Aphorismen und Reflexionen

Hrsg. von Richard Exner.

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German Pages [172] Year 1977

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Aphorismen und Reflexionen

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R.A. SCHRÖDER APHORISMEN UND Herausgegeben von Richard Exner Suhrkamp

SV

Rudolf Alexander Schröder

Aphorismen und Reflexionen Auswahl und Nachwort von Richard Exner Suhrkamp

Erste Auflage 1977 © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977 Alle Rechte vorbehalten. Druck: MZ-Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen Printed in Germany

Aphorismen und Reflexionen

Ich widme diese Auswahl und meinen Anteil an diesem Buch Erich Buss, dessen Freundschaft und Gastlichkeit ich so viel verdanke. R. E.

I

ÜBER WIRKLICH WICHTIGE DlNGE SOLLTE MAN NUR KURZE BÜCHER

schreiben; über unwichtige mag man

Bücher schreiben. Leute meinen, es sei umgekehrt, lange

Die

ABER SIE IRREN SICH.

Mach dir keine grauen Haare darum, daß du hier nichts als sogenannte Betrachtungen von dir gibst. Auch das wissendste Wissen kommt über Betrachtung nicht hinaus. Es ist schon viel, wenn es überhaupt nur so weit kommt. (1)

Du solltest nur von dir geben, was du für andere unentbehrlich hältst. Jede unnütze Gabe ist eine Last, die du andern auflädst. Schriftsteller, merke dir das vor allen! (2)

Wer Lust hat, sich aus meinen Fragmenten ein »System« zu­ sammenzuklauben, der möge es tun. Disjecta membra metaphyseos sind zur Genüge vorhanden. (3)

Im Übrigen muß ich selber immer von neuem wiederholen, daß meine hier niedergeschriebenen Gedanken sich in keiner Weise als die Umkleidungen irgend welches gedanklichen Systemes geben möchten. Es sind vielmehr Beängstigungen, die sich als Gedanken geben. (4)

Der Schreiber von Aphorismen ist immer etwas hinterhältig; denn im Wesen der Sentenz beruht es, daß ihr Verschwiegenes ebensoviel Gewicht hat wie ihr Ausgesprochenes. (5)

Über wirklich wichtige Dinge sollte man nur kurze Bücher schreiben; über unwichtige mag man lange Bücher schreiben. Die Leute meinen, es sei umgekehrt, aber sie irren sich. (6)

11

Man wundere sich nicht in diesen Zeilen manches Halb-Ge­ dachte zu finden. Der Mensch der imstande oder — was das Gleiche ist - willens wäre, einen Gedanken zu Ende zu denken, würde darauf verzichten ihn auszusprechen. (7)

Wer Materialien verkauft, verkauft sie nur in den seltensten Fällen »gebrauchsfertig«. Erwartet also aus meinem Laden nicht zu viel. (8)

Daß es so schwer, ja, daß es praktisch unmöglich ist, jeweils die Ebene genau anzugeben, auf der ein bestimmter Gedanke, eine bestimmte ausgesprochene Maxime sich hält. Um das ge­ naue Milieu, das genaue Bedeutungs- und Wirkungsfeld einer mitgeteilten Meinung, d.h. alle perspektivischen Verkürzungen und Überschneidungen darzustellen, die sich von einer gewis­ sen Ansicht her ergeben, würden jeweils Bände erfordert, die ihrerseits Bände von Kommentaren nach sich ziehen müßten. So ist auch mir die Welt im Geistigen unabsehbar. (9)

Es scheint, als ob der Geist sich gegen seine Nahrung verhalte wie der Körper gegen die seinige. Wie dieser sich einer allzu ge­ reinigten Gabe widersetzt, so nimmt auch der Geist das für ihn fruchtbare und wesentliche am willigsten in inniger Vermen­ gung mit anderen leicht ausscheidbaren Stoffen auf. Der Schriftsteller, der dies Gesetz beherrscht, ist auf dem Wege zum Erfolg. (10)

12

Sucht es nicht außen, sucht es innen. Sucht es nicht im Stück­ werk, sucht es im Ganzen. Immer wieder müssen wir uns das sagen. (11)

Nun glaube ich freilich, daß das - vorläufig noch unaufge­ klärte - »System« unsrer Ängste ein wahrscheinlich viel enge­ res, dichteres und schlüssigeres sein dürfte als das unsrer Ge­ danken. Und indem ich hier in der Tat nichts auf geschrieben habe, das nicht irgendeiner Beängstigung seinen Ursprung ver­ dankt, brauche ich mich um den Zusammenhang dieser Auf­ zeichnungen nicht zu sorgen. In ihrer gemeinsamen Wurzel gründet auch ihr »System«. (12)

Hinweis ist fruchtbarer als Beweis. (13)

II

Geist offenbart sich wie die Materie durch Strahlung. Sprache, dies grösste Geisteswunder aller Geisteswunder, ist eine solche Strahlung.

Im Wort hast du die Erkenntnis, nur dort, nirgend sonst. Und da kommt es denn freilich nur zu oft zu der Situation, in der die Weisheit sich von ihren Kindern lehren lassen muß. (14)

Es ist dem Menschen kein größeres Zaubermittel gegeben als das der Sprache. Jedes, auch das zufälligste und belangloseste Wort wird immer noch über seine nächste Absicht und seinen engeren Gehalt hinaus wirksam und bedeutend sein. (15)

Witz ist Adler in der Luft, Fisch im Wasser, Salamander im Feuer. Nur wo er den Erdboden berührt, ist er verloren, denn er ist wie der Paradiesvogel der Sage ohne Füße geboren; das ist seine Stärke und seine Schwäche zugleich. Wäre er nicht immer auf der Flucht, so wäre ihm längst der Garaus gemacht. Auch Humor erhält sich nur schwebend. (16)

Der Witz fährt rascher um sieben Ecken, als der Verstand einen Schritt in grader Richtung tut. (17)

Witz ist ehrwürdig, insofern er ein Spiel der Phantasie, verwerf­ lich, insofern er ein Spiel mit dem Unleidlichen ist. Auf diesem schielenden Verhalten beruht seine Wirkung sowie seine Ver­ wandtschaft mit dem bloß Lächerlichen, das ebenfalls auf der Vermengung des Erwünschten mit dem Unleidlichen beruht. Das Verhältnis dieser Mischung bestimmt ihren Charakter auch nach der sittlichen Seite. (18)

17

Urbanität wird mit der Gabe des Witzes immer zugleich sein Gegengift reichen. (19)

Schon mit einem begütigenden »man könnte vielleicht sagen« ist der Witz zum größten Teil entwaffnet. Denn eben seine Fragwürdigkeit ist seine Schwäche. (20)

Es gibt eine Einstellung des Blickes - die eigentlich humori­ stische —, vor der nichts Festes fest und nichts Ehrwürdiges aller Ehren wert erscheinen will. Sie ist durchaus dämonischer Art; ihre nüchterne Schwester ist die Skepsis, ihr gewalttätiger Bruder der Nihilismus. Nicht umsonst sind Mephistopheles und der Lustigmacher im Faust eine Person. (21)

Die Leidenschaft des bloßen Gefühls und die Bitterkeit der bloßen Erkenntnis sind feindlich gegen den Witz. Ein leiden­ schaftlicher und bitterer Humor ist ein Humor malere lui. In ihm leben die erschlagenen Gegner wieder auf. (22)

Wo nichts zu lachen ist, hat der Witz verspielt, aber wo er ver­ spielt hat, da ist auch nichts zu lachen. (23)

Grausam wird der Witz, wenn der Ausweg aus seinem Di­ lemma mitten durch das Herz des Gegners geht. (24)

Schweigen und Einsamkeit sind Mütter des Gedankens. Mutter des Witzes ist Geselligkeit, seine Amme Indiskretion. (25) 18

Der Wortwitz beruht auf der Absurdität, daß das Mittel der Verständigung mißverständlich sei. (26)

Witz und Blitz — dieser Gleichklang ist ein glücklicher Fund unsrer Sprache. Auch im Witz kommt Polarität zur Spannung und zum Ausgleich. Der Moment des Vergleichs bewirkt das Gelächter. Je absurder, je unerträglicher das durch ihn vorge­ stellte Verhältnis ist, je heftiger wird die Auslösung sein. In der Situationskomik ist dies Verhältnis ein drastisches von einer gewissen Dauer. Sobald und sooft es ins Bewußtsein tritt, löst es Gelächter aus. Sieht der Mensch, daß ihm mit bloßem Lachen nicht beizukommen sei, so wird er versuchen, es auf eine andre Art aus der Welt zu schaffen. Daher die innige Ver­ bindung von Schadenfreude und Hilfsbereitschaft. (27)

Ironie: die harmloseste Form ist die einfache Lügenerzählung. Die schärfste ja teuflischste die, in der Wahrheit als Lüge er­ scheint (Sarkasmus). Dreifache Negation der Ironie: den Hörer, den Sprecher, sich selber. Dadurch ist sie in einem gewissen Sinne die reichste Form des Witzes, in einem anderen seine urbanste Form. (28)

