Kor. 1,2), ist sinnvoll verankert, was das

15 Diese Milieuvielfalt gerade in der sog. »Kerngemeinde« bestätigt auch die KMU V noch einmal, wie Isolde Karle ausdrücklich festhält: »Dazu passt auch, dass sich die intensivere Wahrnehmung der Ortsgemeinde keinesfalls auf bestimmte soziale Milieus beschränkt. Das Bild von der ›Kerngemeinde‹ ist vor diesem Hintergrund zu korrigieren: Die engagierten Mitglieder sind in sich höchst vielfältig und plural. Sie pflegen darüber hinaus ein weniger traditionelles Kirchenbild als diejenigen, die sich in Distanz zur Kirche sehen« (s. ebd., 122).

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EKD-Papier zutreffend zum Kern kirchlicher Arbeit zählt: Gottesdienst und Amtshandlungen. Vor allem in der Ortsgemeinde finden sowohl die kirchlich Hochverbundenen wie auch die 70 bis 80% kirchlich Distanzierten ihr kirchlichreligiöses Zuhause. Denn: »Die Kirche lebt als Leib Christi zentral von den vielen überschaubaren personalen Gemeinschaften vor Ort und von der Vertrautheit von Gesichtern und Räumen, die nachgewiesenermaßen die Bindung an die Kirche am nachhaltigsten stärken«, wie die Bochumer Theologieprofessorin Isolde Karle in ihrem Vortrag: »Das Ende der Gemütlichkeit?« vor dem Pfarrvereinstag in Hannover am 12.03.2007 zu Recht festgestellt hat.16

Die Ortsgemeinde ist keine gesellschaftsferne Nische Die in der Gesellschaft gut verankerte volkskirchliche Arbeit nahezu jeder Ortsgemeinde widerlegt damit täglich die Behauptungen der älteren Kirchensoziologie mit ihren längst gescheiterten Modernisierungsideen der 70er-Jahre, denen die Propagandisten der Sondergemeinden wie die EKD-Autoren offenbar immer noch anhängen. Diese veraltete Kirchensoziologie sah Kirche und Gesellschaft scharf getrennt und verstand die Ortsgemeinde als gesellschaftsferne, kleinbürgerliche Freizeitwelt. Die Gesellschaft könne nur durch übergemeindliche Dienste wie z.B. den Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt erreicht werden. Einer dieser Kirchensoziologen schlug daher doch tatsächlich vor, die überwiegende Mehrheit der PastorInnen übergemeindlich und nur noch eine Minderheit ortsgemeindlich einzusetzen.17 Doch diese ideologisch verquere Sicht verkennt völlig das Wesen unserer sog. funktionalen Gesellschaft: In ihr wird unserer Kirche das Religionssystem gesellschaftlich zugewiesen. Und darum steht die Evangelische Kirche nicht außerhalb unserer Gesellschaft, sondern hat vielmehr teil an ihr. In einer Fabrik findet deshalb nicht »mehr« Gesellschaft statt als in einem Gottesdienst, in einer Konfirmandenunterrichtsstunde oder bei jedem Seelsorgegespräch.

16 Zeitschrift für Ev. Theologie, 5/2007, 341. 17 Gert Otto, Handlungsfelder der Theologie, München 1988, 365.

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Dabei ist der gar nicht hoch genug zu schätzende Vorteil jeder Ortsgemeinde, dass sie in einer nahezu total unpersönlichen und gesichtslosen Mediengesellschaft auf professionelle Weise, nämlich vor allem durch Gemeinde-PastorInnen, aber auch durch ehren- und hauptamtliche Mitarbeitende, persönliche, direkte und vertrauensvolle Beziehungen vermittelt und sichert. Hierdurch erhalten gerade Gemeinde-PfarrerInnen viel eher als andere gesellschaftliche Berufsgruppen direkten Zugang und Einblick in unterschiedlichste Lebens-Formen und -Verhältnisse; wobei jede Ortsgemeinde beim christlichen Umgang mit ihrer sozialen Vielfalt auch noch ein Vorbild sein kann für die demokratisch-humane Gestaltung unserer gesellschaftlichen Gegensätze.18

Zentrale Ortsgemeinde vernachlässigt – milieuverengte Sondergemeinde bevorzugt Nun ist es schon sehr bemerkenswert, dass von den Sondergemeinden kaum gefordert wird, was man von Ortsgemeinden so unerbittlich verlangt: Qualitätskontrolle! Plötzlich schwärmen alle von der Jugendkirche in X, der Citykirche in Y, den Fundraising-Erfolgen in Z, ohne dass deren Arbeit und vor allem deren Kosten (!) nach vorher festgelegten Kriterien genau überprüft werden. Daraus ergibt sich die ärgerliche Situation, dass die überwiegend gemeindeorientierten Kirchenglieder mit ihren Kirchensteuern die ungerechtfertigten Privilegien gehätschelter Hobby-Gemeinden bezahlen und dafür mit pastoraler Unterversorgung büßen. Und das kann man dann landeskirchenweit beobachten: Überall werden Gemeindepfarrstellen gestrichen, und gleichzeitig schießen auf Kirchenkreisebene (oder noch höher angesiedelt) neue Pfarr- und Mitarbeiterstellen für Öffentlichkeitsarbeit, Innovationsprojekte, Fundraising u.a.m. wie Pilze aus dem Boden. Zu dieser Willkür passt, was vor einigen Jahren ein Superintendent über kirchliche Pastoralsoziologen erzählte: Er habe sie mehrfach zur Begutachtung seiner engagiert arbeitenden und mitgliederstabilen Ortsgemeinden eingeladen. Doch die Soziologen seien einfach nicht gekommen. Ich nehme an, erfolgreich tätige Ortsgemeinden passten nicht in ihr Bild von der Kirche! 18 Isolde Karle, Der Pfarrberuf als Profession, 2. Aufl., Gütersloh 2001, 243ff.

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Selbstverständlich sind auch einige übergemeindliche Handlungsfelder in jeder Landeskirche sinnvoll. Allerdings sind sie deutlich nachgeordnet. Ortsgemeinden können zur Not auch ohne sie auskommen. Doch übergemeindliche Handlungsfelder leben durch die Ortsgemeinden, weil vor allem hier Menschen dauerhaft an die kirchliche Organisation gebunden werden.

Schlussfolgerungen für die Hannoversche Landeskirche Ortsgemeinden stärken Die Identität jeder Ortsgemeinde ist unbedingt zu stärken, auch bei eventuell notwendiger Kooperation oder Regionalisierung. Gemeinsamer Dienst für andere Alle in einer Ortsgemeinde Mitwirkende, ehrenamtliche wie hauptamtliche Mitarbeitende und PastorInnen, müssen auf die grundsätzliche Mentalität eines Dienstes für andere verpflichtet werden. Ortsgemeinden sind keine Spielwiesen für egomane Machtentfaltung oder narzisstische Selbstverwirklichung. Von Beispielen lernen Gute Beispiele von gelingender Gemeindearbeit – ob nun im Gottesdienst-, im Gruppen-, im Veranstaltungs- oder im Kasual-Bereich – sollten sichtbar gemacht und nachgeahmt werden. Das bekäme uns allen sehr gut. Niemand muss das Rad neu erfinden. Und von jedem können wir etwas lernen. Vorrangig Gemeindepfarrstellen erhalten Gemeindepfarrstellen müssen unbedingt erhalten bleiben. Dabei sollten die Pfarrbezirke etwa 2000 Gemeindeglieder umfassen. So viele volkskirchlich orientierte Gemeindeglieder könnte eine PfarrerIn auch wirklich pastoral verantwortlich begleiten. Und 2000 Gemeindeglieder können ihrerseits bequem eine PfarrerIn finanzieren: Sie zahlten in der Hannoverschen Landeskirche 2009 durchschnittlich ca. 293 500 € an Kirchensteuern. Eine Pfarrstelle »kostete« pro Jahr 70 900 €. Es blieben dann immer noch 222 600 € für andere Mit-

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arbeiter, Gebäude-Unterhaltung sowie für Kirchenkreis und Landeskirche übrig. Unberücksichtigt waren bei dieser Rechnung u.a. die ca. 31 Mio. € Einnahmen für 437 Pfarrstellen durch Staatszuschüsse und Pfarrdotationen. Für das Jahr 2014 ist diese Berechnung für Gemeinden und Landeskirche noch günstiger: – Denn ca. 2,7 Mio. Kirchenglieder zahlen inzwischen ca. 535 Mio. € Kirchensteuern, jedes Mitglied also 198 €, 2000 Gemeindeglieder dann 396 000 €, d.h. also 35% mehr als 2009! Zwar kostet jede Pfarrstelle nun 81 300 €. Doch mit 314 700 € stünden der Landeskirche sogar noch 41% (!) mehr als 2009 für alle nicht pastoralen Aufgaben zur Verfügung. – Obwohl ab 2017 die Pfarrstellenpauschale auf 92 800 € steigt, bleibt die komfortable Finanzlage bestehen, da gleichzeitig auch höhere Kirchensteuereinnahmen zu erwarten sind. Wieder kommen noch die Einnahmen aus Staatszuschüssen und Pfarrdotationen von ca. 40 Mio. € für nun 492 Pfarrstellen hinzu, also auch ein Plus von 11,5%! Diese gerechtere Finanzausstattung der Gemeinden verlangt nicht nur das kirchliche Organisationsinteresse, sondern zudem der Stiftungswille der Kirchensteuerzahler: Die fünf KMU belegen seit 1972 eindeutig, dass unsere Kirchenglieder von ihrer Kirche vor allem gemeindlich-pastorale Arbeit mit einem sozialen Akzent erwarten und uns darum ihre Kirchensteuer vorrangig zu diesem Zweck anvertrauen. Und es gibt keinen theologisch stichhaltigen Grund, diesem Vertrauen nicht zu entsprechen! Streichen nach Konzept und nicht nach kurzfristigen Möglichkeiten Darum kann es nicht angehen, Gemeindepfarrstellen zu streichen, nur weil man Stellen von tarifrechtlich nicht oder nur schwer kündbaren MitarbeiterInnen nicht streichen kann. Hier muss die Landeskirche einen anderen Lösungsweg entwickeln. Denn jeder, der eine Gemeindepfarrstelle streicht, muss wissen, welch ein längst und bereitwillig finanziertes Kapital an Vertrauen, Sympathie und Repräsentanz er da vernichtet. Wir sägen uns dann buchstäblich den Ast ab, auf dem wir in unserer Kirche bisher sitzen.

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Wesentlich mehr Geldanteile für die Ortsgemeinden Den Ortsgemeinden müssen deutlich mehr als nur 35–41% der kirchlichen Einnahmen zugutekommen, was nach unseren Berechnungen bislang nicht geschieht! – 2006 behauptete die Hannoversche Landeskirche zwar, 73,13% ihrer Einnahmen habe sie an Kirchenkreise und Gemeinden überwiesen. Unser Pfarrkollege Greving rechnete jedoch öffentlich im HPV-Blatt vor, nur 52,38% seien weitergegeben worden: 35% an die Gemeinden und 17% an die Kirchenkreise. (Zudem finanzierte die Landeskirche Sammelversicherungen, EDV u.a. für KK und KG.) – Aus der bayerischen Landeskirche wird interessanterweise eine ähnliche Auseinandersetzung berichtet: »Nur über 27% des Kirchensteueraufkommens« könnten die bayerischen Gemeinden selbstständig verfügen, klagte der Leiter des Nürnberger Predigerseminars, Martin Hoffmann, vor 150 Teilnehmern der Veranstaltung »Aufbruch Gemeinde«. Es werden »73% des Kirchenhaushalts für die Gemeinden ausgegeben«, erwiderte darauf OKR Hans-Peter Hübner.19 – 2015 will die Hannoversche Landeskirche 67% der Gesamtaufwendungen von 544,1 Mio. €, nämlich 365,5 Mio. € für »Leben in den Gemeinden und Pfarrdienst« ausgeben.20 Auf 61,5% reduziert sich dieser Anteil allerdings nach Abzug der nicht gemeindlichen Pfarrdienste (22%). – Dennoch bleibt eine erhebliche Erklärungslücke zwischen 61% und 53%: Die landeskirchlichen Zuweisungen für 2015 an Kirchenkreise (25%) und Kirchengemeinden (75%) betragen nämlich nur 224,8 Mio. €, also nur 41,31% der Gesamtaufwendungen! Diese landeskirchliche Jahreszuweisung enthält alle Aufwendungen der KK und der KGn, insbesondere die Pfarrbesoldung, die zahlungstechnisch zwar über die Landeskirche verläuft, doch in dem Betrag von 224,8 Mio. € enthalten ist. Zusätzlich erhalten Kirchenkreise und Kirchengemeinden noch weitere Zuwendungen für Sakral- und Kita-Bauten, Sammelversicherungen, Beihilfe (z.B. ca. 10,7 Mio. € für Gemeinde-PastorInnen), Sonderaufwand für die Versorgungskasse (ca. 40,4 Mio. f. G–P) u.a.m., 19 epd-Bayern vom 12.10.2008. 20 S. Jahresbericht 2014 der Ev.-Luth. Landeskirche Hannover, 58.

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abzüglich von ca. 9 Mio. € an diversen Erstattungen wie DWV, Beurlaubungen u.a.m. Darum ergibt für 2015 die geplante Summe aller landeskirchlichen Zuweisungen an KK und KG großzügig berechnet ca. 290 Mio. €, also 53,3% der landeskirchlichen Gesamtaufwendungen. Von diesen etwa 290 Mio. € bekommen die Kirchengemeinden 75% (= 217,5 Mio. €) und die Kirchenkreise 25% (= 72,5 Mio. €). Somit erhalten die Kirchengemeinden mit höchstens 217,5 Mio. € deutlich weniger als die Hälfte, nämlich lediglich 40% der zur Verfügung stehenden Kirchengelder! Gegengewicht zur Macht der Kirchenkreise schaffen Der Kirchenkreis muss Mittel zugunsten der Ortsgemeinden abgeben. Nach der bewussten Stärkung der Kirchenkreise in den letzten Jahrzehnten muss nun endlich deutlich zugunsten der Ortsgemeinden umgeschichtet werden. Betriebswirtschaftliches Denken wirklich beherzigen Gern berufen sich die Kirchenmanager auf die moderne Betriebswirtschaft. Und in der Tat könnten sie hier Entscheidendes lernen wie (a) Finanz-Transparenz, (b) Sparsamkeit, (c) Ausgaben-Gewichtung, (d) Kosten-Nutzen-Analyse, (e) Verwaltungs-Reduktion, (f) ReichweitenBegrenzung: (a) Die Transparenz des kirchlichen Finanz-Systems erfordert zwingend, alle Einnahmen und Ausgaben für alle Handelnden nachvollziehbar darzustellen. Die wenigsten in der Kirche haben hier einen genauen Einblick, schon gar nicht in die Finanzen und Rücklagen der Kirchenkreise! (b) Strenge Sparsamkeit ist Voraussetzung jedes ökonomisch verantwortlichen Umgangs mit anvertrautem betrieblichem Geld. Es gibt z.B. eine Kirchengemeinde in der Hannoverschen Landeskirche, die ihre Diakoniestation für 5000 € p.a. selbstständig und korrekt verwaltet, während das zuständige Kirchenkreisamt für die gleiche Leistung 17 000 € genommen hätte. Bis heute (2015) ahmt niemand diese Einsparung von 240% nach! Und das in einem Kirchenkreis, der bisher fast kein Verwaltungspersonal eingespart hat.

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(c) Betriebswirtschaftlich sinnvolle Ausgaben-Gewichtung muss die gemeindlich-pastorale Arbeit als kirchliche Hauptaufgabe erkennen und hierfür die Hauptausgaben verwenden – und nicht wie bisher nur 35% bis 40%! Dies gebietet allein schon die schiere ökonomische Vernunft: jeder Betrieb, der für seine Hauptproduktion so wenig Geld aufwendet, ist bald insolvent! Da bildet die Kirchenorganisation keine Ausnahme. Doch auch der kirchliche Auftrag und der eindeutig erkennbare Stiftungswillen der Kirchensteuerzahler, wie er in den fünf Kirchenmitglieder-Befragungen von 1972 bis 2012 klar zum Ausdruck kommt, verlangen diese Ausgabenpriorität. Darum muss jede betriebswirtschaftliche AusgabenÜberprüfung auch die Personalentwicklung kritisch betrachten: Verglichen mit dem Stand von 1954 ist die Zahl der Gemeindepfarrstellen in unserer Landeskirche bis 2015 von 1358 auf 1170, d.h. um 14% gesunken, doch die Personenzahl der MitarbeiterInnen und KirchenbeamtInnen (503) ist von 5000 auf ca. 21 700, d.h. um 434% gestiegen, wobei der Anstieg der umgerechneten Vollzeit-Stellen für MitarbeiterInnen und KirchenbeamtInnen von 1700 auf 12 970 sogar die exorbitante Größe von 763% betrug. Hier muss die Landeskirche nun in der Tat endlich umsteuern und sozial verträglich einsparen, z.B. durch Aufhebung von Stellen nach Pensionierung und Verrentung. (d) Dringend notwendig ist auch eine erhebliche Reduktion der Verwaltung. So sank z.B. innerhalb der letzten dreißig Jahre in einem Kirchenkreis die Zahl der Gemeindeglieder um 17%, der Pfarrstellen um 35%; die der Verwaltungsstellen blieb jedoch merkwürdigerweise gleich. Die Mitarbeiterzahl erhöhte sich sogar um 10%! In einem andern Kirchenkreis wurde von 2001 bis 2015 die Zahl der Pfarrstellen um 30% (von 41 auf 28,5) gekürzt, die der Verwaltungsstellen jedoch nur um 3% (von 32 auf 31)! Für seine GemeindepastorInnen plant dieser KK für das Jahr 2017 Aufwendungen in Höhe von 2,751 Mio. €, das sind nur 41% seiner ohnehin schon viel zu geringen landeskirchlich zugewiesenen Personalkosten (s.o.), also lediglich 45,67 € p.a. pro Gemeindeglied, das 2017 durchschnittlich 200 € gezahlt hat.

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Für Verwaltung (990 000 €) und MitarbeiterInnen dagegen will dieser KK mit 2,434 Mio. € 59% der Personalmittel reservieren! Diese dramatische Fehlentwicklung unterstreicht noch einmal, wie wichtig es wäre, endlich den sehr interessanten Vorschlag auszuführen, die oft gut qualifizierten Ehrenamtlichen in der Verwaltung einzusetzen. (e) Eine strenge Kosten-Nutzen-Analyse aller gegenwärtig so beliebten Neuerungen wie Fundraising, Stiftungen, Innovationsprojekte, Beratungsmodelle, Öffentlichkeitsarbeit u.a.m. hätte jede seriöse Betriebswirtschaft längst durchgeführt. Die Institution Kirche muss wieder Dienstleister der Kirchengemeinden werden. Grundsätzlich hat jede betriebswirtschaftliche Planung ihre zeitliche und sachliche Grenze unbedingt zu beachten: So ist eine Finanzprognose für 25 Jahre im Voraus völlige Hybris – oder bewusste Kirchenpolitik! Verantwortlicher ist ein Zeitraum von maximal zehn Jahren. Doch noch stärker als die zeitliche Begrenzung muss Kirche die sachliche Grenze jeder betriebswirtschaftlichen Planung respektieren, wie die Diplomökonomin Anna Stöber überzeugend dargelegt hat.21 Anna Stöber weist nachdrücklich darauf hin, dass betriebswirtschaftliche Beratung in der Kirche allzu oft gerade die primäre Aufgabe der Kirchengemeinden übersehe, durch direkte, persönliche Kommunikation Vertrauensbeziehungen in der Gemeinde aufzubauen und damit auch individuelles Engagement zu ermöglichen. Daher dürften vor allem im gemeindlichen Bereich Mitarbeitende nicht weiter reduziert und auf keinen Fall kirchengemeindliche Aufgaben auf bezahlte Stabsstellen übertragen werden. Ganz im Gegenteil: Der Umfang formaler Organisation der Kirche sei zu vermindern! Denn die Institution Kirche habe sich vorrangig als Dienstleister der Kirchengemeinden zu verstehen, und es dürfe grundsätzlich keine kirchliche Dienstleitung mehr ohne den Weg über die Kirchengemeinde geben.

21 Anna Stöber, Kirche – gut beraten? Betrachtung einer Kirchengemeinde aus betriebswirtschaftlicher und funktionalistisch-systemtheoretischer Perspektive, Heidelberg 2005.

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Leider übersehe die reine Betriebswirtschaft gerade diesen wichtigsten »Wettbewerbsvorteil« der Kirchengemeinden, »eine der letzten Stätten leistungsunabhängigen Engagements und persönlicher Entwicklung (zu) bleiben – zum Wohle ihrer Mitglieder wie zu ihrem eigenen institutionellen Fortbestand.«22 Ohne Bezahlung engagiert sich das Gemeindeglied gerade darum so gern, weil es eben nicht dazu verpflichtet werden kann. Der kranke Mensch freut sich, wenn er besucht wird, weil man ihm freiwillig, nämlich unentgeltlich Zeit schenkt. Der Pfarrer wird geschätzt, weil er unbezahlt kommt. Er bekommt zwar auch sein Gehalt, wie jeder weiß; doch er wird für seinen Besuch eben nicht direkt bezahlt – und schon gar nicht von dem Besuchten. Es ist daher in unserer kirchensteuerfinanzierten Volkskirche ekklesiologisch unhaltbar, wenn die Hannoversche Landeskirche einige Gemeindepfarrstellen durch Spenden (teil-)finanzieren lässt oder die rheinische Landeskirche »pastorale Dienste auf Honorarbasis« für TheologInnen im Angestelltenverhältnis für fünf Jahre erprobt.23 Wer pastorale Handlungen so direkt mit geldlicher Entlohnung verknüpft, der gefährdet unsere Volkskirche zweifach: Einmal untergräbt er mit seiner Spenden- und Stiftungsfinanzierung das pauschale Kirchensteuersystem und die Stabilisierung der Kirchengemeinde: Denn niemand zahlt auf Dauer doppelt! Zum anderen zerstört er in unverantwortlicher Weise ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal unserer Kirche: das pastoral-seelsorgerliche Vertrauen, das bisher konsequent von jedem ökonomischen Verwertungsinteresse freigehalten wurde, was in unserer Gesellschaft im professionellen Bereich beispiellos ist!

Schlussbemerkung: Dem selbstwirksamen Wort Gottes vertrauen Alle, die sich um Erneuerung unserer Kirche so emsig mühen, sollten sich bei ihrem Eifer stets zu Herzen nehmen, was Isolde Karle in ihrem 22 Anna Stöber, »Kirche gut beraten ›Optimierung‹ versus ›Stabilisierung‹ – Handlungsempfehlungen für Kirchengemeinde«, DPfBl 2/2006, 8. In diesem Zusammenhang kritisiert A. Stöber vor allem das sog. Ev. München-Programm (e MP) McKinseys als destruktiv, weil es nachweislich die Fixkosten nicht vermindert, sondern vermehrt und zudem den mitgliederfremden formalen Organisationsgrad des KK München zulasten der Beziehungsarbeit in der Gemeinschaft erhöht habe, obwohl doch klar erwiesen sei, dass kirchliche Gemeinschaft im Wesentlichen gerade auf persönlichen Beziehungen beruhe. 23 Pressemitteilung 40/2009 der Ev. Kirche im Rheinland vom 15.1.2009.

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Vortrag auf dem Hannoverschen Pfarrvereinstag vom 12.03.2007 allen »Reformern« ins Stammbuch geschrieben hat: Jede Bemühung um kirchliche Zukunftsgestaltung müsse streng unterscheiden zwischen Menschenwerk und Gotteswerk und zunächst einmal humorvoll und gelassen auf die Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes vertrauen und dabei die Distanz zum eigenen Tun von Martin Luther neu erlernen, der von sich behauptet: »Ich hab’ allein Gottes Wort getrieben, gepredigt und geschrieben; sonst hab’ ich nichts getan. Das hat, wenn ich geschlafen hab’, wenn ich wittenbergisch Bier mit meinem Philippo oder Amsdorf getrunken hab’, alles getan. Ich hab’ nichts getan.« Aus diesem Grundvertrauen auf das selbstwirksame Gotteswort könne sich Kirche endlich wieder als »Geschöpf des Gotteswortes« begreifen und nicht mehr als Werk menschlicher Selbstorganisation missverstehen. Denn christlicher Glaube sei weder herstellbar noch käuflich – und, so füge ich hinzu, er hat Jesus Christus zu verkündigen – und sonst nichts – und das umsonst!

1.3 Übermäßiger Abbau von Gemeindepfarrstellen und ein neues Pfarr-Leitbild

Klaus Guhl

Pastoren: In Zukunft berufen zum Dienstleister?1

Die Region, das unbekannte Wesen In Zukunft werde ich also Pastor in einer Region sein. So jedenfalls sieht es der neue Pfarrstellenplan in meinem Kirchenkreis vor. Die Synode hat ihn beschlossen. Bislang war ich Pastor in einer Gemeinde. Laut meiner Berufungsurkunde hat man mir Vertrauen ausgesprochen und mir die Gemeinde A »mit allen ihren Gliedern« anbefohlen und umgekehrt gewünscht, dass die Gemeinde mir zur Seite stehen möge. Von Region war da nicht die Rede. In der Verfassung finde ich den Begriff auch nicht. Trotzdem sind wir nun eine Region, die Gemeinde A und die Gemeinde B. Gefragt wurden wir nicht.

Nostalgie I Bislang waren wir gute Nachbarn. Der Amtsbruder von B hatte die kleinere Gemeinde, wir von A die größere. Darum waren wir zu zweit und er allein. Als gute Nachbarn haben wir ihm geholfen. Wenn es mal eng wurde, wenn er in Urlaub ging, wenn er krank war, zur Fortbildung fort war usw. 1 Erschienen in: Forum 72, Mitteilungsblatt des Vereins der Pastorinnen und Pastoren in Nordelbien E.V., Juli 2013, 15–18.

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Als die Küsterstellen gekürzt wurden, haben die Nachbarn uns geholfen. Unser Küster bekam auf deren Friedhof eine zusätzliche Beschäftigung. Als die Gemeindeschwestern – dank der Pflegeversicherung – in eine ungewisse Zukunft blickten, haben wir gemeinsam eine GmbH gegründet. Eine Pfadfindergruppe wirkt in beiden Gemeinden. So ist das unter Nachbarn. Man hilft sich. Vor Jahren, als die Belastungen für den Amtsbruder in B zu groß wurden, ordnete die damalige Pröpstin an, dass wir zu 20% in der Gemeinde B arbeiten sollen. Haben wir gemacht als gute Nachbarn. Nun jedoch sind wir Region. Nun sind wir zur Zusammenarbeit verpflichtet.

Region, was ist das? Ich habe Mühe, einem Kirchengemeinderat zu erklären, was eine Region ist. »Also«, sage ich dann, »in Zukunft werden die beiden Pastoren von Gemeinde A und der eine Pastor von Gemeinde B gemeinsam verantwortlich sein für die Region AB.« – »Region, kann ich das irgendwo im Gesetz nachlesen?«, fragt mich dann der Jurist im KGR. »Nein.« Komisch, denkt der dann, wir verfahren nach einem Modus, den es nicht gibt. Gut, das ist Kirche, kann man dann meinen. Praktisch, pragmatisch, gut. »Werden wir denn auch gefragt?«, ist dann die nächste Frage. »Jein.« Aber wir haben einen Synodenbeschluss. Der ist demokratisch, der ist amtlich. Nach dem müssen wir verfahren. So ist das Gesetz, dem wir folgen. Was da steht, gilt. Nichts anderes. Wo kämen wir denn auch sonst hin, wenn wir anders verfahren, als im Gesetz steht? Demokratisch, verbindlich, transparent. Gut.

In Zukunft Region Dann werden wir mal mit Gemeinde B reden. Zunächst einmal mit dem Pastor. – »Ist aber nicht nur Pastorensache, geht uns alle an«, knurrt ein alter KGRler. »Wir werden berichten«, sage ich. »Und wenn es nicht klappt unter euch Pastoren?« Dann sprechen wir mit einem Berater, dann gründen wir einen Ausschuss, dann machen wir

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eine gemeinsame KGR-Sitzung zum Kennenlernen, dann diskutieren wir, dann machen wir eine Probephase. Und dann …? Sehen wir weiter. (Nordelbien war ja mal stolz auf seine Gesprächskultur.) »Und wenn das alles dann immer noch zu keinem Ergebnis führt?« Dann gibt es eine Dienstanordnung der Pröpstin. »Aha, so ist der Weg. Einigt euch, wenn nicht, holt euch einen Berater, wenn´s dann immer noch nicht klappt, dann gibt es eine Order. Vielleicht sollte man sich gleich die Order holen, dann würden zumindest die Kosten für Gemeindeberatung gespart werden.«

Dienst in Prozenten? In Zukunft werde ich also mehr in der Region arbeiten. M.a.W.: In Zukunft werde ich weniger in meiner Gemeinde arbeiten. Denn ich kann ja nur mehr woanders arbeiten, wenn ich vor Ort weniger arbeite. Anders geht es logischerweise nicht. Es muss allerdings deutlich sein, was Arbeit ist. Sonst kann ich die Anteile nicht einteilen. Auch wäre es fair gegenüber den Gemeinden A und B. Nicht, dass es Streit gibt. »Er kümmert sich ja nur noch um B!« (Nordelbien war auch mal stolz auf seine Streitkultur.) Das ist auch nur fair gegenüber den beiden Kollegen, dem von A und dem von B. Nicht, dass nachher jemand denkt, er allein trüge alle Last. Nein, die Lasten sollen schon gemeinsam getragen werden. Dazu muss man sie bemessen und proportional verteilen. Doch wie misst man die pastoralen Tätigkeiten? Die Anzahl der Gottesdienste, Taufen, Trauungen, Beerdigungen und Konfirmandengruppen? Klingt gut, das sind Zahlen, damit kann man rechnen. Ein Teil meines Dienstes wird so zu einer berechenbaren Leistung, die ich erbringe, die man kontrollieren kann. Nun gilt nicht mehr – wie in der Berufungsurkunde formuliert – ein Vertrauen in mich, sondern die Möglichkeit zur Kontrolle. Dass Vertrauen gut ist und Kontrolle besser, wusste schon Lenin, der sich dieses Herrschaftselementes zu bedienen wusste.

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Berufener oder Dienstleister Je weniger Pastoren vor Ort sind, desto größer wird der Anteil der Pflichtaufgaben und desto geringer wird der eigene Gestaltungsspielraum. Wer pro Woche drei Beerdigungen, vier Konfirmandengruppen und die Predigt zu halten hat, dem bleibt weniger Zeit für die Vorbereitung eines Konzertes, die Ausarbeitung eines Vortrages, Haus- und Krankenbesuche etc. Die Pflichtaufgaben mutieren durch erhöhte Erwartungen einer Servicegesellschaft immer mehr zu Dienstleistungen. »Welcher Pastor uns traut, ist uns egal. Hauptsache, es geht am Sonnabend um 12.30 Uhr.« Mehr Service geht aber nur mit mehr Personal. Eine dünnere Personaldecke verschlechtert den Service. Außer eben, man nutzt durch Umgewichtungen die vorhandene Arbeitskraft intensiver. Nicht mehr Beziehungsgeschehen, Begleitung von Menschen, theologische Vertiefung, spirituelle Reifung, jeweilige Justierung auf die spezielle Situation sind angefragt, sondern die servicegerecht erbrachte Dienstleistung. Besonders bei Trauungen, aber auch bei anderen Kasualien, verstärkt sich m.E. die Tendenz zum Event. Kleid, Musik, Blumenschmuck und allerlei anderes an Trara scheint wichtiger als Verkündigung, Zuspruch und Segen. Ein aufmerksamer Pastor, der sich Zeit zum Gespräch nimmt, wird mit dem Paar den tieferen Charakter der Kasualie ent-decken. Wer jedoch in der Region »am Fließband« traut, tauft, beerdigt, wird weniger die Zeit und Aufmerksamkeit aufbringen können und steht in der Gefahr, ebenfalls die Kasualie auf ein Event zu reduzieren. Die Anzahl der Trauungen ist messbar, kontrollierbar. Die Qualität eines Gespräches ist es nicht.

Wer kontrolliert die Kontrolleure? In meiner Gemeinde A haben wir Pastoren, die Mitarbeiter und der KGR die Gemeindearbeit gemeinsam gestaltet. In der Gemeinde B bin ich nicht Mitglied im KGR. Wie kann ich da mitgestalten? Ist das überhaupt

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gewünscht? Oder sagen die mir einfach, was sie erwarten, und ich habe das dann zu machen? In der Nachbargemeinde B haben wir von Gemeinde A einen kleinen Pfarrbezirk übernommen, der in etwa 20% entspricht. Da ist es in B zu Protesten gekommen. Menschen fühlen sich abgekoppelt von ihrer Gemeinde. Nach ihrem Empfinden gehören sie nicht nach A und wir nicht richtig nach B. Was eben auch daran liegt, dass wir von A die Menschen in B nur durch Seelsorge und Kasualien versorgen. Sie uns am Sonntag nicht als Prediger in B hören oder uns auf Gemeindeveranstaltungen antreffen. Wir sind halt keine Pastoren in B, sondern haben da lediglich einen definierten Dienst(leistungs)auftrag.

Nostalgie II »Wo wirst du dann wohnen?«, fragt mich mein KGRler. Wieso? »Na, wenn du in Zukunft mehr in Gemeinde B arbeitest, wollen die dich da vielleicht auch wohnen haben. Obwohl, in Zeiten von Telefon und Auto ist es nicht so wichtig, wo du wohnst.«

Alles fließt. Bloß wohin? Es ist ja immer alles irgendwie im Wandel. Warum auch nicht? Es muss nicht alles so bleiben, wie es einmal war. Schließlich holen wir das Wasser auch nicht mehr aus dem Ziehbrunnen. Nicht nur das öffentliche Pastorenbild kann sich ändern, sondern auch unser Berufsverständnis. Dieser Prozess sollte transparent und theologisch reflektiert gestaltet werden. Schließlich sind wir Lutheraner, und Luthers Berufsverständnis hat die westliche Kultur sehr geprägt. Eine neuzeitliche Definition des Pastorenberufes darf sich nicht als schlichte Konsequenz pragmatischer Beschlüsse irgendwie ergeben. Nicht: Wir haben kein Geld und dann kürzen wir eben ordentlich beim pastoralen Personal und packen die Restbestände in Regionen zusammen, in der Hoffnung, dass weniger Menschen mehr zustande bekommen. Sondern: Sollten wir wirklich die Rolle der Pastoren neu gestalten müssen, dann machen wir das bewusst,

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transparent und konsequent. Wer A sagt, muss auch B sagen. Dann definieren wir Arbeit, dann regulieren wir die Arbeitszeit und denken über die Residenzpflicht in der Region neu nach.

Ein Blick über den Zaun In Zukunft arbeite ich in einer Region. Dann ist es nicht mehr nur anvertraute Aufgabe, die mir in der Berufung zugesprochen wurde, sondern auch berechenbare Dienstleistung. Dann ist es eben ein Stück mehr Job und weniger Berufung. Man mag den Zeitgeist bedauern, doch kann man ihn abwenden? Wenn’s dann so ist, dann sollte es halt auch konsequent gemacht werden. Sprich, es gibt klare Aufgabenbereiche. In Zukunft weiß ich, was ich zu tun habe und was nicht. Weiß ich, was Arbeit ist und wo ich Freizeit habe. Kann ich, wie jeder andere auch, meinen Rollenwechsel zwischen privat und öffentlich vollziehen. Kann und muss ich nicht rund um die Uhr für Region AB vor Ort sein, sondern darf mich frei von Residenzpflicht zur Rekreation zurückziehen. Meine dänischen Amtskollegen machen das vor. Sie sind Staatsbeamte und haben eine feste Arbeitszeitregulierung. Sie wissen klar, was ihre Aufgaben sind und was nicht. Da spricht keiner von 54 Wochenstunden. Ob sie weniger Burn-out haben? In Dänemark scheint es zu funktionieren. Ist das so verlockend? Ich bin einmal anders angetreten, damals. Aber das ist schon eine Weile her. Geschrieben Sommer 2013. Mittlerweile sind zwei Jahre vergangen. Von Region spricht keiner mehr. Der neue Begriff heißt »Handlungsraum«, verspricht blühende Landschaften und etikettiert nun die zentralistischen Bestrebungen. So beschloss man in Schleswig die Zusammenlegung aller Stadtgemeinden zu einer Gemeinde mit rund 14.000 Mitgliedern. Einen Tag später, am 23. Juni 2015, titelt das »Flensburger Tageblatt«: »Nordkirche laufen die Mitglieder weg – Austrittswelle hält an: Minus von fast 48.000 in einem Jahr«.

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»Gemeindliche Handlungsräume – ein Modell der Zukunft?«, fragt der Newsletter des Kirchenkreises im Juni 2015 und fährt fort: »Nach diesem Modell sollen Kirchengemeinden künftig … zusammenarbeiten, wobei verschiedene Organisationsformen denkbar sind – von Kooperationen über Fusionen bis hin zur Gründung von Gemeindeverbänden. Mindestens 5000 Gemeindemitglieder soll jeder Handlungsraum zählen, wobei auch größere Einheiten denkbar und möglich sind. Pro 2300 bis ca. 3000 Gemeindegliedern soll es eine Pfarrstelle geben und darüber hinaus je nach Angebotsschwerpunkten in den Gemeinden hauptamtliche Kirchenmusik und Gemeindepädagogik. Der Kirchenkreisrat hat dieses Modell ins Gespräch gebracht, weil trotz guter Konjunktur und damit hoher Kirchensteuerzuweisungen sowohl der Kirchenkreis als auch die meisten Kirchengemeinden höhere Ausgaben als Einnahmen haben.«

Christoph Bergner

Warum der EKHN die Pfarrer abhandenkommen Zu den Gründen einer verfehlten Personalpolitik1

Das Amtsblatt Juli 2010 brachte eine erstaunliche Meldung: Drei Studierende haben das Erste Theologische Examen bestanden. Im Dezember 2010 sind es dreizehn Absolventen. Mit dieser Zahl ist das Nachwuchsproblem der EKHN deutlicher sichtbar geworden, als es den Verantwortlichen lieb sein kann.

Wie kommt es zu dieser Entwicklung, die die Lage der Evangelischen Kirche in einigen Jahren erheblich prägen könnte? Schon Anfang der 90er-Jahre vertrat der damalige Personalreferent die Auffassung, dass es viel zu viele Pfarrer gäbe. Er untermauerte diese Position mit vielen Zahlen. Sorgfältig prüfen konnte man allerdings diese Angaben nie, denn es wurden immer andere Kriterien zugrunde gelegt und nie eine Gesamtübersicht präsentiert. Die Folgen sind noch im Haushaltsplan 2006 nachzulesen, wenn es da (S. 56, Anmerkung 7) heißt: »Auswertung aus alter Datei mit Unschärfen, da in den 90er-Jahren nicht konsequent zwischen Stellen und Personen unterschieden wurde.« Mal wurden Anstellungsverhältnisse genannt, mal Vollstellen, mal Teilzeitstellen, mal wurden Köpfe gezählt (also auch solche, die in keinem Anstellungsverhältnis mehr standen, aber möglicherweise einmal wieder ein Anstellungsverhältnis anstreben würden). Wer sich mit diesen Fragen befasste, musste sich bald damit abfinden, dass es nicht gewünscht war, die tiefe Weisheit und Organisationskunst der Personalverwaltung kennenzulernen und nachzuvollziehen. Im Gegenteil: Konkretere Rückfragen wurden im Finanzausschuss einmal mit dem Verdikt, dass das »in-

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Hessisches Pfarrblatt, April 2011.

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quisitorische Fragen« seien, erfolgreich zurückgewiesen. Freilich musste die Synode den Handlungsrahmen gesetzlich immer wieder abstecken, was sie in ständigen Novellierungen des sogenannten »Erprobungsgesetzes« treu und neu beschloss. (Auch ich habe mich bis zur Herbsttagung 1997 auf die Ausführungen der Verwaltung zu Personalkosten und -stellen verlassen.) Als der damalige Personalreferent schon von der Synode mit Standing Ovations und einer bis dahin nicht gekannten ruhegehaltsfähigen Zulage in den Ruhestand verabschiedet worden war, trauten sich erstmals Vikare, gegen die Kirchenleitung zu klagen. Das Erprobungsgesetz hatte so viele Novellierungen erfahren, dass am Schluss auch die Kirchenverwaltung selbst die gerade gültige Regelung nicht mehr überblickte. Die Klage des Vikarkurses war im Sommer 1998 erfolgreich. Alle Vikare mussten in den Pfarrdienst übernommen werden. Um keine weitere Niederlage vor dem kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgericht hinnehmen zu müssen, bot die Kirchenleitung dem nächsten Kurs, der bereits seine Klage eingereicht hatte, je Vikar eine Abfindung von 250 000 DM an, wenn sie die Klage zurückzögen und auf ein Pfarramt verzichteten. So wurden 5 Millionen DM für einen Vergleich fällig. So führte der Personalreferent etwa im Dezember 1998 aus, dass auch bei der geplanten »Reduktion um ca. 360 Stellen bis 2011/12 … die Landeskirche … immer noch 300 Vollstellen mehr hätte als im Jahr 1970«.2 Damit war jedem klargemacht geworden, dass die Kirche keine Pfarrer mehr braucht. Die Zahlen der Studienanfänger gingen deutlich zurück. Man wird das Desaster hoher Abfindungen für Mitarbeiter, die nie welche geworden sind, vor Augen haben müssen, um zu verstehen, dass die Kirche in den nächsten Jahren außerordentlich vorsichtig operierte. Charakteristisch war, dass die Frage des Nachwuchses synodal nicht verhandelt wurde. (Erstmals geschah das vonseiten der Kirchenleitung im letzten Bericht des Kirchenpräsidenten im Frühjahr 2010.) Man pflegte weiter das Gerücht, es gebe viel zu viele Pfarrer. Noch bei der Durchsetzung des Dekanatsstrukturgesetzes im Herbst 2000 spielte das Argument eine Rolle, dass die vielen in den schrumpfenden Gemeinden nicht mehr einsetzbaren Pfarrer sinnvoll in Profilstellen beschäftigt würden. Man-

2 Protokoll der 2. Tagung der 9. Synode, Dez. 1998, 41f.

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cher Synodale stimmte dem Gesetz zu, weil es angeblich Pfarrstellen sichern würde. Nur wenige Monate später, in der Frühjahrssynode 2001, meldete sich Propst Eibach zu Wort. Er verwies auf die schwierige Lage in seiner Propstei. Die Zahl der Vakanzen liege oberhessenweit »noch knapp unter 10%, aber es gibt oberhessische Dekanate mit über 20% Vakanzen«. Eibach stellte die Lage eindringlich und überzeugend dar. Am Ende seiner Rede zitierte er die Kirchenordnung, die von der Kirchenleitung die »ausreichende geistliche Versorgung der Gemeinden und die rechte Ausrichtung des kirchlichen Dienstes im öffentlichen Leben« verlangt. Wer dabei die Gesichter der Kirchenleitung sehen konnte, wird das nicht vergessen. Die Antwort des Kirchenpräsidenten ließ nicht lange auf sich warten. »Ich kann jedes Wort unterschreiben, jedes Wort. Aber ich hätte es gern vorher gehört. Es gibt auch eine bestimmte Loyalität in Gruppen.« Die Formulierung zeigt ein Handlungsmuster, das viele Jahre in der EKHN galt und vielleicht immer noch gilt. Wer Kritik übt, dem wird mangelnde Loyalität vorgeworfen. Hätte Eibach sein Anliegen dem Kirchenpräsidenten vorgetragen, hätte die Synode nie davon erfahren. Im Zweifel ist die »Loyalität in der Gruppe« wichtiger als die Wahrheit für die Kirche. Der Auftritt Eibachs vor der Synode war der letzte dieser Art. Die neue Kirchenordnung erlaubt dergleichen nicht mehr. Die Kirchenleitung und ihre Vertreter im Kirchenordnungsausschuss haben daraus gelernt und die Konsequenz gezogen. Damals – nach dem Auftritt Eibachs – allerdings wurde eine Sondersynode einberufen, die sich im darauf folgenden Herbst mit dem Thema Pfarrermangel befasste. Für das weitere Verfahren war entscheidend, dass die Synode zwar viel beschloss, aber alle Beschlüsse als Material an die Kirchenleitung gingen. Unter Synodalen wird dieses Verfahren als »Beerdigung erster Klasse« bezeichnet. Die Kirchenleitung war also frei, mit diesen Beschlüssen zu tun und zu lassen, was sie wollte. Als im Frühjahr die Personalplanung im Finanzausschuss vorgestellt wurde, erklärte der Personalreferent, dass es keine Änderungen in der Personalplanung geben würde. Auf Rückfrage, wie das mit den Synodenbeschlüssen der Sondersynode zusammenpasse, stellte er fest, dass er mit dem Vorsitzenden des Theologischen Ausschusses verabredet habe, dass man in Zukunft eine regelmä-

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ßige Kürzung der Pfarrstellen um 1% vorsehe. Auch dieses Verfahren hat exemplarische Bedeutung: An die Stelle einer synodalen Beratung tritt die Position eines Ausschussvorsitzenden. So hat der Ältestenrat, die Gruppe der Ausschussvorsitzenden und der Propsteisprecher, in den Reformbemühungen der letzten Jahre eine besondere Stellung bekommen, die ihm von der Kirchenordnung her nicht zukommt. Faktisch bedeutet das, dass einige wenige Ausschussvorsitzende die Entscheidungen der Synode entscheidend vorprägten. Aus Sicht der Kirchenleitung ist dieses Verfahren hervorragend gelungen. Immer wieder kann man feststellen, wie Beschlüsse der Synode anschließend in den Ausschüssen beraten werden und in der nächsten Synode nach Beratung durch den Ältestenrat in ihr Gegenteil verkehrt werden. (So ergab etwa die Aussprache der Synode im Herbst 2009 ein klares Votum für den Erhalt des Religionspädagogischen Studienzentrums in Schönberg, während im Frühjahr das Studienzentrum ohne Probleme geschlossen werden konnte.) Die Vakanzproblematik in den Kirchengemeinden wurde nun durch Stellenstreichungen verringert: 1998 gab es noch 1.201 Gemeindepfarrstellen, seit 2007 sind es noch 1.034. Die Logik ist einfach und schlüssig: Wo es keine Stellen gibt, kann es auch keine Vakanzen geben. Im Dt. Pfarrerblatt ist die Entwicklung im Gemeindepfarrdienst scharf kritisiert worden: »Es geht konkret um die immer unerträglicher werdende Geringschätzung, ja geradezu Verachtung der Theologie und der Arbeit von Theologinnen und Theologen im Gemeindepfarramt. Auf der Synode der Ev. Kirche von Westfalen zum Beispiel wird kirchenoffiziell davon geredet, dass die Streichung von Gemeindepfarrstellen den Gemeinden und Kirchenkreisen zugutekomme. … Wann ist je so abfällig und entwürdigend über diesen Berufsstand geredet worden?«3 Die Strategie der hessen-nassauischen Kirchenleitung und der sie mittragenden Synodalen war da klüger. Die ständige Verschiebung von Mitteln und Stellen zulasten der Gemeinden hat man immer kaschiert und beschönigt. Wer sich zur Wehr setzte, dem wurde eben Illoyalität und mangelndes Vertrauen in die Kirchenleitung vorgeworfen. Unglücklicherweise entfielen auch just da Pfarrstellen, wo es Beschwerden gegeben hatte. Was ein reiner Zufall war, der sich leider zufällig wiederholte. So 3 DPfBl 6/2010, 328.

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hält man sich unter den Pfarrern zurück oder man hält es mit dem Dekanatssynodalvorstand, der nach dem Dekanatsstrukturgesetz über die Pfarrstellen verfügt. Im April 2007 verkündete die Stellvertretende Kirchenpräsidentin, dass man in Zukunft von einer jährlichen 2%igen Kürzung der Pfarrstellen ausgehen wolle. Auf Einwände aus der Synode legte sie dar, dass es ohnehin nicht mehr die Personen gebe, mit denen die Stellen besetzt werden könnten. Die Pröpste, so die Stellvertreterin des Kirchenpräsidenten in ihrer Rede, »gaben der Hoffnung Ausdruck, dass in der nächsten Zeit doch mehr Menschen Theologie studieren könnten. Das kann ja sein, und wir werben ja auch für das Theologiestudium, aber wir können unsere Planung nicht auf Hoffnung gründen.«4 Die Kirchenleitung plante in ihrem Perspektivpapier schon eine Entlastung in der Gemeindearbeit und schlug Gemeindemanager vor, die Verwaltungsaufgaben und anderes übernehmen. Sie könnten für mehrere Gemeinden gleichzeitig tätig werden. Das würde der Kirchenleitung neue Einflussmöglichkeiten auf die Gemeinden eröffnen. Auf diesem Wege ließe sich schon die gewünschte Vernetzung der Gemeinden betreiben. Die Kirchenvorstände könnten sich auf das »Wesentliche« konzentrieren, was heißt, dass sie der Verwaltung nicht ins Handwerk pfuschen. Nicht erst die bisher fiktive Berufsgruppe der Gemeindemanager ist ein Hinweis darauf, wie man am Paulusplatz über den Gemeindepfarrdienst denkt. Das Dekanatsstrukturgesetz ermöglichte, auch andere Berufsgruppen auf Pfarrstellen zu setzen. Nachdem man festgestellt hatte, dass es statt des Pfarrerüberhangs einen Pfarrermangel gab, ließ sich leicht begründen, warum man nun auf Dekanatsebene auch Journalisten, Betriebswirte, Psychologen, Sozialpädagogen und Gemeindepädagogen mit Pfarrstellen versorgen musste. Diese Entscheidung birgt Implikationen, die wenigstens kurz erwähnt werden sollten: Der Gemeindepfarrdienst kann auf diese Pfarrstellen nicht mehr zurückgreifen. Gottesdienst oder Kasualvertretung kann eben von einem Journalisten nicht übernommen werden. Im pastoralen »Kerngeschäft« wird der Gemeindepfarrer von der mittleren Ebene in 4 Protokoll der 7. Tagung der zehnten Kirchensynode, 87.

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der Regel nicht entlastet werden können. Das ist auch so gewollt. Denn der Gemeindepfarrer soll nach Ansicht des Personalreferenten die »Grundversorgung« sichern. (Dieser Begriff ließ sich nicht widerstandslos durchsetzen. Deshalb wird er derzeit nicht mehr gebraucht, ist aber weiter »handlungsleitend«.) Die Grundversorgung lässt sich nämlich nach Ansicht der Kirchenverwaltung auch mit deutlich weniger Pfarrern, z.B. durch Prädikanten und andere Ehrenamtliche, sichern. Die Fantasie der Verwaltung, wie leicht sich das gemeindliche Leben durch allerlei Billigangebote gestalten lässt, darf nicht hoch genug geschätzt werden. Wirklich professionell geht es nämlich erst in den höheren Ebenen der Verwaltung zu. Deshalb mussten dort auch die Gehälter deutlich erhöht werden, um die neuen, gewachsenen Verantwortlichkeiten auch haushaltstechnisch korrekt abzubilden. Zu den Besonderheiten der Gehaltsstruktur gehört in der Kirchenverwaltung auch, dass es keine Rückstufung gibt, wenn ein Kirchenbeamter seine Stelle wechselt. Das führt zu einem interessanten Personalkarussell, das sich in diesem Herbst zum ersten Mal schon sehr erfolgreich für die Betroffenen gedreht hat. Ein B3-Beamter tritt von seinem Posten zurück, behält sein Salär und ermöglicht dem nächsten, auf B 3 zu kommen.

Die veränderte Sicht des Gemeindepfarrdienstes zeigt sich auch im Bedeutungswandel des Pfarrhauses Die Anfänge auch dieses Paradigmenwechsels liegen in den 90er-Jahren. Damals stellte die Personalabteilung die These auf, die Pfarrhäuser wären ein Privileg der Pfarrschaft, das es abzuschaffen gelte. Deshalb müssten die Umlagen für die Pfarrhäuser erhöht werden. Nachfragen über die tatsächlichen Kosten – auch im Vergleich zu anderen Kirchen – hat man damals nicht beantwortet. Die Logik der Vertreter dieses Standpunkts war einfach: Die Bauunterhaltung der Pfarrhäuser koste jedes Jahr einige Millionen DM. Diesen Ausgaben standen keine Einnahmen gegenüber. Das lag (und liegt) daran, dass Pfarrer, die ein Pfarrhaus bewohnen, ihren Ortszuschlag nicht ausbezahlt bekommen. Dieser nicht bezahlte Anteil des Gehalts aber wird im Haushalt nicht ausgewiesen. Obwohl die Pfarrer über den Ortszuschlag jedes Jahr damals etwa 15 Millionen DM (diese Zahl hat der Personalreferent immerhin im Finanzausschuss vorgetragen) für die Pfarrhäuser entrichteten, tauchten diese Beträge im

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Haushaltsplan nicht auf. Was nicht im Haushaltsplan steht, das gibt es nicht. Wer sich allerdings die Mühe macht, die Ausgaben und Einnahmen (einbehaltener Ortszuschlag) der Bauunterhaltung gegenüberzustellen, macht die erstaunliche Feststellung, dass die Kirche mit ihren Pfarrhäusern beträchtliche Summen erwirtschaftet hat. Für die Jahre 1983 bis 1991, für die entsprechende Zahlen vorliegen, sind das knapp 100 Mio. DM.5 Es ist schon erstaunlich, wie eine Kirchenverwaltung ein gutes Geschäft mit den Pfarrern in deren Privileg umzudeuten vermag. Auch wenn in dieser Frage die Mühlen der Verwaltung langsamer gemahlen haben als bei anderen Reformen, ist das Ergebnis doch umso beeindruckender. Die Gemeindepfarrer haben heute überwiegend Präsenzpflicht, aber daraus ergeben sich vor allem Pflichten für sie und die Kirchengemeinden. Die Kirchengemeinden haben seit 2009 die Baulast, wogegen übrigens nichts einzuwenden ist, wenn sie auch die Gesamtverantwortung für die Pfarrhäuser hätten. Doch anders als bei den übrigen Mietverhältnissen, von denen viele Hundert erfolgreich von den Gemeinden verantwortet werden, mischt sich die Kirchenverwaltung von Anfang an in die Pfarrhausnutzung mit Verwaltungsverordnungen etc. ein, was erhebliche Folgen hat. Denn (unerklärtes) Ziel der Neuregelung ist auch der regelmäßige Verkauf von Pfarrhäusern. So wurde auf der Synode November 2008 von der Kirchenverwaltung festgestellt, dass »gerade ein Pfarrhaus, drei Gemeindehäuser und zwei sonstige kirchliche Gebäude verkauft worden« sind. »Wenn … die Ziele zur Reduzierung des Immobilienbestandes erreicht werden sollen, sind noch weitere Anstrengungen und eine stärkere kirchenpolitische Steuerung erforderlich.«6 Kirchenpolitisch steuern kann man dann gut, wenn man die Gemeinden und die Pfarrer finanziell unter Druck bringt. Das erlaubt die neue Regelung in hervorragender Weise. Sie birgt auch jene Flexibilität, die nötig ist, dass nie zu viele Gemeinden gleichzeitig unter Druck kommen, damit ein Solidarisierungsprozess unterbleibt. Als das neue Modell gelegentlich in einer größeren Runde vorgestellt wurde, waren auch vier Dekane anwesend. Die lachten nur und sagten, dass die Gemeinden sehr 5 Bei der Berechnung wurden die jährlichen Differenzen zwischen dem einbehaltenen Ortszuschlag und den Bauunterhaltungskosten mit 7% verzinst. Dieser Zinssatz dürfte in der fraglichen Zeit deutlich unter den Erträgnissen liegen, die mit dem Vermögen der EKHN zu dieser Zeit erwirtschaftet wurden. 6 Protokoll der 12. Tagung der zehnten Kirchensynode, 136.

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bald bereit sein würden, ihre Pfarrhäuser abzugeben. Keiner der Dekane lebte noch in einem Pfarrhaus. Über die steuerlichen Vorteile des Eigenheims wussten sie gut Bescheid. Sie winken dem, der von der Präsenzpflicht befreit ist. Der Heidelberger Theologe Gerhard Rau hat sich in einer Stellungnahme zur Kirchenordnungsdebatte seiner Landeskirche auch mit der Bedeutung des Pfarrhauses befasst. »Mit der Abwertung der Pfarrgemeinde, verfassungsmäßig gesehen, ist die kritische Frage verbunden: Was wird denn in Zukunft noch der Identifikationspunkt für ein evangelisches Christsein sein können? In der Tat, über Jahrhunderte war dies der mit seiner Familie im Pfarrhaus residierende (Residenzpflicht) Pfarrer. Wenn Pfarrhaus und Predigtkultur, beides einst mit hohen Selbstansprüchen versehen, ihre zentrale Funktion für ein evangelisches Christsein angeblich eingebüßt haben oder einbüßen werden …, so ist die Suche nach Äquivalenten dringend.«7 Solche Anfragen bekümmern die Reformer am Paulusplatz nicht. Die Stellungnahme eines Heidelberger Theologieprofessors ist kostenlos und nicht beauftragt. Wie viel wichtiger und attraktiver ist dagegen die millionenschwere Organisationsberatung, mit der sich der Verkauf vieler Pfarrhäuser und anderer kirchlicher Immobilien realisieren lässt. Auch im Zusammenhang mit der Werbung für den Nachwuchs hat die Kirchenleitung in Zusammenarbeit mit wichtigen Synodalen deutlich gemacht, dass sie kein ernsthaftes Interesse am Nachwuchs hat. Nachdem 2007 offiziell erstmals das Nachwuchsproblem in der Synode durch ein Mitglied der Kirchenleitung – sozusagen versehentlich – benannt wurde, hat es eine Reihe von Nachfragen und Anträgen in dieser Sache gegeben. Das Schicksal dieser Versuche, das Problem bekannt zu machen und auf Abhilfe zu sinnen, passt ins Bild: Eine entsprechende Anfrage in der Frühjahrssynode 2008 an den Kirchenpräsidenten wird erst gar nicht beantwortet. In einer gemeinsamen Synode mit der Kurhessischen Kirche legen die beiden Kirchen eine Broschüre für Studienanfänger vor. Sie erscheint im Juni 2008, also nach Abschluss des damaligen Abiturs, ohne

7 Gerhard Rau, Anmerkungen zum Entwurf einer Grundordnungsnovellierung 2006/2007 in der Badischen Landeskirche, Drucksache 58/08 der 10. Synode der EHKN, Stellungnahme, 81.

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die Möglichkeit, diesen Abiturjahrgang noch zu erreichen. Der Versuch, Haushaltsmittel bereitzustellen, scheitert zweimal im Finanzausschuss und einmal mit längerer Diskussion in der Synode.8 In der gleichen Synode im Herbst 2009, in der die Kirchenleitung 20 Mio. Euro für die Erprobung neuer Modelle fordert,9 erklärt sie es für unmöglich, 20.000 Euro für Nachwuchswerbung in den Haushalt einzustellen. Die Zusage, auch ohne zusätzliche Mittel die gewünschte Aufklärungsarbeit voranzubringen, wird nicht eingehalten. Eine Rückfrage bei Religionslehrern im Herbst 201010 ergibt: Keiner hat etwas von einer Werbung der Kirchenleitung für den Pfarrberuf gehört. Seit dem ersten öffentlichen Eingeständnis, dass man von einem zukünftigen Pfarrermangel ausgehen müsse, vergingen bisher also drei Schuljahre, ohne dass die Kirche in den Abiturjahrgängen nennenswert und engagiert für ihre Arbeit und den Pfarrberuf geworben hätte. Offiziell hat sich Kirchenpräsident Jung in seiner Rede zur Lage in Kirche und Gesellschaft im April 2010 erstmals mit der Problematik befasst. Bezeichnenderweise wird das Thema als EKD-Thema eingeführt: »Mittelfristig deutet sich für einige Gliedkirchen der EKD Pfarrermangel an.« Nach Jahren der Untätigkeit der Kirchenleitung stellt Jung fest: »Wer heute mit dem Studium beginnt, wird erst in acht Jahren in den Pfarrberuf kommen. … Und ab 2017 gehen jährlich 70 bis 90 Pfarrerinnen und Pfarrer in den Ruhestand.«11 Über die Zahl der derzeitigen Theologiestudierenden der Landeskirche erfährt die Synode nichts. Die drei Jahre, die wir bisher versäumt haben, um Nachwuchs zu werben, werden eine nicht geringe Lücke in der Pfarrversorgung hinterlassen. Wie groß der Unterschied inzwischen zu anderen Arbeitgebern ist, mag der Bericht einer ehemaligen Konfirmandin zeigen: Sie studiert erfolgreich BWL und erzählt, dass sie immer wieder zu Veranstaltungen von Firmen eingeladen wird. Eine hatte sie gerade in Frankfurt besucht. Den Studierenden war eine Aufgabenstellung vorgelegt worden, die sie gemeinsam lösen sollten. Der Vorstandsvorsitzende dieser weltweit agierenden Firma mit einigen -zigtausend Angestellten ließ es sich nicht 8 Protokoll der 15. Tagung der 10. Synode, Nov. 2009, 247–249. 9 Protokoll der 15. Tagung der 10. Synode, Nov. 2009, 132. 10 Ein Austausch im Pfarrkonvent des Dekanats Bergstraße im Januar 2011 bringt das gleiche Ergebnis. Auch einfache Flyer finden nicht den Weg zu den Religionslehrern der Schulen. 11 »Ihr seid das Licht der Welt«. Bericht zur Lage in Kirche und Gesellschaft für die 1. Tagung der elften Kirchensynode der EKHN, 17.

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nehmen, bei einem Zwischenstopp in Frankfurt vom Flughafen zu den etwa 15 Studierenden zu fahren, um bei ihnen mit den Vorzügen seiner Firma zu werben. Kürzlich hat der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf das Niveau der Theologen beklagt und zugespitzt formuliert. »Seit zehn Jahren gingen die Abiturnoten der Theologiestudenten nach unten. Noch nie sei der Theologenanteil in der Studienstiftung so niedrig wie jetzt gewesen … Die promovierten Theologinnen gingen lieber in die Industrie als zur Kirche.«12 Graf hatte schon einige Monate zuvor den Kirchenvertretern vorgehalten, dass sie im gesellschaftlichen Diskurs kaum noch wahrgenommen würden.13 Mit einigen hochdotierten Verwaltungsfachleuten und ehrenamtlich tätigen Prädikanten und Lektoren wird die Kirche freilich im gesellschaftlichen Diskurs kaum noch zu Wort kommen können. Sollte sie ihre pastorale Präsenz in der Fläche weiter verringern, wird ihr auch noch das Vertrauen abhandenkommen, das sie sich in Jahrhunderten bewahren konnte. Durch ihren Umgang mit dem theologischen Nachwuchs gibt die Kirche nicht nur wichtige Signale, ob sie Menschen für ihre Arbeit braucht, sondern auch welche.

Warum fehlt es an theologischem Nachwuchs? Ob sich Menschen berufen fühlen, Pfarrer zu werden, kann man nicht wirklich steuern. Die gesellschaftliche Großwetterlage ist sicher zurzeit für ein solches Studium nicht günstig. Dennoch gibt es Gründe, die die Kirche zu verantworten hat. Einige seien genannt: 1. Es gibt eine wachsende Sorge, ob die Kirche ihre Stellung wird halten können. Seit Mitte der 80er-Jahre wird diese Sorge in immer neuen Varianten vorgetragen und führt zu immer neuen Reformvorhaben. Angst ist ein schlechter Ratgeber zur Bewältigung der Zukunft. Inzwischen ist die Sorge berechtigt, ob die Kirche ihre Stellung mit wenigen Pfarrern wird bewahren können. 12 FAZ, 18.11.2010, 2. 13 FAZ, 01.04.2010, Friedrich Wilhelm Graf, Was wird aus den Kirchen?

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2. Die seit einigen Jahren umgesetzte funktionale Kirchentheorie, die die Differenzierungen der Gesellschaft aufnehmen will, meint, mit deutlich weniger Pfarrern auskommen zu können. Wer erst einmal begonnen hat, den Pfarrdienst in seine verschiedenen Funktionen zu zerlegen, kommt schnell zu dem Schluss, dass es viel besser sei, einen Journalisten für die Öffentlichkeitsarbeit, einen Psychologen für die Seelsorge, einen Pädagogen für den Unterricht, einen Verwaltungsfachmann für die Verwaltungsarbeit und einen Architekten für die Baumaßnahmen anzustellen als einen Pfarrer, der dies alles mehr oder weniger in seinem Amt zusammen mit dem Kirchenvorstand leisten soll. Die spezifische Aufgabe des Gemeindepfarrers als minister verbi divini, dem zur Verkündigung des Wortes Gottes eine Gemeinde anvertraut ist, ist aus dem Blick geraten. 3. Die Arbeit in den Gemeinden ist systematisch abgewertet worden. Pfarrer und Gemeinden sind seit Jahren mit Strukturfragen und Sparmaßnahmen beschäftigt, während für die Reformen der Kirchenleitung nie Geld gefehlt hat. Inzwischen höre ich, dass Gemeindepfarrer interessierten Schülern vom Theologiestudium abraten. 4. Das theologische Interesse und die Beschäftigung mit den Kernfragen einer pastoralen Existenz sind zugunsten von soziologischen, organisatorischen und strukturellen Fragen zurückgetreten. 5. Die Milieuverengung, das Kirchturmdenken, die geringe Resonanz, die der Arbeit der Gemeinde vorgeworfen werden, finden sich exemplarisch gerade bei jenen Funktionären wieder, die diesen Vorwurf erheben. 6. Es ist charakteristisch für unsere Kirche, dass sie sich zurzeit vor allem als Organisation versteht. In manchen Gesprächen wird schlicht das Wort »Kirche« durch »Organisation« ersetzt. Die vielen Organisationsberater, die die Kirche in den letzten Jahren engagiert hat, haben ihre Spuren hinterlassen. Eine Organisation braucht keine Pfarrer.

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Was ist zu tun? Die Kirchenleitung ist eindringlich an ihre Pflicht zu erinnern, für »die ausreichende geistliche Versorgung der Gemeinden« zu sorgen. Kürzlich hat ihr das Kirchliche Verwaltungs- und Verfassungsgericht mangelnde Fürsorge für den Gemeindepfarrdienst bescheinigt. Sie sollte dieses Urteil auch im hier beschriebenen Kontext bedenken. Die Kirche muss motivierte und engagierte Menschen fürs Theologiestudium gewinnen. Dazu bedarf es konzeptioneller Überlegungen, die zeitnah vorgelegt und umgesetzt werden müssen. Das Gemeindepfarramt ist wieder attraktiver zu gestalten. Die Synode hat eine besondere Verantwortung. Sie sollte die Arbeit des Personalreferats konsequent kontrollieren und entsprechende Vorlagen beantragen. Missstände in diesem Bereich dürfen nicht hingenommen, sondern müssen umgehend abgestellt werden.

Friedhelm Maurer

Auswahl- und Bewerbungsverfahren in der Evangelischen Kirche im Rheinland Das Pfarrbild, die theologischen Häresien und die Übergriffigkeiten in kirchlichen Casting-Veranstaltungen

I Alles in Ordnung! Man kann das offensichtlich alles so machen, wie man es in der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) gemacht hat und macht: Gesetze machen, Verordnungen erlassen. Von Synoden abgesegnet, von Kirchenleitungen beschlossen. Man kann Pfarrbilder zeichnen, den Zugang zum Pfarrdienst regeln. Man kann sich dabei wohl auch über biblische Befunde hinwegsetzen und diejenigen, die sich noch daran orientieren wollen, als gestrig, womöglich als biblizistisch und fundamentalistisch bezeichnen. Am Ende sollte man sich aber vielleicht doch einmal fragen, wie es wohl kommt, dass theologischer Nachwuchs ausbleibt und dass immer weniger junge Menschen den Pfarrberuf ergreifen wollen. Ich wage die These, dass es daran liegt, dass dieser Beruf nicht mehr die Freiheit atmet, die der Freiheit des Evangeliums entspricht. Ich wage diese These aufgrund meiner nun schon 16-jährigen Tätigkeit und Erfahrung als Vorsitzender des Evangelischen Pfarrvereins im Rheinland. In diesem Sammelband werden viele Aspekte zusammengetragen, die die Krise unserer Kirche deutlich machen, die im Jahr 2017 500-jähriges Reformationsjubiläum feiert, aber nicht mehr reformatorische Kirche ist im Sinne einer Kirche, die in alleiniger Bindung an die Heilige Schrift, in Hochschätzung des Gewissens und in der Beschränkung auf das Wesentliche ihre Unabhängigkeit und Freiheit lebt. Ohne Not bauscht sie Verwaltung auf durch Einführung der doppelten Buchführung und durch eine überflüssige Verwaltungsstrukturreform,

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ohne Not beschwert sie den Pfarrdienst durch Reglementierungen, die Pfarrerinnen und Pfarrer bei der Verkündigung behindern, schafft sie Kirchenrechtsparagrafen, die auch bei tadelloser Amtsführung wegen »nachhaltiger Störung« zu Abberufungen führen, ohne Not befördert sie Arbeitsverdichtung durch Pfarrstellenabbau, die zu Burn-out von Pfarrerinnen und Pfarrern und Schwächung der Kirchengemeinden führt. Und ohne Not erschwert sie auch sowohl den Verbleib wie den Zugang zum Pfarrberuf durch Auswahl- und Bewerbungsverfahren, die zentral in den Händen der Landeskirche liegen und den Gemeinden und anderen Anstellungsträgern ein breiteres Spektrum an Pfarrerinnen und Pfarrern für die Pfarrstellenbesetzung vorenthalten. Auf diese Verfahren möchte ich in meinem Beitrag näher eingehen und fragen, ob das Pfarrbild und die einzelnen Regelungen, die hier zur Anwendung kommen, mit reformatorischen Einsichten kompatibel sind.

II Kirchenrechtliche Grundlagen Auf der Grundlage von § 117 Pfarrdienstgesetz der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat die Kirchenleitung der EKiR Richtlinien für ein Auswahlverfahren beschlossen (29.11.2007, zuletzt geändert am 11.01.2013), das für Pfarrerinnen und Pfarrer im Wartestand oder solche, die vom Wartestand bedroht sind, sowie für Pfarrerinnen und Pfarrer, die einen allgemeinen kirchlichen Auftrag wahrnehmen, bestimmt ist, und sie hat Richtlinien für ein Bewerbungsverfahren beschlossen (Verfahren nach Landessynodenbeschluss von 2007 ab 01.01.2008, Richtlinien zuletzt beschlossen am 25.04.2013), das den Zugang zum Pfarrdienst regelt und sich an Vikarinnen und Vikare richtet, die den Probedienst aufnehmen wollen, sowie an Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich um eine mbA-Stelle bewerben (Pfarrstellen mit »besonderem Auftrag«, die in allen Arbeitsfeldern pfarramtlichen Dienstes eingerichtet werden können, in die das Landeskirchenamt beruft, Stellen, die nach Besoldungsgruppe A 12, also geringer als ordentliche Pfarrstellen, besoldet werden). Bei beiden Verfahren handelt es sich um zentrale Verfahren in Verantwortung des Landeskirchenamtes, und die Richtlinien sind sowohl beim

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Auswahlverfahren wie beim Bewerbungsverfahren identisch. (www.ekir. de/mba, Stand: 18.07.2015) Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Wird hier nicht das Recht der Gemeinde auf freie Pfarrwahl, das in der Reformation gegenüber klerikaler Bevormundung erkämpft worden ist, eingeschränkt insofern, als eine entscheidende Vorauswahl getroffen wird, die nicht repräsentativ für das ist, was unterschiedliche Gemeinden an einem Pfarrprofil suchen, heißt: was ihrem Pfarrbild entspricht? In der Vergangenheit war es so, dass eine langjährige solide theologische Ausbildung mit Praktika und erstem theologischem Examen und Vikariat als Vorbereitungsdienst mit Praxiserfahrungen und Votum des Mentors und zweitem theologischem Examen zur Erteilung des Zeugnisses der Anstellungsfähigkeit führte und damit die Bewerbungsmöglichkeit für Pfarrstellen eröffnete. Für den Abbau des sogenannten »Wartestand-Berges« (in der Spitze befanden sich in der EKiR ab 2005 ca. 120 Pfarrerinnen und Pfarrer im Wartestand) wurde in der Rheinischen Kirche das Instrument des zentralen Auswahlverfahrens eingeführt, und dem »Personalüberhang« bei jungen Theologinnen und Theologen begegnete man mit der Installation sozusagen eines »3. Examens«, einem Assessment, das vor die Erteilung des Zeugnisses der Anstellungsfähigkeit gestellt wurde. Diese Entwicklung hat der Evangelische Pfarrverein im Rheinland (EPiR) sehr kritisch gesehen und diese neuen Verfahren auch theologisch und kirchenjuristisch in Gutachten überprüfen lassen. Doch unsere Einwendungen und die vorgelegten Gutachten wurden weitestgehend ignoriert. Das zentrale Auswahl- und Bewerbungsverfahren hat sich fest etabliert und ist zu einem weiteren personalpolitischen Steuerungselement in unserer Kirche geworden und leistet als solches der auch an anderen Stellen zu beobachtenden Zentralisierung und Hierarchisierung in unserer Kirche weiteren Vorschub.

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Noch einmal: Man kann das alles so machen, und da die Mehrheiten auf den Landessynoden es so wollten, wurde es so gemacht. Und da auch kirchengerichtliche Überprüfungen stattfanden, hat das seine Ordnung. Mein Votum ist also ein Minderheitsvotum, zu dem ich weiter stehe: Ich finde, die Dinge laufen personalpolitisch in unserer Kirche falsch! Die angewendeten Eignungs- und Auswahlverfahren sind theologisch fragwürdig, sie dienen nicht dem Aufbau von Gemeinde und Kirche, sie verletzen und beschädigen Menschen. III Das Verfahren »Zur Durchführung der Auswahl- und Bewerbungsverfahren wird eine Kommission gebildet«, heißt es. »Die Mitglieder der Kommission werden von der Kirchenleitung berufen.« Welche besonderen Qualifikationen sie mitbringen müssen, wird nicht gesagt, lediglich dass die Kommission »je zur Hälfte mit Frauen und Männern besetzt werden soll« und dass »die beteiligten Personen im Vorfeld eine Schulung erhalten, durch die sie auf das Verfahren vorbereitet werden«. »Sie können während der Zeit ihrer Mitarbeit in der Kommission Supervision in Anspruch nehmen«, d.h., sie müssen es aber nicht. Aus dieser Auswahl- und Bewerbungskommission wiederum wird zur Durchführung des jeweiligen Auswahl- oder Bewerbungstages ein Auswahlausschuss oder Bewerbungsausschuss gebildet, dem »1. zwei Dezernentinnen oder Dezernenten der Abteilung I im Landeskirchenamt, 2. zwei Pfarrerinnen oder Pfarrer und 3. zwei Gemeindeglieder angehören. Den Vorsitz dieses Ausschusses hat eine Dezernentin oder ein Dezernent«. Offensichtlich wird schon hier deutlich, wer Herr des Verfahrens sein soll: die Personalabteilung des Landeskirchenamtes. Sowohl das Auswahlverfahren wie das Bewerbungsverfahren setzt sich aus zwei Elementen zusammen: 1. der Bewertung der schriftlichen Unterlagen. Folgende Unterlagen sind einzureichen: »Motivationsschreiben, Lebenslauf mit dienstlichem Werdegang, Zeugnisse der theologischen Prüfungen, zwei Arbeitsproben, bis zu drei Referenzen«, 2. der Bewertung der Eindrücke, die der Kandidat / die Kandidatin beim »Auswahl«- oder »Bewerbungstag« in einer »Selbstpräsentation«, einem »strukturierten Interview«, einer »Aufgabe zur Überprüfung der theologischen Fachlichkeit« bzw. »Bearbeitung eines Fallbeispiels« und einer »Gesprächsübung« bei den drei Prüfern des Ausschusses hinterlassen hat.

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Bewertet wird nach einem Punktesystem. Die Gesamtpunktzahl wird errechnet aufgrund der Gesamtprüfungsnote der theologischen Prüfungen, der Bewertung der schriftlichen Unterlagen und der Bewertung des Auswahl- bzw. Bewerbungstages. Dabei werden die Punkte für die Gesamtprüfungsnote beim Auswahlverfahren einfach, die Punkte für die weiteren schriftlichen Unterlagen dreifach und die Punkte für den Auswahltag sechsfach gewertet. Maximal können 60 Punkte erreicht werden. Das heißt: Eine Durchschnittsnote »sehr gut« (6 Punkte) bei den beiden theologischen Examina (die so gut wie nie erreicht wird!) geht mit maximal 10% in die Gesamtbewertung ein, das Motivationsschreiben, der Lebenslauf mit dienstlichem Werdegang, die beiden Arbeitsproben, die bis zu drei Referenzen (18 Punkte) mit maximal 30%, der Auswahltag (36 Punkte) mit maximal 60%. »Der Auswahlausschuss bewertet beim Auswahltag die einzelnen Kompetenzbereiche mit jeweils bis zu sechs Punkten. Die Endpunktzahl, die für den Auswahltag vergeben wird, errechnet sich aus dem Durchschnitt der jeweils erreichten Punktzahl und wird kaufmännisch auf eine Dezimalstelle gerundet.« Da es acht Kompetenzbereiche sind, sind 48 Punkte möglich, im Durchschnitt maximal 6, mal 3 macht 36 Punkte. Beim Bewerbungsverfahren wird das Gesamtergebnis etwas anders berechnet: Hier hat die Gesamtprüfungsnote dreifaches Gewicht (max. 18 Punkte), also 30%, die weiteren schriftlichen Unterlagen 20% (zweifache Wertung der max. 6 Punkte) und der Bewerbungstag (fünffache Wertung der max. 6-Punkte-Durchschnitt) 50%. Eine fehlende Eignung liegt bei den Bewerberinnen und Bewerbern für eine mbA-Stelle im Auswahlverfahren vor, »wenn nicht die Hälfte der maximal möglichen 60 Punkte erreicht wurde« und auch dann, »wenn in mehr als zwei Kompetenzbereichen die Mindestpunktzahl nicht erreicht wurde« – die Mindestpunktzahl liegt bei der theologischen Kompetenz, der kybernetischen Kompetenz und der Kommunikationsfähigkeit bei 4 Punkten, bei den übrigen Kompetenzbereichen ist eine Mindestpunktzahl von 3 Punkten erforderlich. Nach den vom Landeskirchenamt festgelegten fünf Bewertungskategorien bedeuten 4 Punkte geeignet und 3 Punkte »noch geeignet« (6 Punkte: besonders gut geeignet, 5: gut geeignet, 1–2: nicht geeignet).

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Um auf eine Probedienststelle berufen zu werden, müssen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen am Bewerbungsverfahren mindesten 40 von 60 Punkten erreichen, sie werden dann in der Reihenfolge der erreichten Punktzahl auf die von der Kirchenleitung errichteten Stellen berufen. Während bei einem Scheitern beim Auswahlverfahren nach drei Jahren Wartestand der Ruhestand gemäß § 91 PfDG erfolgt, ist beim Scheitern im Bewerbungsverfahren eine Wiederbewerbung möglich: »Wiederbewerberinnen und Wiederbewerber können innerhalb von zwei Jahren nach der ersten Teilnahme am Bewerbungsverfahren den Antrag stellen, mit der im Verfahren bereits erworbenen Punktzahl in die Berufungsentscheidung einbezogen zu werden. Nach Ablauf von zwei Jahren nehmen sie erneut an dem Verfahren teil.«

IV Der Auswahl- oder Bewerbungstag Für die Gesamtbewertung spielt der »Casting«-Tag mit 50% bzw. 60% also eine entscheidende Rolle. Sehr ambitioniert ist das Unterfangen, dass an einem Tag im Schnelldurchgang acht Kompetenzbereiche, die noch einmal in 22 (!) Teilkompetenzen untergliedert werden, überprüft und bewertet werden sollen – und das mit einem ausgeklügelten Punktesystem mit Ergebnissen mit zwei Stellen hinterm Komma. Hier die Aufstellung im Einzelnen, was der Auswahl- oder Bewerbungsausschuss sich zutraut, aufgrund der Beobachtungen und Eindrücke eines Tages kompetent und gerecht prüfen und bewerten zu können. Ich möchte die Kriterien gleich mit einem kritischen Kommentar versehen: 1. »Theologische Kompetenz«. Immerhin steht sie in der Aufzählung zumindest noch an der ersten Stelle! Bei ihr werden vier Teilkompetenzen genannt: »Theologisches Wissen«, »fachübergreifendes Wissen«, »berufsbezogene Erfahrungen und Kenntnisse«, »Spiritualität«. 2. »Missionarische Kompetenz« mit den Teilkompetenzen »Vermittlung des christlichen Glaubens«, »Auftreten und Ausstrahlung«, »Offenheit und Aufgeschlossenheit«. Ob der Apostel Paulus heute noch eine Chance hätte, in all seiner Schwachheit, mit seinem »Pfahl im Fleisch« (2. Korinther 12,1ff.) ein solches Casting zu überstehen?

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3. »Kybernetische Kompetenz« mit »Steuerung und Leitung« und »Motivationskraft«. Auch hier ist Zweifel angebracht, ob ein Paulus diese Kriterien erfüllen könnte und wollte (Römer 1,16ff.; 2. Korinther 11,1ff.). 4. »Organisations- und Planungskompetenz« – »Konzeptionelle Fähigkeiten«, »Ziel- und Ergebnisorientierung«, »Selbstorganisation«. Hat der Heilige Geist in dieser Kirche noch eine Chance? Die Ausbreitung des Evangeliums, wie sie in der Apostelgeschichte erzählt wird, hätte bei den offensichtlich fehlenden einschlägigen Kompetenzen der Apostel so nie stattfinden können! 5. »Kommunikationsfähigkeit« – »Sprachliches Ausdrucksvermögen«, »Dialog- und Kontaktfähigkeit«, »Überzeugungsfähigkeit«, »Empathie/ seelsorgliche Fähigkeiten«. Kann man hier bestehen, wenn man 1. Korinther 13 verinnerlicht hat? 6. »Kooperations- und Teamfähigkeit« – »Zusammenarbeit und Integration«, »Konflikt- und Kompromissfähigkeit«. Wie soll das geprüft werden, wo die realen Partner fehlen? Soll das etwa in Rollenspielen getestet werden, in denen die Prüfer und Bewerter selbst auftreten? Das tun sie, spielen z.B. Konfirmanden, fallen dabei selbst aus der Rolle und maßen sich dann ein Urteil an, die Antworten des Prüflings seien nicht konfirmandengemäß gewesen … 7. »Belastbarkeit und Leistung« – »Innere Stärke«, »innerer Antrieb«. Nun wird’s noch spannender: Wie will das jemand mit der Momentaufnahme eines Tages beurteilen können? 8. »Lern- und Veränderungsbereitschaft« – »Offenheit und Innovationsfähigkeit«, »Reflexionsvermögen«. – Honi soit qui mal y pense: Wird diese Lernbereitschaft daran getestet, ob der Kandidat oder die Kandidatin auf die Sichtweise seiner Prüferinnen und Prüfer einschwenken kann und sein Reflexionsvermögen daran, ob er das problematisiert, was diese meinen, was problematisiert werden muss – und was nicht problematisiert werden darf? … Spätestens hier fällt auf, wie subjektiv das Ganze geraten kann. Ideologische Voreingenommenheit leuchtet auf. Bei den abgefragten Kompetenzen fehlen bezeichnenderweise Kompetenzen, die offensichtlich keine Bedeutung haben für die Bewerter, warum fragt man z.B. nicht nach Standvermögen, nach Charakterfestigkeit, nach nonkonformistischem Verhalten, Unabhängigkeit, warum nicht nach dem, was die Professions-

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ethik des Pfarrberufes in besonderer Weise verlangt: Verlässlichkeit, Verschwiegenheit, Verantwortungsbereitschaft, Vertrauenswürdigkeit?

V Die Überprüfung des Verfahrens Das Auswahlverfahren wurde auf der Landessynode 2008 beschlossen und erstmals im April 2008 durchgeführt. Sowohl der Evangelische Pfarrverein im Rheinland als auch der Verband der Pfarrvereine in Deutschland haben das Auswahlverfahren theologisch und kirchenjuristisch überprüfen lassen: a) Gutachterliche Stellungnahme zum Wartestands-Konzept der Evangelischen Kirche im Rheinland (Beschl. Nr. 9 der Landessynode 2007 vorgelegt im Auftrag des Evangelischen Pfarrvereins im Rheinland e.V. von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht Prof. Dr. Christian Kirchberg, Karlsruhe, April 2008 – 15.04.2008, 27 Seiten, und b) Zur Problematik der Abberufung und Wartestandsversetzung von Geistlichen sowie der Einführung eines »Zentralen Auswahlverfahrens« in der Evangelischen Kirche im Rheinland. Rechtsgutachten erstattet von o. Professor em. Dr. jur. Dr. theol. h.c. (mult.) Christoph Link, Erlangen, 14. Juli 2008, 57 Seiten (beide Gutachten sind nachlesbar unter: www.http://epir.de/00000099bf14e96 01/index.php). In aller Kürze zusammengefasst die wichtigsten Kritik-Punkte von Prof. Kirchberg und Prof. Link: 1. Das von der Rheinischen Synode beschlossene Auswahlverfahren übersteigt die gliedkirchliche Kompetenz. Es gibt keine Ermächtigungsgrundlage im übergeordneten UEK-Pfarrdienstgesetz. 2. Das gesamte Wartestands-Konzept ist formalrechtlich unzulässig, weil es nicht in Form eines Kirchengesetzes beschlossen worden ist, obwohl dies wegen der Auswirkungen auf den Status der betroffenen Pfarrerinnen und Pfarrer erforderlich gewesen wäre. 3. Die neuen Regelungen sind unzulässig, weil sie die (Wieder-)Verwendung von Pfarrerinnen und Pfarrern im Wartestand von Voraussetzungen abhängig machen, die über die geltenden normativen Vo-

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raussetzungen der §§ 88–91 PfDG hinausgehen. D.h. man kann hier nicht einfach ein neues Personalsteuerungsinstrument kreieren. 4. Die Kirchenleitung setzt die ihr nach Pfarrdienstgesetz obliegende Fürsorgepflicht generell und systematisch außer Kraft. Sie verlangt von den Betroffenen die Erfüllung zusätzlicher Voraussetzungen, die sie im Rahmen der Prüfung ihrer Anstellungsfähigkeit längst nachgewiesen haben. Und schließlich – und da sind wir wieder beim Thema Vertrauensverlust, der viele junge Menschen vom Theologiestudium und Pfarrberuf abhalten wird: 5. Auf keinen Fall hätte das neue Konzept des Umgangs mit den Warteständlern hinsichtlich derjenigen Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich bereits im Wartestand befinden, übergangslos in Kraft gesetzt werden dürfen. Denn das widerspricht den auch im innerkirchlichen Bereich geltenden Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit. Im umfangreichen Gutachten von Prof. Link, der auch Experte im Staatskirchenrecht ist, wird zudem die Frage nach den Rechtsstandards in der Kirche gestellt. Und es wird die konkrete Ausgestaltung des Auswahlverfahrens einer schwerwiegenden Kritik unterzogen: Nicht weniger als die kirchliche Dienstherrnfähigkeit werde aufs Spiel gesetzt, wenn die Evangelische Kirche im Rheinland manche Dinge nicht anders anpacke als bisher! Prof. Link fasst zusammen: »Zwar sind die Kirchen kraft ihrer verfassungsrechtlich garantierten Ämterhoheit nicht unmittelbar an die ›hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums‹ (Art. 33 Abs. 5 GG) gebunden, wohl aber an die Beachtung eines strukturbildenden Minimums, das ihre Dienstverhältnisse als solche des öffentlichen Rechts noch erkennbar macht und deshalb deren Exemtion aus dem staatlichen Arbeits- und Sozialrecht legitimiert. Die Kirchen unterliegen, wenn sie ihre Dienstverhältnisse öffentlich-rechtlich ausgestalten, einem gewissen ›Typenzwang‹. Dazu gehört in besonderem Maße auch das Lebenszeitprinzip« (a.a.O., 55). Doch die Besorgnis von Prof. Link, dass am Ende für die Kirche unliebsame Prozessniederlagen nicht nur vor der Verwaltungskammer und vor dem Verwaltungsgerichtshof der UEK, sondern ggf. sogar vor den staat-

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lichen Gerichten drohten, beeindruckte die Verantwortlichen bei der Kirchenleitung und im Landeskirchenamt nicht. Man ging weiter von der Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der Evangelischen Kirche im Rheinland aus und befürchtete auch eine mögliche Wirksamkeitskontrolle durch die Gerichte nicht. Und man täuschte sich nicht: Die Kirchengerichte wiesen die Klagen gegen das Auswahlverfahren ab.