Frivolität entsteht im eitlen Gemüt an dem gleichen Punkte, an dem im frommen Ehrfurcht, im begehrlichen Neid entsteht. Schwache Eitelkeit wird immer versuchen, alles ihrem eignen Unwert anzugleichen. Das Frivole ist daher in einem höheren Sinne absurd und - so witzig es sich gebärden mag - nicht Aus­ gangspunkt sondern Zielpunkt echten Witzes. (29)

19

Vor der Komik des Wahnsinns verstummt das Gelächter. (30)

Das Wort ist das größte Wunder der geistigen Welt. Wenn der Mensch den Augenblick im Gedächtnis behalten könnte, in dem er zum ersten Mal ein Wort ausgesprochen und mit diesem Worte etwas Bestimmtes gemeint hat, es könnte keine ungläu­ bigen Menschen geben. (31)

Warum ist in jedem geredeten Wort ein wenig schwarze Magie enthalten? Weil jedes geredete Wort zugleich das Gewand unse­ res Wissens und der Deckmantel unsres Nichtwissens ist. (32)

Da alle Erkenntnis in der Sprache vorgebildet liegt, besteht im Grunde alle Kunst und Weisheit nur darin, sich richtig auszu­ drücken. (33)

Man schilt die Silbenspalter. Aber sind die Silbenleimer nicht im Grunde noch gefährlicher? Noch einmal, die größten Un­ glücke in der Welt beruhen auf falschen Wortverbindun ­ gen. (34)

Die Sprache ist immer klüger (weiser) als ihre Interpreten. Sieh dir nur das Wort »Vernunft« an; es kommt von »nehmen«. Sieh dir nur das Wort »Be-griff« an. Es kommt von »greifen«. Was ist an diesen Worten im Sinne der Abstraktion »reines«? Wer spottet hier seiner selbst und weiß nicht wie? (35)

20

Das Wort »ungehörig« ist ein sarkastisches Wort. Denn der Ungehörige oder »das« Ungehörige gebärdet sich unter allen Umständen, als gehöre ihm alles allein. (36)

Die Worte Fremdheit, befremdlich, befremdet gibt es in der be­ sonderen Bedeutung, die wir ihnen zu geben vermögen, nicht in anderen Sprachen. Der Deutsche hat eigentlich immer schon die Klinke zum Jenseits in der Hand, wenn er sie ausspricht. (37)

Wirklichkeit. Nirgendwo hat Sprache so tief gegriffen, als die unsre mit diesem Wort. Es enthält nicht nur das Insubstantielle, das Irreale alles Wirklichen, sondern zugleich seinen Interfe­ renzcharakter. Im Ineinander, Zueinander, Miteinander wird gelebt, d.h. gewirkt, im Auseinander gestorben. - Nur Einer ist unabhängig von allem außer ihm wirklich. Und darum heißt es: »In Ihm leben, weben, und sind wir«. (38)

Daß es im übrigen mit der Vorstellung der unbedingten sitt­ lichen Supenorität des Gebens nicht allzu genau zu nehmen sei, zeigt schon die muntere Wendung: »eine Ohrfeige geben« wenn auch freilich grade durch das gewählte Verbum vielleicht etwas wie die sittliche Berechtigung des Gebers ausgedrückt werden sollte. (39)

Zu einer fast dämonisch gewaltigen Durchsicht des hier in Frage stehenden Verhältnisses steigert sich allerdings unsre Sprache in dem Gleichklang der »Gift«, die gegeben und des »Giftes«, mit dem ver-geben wird. Einen grausameren Hohn auf die Labilität aller Praxis hat Sprache kaum ersonnen. (39 A)

21

Wortspiel: aesthetica = est ethica. (40)

Wenn wir nur wüßten, was das hieße: »alle« und »jeder«, »überall« und »an jedem Ort«, »allenfalls« und »in jedem Falle« u.s.w. - Unsere Sprache ist hier klüger als wir, sie trennt scharf und genau, was wir in seiner Sonderung und seinem Eigen­ wesen nicht völlig gegeneinander abzuwägen und auseinander zu halten wissen. In jedem »jeder« klingt für uns ein »alle« mit, in jedem »alle« ein »jeder«. - Und doch, wer’s auseinander und ineinander legen könnte, hätte ein zentrales Problem der sitt­ lichen wie der physischen Welt gelöst. (41)

Keine moderne europäische Sprache ist imstande, heterogene Begriffsbestimmungen in einem einzigen Wort so eng zusam­ men zu schweißen wie die unsrige. Keine unterliegt daher auch im gleichen Maße der Gefahr einer Inflation des Gedankens oder des Ausdrucks wie die unsrige. (42)

Geist offenbart sich wie die Materie durch Strahlung. Sprache, dies größte Geisteswunder aller Geisteswunder, ist eine solche Strahlung. (43)

Zwei Professoren, die sich gegenseitig darüber bemitleiden, daß der Römer- und Korintherbrief in so miserablem Griechisch geschrieben sei. Hier spottet denn doch die »insaniens sapientia« ihrer selbst und weiß nicht wie. (44)

22

Und dennoch, und immer wieder: was nicht in den Worten ist, ist auch nicht im Geist. Mißbrauch der Worte zeigt immer Miß­ brauch des Geistes an. Aber wer den unter allen Umständen vermeiden will, dem bleibt nichts übrig als das Verstum­ men. (45)

Wer nicht mit Zungen reden kann und muß, tut immer besser zu schweigen. (46)

Sprache in den Händen eines Narren ist wie die Prinzessin im Turme. Sie kann in die Gestalt eines Drachen, einer Eule oder sonst eines widerwärtigen Tieres verwandelt werden. Wenn der Ritter kommt, der sie erlöst, geht sie jung und strahlend, und, was das Schönste ist, mit unverletzter Keuschheit von dan­ nen. (47)

Bare Lüge ist Mißbrauch der magischen Gewalt des Wor­ tes. (48)

Wer jedes Wort auf die Spitze stellt, dem wird die Rede schwanken. (49)

Allzugute Pointen verraten einen eitlen Urheber. (50)

III

KRITIZISMUS RICHTIG ERFASST

ist nicht Weltflucht, sondern

Wille zum Leben. Denn nur durch Sonderung erneut und beständigt sich das Seiende.

Als Adam und Eva vom Baume der Erkenntnis gegessen hatten, schämten sie sich ihrer Nacktheit und nahmen Feigenblätter vor. Die älteste, die tiefsinnigste, die bekannteste aller Ge­ schichten und dabei die vergessenste. Denn wieviele Folianten bestehen aus nichts als — Feigenblättern eben dieser Feigen­ blätter! (51)

Lüge, Lüge, Lüge, Lüge, Lüge, Lüge. - Wer ein ganzes Buch voll nur dieses einen Wortes druckte, der hätte ein ganzes Buch voll Wahrheiten gedruckt. (52)

Warum Märchen, d.h. echte Märchen, uns so unmittelbar an­ rühren? Weil sie das unmittelbare Hervortreten und Sichtbar­ werden eines Inneren sind. Anders herum: alles was im Mär­ chen geschieht, geschieht in dir selbst. Du bist zugleich der Schatz und der Riese, die schlafende Königstochter, die Dor­ nenhecke und der Prinz, der sie durchschreitet. (53)

lego, diligo, colligo, ligare, ligamentum, Xsysiv, Xoyo^, Xoyi^Eiv, Xe^ii; , lucken, luchsen, lugen, locken, locken, lecken, legen, liegen, leugen, leugnen, lügen, Lug. - Wer hat nun recht? (54)

Rascher denken als sie schreiben, ja rascher denken als sie nach­ denken können, ist eine Plage aller klugen Leute. (55)

Es ist ein leichter Sieg der Klugheit, wenn sie glaubt, daß im Allgemeinen Richtige durch das im Einzelnen Richtige zu widerlegen. (56) 27

Mag dein Schreibtisch immer dein archimedischer Punkt, dein Ossa und Pelion in einem sein. Unter Umständen hebst du von ihm aus noch keinen Silberling aus dem Säckel deines Ver­ legers. (57)

Warum der Dichter seit alters als eine besonders geweihte, ja heilige Person (vates, vati-cinium) gegolten hat und gilt? Weil sein Tun und seine Aufgabe mit dem zusammenfällt, was alle Menschen als ihre Sehnsucht und ihre Aufgabe empfinden: er soll im plattesten wie im erhabensten Wortsinne das Unge­ reimte »reimen«. (58)

Es ist ein sehr großer dichterischer Zug bei Dante, daß er aus seiner untersten Höllenregion eine Eishölle gemacht hat. (59)

Was wir interpretieren, ist niemals der Text, sondern immer schon die Glosse - nämlich unsre eigne. (60)

Wenn ich heute gefragt würde, wen ich für den klügsten aller mir aus ihren Schriften bekannten Menschen halte, so wäre ich in Versuchung zu antworten: Novalis. — Seine Klugheit hat auch in dem zugleich universalen und fragmentarischen Cha­ rakter ihrer Äußerungen - manchmal etwas von der eines ge­ fallenen Engels. Ich habe mich durch Jahre meiner Jugend hindurch vor ihm gradezu gefürchtet wie vor etwas Bösem und Gefährlichem. Jetzt glaube ich, bin ich allmählich »sui compos« geworden. (61)