VI Die kirchengerichtliche Entscheidung Am 11.09.2009 kam es zur mündlichen Verhandlung vor der Verwaltungskammer der EKiR. Rechtsanwalt Prof. Dr. Kirchberg aus Karlsruhe vertrat in einem Musterprozess eine Pfarrerin und drei Pfarrer, die gegen das Auswahlverfahren geklagt hatten. Er referierte dabei die Kritikpunkte aus dem Gutachten von Herrn Prof. em. Dr. jur. Dr. theol. h.c. (mult.) Christoph Link. Hier habe einer der ganz großen Nestoren des Ev. Kirchenrechtes in Deutschland »die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen über die Modalitäten dieses Assessment Centers«. Die beeindruckenden Lebensleistungen von Pfarrerinnen und Pfarrern, die mit großem Engagement ihre Beschäftigungsaufträge wahrgenommen haben (z.B. im Hospiz-Dienst, in der Seelsorge in Kliniken und Altenheimen u.a.m.) würden zu einer »marginalen Größe« zusammenschmelzen. Dass ein Management-Institut hier berate, sei bei gestandenen Pfarrerinnen und Pfarrern ja wohl überhaupt nicht angezeigt … Hier werde die Fürsorgepflicht gegenüber Pfarrerinnen und Pfarrern, die eine treue Leistung erbracht haben, in gravierender Weise verletzt. Dem setze die Kirchenleitung noch einen Zynismus drauf, wenn sie sage: Es müsse Schluss sein mit einem »Pfarramt de luxe«. Das, so Prof. Dr. Kirchberg, sei »eine Verächtlichmachung, die einen fast stumm werden lässt« (vgl.: »Info«-Brief des EPiR Nr. 16/ Dezember 2009, S. 32f.). Doch das Gericht kippte das Verfahren nicht: Das Ermessen der Landeskirche sei nur eingeschränkt überprüfbar. Ob hier andere Wege gangbar gewesen wären, Personalsteuerung vorzunehmen, das zu prüfen sei nicht die Sache des Gerichtes. Der Gesetzgeber müsste etwas ändern, wenn etwas geändert werden solle …

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Nach dieser Urteilsverkündung herrschte, so meine Erinnerung, eine stumme Betroffenheit im Saal. Ein Pfarrer i.W. verließ den Verhandlungssaal mit der Bemerkung: »Heute ist für mich die Glaubwürdigkeit dieser Kirche gestorben.« Rechtsanwalt Prof. Dr. Kirchberg stellte fest, dass die Vorsitzende Richterin Frau Riege in ihrer mündlichen Urteilsbegründung mit keinem Wort auf das strittige Auswahlverfahren eingegangen sei, das doch in der Verhandlung durchaus thematisiert worden sei. Immerhin wurde Revision zugelassen und damit war die Möglichkeit gegeben, die Klagen vor den Verwaltungsgerichtshof (VGH) der Union Evangelischer Kirchen (UEK) in Hannover zu bringen. Unsere Kirche würde damit noch einmal die Chance bekommen, die personalpolitischen Geisterfahrer in der EKiR zu stoppen und zu zeigen, dass auch die Kirche es versteht, gesellschaftlich anerkannte und standardisierte Rechtsgüter zu schützen. Doch die Hoffnungen wurden enttäuscht. Die Revisionsverhandlung fand am 10.12.2010 in Hannover statt und bestätigte die EKiR in ihrer Sicht der Dinge. Die betroffenen Pfarrerinnen und Pfarrer mussten erneut Demütigungen hinnehmen, z.B. die, dass es sich beim Auswahlverfahren angeblich um eine »nach dem Prinzip der Bestenauslese« (VGHUrteil, S. 12) vorgenommene Auswahl handeln würde. Das konnten sie nur als Zynismus hören, auch solche Sätze im Urteil, die die Zumutbarkeit des Auswahlverfahrens mit einer Unterstellung ihnen gegenüber versahen: »Die mögliche Erwartung, sich nach Eintritt in das Berufsleben keinen unangenehmen Herausforderungen mehr stellen zu müssen, ist rechtlich nicht geschützt. Und wer befürchtet, der Aufregung nicht gewachsen zu sein, kann sich dem Auswahlverfahren ohne Risiko für seine wirtschaftliche Existenz entziehen. Er wird bei Nichtteilnahme in den Ruhestand versetzt und erhält Ruhestandsbezüge, die ihn finanziell lebenslang absichern« (VGH-Urteil, S. 14). »Das Auswahlverfahren ist geeignet, der Bestenauslese zu dienen. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, ein besseres oder gar das bestmögliche Verfahren herauszufinden« (VGH-Urteil, S. 14). Das sind mit, Verlaub gesagt, befremdliche und arrogante Sätze, die Bewertungen abgeben, wiewohl doch gerade Bewertungen als Aufgabe des Gerichtes vom VGH selbst im Urteil zurückgewiesen werden!

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Nach dieser Rechtsprechung in Hannover hatte ich, was die kirchliche Gerichtsbarkeit anbelangt, weniger Hoffnung als je zuvor auf Durchsetzung von Gerechtigkeit in unserer Kirche. Und ich sehe bei den Kirchengerichten, die ich in all den Jahren erlebt habe, dass nicht die nötige Spiritualität vorhanden ist, Konflikte christlich beizulegen. Das ist ja wohl auch nicht Aufgabe des Gerichts, werde ich mir sagen lassen müssen. Ich war wohl zu naiv, vielleicht doch mehr von einem Kirchengericht erwarten zu dürfen. Denn immerhin wird die Verhandlung doch geistlich eingeleitet (in der Regel mit Tageslosung und Lehrtext). Aber zeigt das denn auch Relevanz für die folgende Verhandlung? Entfalten die Bibelworte für die Wahrheits- und Rechtsfindung Wirksamkeit? Warum werden keine Vergleiche angestrebt und vorgeschlagen? Ich vermisse weisheitliches Denken, ein Denken, das die Geister prüft – wie beim »Salomonischen Urteil« in der Bibel (1. Könige 3,16–28). Die kirchengerichtlichen Urteile sollten m.E. doch bemüht sein, einen Rechtsfrieden herbeizuführen, aber weder ein »äußerer« Frieden in den Gemeinden (z.B. durch Aufhebung von Abberufungen) noch ein »innerer« Frieden bei den Betroffenen wird erreicht (bei den Pfarrerinnen und Pfarrern und ihren Familien). Von Kirchengerichten höre ich immer wieder, Ermessensentscheidungen der Kirchenleitung seien nicht – oder nur bedingt – nachprüfbar. Zudem: Seit 2002 gibt es nur noch die Revisionsinstanz, nicht mehr die Berufungsinstanz als zweite kirchengerichtliche Instanz. D.h., Tatsachen können nicht zweitinstanzlich überprüft werden. Und das Ermessen der Kirchenleitung wird von Kirchengerichten in der Regel sehr großzügig ausgelegt. Eine wirklich kritische Prüfung findet nicht statt. Damit ist aber kirchenleitender Willkür unter Umständen Tor und Tür geöffnet, so eben bei dem Auswahl- oder Bewerbungsverfahren.

VII Erfahrungen mit dem Verfahren Mir liegen viele schriftlich protokollierte wie mündlich erzählte Erfahrungsberichte vor, die die ganze Problematik dieser Assessments verdeutlichen. Die Betroffenen tun sich schwer mit einer Veröffentlichung ihrer Erfahrungen; sie haben Angst, vom Bannstrahl der Landeskirche getroffen und weiter beschädigt zu werden.

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Nur ein Beispiel aus der Vergangenheit, Auswahlverfahren 2008: Eine Psychologin vom »Institut für Managementdiagnostik« (Gesprächs- und verhaltenstherapeutische Grundausbildung, betriebswirtschaftliche Zusatzqualifikation, Vertriebstrainerin, Coach) schreibt in ihrem Ergebnisbericht, der dem Landeskirchenamt zur Entscheidung über das Bestehen oder Nicht-Bestehen des Auswahlverfahrens vorgelegt wird: »Mit Frau A. stellte sich eine kleine, resolut und prägnant auftretende Kandidatin vor, die mit einer teilweise ausgeprägten Distanzlosigkeit auf das Gegenüber zugeht. Sie stellt sich selbst als ›Mutter der Kompanie‹ dar und macht deutlich, dass sie in der Regel Recht hat und leider nur nicht immer auch Recht bekommt. Frau A. geht Konflikten nicht aus dem Weg, reflektiert aber ihre eigene Rolle und Beteiligung daran nicht ausreichend. Auch auf wiederholte Nachfragen kommt es zu keinen selbstkritischen Betrachtungen. Aus diesem Grund ist auch nicht anzunehmen, dass Frau A. bereit und in der Lage sein wird, an ihren deutlich erkennbaren persönlichen Schwächen zu arbeiten und sich zu verändern. Aus diesem Grund sieht die Kommission nicht, dass Frau A. erfolgreich eine Position als Gemeindepfarrerin ausführen wird, und rät deshalb von einer Übernahme einer mbA-Stelle ab.« Ein respektloses Urteil gegenüber einer profilierten und starken Pfarrerin, die sich gerade aufgrund ihrer Persönlichkeit über viele Jahre im Gemeindepfarramt bewährt hat, was ihr viele Menschen gerne bezeugen und bescheinigen. Sie sind empört über ein solch anmaßendes, verzerrendes und einen Menschen entwürdigendes »Psychologengewäsch«! Den Erfahrungsbericht aus einem Bewerbungsverfahren neueren Datums, der selbstredend und in aller Deutlichkeit die Fragwürdigkeit und Willkür einer Assessment-Bewertung zum Ausdruck bringt, habe ich an dieser Stelle zum Schutz der betroffenen Person in Rücksprache mit ihr gestrichen. Die Aufarbeitung wird wohl erst zu einem späteren Zeitpunkt beginnen können.

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VIII Weiter so! Oder doch nicht alles in Ordnung? Noch einmal sei auf das solide Gutachten von Professor Dr. Link verwiesen: »›Kompetenz‹-Gewichtung und Prüfungsablauf (insbes. in Form der Rollenspiele) stellen nicht nur die Tauglichkeit des Verfahrens zur Eignungsfeststellung ernsthaft in Frage, sondern lassen auch Zweifel daran aufkommen, ob das dahinterstehende Pfarrerbild noch mit dem reformatorischen Amtsverständnis zur Deckung zu bringen ist. Zudem genügt die Bewertung der erbrachten Leistungen weder einzeln noch in ihrer Summe den an die Transparenz des Prüfungsgeschehens (vor allem mit dessen gravierenden Folgen im Falle des Scheiterns) zu stellenden rechtsstaatlichen Mindesterfordernissen« (a.a.O., 55). Casting-Veranstaltungen unter der Regie von »Managementdiagnostikern« haben in der Kirche nichts verloren! Der sogenannte »Auswahltag« hat – nach den vielen mir vorliegenden Erfahrungsberichten der Betroffenen – etwas von einer »Casting-Show«. Herfried Münkler kritisiert in seinem lesenswerten Buch »Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung« (Berlin 2010) in treffender Weise solche »Casting Shows«: »In ihnen wird die Vorstellung lanciert, alles komme darauf an, die sich bietende Gelegenheit beim Schopfe zu ergreifen und entschlossen zu nutzen. Nicht die in langjähriger, mühsamer Vorbereitung erworbenen Fähigkeiten oder eine kontinuierlich erbrachte Leistung sind demnach für soziale Position und Einkommen ausschlaggebend, sondern entscheidend ist die Performanz des Augenblicks. Insofern ist die Casting-Show die volkstümliche Erzählung vom Geschehen an der Börse, gewissermaßen das ideologische Versatzstück des Casino-Kapitalismus …« (a.a.O., 66). »Wer die Chance nutzt, wenn sie sich bietet, hat das Glück verdient. So wird der Erfolg des Augenblicks in das Ergebnis einer kompetitiv erbrachten Leistung umerzählt« (ebd., 67). Der Vertrauensverlust in unserer Kirche ist enorm. Die durch das Auswahlverfahren mögliche Ausgrenzung von dienstfähigen und dienstbereiten Pfarrerinnen und Pfarrern, die durch Abberufung oder aus einem anderen Grund in den »Wartestand« geraten sind, wie auch die durch

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das Bewerbungsverfahren mögliche Ausschließung des theologischen Nachwuchses von der direkten Bewerbung auf Pfarrstellen, führt zu einem unermesslichen Vertrauensverlust. Die hohen Zahlen von Abberufungen wegen »Nichtgedeihlichkeit« bzw. »nachhaltiger Störung« signalisieren gerade jungen Menschen, die überlegen, ob sie Theologie studieren sollen: Vorsicht, du kannst zu dieser Kirche kein Vertrauen haben, einmal als Pfarrer oder Pfarrerin in dieser Kirche mit verlässlicher Perspektive Dienst tun zu können! Du kannst nach langer theologischer Ausbildung mit zwei bestandenen theologischen Examen arbeitslos auf der Straße stehen und: Du kannst, einmal berufen in ein lebenslanges Dienstverhältnis, jederzeit in den beschäftigungslosen Wartestand und dann in den erzwungenen Ruhestand abgeschoben werden. Der drastische Rückgang der Theologiestudierenden-Zahlen, besonders derer, die aus Pfarrhäusern kommen, resultiert meines Erachtens aus diesen leider berechtigten Vorbehalten und Ängsten. Im Rheinischen Pfarrverein werden wir uns mit den Auswahlverfahren nicht abfinden und nicht arrangieren. Der Schriftleiter unseres »Info«Briefes, Stephan Sticherling, bringt es auf den Punkt: »Was das Auswahlverfahren an Verletzungen, an tiefer Verbitterung ausgelöst hat, darf nicht einfach langsam im Nebel milden Vergessens verschwinden. Nach der Auseinandersetzung beginnt nun die Aufarbeitung. Es gibt Ereignisse, nach denen man nicht einfach so zur Tagesordnung zurückkehren kann« (Stephan Sticherling, in: »Info«-Brief Nr. 19/Dezember 2011, S. 1). Bezüglich der Assessment-Verfahren ist noch die Geschichte der Übergriffe zu schreiben, wie sie jetzt an anderer Stelle nach Jahren und Jahrzehnten des Verschweigens und Verdrängens geschrieben wird. Ich denke hier an die Skandalgeschichten um den sexuellen Missbrauch in der Kirche. Auch in Assessment-Verfahren wird in subtiler Weise Gewalt ausgeübt. Es kann sich um unbewusste Grenzverletzungen handeln, etwa wo die Intimsphäre des anderen Menschen überschritten wird. Solch grenzverletzendes Verhalten findet man nicht selten im Bereich beruflicher Führungs-, Handlungs- und Managementkompetenz. Dringt man in den Grenzbereich einer Person bewusst ein, so ist das übergriffig und nicht nur respektlos, es ähnelt fast einer »Entmündigung«, es ist ent-würdigend. Die Reformation Martin Luthers hat auch gerade darin ihren bedeutenden Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt geleistet, dass sie deutlich

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machte: sine vi, sed verbo. Gewalt, in welcher Form auch immer, ist zu ächten. Was ich in unserer Kirche vermisse, ist: wirkliche Besinnung auf ihr reformatorisches Erbe und daraus: Professionalität, geistlich ausgedrückt: Handeln im Geiste der Barmherzigkeit Jesu Christi! Ich habe in den sechzehn Jahren in meinem Amt als Vorsitzender des Ev. Pfarrvereins im Rheinland kirchenleitendes Handeln gerade im Hinblick auf Personalpolitik oft genug als – um es in aller Deutlichkeit auszusprechen – miserabel erlebt. Wann beginnt man hier endlich, »sich ehrlich zu machen«, wie das heute im Neudeutsch der Sprache der Politik heißt, wann beginnt man hier endlich, um es theologisch zu sagen: Buße zu tun?

Herbert Dieckmann

KMU-Schock für alle Reformer Die neue Kirchenmitgliederbefragung als Lernchance für unsere Kirche1

1 Die Schlüsselrolle der Pastorenschaft – ein binnenkirchliches Tabu Es geschah vor etwa zehn Jahren. Da wagte der Präsident des Landeskirchenamtes, Dr. von Vietinghoff, öffentlich anzusprechen, was bis dahin auch in der Hannoverschen Landeskirche als absolutes Tabu galt: die »Schlüsselrolle« der PastorInnen in den Gemeinden. Reflexartig erscholl ein Aufschrei des Entsetzens: Mitarbeitende, Ehrenamtliche, Synodale, ja selbst Kirchenleitende wollten einfach nicht wahrhaben, was in jeder Gemeinde die übergroße Mehrheit der Kirchenglieder selbstverständlich erlebt und dankbar anerkennt: die zentrale Stellung der PastorIn. Doch diese gemeindliche Selbstverständlichkeit wirklich zu benennen, war kirchenpolitisch inkorrekt. Denn die landeskirchlichen Meinungsmacher wollten die Gemeinde-Pfarrstellen als willkommenes Einsparpotenzial nutzen, weil sie behaupteten, die Kirchen-Einnahmen würden sich bis 2030 halbieren. Tatsächlich sind die Kirchensteuer-Einnahmen in der EKD im letzten Jahrzehnt um über 30% gestiegen, nachdem sie sich von 1967 bis 1970 verdoppelt und von 1970 bis 1990 verdreifacht hatten!2 1 Der folgende Beitrag zur KMU-Deutung der EKD erschien zuerst im Deutschen Pfarrerblatt im Dezember 2014 (Titel »Von der Schwierigkeit, ein liebgewordenes Tabu aufzugeben – Die neue Kirchenmitgliederbefragung als Lernchance für unsere Kirche«) und bezog sich vorrangig auf die im März 2014 vorveröffentlichten ersten Ergebnisse der KMU V von 2012 unter dem Titel: »Engagement und Indifferenz – Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis«, V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, i.F. zitiert als: »V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014«. Diese Überarbeitung vom Dezember 2015 berücksichtigt auch KMU-V-Resultate, wie sie die EKD nun am 7. Dezember 2015 publiziert hat: »Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft: Vernetzte Vielfalt – Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung«, hrsg. v. Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung, Gütersloh 2015, i.F. zitiert als: »Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh Dezember 2015«. 2 K.R. Ziegert, DPfBl 10/2014, 561.

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Darum war 2004 diese Entwicklung tendenziell vorhersehbar. Dennoch wurden drohende Einnahmeverluste als sicher unterstellt und sogleich PastorInnen als überflüssige Amtsträger identifiziert, die lediglich hohe Ausgaben verursachen und zudem das eigenständige Wirken engagierter Ehrenamtlicher behindern und Mitarbeitende autoritär und inkompetent behandeln würden. Stereotype PastorInnen-Schelte mit ernster Warnung vor einer antiquierten »Pastorenkirche« war seinerzeit »angesagter Ton«. Dass dann den PastorInnen als einziger kirchlicher Dienstgruppe die Gehälter erheblich gekürzt, etwa 350 junge TheologInnen trotz bestandener Examina einfach abgewiesen und vor allem viele Gemeindepfarrstellen (in manchen Kirchenkreisen bis zu 50%) ohne nennenswerten Widerstand kurzerhand gestrichen wurden, verstand sich danach beinahe von selbst. Diese innerkirchliche Herabsetzung pastoralen Wirkens war keine unbedachte Schikane, wie die Pfarrvertretungen anfangs meinten. Die gezielte Entwertung pastoraler Gemeindearbeit hatte vielmehr eine andere Funktion: Sie sollte – als Reform getarnt – die drastische Umverteilung kirchlicher Gelder von der Gemeinde auf den Kirchenkreis und die Landeskirche legitimieren, den forcierten Aufbau des Phantoms einer »Kirchenkreis-Kirche« begründen und den Gemeinden erklären, warum trotz stetig steigender Kirchensteuer-Einnahmen dennoch ihre Pfarrstellen massenhaft eliminiert und ihre parochialen Identitäten durch Zusammenlegungen liquidiert wurden, obwohl gleichzeitig erstaunlich viel Geld für aufwendige Prestigeprojekte, kostspielige Diakonie-Insolvenzen und eine immer größer werdende Schar von Mitarbeitenden da war. So wurden z.B. innerhalb von 30 Jahren in einem Kirchenkreis bei einem Mitgliederverlust von 17% die Zahl der Mitarbeitenden noch um 10% erhöht, die Stellen der Verwaltung unvermindert weitergeführt, doch die Zahl der Pfarrstellen tatsächlich um 35% gekürzt! In einer solchen kirchenpolitischen Landschaft blieb es natürlich »un-erhört«, von der pastoralen Schlüsselrolle zu sprechen.

2 Kirchenglieder bestätigen die zentrale Bedeutung der Pastorenschaft Im schroffen Gegensatz zur binnenkirchlichen Abwertung der Gemeinde-PastorInnen haben schon seit 1972 die vier großen EKD-Befragungen immer wieder die hohe Wertschätzung des Gemeinde-Pfarramtes durch

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die Kirchenglieder eindeutig aufgezeigt – zur großen Verwunderung der EKD selbst, wie Rüdiger Schloz, der Geschäftsführer dieser vier Untersuchungen, einmal freimütig der VELKD-Pfarrvertretung gestand. Und diese seit vier Jahrzehnten kontinuierlich erhobene klare PastorInnen-Orientierung wird nun 2012 ein weiteres Mal von der KMU V eindrucksvoll bestätigt: »Auch schon in losem Kontakt mit einem Pastor zu stehen, kommt statistisch beinahe einem Garantieschein gleich, dass die betreffende Person in der Kirche bleibt und ihre Kinder taufen lässt.« So fasst Reinhard Bingener in der FAZ vom 09.03.2014 ein wichtiges Ergebnis der neuen Befragung zusammen. 76% aller Kirchenglieder, die eine PastorIn durch persönliches Gespräch (40%) oder auch nur namentlich oder vom Sehen (36%) kennen, fühlen sich mit ihrer Evangelischen Kirche derart stark verbunden, dass für sie ein Austritt undenkbar sei. Im Jahre 2002 waren das allerdings noch 85%, worauf kein KMU-Interpret hinweist, obwohl ein solcher Rückgang von 8% doch sehr bedenklich wäre. Denn damit stiege die Zahl derer, die gerade nicht »garantiert« in ihrer Kirche blieben, um weitere 1,87 Millionen. Allerdings könnte nach einem Jahrzehnt der Vernichtung von Gemeinden und Pfarrstellen solch eine vergrößerte Kirchendistanz kaum jemanden verwundern, schon gar nicht jene Enkelin, die in einem besonders stark »durchregionalisierten« Kirchenkreis miterleben musste, wie erst der fünfte Pastor, den sie telefonisch erreichte, schließlich dafür »zuständig« war, ihre verstorbene Großmutter zu beerdigen, obwohl diese lebenslang ihrer Gemeinde eng verbunden blieb, wie übrigens ihre Enkelin auch – bisher jedenfalls!3

Trotz dieser Einschränkung bleibt die Grunderkenntnis der KMU V von 2012 für PastorInnen und ihre Gemeindeglieder ermutigend: Immer noch gelingt es dem in der Gemeinde weiterhin sehr angesehenen Pfarramt, durch pastorale Arbeit bei Kasualien und Gottesdiensten, aber ebenso durch gezielte pastorale Präsenz bei Gemeinde- und Ortsfesten, Gemeindegruppen und Zufallsbegegnungen, die überwiegende Mehrheit der Evangelischen an ihre Kirche zu binden und ihre Identifikation mit der Ortsgemeinde zu stärken.4 Und diese pastorale Leistung ist gerade darum so bewundernswert, weil mit den unzähligen gestrichenen Pfarr3 Doch sehr wahrscheinlich sind Gemeinde-PastorInnen auch 2012 bei Kirchengliedern viel bekannter, als dies die KMU V mit ihrer antipastoralen wie antiparochialen Interpretation und Fragestrategie sowie ihrer problematischen, vermutlich stadt-dominanten Stichprobenauswahl erkennen kann (s. dazu die kritischen Darlegungen auf S. 9f.). Umso erstaunlicher ist es, dass sich in der Befragung die starke Pastoren- und Gemeinde-Orientierung der Kirchenglieder dennoch so eindeutig durchsetzen konnte. 4 S. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 105, Anm. 15.

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stellen ja keineswegs deren Pfarrarbeit entfällt. Vielmehr müssen die verbliebenen PfarrkollegInnen diese Zusatzarbeit mit übernehmen und in ihren Gemeinden im Vergleich zu 1990–95 mancherorts nahezu die doppelte Zahl von Kirchenmitgliedern pastoral begleiten. Denn was die Evangelischen mehrheitlich von ihrer Kirche erwarten, ist eben vorrangig pastorale Tätigkeit, wie z.B. die Lösung religiöser Fragen (93%!),5 die eigene kirchliche Bestattung (5,33: Mittelwert einer 7-gliedrigen Skala), die Weiterführung der elterlichen Tradition (5,24), die kirchliche Trauung (5,00), das Eintreten für wichtige ethische Werte (4,95), die Förderung des eigenen christlichen Glaubens (4,81).6 Dabei ist die drittplatzierte, meist nur sozial-diakonisch gedeutete Erwartung, dass die Kirche »etwas für Arme, Kranke und Bedürftige tut« (5,05), aus der Sicht der Kirchenglieder wohl zugleich auch dem pastoralen Arbeitsbereich mit zuzuordnen. Dies legt jedenfalls die KMU IV von 2002 nahe, die dieses Item zwar nicht in ihre pastorale Aufgabenliste aufnimmt, dafür aber als drittwichtigste pastorale Aufgabe mit 6,11 (!) das Kümmern »um Probleme von Menschen in sozialen Notlagen« nennt, gleich nach Kasualien (6,25) und Seelsorge (6,21) und noch vor Verkündigung (5,95) und Gottesdienst (5,86).7 Leider hat die KMU V 2012 diese wichtige pastorale Aufgabenliste der KMU IV ersatzlos gestrichen.8

3 KMU-Ausleger relativieren pastorale und parochiale Schlüsselrolle Statt nun die so überaus erfreuliche Pastoren- und Gemeinde-Orientierung ihrer Kirchenglieder dankbar aufzugreifen und daraus sinnvolle Handlungsempfehlungen für eine von Mitgliederschwund und Marginalisierung so arg bedrohte Kirche abzuleiten, investieren die EKD-Verantwortlichen der KMU V viel Mühe und Fantasie, jene hohe Bedeutung, die Evangelische ihren Gemeinden und deren PastorInnen zuschreiben, durch (a) relativierende Interpretationen, (b) tendenziöse

5 Ebd., 94. 6 Ebd., 89. 7 Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006, 452. 8 Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh Dezember 2015, 476–478 u. vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006, 452, Frage 15.

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Fragestellungen und (c) eine problematische stadt-dominante Stichprobenauswahl nahezu um jeden Preis zu vermindern.

(2) Drei antipastorale Relativierungen und eine antiparochiale Abwertung Im eklatanten Widerspruch zu allen wissenschaftlichen Standards verwehrte die EKD der kritischen Öffentlichkeit mehr als zwei Jahre lang jeden Zugang zum Datenmaterial der fünften KirchenmitgliedschaftUntersuchung von 2012. Erst ab 7. Dezember 2015 sind die KMU-VDaten öffentlich zugänglich. Bis dahin besaßen die EKD-internen Interpreten des Wissenschaftlichen Beirates für die KMU V ein beispielloses Zugangs- und Deutungsmonopol. Das wurde u.a. dazu genutzt, um im März 2014 Teilergebnisse vorzulegen, die versuchen, die in der KMU V erneut festgestellte Schlüsselrolle der Ortsgemeinden und ihrer PastorInnen auf mindestens vierfache Weise zu relativieren.

Erster Relativierungsversuch: Nur ja keine »Pastorenkirche«! Auf die Fragen, welche Person, welchen Ort und welchen Vorgang sie mit der Evangelischen Kirche in Verbindung bringen, nennen die Evangelischen: die PastorIn (31%), Mitarbeitende (4%), das Kirchengebäude (50%), Kasualien (20%) und besondere Gottesdienste (19%), Glauben und Spiritualität (17%). Obwohl die Kirchenglieder damit ihre vorrangige Ausrichtung sowohl auf die Person der PastorIn als auch auf deren Wirkungsort und Tätigkeitsfeld, die Ortsgemeinde, ausdrücklich bestätigen, resümiert die KMU-Deutung von 2014 dennoch die von ihr selbst referierten Umfrage-Ergebnisse ganz anders. Geschickt anonymisiert sie die pastorale Arbeit und trennt sie dadurch von ihren pastoralen Akteuren, behauptet ohne Belege eine höhere Anerkennung sozial-diakonischer Arbeit und eine erheblich geringere Beachtung der Gemeindearbeit, mit der merkwürdigen Einschränkung: »abgesehen von Kasualien«9, immerhin einem Hauptfeld gemeindlicher Tätigkeit! 9 »Als ›Pastorenkirche‹ erscheint die Evangelische Kirche also zwar dann, wenn ausdrücklich nach Personen gefragt wird; insgesamt sind es jedoch weniger die Pfar-

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Die überwiegende Mehrheit der Kirchenglieder, die ihre PastorInnen in den Ortsgemeinden bei »lebens- und jahreszyklischen Gottesdiensten« ständig erlebt, wird über solch eine pastorenfeindliche Umwertung ihrer Antworten nur irritiert den Kopf schütteln. Wie sollen sie ihren eindeutigen Pastoren-Bezug denn nun noch formulieren, damit auch EKD-Interpreten ihn endlich wahrnehmen können? Ebenfalls nicht verstehen wird diese Kirchengliedermehrheit, warum sie auf einmal diakonisches Engagement angeblich viel wichtiger finden solle als pastorales Wirken. Denn im klaren Gegensatz dazu gibt doch auch die KMU-Deutung an anderer Stelle (s. S. 94ff.) als eindeutige Mehrheitsmeinung der Evangelischen wieder, diese würden ihrer Kirche ein religiöses Alleinstellungsmerkmal, also vor allem pastorale Arbeit, zuschreiben und gleichzeitig die soziale Leistungsfähigkeit der Evangelischen Kirche skeptisch beurteilen. So halten es z.B. nur 22% der Evangelischen für »wichtig«, ihre Angehörige in einem »christlichen Krankenhaus« behandeln zu lassen.10 In diesem diakonie-skeptischen Sinne hält die KMU-Deutung dann unmissverständlich fest: »Ihr diakonisches Engagement wird der evangelischen Kirche dabei nur teilweise zugerechnet.«11

Zweiter Relativierungsversuch: Gleichwertige Bedeutung der gemeindlich Mitarbeitenden Trotz der nachgewiesenen zentralen Stellung der Gemeinde-PastorInnen für die Kirchenmitglieder meint die KMU-Deutung von 2014, eine ebenfalls »erhebliche« Bedeutung ortsgemeindlich Mitarbeitender feststellen zu können: »Was den persönlichen, den Face-to-face-Kontakt rerinnen/Pfarrer als vielmehr gottesdienstliche Vollzüge und Glaubensüberzeugungen, die mit der Evangelischen Kirche in Zusammenhang gebracht werden … Die evangelische Kirche wird von ihren Mitgliedern … zunächst mit ihrer gottesdienstlichen Praxis identifiziert, vor allem aber mit lebens- und jahreszyklischen Gottesdiensten. Sie erscheint als eine dezidiert religiöse, mit Gott, dem Glauben und der Bibel befasste Institution, die im Besonderen durch Orte und Personen der Reformation geprägt (und von der katholischen Kirche positiv unterschieden) ist. Pfarrerin und Pfarrer spielen in ihr eine wichtige, aber nicht die zentrale Rolle; etwas wichtiger erscheint das soziale bzw. das diakonische Engagement der evangelischen Kirche« (V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 34). 10 S. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh Dezember 2015, 508. 11 S. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 95.

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betrifft, so werden neben der/dem Pfarrer/in in erheblichem Umfang auch diverse andere Mitarbeitende, vor allem in den Ortsgemeinden, mit der kirchlichen Institution assoziiert.«12 Doch schon im Nachsatz muss der Interpret zugeben, dass für »die ›distanzierten‹ Gruppen B und C« (und das sind immerhin 56% der Kirchenglieder) »(fast) nur die/der Pfarrer/in die kirchliche Institution repräsentiert«. Nur für die kleinere Gruppe A der am kirchlichen Leben stark Beteiligten (also allenfalls 43%) rücken »auch andere Mitarbeitende … in den Blick«, wie bewusst vorsichtig formuliert wird. So ergeben auch hier die Umfrageergebnisse ein deutlich pastorenorientiertes Bild: 31% der Evangelischen assoziieren PastorInnen mit ihrer Kirche und nur 4% die Mitarbeitenden;13 40% der Kirchenglieder hatten im letzten Jahr Kontakt mit der PastorIn und nur 12% bis 21% mit verschiedenen Mitarbeitenden. Wobei selbst diese formalen Kontaktzahlen natürlich noch gar nichts über die ganz unterschiedliche Gewichtung der beiden Kontaktarten besagen: Jeder Patient, der zum Arzt geht, hat dabei ja auch – und meistens sogar mehrere – formelle, vorbereitende Kontakte mit dessen Sprechstundenhilfe, ohne dass diese deshalb bereits die ärztliche Behandlung beginnt! Darum setzt sich Gerhard Wegner auch an dieser Stelle deutlich von der oben kritisierten KMUInterpretation ab und betont: »Die Kontakthäufigkeit aller kirchlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, natürlich auch der Ehrenamtlichen, ist in keiner Weise zu vernachlässigen. Die wichtige und zentrale Rolle des Pfarrers und der Pfarrerin wird dadurch aber nicht gemindert.«14

Dritter Relativierungsversuch: Pastorale Seelsorge für Kirchenmitglieder unwichtig Die Interpretation der KMU V von 2014 versucht mehrfach, die bisher als zentrale pastorale Aufgabe angesehene Seelsorge abzuwerten: »Nur ein Drittel (33%) der Evangelischen« halte »einen Face-to-face-Kontakt mit einer/einem Pfarrer/in für wichtig.«15 Dem Interpreten ist offensichtlich die enorme Größe einer solchen Personengruppe nicht bewusst: 12 13 14 15

S. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 103. S. ebd., 32. epd-Dokumentation 36, 12. Ebd., 103.

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denn 33% in Pfarrbezirken von immerhin 3000 bis 3500 Gemeindegliedern – das sind 990 bis 1155 Personen, die Jahr für Jahr Seelsorge-Gespräche von ihrer PastorIn erwarten! Nahezu die Hälfte pastoraler Arbeitszeit wäre damit täglich ausgefüllt. Natürlich kann der Interpret einwenden, dass diese Zahlen (wie beim Gottesdienstbesuch) nur subjektive Erwartungen und nicht objektive Gemeinderealität widerspiegeln. Dennoch deuten sie den hohen Stellenwert an, den Evangelische weiterhin pastoraler Seelsorge zuweisen, die sie 2002 (s. KMU IV) zur zweitwichtigsten Aufgabe der PastorIn erklärten. Und hätte die KMU V die im Grunde selbstverständliche Frage nach der Rangfolge pastoraler Aufgaben beibehalten, so wäre vermutlich die hohe Bedeutung pastoraler Seelsorge wieder sichtbar geworden, die die KMU IV bereits 2002 erhoben hatte und die sehr wahrscheinlich viele Kirchenglieder ihr auch 2012 immer noch zumessen. Doch der eigentliche Grundfehler dieser KMU-Interpretation begegnet vor allem in ihrer eingeschränkten Sicht auf die pastorale Seelsorge. Zwar werden die von nahezu allen Kirchengliedern in Anspruch genommenen Kasualien immer wieder fast stereotyp erwähnt, doch offensichtlich nicht als wichtiges Seelsorgefeld wahrgenommen und mitgezählt. Und ganz aus dem Blickfeld dieser KMU-Deutung geraten die zahllosen seelsorgerlich verantwortungsvollen Kurzgespräche bei zufälligen Alltagsbegegnungen in der Ortsgemeinde. Jede Gemeinde-PastorIn kann darüber ausführlich berichten und ist von daher dem Theologen und Seelsorger Timm L. Lohse gewiss dankbar, der die besonderen Chancen dieser sehr häufigen Seelsorge-Gespräche »zwischen Tür und Angel« schon vor Jahren aufgezeigt hat.16

Vierter Relativierungsversuch: Ortsgemeinde nur für ein Viertel der Kirchenglieder wichtig Bei ihrem Versuch, auch die Bedeutung der Ortsgemeinde abzuwerten, behaupten die KMU-Interpreten über die Kirchenglieder: »Ihr ortsgemeindliches Leben kommt – abgesehen von Kasualien – allenfalls für etwa

16 Timm L. Lohse, »Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung«, Göttingen 1 2003, 42013.

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ein Viertel der Mitglieder in den Blick.«17 Zunächst einmal ist es absurd, ausgerechnet Kasual-Kontakte als zentrales Begegnungsfeld der Evangelischen mit ihrer Ortsgemeinde bei der Frage nach ihrer ortsgemeindlichen Verbundenheit einfach unberücksichtigt zu lassen. Doch darüber hinaus steht diese unvermittelte Behauptung auch im offenen Widerspruch zur eigenen KMU-Information von Seite 105, Anm. 15, wonach Kirchenglieder, die eine PastorIn kennen (also immerhin 76% der Evangelischen), überwiegend auf ihre Ortsgemeinde bezogen sind.18 Dies bestätigt auch der Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD und Mitautor der KMU V, Prof. Gerhard Wegner. In seinem lesenswerten Referat vom 25. Juni 2014 weist Wegner darauf hin, dass die in der KMU V erstaunlicherweise seit 1992 zum ersten Mal wieder abgefragte Verbundenheit zur Ortsgemeinde genauso hoch sei wie die allgemeine Bindung an die Evangelische Kirche. Daraus schlussfolgert er: »Die Vorstellung, dass es viele Menschen gäbe, die sich sozusagen kulturell allgemein der Kirche verbunden fühlen würden, aber mit ihrer Kirchengemeinde eigentlich nichts zu tun haben wollen, weil sie ihnen zu borniert erscheint, lässt sich folglich mit der KMU 5 nicht (mehr) bestätigen. Bindung an die Kirche ist Bindung an die Kirchengemeinde.«19

Diese vorrangige Gemeinde-Orientierung der Kirchenglieder liegt nach Veröffentlichung aller KMU-V-Ergebnisse im Dezember 2015 nun offen zutage:20 69% der Evangelischen zeigen sich mit ihrer Ortgemeinde verbunden: 22,8% sehr, 22,2% ziemlich, 23,8% etwas,21 darunter auch die oft als gemeindefern eingeschätzten sehr »Mobilen«.22 Mit der »Ev. Kirche« jedoch fühlen sich nur 15,7% sehr, aber 28,3% ziemlich und 24,9% etwas verbunden.23 Das heißt: Der ortsgemeindliche Verbundenheitsgrad ist höher als der allgemein-kirchliche, was Gerhard Wegner und Tabea Spieß in ihrer KMU-Auswertung zu Recht 17 S. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 34. 18 Ebd., 105, Anm. 15. 19 epd-Dokumentation 36, 6, vom 09.09.2014. 20 Vermutlich ist die tatsächliche ortsgemeindliche Verbundenheit noch weit stärker, was die KMU V wegen ihrer die Ortsgemeinde benachteiligenden Fragestrategie und ihrer problematischen, vermutlich stadt-dominanten Befragten-Auswahl – ähnlich wie bei den »Pastoren-Fragen« – nicht erkennen kann (s.u. 9f.). 21 S. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh Dezember 2015, 51 u. 469. 22 S. ebd., 65. 23 S. ebd., 468.

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anmerken.24 Dabei ist diese Gemeinde-Verbundenheit »nicht auf bestimmte soziale Milieus oder biographische Verhältnisse beschränkt«, sondern gehört nach Jan Hermelink und Gerald Kretzschmar vom Wissenschaftlichen Beirat der EKD »zur normalen durchschnittlichen Einstellung der Kirchenmitglieder«.25 »Auch unter den Bedingungen moderngesellschaftlicher Differenzierung, religiöser Vielfalt und biografischer Mobilität scheint die Kirche vor Ort aus der Sicht der Mitglieder von hoher, ja gelegentlich identitätsstiftender Bedeutung zu sein.«26 Doch trotz dieser sehr erfreulichen »Beinahe-Revision« der ersten KMU-Auslegung von 2014 bleibt die damals vorgetragene antipastorale und antigemeindliche Umdeutung der KMU-Befragungsergebnisse leider weiterhin so gefährlich, weil sie wegen der EKD-Geheimhaltung des KMU-Datenmaterials bis Dezember 2015 kaum kritisch überprüfbar war und somit über zwei Jahre nahezu unangefochten Zeit hatte, selbst zu erzeugen, was sie 2014 als Tatsache vorgab: »das Bild, das … bei den meisten kirchlichen Verantwortlichen verbreitet ist«.27 Dadurch könnte diese KMU-Bewertung von 2014 wesentlich mit dazu beitragen, R. Bingeners schlimme Befürchtung zu bestätigen: »Die bisherige Erfahrung lehrt allerdings, dass es in Teilen der Führung der evangelische Kirche keine Scheu gibt, hartnäckig an den empirischen Erkenntnissen vorbeizuarbeiten.«28 Dass Bingener hier keinen Popanz aufbaut, sondern vielmehr vor einer realen Gefahr warnt, bestätigen unfreiwillig die »Perspektiven für die kirchenleitende Praxis« des Wissenschaftlichen Beirates der EKD für die V. KMU vom Dezember 2015.29 Obwohl zahlreiche Beiträge in der KMU-Deutung von 2015 die vorrangige Gemeinde-Orientierung der Kirchenglieder anhand der Befragungsbefunde sehr plausibel darlegen, besteht der EKD-Beirat sichtlich unbeeindruckt auf einem gleichrangigen Nebeneinander von Ortsgemeinden mit den »Gemeinden auf Zeit« und fordert unverdrossen die konsequente Förderung einer »polyzentrischen Entwicklung« bei striktem Verbot kritischer Nachfragen zu den – immer zahlreicher werdenden, aber offenbar sehr geschätzten und so gut wie nie evaluierten – übergemeindlichen Einrichtungen.30 Es ist fast so, als solle die Kirchenleitung hier gegen die wichtige Schlussfolgerung immunisiert werden, »dass die neue Kirchenmitgliedschaftsstudie die Kirche weithin in dem bestätigt, was sie ohnehin schon tut. Eine Kirchenreform im umfassenden Sinn ist nicht indiziert … Vieles läuft gut in der evangelischen Kirche, sie kann an Bewährtes anschließen. Behutsame Korrekturen sind hier und da erforderlich, aber dabei geht es um eine sensible Feinsteuerung, nicht um grundsätzliche Innovationen und Strukturveränderungen.«31

24 Ebd., 51, Anm. 3: »Die Verbindung mit der Ortsgemeinde ist mithin intensiver als mit der Kirche insgesamt.« 25 Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh Dezember 2015, 66. 26 S. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh Dezember 2015, 67. 27 V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 34. 28 FAZ vom 09.03.2014. 29 S. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh Dezember 2015, 449–456. 30 S. ebd., 450 u. 451. 31 Isolde Karle, ebd., 127.

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Diese vier Relativierungsversuche waren schon 2014 erkennbar. Doch nachdem ab Dezember 2015 das gesamte KMU-V-Datenmaterial öffentlich zugänglich ist, kommt auch ans Licht, mit welch einer ausgeklügelten Fragestrategie (b) und problematischen Stichprobenauswahl (c) versucht worden ist, die erkennbare Gemeinde- und PastorInnen-Orientierung der Kirchenglieder so gut wie möglich zu verbergen.