28

Man hüte sich im allgemeinen davor, den Scharfsinn und die Helligkeit des französischen Geistes in allem, was sich auf die geselligen Verhältnisse des Menschen bezieht, mit höherer Lebenswärme zu verwechseln. (62)

Deleterischer Zug gallisch-gälisch-keltischen Wesens. Eine Reihe für viele: La Rochefoucauld, Flaubert, Shaw und als infimum Joyce. (63)

Dostojewski? Nein. Über den Schriftsteller urteile man wie man will, und ich gestehe gern, daß ich keine übertrieben hoheMeinung von ihm habe. Aber auch mit dem Christen, der sich über Nacht mit dem Gottseibeiuns zusammen toll und voll säuft, um sich dann morgens von Christus das Speibecken unter halten zu lassen, bringe ich nur ein sehr geringes Gefühl der Ge­ meinsamkeit auf. (64)

Selbstbespiegelung im Guten wie im Bösen ein höchst gefähr­ liches Unternehmen. Wisse dich von Gott erkannt. Das schließt Verzagtheit und Selbstgefälligkeit zugleich aus. (65)

Man halte sich stets vor Augen: Ein Kommentar, wo er nicht rein sachlicher Art ist, muß notwendiger Weise zugleich eine Apologie - wo nicht gar eine Kritik - sein. Aber darin, daß er dies ist, liegt zugleich seine Schwäche als »Kommentar«. (66)

29

Kritizismus richtig erfaßt ist nicht Weltflucht, sondern Wille zum Leben. Denn nur durch Sonderung erneut und beständigt sich das Seiende. (67)

Rückerts Poetisches Tagebuch (Nachlaß 1888) durchblättert, vieles Liebliche und Bezaubernde angekreuzt: Im Jahr als von Mongolenschwertern Ging über Bagdad das Gericht, Schrieb Saadi seine Rosengärten Und sah der Welt Zerstörung nicht. Hätte er nur diese Strophe geschrieben, er wäre ein großer Dichter. - Freilich, bei der Unabsehbarkeit und Unausleerbarkeit seines gereimten Werkes wird er, nun er einmal aus der Mode gekommen ist, wohl so leicht nicht wieder ein Publikum finden. Es ist sonderbar und vielleicht das bedeutsamste Zei­ chen für das böse Gewissen der Zeit, daß sie kein Gegengift, sondern immer nur nach stärkeren Dosen des Giftes verlangt, an dem sie krankt. So wird R. der Besitz von Wenigen bleiben. Mir ist er ja gewissermaßen von meinem Vater vererbt; eine der wenigen geistigen Erbschaften, die ich von ihm angetreten. Ich freue mich um so mehr, daß Borchardt ihn auch kennen und lieben gelernt hat, daß selbst Hofmannsthal, der anfänglich so schroff ablehnende, sich gegen Ende seines Lebens meiner Be­ wunderung für Rückert angeschlossen hat. (68)

Es gibt kaum ein quälenderes Gefühl als die Verehrung mit der man sich allein weiß. Das eigene Verkannt werden ist nicht halb so peinlich und ängstlich. (68 A)

30

Goethe hätte die Figur des sich in das Sterben hineinquälenden Eduard in den Wahlverwandtschaften nicht konzipieren und zeichnen können, wenn er nicht irgendwann und irgendwie die nahe Bekanntschaft mit dem Problem der Nachfolge und der Werke gemacht hätte. (69)

»Gottes ist der Orient« u.s.f. - Herrlicheres als in diesen Goetheschen »Talismanen« ist nie gesagt, wird nie gesagt werden. Daß es immer noch Leute gibt, die angesichts solcher Verse den großen Dichter für einen Atheisten erklären. Welch abge­ feimte Spezialisten der Gottesgelahrtheit müssen das sein? Ich persönlich gestehe, daß ich nicht einmal immer imstande sei, mir den vollen Gehalt solcher Strophen zu vergegenwärtigen. Könnte ich es, so wäre mir für ein seliges Leben und Sterben nicht bange. (70)

Noch zwei Zeilen aus diesen »Talismanen«: Was ich Irdisches denk und meine, Das gereicht zu höherem Gewinne. Wer das von sich sagen kann und sagen darf, der funkelt von allen Zeichen der Begnadigung. (70 A)

Rarifizierung, Sublimierung - nicht etwa bloßes Simplifizieren! - sind die höchsten, entscheidenden Mittel der Kunst, sie sind auch die Mittel, die die Natur anwendet, um ihr Höchstes und Köstlichstes hervorzubringen, die Blüte, den Kristall, die monumentale Landschaft, die vollkommensten Exemplare tieri­ schen Lebens. Überall sieht man sie vom Dumpfen ins Klare, vom Gedrungenen ins Gestaltete, vom Groben ins Zartere, von

der Fülle ins Gegliederte aufsteigen und die Spuren dieses Läu­ terungsprinzips auch an unvollkommeneren und vergleichs­ weise unfertigeren ihrer Produkte durchgehend aufwei­ sen. (71)

Grenzen der Kunst eigentlich nicht zu bezeichnen. Grenze nur ein Vermögen des Menschen, das außer ihm Liegende zu besee­ len. Es müßte sich aus jedem Kieselstein em Gedicht wie ein Gemälde von unübertrefflichen Qualitäten machen lassen. — Der ideale Dichter müßte aus seiner Stiefelsohle ein Gedicht, der ideale Maler aus seinem Nachttopf ein Gemälde machen können, das den Kunstfreund zum Entzücken brächte. Schon der Plastiker hat ein wesentlich begrenzteres Feld dar­ stellerischer Möglichkeiten. Der Architekt und erst recht der Musiker haben nun gar mit den einzelnen Erscheinungsformen der durch den natürlichen oder den technischen Werdegang ge­ formten Materie nichts zu tun, sondern vielmehr mit einer Idealisierung und Typisierung der Funktionen dieser ihrer Materie ganz allgemein. In Zeiten eines hohen Kunstgeschmakkes und einer allgemeinen und deutlichen Weltanschauung werden Malerei und Dichtkunst sich in Auswahl und Behand­ lung ihrer Gegenstände der Methode dieser Schwesterkünste zu nähern suchen, je reiner, je gehobener und beziehungs­ reicher ihr Gegenstand sein wird. (72)

Man kann das Meer formlos nennen, und doch gibt es keine schönere Form als die der Welle. (73)

Der Übermut unsres Urteilens wagt sich an alles. Sogar das Meer und die Sonne nennen wir schön. (74) 32

Freilich der dem Gefährlichen und Schrecklichen der Natur noch nähere Mensch wird mit solchen Urteilen vorsichtiger sein. Man denke daran, wie die Alten das Hochgebirg empfun­ den und beurteilt haben. (74 A)

So kann man also sagen: in dem Maße, in dem die Welt um den Menschen her friedlicher wurde, wurde sie auch schöner. (74 B)

Man kann das schon an sich selber erfahren, daß jede Situation, in dem Maße, in dem sie »brenzlich« wird, an ästhetischem Interesse verliert. Der Mann, der von ferne einen Brand sieht, mag ihn bewundern, selbst wenn es sein Eigentum ist, was da verbrennt. Aber der, der mitten im Brand in Todesgefahr oder Todesgewißheit schwebt, müßte es schon zu einer grandiosen Außerkraftsetzung des Selbsterhaltungstriebes gebracht haben, um die letzten Minuten möglicher Besinnung auf ästhetische Beobachtungen zu verwenden. Alles das sind wertvolle Finger­ zeige zur Bestimmung des Begriffs vom Schönen. (75)

Über den erotischen Charakter des »ästhetischen« AffektenKomplexes spricht sich unsre Sprache am allerdeutlichsten aus. Wenn sie für das Schöne wenigstens das Halb-Synonymon des »Lieblichen« hat, so spricht sie von seinem Gegenteil ganz all­ gemein als von dem »Häßlichen«. (76)

Unser Verhältnis zum Schönen ist in sehr deutlichem, ja in völlig unverkennbarem Maße ein erotisches, wie denn über­ haupt der Eros es ist, der das Zünglein an allen Waagen der Welt ins Schwanken bringt. Daß dieses erotische Verhältnis

33

zum Schönen von der höchsten und »abstraktesten« Stufe bis zur niedrigsten und umgekehrt gehe und gehen müsse, kann nur den in Erstaunen setzen, der vergißt, daß das Schöne und die ganze in sein Gebiet gehörende Begriffsverwandtschaft als Erscheinung sowohl wie als Affekt durch die ganze Breite der Welt gehe. (77)

IV

Mit nichts treibst du grössere Verschwendung als mit deinen Gedanken. Die meisten, die du DENKST, KANNST DU NICHT GEBRAUCHEN, UND DIE MEISTEN, DIE DU GEBRAUCHEN

KÖNNTEST, BIST DU ZU TRÄG ZU DENKEN.