(b) Raffinierte Fragestellungen zur Minderung gemeindlicher und pastoraler Umfragewerte Von zentraler Bedeutung für jede Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung ist es, den jeweiligen Grad kirchlicher Verbundenheit der Evangelischen zu erheben. Dies sollen die drei wichtigen KMU-Fragen 10a, 10b und 11 leisten. Jeder unvoreingenommene Beobachter erwartet nun, dass die Kirchenglieder zunächst einmal nach der Qualität ihrer Beziehung zur Ortsgemeinde befragt werden. Denn deren unübersehbare Präsenz erleben sie ja täglich, wenn sie an ihrem Kirchgebäude vorbeigehen, deren Glocken läuten hören, ihre Kinder oder Enkel zur Kita bringen, in der Tageszeitung und im Gemeindebrief von Taufen, Trauungen, Konfirmationen, Beerdigungen, Gottesdiensten, Gemeindefesten, Konzerten, Vorträgen und anderen Veranstaltungen ihrer Ortsgemeinde lesen, einige davon selbst besuchen oder ihrer Gemeinde-PastorIn im Wohnort begegnen. Aber erstaunlicherweise wird zuerst, und das gleich durch zwei Fragen (10a, 10b), der Verbundenheitsgrad mit einer sozial wie rechtlich gar nicht existenten, sog. »evangelischen Kirche« erkundet. Hinter dieser überraschenden Vorordnung steht die EKD-Behauptung, Evangelische verstünden sich mehrheitlich vorrangig als »Mitglieder« der Evangelischen Kirche in Deutschland und erst nachgeordnet als »Mitglieder« ihrer Ortsgemeinden. Doch anstatt nun sprachlich korrekt nach dem Bezug der Kirchenglieder zur »Evangelischen Kirche in Deutschland« zu fragen, wird bewusst nebulös von einer »evangelischen Kirche« gesprochen, bei der die meisten Interviewten wahrscheinlich an ihre Ortsgemeinde denken. So durchschauen viele gutgläubige Befragte diesen Fragetrick vermutlich gar nicht und beziehen ganz arglos ihre Angaben zu

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kirchlicher Verbundenheit auf ihre Gemeinde, ohne zu merken, dass dies gerade nicht erfragt wird.32 Bewusst nachgeordnet wird dagegen die Frage 11, in der zum ersten Mal auch die »Ortsgemeinde« auftaucht, jedoch völlig unsachgemäß versteckt in einer viergliedrigen Auflistung anderer, von den Kirchengliedern gewiss nur nachrangig wahrgenommener »Bereiche kirchlicher Arbeit« wie Landeskirche, ev. Schulen, Kitas, Krankenhäuser, Pflegeheime u.Ä. Nahe gelegen hätte dagegen die einfache direkte Frage nach der Verbundenheit der Evangelischen mit ihrer Ortsgemeinde. Doch die soll auf jeden Fall vermieden werden. Zudem scheuen die KMU-Verantwortlichen den allein aussagekräftigen Direktvergleich zwischen Ev. Kirche in Deutschland, Landeskirche und Ortsgemeinde; denn der hätte mit Sicherheit die höhere ortsgemeindliche Verbundenheit ergeben, worauf die deutlich niedrigeren Verbundenheitswerte mit den Landeskirchen erkennbar hinweisen.33 Die angemessene Wahrnehmung der PastorInnen wird in ähnlicher Weise wie bei den Ortsgemeinden mehrfach erschwert. So liegt den Befragten die wichtige pastorale Aufgabenliste nicht mehr vor, obwohl (oder vielleicht weil) sie in der KMU IV von 2002 noch ungewöhnlich hohe Umfragewerte erbrachte: Kasualien (6,25 in einer 7-gliedrigen Skala), Seelsorge (6,21), Kümmern »um Probleme von Menschen in sozialen Notlagen« (6,11), Verkündigung (5,95), Gottesdienst (5,86). Stattdessen werden nun diese genuin pastoralen Arbeitsfelder als »allgemein-kirchliche Aufgaben« erfragt und damit bewusst von den Pfarrpersonen getrennt! Zudem werden »PastorInnen« oft in die Gruppe der »kirchlich Mitarbeitenden« einplaniert – die wohl folgenschwerste »Pastoren-Entsorgung«! Denn natürlich sinkt damit die Bedeutung dieser wahllos zusammengewürfelten Gruppe: »kirchliche Mitarbeitende: (Pfarrer/in, Kantor/in, Jugendgruppenleiter/in …)«34 für die religiöse Sozialisation auf 33,9%. Dabei hatte die repräsentative KMU IV von 2002 noch ergeben, dass nach Eltern (81%) und Großeltern (70%) für 60% der Evangelischen die PastorInnen die wichtigsten religiösen Einflusspersonen sind – weit vor 32 S. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh Dezember 2015, 468. Allerdings ist so tendenziös auch schon in den vorhergehenden Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen gefragt worden. 33 S. ebd., 469. 34 S. ebd., 463.

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Lehrern (33%), Jugendgruppenleitern (26%), kirchlichen Repräsentanten (10%) oder gar dem Internet (1%). Doch eine so hohe Zustimmung für PastorInnen sollte in der KMU V einfach unterbleiben! Dass dies keine böswillige Unterstellung ist, sondern vielmehr eine logische Schlussfolgerung darstellt, belegt ein auch an der KMU V führend beteiligter EKD-Interpret, der bei seiner Auswertung der KMU IV den merkwürdigen Versuch unternahm, dieses für PastorInnen erstaunlich positive Ergebnis, wichtige Garanten religiöser Sozialisation der Evangelischen zu sein, mit einer eigenartigen Logik wegzudeuten. Er tadelte an den »pastoralen Experten«, »für die religiöse Sozialisation spielten sie – nach Eltern und Großeltern (!) – allenfalls die dritte Geige«.35 Dabei hätte er den PastorInnen eindeutig die »erste Geige« im Orchester von außerfamiliären Fremdpersonen zubilligen müssen, die alle erheblich geringere Zustimmungswerte aufweisen. Doch offensichtlich passte dieses grandiose Befragungsergebnis schon damals nicht in seine Vorstellung von weniger wichtigen PastorInnen, die 2012 vorsichtshalber nicht einmal mehr gesondert benannt werden, damit der gewünschte niedrigere pastorale Umfragewert auf jeden Fall erreicht wird.

Noch listiger verhindert die neu eingeführte Frage nach einer Assoziationsperson für die »evangelische Kirche« eine stärkere Wahrnehmung von PastorInnen. Bewusst im Singular gestellt, zielt sie auf die Nennung bekannter kirchlicher Persönlichkeiten wie z.B. Luther und verwehrt die – zumindest häufigere – Nennung von Pastoren. Im Plural nach »Personen« gefragt, hätte es dagegen weitaus öfter als Antwort »Pastoren« geheißen. Und wie nahe eine solche pluralische Frage liegt, dokumentieren die EKD-Interpreten selbst. Immer wieder zitieren sie diese Frage stets sprachlich inkorrekt im Plural! Im Übrigen hätte es viel näher gelegen, nach einer Assoziationsperson für die Ortsgemeinde zu fragen. Aber die dann zu erwartende pastorendominierte Antwort wollte man wohl keinesfalls hören!

(c) Eine problematische, vermutlich stadt-dominante Stichprobenauswahl Die repräsentativen Stichproben der KMU I–IV von 1972 bis 2002 hatten die tatsächliche Bevölkerungsverteilung nach Wohnortgrößen, den sog. »Gemeindegrößenklassen«, zur Grundlage, wie sie die statistischen Ämter unseres Landes bis heute erstellen. Darum wurden proportional zur wohnortmäßigen Verteilung der Bevölkerung zwischen 62% (KMU I:

35 S. ebd., 420.

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1972) und 66% (KMU IV: 2002) der befragten Evangelischen aus dem Dorf-Kleinstadt-Bereich (bis unter 100 000 E.) und zwischen 38% (KMU I: 1972) und 34% (KMU IV: 2002) aus dem Mittel- und Großstadt-Bereich (über 100 000 E.) ausgewählt. Diese Befragten-Auswahl spiegelt in etwa die reale Dorf-Kleinstadt-Dominanz der Bevölkerung wider. Nach dem Zensus 2011 leben 68,5% der Bevölkerung in Dörfern und Kleinstädten und nur 31,5% in Mittel- und Großstädten. Die Wohnortverteilung der Evangelischen zeigt ein noch deutlicheres Dorf-Kleinstadt-Primat von 74% gegenüber einer mittel-großstädtischen Minorität von lediglich 26%! Die Stichprobenauswahl KMU V von 2012 mit ihrem vermutlich städtischen Übergewicht stellt diese Proportionen der realen KirchengliederVerteilung dann auf den Kopf: Statt 74% kommen in der KMU V nur 21,7% der befragten Evangelischen aus dem ländlich-kleinstädtischen Raum; statt 26% aber 78,3% aus dem Mittel- und Großstadt-Bereich.36 Es liegt auf der Hand, dass diese erhebliche Bevorzugung der gemeindeund pastoren-ferneren »Stadtkirche« bei gleichzeitig extremer Vernachlässigung der für gemeindliche Arbeit so besonders wichtigen »DorfKleinstadt-Kirche« die Umfragewerte für Ortsgemeinden und ihre PastorInnen zwangsläufig senken muss. Auf diese Kritik des Verfassers an der extrem mittel- und großstadt-dominanten Befragten-Auswahl37 reagierte die EKD mit dem Hinweis, diesmal habe die KMU V ihre Stichprobenauswahl nach der Systematik der sog. BIK-Regionen vorgenommen, die verschiedene Wohnortgrößen in einer Region zusammenfassen würde. Eine inhaltliche Begründung für diesen grundlegenden Methodenwechsel gab die EKD nicht. Auf Nachfrage des Verfassers bei der EKD errechnete das mit der KMU V betraute TNS-Emnid-Institut anhand der Postleitzahl-Angaben (ohne Berücksichtigung der amtlichen Gemeindekennziffern) nachträglich aus den BIK-Ergebnissen nun völlig andere, halbwegs repräsentative Umfragewerte z.B. für die befragten Evangelischen: 66,7% aus dem Dorf-Kleinstadt-Bereich, 33,3% aus dem Mittel- und Großstadt-Bereich. Die EKD räumte ein, dass sie diese nun nachgetragenen Ergebnisse im KMU-V-Bericht hätte ausweisen müssen. 36 S. ebd., 526, S14a Wohnortgröße (BIK). 37 S. »KMU-Schock« für alle »Gemeindeverächter«: Selbst die Großstadt-Kirche ist noch gemeinde- und pastoren-orientiert (in: DPfBl 3/2016, 163f.; vgl. auch: Hannoversches Pfarrvereinsblatt 1/16, Frühjahr 2016, 121. Jahrgang, 11f.).

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Zu diesem Vorgehen ist m.E. Folgendes kritisch anzumerken: (1) Die BIK-Methode ist für die Untersuchung wohnortbezogener Kirchenmitgliedschaft ungeeignet, weil sie lediglich die urbane Verflechtung eines Wohnortes und nicht dessen tatsächliche Einwohnerzahl erhebt. Schon seit 1991 errechnet das private Regional- und Marktforschungsinstitut BIK Aschpurwis + Behrens anhand der Pendlerdaten der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten und der Bevölkerung am Ort der Hauptwohnung jährlich (zumeist sieben) sog. »BIK-Regionen«. Diese statistischen Kunstformen wollen den jeweiligen Verstädterungsgrad eines Wohngebietes nachbilden und gerade nicht dessen tatsächliche Wohnortgröße angeben. Denn die BIK-Methode erhebt als bundesweite räumliche Gliederungssystematik die Stadt-UmlandBeziehungen auf Gemeindeebene für Ballungsräume, Stadtregionen, Mittelund Unterzentren, indem sie Wohnorte mit einer Arbeitspendler-Quote ab 7% dem jeweiligen Einzugsgebiet zuschlägt und somit lediglich dessen funktionalen Urbanisierungsgrad anzeigt. Im eklatanten Widerspruch zur realen Aufteilung ordnen diese Beziehungsgebilde dem Land-Kleinstadt-Raum nur 34% und dem Mittel-Großstadt-Bereich 66% der Bevölkerung zu. Zur Klärung von Raumordnungs-, Wirtschafts- oder Infrastruktur-Entscheidungen wird die BIK-Methode nützlich sein, nicht jedoch für Fragen nach dem kirchlichen Teilnahmeverhalten. Denn das entfalten Evangelische eben nicht an ihrem (vielleicht) urbanen Arbeitsort, sondern an ihrem Wohnort, der für 74% von ihnen im Land-Kleinstadt-Bereich liegt. Und gerade die KMU V hat – trotz ihrer ortsgemeinde-feindlichen Fragestrategie – noch einmal eindrücklich belegt, wie stark Kirchenglieder sich auf die Kirchengemeinde an ihrem Wohnort beziehen: Dort erwarten sie gemeindlich-pastorale Begleitung in ihrem Leben und nicht in irgendeiner urbanen Region, in der sie nun (zufällig) ihren Arbeitsplatz, eine weiterführende Schule für ihre Kinder, ein vertrauenswürdiges Krankenhaus, gute Gelegenheiten zum Großeinkauf oder andere Hilfen für ihre Daseinsvorsorge gefunden haben. Es ist von daher unverständlich, warum die bewährte Stichprobenauswahl nach Gemeindegrößenklassen der KMU I–IV nicht auch bei der KMU V verwendet wurde.

(2) Die nachträgliche Umrechnung der nach der BIK-Methode gewonnenen KMU-Umfragewerte auf tatsächliche Wohnorte allein durch Postleitzahl-Angaben und ohne Verwendung der amtlichen Gemeindekennziffern ist nicht möglich. Das in diesen Fragen führende BIK-Institut Aschpurwis + Behrens erklärt ausdrücklich: »Eine Zuordnung der BIK-Regionssystematik zu den (Zustell-)Postleitzahlen ist methodisch nur unter Zuhilfenahme des 8stelligen amtlichen Gemeindeschlüssels (AGS) sinnvoll.«38 Denn die jeweiligen Postleitzahlen beziehen sich auf ganz unterschiedlich große Wohnorte, die nach dem Erkenntnisstand des BIK-Institutes nur so zu

38 S. BIK ASCHPURWIS + BEHRENS MARKT-, MEDIA UND REGIONALFORSCHUNG, BIK Regionen 2010 und Postleitzahlen, 2.

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identifizieren sind: »Anspielen der 8-stelligen amtlichen Gemeindekennziffer (AGS) über die Postleitzahl und den Postort/Gemeindenamen an einen Datenbestand, um dann wiederum über den Gemeindeschlüssel alle möglichen amtlichen Kennungen und die BIK Regionssystematik zuzuspielen.«39 Doch diese kontrollierte Umrechnung der BIK-Ergebnisse ist nach Aussage des EMNID-Institutes gerade nicht geschehen. Deshalb bleibt der Verdacht der Stadt-Lastigkeit der KMU V bestehen. Und die Kirchenglieder selbst bestätigen diesen Verdacht unwissentlich: Auf die Frage nach Einschätzung ihrer Wohnortgröße geben sie an: 47,2% Großstadt, 50,2% Mittelund Kleinstadt, Dorf: 2,6 (!).40

4 KMU-Schock: Nur Ortsgemeinden und PastorInnen sind sichtbar – die »Kirchenkreis-Kirche« ist verlustreich gescheitert Doch all die noch so kunstvollen KMU-Versuche, die tatsächliche Wahrnehmung und Wertschätzung von Ortsgemeinden und PastorInnen durch die Kirchenglieder mithilfe antiparochialer und antipastoraler Umdeutungen und Fragestellungen sowie stadt-lastiger Stichprobenauswahl kleinzureden, bleiben fruchtlos. Als wesentlichen Erkenntnisertrag der KMU muss der EKD-Geschäftsführer Thies Gundlach darum die alleinige »Sichtbarkeit« der Ortsgemeinden und ihrer PastorInnen und die weitgehende »Unsichtbarkeit« der Kirchenkreis-Kirche und ihrer Leitung konstatieren: »Trotz aller medialer Investitionen gilt: Sehr viele Menschen – und ganz besonders in der jüngeren Generation – nehmen kaum etwas wahr von der Kirche. Und diejenigen, die sie noch wahrnehmen, nehmen vor allem den Geistlichen/die Geistliche vor Ort wahr, insbesondere sein/ihr Kasualhandeln. Die evangelische Kirche ist im Wesentlichen eine Vor-Ort-Kirche. Kirchenkreis-, Dekanat- oder Propsteiebene sind in der Regel unsichtbar wie die Ebene der leitenden Geistlichen einer Landeskirche …«41 Thies Gundlachs kritisches Resümee vom Misserfolg des mit großem finanziellen, personellen, medialen und emotionalen Aufwand betriebenen Versuchs, die Kirchenkreise als neue Identi39 S. ebd., 3. 40 S. CD-ROM zur KMU V, s. 83, 14b. Pikanterweise fehlt diese Information im KMU-V-Bericht, 526! 41 V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 131.

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fikationsorte für die Gemeindeglieder zu etablieren, klingt wie die amtliche Bestätigung des Scheiterns der Kirchenkreis-Kirche. Statt nun erschrocken innezuhalten und sich erst einmal neu zu besinnen, behaupten die Propagandisten der Kirchenkreis-Kirche scheinbar unbelehrbar, es seien »insbesondere die Superintendentinnen und Dekane, Pröpstinnen und Kreispfarrer, die die Kirche der Zukunft leitend gestalten«42. Dabei müssten doch angesichts dieses klaren pastoren- und gemeindeorientierten Votums unserer Kirchenglieder nun alle Reformer, denen es wahrhaft um die Zukunft unserer Kirche geht, endlich umkehren von ihrem irregeleiteten Weg. Aber uneinsichtig verharren sie – trotz formaler Kenntnis der KMU V – in ihrem eingespielten Argumentationsmuster nach klassischer Betriebsberater-Manier: In einer »kleiner«, »ärmer« und »älter« werdenden Kirche seien Ortsgemeinden nur noch überlebensfähig, wenn sie der Kirchenkreis durch Fusions- und Regionalisierung »rette«. Dazu benötige er jedoch noch mehr Geld und Personal, das er vor allem durch Einsparung von Gemeinde-Pfarrstellen erlange. Und sehr selten gibt einmal einer von ihnen zu, dass in seinem Kirchenkreis Neuerungen wie Fundraising, Ehrenamt-Agentur, LeitbildProzess, Nachbarschafts-Projekte, Kirchenkreis-Homepage, Sozialparlament und Kita-Gesamtverband, das ganze Reform-Programm kläglich gescheitert sei, wobei er jedoch gleichzeitig stolz auf 40 (von 98) eliminierte Gemeinden verweist, ohne zu bemerken, welch einen Schaden er da angerichtet hat: Denn unbelehrbar wie auch die anderen Reformer verschließt er Augen und Ohren vor der ruinösen Wahrheit: »Kirchenreformen« vertreiben viele Kirchenglieder! Da sie niemals ihre Veränderungen evaluieren lassen, sondern eher ihre erlittenen Verluste durch immer neue Fusionen vertuschen, stellen sie sich nie dem fatalen Zusammenhang zwischen »Reformen« wie Pfarrstellen-Streichungen und Gemeinde- wie Kirchenkreis-Fusionen und einem rasant ansteigenden Mitgliederverlust: So verlor zu Reformbeginn (1995–2003) die hannoversche Landeskirche »nur« 5,5% ihrer Mitglieder. Doch auf dem Höhepunkt des Reformeifers (2007–2015) stieg dieser Verlust sogar um das Doppelte (!) auf 10,9%. Dieser Extremanstieg liest sich wie die Fieberkurve der gemeindefeindlichen »Reformen«: In den reformmoderaten Jahren 1995–1998 betrug der Jahresverlust noch durchschnittlich 0,54%; in den reformfreudigen Jahren 1998–2007 stieg er dann schon um die 42 epd-Dokumentation Nr. 36 v. 09.09.2014, 2.

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Hälfte auf 0,82%, um danach im Taumel irrationalen Reformfeuers (2007–2015) auf 1,39% hochzujagen. Von 1995–2015 verlor die hannoversche Landeskirche insgesamt 18,6% ihrer Mitglieder, das sind 614.528 Evangelische! Dabei fällt auf, wie unterschiedlich die Mitgliederverluste in der gesamten Landeskirche, aber auch im engeren Umfeld verteilt sind. Da erleiden besonders reformbegierige Kirchenkreise hohe Verluste von 27%, 29%, 30%, 33% oder gar 37%, während ein reformresistenter Kirchenkreis mit hinreichend pastoraler Versorgung wie z.B. der KK Aurich »nur« 4,7% verliert oder der pastoral besonders gut ausgestattet KK Rhauderfehn sogar 1,4% gewinnt. Im Sprengel Stade mit dem Durchschnittsverlust von 18,5% schrumpft der KK Bremerhaven geradezu desaströs um 36,8%, während gleichzeitig eine Gemeinde in diesem Kirchenkreis ihren Verlust auf 21,8% begrenzen kann. Im auch sehr verlustreichen Stadtkirchenverband Hannover (-28,7%) verliert eine nicht fusionierte Innenstadt-Gemeinde sogar »nur« 10,6%, deren Taufquote 2012 mit 1,5% um fast 100% über der landeskirchlichen von 0,82% liegt. Der Sprengel Ostfriesland (ohne den KK Emsland-Bentheim) unterschreitet mit einem Verlust von 8,7% den landeskirchlichen Durchschnitt von 18,6% erheblich. Doch im gleichen Sprengel mit seinen beiden erfolgreichen Kirchenkreisen Aurich und Rhauderfehn verliert der KK Norden 17,4% und der KK Harlingerland immerhin noch 13,0%! Diese erheblichen Unterschiede belegen: Die schwerwiegenden Mitgliederverluste kann niemand durch demografische Prozesse allein wegerklären. Wir müssen schon Mitverantwortung für solche Verluste übernehmen. Denn wir verlieren Kirchenmitglieder (2012: 36 415) vor allem durch selbstverschuldete Austritte (2012: 16 400) und durch den auch im Vergleich zur Geburtenrate in Niedersachsen überproportionalen Rückgang der Kindertaufen (2012: 4000). Und hier wirken pastoral gut aufgestellte Kirchenkreise und Gemeinden eben erfolgreicher als pastoral ausgedünnte Gebiete.

5 Schlussfolgerungen aus der KMU V: Was wir von gemeinde- und pastoren-orientierten Kirchengliedern lernen könnten (a) Das hohe Vertrauen in die Ortsgemeinde als Chance der Volkskirche begreifen Unsere Evangelische Kirche, die gegenwärtig so chancenarm um ihre Mitgliederbindung ringt und so wenig erfolgreich für die Weitergabe des christlichen Glaubens an die nächste Generation kämpft, wäre wirklich gut beraten, zur Unterstützung dieser Ziele den großen Schatz zu hegen und zu pflegen, den ihr die Kirchenglieder als kostenlose Beigabe zur Kirchensteuer in den Schoß legen: ihren vertrauensvollen Bezug zur Ortsgemeinde. Darum sollte Kirche das bestehende »Konzept einer

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volkskirchlich-flächendeckenden Prägung der bundesdeutschen Gesellschaft«43 wieder als Chance zur Verkündigung und Seelsorge begreifen und nicht als lästigen Mühlstein am Hals empfinden – zumal in einem Land, in dem nach der Zensus-Zählung von 2011 rund 74% der Evangelischen in der sog. »Fläche«, im ländlich-kleinstädtischen Bereich leben und nur ca. 26% im großstädtischen Ballungsraum mit über 100.000 Einwohnern. Deshalb sind Ortsgemeinden nicht weiter zu enteignen, sondern vielmehr endlich mit den geldlichen und personellen Mitteln auszustatten, die sie für ihre mitgliederbindende Gemeindearbeit dringend benötigen und für die im Übrigen die Kirchensteuerzahler auch gern ihr Geld Jahr für Jahr der Evangelischen Kirche »in gutem Glauben« anvertrauen.

(b) Die professionelle Schlüsselrolle der PastorInnen unaufgeregt anerkennen und für Kirche nutzen Unsere Kirche darf nicht nur um die 13% kirchlich hochverbundenen Evangelischen »kreisen«. Sie muss die Erwartungen von 87% ihrer Mitglieder wieder viel stärker ernst nehmen, statt sie als kirchlich bedeutungslose »Weihnachts- und Kasualchristen«44 zu verachten. Denn diese Kirchenglieder haben ein gleichwertiges Recht auf kirchlich-pastorale Zuwendung, die sie im Übrigen treu und teuer finanzieren! »Die meisten Mitglieder möchten sich bei der Kirche aufgehoben wissen, während sie selbst ihre Bindung im Rahmen eines individuellen Arrangements nur bei bestimmten Gelegenheiten aktualisieren.«45 Diese »Praxis der situativen religiösen Aktualisierung« wird von den Mitgliedern selbstbewusst und eigenverantwortlich vollzogen. Darum »wird zukünftig mit steigenden Ansprüchen der Kirchenmitglieder an die Qualität kirchlicher Vollzüge zu rechnen sein. Selbstbewusste Akteure werden zunehmend anspruchsvoll nach inhaltlich überzeugenden, persönlich zugewandten und sorgfältig inszenierten Angeboten der Kirche fragen.«46 Und genau dazu braucht unsere Kirche PastorInnen, die in Pfarrbezirken von 2.000 bis allerhöchstens 2.500 Gemeindegliedern ihre zentrale pastorale Arbeit 43 44 45 46

Ebd., 19. S. ebd., 9. Ebd., 16. Ebd., 17.

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unbestritten ausführen können. In Gemeinden dieser Größe und Gestaltungsart sind dann auch die Mitgliederbindungen erheblich stärker und die Austrittsneigungen wesentlich geringer, wie die KMU V aufzeigt und die Mitgliederzahlen von Gemeinden eindeutig belegen, die heute schon so agieren.

(d) Die eigenständige Rolle der Mitarbeitenden wieder ernst nehmen Sobald eine Gemeinde-PastorIn ihre von den Kirchenmitgliedern erwartete zentrale pastorale Verantwortung ungehindert wahrnehmen kann, profitieren davon alle Mitarbeitenden in der Gemeinde und vor allem die gesamte Kirchengemeinde selbst. Im Sinne des Priestertums aller Getauften, das sich ja nicht nur auf aktiv mitwirkende Kirchenglieder, sondern vielmehr auf alle Evangelischen bezieht, können dann sowohl die Ehrenamtlichen wie auch die Hauptamtlichen zur eigenen Zufriedenheit und zum Wohle aller Gemeindeglieder ihre besonderen Gaben entfalten und einbringen. So ist es z.B. in jeder Gemeinde dringend notwendig, durch engagierte kirchliche Kinder- und Jugendarbeit dem dramatischen Abbruch der religiösen Sozialisation entgegenzuwirken. DiakonInnen, die sich hier mit ihrer beruflichen Kompetenz engagierten, und zwar in der Stadt wie auf dem Land, sie würden zu sehr wertvollen Mitarbeitenden in jeder Gemeinde und wären stolz darauf, dass 83% von ihnen lebenslang in der so wichtigen Kinder- und Jugendarbeit tätig sein können. Und diese erneuerte Dienstgemeinschaft aller Mitwirkenden würde dann zusammen mit ihrer Gemeinde etwas von dem Glück erfahren, das es bedeutet, »Gott nahe zu sein« (Ps 73,28), und das Papst Franziskus I. so begründet: »Ich bin ein Sünder, den Gott liebevoll ansieht.«

(d) Kirche und christliche Religion gehören zusammen Endlich wird selbst von ihren Urhebern anerkannt: Das Gerücht von der »Wiederkehr der Religion außerhalb der Kirche« war eine Schimäre. »Die Ergebnisse der V. KMU machen nun stärker als zuvor deutlich, dass die Kirche für die (christliche) Religion nach wie vor eine wichtige Bedeutung hat: Bricht die kirchliche ›Interaktionspraxis‹ ab, so sinkt nicht nur das Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche, sondern auch die indivi-

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Herbert Dieckmann

duelle Religiosität wird abgeschwächt.«47 Darum muss sich unsere Kirche wieder intensiv und vorrangig um das kümmern, was 93% ihrer Mitglieder ihr immer noch vertrauensvoll zuschreiben48 und was auch ihrem biblischen Auftrag entspricht: »christliche Religion« zu »kommunizieren«, oder paulinisch gesagt: sich für Gottes Christus-Evangelium nicht (mehr) zu schämen, sondern es zur Zeit oder Unzeit einfallsreich und liebevoll allen Menschen als ihre Rettung zu verkündigen. Diese »religiöse Kommunikation« geschieht auch heute noch wie seit biblischen Zeiten vorrangig in direkten Begegnungen zwischen persönlich Anwesenden und eben kaum indirekt über soziale Medien.49 Denn es bleibt ja bis zum heutigen Tage das staunenswerte Pfingstwunder der christlichen Gemeinde, dass in ihrem Gottesdienst durch Wort und Sakrament der physisch abwesende Jesus als anwesender Christus bis heute heilend und befreiend erlebt wird. Dabei ist auch die schon vom EKD-Impulspapier 2006 ganz zu Recht beklagte unheilvolle Separierung der Diakonie von der Verkündigung und der Gemeinde rückgängig zu machen. Denn ganz im Sinne des Apostels Paulus ist mit der Mehrheit der Evangelischen kirchliche Diakonie wieder strikt vom religiösen Alleinstellungsmerkmal der Kirche her50 als Glaube zu verstehen, »der in der Liebe wirksam ist« (Gal 5,6b) und der in jeder Ortsgemeinde Gestalt annehmen will, damit allen Mitmenschen die Christusbotschaft glaubwürdig vorgelebt und einladend bezeugt wird: »Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm« (1. Joh. 4,16b).

47 48 49 50

Ebd., 16. S. ebd., 94. S. ebd., 6. S. ebd., 94.

1.4 Herrschaft von Menschen über Menschen

Hans-Gerd Krabbe

Meinungsfreiheit in der Kirche? Badische Landeskirche im Jahr 2010

Drei Pfarrer werden in den Evangelischen Oberkirchenrat einbestellt, sozusagen »zitiert« – bezeichnen wir sie als »Pfarrer A«, als »Pfarrer B« und als »Pfarrer C«. Der Personalchef V und die Rechtsreferentin T hatten geladen. Was war vorgefallen? Jeder der drei Pfarrer hatte sich erlaubt – in Loyalität zu seiner Kirche, gemäß Ordinationsverpflichtung auf das Wohl der Kirche Jesu Christi vor Ort bedacht zu sein – mit einem je eigenen Leserbrief in der Lokalpresse auf eine heftig umstrittene und unbefriedete damalige Entscheidung im Bezirkskirchenrat und im Oberkirchenrat zu reagieren. »Kirche wird zweckentfremdet«, »Aus Kirche wird Schule«, waren die Überschriften in der Presse. Dagegen protestierten alle drei Pfarrer. Der Leserbrief von Pfarrer B trug als Überschrift die rhetorische Frage: »Kann auf einem solchen Vorhaben Gottes Segen liegen?« Pfarrer A, seit etlichen Jahren im Ruhestand, in hohem Ansehen, hatte sich in seinem Leserbrief zu einer Aussage verstiegen, die im Oberkirchenrat Missfallen auslöste. Rechtsreferentin T drohte ihm die Kürzung der Ruhestandsbezüge an und bedrängte ihn, sich öffentlich von seiner Aussage zu distanzieren, entweder über die Presse oder über eine gottesdienstliche Abkündigung. Pfarrer A entschied sich für die zweite Variante, musste den Text der geplanten Erklärung jedoch vorab im Oberkirchenrat einreichen: also zur Genehmigung vorlegen. Der Textvor-

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Hans-Gerd Krabbe

schlag nun missfiel im Oberkirchenrat ebenso, musste also korrigiert in die Wiedervorlage. Rechtsreferentin T kündigte an, den betreffenden Gottesdienst aufsuchen zu wollen, erschien aber nicht. Pfarrer A trug den ihm aufgetragenen Text schlussendlich vor – Reaktion der Gemeindeglieder: Unverständnis und Gelächter. Übrigens: Pfarrer A leidet bis heute an dieser Erniedrigung, an diesem Vertrauensbruch, an dieser Kränkung. Hier ist etwas Wesentliches in einem verdienstvollen Mitarbeiter der Kirche kaputt gemacht worden … Pfarrer C, ebenfalls im Ruhestand, ging unbeschadet aus der Anhörung hervor – ebenso der ehemalige dortige Gemeindepfarrer B, der bereits längst in eine andere Gemeinde gewählt worden war. Dieser hatte sich erlaubt, das Gespräch im Oberkirchenrat mit Personalchef V und Rechtsreferentin T offensiv zu führen und zudem sorgfältig zu protokollieren und die Übernahme des Protokolls in seine Personalakte zu beantragen. Seitens der Kirchenleitung erfolgte keine Reaktion. Pfarrer B blieb im weiteren Sinne unbehelligt. Dieser Vorfall veranlasst (mich) zu folgenden Fragen und Überlegungen: – Was wäre Pfarrer A widerfahren, wenn er nicht eingegangen wäre auf die Maßgabe seitens des Oberkirchenrates? – Unter welchen Voraussetzungen kann die Kürzung der Ruhestandsbezüge erfolgen und rechtlich durchgesetzt werden – abgesehen von sexuellen Missbrauchsfällen? – Wie steht es um das hohe Kulturgut der Meinungsfreiheit in der »Kirche der Freiheit«? Gilt das Recht auf freie Meinungsäußerung für kirchlich Mitarbeitende nur in eingeschränktem Sinn (abgesehen vom Schweigegebot und vom Beichtgeheimnis)? Wenn ja, in welchem Bereich? – Was passiert, wenn im Raum der Kirche Entscheidungen nicht in Harmonie und Konformität getroffen werden können, also alles andere als einvernehmlich erfolgen, nicht einmal im Benehmen möglich sind? Setzt sich dann »das Recht des Stärkeren« durch, »die Macht der Mehrheit« gegenüber dem Einzelnen? Wird (massiv) Druck und Herrschaft ausgeübt – ungeachtet der These IV der »Barmer Theologischen Erklärung« (1934), die in mehreren Landeskirchen und in den reformierten Kirchen weltweit immerhin zu den Bekenntnisgrundlagen gehört? Findet dabei das biblische Auftakt-

Meinungsfreiheit in der Kirche?











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wort zur These IV aus Mt. 20,25.26 die gebührende Beachtung (oder erfüllt sie lediglich »Feigenblattfunktion«?)? Taugt die »Gemeinderegel« nach Mt. 18,15–17 im Konfliktfall? Wird sie meisthin blindlings übergangen? Wäre diese Praxis nicht jeweils neu zu aktualisieren als hilfreiche, wegweisende Handlungsanweisung? Im Bewusstsein vom »Priestertum aller Getauften/aller Glaubenden«? Ohne Einschüchterungsversuche, ohne Herrschaftsgebaren, ohne den Aufbau von Drohkulissen? Wie steht es um die vielbeschworene »Streitkultur« in der evangelischen Kirchenlandschaft? Wird begründete Sachkritik in den Organen der Kirchenleitung wahr- und ernst genommen? Verliert eine Kirchenleitung an Ansehen, wenn sie gegenüber früher getroffenen Entscheidungen Kurskorrekturen vornimmt oder solche Entscheidungen gänzlich gar verwirft? Kann etwa seitens der EKD eingeräumt werden, dass im Kirchenamt gravierende Fehler begangen wurden, zum Beispiel in der Umstellung des Einzugsverfahrens für die Kirchensteuer auf Kapitalerträge? Pfarrerinnen und Pfarrer vor Ort können aufgrund von behauptetem, unterstelltem wie nachgewiesenem kirchenschädigendem Verhalten bezichtigt und zur Rechenschaft gezogen werden …: Wie verhält es sich in solchen Fällen in oberen Etagen der kirchlichen Hierarchie? Wer kontrolliert/wer besitzt die Kompetenz zur Entscheidung in kirchenschädigenden Fällen? Es braucht »gestandene Pfarrerinnen und Pfarrer vor Ort«, die in der Lage sind, den Mund aufzumachen – was aber dann, wenn diese Pfarrerinnen und Pfarrer ihren Mund auch gegenüber kirchenleitenden Persönlichkeiten aufmachen und sich sachkritisch, aber unbequem zu Wort melden? Wenn sie es im festen Gottvertrauen und im gesunden Selbstvertrauen aus der Liebe zur Kirche Jesu Christi heraus aufgrund von Schrift und Bekenntnis sogar wagen, Kirchenoberen gegenüber zu trotzen (man mag, muss aber nicht gleich an Martin Luthers Worte 1521 vor dem Reichstag in Worms denken)? Der Weg in den sogenannten »Wartestand« kann für jede Pfarrerin wie für jeden Pfarrer sehr schnell sehr kurz sein. Analog zum Fall der Zerrüttung im Scheidungsfall wird im Fall von »Zerrüttung in der Gemeinde« argumentiert, was fraglich aufstößt, nicht nur, weil hier unterschiedliche Verhältnisse miteinander verglichen werden sollen. Die »Wartestandsregelung« ist ein Relikt aus NS-Zeiten und gehört

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Hans-Gerd Krabbe

auch kirchlicherseits verabschiedet (im staatlichen Beamtenrecht ist dies inzwischen längst erfolgt). – Wer in die Fänge und Klauen des EKD-Pfarrdienstgesetzes (§§ 79 [2]5 und 80 [1]) oder des kirchlichen Disziplinarrechts gerät, erlebt ggf. »das Gefängnis kirchlicher Gerichtsbarkeit«: Ein zivilrechtliches Prozessverfahren ist ihm im Grundsatz bereits verwehrt. Er bleibt binnenkirchlich gefangen und kann nicht auf die Unbefangenheit kirchlicher Richter setzen. Es steht dem Ansehen von Kirche (nicht zuletzt in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit) gut an, wenn auch in dieser Hinsicht »Mauern fallen«.

Siegfried Stange

Ausgrenzung innergemeindlicher Opposition Erfahrungen eines engagierten Gemeindegliedes im Umbauprozess der Evangelischen Kirche

Seit Mitte der 80er-Jahre war ich engagiertes Gemeindeglied in einer Gemeinde mit zwei Pfarrbezirken in Dortmund. Der eine Bezirk hatte eine alte Kirche als Zentrum, der andere ein Gemeindezentrum aus dem Jahre 1967, das Paul-Schneider-Haus. Jeder Pfarrbezirk hatte einen eigenen Pfarrer und gewisse eigene Schwerpunkte in der Gemeindearbeit. Ich war ca. 8 Jahre Vorsitzender des Gemeindebeirates, bis jenes Gemeindezentrum am 31. Dezember 2006 aus Gründen der kirchlichen Umstrukturierung geschlossen wurde. Inzwischen ist das Paul-Schneider-Haus abgerissen. An seine Stelle ist eine Siedlung mit Doppelhaushälften getreten.

Lebendige Gemeindearbeit im Paul-Schneider-Haus In diesem Gemeindezentrum wurden u.a. das Gedenken an Leben und Werk des im Sommer 1939 im KZ Buchenwald ermordeten Pfarrers Paul Schneider und sein spirituelles Erbe gepflegt. Zudem haben wir uns dort engagiert beteiligt am konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und haben internationale kirchliche Partnerschaften gepflegt. Über die vom konziliaren Prozess angestoßenen Fragen wurde ein lebhafter Diskurs geführt. Die hier angesiedelte Friedensgruppe lud gelegentlich zu Diskussionsveranstaltungen und Podiumsdiskussionen ein, die Menschen auch über die Grenzen des Pfarrbezirks und der Gemeinde hinaus zusammenführte. Zum regelmäßigen Programm im Paul-Schneider-Haus gehörten monatlich durchgeführte Gottesdienstnachgespräche, wo die Gemeinde die Gelegenheit wahrnahm, kritisch und weiterführend das im Gottesdienst Erlebte und Er-

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Siegfried Stange

fahrene im Gespräch zu vertiefen. Überhaupt war das Paul-SchneiderHaus mit seinem zweimal in der Woche geöffneten Gemeindebüro und seinen zahlreichen Veranstaltungen ein Treffpunkt in der Gemeinde, wo das Gespräch auf Augenhöhe gesucht und gefunden wurde. Einen kräftigen Impuls bekam das Gemeindeleben, als ich zusammen mit meiner Frau im Jahr 1983 auf einer Fahrt in den Hunsrück entdeckte, dass in Dickenschied noch die Witwe Paul Schneiders, Margarete Schneider, in guter Gesundheit lebte. Sie besuchte mehrmals unsere Gemeinde und pflanzte vor dem Gemeindehaus die »Paul-Schneider-Kastanie«, die heute an anderer Stelle weiterwächst. Im Jahr 2002 hatte das Presbyterium unserer Gemeinde eine Gemeindegliederbefragung veranlasst, die mit sehr hoher Beteiligung durchgeführt wurde. Der ganz überwiegende Teil unserer Gemeinde war mit der Arbeit vor Ort sehr zufrieden.

Verluste aufgrund von Umstrukturierungen vor Ort Dennoch gab es im Hintergrund Pläne, das Paul-Schneider-Haus aufzugeben. Jedenfalls behauptete der Vorsitzende im folgenden Jahr, man habe vier Jahre lang über das Paul-Schneider-Haus diskutiert. Ich erfuhr davon zum ersten Mal durch die Einladung zu einer Gemeindeversammlung, die am 17. März 2005 im Paul-Schneider-Haus stattfand. Der Gemeindesaal war mit ca. 200 Personen gut gefüllt. Vorausgegangen war ein Artikel im Gemeindebrief, in dem die Höhe der Betriebskosten durch unfaire und z.T. fehlerhafte Darstellungen aufgebauscht worden war. Viele Gemeindeglieder hatten noch gut in Erinnerung, wie der wenige Jahre zuvor neu gewählte Vorsitzende des Presbyteriums die o.g. Befragung gestartet hatte mit der Begründung, man brauche jede Meinung, um in Zukunft das Gemeindeleben zu verbessern. Die früher von ihm bekundete Wichtigkeit jeder Meinung für das Gemeindeleben war wie weggeblasen. Meinen Vorschlag, einen runden Tisch zu bilden, um in Ruhe über die Zukunft des PSH nachdenken zu können, lehnte er ab mit den Worten, so etwas wie diese Versammlung werde er nicht noch einmal mitmachen. Das Presbyterium beugte sich dem Vorsitzenden, der keinen runden Tisch wollte. Viele Gemeindeglieder wollten sich aber auch nicht einfach entmündigen lassen und bildeten eine Initiative »Rettet das Paul-Schneider-Haus!«, die in der folgenden Zeit alle Chan-

Ausgrenzung innergemeindlicher Opposition

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cen zur Rettung des PSH zu nutzen versuchte und das undemokratische Vorgehen der Gemeindeleitung öffentlich kritisierte. Zwei Tage nach der Gemeindeversammlung, am 19. März 2005, berichtete eine lokale Zeitung unter Verwendung von Zitaten des Vorsitzenden des Presbyteriums, in einem Artikel über die Gemeindeversammlung; u.a. wurde behauptet, eine der beiden Pfarrstellen der Kirchengemeinde müsse abgebaut werden. Den Teilnehmern an der Gemeindeversammlung war davon keine Silbe mitgeteilt worden. Als Grund für diese Überlegungen wurden »Richtlinien der Landeskirche« genannt. Mit den »Richtlinien der Landeskirche« wurde vermutlich auf das zum 01.01.2005 in Kraft getretene »Kirchengesetz über den Finanzausgleich und über die Durchführung der Pfarrbesoldung und Beihilfeabrechnung in der Evangelischen Kirche von Westfalen«, kurz »Finanzausgleichsgesetz«, angespielt. Diesem Gesetz zufolge wurden faktisch Kirchenkreise bzw. Gemeinden an den Kosten für die Pfarrbesoldung beteiligt, wenn die zu einer Pfarrstelle gehörenden Gemeindeglieder den von der Landeskirche vorgegebenen Schlüssel unterschritten. Der Schlüssel der Landeskirche wurde zunächst auf 2.500 Gemeindeglieder pro Pfarrstelle festgelegt und sollte später auf 2.750 erhöht werden. Der zum PaulSchneider-Haus gehörende Pfarrbezirk war zu diesem Zeitpunkt zwar der mitgliederstärkere der Gemeinde, lag aber auch nur noch bei gut 2000 Gemeindegliedern. Somit errechnete sich für die Gemeinde für beide Bezirke eine zusätzliche Belastung, die nur durch die Schließung einer Pfarrstelle oder durch Refinanzierungsmaßnahmen seitens der Pfarrer verringert werden konnte. Durch diese Maßnahme der Landeskirche wurde – wie mir scheint – ein erheblicher Druck auf die PfarrstelleninhaberInnen ausgeübt und Pfarrerinnen und Pfarrer tendenziell in einen Kampf um ihre berufliche Existenz getrieben. In unserer Gemeinde wurde die Konkurrenzsituation der Pfarrer untereinander zum ersten Mal durch o.g. Zeitungsartikel öffentlich aufgebaut. Es stellt sich hier die Frage, wieso gerade dieses Gemeindezentrum aufgegeben worden ist. Wir hatten gegenüber dem anderen Pfarrbezirk einige Pluspunkte: Abgesehen davon, dass es sich um den mitgliederstärkeren Gemeindeteil handelte, war unmittelbar vor Entstehen des Planes, dieses Haus und Grundstück zu veräußern, auf einem Acker dem PaulSchneider-Haus gegenüber eine sehr große neue Wohnsiedlung entstanden mit mehreren Straßenzügen und ca. 300 Wohneinheiten, in der u.a. viele Kinder und Jugendliche lebten. Für diese Menschen hätte das Paul-

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Siegfried Stange

Schneider-Haus ein kirchliches Zentrum werden können. Unserer Meinung nach gehörte gerade in diesen Gemeindeteil ein Zentrum. Eine Renovierung und Weitererhaltung dieses Hauses hätten sich somit gelohnt. Dass unter einer drohenden Verknappung der kirchlichen Finanzen das Paul-Schneider-Haus dennoch als erstes (und bislang einziges) Haus unserer damaligen Gemeinde aufgegeben worden ist (der andere Pfarrbezirk verfügt bis heute neben der alten Kirche über seine zwei Gemeindehäuser), lässt sich meiner Ansicht nach nur so erklären, dass zum einen das Grundstück des Paul-Schneider-Hauses als »Filet-Grundstück« galt und sich gut eignete, einträglich veräußert zu werden, und zum anderen, dass einigen in der Gemeinde maßgeblichen Leuten die inhaltliche Ausrichtung der Arbeit dort nicht (mehr) behagte. Die Aufgabe dieses Gemeindezentrums und schließlich sein Abriss bedeuteten nicht nur für mich, sondern auch für viele mit diesem Haus verbundene Gemeindeglieder einen schweren Schock. Wo sollte das Gemeindeleben stattfinden, wenn das Gemeindezentrum weg war? Wir waren doppelt getroffen, als wir merkten, dass neben dem Gemeindezentrum auch die Stelle unseres Pfarrers in Gefahr war, der für das PaulSchneider-Haus zuständig war und der auch eine Familie zu versorgen hatte. Er entschied sich, im Schuljahr 2006/2007 wöchentlich 12 Stunden evangelischer Religionslehre zu übernehmen zur »Refinanzierung« seiner Pfarrstelle und erwirtschaftete dadurch ca. 40 000 € zusätzlich für die kirchliche Kasse. Er erntete jedoch keinen Dank dafür, stattdessen wurde der Druck auf ihn fortgesetzt; er erkrankte schließlich und fiel für etwa ein halbes Jahr aus gesundheitlichen Gründen aus. Im Frühjahr 2010 verließ er unsere Gemeinde. Seine Stelle wurde nicht wiederbesetzt. Der Gemeindeteil, der zum Gemeindezentrum Paul-Schneider-Haus gehört hatte, verlor also außer seinem Zentrum auch seinen Pfarrer und seine Pfarrstelle. Auch die dort an der Gemeindebasis erörterten Inhalte und der dort gepflegte partnerschaftliche Umgangsstil miteinander ließen sich nicht in andere Gemeindeteile verpflanzen und gingen somit weitgehend für unsere Gemeinde verloren. Das neben dem Paul-Schneider-Haus gelegene Pfarrhaus wurde zusammen mit dem Gemeindezentrum an einen Bauträger veräußert, der bereits vor dem Auszug des Pfarrerehepaares mit den Baumaßnahmen begann. Für den Rest seiner Dienstzeit mussten der Pfarrer und seine Ehefrau in unmittelbarer Nähe zu einer Großbaustelle wohnen und arbeiten.