Der Zweifel ist die schöpferische Grundkraft des Witzes. (78)

Alles System ist wie die Quadratur des Zirkels - im praktischen durchführbar, im geistigen undurchführbar. (79)

Das Gleichnis trifft nur durch den Gegensatz. (80)

Was ist Wahrheit? Der Ruhezustand der Wirklichkeit. Was ist Wirklichkeit? Ewige Unruhe. (81)

Je subtiler, je futiler. — Merk dir’s, Dogmatiker! (82)

Jede Weltanschauung muß, wo sie nicht ganz verworren sein soll, perspektivischen Gesetzen folgen. Im Vordergründe stehe die Beobachtung, im Mittelgründe die Erfahrung, im Hinter­ gründe Betrachtung und Gedanke. So wird Übersicht und Bezugnahme möglich sein. (83)

Es gibt keinen Gedanken - kein Urteil - ohne Konkupiszenz. Jeder Gedanke hat seinen Eros. (84)

Alles Nach-Denken ist Vor-Sorge. In dieser Vorstellung schon würde das Primat des Sittlichen beschlossen sein. (85)

37

Jeder Akt des Erkennens — unter vielen andern Akten! - deutet an, daß die Quellen der Energie aus einem Jenseits (von Zeit und Raum) sprudeln. (86)

Wir denken alle kontrapunktisch. Wir schreiben einstimmig. Der mehrstimmige Satz ist für die Grammatik der Rede noch nicht erfunden worden. Daher die tödliche Langeweile unserer meisten Definitionen und Deduktionen. (87)

Alles Denken ist Reflexion. Diese Binsenwahrheit bedeutet, daß alles Denken Abwehr ist. (88)

Alle ausgesprochenen Gedanken sind noch nicht einmal die Zin­ sen von dem Kapital unsrer unausgesprochenen Gedanken. (89)

Gefühl und Phantasie sind wie Vögel mit einem ungeheuren Kropf, aus dem sie von Zeit zu Zeit ihr Junges (Jüngstes!), den Gedanken, atzen. Das meiste freilich schlingen sie selbst wieder hinab. (90)

Gedanken wachsen einem über Nacht, wie der Grind auf dem Kopfe. (91)

Mit nichts treibst du größere Verschwendung als mit deinen Gedanken. Die meisten, die du denkst, kannst du nicht brau­ chen, und die meisten, die du gebrauchen könntest, bist du zu trag zu denken. (92)

38

Der klügste Mann ist der, der die meisten Selbstverständlich­ keiten denkt. Aber er muß sie freilich auch denken! (93)

In allen Dingen der Erfahrung läuft die Vernunft kümmerlich hinter den Sinneswahrnehmungen her. Mit den Brosamen, die dabei für sie abfallen, behauptet sie nachher das Speisungs­ wunder zu vollbringen. Es wird aber niemand dabei satt. (94)

Das Schwächste in der Welt ist der gute Wille. Da er aber zu­ gleich das Höchste innerhalb der sittlichen (praktischen) Sphäre ist, so läßt sich leicht ermessen, warum unsre Praxis so beschaf­ fen ist, wie sie ist. (95)

Wie wird Bewußtsein dir bewußt: nie und nirgend anders als in der Form der Verantwortung. (96)

Und hier sei es gesagt: Was für die Kategorie des Raumes der Begriff des Hier, was für die Kategorie der Zeit der Begriff des Jetzt bedeutet, bedeutet für die Kategorie der Alternative die Verantwortung. (96 A)

Jeder Blick in gelebtes Leben, auch der flüchtigste und unnach­ denklichste wird, muß dich darüber belehren, daß die Begriffe der Dauer und der Konstanz metaphysische Begriffe seien. (97)

39

Beginn und Ende sind, soweit wir und unsere Welt in Betracht kommen, nichts als Redensarten. Aber freilich sind in ihnen alle andern denkbaren und möglichen Arten und Artungen unsres Tuns und Erkennens eingeschlossen. (98)

Wer sich tief mit der Vorstellung zu durchdringen vermag, daß die Sonne unablässig zugleich auf und unter gehe, der hat ein Wesentliches von dem Geheimnis unsrer Welt in seine Vorstel­ lung aufgenommen. (99)

Das Spektrum unsrer Vernunft ist ein ebenso mangelhaftes wie das unsres Auges. Wichtige und höchst wirksame - ja die wirk­ samsten! - Strahlen der Erkenntnis werden im Sinne der Ver­ nunft nicht erkannt. (100)

Wer aus den Wirbeln seiner Erkenntnisse und den »Zirkeln« seiner - nicht schließenden - Schlüsse heraus sich wieder in die Möglichkeit zurückgerettet hat, das Hohe hoch und das Nied­ rige niedrig zu nennen, dem ist das schönste Geschenk des Lebens zuteil geworden. (101)

Jedes lebende Leben hat Anspruch an alles Leben. Es würde ihn sonst nicht erheben. Jeder Same, jede Zelle ist in einem ge­ wissen Sinne: die Welt, - implicite und explicite. - Nur so erklärt sich das Geheimnis der Strahlung (Wirkung) und das noch größere der Interferenz. In ihm haben wir die nackteste Offenbarung des Lebens. (102)

40

Der Abbe Galiani war nicht nur einer der klügsten sondern allem mit Willen heraufbeschworenen gegenteiligen Anschein zutrotz auch einer der tiefsten Köpfe seiner Zeit. In seinen Briefen an die Frau v. Epinay spricht er wiederholt davon, daß die »Würfel gefälscht« seien und meint damit das großartig Arbiträre, das allen Wahrscheinlichkeitsrechnungen zuwider in allem Geschehen immer wieder sich kund gibt. (103)

Da nun alles, was wir Menschen ÜBER Gott AUSZUSAGEN UNS BEMÜSSIGT FÜHLEN, NICHTS ANDRES SEIN KANN

als

Kommentar und Apologie in

EINEM, SO SOLLTEN WIR NUR IM ÄUSSERSTEN NOTFALL DEN MUND ZU

solcher

Aussage auftun.

Die Leidenschaft des Zweifels ist es, durch die der Witz dem Göttlichen und dem Dämonischen gleich nahe rückt. Es ist im tiefsten Sinne des Wortes Ur-Kunde und Ur-Weisheit, die aus den Verwörtlichungen des Begriffs »Zwei-fel«, »Du-bium«, zu uns redet. Bei Lichte besehn, enthalten sie die Schöpfungsge­ schichte in nuce. (104)

Transsubstantiation, darauf geht letzten Endes der Witz aus. Erst im Chaos würde er sich beruhigen. (105)

Einblick in die Absurdität der gesamten Welt ist der Urgrund alles Humors. Sein Gegenpol ist Frömmigkeit. (106)

Ein alter Irrtum in neuer Beleuchtung kann unter Umständen den Dienst einer neuen Wahrheit tun. (107)

Die Frucht vom Baum der Erkenntnis wird immer Gottlosig­ keit sein; die Frucht vom Baum des Lebens immer Gottes­ furcht. (108)

Alles Wichtigste in der Welt geschieht nebenbei. Beispiel: Christi Leben und Sterben. (109)

Der Himmel auf Erden? Ja, im mathematischen Punkt. (110)

45

Auf der Linie des unendlichen Kreises würde der Mensch eben­ sosehr als der Jäger und Verfolger Gottes erscheinen wie Gott der Jäger und Verfolger des Menschen ist. Alle transzendenten Hyperbeln, alles »Überschnappen« der Mystik geht darauf hinaus. (111)

Das Wort »Unglück« sollte der Christ eigentlich aus seinem Wörterbuch streichen, ja er sollte es gar nicht drin vorfinden, weiß er doch, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen. (112)

Wir suchen überall und immer das Glück, nichts als das Glück. Und wir finden im besten Falle einen schwachen, flüchtigen Wi­ derglanz auf einer Stelle der ungeheueren Weltkugel Unglück. Quelle des Glückes, dich suchen wir, dich beten wir an! (113)

Wer nicht im Glück unglücklich ist, der wird durchs Glück unglücklich. Denn es gibt kein größeres Unglück als in der Ver­ bannung leben und sich einbilden, man sei in der Heimat, als in die Heimat entlassen zu werden und zu meinen, man gehe in die Verbannung. (114)

Wo Genüge in Ungenüge übergeht, keimt neue Schöpfung. (115)

Tu das Werk deiner Tage und verzweifle nicht über dem, das ungetan bleibt. Deine Ungenüge ist die Schule, in die Gott dei­ nen Hochmut schickt. (116) 46

»Richtet nicht.« Erste Quintessenz der frohen Botschaft. »Las­ set die Toten ihre Toten begraben.« Zweite Quintessenz der frohen Botschaft. (117)

»Was wär ein Gott, der nur von außen stieße?« - Gewiß. Aber, was wäre ein Gott, der nicht auch aus seiner geschaffenen Welt sich herausziehen könnte? (118)

Magna Mater. Zu deutsch: Teufels Großmutter. (119)

Jeder vollbesetzte Tisch ist in gewissem Sinne ein Altar des Teufels. Aber der an ihm geübte Teufelsdienst trübet dir Le­ bendem zugleich die Möglichkeit deines Gottesdienstes auf Erden. So geht der Lauf der Welt. Erkläre, beschönige, reime ihn, wer kann. Meine Vernunft reicht da nicht zu. (120)

»Acheronta movebo.« Das bleibt unweigerlich die letzte Aus­ kunft aller Gottlosigkeit. (121)

»Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.« Ja, freilich! Aber du könntest auch sagen: »das Fleisch ist willig, aber der Geist ist schwach«. Denn nicht dein Geist ist es, der sich sehnt; dein Fleisch sehnt sich. Der Geist ist schwach zu helfen. (122)

Es wird nirgendwo so subtil über Gott geredet wie in der Hölle. (123)

47

Da nun alles, was wir Menschen über Gott auszusagen uns be­ müßigt fühlen, nichts andres sein kann als Kommentar und Apologie in einem, so sollten wir nur im äußersten Notfall den Mund zu solcher Aussage auftun. (124)

Bekennermut ist ein kostbarer Besitz. Sein Hervortreten ist zu gewissen Gelegenheiten fraglos unbedingt erforderlich. Bekennerdreistigkeit unterscheidet sich in nichts von jeder ge­ wöhnlichen Ungebühr. (125)

»Ketzer«. - Wenn ich das Wort höre oder lese, kehrt sich mir der Magen um. Als wenn wir nicht alle vor dem Geheimnis in der gleichen Lage wären. (126)

Wer zuerst die landläufige, blasphemische Phrase vom »lieben« Gott aufgebracht hat, verdiente noch nachträglich gebrandmarkt zu werden. (127)

Man möchte es fast bedauern, daß Christus am Kreuz geblutet hat, wenn man des greulichen Unfugs gedenkt, den hysterische Pfarrer mit dieser Tatsache getrieben haben. (128)

Der Mensch, der einen andern - in diesem Falle gar seinen Nächsten! - verdammt und das noch um der Liebe und des Opfers Christi willen, bietet wohl das lächerlichste und erbärm­ lichste Schauspiel dar, das sich unter Gottes Himmel denken läßt. (129)

Ob Christus in einem Kommunisten, einem Sozialisten oder einem Bürger sterbe, darauf kommt es nicht an, ihr biederen Genossen. Daß er in ihm und in jedem einzelnen lebe und sterbe, darauf kommt es allerdings an. (130)

Lessing. Laokoon: »Es gibt in der Natur keine einzelne reine Empfindung; mit einer jeden entstehen tausend andre zu­ gleich.« Ich bin glücklich dies Wort bei einem so reinen und entschiedenen Charakter wie Lessing anzutreffen. Daß Freude nicht ganz rein sein kann, würde man noch hinnehmen; aber der Schmerz, aber die Trauer. Wie hat es mich beim Tode Hof­ mannsthals gepeinigt, daß in alle Gefühle des Schmerzes eitle, egoistische, ja völlig alberne Vorstellungen sich einschlichen. Es mag das mit einem Selbsterhaltungstriebe der menschlichen Na­ tur Zusammenhängen. Völlig ungetrübt ist nur die Ekstase. (131)

Demut ist nicht Selbst-Vernichtung, Selbst-Haß, Selbst-Ankla­ ge oder Zerknirschung, sie ist das aus solchen Zerknirschungs-, Verwandlungs- und Verbrennungsprozessen gewonnene Lau­ tere des Gemütes, sie ist in Wahrheit: der neue Mensch. Da­ durch, daß sie ebensosehr die mit Sicherheit zu gewartende Frucht der höchsten Erkenntnis ist, wie sie die mit Sicherheit zu gewartende Frucht des höchsten Glaubens ist, zeigt sich auch in ihr der Einklang von Wissen und Glauben. (132)

Die Wollust der Welt kehrt ein finsteres und verzweifeltes Ge­ sicht gegen das Jenseits. Die Wollust des Glaubens sollte aus ihrem Jenseits auch auf die Welt - als auf eine im Grunde doch schon erlöste — mit Lächeln blicken. (133)

49

Schiller: »Nehmt die Gottheit auf in euren Willen«. - Paulus: »Freiheit der Kinder Gottes«. Dilemma: Was ist das für ein Wille, der sich an Stelle des Zwan­ ges setzt? Was ist das für eine Freiheit, die nur frei ist zu ge­ horchen? Ist hier nicht, damit das Ganze keine bloße Phrase und Ausflucht bleibe, so etwas wie eine »unio mystica« voraus­ gesetzt? (134)

Zwischen dir und Gott steht niemals eine Erkenntnis oder eine Unkenntnis. Du kannst ihn weder kennen noch nicht ken­ nen. (135)

Wir erkennen, indem wir erkannt werden. (136)

Wer’s unterfängt, Gott zu leugnen, der übernimmt die Ver­ antwortung für die ganze Welt auf die eigene Person. — Die alten Griechen hatten für ähnliche Aufgaben wenigstens Halb­ götter, Riesen, starke Leute in Bereitschaft wie den Atlas oder den Herakles. Bei uns soll’s jeder Trambahnschaffner imstand sein. (137)

»Werft die Angst des Irdischen von euch« - ein solcher Aus­ spruch macht mir Schiller zum Christen. (138)

Je näher die Sonne der Erde kommt, je unbehaglicher wird die Jahreszeit. So kommt uns auch Gott am nächsten im »Winter unsres Mißbehagens«. (139)



Wo wir Gott gleichsam automatisch am nächsten sind? Wo es uns am schlechtesten geht. Wenn er dein Leben in Stücke schlägt, tut er es um seinen Kern zu befreien. (140)

Nicht um die Verstocktheit deines Verstandes, sondern um die Verstocktheit deines Herzens geht es. Kein Mensch läßt sich zu etwas überzeugen, das er im Grunde nicht will. Keiner kann ja auch nur irgend etwas denken, ohne daß er vorher gewollt oder gefürchtet hat. Die Härte deines Herzens weicht nur der Gewalt. Bitte Gott um Unglück, wenn es nicht anders gehen will. (141)

Es käme nicht darauf an im Einzelnen wahr zu sein, wenn du die Wahrheit im Ganzen hättest. Da du sie aber nicht im Ganzen hast, kommt es darauf an, daß du im Einzelnen wahr seiest. (142)

Es wäre interessant, von kundiger Feder eine Abhandlung dar­ über zu lesen, auf welchem Wege sich der Besitz der geschlecht­ lichen Integrität als der einer höchsten sittlichen Vollkommen­ heit innerhalb der christlichen Welt herausgebildet habe. In den Evangelien selbst wird grade dies Gebiet der Sittlichkeit selten, und, wo es geschieht, mit großer Läßlichkeit behandelt. (143)

Und trotzdem: Das Wort sie sollen lassen stahn. Schon des Wortes wegen, das hinter ihm steht. (144)

51

Wäre der Mensch nicht unsterblich, so bedürfte er weder Gottes noch der Gnade Gottes; aber er bedürfte auch nicht des Urteils, ja er wäre nicht des allergeringsten Urteils fähig. Wer sagt: dies ist recht und dies ist unrecht, der bejaht damit seine Unsterblichkeit. Wir sind unsterblich nach dem Maße unsrer Urteilskraft. Dies ist die Umkehrung jenes: lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden. (145)

Es ist ganz gleichgültig, daß die Arbeit (im Weinberg) auch ohne dich geschehen würde; sie soll durch dich geschehen. Ja, sie soll durch dich geschehen, als ob sie sonst durch niemanden und niemals geschehen würde, und wärest du erst zur zwölften Stunde angestellt worden. (146)

Durchs Nadelöhr mußt du! Christ, mach dich dünne! (147)

VI

Selbstgefühl in Verbindung mit Verantwortlichkeit ist das EIGENTLICH PRODUKTIVE. OHNE

Verantwortlichkeit strebt es zur Tyrannei. Eitelkeit ist unterbundene Tyrannei.