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Innergemeindlicher Widerstand und unser Engagement zur Bewahrung des spirituellen Erbes des Paul-Schneider-Hauses Durch all diese Ereignisse entstand bei vielen Gemeindegliedern ein erheblicher Unmut, der monatelang anhielt in Form von Diskussionen in der Gemeinde, einem Gespräch mit dem Presbyterium und Leserbriefen. Ich habe mich intensiv an diesem Protest beteiligt und bin mit meiner Ablehnung besagter Presbyteriumspläne – ebenso wie andere Gemeindeglieder – auch an die Öffentlichkeit getreten. Seitens des damaligen Vorsitzenden des Presbyteriums bekamen wir u.a. zu hören, das Presbyterium sei demokratisch gewählt und wir hätten während der laufenden Wahlperiode dessen Beschlüsse zu akzeptieren; wir könnten ja bei der nächsten Wahl andere wählen. Dies besagt in meinen Augen nichts anderes, als dass die Gemeindebasis während der Legislaturperiode des jeweiligen Presbyteriums entmündigt wäre. Wir, denen die Arbeit im Paul-Schneider-Haus wichtig geworden war, hatten andere Vorstellungen. Wir wollten mündige Gemeinde sein, die die Arbeit des Presbyteriums mit Rat, Tat und – wenn nötig – Kritik unterstützt. Für Grundsatzdiskussionen hierüber hatten wir allerdings zunächst keine Zeit. Wir beschäftigten uns in erster Linie damit, das zu retten, was zu retten war. Auf unser Drängen hin wurde vom Presbyterium ein Ausschuss ins Leben gerufen zur »Wahrung des spirituellen Erbes des Paul-Schneider-Hauses«. Außer mir nahmen an der Arbeit dieses Ausschusses noch ca. 15 weitere interessierte Gemeindeglieder teil. Der Ausschuss verabschiedete ein ca. 30 Seiten starkes Papier, in dem die einzelnen am Paul-Schneider-Haus gepflegten Arbeitsbereiche dargestellt wurden und das dem Presbyterium, mit Beschlussvorschlägen versehen, vorgelegt wurde. Das Presbyterium machte sich das Papier aber als Ganzes nicht zu eigen. Von der Arbeit im Paul-Schneider-Haus ist in der jetzigen Gemeinde nicht mehr viel zu spüren. Es gelang lediglich, die Prinzipalstücke und andere wertvolle Gegenstände, inkl. der Orgel, anderwärts unterzubringen. Die von Leo Janischowsky entworfenen Glasfenster konnten in den Räumen der »Stiftung Forschungsstelle Glasmalerei des 20. Jh. e.V.« eingelagert werden. Auch konnte die »Paul-Schneider-Kastanie«, die auf dem Grundstück des Gemeindezentrums anlässlich des Kirchentages im Ruhrgebiet 1991 von Margarete Schneider gepflanzt worden war, auf ein anderes Kirchengrundstück umgepflanzt und somit gerettet werden.

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Siegfried Stange

Schlimm für mich und für viele andere Gemeindeglieder war der »Entwidmungsgottesdienst« im Mai 2007, an dessen Ende das große Holzkreuz im Altarraum aus der Wand gerissen wurde und die Gemeinde nach der Aufforderung des Superintendenten: »Lasst uns nun mit Freuden ausziehen« den Gottesdienstraum für immer verließ. Viele hatten Tränen in den Augen. Außer vom Pfarrer, der bis dahin den Dienst im Paul-Schneider-Haus versehen hatte, entsinne ich mich nicht an irgendeine seelsorgerliche Begleitung seitens der Amtskirche bei diesem schweren Abschied. Auch hatten die PfarrerInnen und PresbyterInnen der Nachbargemeinden, die sich mit unserer Gemeinde in absehbarer Zeit vereinigen sollten, allesamt eine Teilnahme an dem Entwidmungsgottesdienst gemieden.

Ausgrenzung der innergemeindlichen Opposition – oder: Darf Meinungsfreiheit innerhalb der Evangelischen Kirche sein? Als nach der Fusionierung meiner alten Gemeinde mit zwei Nachbargemeinden die Presbyteriumswahl für das Presbyterium der neuen Großgemeinde anstand, wurde ich im Anschluss an ein Friedensgebet am 13.11.2008 von Gemeindegliedern gebeten, mich als Presbyteriumskandidat zur Verfügung zu stellen. 17 Gemeindeglieder unterstützten per Unterschrift spontan meine Kandidatur. Damit war ich, wie sich dann herausstellte, für diese Wahl der Kandidat mit den meisten UnterstützerInnen. Am 19.11.2008 rief mich der Vorsitzende des Bevollmächtigtenausschusses an (der BVA leitete bis zur Amtseinführung des neuen Presbyteriums die Gemeinde) und bat mich um ein Gespräch. Nachdem ich ihn per EMail um Auskunft gebeten hatte, worum es in jenem Gespräch denn gehen solle, erhielt ich folgende Antwort: »Durch verschiedene Presseartikel, Briefe und Aussagen in diversen Versammlungen ist es unserer Meinung nach zu prüfen, wie Sie zur Gemeinde, insbesondere zum Leitungsgremium, stehen und Ihre zukünftige mögliche Rolle in dieser Leitungsfunktion sehen.« Ich antwortete daraufhin, es sei nicht Aufgabe des Vorsitzenden des Bevollmächtigtenausschusses, einzelne Kandidaten im Vorfeld zu »prüfen«. Vielmehr sei es demokratische Gepflogenheit, dass die gesamte Gemeinde die Möglichkeit erhalte, alle Kandidaten in einer Gemeindeversammlung kennenzulernen und zu befragen. Ich sei

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selbstverständlich zu einem solchen Gespräch vor der Gemeindeöffentlichkeit bereit, nicht aber zu einem Einzelgespräch hinter verschlossenen Türen. Am 30.11.2008 wurde die Kandidatenliste in den Kirchen der Gemeinde im Rahmen des Gottesdienstes bekannt gegeben. Auch mein Name befand sich auf der Liste. Da ich mich aber weiterhin weigerte, zu einem Prüfungsgespräch unter vier Augen mit dem Vorsitzenden des BVA zu erscheinen, wurde mein Name von der Kandidatenliste tatsächlich gestrichen. Am 21.12.2008 wurde im Rahmen eines Gottesdienstes die endgültige Kandidatenliste verlesen – ohne meinen Namen. Spontan stand ein Gottesdienstbesucher auf und wollte Klarheit über diesen Vorgang. Diese Klarheit wollte auch etwa die Hälfte der Gottesdienstbesucher, die an dem Gespräch nach dem Gottesdienst teilnahmen. Man wollte u.a. wissen, welche Stellungnahme denn das Presbyterium abgegeben habe. Darauf antwortete ein Presbyter, der Beschluss sei so geheim gewesen, dass er selber nicht wisse, was er beschlossen habe. Noch am gleichen Tag wurde ein Brief mit 20 Unterschriften an den KSV und den BVA abgesandt, in dem Gemeindeglieder gegen die Streichung meines Namens von der Kandidatenliste protestierten. Auch eine Gemeindeversammlung im März 2009, zu der ein leitender Jurist des Landeskirchenamtes anreiste, um der Gemeinde die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit der Streichung zu erklären, konnte viele Gemeindeglieder nicht überzeugen. Im Anschluss an die Wahl gingen in der Beschwerdefrist ca. 40 Wahlanfechtungen gegen den Eingriff in die Presbyteriumswahl ein. Sie wurden alle vom KSV ohne Begründung abgewiesen. Somit wurde der Gemeinde die Presbyteriumswahl offiziell als rechtsgültig präsentiert. Bei der nächsten Presbyteriumswahl im Jahr 2012 bin ich wieder als Kandidat aufgestellt worden und bin seitdem Mitglied des Presbyteriums. Allerdings hat mich der Vorsitzende, immer noch derselbe Herr, wieder zu einem Gespräch unter vier Augen mit ihm gebeten, dem ich mich trotz weiterhin bestehender Bedenken gegen ein solches Gespräch dieses Mal unterzog, um meiner Verantwortung der Gemeinde gegenüber gerecht werden zu können. Nachdem ich dieser Bitte nachgekommen bin, wurde ich auf die Kandidatenliste gesetzt. Seitdem bin ich Mitglied des Presbyteriums.

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Siegfried Stange

Folgen dieses gemeindeleitenden Handelns Als Presbyter merke ich bis heute, welch einen Schaden das Vorgehen der Gemeindeleitungen mit ihren Entscheidungen von oben herab während der vergangenen zehn Jahre angerichtet hat. Die Zahl der Kirchenaustritte ist seit längerer Zeit konstant hoch, der sonntägliche Gottesdienstbesuch konstant sinkend. Sicherlich spielt für diese Entwicklungen ein Bündel von Gründen eine Rolle. Ich weiß aber von etlichen Gemeindegliedern, dass ihre Verärgerung über die oben geschilderten Ereignisse bis heute nicht verklungen ist, und ich vermute, dass hier ein Grund für die heute bei vielen feststellbare sinkende Beteiligung am Gemeindeleben zu finden ist. Mich hat befremdet, dass es in der Evangelischen Kirche, die den Anspruch hat, basis- und mitgliederorientiert zu sein, möglich sein soll, durch ein willkürlich angeordnetes Verfahren, das sich weder im Presbyterwahlgesetz noch in den dazugehörenden Ausführungsbestimmungen findet, als Kandidat von der Presbyterwahl ausgeschlossen zu werden. Von einer Kirche, die den Status der »Körperschaft öffentlichen Rechtes« innehat, hätte ich erwartet, dass sie Mindestanforderungen an öffentliches Verwaltungsrecht einhält. Für gänzlich unmöglich halte ich es, wenn eine kirchenpolitische Richtung ein Wahlverfahren verändert mit dem Ziel, eine innergemeindliche Opposition auszuschalten.

Ausblick: zukunftsfähige Alternativen kirchenleitenden Handelns Im Zusammenhang mit dem Streit ums Paul-Schneider-Haus habe ich festgestellt, dass seitens der Gemeindeleitung und auch des Kirchenkreises ein Konflikt als grundsätzlich schädlich angesehen wurde. Ich bin aber der Meinung, dass Konflikte in Gemeinden zu allen Zeiten der Kirchengeschichte aufgetreten sind und immer wieder auftreten werden. Fair ausgetragene Konflikte können geradezu Zeichen sein für eine lebendige Gemeinde. Wird ein Konflikt einfach unterdrückt durch Ausgrenzung, Redeverbote u.Ä., brodelt er im Untergrund weiter. Er gleicht einem Abszess, der an der Hautoberfläche verheilt erscheint, im Körperinneren aber weiter eitert. So lebensbedrohlich, wie ein Abszess für den menschlichen Körper sein kann, können unbearbeitete und unterdrückte Konflikte für den Leib der Kirche werden. Was wir in den Ge-

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meinden brauchen, ist ein verantwortungsvolles Konfliktmanagement! Der Kirchentag in Dortmund im Jahr 1963 hatte das Motto: »Mit Konflikten leben«. Es macht mich traurig, dass unsere Kirche diese Botschaft nach so vielen Jahren entweder noch nicht begriffen oder wieder vergessen hat. Einer Kirche der Reformation entspräche es, wenn Konflikte durch Diskurse an der Basis benannt und bearbeitet würden und man dann, vielleicht über runde Tische und gegebenenfalls Außenmediation, zu zukunftsfähigen Lösungen und tragfähigen Entscheidungen käme, die ein Großteil der Gemeinde mittragen kann. Solches Vorgehen könnte ein Beitrag dazu sein, dass auch in Zukunft die Kirchen der Reformation glaubwürdig bleiben bzw. werden.

Gisela Kittel

Der »Ungedeihlichkeitsparagraf« oder die Zwangsversetzung von Pfarrern und Pfarrerinnen wegen einer »nachhaltigen Störung in der Wahrnehmung des Dienstes« Der »Ungedeihlichkeitsparagraf« oder die Zwangsversetzung

Seit ungefähr 15 Jahren kämpft der Verein »D.A.V.I.D. gegen Mobbing in der evangelischen Kirche e.V.« gegen Paragrafen in den Pfarrdienstgesetzen, die eine Zwangsversetzung von Pfarrern und Pfarrerinnen bis hin in den Wartestand und Zwangsruhestand ermöglichen, auch wenn sich eine Pfarrperson nichts hat zuschulden kommen lassen, ja, ihren Dienst untadelig und mit großem Engagement versah. Im Blick darauf hat der Verein noch im Mai 2014 einen Rundbrief an die teilnehmenden Kirchenjuristen eines Seminars in Pullach geschickt und gleichzeitig Kirchenjuristen in verschiedenen Landeskirchenämtern angeschrieben. In diesem Brief sind in aller Kürze die Kritikpunkte aufgezählt, die sich für die Mitglieder des Vereins durch Wahrnehmung und Begleitung zahlreicher Abberufungsverfahren ergeben haben. Sie seien hier abgedruckt:

Die §§ 79ff. des Pfarrdienstgesetzes der EKD laden ein zu willkürlicher Anwendung 1. Es handelt sich bei den Abberufungen nach § 79 (2)5 und § 80 (1) EKD1 und den entsprechenden Paragrafen in den Pfarrdienstgesetzen der einzelnen Landeskirchen nicht nur um »Versetzungen« in andere gleichwertige Stellen. Nach §§ 83 (2); 84; 92 (2) werden Pfarrerinnen und Pfarrer in den Wartestand versetzt, »wenn eine Versetzung in eine andere Stelle nicht durchführbar ist«. Der Wartestand dauert drei Jahre. Während dieser Zeit werden die Versetzten mit einem »Wartegeld« versorgt, das, nach Landeskirchen verschieden, zwischen 50% und 80% des bisherigen Gehaltes ausmacht. Sie müssen für zugewiesene Vertretungsdienste zur Verfügung stehen und sollen

1 Der Text dieser Paragrafen ist im Anhang wiedergegeben.

Der »Ungedeihlichkeitsparagraf« oder die Zwangsversetzung

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sich, wenn nicht weitere Einschränkungen verhängt sind, auf freie, ihrer Ausbildung entsprechende Stellen im Kirchendienst bewerben. Bleiben diese Bewerbungen jedoch ohne Erfolg – denn welcher durch ein Abberufungsverfahren stigmatisierte Pfarrer hat noch eine Chance gewählt zu werden, wenn auch andere Bewerber zur Verfügung stehen oder eine initiierte Buschtrommel vor seiner Person warnt? –, so endet die berufliche Existenz der aus ihren Gemeinden vertriebenen Pfarrer und Pfarrerinnen im Ruhestand, ganz gleich, wie alt oder jung sie sind. 2. Damit bewirkt dieses Gesetz eine »Bestrafung« ohne Schuldnachweis. Denn wenn auch Kirchenjuristen nicht von »Strafe« sprechen wollen, sondern in den negativen Folgen für die Betroffenen nur eine Art »Kollateralschaden« erblicken (vgl. den Begründungstext zu § 80 (1) Pfarrdienstgesetz EKD), so entsprechen die beschriebenen Konsequenzen doch einer hohen Disziplinarstrafe, wie sie etwa das Disziplinarrecht der EKD für erhebliche disziplinarische Vergehen vorsieht. In den hier besprochenen Fällen aber treffen diese Folgen Personen, von denen das Pfarrdienstgesetz (§ 80 [1]) ausdrücklich feststellt, dass die Gründe für die Konflikte, die in der Gemeinde entstanden sind, »nicht im Verhalten oder in der Person der Pfarrerin oder des Pfarrers liegen (müssen)«. 3. Wahrscheinlich sollten einmal alle an Konflikten beteiligten Personen durch den genannten Beisatz geschützt werden. (»Schmutzige Wäsche« soll nicht gewaschen werden, wie man immer wieder hört.) Doch in der Praxis hat auch diese Bestimmung eine ganz andere Wirkung. Sie ermöglicht, dass ohne Untersuchung, ohne Konfliktklärung, ohne Wahrheitsfindung Pfarrpersonen aus ihren Ämtern entfernt werden, da ja nun – wie es in der Begründung zu § 80 wiederholt heißt – alle Fragen nach Ursachen, Inhalt und den Verantwortlichen für einen Gemeindestreit »völlig unerheblich« sind. Zitat: »Allerdings ist auch festzuhalten, dass es letztendlich unerheblich ist, wer die Zerrüttung und Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zu verantworten hat oder verschuldet hat. Die Versetzung ist auch dann zulässig, wenn die Gründe für die Zerrüttung nicht in dem Verhalten der Pfarrerin oder des Pfarrers liegen; ebenso, wie sie im Charakter oder Verhalten der Pfarrerin oder des Pfarrers gegeben sein können, können die Gründe für eine Zerrüttung auch in dem Charakter oder Verhalten von Presbytern, Amtsbrüdern, kirchlichen Mitarbeitern

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Gisela Kittel

oder Gemeindegliedern liegen. Eine Prüfung der Frage, wer oder was dem derzeitigen Pfarrer die gedeihliche Führung des Pfarramts unmöglich macht, verbietet sich im Allgemeinen, weil diese Frage als solche unerheblich ist.« (Aus dem jetzt »nicht amtlich« genannten Begründungstext der EKD.) 4. Damit ist Kirchenvorständen, aber auch Gemeindegruppen, die sich wegen irgendeiner Sache über ihren Pfarrer, ihre Pfarrerin geärgert oder sie zu ihren Sündenböcken erklärt haben, ein ganz einfaches und bequemes Mittel in die Hand gegeben, eine Pfarrperson zu vertreiben. Auch Superintendenten können einem Pfarrkollegen, den sie nicht mögen, mit leichtem Instrument übel mitspielen. Mögen die Paragrafen über das Vorgehen bei »lang anhaltender Störung« auch als »Ultima Ratio« ausgegeben werden, damit in nicht mehr anders zu lösenden Konfliktfällen eine Trennung herbeigeführt werden kann – in der kirchlichen Praxis geben sie die rechtliche Möglichkeit an die Hand, immer schon als »Prima Ratio« eingesetzt zu werden. Beispiele sind auf der Homepage des Vereins D.A.V.I.D. zu finden. Vornehmlich ist die Bestimmung § 80 (1) skandalös, dass ein Kirchenvorstand eine Pfarrperson vertreiben kann, wenn er nur einen Vertrauensverlust behauptet, mag auch die ganze oder der überwiegende Teil der Gemeinde hinter der Pfarrerin oder dem Pfarrer stehen.2 5. Das Pfarrdienstgesetz in seinen §§ 79ff. kann nicht nur als bequemes Rechtsmittel eingesetzt werden, um Pfarrpersonen, die in einen Konflikt hineingezogen oder geraten sind, ohne rechtsstaatliche Standards ihrer Ämter zu entheben, es kann auch schon im Vorfeld als Drohmittel dienen, um »freiwillige« Abgänge zu erzielen. Der Kirchenstreit in der Taunusgemeinde Burgholzhausen, in dem die Gemeinde für ihren Pfarrer gegen den Kirchenvorstand – allerdings vergeblich – gekämpft hat, ist dafür ein eklatantes Beispiel, das unten dargestellt wird. Aus Furcht vor den angedrohten Verfahren mit der damit verbundenen Stigmatisierung, die einen Wechsel in ein anderes Amt nahezu unmöglich macht, gehen viele Pfarrpersonen lieber 2 Vgl. hierzu den aufschlussreichen Aufsatz von Traugott Schall, Ade! Freiheit der Verkündigung und Seelsorge. Eine pastoralpsychologische Analyse, DPfBl 10/2014, 563–567. (http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php?a=show&id=3691), sowie die aus dem LKA Hannover stammende Klageerwiderung (Auszug), abgedruckt im Beitrag von Annett Benz (s. unten).

Der »Ungedeihlichkeitsparagraf« oder die Zwangsversetzung

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freiwillig aus der ihnen anvertrauten Gemeinde heraus oder lassen sich – so oftmals in früheren Zeiten – vorzeitig pensionieren. In den Statistiken der EKD kommen diese Fälle der erpressten Rückzüge in Wartestand oder vorgezogenen Ruhestand natürlich nicht vor, obwohl sie an Zahl die stattfindenden Abberufungen noch einmal deutlich übersteigen dürften. 6. Nach Kenntnis des Vereins D.A.V.I.D. hat es seit seinem Bestehen, also in den letzten 15 Jahren, EKD-weit bis zu 400 angedrohte und zum Teil auch durchgeführte Ungedeihlichkeitsverfahren gegeben. Über die Hälfte sind von Mitgliedern des Vereins – z.T. über mehrere Jahre – aktiv begleitet worden. Darüber hinaus ist aber von einer noch höheren Dunkelziffer auszugehen, da sich in der Vergangenheit betroffene Pfarrpersonen nicht mehr äußern, die Türen fest hinter sich verschlossen haben.

Anhang Kirchengesetz zur Regelung der Dienstverhältnisse der Pfarrerinnen und Pfarrer in der Evangelischen Kirche in Deutschland (Pfarrdienstgesetz der EKD – PfDG.EKD) Vom 10. November 2010 § 79 Versetzung (1) Versetzung ist die Übertragung einer anderen Stelle oder eines anderen Auftrages im Sinne des § 25 unter Verlust der bisherigen Stelle oder des bisherigen Auftrages. (2) Pfarrerinnen und Pfarrer können um der Unabhängigkeit der Verkündigung willen nur versetzt werden, wenn sie sich um die andere Verwendung bewerben oder der Versetzung zustimmen oder wenn ein besonderes kirchliches Interesse an der Versetzung besteht. Ein besonderes kirchliches Interesse liegt insbesondere vor, wenn … 5. in ihrer bisherigen Stelle oder ihrem bisherigen Auftrag eine nachhaltige Störung in der Wahrnehmung des Dienstes gemäß § 80 Absatz 1 und 2 festgestellt wird, …

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Gisela Kittel

§ 80 Versetzungsvoraussetzungen und -verfahren (1) Eine nachhaltige Störung in der Wahrnehmung des Dienstes im Sinne des § 79 Absatz 2 Satz 2 Nummer 5 liegt vor, wenn die Erfüllung der dienstlichen oder der gemeindlichen Aufgaben nicht mehr gewährleistet ist. Das ist insbesondere der Fall, wenn das Verhältnis zwischen der Pfarrerin oder dem Pfarrer und nicht unbeträchtlichen Teilen der Gemeinde zerrüttet ist oder das Vertrauensverhältnis zwischen der Pfarrerin oder dem Pfarrer und dem Vertretungsorgan der Gemeinde zerstört ist und nicht erkennbar ist, dass das Vertretungsorgan rechtsmissbräuchlich handelt. Die Gründe für die nachhaltige Störung müssen nicht im Verhalten oder in der Person der Pfarrerin oder des Pfarrers liegen. (2) Zur Feststellung der Voraussetzungen des Absatzes 1 werden die erforderlichen Erhebungen durchgeführt. Der Beginn der Erhebungen wird der Pfarrerin oder dem Pfarrer mitgeteilt. Sofern nicht ausnahmsweise etwas anderes angeordnet wird, nehmen Pfarrerinnen und Pfarrer für die Dauer der Erhebungen den Dienst in der ihnen übertragenen Stelle oder in dem ihnen übertragenen Auftrag nicht wahr. Während dieser Zeit soll eine angemessene Aufgabe übertragen werden.

Dirk Noack

Es geht seinen Gang Eine Abberufung in der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens

Abberufungsverfahren in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens sind selten. Wenn es doch dazu kommt, hinterlassen sie aber Spuren und Verletzungen in der Gemeinde, wie das Beispiel einer Abberufung in der Gemeinde Graupa-Liebethal am Rande der Sächsischen Schweiz im Jahre 2011 zeigt: Seit die neue Pfarrerfamilie im Jahr 2003 in unserem Dorf eingezogen war, nahm ich immer häufiger am Gemeindeleben teil – nicht nur zur Weihnacht. Es war der lebendige Gottesdienst, der mich ansprach und aus dem ich etwas mitnehmen konnte. Der Pfarrer konnte auch zuhören und verstehen, ohne zu maßregeln. Er überraschte und provozierte (was nicht immer jedem Gemeindeglied recht war), um einer Lethargie zu begegnen, die m. E. unsere Kirche zunehmend lähmte. In der Vorweihnachtszeit 2010 erfuhr ich im Gottesdienst von einer teilweisen Dienstuntersagung für unseren Pfarrer und einem Konflikt, der sich in seinem Religionsunterricht in der neunten Klasse eines Gymnasiums am Thema »Der Mensch und sein Handeln im Bereich Liebe und Sexualität« entzündet hatte. Das ist sicher ein Thema, bei dem es unterschiedliche Auffassungen geben kann, wie Diskussionen zu damit zusammenhängenden Fragen immer wieder zeigen. Die Ortspresse freute sich, dass sie die Angelegenheit skandalträchtig vermarkten konnte. Und offenbar irritierte es einige Kirchenvorsteher und Gemeindeglieder in ihrem Vertrauensverhältnis zu ihrem Pfarrer. Als aus dem Kirchenvorstand Stimmen laut wurden, die einen Stellenwechsel, Versetzung oder Abberufung forderten, fand sich spontan eine Gruppe von Gemeindegliedern, die eine »Initiative« gründeten. Ihr Ziel war es, sich für den Verbleib des Pfarrers in der Gemeinde einzusetzen und Transparenz in der Angelegenheit zu fordern und herzustellen. Es gab regelmäßige

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Dirk Noack

Treffen dieser Gemeindeglieder. Sie starteten eine Unterschriftenaktion für den Verbleib des Pfarrers in der Gemeinde, suchten das Gespräch mit dem Kirchenvorstand, der Superintendentin, dem Bischof und der Kirchenleitung. Material wurde gesammelt, eine Chronologie erstellt, vieles davon auf einer Internetseite öffentlich gemacht. Dort sollte es auch eine Plattform zum Meinungsaustausch geben. Zur Verhandlung vor dem kirchlichen Verwaltungsgericht begleiteten diese Gemeindeglieder ihren Pfarrer. Leider hat diese »Initiativgruppe« erfahren müssen, dass es keine wirkliche Chance für ihr Anliegen, die Abberufung zu verhindern, gab. Hauptursachen liegen in der Struktur des Verfahrens selbst, in den gesetzlichen Regelungen und im eben kaum transparenten Umgang miteinander in den kirchlichen Gremien. Erst durch die Akteneinsicht im Vorfeld des Gerichtsverfahrens vor dem kirchlichen Verwaltungsgericht erfuhr der Pfarrer, wie Einzelpersonen den Konflikt mit verleumderischen und böswilligen Briefen an Kirchenleitung und Bischof geschürt hatten (selbst die Briefe eines Nicht-Kirchengliedes erzeugten offenbar Angst und Verunsicherung im LKA in Dresden). Die Gegenwehr von Gemeindegliedern, insbesondere der Gemeindejugend, zur Versetzung oder Abberufung, auch das Vorhandensein der »Initiative« selbst wurden als Konfliktverstärkung betrachtet und als Grund für die Abberufung bewertet. Wenn in Konfliktfällen kein Miteinander (wenigstens in Form einer Mediation) gesucht wird und dann sogar in den Gesprächen mit Kirchenleitung und Bischof in der Konfliktsituation die eigentlichen Probleme umgangen und die sachlichen Hintergründe ausgeblendet werden, geht es, wie es in solchen Konfliktfällen in der Evangelischen Kirche zu gehen pflegt: Am Ende steht zwangsläufig die Abberufung. Die Initiativgruppe hat aufgrund der gemachten Erfahrungen ihre Ziele auf der Internetseite modifiziert. Sie fordert: – Die lückenlose Aufklärung der Ursachen, die zur Vertreibung des Pfarrers aus seiner Stelle führten! Transparenz in unserer Kirche und Aufarbeitung der Vergangenheit! Das Geschehene in unserer Gemeinde soll nicht vergessen werden, sondern in Erinnerung bleiben – als Mahnung für die Zukunft!

Es geht seinen Gang

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– Erneuerung des Kirchenvorstandes! Wir brauchen einen Vorstand, der zum Wohl der Gemeinde wirkt und dem die Gemeinde vertraut! – Reform des Kirchenrechtes! Wir setzen uns für eine Änderung des Kirchenrechtes im Interesse der Mitbestimmung aller Gemeindeglieder ein. Demokratie – auch im Kirchenrecht! Aber letztlich hat sie bisher wenig erreicht. Wie beliebt dieser Pfarrer war und wie segensreich er in seiner Gemeinde gewirkt hatte, bewies der Verabschiedungsgottesdienst Anfang 2013 in der voll besetzten Kirche in Graupa mit einer Dankesgabe an den Pfarrer, in der fast alle Gemeindegruppen und viele einzelne Gemeindeglieder ihren Dank an diesen Pfarrer formulierten. Nach dessen unabwendbarem Weggang folgte im Oktober 2013 Pfarrer N. in diese Pfarrstelle. Außer zum Einführungsgottesdienst 2013 sowie einer Trauerfeier habe ich die Graupaer Kirche nicht mehr betreten können. Der Grund dafür liegt dabei nicht bei Pfarrer N., sondern in den Ereignissen um unseren zwangsversetzten Pfarrer, den fast ausschließlich dafür verantwortlichen Kirchvorstehern, die dennoch zwischenzeitlich wiedergewählt wurden. Die Gründe der Wiederwahl des Vorstandes sehe ich in der Verdrossenheit der Gemeinde. (Die Wahlbeteiligung bei der letzten Wahl lag unter zehn Prozent. Auch die Bereitschaft in der Gemeinde zu einer Kandidatur war nicht ausreichend, um zur »alten Riege« ein Gegengewicht herzustellen.) Ich empfände keine innere Bereicherung durch die Anwesenheit von Mitgliedern dieses Vorstandes im Gottesdienst. Die Erinnerung aus der Vergangenheit belastet mich sehr, sodass ich derzeit noch Abstand zur Graupaer Kirche brauche. Auch die Kontakte mit Vertretern der Landeskirche sowie das Erkennen vieler Hintergründe zu Kirchenstruktur und Kirchenrecht haben mein Vertrauen zur Kirche selbst weitgehend zerstört. Der gnadenlose Vollzug kirchenrechtlicher Paragrafen gegen den Willen einer Mehrheit in der Gemeinde, ohne Spielräume zu nutzen, erinnert mich sehr an den Ausschluss von Volksentscheiden in unserem Staat. Änderungen am Kirchenrecht sind systembedingt von der Basis her nur schwer möglich, wie wir selbst erfahren mussten.

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Und es blieben Wunden, wie diese Zeugnisse von Gemeindegliedern belegen: »Ich dachte immer, der Kirchenvorstand lässt sich aufstellen und wählen, um gemeinsam mit dem Pfarrer der Gemeinde zu dienen, Gottes Wort nahezubringen. Doch in Graupa war es wohl das Ziel einiger Kirchenvorsteher, unseren Pfarrer fertigzumachen, auf gemeine Weise abzusägen. Er hatte keine Gelegenheit, Stellung zu beziehen. Die Bitte der Gemeinde vor der Kirchenleitung um Schlichtung wurde ignoriert. Der größte Teil der Gemeinde wollte seinen Pfarrer behalten. Er war unser sehr geschätzter Seelsorger, Prediger! Seit seinem Weggang sind wir in unserer Kirche heimatlos. Wir mussten feststellen, dass Kirche und Christentum sehr zweierlei sind. … Früher ging ich mit meinem Mann zum Gottesdienst, jetzt gehe ich leider allein …« Edith Wenzel »Die Lage der Kirchen in unserer säkularen Gesellschaft ist nicht rosig. Die Akzeptanz in der Öffentlichkeit kann nicht befriedigen, und manche Gemeinde ist den inneren Spannungen nicht mehr gewachsen. Auch auf den verschiedenen hierarchischen Ebenen der Kirchen fehlt es oft an Engagement und Überzeugungskraft. Der korrekte Dienst nach Vorschrift allein genügt der christlichen Mission nicht. Dass es positive Alternativen geben kann, beweist die passionierte Amtsführung unseres vom Kirchenvorstand weggemobbten Pfarrers in der Kirchgemeinde Graupa-Liebethal von 2003 bis 2011. Dem christlichen Glauben verpflichtet, in der Lehre wie auch im Handeln fest verankert, lebte und lebt er für die christliche Botschaft. Auch uns hat er durch sein tägliches Beispiel immer wieder Hoffnung gegeben. Wer das Vaterunser nicht als Worthülse betet, kann die eigenen Schwächen besiegen. Allein die Verinnerlichung des Satzes ›Vergib unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern‹ könnte jeder Gemeinde eine hoffnungsvolle Zukunft eröffnen. Auch unsere Familie durfte erfahren: Jesus ist nicht umsonst am Kreuz gestorben. Des Pfarrers tief berührende Worte am Grabe unseres Sohnes im September 2006 haben uns wieder aufgerichtet. Unauslöschlich sind aber auch frohe Ereignisse geblieben. … Die durch unseren Pfarrer gelebten und vermittelten Werte haben auch unser Verhältnis zu ihm bestimmt. Sie halfen uns, den schweren Erschütterungen zu begegnen, die seine Versetzung in den Wartestand im Juli 2011 auslöste. In seiner offenen, unkonventionellen Art hat unser Pfarrer nie Halt vor unbequemen Themen gemacht. Dazu gehört der Alltag, und mit diesem die Behandlung von Liebe und Sexualität im Herder-Gymnasium Pirna – von den Schülern selbst gewählt – nach einer Vorgabe aus bayerischen Bildungseinrichtungen. Für einen Vater und die Schulleiterin wohl zu herausfordernd, zu untraditionell, zu lebensnah. Das Landeskirchenamt urteilte, dass – ohne Zuerkennung einer Schuld – ein ›gedeihliches Wirken in der Gemeinde‹ als nicht mehr gewährleistet betrachtet werden müsse –. Die übergroße Mehrheit der Gemeinde dachte anders (Sächsische Zeitung vom 28.03.2011). Aber für einige Kirchenvorsteher der Gemeinde und die übergeordneten Kirchenämter war der unbequeme Pfarrer ein zu heißes Eisen. Der Landesbischof, an den wir uns wandten, blieb mit einem freundlichen Wort vor der Schwelle stehen. ›Ihnen persönlich wünsche ich, dass Sie im Hören auf das Wort Gottes zur Ruhe kommen werden.‹ Dieser Wunsch erfüllt

Es geht seinen Gang

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sich – in anderen Kirchen, im Radiogottesdienst. Die Unbefangenheit gegenüber manchem früheren Freund ist verschwunden oder liegt noch immer unter einer Nebeldecke. So sieht das ›gedeihliche Wirken‹ aus, dem doch die Versetzung in den Wartestand dienen sollte. …« Dr. Harald Kubitz, Pirna – OT Graupa

Annett Benz

»Von Aktivitäten zur Aufarbeitung des Konflikts muss gegenwärtig Abstand genommen werden« »Von Aktivitäten zur Aufarbeitung des Konflikts muss gegenwärtig Abstand …«

Ein Abberufungsverfahren in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers

Im Frühjahr 2010 wird ein neuer Pfarrer in einer Kirchengemeinde der Ev.-Luth. Landeskirche Hannover in sein Amt eingeführt. Die Zusammenarbeit mit dem Kirchenvorstand ist weitgehend problemlos. Die Gemeinde nimmt die Arbeit des neuen Pastors im Wesentlichen gerne an. Dann kommt es im Sommer 2012 zu Neuwahlen. Da die meisten Glieder des bisherigen Kirchenvorstandes aufgrund ihrer bereits geleisteten sehr langen Dienstzeit oder aus persönlichen Gründen nicht mehr angetreten waren, sind im neuen Kirchenvorstand sechs von acht Mitgliedern neu dabei. Auch zu diesem Zeitpunkt nimmt die Kirchengemeinde die Arbeit des Pastors an, ohne dass gravierende Klagen aus der Gemeinde zu hören wären. Doch kommt es zu Absprachen zwischen dem Superintendenten und Mitgliedern des neuen Vorstandes, von denen der Pastor nichts weiß. In einer Kirchenvorstandssitzung am 8. November 2012 weicht die stellv. Vorsitzende in Gegenwart des Superintendenten, der aus einem ganz anderen Anlass anwesend war, plötzlich ohne Vorwarnung von der Tagesordnung ab. Offensichtlich war dies vorher so abgesprochen: Der Gemeindepfarrer wird vor die Tür geschickt, und der Superintendent gibt dem Kirchenvorstand Gelegenheit, auf den Tisch zu legen, was den Pastor belasten kann. Genannt werden einzelne geringfügige Unstimmigkeiten, aber nicht wirklich gravierende Mängel in der Amtsführung. Unter den erhobenen Vorwürfen sind keine Themen, die in irgendeiner Weise disziplinarrechtlich relevant wären. Auch geht es nicht um inhaltliche Fragen der Predigt. Der wieder hereingerufene Pastor erfährt die

»Von Aktivitäten zur Aufarbeitung des Konflikts muss gegenwärtig Abstand …«

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Kritik aus dem Munde des Superintendenten in verallgemeinernder und deutlich verschärfter Form. Zu einer hinreichend ausführlichen Aussprache kommt es an diesem Abend wegen der späten Stunde nicht. Nach anfänglichem Zögern macht der Pastor dem Kirchenvorstand am nächsten Tag per E-Mail ein Gesprächsangebot. Dies wird ignoriert. Nach nur vier Tagen reicht der Superintendent in Absprache mit dem Kirchenvorstand beim Landeskirchenamt den Antrag auf Abberufung des Gemeindepfarrers ein. Zu diesem Zeitpunkt war der neue Kirchenvorstand erst fünf Monate im Amt. Es hatten in dieser Zeit nur fünf Kirchenvorstandssitzungen stattgefunden. Die folgenden »Erhebungen« gestalten sich als Gespräche, die das LKA mit dem Pfarrer-Ehepaar und dem Kirchenvorstand getrennt führt. Die Gemeinde weiß von dem Konflikt zunächst nichts und wird auch nicht befragt. Bis zur Amtsenthebung des Pfarrers durch das Landeskirchenamt arbeitet der Pastor mit seinem Kirchenvorstand weitgehend ohne Störungen weiter. Doch wird den Kirchenältesten mit Berufung auf eine Vereinbarung mit der Landeskirche durch den Superintendenten verboten, das Konfliktfeld mit dem Pfarrer zu besprechen: Aus einem Brief des betroffenen Pastors an seine Kirchenältesten vom 17. Dezember 2012: »Sehr geehrte Mitglieder des Kirchenvorstandes …! Ich nutze den predigtfreien Sonntag, um Ihnen noch vor Weihnachten eine vorläufige persönliche Stellungnahme zukommen zu lassen zu dem Konflikt, in dem wir uns zusammen befinden. Zunächst möchte ich mich bei Ihnen bedanken für die pragmatische Sachlichkeit, mit der wir es geschafft haben, trotz der bestehenden Vertrauenskrise unsere Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Wir können aber nicht an dem bestehenden Konflikt vorbeisehen. … Die Menschen in der Kirchengemeinde begegnen mir weiterhin mit großer Unbefangenheit und Freundlichkeit. Ich habe von mir aus der Gemeinde bisher nichts über den bestehenden Konflikt gesagt. So können wir davon ausgehen, dass die meisten Gemeindeglieder noch nicht Bescheid wissen.