Nur dein Unverbrennbares ist es, das zu transzendieren ver­ mag. Aus der Asche fliegt der Phönix. (148)

Wenn man alt wird, wird man notgedrungen zum Interpreten und Kommentator seiner eigenen Jugend, d.h. man fängt an zu wissen, was man schon immer gewußt hat. (149)

Wie lange lebst du? Genau solange, wie deine Jugend währt. Nur, was sich nicht mehr erneuern kann, stirbt. (150)

Jämmerliche Greise waren jämmerliche Jungen. (151)

Laß, was unter dem Zwerchfell wohnt, sich nicht deines Her­ zens und deines Hirnes bemächtigen. Das ist die Grundforde­ rung seelischen Haushaltes. Aber freilich, viele Menschen meinen, je unordentlicher dieser Haushalt sei, je natürlicher, ja, je genialer sei er. (152)

Unsere Hände und Füße sind in gewissem Sinne klüger als unser Verstand. Mit ihm allein würden wir weder gehen noch stehen können. — Wer dies eingesehen hat, der weiß auch, daß unter allen Torheiten menschlicher Erfindung die der Welt­ verachtung die törichteste sei. (153)

In jedem Falle ist es nur unser Stumpfsinn, der uns am Leben erhält. Wären wir nicht von ihm wenigstens für den weitaus größten Teil unsrer Lebensbetätigungen wie von einem un­ 55

durchdringlichen Panzer umgeben, wären wir längst ins Un­ endliche zerflattert oder zerfallen. (154)

Die geistigsten unsrer Sinne sind nicht die eigentlichst vitalen. Was dein Gesicht und dein Gehör bedroht, ist nicht so lebens­ gefährlich, als was deinen Tastsinn bedroht. (155)

Was sind die herrlichsten und folgereichsten Momente im pro­ duktiven Leben? Die, in denen aus Gefühlen Gedanken hervor­ treten. (156)

Selbstgefühl in Verbindung mit Verantwortlichkeit ist das eigentlich Produktive. Ohne Verantwortlichkeit strebt es zur Tyrannei. Eitelkeit ist unterbundene Tyrannei. (157)

Der Scherz ist Kinderstube und Vorschule des Witzes. (158)

Als Affekt ist Humor mit Hysterie und Lüge nahe verwandt. Wo er sich Herrschaft anmaßt, wird er mit ihnen verbündet sein; im Dienst höherer Gewalten ist er gerade wegen dieser o o Grenznachbarschaft ihr furchtbarster Gegner. (159)

Im Sturm der Leidenschaften schafft der Witz eine Wind­ stille. (160)

56

Heiterkeit - Humor - ist die einzige Form der Freiheit im Ge­ fängnis. (161)

Neckerei steht in der Mitte zwischen Angriff und Liebkosung. Sie geht darauf aus, daß der von ihr Betroffene nicht wisse, nach welcher Richtung hin er erwidern soll. (162)

Du bleibt immer eine Lüge, Ich eine Vermutung. (163)

Du streichelst einen Menschen, so du ihn weder fest angreifen noch von dir stoßen - schlagen - willst. Auch im Geistigen und in allen Formen der Schmeichelei ist das so. Es ist allerdings in vielen Fällen nichts als vorbereitende Handlung, »Appretur« des Opfers. (164)

Freilich der Trieb zur Vervollständigung ist zugleich der Grundtrieb alles Lebens, der vorübergehende Wahn erreichter Vervollständigung seine höchste Glückseligkeit. Hier liegt die Wurzel der geschlechtlichen Anziehung. (165)

Zwischen Mut und Furcht steht die Scham mitten inne. Des­ halb ist sie auch das Element, in dem sich Mann und Weib ver­ binden. (166)

Wovon nährt sich die Flamme? Vom Holze. Wovon nährt sich die Liebe? Vom Leben. (167)

57

Ablegung des Ekels ist vielleicht die schwerst zu erlernende Form der Demut. Aber wer seine Feinde lieben will, muß sie sich zu eigen machen. (168)

Wie jene Sagengestalt des Homer bei den Göttern Briareos, bei den Menschen Aigeion heißt, so heißt die bei den Göttern »De­ mut« geheißene unter den Menschen »Resignation«. (169)

»Liebe deine Feinde.« - So steht es geschrieben. Aber wir haben noch nicht einmal die Anfangsgründe der Lektion gelernt, die uns lehren soll unsre Wohltäter zu lieben. (170)

Wer keine Feinde haben will, wird auch keine Freunde haben, d.h. er wird die ganze Welt zum Feinde haben. (171)

Weil die Parole des Lebens Leben heißt, darum heißt sie Tod. Ja, sie heißt mehr als Tod, sie heißt Mord. - Es stirbt keiner, der nicht auf irgendeine Weise ermordet wäre. (172)

Nicht nur dein eigener Schutzengel, auch die Schutzengel dei­ ner Opfer begleiten dich durchs Leben; für einen Verteidiger hundert Ankläger. (173)

Lebe, wie wenn du schon gestorben wärest. Ein anderer Rat läßt sich nicht ersinnen. (174)

58

Das höchste Glück und der tiefste Schmerz sind ohne Humor. Wo sie zu lächeln anfangen, haben Furcht und Hoffnung schon ihr Werk begonnen. (175)

Was ist neben der Begehrlichkeit das größte Agens allen Ge­ schehens durch den Menschen: das böse Gewissen. Goethe hat das auf seine Art so ausgedrückt: Zwei der größten Menschenfeinde, Furcht und Hoffnung . . . (176)

Entäußerung, die nicht entäußert; Verwandlung, die nicht ver­ wandelt; das ist das Leben. Wahre Verwandlung, wahre Entäu­ ßerung kommt von Gott und führt zu Gott. (177)

Furcht zeugt Begierde, Begierde zeugt Furcht. Die Ahnenreihe menschlicher Taten kennt keine andern Namen. (178)

Wo weder Furcht noch Begier rege werden, empfindest du Ver­ achtung. Wo beide beschwichtigt werden, Vertrauen. (179)

Wo du zugleich begehrst und fürchtest, sagst du »ich liebe«. Es mag beschämend sein, aber es ist so. (180)

Furcht ist wie der Schwindel, sie macht erst die Gefahr gefähr­ lich, weil sie den Maßstab verliert. (181)

59

Wer Vorsorge trifft, der muß etwas haben, das ihn der Sorge wert dünkt. Unwürdige Sorglosigkeit berührt sich mit der Furcht in dem Punkt, daß sie ihrer Hilfsmittel nicht achtet. (182)

Polyphonie auch der Gefühle. Eines der schwierigsten - vor allem sittlich schwierigsten - Probleme. (183)

Geistige Kritik und Krise hat nur Bestand, wenn sie auf der Kri­ tik und der Krise des Gefühls beruht. (184)

»Man sollte!« - »Man sollte!« — Wenn diese unablässige Auf­ forderung nicht in jedem »man hat« steckte, würde die Welt aufhören. (185)

Jeder gefaßte Entschluß ist ein Entschluß auf Tod und Le­ ben. (186)

Wer innerhalb der höheren Erkenntnisse dazu ogelangt O ist,7 sich unablässig zu wiederholen, der ist im Grunde der Wahrheit am nächsten gekommen. (187)

Vorwitz steht im gleichen Verhältnis zur Schuld, wie Frühreife zur Erkenntnis. (188)

6o

Wenn ich nicht rede, brauche ich nicht mit Notwendigkeit stumm, wenn ich nicht denke, nicht mit Notwendigkeit dumm zu sein. (189)

Die Leute, die sich und andern das gute Mittagessen mit diäte­ tischen Weisheitslehren zu verderben trachten, sind in den mei­ sten Fällen unleidliche Spießbürger. Die meisten Diätetiker der Seele sind’s gleichfalls. (190)

Es ist eine der wunderlichsten Erfahrungen, zu gewahren, wie viel geschehen müsse, damit nur überhaupt irgend ein Weniges geschehe. (191)

Der Spott des Frommen ist frommer als das Gebet des Un­ frommen. (192)

Auch Gehen ist in gewissem Sinne ein Fliegen. (193)

Wer Dreck anfaßt, besudelt sich. Jawohl. Aber wer überhaupt keinen Dreck anfassen will, wird im Schmutz umkom­ men. (194)

Der Mensch würde die Sterne fressen wollen, wenn er’s nur könnte. (195)

6i

Große Anstalten und minimale Wirkungen; kleine oder gar keine Anstalten und unabsehbare Wirkungen. Das ist der Lauf der Welt. (196)

Der Wurm, der an den Wurzeln des Baumes frißt, zerstört ihn. Der Vogel, der sich von seinen Früchten nährt, pflanzt ihn fort. (197)

Wanderer! Jeden Schritt vom Wege bezahlst du mit späterer Heimkehr. (198)

Tue jede Tat, wie wenn du einen Baum pflanztest. Jede soll und wird in gutem oder im bösen Sinne Unzähligen fruchten. (199)

VII

Wo Geschichte fehlt, ist Chaos oder Schöpfung, wo

Geschichte wird, ist Leben, wo Geschichte überwiegt, Verfall.