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Annett Benz

Ich meine deshalb, dass wir miteinander einen Burgfrieden vereinbaren können, um in der Gemeinde ohne Störungen Weihnachten und den Jahreswechsel feiern zu können. … Vermutlich werden wir Mitte bis Ende Januar wissen, wie es weitergeht. Das bedeutet, es muss irgendwann auch mit der Gemeinde über unseren Konflikt gesprochen werden. … Aber so weit ist es – wie gesagt – noch nicht. Wir sind noch bei den Vorgesprächen. Ich zumindest habe noch nicht die Hoffnung aufgegeben, dass wir uns mit Hilfe von außen wieder zusammenfinden und das Vertrauen wieder herstellen können. Ich wünsche uns Allen Gesegnete Festtage!« Die Antwort des Superintendenten, der die Abberufung mitbetrieben hatte, lässt nicht auf sich warten. Sie erfolgt am gleichen Tag neunzig Minuten später: »Sehr geehrte Damen und Herren im Kirchenvorstand …, sehr geehrter Herr … mir ist es wichtig, noch einmal an die Verabredungen mit dem Landeskirchenamt zu erinnern, die während der Sitzung in … getroffen wurden. Um der Kirchengemeinde einen guten Übergang über die Weihnachtstage und das neue Jahr zu ermöglichen, wurde verabredet, sich in der Zusammenarbeit zwischen Pfarramt und Kirchenvorstand auf das Alltagsgeschäft zu beschränken. Von Aktivitäten zur Aufarbeitung des Konfliktes zwischen Pfarramt und Kirchenvorstand muss deshalb gegenwärtig Abstand genommen werden. Alle notwendigen Veranlassungen dazu werden vom Landeskirchenamt geprüft und wurden alsbald für den Jahresbeginn in Aussicht gestellt. So auch die entsprechende Sprachregelung, die zw. Kirchenvorstand und Landeskirchenamt vereinbart wurde. … Eine gesegnete Advents- und Weihnachtszeit.«

»Von Aktivitäten zur Aufarbeitung des Konflikts muss gegenwärtig Abstand …«

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Zwar ist in diesem Schreiben nur davon die Rede, dass »gegenwärtig« von Aktivitäten zur Aufarbeitung des Konfliktes Abstand zu nehmen sei. Dass dieses Verbot jedoch grundsätzlicher gemeint war, hatte schon kurz vorher am 13. Dezember die Bemerkung eines Kirchenvorstandsmitgliedes verdeutlicht. Der Kirchenälteste hatte eine KV-Sitzung verlassen wollen mit dem Hinweis, dass der Superintendent Versuche zur Konfliktbearbeitung verboten habe. Die Fortsetzung des Geschehens: Noch im Dezember macht das Landeskirchenamt dem betroffenen Pastor den Vorschlag, in einen anderen Kirchenkreis zu wechseln und dort in Zukunft Vertretungsdienste zu übernehmen. Der Pastor lehnt dies ab und erbittet noch einmal eine Mediation. Ende Januar 2013, also nur knapp drei Monate nach der Antragstellung, wird das Verfahren auf Abberufung des Gemeindepfarrers nach §§ 79 und 80 Pfarrdienstgesetz der EKD offiziell eröffnet. Der Pastor wird zum großen Erstaunen der bis dahin ahnungslosen Gemeinde von seinen Ämtern entbunden. Als Ersatz werden dem Pastor Vertretungsdienste im Kirchenkreis übertragen. Die Gemeinde wird weder über die erhobenen Vorwürfe aufgeklärt noch über die Rechtslage informiert. Das Untersuchungsverfahren besteht nur aus je einer weiteren Anhörung des Kirchenvorstandes und des Pastors und aus einigem Aktenstudium. Schriftliche Eingaben des Pastors werden weitgehend ignoriert. Die Gemeinde wird nicht befragt. Die mehrfach wiederholte Bitte des Pastors, zumindest den Versuch einer Konfliktbewältigung durch Gespräche oder eine Mediation zu wagen, wird übergangen. Im Sommer 2013 wird dann die Abberufung nach fünf Monaten kirchenamtlich beschlossen, der Pastor in den Wartestand versetzt und mit einem Beschäftigungsauftrag in drei Altenheimen an anderen Orten und mit Vertretungsdiensten im Kirchenkreis mit entsprechender Gehaltsabsenkung (auf 75%) beauftragt. Der Pastor klagt gegen die Abberufung vor dem kirchlichen Verwaltungsgericht. Er kann vorläufig im Pfarrhaus wohnen bleiben. Nach umfangreichem Schriftwechsel kommt es neun Monate später am 28. März 2014 zur mündlichen Verhandlung. Dabei sind auch Mitglieder des Vorstandes von D.A.V.I.D. unter den Zuhörern. Sie haben notiert, wie der Vertreter der Landeskirche Hannover den »Tatbestand Vertrauensverlust« als wichtigsten Grund für die Versetzungsentscheidung ins Feld führte. Nach seinen Worten ist das im Gesetz genannte fehlende

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Vertrauen eines Kirchenvorstandes eine ganz subjektive Sache und juristisch nicht mehr hinterfragbar. So ist es auch in der Klageerwiderung des Landeskirchenamtes Hannover vom 29. November 2013 zu lesen. Der Text belegt, welch willkürliche Anwendung das Pfarrdienstgesetz der EKD § 80 Absatz 1 Satz 2 möglich macht. »Den Kirchenvorstandsmitgliedern steht bei der Frage, ob noch ein belastbares Vertrauensverhältnis zum Pastor der Gemeinde besteht, ein weiter eigener Bewertungsspielraum zu. Jedes Kirchenvorstandsmitglied muss aufgrund der ihm oder ihr bekannten Tatsachen für sich beurteilen, ob tatsächlich noch Vertrauen zum Pastor besteht. Die dieser höchstpersönlichen Einschätzung zu Grunde liegenden Motive, entziehen sich der rechtlichen Qualifizierung und Kategorisierung, weil sie im kirchengemeindlichen bzw. zwischenmenschlichen Raum wurzeln. Deswegen kann den höchstpersönlichen Entscheidungen auch nicht rechtlich erfolgreich vorgeworfen werden, dass sie ›vielfach äußerst einseitig gewichtet‹ seien und ›auf einer äußerst selektiven Wahrnehmung‹ beruhten. Es liegt vielmehr in der Natur der höchstpersönlichen Entscheidungen, dass sie auf subjektiven Wahrnehmungen und damit auf subjektiven Bewertungen des Wahrgenommenen beruhen. … Auch ist es nicht ausreichend, wenn der Kläger darauf verweist, dass das Vertrauen der Mitglieder des Kirchenvorstandes aus seiner Sicht nach fünf Monaten zu schnell verloren gegangen sei. Ein relativ zügiger Vertrauensverlust führt für sich genommen nicht automatisch zu einer Bewertung als rechtsmissbräuchlich. … Ferner ist es nicht rechtsmissbräuchlich, wenn der Kirchenvorstand, nachdem er seinen endgültigen Vertrauensverlust kundgetan hat, nicht mehr zu weiteren Gesprächen hierüber bereit ist. … ›Vertrauen wächst nur sehr langsam. Ist es einmal zerstört, ist nicht sicher, ob es überhaupt wiederkommt …‹ (Petra Bahr) …«1

1 Zur Beurteilung dieser juristischen Äußerungen aus pastoralpsychologischer Sicht vgl. den schon einmal genannten Aufsatz von Traugott Schall: »Ade! Freiheit der Verkündigung und der Seelsorge. Eine pastoralpsychologische Analyse«, in: DPfBl 10/2014, 563–567 (http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php?a= show&id=3691).

»Von Aktivitäten zur Aufarbeitung des Konflikts muss gegenwärtig Abstand …«

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Das Kirchliche Verwaltungsgericht in Hannover schlug in der mündlichen Verhandlung einen Vergleich vor, den der betroffene Pastor annahm. Der Vertreter der Landeskirche hatte zuvor angekündigt, dass die Landeskirche in Revision gehen würde, wenn das Gericht die Versetzungsentscheidung des Landeskirchenamtes aufheben würde. Auch wurde ein zweites Abberufungsverfahren in Aussicht gestellt. Der Pastor musste erkennen, dass das Landeskirchenamt dem Kirchenvorstand den Rücken stärkte und er dagegen keine Chance habe. Der Vergleich beinhaltete die Rücknahme des Abberufungsentscheids durch die Landeskirche bei gleichzeitiger Rückzahlung der einbehaltenen Gehaltsanteile. Die Gegenleistung des Pfarrers bestand darin, einem Wechsel in einen anderen Kirchenkreis zuzustimmen, in dem er als Vertretungspfarrer für Gottesdienste, Amtshandlungen etc. in den Gemeinden zur jeweiligen Verfügung steht. So hat der betroffene Pastor in dem Streit mit seiner Kirchenleitung teils gewonnen und doch verloren. Die ihm vertraut gewordene Gemeinde, in der er in den wenigen Jahren seines Dienstes schon viele wertvolle Beziehungen hatte aufbauen können, musste er verlassen und in die Fremde gehen. Allerdings hat das Gericht die Kosten des Verfahrens in voller Höhe der Landeskirche Hannover auferlegt. Der betroffene Pastor schreibt mit zeitlichem Abstand folgenden Kommentar: »Wenn es zu einem Abberufungsverfahren kommt, dauert das in der Praxis sehr lange. Kommt auch noch eine Revisionsverhandlung dazu, werden der Pastor oder die Pastorin und die mitbetroffene Gemeinde möglicherweise drei bis fünf Jahre damit belastet. In der Regel bleibt der Kirchenvorstand, der den Antrag gestellt hat, unbeschadet im Amt und kann damit die Verhältnisse zu seinen Gunsten beeinflussen. Die menschlichen Belastungen sind für die betroffenen Pfarrpersonen und ihre Familien so erheblich, dass dabei nicht selten psychische und körperliche Krankheiten entstehen, die als nachhaltige Schäden zurückbleiben können.

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Annett Benz

Deshalb sehen sich die Betroffenen oftmals aus Verantwortung für sich und ihre Familien genötigt, dem Druck auszuweichen und eine neue Stelle zu suchen, wenn ein Abberufungsverfahren nur angedroht wird. So ist der Dienstaufsicht und den Kirchenvorständen mit den §§ 79 und 80 PfDG der EKD ein wirkungsvolles Instrument der Einschüchterung gegeben. Das Gesetz ist für die Kirchenvorstände eine Anleitung zur Kommunikationsverweigerung. Es nützt offensichtlich nichts, dass das gleiche Pfarrdienstgesetz weiter oben im Zusammenwirken der §§ 26 Gesamtkirchliche Einbindung, 47 Recht auf Fürsorge und 58 Dienstaufsicht ›professionelle Maßnahmen zur Konfliktbewältigung‹ ausdrücklich vorsieht. An meinem Fall kann man erkennen, dass Missbrauch nur dann verhindert werden könnte, wenn die Dienstaufsicht und die Kirchenleitung eine positive Kooperation des Kirchenvorstandes für Gespräche zur Aufarbeitung des Konfliktes deutlich einfordern würde. Sonst wird einem Kirchenvorstand, der seinen Pfarrer vertreiben will, sehr bald deutlich, dass er unter den Gegebenheiten des neuen Gesetzes sein Ziel am ehesten erreichen kann, wenn er alles tut, um den Konflikt zu verschärfen. Aussichtslos wird die Lage für den Pfarrer unter der gegenwärtigen Gesetzeslage, wenn Superintendent, Kirchenvorstand und Landeskirchenamt zusammenwirken und ein Verfahren gegen den Pfarrer gemeinsam betreiben. Durch diese Möglichkeit, einen Pfarrer oder eine Pfarrerin aus einer Gemeinde willkürlich zu vertreiben, ist die Unabhängigkeit von Seelsorge und Verkündigung erheblich in Frage gestellt und das Binnenklima in unserer Kirche schwer belastet. Es ist deshalb zum Wohle unserer Kirche, von den Synoden der Landeskirchen und der EKD zu fordern, dass das Abberufungsverfahren, wie es in den §§ 79 und 80 des neuen Pfarrdienstgesetzes gegeben ist, abgeschafft wird.«

Sabine Sunnus / Barbara Völksen

Das ganze Elend Die Angst vor einer mündigen Gemeinde

Wer stört, muss weg! Der Pfarrer, der Kirchenvorstand, die engagierten Gemeindeglieder, am besten die ganze Gemeinde. So zum Beispiel in Burgholzhausen, einem kleinen hübschen Ort vor den Toren von Frankfurt am Main im Hochtaunuskreis. Wer bleibt? In diesem Beispiel der Dekan, der Synodalvorstand des Dekanats, dessen Präses und damaliger Kirchenvorsteher, Vertreter und Vertreterinnen des »Instituts für Personalförderung und Gemeindeorganisation«, der Vertreter eines »Referats für gesellschaftliche Verantwortung«, Vertreterinnen/Leiterin des Rechts- und Personalreferates, Vertreter des »Leitenden geistlichen Amtes« und dem dazugehörigen Kirchenpräsidenten, kurz: die verwaltungstechnischen Institutionen, hier der evangelischen Landeskirche in Hessen und Nassau (EKHN). Ein auffallend hoher Aufwand für ein am Ende vernichtendes Ergebnis. Und warum? Weil es eine »Basisdemokratie« in der Evangelischen Kirche in Deutschland auch im 21. Jahrhundert nicht gibt. Weil die »Gemeinde« begreifen muss, dass sie nur eine nach Bedarf schöngeredete Worthülse ist. Weil es keine offene Konfliktkultur im Umgang miteinander gibt. Und weil eine enge institutionelle Ausrichtung am vordergründigen Geschehen des Hier und Jetzt den Blick auf gerechte Konfliktlösung vereitelt. Wer gewinnt? Niemand. Alle sind Verlierer. Nicht zuletzt die gesamte Institution »Kirche« in ihrer Glaubwürdigkeit als Trägerin christlicher Werte, deren Reden und Handeln in dieser Welt ohnehin kritisch hinterfragt wird. Der Vertrauensverlust ist immens und wirkt weit über die auslösenden Konfliktlinien hinaus. In einer Kirche, deren Austrittszahlen stetig wachsen und deren Personaldecke in den Pfarrämtern zusehends dünner wird.

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Sabine Sunnus / Barbara Völksen

Was hier im Resümee wie ein Menetekel an die Wand geschrieben ist, durchzieht alle Konfliktfälle auf Gemeindeebene, die dem Verein »D.A.V.I.D. gegen Mobbing in der evangelischen Kirche e. V.« seit 14 Jahren bekannt sind. EKD-weit hat der Verein über 300 solcher unheilvoller Ereignisse beobachtet, zu einem großen Teil dokumentiert und deren betroffene Personen begleitet. Am Ende ist zerstört, was viele Jahre, meist jahrzehntelang bewährt, gelebt, unterstützt, begriffen worden war. Gemeindeglieder haben sich aktiv oder passiv, wie das in jedem Verein der Fall ist, an ihrer Gemeinde beteiligt. Dass sie in einem Konfliktfall von den kirchenleitenden Personen mit aller Macht außen vor gehalten werden, im Grunde bereits ihr Wissen um den Konflikt – meist zwischen Pfarrperson und Teilen des Kirchenvorstandes – als »suspekt«, »unbotmäßig«, gefährlich, »die Gemeinde spaltend«, »unchristlich«, »nestbeschmutzend« und schließlich ob ihrer bloßen Nachfragen »unrechtmäßig« eingestuft werden, lässt sie die Augen reiben. Eine solche unterstellte Unmündigkeit haben sie, zumindest die aktiven, nicht erwartet und fragen sich: Wer bildet denn die Gemeinde? Wer trägt die Kirche? Wo ist das Gegenüber, das unsere Fragen, Einwände, Bedenken, Befindlichkeiten, Argumente ernst nimmt, wenn der gewählte Kirchenvorstand kein Vertrauen mehr genießt? Die Geschichte in Burgholzhausen von Juli/August 2011 bis 2014 fing bereits mit einer Verdrehung, sprich Lüge an. Eine vom Kirchenvorstand (KV) dem Anschein nach gut gemeinte Umfrage zum Gemeindeleben und Gottesdienst hatte einen denkbar geringen Rücklauf. Der KV wertete diesen aber als repräsentativen Erfolg und, wie sich schnell herausstellte, zugleich als Rückendeckung für die persönliche Unzufriedenheit einiger KV-Mitglieder mit dem Pfarrer. Von etwa 1500 ausgeteilten Bögen waren nur 40 zurückgekommen, darunter die von den neun Kirchenvorstandsmitgliedern, von sieben Konfirmanden sowie von amtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen. In der »Evangelischen Sonntagszeitung« der EKHN liest sich das nach einem Gespräch mit dem Vorsitzenden und einem Mitglied des KV dann aber anders: »Die Resonanz darauf war erstaunlich gut« und »viele Fragebögen sind zurückgekommen«. Die »Umfrage offenbart viele Wünsche« hatte das Blatt zitierend getitelt, und deshalb werde es in Kürze »ein neues Gemeindekonzept« geben. »Bewegung« komme nun rein, junge Menschen wolle man damit »bewegen« und »moderne Musik«

Das ganze Elend

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würde einziehen. Weitere Anregungen wolle der KV in einer Gemeindeversammlung im kommenden August aufnehmen. Um einiges zurückhaltender sieht das der langjährige Gemeindepfarrer – übrigens mit halber Stelle. Die wenigen Antworten hatten zwar insgesamt ein gutes Maß an Zufriedenheit gezeigt, auch mit dem Gottesdienst, und mit einigen Veränderungs- und/oder Ergänzungsvorschlägen in aller Bescheidenheit ein interessiertes und durchaus lebendiges Bild ergeben. Dennoch rückt der Pfarrer im Gemeindebrief für Juli/August 2011 die etwas vollmundigen, doch sehr vage gehaltenen Angaben der beiden KV-Mitglieder auf die realistische Ausgangsposition zurecht und verweist auf die vorhandenen Zahlen. »Ich hätte mir eine größere Beteiligung gewünscht«, bedauert er und findet das Ergebnis »wirklich ernüchternd«.1 Diese Sichtweise erzürnt einige Kirchenvorsteher, und der Vorsitzende beruft umgehend eine informelle KV-Sitzung ein – trotz urlaubsbedingter Abwesenheit des Pfarrers. Einziges Thema: der (unmögliche) Verbleib des Pfarrers in der Gemeinde. Zu einem solchen Gericht wollten sich offenbar nicht alle KV-Mitglieder entschließen und votierten mit einer Gegenstimme für ein »Personalgespräch« des Vorsitzenden mit dem Pfarrer unter vier Augen. Obwohl dies keine ordentliche oder außerordentliche Sitzung war, kein formaler Beschluss gefasst worden war und auch kein Protokoll bekannt ist, wurde dieses Votum im weiteren Fortgang zum grundlegenden »Abstimmungsergebnis gegen den Verbleib« des langjährigen Pfarrers in der Gemeinde erhoben und gehandelt, schließlich auch von allen mit dem eskalierenden Konflikt befassten Instanzen der verwaltenden Kirche. Auf dieser überaus dürftigen Basis persönlicher Schwierigkeiten und Meinungen erklärt der Vorsitzende dem Pfarrer in dem Vieraugengespräch die Zusammenarbeit für beendet. Wenig später wandert ein Gerücht durch den Ort: »Weißt du schon, dass der Kirchenvorstand den Pfarrer entlassen hat?« – »Nein. Warum?« – »Grund ist wohl der Artikel des Pfarrers im letzten Gemeindebrief. Aber erzählen darf ich dir das gar nicht. Für meinen Mann besteht Schweigepflicht!« Das waren die Worte am 8. August 2011 auf einem öffentlichen Platz, gerichtet an eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der Gemeinde, die nun 1 Gemeindebrief Nr. 162/Juli-August 2011, 5 u. 6.

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Genaues wissen wollte und besagtes KV-Mitglied sofort selber befragte. Sie hatte rechtliche Bedenken und konnte sich solch ein Vorgehen nicht erklären. Aber sie hörte belehrend: »Der Pfarrer ist der Angestellte des Kirchenvorstandes, und wenn er so etwas tut, muss er mit Konsequenzen rechnen.« Zum »so etwas« und dem »warum« wollte sich der Betreffende nicht weiter äußern mit dem Verweis auf seine Schweigepflicht. Später geriert eine Aussage des Präses der Dekanats-Synode und KV-Mitglied in Burgholzhausen zum geflügelten Wort. Auf die drängende Frage von sieben Gemeindegliedern, warum der Kirchenvorstand denn nicht auf die Gemeinde höre und sie endlich mal in den Blick nähme, entgegnet dieser ganz entschieden: »Der Kirchenvorstand ist nicht für die Gemeinde da, sondern er leitet diese!« Diese irrige Behauptung macht nun die Runde und bleibt hängen, weit über den Ort hinaus, empört kommentiert oder bespöttelt. Auf jeden Fall ist sie im Fortgang der Ereignisse nie, auch nicht ein einziges Mal von den vielen einbezogenen kirchenverwaltenden Leitungspersonen in ihre formalen Schranken gewiesen worden. Sukzessive bekam sie geradezu eine Alibi-Funktion für die vielen Anstrengungen, die Gemeinde außen vor zu halten, ihr auf keinen Fall ein Mitspracherecht einzuräumen und schon gar nicht ihren Forderungen nach Information und Bearbeitung des anwachsenden Konfliktes gerecht zu werden. Der Pfarrer sollte lautlos gehen. Und da von einer »Zerrüttung mit der Gemeinde« keine Rede sein konnte, diese nämlich mit dem Status quo und dem Pfarrer zufrieden war, ja seine theologisch orientierte, kritische Haltung als »wahrhaftig« schätzte, wurde nun die Gemeinde zum entscheidenden Störfaktor. Schnell hatten sich Menschen zusammengefunden, die sich auf die Geheimniskrämerei der KV-Mitglieder und der weiteren übergeordneten Gremien der Kirchenverwaltung nicht einlassen wollten. Sechs Personen bildeten eine »Initiative gegen Mobbing in der evangelischen Gemeinde Burgholzhausen«, mit großem Rückhalt und wachsendem Zulauf aus der Gemeinde. Auf die immer wiederholte Nachfrage beim KV, was denn am Gerücht dran sei und was denn die rechtliche Situation überhaupt zulasse, bekamen die Vertreter der Initiative dementierende bis ausweichende Antworten. Der Dekan war bereits vom KV involviert worden, allerdings in Abwesenheit des erkrankten Pfarrers. Und auf der angekündigten Gemeindeversammlung zur Umfrageaktion warteten die Unwissenden vergeblich auf eine Information zur Sachlage. Dafür berichteten Anwesende

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später von ausgesprochen aggressiven Angriffen Einzelner gegen den Pfarrer, die ausschließlich auf seine Person abzielten und sich an seiner Mimik und Körperhaltung festmachten. Eine inoffizielle Mitschrift wird später weitergereicht, sie belegt diesen Eindruck ebenso wie manche Bemühungen um positives Mitdenken zum Gemeindeleben. Ein offizielles Protokoll gibt es nicht. Am 21. September setzen sich KV und Dekan wiederum ohne den Pfarrer zusammen, eine Woche später offerieren sie diesem eine »Sprachregelung« zu seinem Weggehen. Sie wird aber erst im Dezember im Gemeindebrief veröffentlicht. Dennoch lässt sich der Vorsitzende in der Zwischenzeit unwidersprochen zitieren: Der Pfarrer habe »schon lange vorgehabt, zu gehen«. Im Gemeindebrief fügt er dann dem vereinbarten Text – ohne entsprechenden Wahrheitsgehalt – hinzu, der Pfarrer »hatte ohnehin in seiner Lebensplanung, dass er sich noch einmal neuen Herausforderungen stellen wollte. Das ist ein normaler Vorgang.«2 Dass dies nicht stimmt, rückt der Betreffende später auf Nachfrage in einer Gemeindeversammlung – unter großem Applaus – zurecht. Diese Versammlung wiederum hatte die Initiative zusammen mit 60 Unterschriften und klaren Forderungen für Information und Transparenz des Verfahrens ordnungsgemäß schwer erkämpfen müssen. Sie hatte sich schriftlich an den Propst, den Dekan und den KV gewendet und erfuhr wenig später ebenfalls schriftlich, dass der KV eine Gemeindeversammlung nicht plant »zum Schutz der Person des Pfarrers«. Und über die Zukunft der Gemeinde wolle man erst nach dessen Weggang informieren. Der Dekan wiederum schreibt an ein KV-Mitglied später, er habe »alles getan, um die Gemeindeversammlung zu vermeiden«. Formal gibt es aber ein Recht der Gemeinde auf Versammlung bei besonderem Bedarf. Bereits in dieser Phase zeigt sich nun all den interessierten Gemeindegliedern deutlich, wer hier wie taktiert, um die Entfernung des Pfarrers so schnell und unauffällig wie möglich zu erledigen. Dabei verstricken sich die Betreibenden auf allen Ebenen – einschließlich des Pressereferenten und des Beauftragten für »Gesellschaftliche Verantwortung« im Dekanat – während des gesamten Fortgangs in Widersprüche, unhaltbare Behauptungen und fatale Verdrehungen. Der Konflikt nimmt Tempo auf. Er weitet sich aus: zum Konflikt zwischen der Gemeinde und ihrer Kirche. 2 Gemeindebrief 163/Dezember 2011 – Februar 2012, 7.

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Am 14. Dezember 2011 versammeln sich an die 200 Gemeindeglieder in der kleinen Dorfkirche. Sie hören vom Dekan, dass der KV »falsch vorgegangen« sei und dass sich der Pfarrer »dienstrechtlich nichts zuschulden« habe kommen lassen. Der KV-Vorsitzende besteht auf dem Weggang, der Pfarrer distanziert sich von der »Sprachregelung« und spricht vom »Druck«, der auf ihn ausgeübt worden sei. Die Bestätigung liefert der Dekan, indem er zu einem späteren Zeitpunkt erklärt, er habe den »KV nur mit Mühe von einem Ungedeihlichkeitsverfahren3 abbringen können«. Mehrere Gemeindeglieder beantragen den Rücktritt des KV, weil das »Vertrauen in ihn zerrüttet« sei. Die Initiative fordert eine professionelle und unabhängige Mediation. Der Pfarrer erklärt sich sofort bereit dazu, der KV aber nimmt sie trotz Unterstützung vom Propst nicht an. Nach 14 Tagen, am Heiligabend, gibt der Präses des Dekanats und Mitglied des KV nach dem Gottesdienst dann doch die Zustimmung zur Mediation bekannt. Doch der Einigungsprozess auf einen allen genehmen Mediator oder eine Mediatorin zieht sich zäh über drei Monate hin, das Vorschlagsmonopol liegt bei der Landeskirche. Den Zuschlag bekommt die stellvertretende Leiterin des »Instituts für Personalförderung und Gemeindeorganisation« der Landeskirche. Darauf setzt die Initiative große Hoffnung. Umsonst. Nach nur zwei Sitzungen mit dem Pfarrer und dem KV im April und im Mai beendet die Mediatorin die sogenannte »Mediation«. Eine dritte Sitzung am 30. Mai 2012 trägt dann, gekennzeichnet durch die Anwesenheit des Propstes und des Dekans, dienstrechtliche Züge. Am Verhandlungstisch sitzt außerdem nur noch ein Teil des KV, ausnahmslos die entschiedenen Betreiber des Verfahrens gegen den Pfarrer – und nun auch eindeutig gegen die Gemeinde. Unterdessen waren der Initiative zwei E-Mails anonym zugestellt worden, in denen sich zwei der KV-Mitglieder auf primitive Weise über den Pfarrer auslassen. Unübersehbar die Respektlosigkeit in den persönlichen Fantasien der Schreiberinnen. Eine von ihnen war auch bei der letzten Sitzung Mit-Entscheidungsträgerin. Wieder sucht die Initiative den Schutz des Dekans als Vorgesetzter des Pfarrers und nun auch den der Mediatorin. Doch die E-Mails werden in der schriftlichen Antwort heruntergespielt und als Überempfindlichkeit der Gemeindeglieder ab3 Vgl. oben den Beitrag von Gisela Kittel »Der ›Ungedeihlichkeitsparagraf‹ oder die Zwangsversetzung …«.

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getan. Der Vorsitzende des KV behauptet gar, diese E-Mails nicht zu kennen, obwohl die »KV-Kollegen« darin angesprochen werden. Dass es hier auch um die »Würde des Amtes« geht, wie die Initiative klar benennt, wollte keine der kirchenvertretenden Personen wahrhaben. Dennoch sucht die Initiative immer wieder ein Gespräch mit den kirchlichen Entscheidungsträgern, ihre Vertreter und Vertreterinnen investieren viel Zeit, Kraft, Know-how und Fantasie, um aus der Misere für die Gemeinde rauszukommen. Allerdings ohne diesen Kirchenvorstand. Offen sprechen sie Neuwahlen an.4 Für den 20. August 2012 lädt die Initiative »alle Gemeindeglieder« und »interessierten Bürger« zu einer Versammlung ein. Es soll die Einbindung der Gemeinde in dem für sie so einschneidenden Prozess gegen den Pfarrer ebenso erörtert werden wie der Abbruch der Mediation mit seinen dienstrechtlichen Folgen. Für die Forderung nach Rücktritt und Neuwahl des KV möchte sich die Initiative Rückhalt holen, und last not least möchte sie wieder eine offizielle Gemeindeversammlung beantragen.5 Dazu kommen in Kürze 90 Unterschriften zusammen. Auf der sehr gut besuchten Versammlung ziehen sich die anwesenden KV-Mitglieder bei bohrenden Nachfragen immer noch auf das »laufende Mediationsverfahren« zurück: »Ich bitte um Geduld, um die Mediation nicht zu gefährden.« Dazu die Mediatorin eine Woche später im lange von der Initiative angestrebten Gespräch von sieben Gemeindegliedern mit ihr und dem Dekan: »Man kann sagen, die Mediation ist gescheitert. Weitere Sitzungen würden bedeuten, ich verplempere meine Zeit.« Und einen kurzen Moment weiter: »Die Kirche braucht so ein Verfahren, es gibt auch faule und ungeeignete Pfarrer.« Punkt. Keine Diskussion. Keine Argumente. Kein Austausch. Keine gemeinsame Basis. – Unendliche Fremdheit. Dabei hatte der KV-Vorsitzende erst wenige Tage zuvor in einem Interview der Taunus-Zeitung auf die Frage, was er Positives zu seinem Pfarrer sagen könnte, geantwortet: »Was er sehr gut macht, das sind die Kasualien, also Taufen, Trauungen, Beerdigungen und Gottesdienste.« Also die zentralen, theologischen Aufgaben im Pfarrdienst. 4 Taunus-Zeitung, 22.08.2012, »Reinigendes Gewitter«, Kommentar von Christiane Paiement-Gensrich. 5 Einladung der »Initiative gegen Mobbing in der Evangelischen Kirche Burgholzhausen« zu einer Versammlung für 20. August 2012 in der Alten Schule, u.a. zur Befürchtung eines »Ungedeihlichkeitsverfahrens«.

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Wie passt das zusammen? Ein derart gutes Zeugnis vom Vorsitzenden? Zusammen mit ihm und der Mehrheit im KV tun doch alle kirchenverwaltenden Personen alles, um genau solch einen Pfarrer loszuwerden? Lautlos! Nach dem Motto: Wo kommen wir denn hin, wenn die Gemeinde da noch Aufklärung fordert? Zum (Un-)Glück gibt es eine »Schweigepflicht«, rechtfertigend ummäntelt mit dem Verweis auf die sogenannte »Fürsorge« für die Pfarrperson. Und natürlich den Sündenbock, hier die Vertreter und Anhänger der Gemeindeinitiative. Und so geht denn die Geschichte weiter. Aus einer Presseerklärung des Dekanats vom 12. September erfährt die Öffentlichkeit, dass es eine »letzte Mediationssitzung« gegeben habe, nach der nun laut Dekan »Erlösung in Sicht« sei. Dagegen der Vorsitzende des KV: »Man ist am finalen Ende.« Aber es solle keine Sieger noch Verlierer geben. Wie das aussehen soll, gibt das Dekanat in seinem Newsletter eine Woche später bekannt. Man habe sich geeinigt, dass der Pfarrer sowie alle KV-Mitglieder bis spätestens 31. Mai 2013 ihre Ämter niederlegen. Deklariert wird dieser Einschnitt als »Neuanfang der Kirchengemeinde«. Die Initiative reagiert mit einem offenen Brief, in dem sie sich für den Verbleib des Pfarrers einsetzt. Der erscheint auch in der örtlichen Presse. Überhaupt begleitet diese die Vorgänge in und um die Evangelische Kirchengemeinde Burgholzhausen mit großer Aufmerksamkeit bis zum Ende, ihre kritischen Kommentare spiegeln deutlich die Wahrnehmung der Öffentlichkeit wider.6 Für die Initiative beginnt nun der Kampf mit dem Dekanat, wer denn den Übergangsvorstand bis zur nächsten Wahl im Jahr 2014 einsetzt und vor allem: welche Personen in welchem Interesse? Zu viele Hinterzimmer-Aktionen haben misstrauisch gemacht, und eine Neuwahl war kategorisch abgelehnt worden. So wendet sie sich nun an die Kirchenleitung und den Kirchenpräsidenten mit der Forderung, das ganze Verfahren neu aufzurollen, da diese sogenannte »Einigung« unter dem Druck ungeklärter Machtansprüche und -ausübungen zustande gekommen sei. Dazu räumt sogar der Propst in der Taunuszeitung vom 21.12.2012 ein, es sei »keine bessere Lösung gefunden« worden. Auf die Frage, ob hier

6 Vgl. Taunus-Zeitung, 21.09.2012: Offener Brief der Initiative nach der Presseerklärung des Dekanats; 29.09.2012: »Wo bleibt die Fürsorgepflicht?«; 05.10.2012: »Da braucht man Gottvertrauen«; 21.12.2012: »Keine bessere Lösung gefunden«.

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nicht eine Gemeindebefragung Abhilfe bringen könnte, analog zur Volksbefragung, zieht er sich aber darauf zurück, dass »so etwas in den Kirchenordnungen nicht vorgesehen« ist, und versucht zu beschwichtigen: »Der Dekanats-Synodalvorstand wird seine Verantwortung wahrnehmen.« Aber gerade da liegen fatale Personalverquickungen vor: der Präses der Dekanatssynode als betroffenes KV-Mitglied mit eindeutigem Interesse und der Dekan als einer der Vertreter der Kirchenbehörde.7 So kommt es dann auch: Aus den geforderten Neuwahlen wird nichts, stattdessen legt der Dekanats-Synodalvorstand zur Gemeindeversammlung am 12. Dezember dar, dass er für den Übergang fünf Kirchenvorsteher ernennt und diese dann drei weitere bestimmen werden. Das mögliche Manipulationspotenzial und die offene Auslegung der nicht gesicherten Rechtsgrundlage (z.B. zwei unterschiedliche Paragrafen) erhitzen nun auch in dieser Versammlung die Gemüter. Sie bekommen Schützenhilfe von juristisch kompetenter Seite einer anderen »Initiative für ein gerechtes Kirchenrecht in der EKHN«, und die Gemeindeglieder kämpfen nun für ihr einziges, kleines demokratisches Recht zur »Wahl«. »Wenn die Gemeinde den Vorstand wählen kann, ist das die einzige Chance für einen Neuanfang«, fasst eine der Anwesenden die turbulente Debatte zusammen. Mit 116 Unterschriften und finanziellen Unterstützern wird die Initiative im März 2013 beauftragt, mithilfe eines Rechtsanwaltes ihr Anliegen in der Kirchenverwaltung juristisch zu erstreiten.8 Immerhin heißt der erste Satz auf einer Internetseite der EKHN: »Jedes evangelische Kirchenmitglied kann mitentscheiden, wer die Geschicke seiner Kirchengemeinde lenkt.« Nun, die Wirklichkeit sieht anders aus. Da nützte auch nicht die breite Streuung ihres Anliegens an den Kirchenpräsidenten, den Präses der Synode der EKHN, den Propst, den Leiter der Kirchenverwaltung und die Leiterin der Rechtsabteilung. Letztere lehnte den Widerspruch ab mit dem Hinweis: »Ein solchermaßen gebildeter Kirchenvorstand hätte bis zum Ablauf der Amtsperiode am 31.08.2015 die gleichen Rechte und Pflichten wie ein aus einer Kirchenvorstandswahl hervorgegangenes Gremium.« Auf welcher Grundlage? Um dies in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen, wird nun auch der Pressereferent der EKHN bemüht. Un-

7 S.o. TZ 21.12.2012 »Keine bessere Lösung gefunden«. 8 Brief der Initiative an das Kirchliche Verwaltungs- und Verfassungsgericht vom 14.03.2013.

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ter dem Titel »Keine Lex Burgholzhausen« versucht er klarzumachen, dass die Kirche nach »geltendem Recht« handelt. Zuletzt führt dann aber gar kein Kirchenvorstand die Geschäfte der Gemeinde, sondern der Synodal-Vorstand (DSV) mit seinem ehemaligen KV-Mitglied, dem Präses des DSV. Auch der Vorsitzende des KV hat nach dem Rücktritt des gesamten Vorstandes einen Posten im Dekanat bekommen. Alle anderen mussten am 31. Mai 2013 ihre Ämter niederlegen, der Pfarrer bekam Vertretungsdienste zugewiesen. Die einstigen Aktivitäten liegen lahm, der sogenannte »Neuanfang« ist die Fortsetzung des Versäumten, er hat nichts Versöhnliches, nichts Wahrhaftiges, nichts Verlässliches. »Wir haben viel, aber wir wollen mehr«, hatte der Vorsitzende einst in einem Interview gesagt. Meinte er den Scherbenhaufen? Im März 2014 wurde noch einmal zu einer Gemeindeversammlung gerufen, doch sie war eine Farce. Lediglich die Attitüde der Entmündigung fand ihre Fortsetzung, der Gemeinde wurde vorgeschrieben, sich ausschließlich in Form von Fragen oder Anregungen zu äußern, nicht jede oder jeder durfte reden, einer Verantwortlichen der Initiative wurde noch vor ihrem ersten Satz das Mikrofon weggenommen. Dafür sollten sanfte Worte des Bedauerns, aber auch der Rechtfertigung und christliche Appelle einen »Umschwung« einläuten, den in dieser Situation offenbar nur die Redner zu »spüren« glaubten. »Der Konflikt ist uns an einer bestimmten Stelle, ich kann nicht sagen, an welcher, entglitten«, zitiert die Taunus-Zeitung den Dekan in ihrem letzten Beitrag zum Geschehen. Entsprechend bitter ist das Resümee aus der Gemeinde, eine Frau fasst zusammen: »Eine Aufarbeitung des Konfliktes gab es nicht. Die Erkenntnis, dass sich jederzeit an jedem Ort in der EKD Gleiches wiederholt, ist mehr als bedrückend. Bei allen Fragen nach dem ›Warum‹ ist dies das eigentlich deprimierende, für alle Christen und letzten Endes für die Kirche selbst.« Und in der Taunus-Zeitung ist dann die in der Versammlung untersagte Bilanzierung eines Mitglieds der Initiative zu lesen, unter dem Titel: »Gemeindeleben ist tot«.9 9 TZ vom 26.03.2014 »Konflikt ist entglitten« und »Gemeindeleben ist tot«, siehe Homepage von D.A.V.I.D. gegen Mobbing in der evangelischen Kirche e. V., www.david-gegen-mobbing.de. Alle in den Anmerkungen genannten Dokumente sind auf der Homepage von D.A.V.I.D. gegen Mobbing in der evangelischen Kirche e.V. zu finden: www.davidgegen-mobbing.de.

1.5 Die Rolle der Synoden

Manfred Alberti

Reform des Leitungssystems durch Synoden

1 Leitung durch Synodenbeschlüsse 1.1 Praxis Bisher wird die Leitung der Kirche (EKiR wie auch EKD) maßgeblich durch Synodenbeschlüsse gestaltet: Kirchliche Institutionen (Kirchenleitung, Landeskirchenamt, Kreissynodalvorstände und Kirchenkreisverwaltung) geben den EKD-, Landesund Kreissynoden als verantwortlichen Leitungsgremien aus Laien und Theologen Vorlagen vor, die zu bestimmten Beschlüssen führen sollen.

1.2 Kritik an der eingespielten Praxis Dabei hat sich die folgende Praxis mit etlichen kritisch zu betrachtenden Verfahrensweisen herausgebildet: 1.2.1 Die Vorlagen legen den Synodalen – fast immer ohne kritische Anmerkungen – alternativlos nahe, solche Beschlüsse zu fassen. 1.2.2 Die Synodalen sind meist keine Fachleute, die sich profimäßig kritisch mit den Vorlagen auseinandersetzen könnten. 1.2.3 Die Synodalen, als gewählte Vertreter herausgehoben und geehrt, sind im Vertrauen zur kirchlichen Obrigkeit oft positiv eingestimmt, den Vorlagen vertrauensvoll zuzustimmen.

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1.2.4 Einige besonders hervorgehobene und eingeweihte Synodale hatten den Vorlagen schon in den vorhergehenden Ausschüssen zugestimmt. Auf sie vertrauend, stimmen viele zu. 1.2.5 Einem Laien und Theologen ist es in einer Synode außerordentlich schwierig, Vorlagen von (Verwaltungs-)Profis so zu kritisieren, dass man sich nicht selbst aus Unwissenheit der Lächerlichkeit oder Überheblichkeit preisgibt. 1.2.6 Interessenten (Verwaltung, LKA, KL) konnten so relativ einfach eigene Interessen durchsetzen, ohne dass die Synoden die Chance hatten, kritisch die Vorlagen zu reflektieren. 1.2.7 Die Vielzahl der Vorlagen kann von einem Synodalen in recht kurzer Zeit nicht verarbeitet werden: In der EKiR bekommen die Synodalen eine Woche vor Weihnachten ein Paket mit Tausenden Seiten zugesandt. Anderthalb Wochen nach Neujahr beginnt die Synode. In der Zwischenzeit liegen Weihnachten, Silvester, Neujahr, Weihnachtsferien, und im Landeskirchenamt und in der Verwaltung sind arbeitsfreie Zeiten: Informationen zu bekommen, ist sehr schwierig. 1.2.8 Im Rheinland (anders als in Württemberg mit den Gruppierungen »Bekennende Gemeinde«, »Offene Kirche« etc.) und in der EKD gibt es keine Vereinigungen, die durch ihre Grundinteressen bestimmte Vorlagen kritisch anschauen und relativ schnell gefährliche Knackpunkte herausfiltern könnten: Jeder Synodale ist alleine auf seine eigenen Kenntnisse und Sichtweisen angewiesen. 1.2.9 Synoden sind auch Treffen von Bekannten, Freunden, beruflich Abhängigen, Studienkollegen: Wer will da durch Kritik negativ auffallen und die gute Stimmung zerstören? 1.2.10 Wer traut sich, auf der Landessynode, gegen den Mehrheitsstrom, der sich auf die Richtigkeit der Vorlagen allzu gerne verlässt, anzukämpfen und evtl. alleine dazustehen? 1.2.11 Vorlagen dienen nicht immer dem Verständnis: Wenn eine Vorlage Verwirrung bei den Lesern stiftet, vermuten diese ihre eigene Inkompetenz und trauen sich nicht, gegen die Vorlage anzureden. 1.2.12 Vorlagen sind auf das Durchsetzen eines Beschlusses ausgerichtet: Kritische Aspekte zu dieser Beschlussfassung werden normalerweise nicht genannt. Eine »gute« Vorlage lässt den Beschluss als alternativlos erscheinen. 1.2.13 Die Verfasser von Vorlagen sind normalerweise ein ganz kleiner Kreis von Profis aus dem Fachgebiet und von Synodalen, die ebenfalls

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Profis sind oder besondere eigene Interessen haben und vertreten. Die Vorlagen von diesen Profis werden normalerweise relativ einfach oder nur mit kleineren Veränderungen von allen Gremien durchgewunken, weil niemand sich zutraut, der Fachmeinung der Profis zu widersprechen. So sind solche Vorlagen oft sehr interessengeleitet.

1.3 Früher: Entstehung des Synodensystems als Leitung Als das System der Leitung durch Synoden entstand, standen im Zentrum theologische und Glaubensauseinandersetzungen, bei denen sowohl Laien als auch Theologen kompetent mitsprechen konnten. Heute geht es weitgehend um rechtlich und für das Leben der Kirchen bedeutsame Verwaltungs- und Organisationsfragen.

2 Reform des Synodensystems durch u.a. Informationstechnologie 2.1 Zwang zu Vorlagen mit Erläuterung kritischer Punkte Die Gestaltung von Synodenvorlagen im Sinne von Werbebroschüren, für die Zustimmung zu bestimmten Projekten verfasst, muss grundsätzlich geändert werden. Mündige Synodale müssen einen Anspruch darauf haben, dass ihnen ausführliche Vorlagen auch mit kritischen Aspekten, Kosten und Risiken vorgelegt werden. So lange das nicht geschieht, ist ihre Entscheidungsfähigkeit eine Farce. Normalerweise ist niemand in der Lage, die monatelang von Experten ausgefeilten Vorlagen in kürzester Zeit substantiiert so überzeugend kritisch zu bewerten, dass er eine Synode überzeugen könnte.

2.2 Erstellung von Vorlagen auch durch kritisch eingestellte Personen Die heute übliche Erstellung von Vorlagen durch Ausschüsse und Arbeitsgruppen ist zu ergänzen durch eine kritische Bearbeitung durch zu dieser Vorlage kritisch eingestellte Personen. Nur wenn positive und negative Aspekte, Chancen und Risiken voll Engagement durch verschiedene Personen mit unterschiedlichen Interessen dargestellt werden, kann

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ein Synodaler in der Lage sein, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Einseitige Werbebroschüren verführen zu unreflektierter Zustimmung. Die Auswahl solcher kritischer Personen muss Aufgabe der Synodenleitung sein und darf keinesfalls dem die Vorlage erstellenden Ausschuss oder den »Experten« übertragen werden.

2.3 Frühzeitige Veröffentlichung von Vorlagen Vorlagen sollten mit ihren kritischen Anmerkungen in einem relativ frühen Entstehungsstadium erstmals veröffentlicht werden, damit andere Personen frühzeitig Anmerkungen dazu machen können. Bewusst soll damit auch Lobby- und Interessengruppen eine Einflussnahme mit ihren Interessen eröffnet werden: Nur wenn alle kritischen Aspekte möglichst frühzeitig bekannt sind, können die verantwortlichen Autoren alle Aspekte berücksichtigen und die Synodalen gut informiert ihr Urteil fällen.

2.4 Einladung an interessierte (kirchliche) Öffentlichkeit, sich an der Meinungsbildung zu beteiligen (geleitete IT-Foren) Durch Veröffentlichung der Vorlagen auf Internetplattformen (Kirchenkreisplattformen, ekir.de, ekd.de etc.) werden alle an der Kirche Interessierte eingeladen, sich an der Meinungsbildung zu beteiligen. Hier geht es besonders um bislang unberücksichtigte Aspekte. Die Breite des Wissens der Gemeindeglieder durch ihre beruflichen und privaten Erfahrungen sollte fruchtbar gemacht werden für Leitungsentscheidungen. (Wie zur Zeit der Reformation für die Interpretation der Bibel nicht mehr nur Theologen, sondern alle Gemeindeglieder mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen bewusst einbezogen werden sollten.) Dazu sollten auf den Plattformen geleitete Foren eingerichtet werden, die (ohne Zensur) aus eingegangenen Beiträgen neue Aspekte sammeln, sortieren, bündeln und aufbereiten und leicht lesbar veröffentlichen. Die mit dieser Aufgabe betrauten (externen) Personen dürfen im sonstigen Prozess der Information und Meinungsbildung zu dieser Thematik nicht eingebunden sein. Eine quantitative Bewertung (Zustimmung/Ablehnung) von Vorlagen kann derzeit nicht sinnvolle Aufgabe solcher Foren sein.

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2.5 Zusammenfassung: Nur Vorlagen mit Berücksichtigung und Veröffentlichung aller kritischen Aspekte dienen angemessen der Meinungsbildung der Synodalen Der Anspruch der Synodalen auf das Recht zu umfassender Information als Grundlage ihrer Meinungsbildung muss in Zukunft im Mittelpunkt von Synoden stehen. Ihre Abhängigkeit von interessengeleiteten Informationen durch Fachleute lässt sich durch die Möglichkeiten der Internetkommunikation leicht und mit geringen Kosten durchbrechen. Nur wenn Synodenmitglieder diese umfassende Information und Meinungsbildung einfordern, werden sie nicht weiter missbraucht zu leicht manipulierbaren Erfüllern der Interessen von Kirchenleitungen, Verwaltungen und anderer Interessengruppen. Kirchenmitglieder haben ein Recht darauf, dass ihre Vertreter auf diese Weise gut informiert Entscheidungen treffen können.

2. Theologische Anfragen

Eberhard L.J. Mechels

Der Reformprozess als Strategie der Integration von Christentum, Kirche und Gesellschaft Der Reformprozess als Strategie der Integration von Christentum, Kirche …

1 Christentumstheorie als Grundkonzeption Wenn wir fragen, welche theologische Konzeption das Reformprogramm der EKD bestimmt, woher die Gesamttendenz dieses Programms kommt, dann stoßen wir auf die Christentumstheorie. Ihr Einfluss auf Reformstrategien von Kirchenleitungen ist seit mindestens 25 Jahren zu beobachten.1 Auf sie bezieht sich »Kirche der Freiheit« ausdrücklich.2 Sie wird theologisch begründet mit Berufung auf die Reformation: »In der Reformationszeit vollzog sich eine positive Zuwendung zum Glauben des Einzelnen … Die Reformation führte – bei aller Kritik im Einzelnen – auch zu einer grundsätzlichen Würdigung der modernen Lebenswelt … Eine Evangelische Kirche der Freiheit … will … den Platz des Christentums in der Moderne in seiner dreifachen Gestalt stärken.«

1 Vgl. Christsein gestalten. Eine Studie zum Weg der Kirche, Gütersloh 1986. Person und Institution. Volkskirche auf dem Weg in die Zukunft. Arbeitsergebnisse und Empfehlungen der Perspektivkommission der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. 2. Aufl. Frankfurt 1992. Hier wird konstatiert: »Die dreifache Verfasstheit des Christentums in der Säkularität – seine individuelle, kirchliche und öffentliche Dimension – erfordert eine entsprechend mehrseitige Ausrichtung der kirchlichen Dienste. Gemeindebildung wird … neben dem parochialen Gemeindeaufbau auch die spezifischen funktionalen Dienste, die Gestaltung des individuellen Christseins und die Darstellung des öffentlichen Christentums im Blick haben müssen« (17). 2 Kirche der Freiheit, 44, mit Verweis auf D. Rössler.

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Die dreifache Gestalt des Christentums wird beschrieben 1. als das individuelle, 2. als das kirchliche und 3. als das öffentliche Christentum. Wenn wir die Christentumstheorie als das theologische Grundmodell des EKD-Impulspapiers bezeichnen, könnte der Einwand erhoben werden, dass nach Auskunft des Impulspapiers das Verständnis der Kirche als »Kirche für andere« theologisch leitend sei. Darauf habe man doch ausdrücklich hingewiesen. Damit berufen sich die Autoren auf Dietrich Bonhoeffers Kirchenbegriff. Aber bei dieser Berufung auf Bonhoeffers Begriff und Verständnis der Kirche als »Kirche für andere«3 handelt es sich offensichtlich um einen Etikettenschwindel, wie Heino Falcke stringent aufgezeigt hat.4 Das Impulspapier »Kirche der Freiheit« ist eher an der Stabilität und Selbsterhaltung der Großorganisation »Kirche« interessiert als am Dasein für andere. H. Falcke schreibt: »Kein Wort von Massenarbeitslosigkeit und den dramatischen sozialen Verwerfungen, von den neu aufwachsenden Bedrohungen des Weltfriedens, der spürbar werdenden Klimakatastrophe, der weltweiten Migration mit der Ausländerproblematik, dem Zusammenleben und den Konflikten der Religionen. Dies alles erscheint nur unter dem einen Aspekt, dass es Menschen beunruhigt und in ihnen die religiöse Frage ›nach Halt und Trost‹ weckt. Und so kommt diese bedrohliche gesellschaftliche Situation makabrerweise unter der Überschrift ›Die gesellschaftliche Situation ist günstig‹ zur Sprache.«5 Günstig, das versteht sich, für die Zukunftschancen der Kirche. Sie profitiert vom Elend der Menschen. Und sie schämt sich nicht. Das theologische Grundmodell des Impulspapiers ist nicht die Ekklesiologie der »Kirche für andere«, sondern die Christentumstheorie.6 Was bedeutet »Christentumstheorie«? Es handelt sich um eine theologische Konzeption, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allgemein wurde. Ihr Zentralbegriff ist »das Christentum« als eine gesellschaftlich-kulturelle Größe, die kritisch unterschieden wird von der In3 4 5 6

Kirche der Freiheit, 21. H. Falcke, in: Zeitzeichen 1/2007, 12ff. A.a.O., 13. Vgl. Kirche der Freiheit, 44.

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stitution Kirche und ihrer Dogmatik, in der die Kirche, so ist die Theorie, monopolartig und autoritär festlegen will, was Christen zu glauben haben. Das moderne, aufgeklärte Individuum ist aber emanzipiert, es lässt seine Freiheit, auch seine religiöse Freiheit nicht einschränken durch eine Organisation und ihre autoritären Vorgaben. Ausgangs- und Mittelpunkt der Theorie ist demnach die gesellschaftliche Verfassung des Christentums und die christliche Verfassung der modernen Gesellschaft. Ihre Orientierungsgröße ist »das Christentum« als neuzeitlich-emanzipatorischer Begriff, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allgemein wird und mit dem der positiven historischchristlichen Institution, der Kirche und ihrer Dogmatik, das Monopol streitig gemacht wird, allein zu bestimmen, was christliche Religion ist.7 Ihr zentrales Anliegen ist die Integration von christlicher Religion und Gesellschaft, d.h. der Aufweis der gesellschaftlichen Verfasstheit des Christentums bzw. der christlichen Verfasstheit der Gesellschaft. Es geht demnach nicht primär um »Integration« als Aufgabe oder Projekt, sondern um das Postulat der faktischen Integriertheit von Christentum und Gesellschaft. So ist oft die Rede von der »Christlichkeit unserer Gesellschaft«,8 vom außerkirchlichen »Christentum in unserer Gesellschaft«,9 von der »Welt des Christentums«10 als »christlicher Welt«11. So kann die Studie der Perspektivkommission der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau konstatieren: Wenn man unter Religion nicht nur ein gedankliches Erlebnis verstehe, sondern einen weiteren Religionsbegriff voraussetze, dann werde erkennbar, dass die christliche Religion unsere gesamte Lebenswelt durchdringe. »Der Umgang mit Geld, die Einstellung zur Arbeit, die Gestaltung der Sexualität, das Erleben von Kunst, die Feier von Festen und Lebenshöhepunkten, das politisch-soziale Engagement – all diese Handlungsfelder bewahren christliche Überlieferung.«12 Ebenso ist die Individualisierung als ein gesamtgesellschaftlicher Prozess

7 Vgl. T. Rendtorff, Art. Christentum, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in: Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, 772–814. 8 T. Rendtorff, Christentum außerhalb der Kirche. Konkretionen der Aufklärung, Hamburg 1966, 19.20.26.27.31.32.44. 9 Ders., ebd., 13. 10 Ders., ebd., 24. 11 Ders., ebd., 28. 12 Person und Institution. Volkskirche auf dem Weg in die Zukunft, 2. Aufl. Frankfurt 1992, 54.

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»eine späte Folge des Protestantismus selbst, für den Individualität (›der einzelne in seinem Gewissen vor Gott‹) eine leitende Kategorie der christlichen Theologie war«.13 Alle diese Beispiele zeigen das Bemühen, die gegenseitige Beeinflussung und Durchdringung von Christentum und heutiger Gesellschaft aufzuzeigen. Von da aus wird die Kirche als eine Gestalt des Christentums in die Gesellschaft integriert als das Besondere dieses Allgemeinen. In der Neuzeit habe sich ein neuzeitliches Christentum konstituiert, in deutlicher Selbstunterscheidung vom kirchlich verfassten Christentum, befördert vor allem durch die Renaissance und die deutsche Aufklärung. Die Neuzeit ist »in gleichem Maße aus spezifischen Einsichten und Argumenten des Christentums hervorgegangen, wie sie andererseits durch ihre Entfaltung das Christentum zutiefst beeinflusst hat«.14 Und darum sind die oben genannten drei Gestalten des Christentums in der Neuzeit zu unterscheiden: das öffentliche, das kirchliche und das private Christentum. Und innerhalb des kirchlichen Christentums ist wiederum die Gemeinde eine von sieben möglichen Wahrnehmungen von Kirchenmitgliedschaft.15 Aus dieser christentumstheoretischen Systematik wird bereits ersichtlich, was in den Reformprogrammen von EKD und Landeskirchenleitungen mit Händen zu greifen ist: die entschlossene Marginalisierung der Gemeinden. Um diese programmatische Entscheidung einzuordnen und um zu erkennen, worin der Unterschied dieses Programms zum theologischen Gemeindeverständnis der Reformation liegt, ist es hilfreich, das systemtheoretische Modell der Ebenendifferenzierung in den Blick zu nehmen.

13 A.a.O., 20f. 14 D. Rössler, Grundriß der praktischen Theologie, Berlin / New York 1986, 78. 15 Ders., ebd., 82.

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2 Soziologische Ebenendifferenzierung: Funktion. Leistung. Kommunikation Was ist seit Juli 2006 unter dem Titel »Kirche der Freiheit« als von oben verordnete Reformbewegung im Gange (die Freiheit der Gemeinden kann da nicht gemeint sein, wie die Erfahrung z.B. in der EKBO/ Wittstock-Dosse zeigt)? Was spielt sich da zwischen Kirche und Gesellschaft ab? Und was passiert zwischen der Organisation Kirche (EKD und Landeskirchen) und den Gemeinden? Im Horizont dieser Fragestellung sind drei Ebenen angesprochen: 1. die Ebene der Gesellschaft, 2. die Ebene der Organisation Kirche, 3. die Ebene der Gemeinden. In der theologischen Literatur kommen diese Ebenen durchweg selektiv zur Geltung: Man konzentriert sich auf die gesamtgesellschaftliche Ebene. So fragt die Religionssoziologie: Was hat Religion für die Gesellschaft zu bedeuten? Brauchen Gesellschaften für ihren Zusammenhalt Religion? Und wenn ja, warum? So fragt die Christentumstheorie nach dem Christentum in der Gesellschaft. Oder man konzentriert sich auf die organisatorische/institutionelle Ebene mit der Frage: Was bedeutet die Kirche, und wie stabil ist sie im Zusammenhang ihrer gesellschaftlichen Umwelt? So fragen z.B. auch die sog. Stabil-Studien seit 1973 nach der Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft. So fragt die Kirchensoziologie. So thematisiert W.-D. Marsch seine immer noch sehr lesenswerte Ekklesiologie.16 Oder man legt alles Augenmerk auf die gemeindliche Ebene z.B. mit der Frage: Wie können wir unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen Gemeinde aufbauen? Aber diese drei Ebenen in ihrem Zusammenspiel sind zumeist nicht im Blick. Die Diskussion läuft durchweg reduktiv und ebenenfixiert. Darum ist es hilfreich, wenn wir den gegenwärtigen Streit um die Kirche (ein Diskurs wäre besser) begreifen wollen, das soziologische Modell der Ebenendifferenzierung17 als theoretisches Raster zu nutzen. Diese Theorie unterscheidet die Systemebenen 1. der Gesamtgesellschaft, 2. der Organisation, 3. der Interaktion. 16 W.-D. Marsch, Institution im Übergang. Evangelische Kirche zwischen Tradition und Reform. Göttingen 1970. 17 Vgl. N. Luhmann, Interaktion, Organisation, Gesellschaft, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2, 9–20; ders., Funktion der Religion, 272–316; ders., Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen, 245–286.

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Gesellschaftssysteme versteht die Systemtheorie als Systeme des größten Komplexitätsgrades. Sie leisten als Gesamtsysteme »letzte fundierende Reduktionen«18 und begründen soziale Ordnung als Bereich reduzierter Weltkomplexität. Organisierte Sozialsysteme sind Systeme mittlerer Komplexität. Ihr Merkmal ist die Verknüpfung von Personen, Programmen und Strukturen.19 Einfache Sozialsysteme sind Systeme mit geringer Komplexität. Das sind Interaktionssysteme. Ihre Hauptmerkmale sind: 1. Anwesenheit, 2. wechselseitige Wahrnehmung, 3. sprachliche Thematisierung. »Geringe Komplexität« und »Einfachheit« besagt hier nicht, dass sie einfach sind im strikten Sinne des Wortes, nicht, dass hier Komplexität und Kompliziertheit fehlte. Sondern dass sie für alle Beteiligten erlebbar und überschaubar sind. Darum ist Anwesenheit hier ein wichtiges Kriterium. Große – mittlere – geringe Komplexität besagt keine Wertung, sondern bezieht sich auf den Umfang und die Zahl der Elemente eines Systems. Das alles klingt (wegen der theoretischen Abstraktheit) komplizierter, als es ist. Darum soll hier das Modell der drei Ebenen auf das uns interessierende Thema »Religion« und »Kirche« abgebildet werden. Für die Gesamtgesellschaft hat Religion, so sagen die Soziologen, eine integrierende, stabilisierende Funktion.20 Organisationen sind Teilsysteme, die für andere Teilsysteme in der Gesellschaft Leistungen erbringen. Die Organisation Kirche z.B. verwaltet für die Gesellschaft Religion, in erster Linie durch Seelsorge, durch Diakonie und durch die Passageriten (Amtshandlungen), die den Menschen

18 N. Luhmann, Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen, 246. 19 Die Kirche z.B. hat 1. Personal, sie hat 2. ein Programm, fixiert in ihren Bekenntnissen, sie hat 3. eine Struktur, in ihrem Aufbau, ihrer Hierarchie. 20 Diese wird inhaltlich verschieden bestimmt: als symbolische Integration durch sinnstiftende Einheitsformeln; als moralische Integration durch Normen und Werte, die für das Zusammenleben wichtig sind; als politische Integration, indem politische Herrschaft religiös legitimiert wird, z.B. im Gottesgnadentum; bei E. Durkheim sind es religiös formulierte Regeln, Normen und Gesetze, die in einer Gesellschaft gelten und die den Einzelnen in die Gesellschaft integrieren; bei M. Weber ist die Religion ein Akt der Sinngebung für soziales Handeln; bei N. Luhmann ist es die Transformation unbestimmter Komplexität in bestimmbare. Gott ist die »Kontingenzformel«, mittels derer die Gesellschaft, die ins Voraussetzungslose gebaut ist, ihre Kontingenz tragbar macht.

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helfen, Angst, Enttäuschungen oder Unsicherheit zu verarbeiten.21 R. Schloz beschreibt das kurz und bündig so: »Was den Bestand dieser Kirche gewährleistet, ist das Bedürfnis nach Begleitung, Vertiefung, Entlastung an den Zäsuren der Lebensgeschichte, die Verschränkung von kirchlichem Handeln, natürlicher Religion und bürgerlichen Lebensgewohnheiten.«22 K.-W. Dahm definierte die Leistung der Kirche so: Ihre zentralen Aufgaben sind 1. Darstellung und Deutung von Normen und Werten, 2. helfende Begleitung in Krisensituationen.23 Ein Interaktionssystem ist das, was Schleiermacher so beschreibt: Die Kirche braucht nichts anderes auf Erden »als eine Sprache, um sich zu verstehen, und einen Raum, um beieinander zu sein«.24 Das nennt er die »vollkommene Republik«, ein »priesterliches Volk«.25 Das ist für ihn Kirche, realisiert als herrschaftsfreie Versammlung und zweckfreie Kommunikation. Mit anderen Worten: Das ist Gemeinde als Versammlung von Menschen um Wort und Sakrament. Hier wird Teilhabe am Evangelium und Teilhabe am Sakrament realisiert. Zusammenfassend sind die drei Ebenen so zu beschreiben: Religion als Gesellschaftssystem hat eine Funktion. Der Sinn von Kirche als Organisation ist das Erbringen von Leistungen (z.B. Amtshandlungen als religiöse Dienstleistungen). Der Sinn von Gemeinde ist Realisation (der Teilhabe an Jesus Christus, am Wort Gottes, am Sakrament, aneinander).

21 Angst, die dadurch entsteht, dass etwas eintritt, was man nicht erwartet hat, z.B. Krankheit oder Krieg; Enttäuschung, die dadurch entsteht, dass etwas nicht eintritt, was man erwartet hat, z.B. Treue des Ehepartners; Unsicherheit, die dadurch entsteht, dass man nicht weiß, was man erwarten soll oder darf, z.B. bei der Passage aus dem Nichtsein ins Dasein, aus der Kindheit ins Erwachsenendasein, aus dem SingleDasein in den Ehestand, aus dem Leben ins Nicht-mehr-da-Sein. 22 R. Schloz, Erneuerung der alten Kirche – Reform oder Restauration? In: Erneuerung der Kirche, Gelnhausen/Berlin 1975, 29. 23 Vgl. K.-W. Dahm, Verbundenheit mit der Volkskirche: Verschiedenartige Motive – Eindeutige Konsequenzen? In: Erneuerung der Kirche, Gelnhausen/Berlin 1975, 113ff. 24 F. Schleiermacher, Über die Religion, zit. nach: Phil Bibl. Bd. 255, Hamburg 1958, 121. 25 A.a.O., 102.

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3 Die Reform- und Umbaustrategie der EKD In der Programmatik der EKD konzentriert sich alles auf die eingangs beschriebene erste, die gesamtgesellschaftliche, und die zweite, die Organisations-Ebene. Dieser Prozess der funktionalen Selbstintegration des Protestantismus in die Gesellschaft bzw. den Staat, in dem Protestantismus und Staat bzw. Gesellschaft sich gegenseitig beeinflussen und durchdringen, hat eine lange Geschichte. Sie beginnt spätestens mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555, tut einen wichtigen Schritt mit dem Westfälischen Frieden 1648. Und in der neueren Zeit ist die Konferenz in Treysa im August 1945 eine wichtige Weichenstellung. Die Absicht, nach 1945 den Abschied der Bekennenden Kirche von der gesamtgesellschaftlich-funktionalen Selbstintegration, von der gesellschaftlichen Verflechtung und der Abhängigkeit der Kirche vom Staat durchzuhalten und unter den Bedingungen der Nachkriegszeit fortzuschreiben, scheiterte bereits im August 1945. Dieser Abschied hätte tief greifende Veränderungen in Bezug auf die organisatorische Struktur der Kirche zur Folge gehabt. So verfolgte ein großer Teil derer, die in der Bekennenden Kirche eine zentrale Rolle spielten, das Ziel einer Neukonstituierung der Kirche als »Gemeindekirche« und einer konsequenten Abkehr von der »Behördenkirche«. M. Niemöller sagte: »Wir wollen eine Kirche aus lebendigen Gemeinden, und dass die Kirche Gemeinde ist, soll auch in ihrem Aufbau und in ihrer Organisation zum Ausdruck kommen.«26 Soziologisch umformuliert hieß das: Die Evangelische Kirche sollte sich nicht von der gesamtgesellschaftlichen Funktionsebene her begreifen, d.h., sie sollte den Sinn ihres Daseins nicht in dem sehen, was sie zur Stabilität der Gesellschaft beitragen kann und wofür sie sich gesamtgesellschaftliche Anerkennung verspricht; sie sollte sich auch nicht von der mittleren, der organisatorischen Leistungsebene (der religiösen Dienstleistung) her begreifen. Sie sollte vielmehr alles, was sie hat: ihr Geld, ihre Gebäude, die sich für sie engagierenden Menschen, den Reichtum ihrer Glaubensüberlieferung, also das ganze Potenzial ihrer infrastrukturellen, personellen, materiellen und theologischen Ressourcen auf die »untere« Realisations26 Zit. nach F.W. Kantzenbach, Christentum in der Gesellschaft. Grundlinien der Kirchengeschichte, Bd. 2, Reformation und Neuzeit, Hamburg 1976, 413.

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ebene einfacher Interaktion konzentrieren. Von der Teilhabe der in der Versammlung der Gemeinde anwesenden Menschen an Wort und Sakrament her sollte sich die Kirche als Gemeinde aufbauen. Ein Interview mit Hermann Diem im Radio Stuttgart am 14.02.1946 zeigt die Richtung sehr deutlich an.27 Angesprochen auf das »wohlwollende Interesse«, das die Öffentlichkeit der Kirche entgegenbringt, sagt Diem: »Die Bekennende Kirche hat nach zwei Fronten gekämpft, einmal gegen den Einbruch der nationalsozialistischen Fremdherrschaft in die Kirche, zugleich aber, was in der Öffentlichkeit weniger bekannt war, gegen die alte Behördenkirche … Als … nach der Revolution von 1918 der Kirche die Möglichkeit gegeben war, … nahm sie diese Gelegenheit nicht wahr … und so blieb damals in der Kirche alles beim Alten: In der innerkirchlichen Ordnung herrschte nach wie vor die auf staatliche Privilegien gestützte kirchliche Bürokratie, die jede geistige und geistliche Selbstbesinnung der Kirche verhinderte. Finanziell lebte die Kirche von den Staatsbeiträgen und in völlig unevangelischer Weise von der Zwangsbesteuerung mithilfe des Gerichtsvollziehers.« Im Kirchenkampf fand in Bezug auf diese Fragen eine Neuorientierung der Kirche statt. »Man konnte nicht die Einführung des Führerprinzips in die Kirche durch den nationalsozialistischen Reichsbischof als Angriff auf die Lehre und Ordnung der Kirche bezeichnen – und zugleich die Kirche weiterhin durch eine Bürokratie regieren, die sich in ihrem formalen Recht durch das Evangelium genauso wenig anfechten ließ wie die Nationalsozialisten mit ihrem Machtstreben.« Auf der Kirchenkonferenz in Treysa gelang es zum ersten Mal, die Vertreter der Bekennenden Kirche und der Kirchen, die bei den staatlichen Konsistorien geblieben waren, unter einer Leitung zu vereinigen. »Kirchenpolitisch betrachtet hat die Bekennende Kirche in diesem Bündnis wenig Aussichten. Die Restauration der alten Kirche, die … an den Zustand vor 1933 anknüpfen will, hat für sich den Vorteil des leichteren Weges, auf dem nichts gewagt werden muß und der den meisten Gemeindegliedern sehr einleuchten wird … da heute die Kirche vonseiten des Staates in keiner Weise in Frage gestellt oder an der Erfüllung ihrer Aufgaben gehindert wird, wäre die Gelegenheit für die Kirche denkbar günstig, sich aus bestimmten Bindungen zu lösen, die ihrem 27 H. Diem, Ja oder Nein. 50 Jahre Theologie in Kirche und Staat. Stuttgart/Berlin 1974, 161ff.

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Wesen nicht entsprechen … Sie müsste jetzt freiwillig das tun, wozu sie durch den nationalsozialistischen Terror gezwungen wurde, nämlich in eigener geistlicher Vollmacht, die das Wort Gottes ihr gibt, sich selbst regieren und eine Ordnung geben, die nicht von der staatlichen Anerkennung lebt. Sie müsste jetzt auf das staatliche Steuerrecht und den Gerichtsvollzieher verzichten und sich auf die finanzielle Beisteuer ihrer Glieder als ein freies Opfer des Glaubens verlassen …« In diesem Sinne hat sich Bonhoeffer auch oft geäußert. Dass die Kirche durch den Verzicht auf öffentlich-rechtliche Positionen Gefahr läuft, gesellschaftlich marginalisiert zu werden, dass sie ins Abseits einer Sekte oder eines privaten Frömmigkeitsvereins gedrängt wird, ist nicht zu befürchten. »Denn ob die Kirche eine Sekte wird, hängt weder von ihrer Größe ab noch von den ihr vom Staat verliehenen Rechten, sondern ob sie damit Ernst macht, dass Christus der Herr der ganzen Welt ist.« Tatsächlich kam es zur Restauration der alten Kirche, des »Bundes Evangelischer Kirchen«. Zwar versteht sich die EKiD laut Grundordnung vom 13. Juli 1948 »als bekennende Kirche«, die sich verpflichtet weiß, »die Erkenntnisse des Kirchenkampfes über Wesen, Auftrag und Ordnung der Kirche zur Auswirkung zu bringen«28. De facto aber ging die EKiD den Weg der funktionalen Selbstintegration in die Gesellschaft. Die Berufung auf die Bekennende Kirche steht im Briefkopf, im Text steht anderes. Der gesamtgesellschaftliche Erwartungsdruck an die Kirche ging in die Richtung einer gesellschaftsintegrierenden Sinnformel, einer das Vakuum der gesellschaftlichen Identitätslosigkeit nach der politischen Katastrophe ausfüllenden identitätsstiftenden Wertgrundlage. Sie ersparte damit zugleich der Öffentlichkeit die notwendige Trauerarbeit und machte Buße überflüssig. Auf dieser Linie bewegt sich die Reform- und Umgestaltungspolitik der »Kirche der Freiheit«. Das theologische Verständnis der Kirche als Gemeinde wird in »Kirche der Freiheit« von einem zentralistischen Kirchenverständnis abgelöst. Es ist nicht zu übersehen, dass im Impulspapier »Kirche der Freiheit« die Tendenz vorherrscht, die Dachorganisation EKD als die eigentliche, zentrale und originäre Gestalt von Evangelischer Kirche zu verstehen. So 28 Merzyn, Das Verfassungsrecht der EKiD, Bd. 1, Grundbestimmungen, Art. 1.

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wird geradezu im Gegensatz zu den Ergebnissen der angeführten Mitgliedschaftsuntersuchungen behauptet: »Mehr als die Hälfte der Kirchenmitglieder ordnet sich, wie die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen seit 1972 kontinuierlich belegen, weder einer bestimmten Gemeinde noch einem bestimmten kirchlichen Angebot zu.29 Sie suchen vielmehr geistliche Zugehörigkeit in der evangelischen Kirche als solcher; sie wollen nicht zuerst Gemeindeglieder oder Landeskirchenkinder sein, sondern evangelische Christen.«30 Gemeint ist hier offensichtlich: 1. Sie wollen Christen in der »Kirche als solcher« sein, und 2.: Die »Kirche als solche« – das ist die EKD. Die originäre, die eigentliche Gestalt von Evangelischer Kirche ist die EKD. Dies wird ein bisschen verschämt und verklausuliert eingeführt, aber die »Veränderungsrichtung«, mit den Worten von Karl Barth: die »Richtung und Linie«,31 die Gesamttendenz ist klar erkennbar. Man reduziere den folgenden Satz auf seine wesentlichen Elemente, dann ist der Beleg vor Augen: »Erst der Verbund mit der ganzen evangelischen Kirche macht auch die Veranstaltungen der einzelnen Gemeinden zu Angeboten der evangelischen Kirche insgesamt.« D.h.: »Die Kirche« ist die EKD, und die macht in ihren Filialen auf dem Land »Veranstaltungen«. Es geht um die Konzentration auf die Ebene der Organisation. Auf die Risiken und Gefahren zunehmender formaler Organisation des Christentums hat der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann bereits 1978 29 Wer in die Mitgliedschaftsuntersuchungen hineinschaut, wird schnell feststellen, dass das Gegenteil zutrifft: Die »Kirche im Kopf der Leute« (K.-W. Dahm) ist die Gemeinde am Ort. So resümiert Rüdiger Schloz 1975 aufgrund der ersten Mitgliedschaftserhebung, dass der Bestand der Kirche auf drei Säulen ruht: 1. auf den Amtshandlungen (Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung), 2. auf der Begleitung in Krisensituationen und 3. der »überraschend großen Rolle, die der Pfarrer für das Kirchenverhältnis spielt«, was ganz folgerichtig ist, denn sie, die Pfarrerin, und er, der Pfarrer, sind es ja, die die Amtshandlungen vollziehen, die Seelsorge praktizieren. Schon der Kirchenkreis, mehr noch die Landeskirche, erst recht die EKD sind aus der Sicht der »Kirche im Kopf der Leute« ziemlich weit weg. EKD ist aus dieser Perspektive ähnlich fern von der alltäglichen Lebenswelt wie »Staat«. Und das hat sich seit 1972 im Grundsatz nicht geändert. Die fünf Mitgliedschaftserhebungen haben den Befund demoskopisch erhoben, die »Kirche der Freiheit« dekretiert einen anderen Befund. Das ist ein ziemlich zentralistisches Verfahren und nicht sehr seriös. Ein Interesse muss zu dieser »Wahrheit« geführt haben. Sie dient zum Zwecke der Selbstlegitimierung, zur Untermauerung der angestrebten und offen propagierten Änderung der Bedeutung der Ebenen. 30 Kirche der Freiheit, 38. 31 Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, in: ThSt (B) 20, 1946.

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hingewiesen,32 seine Analysen sind heute erst recht aktuell, und es ist gewiss nicht förderlich, auf die Stimme eines so klugen Mahners nicht zu hören. Seine These ist: »In dem Maße, als die Kirchenverwaltung zum Strukturmerkmal der – empirischen – Kirche geworden ist und zunehmend an Dominanz gewinnt, verändern sich … die Zukunftschancen des Christentums oder die Wirkungschancen des Glaubens erheblich«, und zwar nicht zum Positiven.33 Es ist die »amtskirchliche Organisation«, »welche heute in zunehmendem Maße nicht mehr nur das Steuerungszentrum, sondern der eigentliche gesellschaftliche Träger des Christentums zu werden droht«. Es ist diese konsistorial-bürokratische Traditionslinie des Protestantismus, die in der »Kirche der Freiheit« von Neuem auflebt und variiert wird. Es ist die Dominanz der abstrakten Kirche als eines organisatorischen Daches über dem Pluralismus einer Vielzahl beliebiger Inhalte. Die abstrakte Kirche vernachlässigt die konkrete Kirche. Die Interaktionsebene der oben beschriebenen »einfachen« Systeme wird vernachlässigt, wird als randständig verortet. Die Gemeinde gerät konzeptionell und programmatisch ins Abseits. Die vielen abschätzigen Wertungen, die in »Kirche der Freiheit« immer wieder auftauchen ebenso wie in der hessischen Studie, sind nicht in erster Linie Resultat von Beobachtungen. Sie sind Ausdruck einer konsistorialen und bürokratischen Sicht aus dem zweiten und dritten Stockwerk der Kirchenbehörde durch eine verzerrende Brille. Diese Sicht verkleinert nicht nur, sie verzerrt auch die Realität der Gemeindewirklichkeit.

32 F.-X. Kaufmann, Kirche begreifen. Analysen und Thesen zur gesellschaftlichen Verfassung des Christentums, Freiburg/Basel/Wien 1979. 33 A.a.O., 11.

IV. Umkehr ist nötig

Holger Forssman

Evangelium hören

Einführung In Erlangen hatte sich im Jahre 1999 um den Sozialethik-Lehrstuhl der theologischen Fakultät (Prof. Dr. Hans G. Ulrich) ein Initiativkreis »Kirche in der Wettbewerbsgesellschaft« gebildet. Auslöser war die Diskussion um die marktwirtschaftliche Beratung der Kirche durch die Beratungsfirma McKinsey im evangelischen Dekanat München. Der Initiativkreis brachte als Beitrag zum Gespräch ein theologisches Manifest »Wider die Ökonomisierung der Kirche und die Praxisferne der Kirchenorganisation« (Untertitel) heraus, das bis 2001 in vier Auflagen erschien.1 Der Titel »Evangelium Hören« stand für das Kernanliegen des Rufes: die Besinnung auf die reformatorische Lehre über die Kirche. Angeregt und abgefasst hat den Ruf in Absprache mit den anderen Mitgliedern des Initiativkreises Dr. habil. Bernd Wannenwetsch, damals Privatdozent am Lehrstuhl. Der theologische Ruf traf, ebenso wie der praxisbezogene zweite Teil »Alles ist nichts. Evangelium hören II«2, auf weites Interesse (bis hin zu einem Bericht in der Tagesschau über die »Kirchenrebellen« in Bayern) und wurde auf zahlreichen Pfarrkonventen und kirchlichen Podiumsveranstaltungen engagiert und mit den Vertretern des Münchner Programms kontrovers diskutiert. Enttäuschenderweise hat sich die Kirchenleitung in diesen Diskussionen auf einen Beobachtungspunkt zurückgezogen, ohne jemals zu der in unserem Ruf angesprochenen Frage Stellung zu beziehen. Passt die marktwirtschaftliche Idee und ihre Vor1 Nürnberg 1999, Selbstverlag, vergriffen. 2 Nürnberg 2000, Selbstverlag, vergriffen. Beide Texte finden sich jetzt auf der Homepage des Gemeindebundes Bayern »Aufbruch Gemeinde« und sind unter folgendem Link zu öffnen: http://www.aufbruchgemeinde.de/themen/reformprozesse.htm. Dort unter »Rückblick«.

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gehensweise zu dem, was für uns »Kirche« heißt? Aber die marktwirtschaftliche Denkweise war zu dieser Zeit nicht wirklich hinterfragbar, sondern galt als schlüssige Wahrheit. Marktwirtschaft ist weiterhin eine Grundidee in unserer Gesellschaft. Das Prinzip von Angebot und Nachfrage gilt als schlüssig. Bietet die Evangelische Kirche eine Alternative dazu an? Diese Frage bleibt bestehen. Wenn die Organisationsebene – und die Kirchengemeinden vor Ort – auf dem »Markt« ihre »Ware« anbieten, wird es nicht mehr um die Wahrheit gehen, sondern um den Erfolg. Dass das ein Widerspruch ist, gehört auch heute noch laut ausgesprochen.

»Evangelium hören« Wider die Ökonomisierung der Kirche und die Praxisferne der Kirchenorganisation Ein theologischer Ruf zur Erneuerung aus der Ev.-Luth. Kirche in Bayern im Jahr 19991 (Kurzfassung)

»Ecclesia semper reformanda«: Die Kirche bedarf immer wieder der Erneuerung. Die Reformansätze unserer Zeit greifen hierzu insbesondere auf marktwirtschaftliche Impulse zurück. Aber lassen sich unternehmerisches Denken und Management-Konzepte ohne Weiteres auf die Kirche anwenden? Was in München (angestoßen von der Unternehmensberatung McKinsey) als Experiment begonnen hat, ist unversehens zum Modell für zahlreiche Nachahmer geworden. Dabei hat die theologische Diskussion, die eigentlich am Anfang stehen müsste, bevor konkrete Planungen erfolgen, noch gar nicht richtig angefangen. Eine Reihe von Fragen steht zur Diskussion an: Was wird aus der Kirche, wenn sie sich mehr und mehr als Unternehmen versteht? Was wird aus der Kirchenleitung, wenn sie sich mehr und mehr als Management begreift? Was wird aus den Gliedern der Kirche, wenn sie entweder zu »Mitarbeitern« kirchlicher Profis oder zur »Zielgruppe« kirchlichen Handelns werden? Und was wird aus dem Evangelium, wenn in der Kirche die Sprache des Wettbewerbs, der Leistung und des Erfolgs gesprochen wird? Diese Fragen, die in den Gemeinden immer lauter werden, hat ein Initiativkreis »Kirche in der Wettbewerbsgesellschaft« aufgegriffen. In sechs 1 Der Text ist auf der Home-Page des Gemeindebundes Bayern »Aufbruch Gemeinde« zu finden und unter folgendem Link zu öffnen: http://www.aufbruchgemeinde.de/themen/reformprozesse.htm. Dort unter »Rückblick«: »Evangelium hören« I. Der »Ruf zur Erneuerung« beginnt mit der Langfassung, 1–28. Die hier abgedruckte Kurzfassung schließt sich an den ausführlichen ersten Text an und umfasst die Seiten 29–34 (1–5).

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Punkten legen wir ein theologisches Wort »Wider die Ökonomisierung der Kirche« vor. Unter dem Motto »Evangelium hören« verweisen wir auf die Alternative, wie kirchliche Erneuerung geschehen sollte: vom Hören auf das Evangelium her und nicht durch Anpassung an herrschende Strukturen wie die der kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft. Wer mit einer strafferen Organisation der Kirche ihre Zukunft sichern will, wer meint, das Evangelium ließe sich nach Effektivitätskriterien vermitteln, und wem das Image der Kirche in der Öffentlichkeit zum Maßstab des Handelns wird, der unterwirft die Kirche einem fremden Gesetz. Denn die angemessene Gestalt und Struktur der Kirche lassen sich nur erkennen, wenn wir zuerst und immer wieder neu fragen, was das Evangelium für unsere Zeit sagt: Wie sieht eine Kirche aus, die aus dem Evangelium und demzufolge aus dem Hören und Empfangen lebt? Wenn wir im Folgenden theologische Einsichten formulieren, die unseres Erachtens für eine Erneuerung der Kirche ausschlaggebend sind, dann geschieht dies nicht, um die gegenwärtigen Reformbemühungen zu disqualifizieren oder das Bestehende dagegen zu verteidigen. Vielmehr geht es uns darum, das Nachdenken über die Kirche und ihre Strukturen an den Punkt zu führen, von dem die Erneuerung ihren Ausgang nimmt. 1. In der Kirche leben und handeln, heißt hören lernen. Die Kirche ist nach reformatorischer Lehre ein »Geschöpf« des Evangeliums. Wo eine Gemeinschaft im Hören auf das Evangelium und im Empfang der Sakramente versammelt ist, da ist Kirche (CA VII). Alle anderen Aufgaben der Kirche, wie etwa Verwaltung, Organisation, Personalführung oder Fortbildung, haben Teil an der Wahrnehmung des einen Amtes: Das Evangelium von Jesus Christus zu hören und zu verkündigen. Darum müssen diese Aufgaben zuerst und vor allem theologisch bedacht und ausgerichtet werden. Als Hörende ist die Kirche nicht »Anbieterin« des Evangeliums. Als lebendiges Wort lässt sich das Evangelium nicht zur Ware machen. Die Kirche erweist ihre Lebendigkeit nicht durch die Erhebung und Befriedigung von Bedürfnissen und auch nicht durch die Anpassung ihrer »Angebote« an die Wünsche ihrer »Kunden«. Nicht selbstmächtige Zielsetzungen und Strategien ihrer Verwirklichung garantieren die »Kirchenentwicklung«; vielmehr ist es die gemeinsame Wahrnehmung ihres einen Amtes, durch die die Kirche erneuert wird.

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2. Die Praxis einer hörenden und lernenden Kirche ist radikal kommunikativ. Die Kirche wird aus dem Hören und Empfangen erneuert. Ihre Glieder sind durch die eine Taufe einander gleichrangig. Das sagt der reformatorische Grundsatz vom »Priestertum aller Gläubigen«. Die Kirche wird darum in konziliarer Weise leben und unterwegs sein, als »wanderndes Gottesvolk« – immer auf der Suche nach dem gegenwärtig rechten Verstehen des Evangeliums und nach den Folgerungen dieses Verstehens für die Gestalt der Kirche, ihr Handeln und ihr Auftreten. Die Unterscheidung in »Anbieter« und »Kunden« und also Habende und Nichthabende entspricht nicht dem evangelischen Verständnis der Kirche: Das Evangelium ist immer Geschenk an die Kirche, niemals ihr Besitz, der sich verwalten, verkaufen, vermarkten oder »ausstrahlen« ließe. Der Versuch, einen »Markt« für etwas aufzubauen, was gar nicht im Besitz der Kirche ist, muss ins Leere laufen. Wenn unternehmerische Strategien der Kirchenentwicklung von elitären Steuerungsgruppen aus der Feldherrnhügelperspektive entworfen und »nach unten« vermittelt werden: Kehrt so nicht unter der Hand ein konsistoriales Prinzip in die Kirche zurück, das sich von der Praxis des allgemeinen Priestertums entfernt? 3. Das Amt der Kirche ist es, in ihrer Verkündigung, ihrer Lebensform, Praxis und Struktur aus dem Evangelium zu leben. Es gibt nach reformatorischer Lehre nur ein Amt in der Kirche, nämlich das »Verkündigungsamt« (CA V). Alle anderen Dienste und Gaben haben daran Teil, sind also prinzipiell gleichgeordnet und nicht über- und untergeordnet. Leitungsaufgaben bestehen vor allem darin, die verschiedenen Charismen der Glieder zu erkennen und achtsam zu begleiten. Der biblische Leitungsbegriff der episkope (Darauf-Schauen) sollte dazu neu entdeckt werden und zu einer neuen Praxis anleiten. Auch die Verwaltung ist ein wichtiger Dienst, der bestimmte Charismen erfordert und seinen Beitrag leistet, dass die Kirche im Hören und Lernen immer wieder neu lebendig wird. Dienste wie diese dürfen nicht verselbstständigt und nach fremden Gesetzmäßigkeiten, beispielsweise denen des Managements, umgestaltet werden. Die Einbindung administrativer Tätigkeiten in das Verkündigungsamt wehrt ihrer Anonymisierung und Bürokratisierung und damit ihrer Praxisferne.