Das Arge der Welt ist ohne weiteres aus der Tatsache zu er­ sehen, daß jeder Versuch, das Paradies auf Erden zu verwirk­ lichen, zu einer Hölle auf Erden führt und führen muß, und zwar der Versuch im Großen wie im Kleinen, an der Allge­ meinheit oder am Einzelnen. (200)

Es ist nichts leichter, als alles Tun und Treiben des Menschen aus der Wurzel seines ungöttlichen Wesens — seiner Schlechtig­ keit, Selbstsucht, Trägheit, Gier, Lieblosigkeit - herzuleiten. Viel schwerer ist es zu sehen, daß - oder gar inwiefern! - an allem diesem Tun und Treiben auch sein göttliches Wesen teil­ habe. Denn, um das feststellen zu können, müßte man schon mehr als eine bloße Ahnung von göttlichem Wesen haben. (201)

Es muß doch irgend ein verborgenes Gutes an dir sein; denn du trägst das Antlitz der Menschen, um derentwillen Gott sich immerfort erniedrigt und opfert. Rühme dich, sei fröh­ lich. (202)

Es gibt Tugenden oder an sich neutrale Gemütsregungen und Gemütszustände, in denen dieser im höchsten Sinne weltge­ schichtliche Ausgleich sich schon vollzogen hat oder doch sich stillschweigend unablässig vollzieht. Es sind dies die Tu­ genden der Treue, der Beständigkeit, es sind dies die Mäßigung, die Hoffnung — auch diese absolut genommen -, das Vertrauen und, so sonderbar es lauten mag, der Glaube selbst. Ja, dieser Ausgleich ist seine wahre und einzige Lebensbedingung, sein völlig unmeßbares Fundament. (203)

Alle Beschäftigung mit der Vergangenheit ist nur der Versuch mit Hilfe dessen, das einmal ein Künftiges gewesen, sich des wirklich Künftigen zu vergewissern. Jede Erinnerung ist eine umgekehrte Hoffnung. Trauer entsteht da, wo das Gefühl oder die Erkenntnis Platz greifen, daß eine solche Fruchtbarma­ chung eines Vergangenen für die Zukunft nicht mehr möglich sei. Trost tritt dagegen in sein Recht, wo es uns deutlich wird, dies sei auf die eine oder die andere Weise doch noch möglich. Und so gehört, genau besehen auch die Vergangenheit dem einzigen Zeitbegriff an, der für uns ein wesentlicher ist, näm­ lich dem der Zukunft. (204)

Beschäftigung mit der Vergangenheit deutet immer auf Zweifel an der Gegenwart. Wird sie zum Historizismus, so bedeutet sie uneingestandene Selbstaufgabe. Verleugnet freilich ein spätge­ borenes Geschlecht sein geschichtliches Erbe, so verwirkt es das Recht auf weitere Generation. (205)

Jenes unbedingt Böse: Selbstsucht, Begierde, Mordsinn, Haß — alles absolut genommen - und dies unbedingt Gute: Mitgefühl, Dienstwilligkeit, Ehrfurcht, Liebe, Frömmigkeit - ebenfalls ab­ solut genommen - sind nun innerhalb der geschehenden Welt in einem fortwährenden Ausgleich begriffen. Am deudichsten ist das vielleicht in jedem Zeugungsvorgange; aber in jedem noch so gleichgültigen Geschehen offenbart sich das gleiche Durcheinandergreifen, die gleiche Entladung. So und nur so entstehen Weltbegebenheiten, entsteht Welt-Geschichte. (206)

Einen tiefen Blick ins Leben hat der getan, der gesehen hat, daß alle großen Geschehnisse, alle Heldentaten, alle Errungen­ 66

schäften der Welt und der Menschheit zunächst ein negatives Vorzeichen tragen. Nur auf vernichtetem Leben blüht neues Leben, nur die Waffe schafft Frieden, nur Verwerfung Billi­ gung, nur Recht Ordnung. (207)

Wo Geschichte fehlt, ist Chaos oder Schöpfung, wo Geschichte wird, ist Leben, wo Geschichte überwiegt, Verfall. (208)

»Einer trage des andren Last.« Herrliches, abgrundtiefes Wort, Wort, das mit einem kaum spürbaren Ruck das schreckensvolle Geheimnis menschlicher Beziehungen in ein höheres Licht hebt, in dem das Aufeinanderangewiesensein aller sich als gott­ gewollte Harmonie kundtut. Davon, daß jeder die gleiche Last tragen solle wie der andere, steht nichts geschrieben, es wäre auch der bare Unsinn. (209)

Wenn Gott gewollt hätte, daß alles über einen Kamm geschoren würde, so hätte er uns sicherlich Kamm und Schere zur Hand gestellt. So aber haben wir nur den Spiegel und das dunkle Wort. Und Millionen und Abermillionen haben nicht einmal das. (210)

Wer niemand über sich und niemand unter sich erträgt, der verurteilt sich selbst zum Tode, denn aus Unterem und Oberem ist die Ordnung dieser Welt gemacht. (211)

67

Ich wende mich damit gegen keine bestimmte Staatsform. Ich wende mich nur gegen die grauenvolle Lüge der Gleichmache­ rei. Es wäre töricht zu verkennen, daß auch außerhalb einer kollektivistischen oder ihr angenäherten Staatsverfassung menschliche Sitte, menschliches Leben, menschliche Gemein­ schaft und menschlicher Gottesdienst bestehen und gedeihen könne. (211 A)

Warum ich aristokratisch denke? Weil, unter welcher Form und welcher Voraussetzung immer, der jeweilige »Kratos« stets beim jeweiligen »Aristo« sein wird. Dagegen kann man aus Grundsatz eifern, ändern kann man’s nicht. (212)

Die Parole der »Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit« war für den Franzosen lediglich ein Stimulans, für den Deutschen würde sie, falls er gezwungen wäre, sich zu ihr zu bekennen, ein tödliches Gift sein. - Für den Russen ist sie das wohl auch, aber der hat eine bestialischere Konstitution. (213)

Gleiches Recht für alle gibt es nur bei Toten und für Tote. (214)

Woran scheitert alle Politik als eine generelle Menschheits­ unternehmung? Daran, daß im Leben unweigerlich jeder Mensch seine eigene Zeche bezahlen muß. (215)

Wenn wahre Menschlichkeit darin besteht, vom Menschen so gut wie nichts mehr zu fordern, so ist unser Jahrhundert eines der menschlichsten. (216) 68

Über Politik lasse man den praktischen Politiker schreiben. Wenn er auch nicht alle seine Trümpfe aus der Hand geben, und wenn seine Schrift auch selber eine »politische« sein wird, so ist doch aus ihr allein wirkliche Belehrung zu erhoffen. Caesar, Napoleon, Bismarck, das sind wirkliche Quellen zum Wesen des Politischen. Beileibe nicht etwa Marx, nicht einmal Hegel oder Platon; ihre politischen Schriften zeigen nur das Leichen- und Trümmerfeld einer unentschieden gebliebenen Geisterschlacht. (217)

Wer in jedem Augenblick erkennt, was in jedem Augenblick wertvoll oder entscheidend ist, ist der wahrhaft magische Mensch. Dem Politiker, d.h. dem wirklichen, nicht dem ange­ maßten, eignet diese magische Kraft. Ihm gegenüber verfügen wir andern nur über den Treppenwitz der contemplatio. (218)

Man braucht nicht erst Platos Staat zu lesen, um zu begreifen, bis zu welchem Grade die irrtümliche Leidenschaft zur Politik einen großen Geist um sein Eigenstes bringen kann. Auch Goethes politische (Erziehungs-)Exkurse in den 'Wanderjahren gehören zu dem wesenloseren Teile seines Werkes. (219)

D as Wort »wir« wird innerhalb der politischen Welt nur als pluralis majestatis, innerhalb der geistigen Welt nur als Plural der Bescheidenheit, also immer nur vom Einzelnen her wirksam sein. (220)

Kluges Wort des Chrysippus, daß die Kriege der Welt als Mittel gegen Übervölkerung dienen, ebenso wie die Aussendung von 69

Menschen in Kolonien. - Die Kriege, in die wir jetzt eingetre­ ten sind und die ihr Ende noch lange nicht erreicht haben, resul­ tieren aus dem Schließen der kolonisatorischen Ausfallstore, ebenso wie die lange Friedensperiode seit 1871 durch intensive kolonisatorische Ausbreitung ermöglicht wurde. Ihre ersten Störungen: Krieg um Cuba, Japan-russischer Krieg, Tripohskrieg sind Kriege um Kolonien gewesen. (221)

Den Krieg verliert in einem gewissen Sinne der Sieger ebenso wie der Besiegte, denn nachher ist nicht mehr Krieg sondern Frieden. Es ist daher begreiflich, daß der Sieger bestrebt sein wird, den Krieg mit allen Mitteln fortzusetzen. (222)

Wenn ich schon für eine Überzeugung sterben soll, so will ich lieber für meine eigene als für eine fremde oder gar feindliche Überzeugung sterben. Grenzenloses Unglück der Menschen, die in einem Dienst verbraucht werden, von dessen Unrecht­ mäßigkeit, ja Verderblichkeit sie überzeugt sind. (223)

Versuche wie der des Bolschewismus scheitern daran, daß sie zwei sich widersprechende Gebote, wie nämlich dies: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist« und dies andere: »Laß dich nicht gelüsten«, für das allgemeine Treiben auf den gleichen Nenner bringen wollen. Nur im einzelnen Herzen findet dieser Widerspruch seinen Ausgleich und zwar auch ihn nur als Forderung, denn diese Forderung, d.h. also der gemeinschaftliche Nenner, lautet: Entäußere dich. (224)



Schrecklich zu denken, daß Sokrates gelebt hat, Platon gelebt hat, Christus auf Erden gewandelt hat, und daß nun ein Trotzki und Lenin möglich sind. (225)

Es ist das Eigentümliche der Politik, daß in ihr der Humor keinen Platz hat. Da sieht man, wie sehr sie uns an die Nieren und auf die Nerven geht. (226)

Niemand kann sich blauere Augen und blondere Haare, niemand sich braunere Augen und schwärzere Haare machen, als die Natur ihm gegeben hat. Aber jeder kann das geistige Erbe, das er mitbekommen hat, vermehrt und sublimiert wei­ tergeben. (227)