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Die berechtigte Kritik an Verkrustungen einer beamtenmäßig organisierten Institution darf nicht dazu führen, dass die Beamtenhierarchie gegen eine Unternehmenshierarchie ausgetauscht wird. Die sich ausbreitende »Mitarbeiter«-Rhetorik, die inzwischen auf allen kirchlichen Ebenen zwischen »Mitarbeiter/in« und »Führungskraft« unterscheiden möchte, ist in der Kirche der Reformation fehl am Platz. »Mitarbeiter« (synergoi) im biblischen Sinne (z.B. 1 Thess 3,2) sein, heißt im Unterschied zum heutigen Sprachgebrauch: Mitarbeiter Gottes sein. Arbeits- und Machtverhältnisse in der Kirche sind von daher zu gestalten. Betriebswirtschaftliche Vorstellungen von Leitung und Personalführung nach dem Muster von Effektivitätskontrolle, Leistungsüberprüfung und Planerfüllung passen nicht zum Wesen und Auftrag der Kirche. Denn die Aufgabe der Kirche, in all ihren Lebensbereichen aus dem Evangelium zu leben, lässt sich nicht wie ein Projekt gestalten und einer Ergebniskontrolle unterziehen. 4. Das strukturbildende Paradigma einer hörenden und lernenden Kirche ist die Gemeinde. Die Kirche entsteht dort, wo das Evangelium Menschen zusammenführt, anspricht und verändert. Der Gottesdienst ist darum auch keine »Veranstaltung« und kein »Angebot« der Kirche, sondern ihr Ursprungsgeschehen, ohne das sie nicht besteht. Darum ist die Kirche nicht ohne ihre im Hören und Lernen versammelten Gemeinden zu denken; sie besteht aus Gemeinden, so wie ein Mensch leiblich existiert und nicht etwa nur einen Körper »hat«. Es ist darum ein theologischer Irrweg, wenn in den Programmen zur »Kirchenentwicklung« die Kirche als eigene Größe gegenüber den Gemeinden gedacht wird und diese gewissermaßen von außen »entwickelt« werden sollen. So verschließt sich die Kirche vor der Quelle ihrer eigenen geistlichen Erneuerung und setzt ihre Hoffnung auf Steuerungsinstrumente von außen. 5. Missionarische Kirche sein, heißt, Menschen an der Freiheit des Evangeliums teilhaben zu lassen und den herrschenden Mechanismen und Denkgewohnheiten zu widerstehen. Dass die Kirche ihre spezifische Lebensform im Hören und Lernen hat, verleiht gerade ihrer Außenwirkung Profil: Erkennbar wird sie am evangeliumsgemäßen Wort und Handeln zur rechten Zeit. Für eine »evangelische« Kirche sollte es hierzu keine Alternative geben. Wer eine Erneuerung

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der Kirche will, muss auf die einzige wirklich erneuernde Kraft setzen: die Befreiungsmacht des Evangeliums. So hängt die Erneuerung der Kirche an der auf dem Weg gemeinsamer Prüfung (Röm 12, 2) gewonnenen Beantwortung der Frage: Welche Form gewinnt das christliche Leben heute, wenn es in der Freiheit des Evangeliums gelebt wird? Eine Kirche, die ihre Erneuerung nicht primär vom Evangelium her sucht, vermag auch keine »offene Kirche« zu sein. Sie bleibt den Menschen verschlossen, weil sie ihnen das Eigentliche schuldig bleibt. Sie präsentiert sich als angepasst und unfrei, weil sie den herrschenden Denkgewohnheiten ihrer Zeit verfallen muss. In einer Wettbewerbsgesellschaft ist das der Zwang, sich als attraktiv und relevant, als stark und durchsetzungsfähig darzustellen. Gott aber hat verheißen, dass seine Kraft »in den Schwachen mächtig« (2 Kor 12,9) ist. 6. Innerhalb ihrer einzelnen Aufgaben und Praxisfelder hat die Kirche zu erkunden, was das Evangelium heute sagt. Die Strukturbildung der Kirche folgt nicht einer eigengesetzlichen »Strukturentwicklung«, sondern der aufmerksamen Wahrnehmung ihrer Aufgaben. Darum sollte das konzeptionelle und praktische Bemühen auf die konkreten Aufgaben gerichtet werden, die es heute vom Evangelium her neu zu erkunden gilt, anstatt die Energien in organisatorischen Planspielen aufzubrauchen. Auf diese Tagesordnung von Aufgaben und Fragen gehören: Gottesdienst: Wie können die Gottesdienste neu zum Lebenszentrum der Gemeinden und der Kirche insgesamt werden? Taufe/Konfirmation/Kirchengliedschaft: Welche Folgen ergeben sich aus der in der Taufe begründeten Gliedschaft am Leib Christi für die Zugehörigkeit zur Kirche? Katechese/Religionsunterricht: Wie lässt sich das Hören auf das Evangelium in den konkreten Bildungsformen katechetischen und religionspädagogischen Wirkens zur Geltung bringen? Haushaltung: Welche Art von Haushaltsführung (Kirchensteuer, Geldanlage, Mittelverteilung, Personalplanung) ist einer aus dem Evangelium lebenden Kirche angemessen? Diakonie: Wie kann das diakonische Handeln aus dem Bannkreis ökonomischen Konkurrenzdenkens befreit werden und neu als Angelegenheit der Gemeinden in den Blick kommen?

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Gesellschaftliche Verantwortung: Wo ist die Christengemeinde aufgerufen, mitzudenken und politisch tätig zu werden? Die Wahrnehmung dieser Fragen und Aufgaben wird für die Kirche und ihre Struktur nicht folgenlos bleiben. So wird die Hoffnung auf Erneuerung genährt, die Gott schenkt.

Wormser Wort Nein zum bisherigen Umbauprozess der Kirche durch die EKD1

Im Umfeld des 73. Deutschen Pfarrertages in Worms im Herbst 2014 unter dem Motto »Manchmal musst Du Nein sagen können« traf sich der Verein Wort-Meldungen e.V. und verfasste zur aktuellen kirchlichen Lage das Wormser Wort.

1 Der Reformprozess ist ein Um- und Abbauprozess »Kirche der Freiheit« wurde 2006 von der EKD als Reformprogramm eingeführt. Tatsächlich handelt es sich um einen tief greifenden Umbau: Die Evangelischen Kirchen werden hierarchisiert, zentralisiert, bürokratisiert, ökonomisiert. Sie verlieren ihren Kern. Die Flut der seitdem gleichzeitig in Gang gesetzten »Jahrhundertprojekte« Doppik/NKF, Fusionen auf allen Ebenen, Kompetenzverlagerungen von der Basis auf die Mittlere Ebene und der Zentralisierung führte zu einer bis dahin unbekannten Selbstbeschäftigung. Viel zu wenig Zeit bleibt für den eigentlichen Auftrag: die Kommunikation des Evangeliums.

2 Scheitern ist vorprogrammiert Auch aus Managementsicht sind die Umbauprozesse höchst fragwürdig. Sie basieren auf einer fragwürdigen Strategie des Gesundschrumpfens (Downsizing). Die wiederum auf einer simplifizierenden Annahme beruht: Bis 2030 schrumpfe die Zahl der Kirchenmitglieder um 30 Prozent, die Finanzen würden sich im selben Zeitraum gar halbieren. Die Fakten 1 Abgedruckt im Newsletter Wort-Meldungen: http://wort-meldungen.de/?s= Wormser+Wort.

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sprechen dagegen: Es gibt keine direkte Korrelation zwischen Mitgliederzahlen und Kirchensteueraufkommen. Die Kirchensteuereinnahmen sind langfristig gesehen bisher konstant oder sogar steigend. Aufgrund der von Langzeitprognosen abgeleiteten falschen Strategie musste der Umbauprozess zwangsläufig in die Irre laufen. Selbst die Versprechen ökonomischer Effizienz können nicht eingehalten werden: Die Ausgaben für die genannten Maßnahmen sind immens, die Wirkungen äußerst bescheiden. Die Kosten-Nutzen-Relation des Umbauprozesses ist negativ.

3 Die Mitarbeitenden werden demotiviert Motiviertes Personal war ein entscheidendes Potenzial der Kirche. Der Umbauprozess von »Kirche der Freiheit« leitet den Personalabbau ein, der namentlich im Bereich von Gemeindepädagogen und PfarrerInnen schon heute, vor der Pensionierungswelle der geburtenstarken Jahrgänge, seine Wirkungen zeigt. Die Personalführung ist bedenklich: Übliche Grundsätze wie der, wonach Arbeitsaufträge so zu gestalten sind, dass sie den Mitarbeitenden erfolgreiches Arbeiten ermöglichen, werden sträflich verletzt. Die Eigenverantwortung der Mitarbeitenden wurde beschnitten, die Selbstregulierungskräfte gelähmt. Demotivation und Frust waren vorprogrammiert. Qualität und Wirksamkeit kirchlicher Arbeit haben darunter gelitten. Das schwächt die Kirchen enorm.

4 Der Mensch gerät aus dem Blick In den letzten drei Jahrzehnten erleben wir eine zunehmende Beherrschung aller Lebensbereiche durch die Ökonomie und ihre Gesetze. Mit den Umbauprozessen drangen sie auch in die Kirchen ein. Durch die Unterwerfung unter die Normen des »freien« Marktes gerät aber die Arbeit der Kirche in Gefahr. Denn wo nur die Normen des heutigen »freien«, nicht aber sozialen Marktes regieren, gerät der Mensch ins Abseits. Die Verkürzung des Menschen auf seine ökonomischen Funktionen widerspricht dem christlichen Selbstverständnis. Wo bleibt der Glaube, der Lebenssinn? Wo sind die protestantischen Kirchen mit ihrer »großen Erzählung«, die Denkfreiheit ermöglicht? Der Reichtum der

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Kirche beruht nicht in erster Linie auf Kapital, sondern auf Gemeinsinn, Köpfen und Konzepten.

5 Die Kirche verliert ihr Fundament Die Kirche gründet im Wort Gottes. Dieses Fundament ist in Gefahr. Die Kirche lebt nicht mehr aus der Freiheit des Wortes, sondern unterwirft sich dem Gesetz und der fremden Logik des Marktdenkens und wird so zu einem Konzern. Im kirchlichen Umbauprozess wird die Strategie kirchlichen Handelns nicht aus einer theologischen Argumentation abgeleitet, sondern aus Algorithmen und Finanzprognosen.

6 Die Kirche verliert ihre Glaubwürdigkeit Die Reformen wurden mit hochtrabenden Versprechungen beworben. Diese haben sich in der Praxis als unhaltbar erwiesen. Mit schönen Worten wird verschleiert, mit Zahlen und mathematischen Formeln wird getrickst. So wird Transparenz beschworen, und wie im Falle des sog. »Erweiterten Solidarpakts« Geheimhaltung praktiziert. Dadurch fühlen sich Menschen getäuscht, sowohl Mitarbeitende als auch Kirchenmitglieder.

7 Umkehr ist nötig Die Lage ist ernst. Die Mitarbeiterschaft ist enttäuscht, frustriert, demotiviert. Gut ist hingegen die wirtschaftliche Lage der Kirchen: Sieben fette Jahre liegen hinter uns. Dies Ergebnis ist aber nicht einer besonders herausragenden Arbeit geschuldet, sondern der Konjunktur. Leider wurde diese gute finanzielle Lage nicht sinnvoll genutzt: Weder wurde in die Kommunikation des Evangeliums investiert noch in eine Verwaltungsmodernisierung im Sinne einer dienenden Verwaltung. Heute müssen wir zehn Jahre Umbauprozesse beklagen, die die Kirchen geschwächt haben. Verlorenes Vertrauen muss wiedergewonnen werden. Wir brauchen ein Moratorium, um den aktuellen Status schonungslos offenzulegen und zur Besinnung zu kommen. Umkehr ist nötig.

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Schritte in eine andere Richtung1

Nach etwa zwanzig Jahren Strukturumbau der Evangelischen Kirche zeigen sich die angerichteten Schäden unübersehbar. Sie sind vor allem in jenen Landeskirchen und Kirchenkreisen zu spüren, die im sogenannten »Reformprozess« kühn voranschritten. Ein erneuter »Mentalitätswandel« ist notwendig, vor allem als Wandel in den Köpfen der Vordenker des Strukturprozesses und im Bewusstsein derer, die leitende Positionen in Landeskirchenämtern und Gremien von Landeskirchen innehaben. Aber auch Delegierte, die durch ihre Stimmabgabe in Synoden die bisherigen Entwicklungen überhaupt erst ermöglichten, müssen sich den Konsequenzen ihrer Entscheidungen stellen. Voraussetzung für diesen Bewusstseinswandel ist, dass die Theologie wieder zur Leit-Wissenschaft in allen Fragen der Kirchenpolitik wird, nicht die Betriebswirtschaftslehre oder ein bestimmter Managementansatz. (Vgl. beide Beiträge Schneiders unter III.1.1; das Wormser Wort und den bayerischen Ruf »Evangelium hören« s.o.). Das bedeutet, dass alle Entscheidungen wieder auf die in ihnen vorausgesetzten Auffassungen von Kirche und Gemeinde befragt und auf ihre Folgen für die Versammlung der Glaubenden bedacht werden. Zu diesem Umdenken gehört auch, dass nicht länger Mitarbeiter aus der Beratungsindustrie und Beamte der Verwaltungshierarchie die Richtung in der Kirche vorgeben, ohne dass die geplanten »Reformgesetze« und Richtlinien auf ihre theologischen Implikationen hinterfragt sind. In theologischer Hinsicht hat sich eine gefährliche Verschiebung im evangelischen Kirchenverständnis ereignet und daraus folgend: eine Umdeutung des Predigtamtes, eine unevangelische Vorordnung be1 Die »Schritte in eine andere Richtung« fußen auf Gesprächen, die die Verfasserin mit mehreren Autoren des Buches »Kirche der Reformation?« geführt hat. Sie wurden von diesen mitberaten.

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stimmter Ämter und Dienste vor andere Dienste in der Kirche, eine Veränderung in der Grundorientierung kirchlichen Lebens. Weil die christliche Kirche weithin nicht mehr als die Versammlung der Glaubenden gesehen wird, die auf das Wort ihres Herrn hört, sondern vornehmlich als soziale Organisation, deren Spitze von sich meint, die Kirche zu repräsentieren, ja im eigentlichen Sinn »die evangelische Kirche« zu sein (Hoffmann unter III.1.2; Mechels III.2), ist die Selbsterhaltung des so organisierten Apparates an die erste Stelle der Vorsorge gerückt. So konnten und können Gemeinden an der Basis der Kirche aufgelöst werden. So schreitet die Institution »Kirche« über engagierte und bisher ihren Gemeinden treu verbundene Gemeindeglieder hinweg. Und so ziehen sich dann auch diese Glieder – enttäuscht und im Stich gelassen – zurück oder verlassen gar endgültig ihre einstige Kirche (vgl. die Beiträge unter III.1.2). Weil das Amt der Evangeliumsverkündigung durch dazu berufene Diener und Dienerinnen des Wortes weithin nicht mehr als Stiftung Gottes gilt, durch die die christliche Gemeinde unter dem Wort ihres Herrn gehalten und immer wieder neu nach seinem Willen ausgerichtet wird (Eph 4,11–14), konnten Pfarrstellen über jedes Maß hinaus gestrichen werden, ist die Unversetzbarkeit eines Gemeindepfarrers oder einer Gemeindepfarrerin, die bisher die Freiheit ihrer Verkündigung schützte, aufgehoben worden, sind Pfarrpersonen zunehmend zu Bediensteten ihrer Kirchenvorstände degradiert und zugleich zu Untergebenen der ihnen angeblich vorgeordneten Aufsichtspersonen und Kirchenamtsjuristen herabgesetzt (vgl. die Beiträge unter III.1.3 und III.1.4). Weil die überörtlichen Zusammenschlüsse und Ämter in der Kirche kaum noch als Dienste wahrgenommen werden, die das Leben in den Ortsgemeinden fördern sollen und die Einzelgemeinden von überregionalen Aufgaben entlasten, ist eine Hierarchisierung in die Evangelische Kirche eingedrungen, die eine vertikale Leitungsstruktur etabliert hat: Leitideen der Spitze der EKD werden durchgereicht. Sie werden über die Versammlung der leitenden Theologen der Landeskirchen und ihrer ChefJuristen (Kirchenkonferenz) in die einzelnen Landeskirchenämter weitergegeben, dort zu Vorlagen der Kirchenleitungen verarbeitet, dann den Synoden in schwer verständlichen Referaten landeskirchlicher Beamter als alternativlos vorgestellt, von der Mehrheit der Synodalen abgenickt und so in die Kirchenkreise geschoben. Den Superintendenten bzw. De-

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kanen obliegt es dann, jede einzelne Kirchengemeinde auf den vorgesehenen Kurs zu bringen (vgl. Alberti unter III.1.2 und III.1.5). Und schließlich: Weil weithin die Grundorientierung der Evangelischen Kirche nicht mehr darauf gerichtet ist, wie ihr Leben und Handeln dem Willen Jesu Christi entsprechen, weil es infolge der Vorherrschaft marktorientierten Denkens inzwischen weit mehr um Vermögenserhaltung, Kapitalanlagen und finanzielle Vorsorge geht, konnten Gesetze erlassen werden, die die Gemeinden in die Verarmung treiben. Kirchengemeinden werden zur Selbstaufgabe gezwungen, Pastoren- und Mitarbeiterstellen gestrichen, die konkrete Arbeit mit den Menschen wird in den Hintergrund gedrängt. Dagegen entstehen auf der anderen Seite kostspielige Verwaltungsämter, aufwendige Kirchenkreisprojekte werden initiiert, Fachkräfte aus der Wirtschaft oder staatlichen Verwaltung geworben und in unbefristete Stellen zu A 15 oder gar A 16 eingestellt. Der Organisationsapparat der Kirchen bläht sich auf (vgl. Schneider und Volk unter III.1.1; Bergner, Dreyer, Alberti, Dieckmann unter III.1.2). Ein Bewusstseinswandel, die Einsicht in falsche Weichenstellungen der Evangelischen Kirche muss einsetzen, damit über Korrekturen nachgedacht werden kann und Schritte in eine andere Richtung möglich werden. Bereits das Wormser Wort (s.o.), entstanden am Rand des Deutschen Pfarrertages im Herbst 2014 in Worms, und die Erklärung des Evangelischen Pfarrvereins im Rheinland Anfang November desselben Jahres (III.1.2) haben eine Pause zur Selbstbesinnung gefordert. Zitat aus dem Wormser Wort: »Die Kirche gründet im Wort Gottes. Dieses Fundament ist in Gefahr. Die Kirche lebt nicht mehr aus der Freiheit des Wortes, sondern unterwirft sich dem Gesetz und der fremden Logik des Marktdenkens und wird so zu einem Konzern. Im kirchlichen Umbauprozess wird die Strategie kirchlichen Handelns nicht aus einer theologischen Argumentation abgeleitet, sondern aus Algorithmen und Finanzprognosen. … Heute müssen wir zehn Jahre Umbauprozesse beklagen, die die Kirchen geschwächt haben. Verlorenes Vertrauen muss wieder gewonnen werden. Wir brauchen ein Moratorium, um den aktuellen Status schonungslos offenzulegen und zur Besinnung zu kommen. Umkehr ist nötig.«

Doch nicht nur ein Moratorium ist angesagt. Konkrete Schritte zur Umkehr sind nötig und sollen im Ausblick dieses Buches genannt werden:

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Die Kirche ist nach biblischem und reformatorischem Verständnis die Gemeinschaft der Glaubenden, »in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt« (Barmen III). Diese Kirche ist in jeder einzelnen Gemeinde, die sich um Christi Wort und seine Sakramente versammelt, präsent. Jede Gemeinde ist in vollem Sinn Kirche Jesu Christi und kann daher auch nicht von einer anderen Gemeinde oder einem übergemeindlichen Gremium oder Leitungsamt bedrängt oder aufgelöst werden (vgl. Mechels in Kap. I.2; Hoffmann in Kap. III.1.2). Die menschliche Nähe und Beheimatung in den Ortsgemeinden, das Kennen der Prediger und Predigerinnen des Evangeliums, die Kontaktaufnahmen im Zusammenhang der Gottesdienste und Amtshandlungen, das aktive und engagierte Mittun der Gemeindeglieder im Leben ihrer jeweiligen Ortsgemeinde machen den Reichtum der Evangelischen Kirche aus, stärken die Bindung der Gemeindeglieder untereinander und an ihre Kirche, lassen die nachwachsende Generation in die Überlieferung der Kirche, ihre Glaubensinhalte, Leben und Sprache hineinwachsen (Dieckmann und andere unter III.1.2). Diese Einsichten spiegeln auch die nicht umzudeutenden Erkenntnisse wider, die die Kirchenmitglieder-Umfragen seit vier Jahrzehnten ergeben (vgl. Dieckmann s.o. und unter III.1.3). Mit ihrer klaren Orientierung an der vor Ort lebenden Gemeinde und dem in das Predigtamt berufenen Gemeindepastor oder der Gemeindepastorin entspricht das Kirchenund Gemeinde-Bild der überwiegenden Mehrheit der Kirchenglieder sehr deutlich den auf die Kirche Jesu Christi bezogenen Grundweisungen des Neuen Testaments und der reformatorischen Bekenntnisschriften. Erst kürzlich sind diese Erkenntnisse durch die Studie von Detlev Pollack und Gergely Rosta (Religion und Moderne, Campus-Verlag 2015) auch soziologisch bestätigt worden. Ihre Richtigkeit zeichnet sich überdies schon jetzt in Landeskirchen ab, in denen – im Rückblick auf die letzten zwei Jahrzehnte – die Mitgliederverluste in einzelnen Kirchenkreisen verglichen werden können. (Vgl. die empirisch erhobenen Aussagen zum Kirchengliederschwund in der ev.-luth. Landeskirche Hannover im Beitrag von H. Dieckmann in III.1.3) Erheblicher Schwund dort, wo »Kirchenreformen« konsequent zugriffen, wesentlich geringere Verluste

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oder fast gleichbleibende Gemeindegliederbindung da, wo kontinuierliche pastorale und sozial-diakonische Arbeit geschah. Will sich also die Gemeinschaft der Kirchen erneuern, kann dies nur von unten, von der Kirche her, die in den Gemeinden »vor Ort« lebt, geschehen. Folgende Schritte sind nötig: 1. Jede Gemeinde ist für sich selbst verantwortlich. Entscheidungsbefugnisse, Finanzhoheit, Personalhoheit … sind an die Gemeinden und ihre Presbyterien zurückzugeben. Nicht das jeweilige Landeskirchenamt und keine Mittelebene, auch kein »Gesamtgemeindekirchenvorstand«, in dem ortsfremde Personen mit ihrer Mehrheit über das Schicksal einer Einzelgemeinde befinden (vgl. die Berichte Noack und Scheidacker in III.1.2), können darüber entscheiden, ob und in welchem Maß eine Gemeinde mit anderen Gemeinden kooperieren soll, ob sie sich mit anderen zu einem größeren Verband zusammenschließt oder selbstständig bleibt und ihr Gemeindeleben allein finanziert und gestaltet. Diese Entscheidungen müssen von jeder Gemeinde in Freiheit getroffen werden können. 2. Die kirchlichen Finanzmittel müssen umgeschichtet werden. Es geht nicht an, dass Gemeinden vor Ort nur noch deutlich weniger als die Hälfte der ihnen zustehenden, weil durch ihre Glieder bereitgestellten Kirchensteuermittel erhalten, während der größte Teil im großen Topf der Landeskirche verschwindet. (vgl. Schneider, Grafiken, in Kap. III.1.1; Bergner, Dreyer, Dieckmann in Kap. III.1.2). Wenn, wie recht und billig, die Gemeinden etwa zwei Drittel ihrer Kirchensteuereinnahmen behielten, dann könnten auch kleinere Gemeinden fortbestehen, die in einigen Landeskirchen festgelegten Messzahlen für den Bestand oder die Aufhebung einer Einzelgemeinde müssten sinken, evangelische Gemeinden könnten wieder das leben, was Menschen in ihnen suchen. Gerade in unserer vielfach ausdifferenzierten und über-individualisierten Gesellschaft kann die Parochie (paroikia ist die Gemeinschaft derer, die beieinander wohnen) wieder als »modern« erlebt werden: Sie gewährt den unterschiedlichsten Gemeindegliedern in ihrem unmittelbaren Nahbereich niederschwellige Kontakte zueinander und

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zur Kirche, insbesondere durch die pastorale Präsenz und seelsorgerliche Begleitung der professionellen Pfarrer und Pfarrerinnen und die Begegnungsmöglichkeiten mit kirchlich angestellten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen (z.B. im Gemeindebüro, in der Jugendarbeit, der Kirchenmusik, dem Kindergarten, dem Küsterdienst etc.). Gerade die nahe und überschaubare christliche Gemeinde kann heute besonders gut das vermitteln, was Menschen in dieser Gesellschaft vor allem von unserer Kirche erwarten: christlichen Glauben und christliche Gemeinschaft zu leben und sich um Menschen zu kümmern, die durch das Netz staatlicher Daseinsvorsorge fallen (Dieckmann III.1.2). 3. Das Subsidiaritätsprinzip, wonach übergeordnete Instanzen nur die Aufgaben übernehmen, die die unteren Ebenen nicht allein leisten können, ist konsequent anzuwenden. Alle Ämter und Gremien auf regionaler oder landeskirchlicher Ebene sind – auch wenn sie synodal verfasst sind – weder selbst Gemeinde noch deren Repräsentanten, sondern Institutionen zur Beschaffung der materiellen und personellen Bedürfnisse der Gemeinden und zur Wahrnehmung übergemeindlicher Aufgaben. Sie haben gegenüber den Gemeinden vor allem eine dienende und unterstützende Funktion. Sie dürfen nur aus sachlich wirklich zwingenden Gründen in die Rechte und den Bestand der Gemeinden eingreifen. (Hoffmann III.1.2) 4. Stellung und Rechte des Predigtamtes sind nach biblischen Vorgaben wiederherzustellen. Als Botschafter der Versöhnung (2. Kor 5,18–21) stehen der Pastor und die Pastorin in ihrem Amt der Gemeinde gegenüber. Sie sollen nicht aus Menschenfurcht der Menge oder einzelnen besonders einflussreichen Gemeindegliedern nach dem Mund reden, nicht in ihrem Dienst auf ihr eigenes Ansehen und ihre Beliebtheit achten müssen. Damit der Prediger und die Predigerin des Evangeliums diese Freiheit der Verkündigung zurückgewinnen, sind diejenigen Gesetzesparagrafen abzuschaffen, die sie der Willkür und dem Machtgebaren einzelner Personen (in Kirchenvorstand, Gemeinde oder Kirchenkreisleitung) ausliefern (vgl. Kittel in III.1.4). Diese Paragrafen der Pfarrdienstgesetze haben bereits genug menschliches Leid und Verzweiflung in Pfarrfamilien angerichtet. Sie haben außerdem Gemeinden zerstört (Beispiele in III.1.4). Deshalb

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ist die Unversetzbarkeit der Pastoren und Pastorinnen wiederherzustellen. Ausschließlich Gründe, die ein disziplinarisches Vorgehen oder ein Lehrverfahren nach rechtlichen Standards erfordern, dürfen zu erzwungenen Versetzungen und Abberufungen führen. Kommt es zu Konflikten, sind diese nicht mit Zwangsmaßnahmen, sondern mit seelsorgerlichen Mitteln anzugehen, mit Gespräch, Beratung, Supervision. Solch ein Umgang miteinander ist einer Kirche, die im Versöhnungswerk Jesu Christi gründet, allein angemessen. Außerdem kann nur so die Einheit einer Gemeinde erhalten, die kirchliche Bindung aller ihrer Glieder unversehrt bleiben. 5. Neben der Achtung des Predigeramtes geht es um die Achtung des Ehrenamtes. Es ist ein Schaden für die Kirche, wenn die im Ehrenamt tätigen Gemeindeglieder Zug um Zug von angeworbenem Fachpersonal verdrängt werden, nur weil etwa in den Finanz- und Verwaltungsfragen immer kompliziertere Verfahren eingeführt wurden, die die sog. Laien nicht mehr durchschauen und handhaben können (Neues Kirchliches Finanzwesen, Doppelte Buchführung) oder weil Fachkräfte auf regionaler Ebene den vor Ort Tätigen ihre Arbeit entziehen. Umgekehrt könnten z.B. pensionierte Verwaltungsexperten mit ihrem wertvollen Fachwissen den Gemeinden und Kirchenkreisen helfen, notwendige Verwaltungsdienste ehrenamtlich und zugleich qualifiziert auszuführen. Ohne Ehrenamtliche, ihr Engagement, ihre Kontakte, ihr Wissen und ihre Bereitschaft zur Mitgestaltung wären Gemeinden sehr arm. Doch um Menschen für ein Ehrenamt gewinnen zu können, muss man ihnen auch Verantwortung zugestehen. Gerade die zunehmende Entmachtung der Presbyterien durch Kirchenleitung und Kirchenverwaltung erweist sich als ein verheerend falscher Weg, denn ohne verantwortungsvolle Aufgaben ist das Ehrenamt für fähige und beruflich qualifizierte Gemeindeglieder unbedeutend. 6. Auch die Dienste kirchlicher Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind im Zuge der Sparmaßnahmen in rigoroser Weise zusammengestrichen worden. Stellen von Kirchenmusikern, Jugendmitarbeitern, Katechetinnen, Küstern wurden halbiert, niedriger gestuft, in die regionale Ebene verlagert oder ganz aufgehoben. Doch auch und ge-

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rade diese Dienste, die direkt mit den Menschen an der Gemeindebasis zu tun haben, tragen zum Leben und Wachsen der Kirche entscheidend bei. Es ist ein falscher Weg, Mitarbeiterstellen zu streichen, um die in einigen Landeskirchen eingeführten Substanzerhaltungspauschalen für kirchliche Gebäude oder die Errichtung und Unterhaltung von gemeindefernen kreiskirchlichen Verwaltungsämtern bezahlen zu können. Doch es ist auch nicht sinnvoll, weitere Pfarrstellen einzusparen, um volle Stellen für angestellte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu gewinnen. Beide, die Gemeindepfarrer und -pfarrerinnen wie die gemeindlich tätigen Mitarbeiter, haben in ihrem Dienst direkt mit Menschen zu tun. Beide tragen je auf ihre Weise die Botschaft Jesu weiter. Die Erhaltung ihrer Dienste hat in der Kirche unbedingte Priorität (Alberti III 1.2). 7. Der Reformstress der Kirche hat bereits ein ungeahntes Ausmaß an Selbstbeschäftigung der in ihr Tätigen hervorgebracht. Statt sich auf die Weitergabe des Evangeliums auszurichten, statt die globalen Herausforderungen wahrzunehmen und danach zu fragen, was in einer Kirche, die Jesu Spuren folgen will, heute an der Zeit ist, verschleißen die hauptamtlich, nebenamtlich und ehrenamtlich Tätigen ihre Zeit und Kraft durch Diskussionen kirchlicher Organisationsprobleme, durch Sitzungen und Konferenzen, das Studium von unendlichen Aktenbergen, das Herstellen aufwendiger Statistiken (vgl. Neues Kirchliches Finanzwesen) und den Ärger, den diese Beschäftigungen mit sich bringen. Diese Selbstbezüglichkeit der Kirche muss ein Ende haben. Gemeinden müssen wieder das in den Blick nehmen können, wozu sie, mitten in der Welt lebend, beauftragt sind und wozu jede Gemeinde an ihrem Ort beitragen kann: den christlichen Glauben weitergeben, »der durch die Liebe tätig ist« (Gal 5,6). Das heißt: Hungernde speisen, Durstigen zu trinken geben, Fremde aufnehmen, Nackte kleiden, Kranke besuchen und trösten, Gefangenen nahe sein (Mt 25,34–36) und so das Evangelium von der Nähe des Reiches Gottes bezeugen. 8. Unsere Kirche wird in den kommenden Jahrzehnten schon aufgrund der demografischen Entwicklung kleiner werden. Außerdem wird sie – auch infolge der Zuwanderung sehr vieler Migranten aus fernen Ländern und Erdteilen – nur noch eine Stimme inmitten vieler

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Stimmen unterschiedlich kulturell und religiös geprägter Gruppen haben. Gerade deshalb ist es unabdingbar, dass Christen wieder über ihren Glauben nachdenken, die Bibel kennen, christliche Glaubenszeugnisse verstehen, sodass sie als mündige Christen Auskunft geben können »von der Hoffnung, die in ihnen ist« (1. Petr 3,15), oder anders gesagt: reden können über das, was ihnen Orientierung und Halt gibt. Auch diese Zurüstung in Glaubensfragen ist in erster Linie Aufgabe jeder einzelnen christlichen Gemeinde. Dazu müssen nicht ferne »Gemeindeakademien« oder Schulungszentren mit bezahlten Fachkräften gegründet werden. In den Gruppen und Hauskreisen der jeweiligen Gemeinde können und sollen Fragen des Glaubens artikuliert, Antworten gesucht, persönliche Gespräche geführt werden. Die entsprechenden »Gnadengaben« (Charismen) sind in jeder Gemeinde vorhanden – man denke nur an die vielen im Ruhestand lebenden Theologen und Lehrer, aber auch an Menschen, die aus ihren Glaubens- und Lebenserfahrungen schöpfen. Solche Gnadengaben müssen nur entdeckt und aktiviert werden. 9. Der bisherige Umbau der Evangelischen Kirche wurde mit Prognosen begründet, die Fachleute als »Kaffeesatzleserei« bezeichnen (Schneider und Volk in Kap. III.1.1). Die sog. »einfache Formel«, nach der – so zu Beginn dieses Jahrhunderts ausgegeben – die Evangelische Kirche bis zum Jahr 2030 um ein Drittel ihrer Mitglieder schrumpfe und dann nur noch über die Hälfte ihrer Finanzkraft des Jahres 2002 verfüge, war reine Vermutung, deren Unhaltbarkeit sich schon jetzt im Jahr 2016 abzeichnet. Die Finanzmittel der Kirche haben bisher nicht abgenommen, sondern sind im Vergleich zum Jahr 2002 trotz zurückgehender Mitgliederzahlen ganz erheblich gestiegen, weil sie eben nicht nur von der Zahl der Kirchenglieder, sondern weit mehr von anderen Faktoren wie etwa der Wirtschaftskraft und den Steuereinnahmen des Staates abhängen. Trotzdem hat ein rigoroser Sparkurs spätestens seit dem Impulspapier der EKD im Jahr 2006 eingesetzt, der aber, wie sich jetzt zeigt, gerade nicht zu wesentlichen Einsparungen führte. Die Finanzmittel der Kirche sind nur umgeschichtet worden: weg von der Gemeindearbeit hin zur Stärkung der Organisation, z.B. durch eine aufgeblähte Verwaltung (vgl. Bergner, Dreyer, Dieckmann in III.1.2). Außerdem wurde und wird das gesparte Geld in Kapitalanlagen gesteckt, die der Kirchenorgani-

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sation auch noch in Jahrzehnten ein Überleben sichern sollen (vgl. den »Erweiterten Solidarpakt« und dazu Volk in III.1.1). Im Zuge dieser Sparpolitik wurden leider auch Finanzgeschäfte abgeschlossen, die scheiterten (vgl. den Finanzskandal um die bbz GmbH Bad Dürkheim). Kirchensteuermittel wurden verbrannt und werden in Zukunft sicher noch vermehrt verbrennen, wenn Wirtschaftskrisen gespartes Kapital vernichten oder Spekulationsblasen platzen lassen. Daher ist ein Höchstmaß an Transparenz der Kirchen-Finanzen einzufordern. Es muss klar erkennbar sein, aus welchen Quellen kirchliche Einnahmen stammen und wie diese Mittel in Kirchenkreisen, der Landeskirche, der EKD verwendet werden (Dieckmann III.1.2). Das wirkliche Vermögen der Kirche sind die Menschen, die das Evangelium weitertragen. Doch eben dieser Schatz wird in der gegenwärtigen Evangelischen Kirche mit ihren Strukturveränderungen sträflich übersehen. »Was würde Jesus dazu sagen?« Diese von Martin Niemöller immer wieder gestellte Leitfrage klingt naiv und ist doch voller Wucht. Sie konfrontiert die Kirche mit dem, der seine Jünger wiederholt vor dem falschen Sorgen warnte: – der im Gleichnis den reichen Kornbauer vor Augen stellt, welcher meint, mit seinen gefüllten Speichern auch seine Zukunft gesichert zu haben; – der den unnützen Knecht beschreibt, welcher die ihm vom Herrn anvertrauten Pfunde vergräbt und glaubt, so das Wohlgefallen des Herrn zu finden; – der dagegen auf den Säemann zeigt, welcher heute seinen Samen auswirft, das Wachsen und Fruchtbringen aber Gott überlässt. »Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?« (Mt 6,27). So fragt Jesus in der Bergpredigt die Seinen und fügt die Wegweisung hinzu: »Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der

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morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat« (Mt 6,31–33). Wir kennen diese Weisungen. Sie werden feierlich rezitiert und ausgelegt in Sonntagsgottesdiensten, Fernsehansprachen, Radio-Andachten. Doch haben sie auch Gültigkeit für die Kirche selbst, für das Entscheiden und Handeln derer, die sich zu Jesus Christus als ihrem Herrn bekennen? Was wird Jesus zu einer Kirche sagen, die meint, mit ihren Planungen und Kapitalgeschäften das Übermorgen sichern zu können und dabei das »Heute« aus dem Blick verliert? Wie wird er uns allen gegenübertreten, wenn wir aus Sorge um den Bestand und Einfluss der eigenen Organisation die Bedürfnisse, Sorgen und Nöte der Menschen in unserer Nähe immer mehr an den Rand drängen? Dass in all den Strukturdebatten vom Glauben an den Herrn der Kirche nicht mehr die Rede ist, Jesu Verheißung für die Seinen (vgl. Lk 12,32; Mt 16,18) keine in die realen Entscheidungen hineinwirkende Bedeutung hat und vergessen scheint, dass die Zukunft »SEIN Land« ist (vgl. KlausPeter Hertzsch EG 395,3), wir, die Nachfolgenden, aber im Glauben und Vertrauen auf sein Wort das Heute zu bestehen haben – das alles macht ratlos. Eine Kirche, die sich darauf festgelegt hat, ihre Gestalt und Ordnung nach eigenem Gutdünken neu zu organisieren, die nicht mehr danach fragt, wie sie auch in ihrer Gestalt ihrem Herrn und seinem Auftrag entspricht (vgl. die 3. Barmer These), die vielmehr bei der Suche nach ihrer Selbstsicherung auf fragliche ökonomische Voraussagen und zweifelhafte Ratschläge Außenstehender baut – eine solche Kirche hat Umkehr bitter nötig. Die 95 Thesen, die Martin Luther am 31. Oktober 1517 an der Schlosskirche zu Wittenberg anbrachte, begannen mit dem Satz: »Als unser Herr und Meister Jesus Christus sprach: Tut Buße! [Kehrt um!] etc., wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße [Umkehr] sei.« Unsere Hoffnung ist, dass Gott der Evangelischen Kirche in Deutschland eine grundlegende Umkehr schenkt. Darum bitten wir: VENI CREATOR SPIRITUS! Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist, …

Autorinnen- und Autorenverzeichnis

Manfred Alberti * 1949, Pfr. i.R. der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1978 bis 2012 Gemeindepfarrer in Wuppertal-Sonnborn. 2009 bis 2011 Mitglied in der Pfarrvertretung der Evangelischen Kirche im Rheinland. Annett Benz * 1958, Masseurin, Hausfrau, ehemals Chorsängerin und ehrenamtliche Mitarbeiterin im gemeindlichen Besuchsdienst. Dr. Christoph Bergner * 1957, Pfr. der Ev. Kirche in Hessen und Nassau. Seit 1989 Gemeindepfarrer in Bensheim. Mitglied der Landessynode von 1986 bis 2010, 18 Jahre Mitglied des Finanzausschusses, 12 Jahre Mitglied des Anlageausschusses der Versorgungsstiftung der EKHN. Herbert Dieckmann * 1940, Mag. soz., Pastor i.R. der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, 1970 bis 1973 und 1976 bis 1989 im Gemeindepfarramt. 1973 bis 1976 tätig im Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt. 1989 bis 2005 Schulpastor in Hameln. 1997 bis 2002: Mitglied der Pfarrvertretung, 2003 bis 2009: Vorsitzender der Pfarrvertretung, seit 2009: Dienstrechtsberater im Hannoverschen Pfarrverein. Andreas Dreyer * 1962, Dipl.-Theol. und Pastor der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers. Seit 25 Jahren als Gemeindepastor in einer ländlichen Gemeinde Nieder-

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Autorinnen- und Autorenverzeichnis

sachsens tätig. Langjähriger Vorsitzender des Hannoverschen Pfarrvereins, stellv. Vorsitzender des Pastorenausschusses (Pfarrvertretung) der Hannoverschen Landeskirche und seit vielen Jahren Mitglied im Vorstand des Pfarrverbandes auf Bundesebene. Dr. Holger Forssman * 1964, Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Bayern. Zurzeit Gemeindepfarrer in München. Klaus Guhl * 1954, Pastor der Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland (Nordkirche). Seit November 2014 Erster Vorsitzender des Vereins der Pastorinnen und Pastoren in Nordelbien (VPPN). Mitglied des Vorstandes im Verband der Pfarrvereine in Deutschland. Georg Hoffmann * 1971, Rechtsanwalt. Kanzlei Hoffmann Berlin. Vorsitzender des Gemeindebundes in der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). Dr. Gisela Kittel * 1940, 1981 bis 2005 Professorin für Evangelische Theologie und ihre Didaktik in Bielefeld. 1981 bis 1998 Mitglied der Lippischen Landessynode, 1987 bis 1998 Vorsitzende des Theologischen Ausschusses. Seit 2010 Mitglied im Verein »D.A.V.I.D. gegen Mobbing in der Evangelischen Kirche e.V.«. Dr. Hans-Gerd Krabbe * 1953, Pfarrer der Badischen Landeskirche. Seit 2008 Pfarrer in Achern. Mitglied im Reformierten Bund und im Evangelischen Bund, dort Mitglied im Landesvorstand Baden. Friedhelm Maurer * 1955, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland. Seit 1991 Gemeindepfarrer in Gemünden. Seit den 80er-Jahren Synodalbeauftragter für Kirchlichen Unterricht und Synodalbeauftragter für Umweltfragen, seit 1999 Vorsitzender des Ev. Pfarrvereins im Rheinland. Seit 2011 Mitglied des Vorstandes im Verband der Pfarrvereine in Deutschland.

Autorinnen- und Autorenverzeichnis

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Dr. Eberhard Mechels * 1937, Pastor der Ev.-reformierten Kirche. 1964 bis 1988 Gemeindepfarrer in verschiedenen Stadt- und Landgemeinden dieser Kirche. 1984 bis 2005 Privatdozent/apl. Professor für Systematische Theologie in Bethel. 1988 bis 1999 Direktor des Predigerseminars Wuppertal-Elberfeld. Dirk Noack * 1970, Werkzeugmacher, ab 2011 Engagement in der von ihm mitgegründeten »Initiative Graupa-Liebethal«, deren Ziel der Verbleib des von einem Abberufungsverfahren betroffenen Pfarrers in der Gemeinde war. Wolfgang Noack * 1950, Diplom-Mathematiker. Bis zur Wende tätig als Systemprogrammierer in einem großen Ost-Berliner Industriebetrieb, danach bis zur Pensionierung Softwareentwickler für einen großen Finanzdienstleister. 30 Jahre in Berlin Kirchenältester (6 Jahre in der Ev. Zionskirchgemeinde, 24 Jahre in der Ev. St.-Petri-Luisenstadt-Gemeinde). Mitglied in div. Kreissynoden und in der 11. Landessynode Berlin-Brandenburg. Tobias Scheidacker * 1975, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Miet- und Wohneigentumsrecht. Immobilienkanzlei Berlin. Friedhelm Schneider * 1956, Pfarrer der Ev. Kirche in Hessen und Nassau. Immobilienfachwirt (IMI). Siegfried Stange * 1943, Grund- und Hauptschullehrer i.R., Ehrenamtliche Tätigkeiten in der früheren Kirchengemeinde Eichlinghofen in Dortmund. Tätig in der Initiative »Rettet das Paul-Schneider-Haus!«. Bis zur Auflösung der Gemeinde (Ende 2007) mehrere Jahre Vorsitzender des Gemeindebeirates. 2012 bis 2016 Mitglied im Presbyterium der Nachfolgegemeinde. Sabine Sunnus * 1942, als Redakteurin in Frankfurt am Main u.a. 22 Jahre verantwortlich für eine kirchliche Mitgliederzeitung, freie Journalistin bei Printmedien, TV und Rundfunk, 2001 Gründungsmitglied von »D.A.V.I.D. gegen Mobbing in der evangelischen Kirche e.V.«.

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Autorinnen- und Autorenverzeichnis

Barbara Völksen * 1959, ehrenamtliche Tätigkeit bei Kinderbibelwochen, Frauenweltgebetstagen und mitwirkend bei der musikalischen Gestaltung von Gottesdiensten über mehrere Jahre hinweg. Engagement in der Initiative »Gegen Mobbing in der Evangelischen Kirche Burgholzhausen«. Hans Jürgen Volk * 1957, Pfarrer der Ev. Kirche im Rheinland. Seit 2000 Gemeindepfarrer in einer Kirchengemeinde im Westerwald. Seit 2010 Behindertenseelsorger im Kirchenkreis Altenkirchen. Seit 14 Jahren Vorsitzender des synodalen Finanzausschusses.