Es geht nicht an, wenigstens ohne Verhöhnung und Verleug­ nung aller geistigen Prärogative und Verantwortlichkeit des Menschen geht es nicht an, die grundsätzliche Minderwertig­ keit ganzer Menschenrassen - Menschheiten - zu proklamieren. Auch der Negerzwerg im afrikanischen Urwald hat in sich die Möglichkeit zu einem Hegel. Daß seine Geschichte ihn vorläufig außer Stande setzt, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, ist sein geschichtliches Unglück, aber nichts, deswegen der Beglücktere sich über ihn erheben darf. (228)

Der Begriff der Gemeinde ist immer ein trüglicher. Der Begriff des Staates ist immer ein gewaltsamer. Der Begriff des Volkes würde ein natürlicher und gegebener sein, wenn er ein natür­ licher und gegebener wäre und nicht doch in vielem künstlich 7i

und auf geschichtlicher Unklarheit oder gar geschichtlicher Fäl­ schung beruhend. Der Begriff der Rasse nun gar ist ein vollen­ det viehischer und daher die Wonne aller Hohlköpfe. Wohlge­ merkt, es ist hier von diesen Begriffen als grundsätzlichen die Rede. In der normalen Praxis und im einzelnen Falle tun sie ihre Schuldigkeit. (229)

Dies Geschrei: »Rasse!« und nochmals »Rasse« gehört, in dem Sinne, in dem es gegenwärtig im Schwange ist, zu den stupide­ sten Ausgeburten und Nachgeburten des baren Positivismus. Als ob man Menschen züchten könnte oder sollte wie Pferde oder gar Bäume. Pflanzt Kartoffeln auf dem Asphalt, und seht, was draus wird, ihr Esel. (230)

Blut und Boden. Wiedereinführung des Phallusdienstes mit Herrn Freud und Genossen als Hierophanten, wäre redlicher und ehrenwerter als dieses neu zusammengeflickte Schafskleid des alten Wolfes. (231)

Zwischen dem Scharfrichter und dem Erzieher - Schulmann, Volksredner, »Politiker« jeder Form und Färbung - besteht das Gemeinsame, daß sie die ungeheure Verantwortung einer ent­ scheidenden, auch in den zweiten Fällen mitunter zwangs­ weisen Beeinflussung, »Determinierung«, fremder Menschen­ leben auf sich nehmen. Es braucht daher auch unter diesem Gesichtspunkt nicht Wunder zu nehmen, wenn der Weg vom Volksbeglücker zum Scharfrichter oft ein so kurzer ist. (232)

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Hysterische Unwahrhaftigkeit; das ist im Grunde der Seelen­ zustand der meisten — oder sagen wir ruhig aller? — sogenannten Weltbeglücker. Vide Rousseau. (233)

Aller Radikalismus ist Spekulation auf Kosten anderer. (234)

Jeder ganz Unentwegte hat seinen geheimen Notausgang (oder glaubt ihn doch zu haben), durch den er persönlich entwischen werde, wenn die von ihm selbst sozusagen ersehnte und jeden­ falls mit herbeigeführte Katastrophe eintrete. Darin besteht die Unredlichkeit der redlichen Fanatiker. Von den unredlichen verlohnt es sich nicht zu reden. (235)

Der Deutsche hat oft in Gesellschaft Mühe sein Selbstgefühl zu bewahren, dem Italiener oder Franzosen dürfte diese Gefahr eher in der Einsamkeit begegnen. (236)

Es ist eins der lustigen Geheimnisse der Welt, daß alle Welt immerfort nach Gerechtigkeit schreit und Gnade meint. (237)

Es gibt in der ganzen Welt kein Märchen, das so unglaubwür­ dig wäre wie dies, daß aus uns noch einmal etwas Rechtes wer­ den solle. Und doch ist unter allen Märchen der Welt dieses das einzig glaubwürdige. (238)

Kein Wipfel ohne Wurzel. - Kein Erkenntnissatz ist zwingen­ der und einleuchtender als dieser, und keinem wird durch alle

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Verzweigungen des Lebens hin mehr zuwider gehandelt als ihm. Alle Krankheit unserer Zeit beruht auf seiner Ver­ kennung. (239)

VIII

Kategorien sind Zielpunkte des geistigen Blicks. In Wirklichkeit ist alles Stufenfolge.

Wenn das Ewige sich offenbaren will, benutzt und benötigt es das Endliche. Wenn die Wahrheit sich offenbaren will, benutzt und benötigt sie die - Lüge. Oberster Grundsatz! (240)

Wie sehr die Welt des Teufels sei, sieht man schon darin, daß jeder Fortschritt zugleich ein Rückschritt ist. - Aber diese tief­ ste, einfachste, selbstverständlichste aller Erfahrungen ist ja grade die, gegen deren Evidenz die Menschheit und die Men­ schen sich am nachhaltigsten und in gewissem Sinne erfolg­ reichsten sträuben. Dabei braucht man nur an die im Sinne jeder teleologischen Beschaffenheit, jeder physisch-psychischen Entelechie des Individuums fortgeschrittensten Sinnes Werk­ zeuge zu denken, an die, die uns erst alle »höhere« Welt er­ schließen und nahebringen, an die Sinne des Gehörs und des Gesichts: Aug und Ohr sind ihre Instrumente; sind sie nicht zugleich die subtilsten, die wirksamsten, die schreckenvollsten Instrumente aller ersinnbaren Versündigung? - Von hier aus wird einem alsbald das grauenvolle Doppelgesicht aller Erfin­ dungen und Entdeckungen deutlich, die den Menschen, indem sie ihm immer unübersichtlichere Möglichkeiten bieten, vor immer unübersichtlichere Entscheidungen stellen. (241)

Mathematik ist »Welt« ohne »Liebe«. (242)

Wie sehr dies richtig sei, ersehe man daraus, daß Mathematik eine Welt der Gleichungen aber nicht eigentlich der Schöpfun­ gen ist. Dies natürlich nur insofern sie eine Welt schlüssiger Verfahren ist. Ihre »Grundsätze« sind in jedem Sinne Schöp­ fungen; aber eben darum sind sie auch nicht in jedem Sinne Mathematik. (242 A)

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Es wird wohl letzten Endes darauf hinauskommen, daß man Allbezogenheit = Freiheit setzt. Beides sind Negationen. Das Unbegrenzte ist ihr Feld. (243)

Das reine Denken gehört zu den weltzernichtenden Postulaten. Es möchte den menschlichen Kreis schließen. Also nochmals: Auch das reinste Denken ist ein praktisches Denken. (244)

Die Wahrheit ist in zwei Äußersten behaust, im völligen Licht und in der völligen Finsternis. Daß dem so ist, gibt uns, die wir nur in einer Mitte zwischen beiden, bald der einen, bald dem andern ein weniges angenähert, atmen dürfen, die Signatur unsres Daseins und seiner Probleme. Es ist der Quell alles Rätselhaften. Schwarz und weiß zu gleicher Zeit, das ist das undurchdringliche Geheimnis der Wahrheit und jeder ihrer Offenbarungen; denn alles Wahrnehmbare ist aus beidem ge­ mischt. (245)

Nicht um den gedachten oder den konstruierten Widerspruch geht es, es geht um den in jeder Erscheinung geoffenbarten Widerspruch. Sieh den Baum an, sieh seine belichtete, seine be­ schattete Seite, seine Rinde, seinen Kern, sein Saftiges, sein Festes, sein Hölzernes, sein Läubernes, seine Wurzel, seine Krone u.s.f. - Was du dir an diesen Widersprüchen durch Ver­ gleich aufzulösen vermagst, ist dein Besitz und deine Erkennt­ nis, was übrig bleibt, gehört den unendlichen Zielen an, nach denen du hinstrebst. (246)



Wer wird am besten philosophieren? Der, der in sich am wenig­ sten zu rechtfertigen hat. (247)

Alles geistige Bemühen des Menschen läuft im Grunde darauf hinaus, den Tod aus der Welt zu schaffen. (248)

Die Philosophen mögen sich sperren wie sie wollen: Gedan­ ken bleiben Alltagsware und Gebrauchsgegenstände. (249)

Alles echte Philosophieren, vor allem alle wirkliche - mythi­ sche! - Metaphysik geschieht im Stande der Unschuld. (250)

Philosophen kommen mir vor wie die Hungerkünstler. Der eine kann zwanzig, der andere gar sechzig Tage fasten; aber schließlich setzt sich doch ein ausgehungertes Gerippe reue­ voll an die stets reichbesetzte Tafel der Wahrscheinlichkeiten, denn von der Wahrheit - sans phrase - kann niemand le­ ben. (251)

Je höher die geistige Kochkunst steigt, je komplizierter sie wird, je eitler werden die Köche. Destilliertes Wasser soll es mindestens sein, womit sie gekocht haben. (252)

Worauf ist unser Denken im Grunde so eitel? Auf seine hohen Verwandten. (252 A)

79

Der »Sachkommentar« Gottes oder sagen wir - vielleicht besser - seine Offenbarungen, ist die Wissenschaft. (253)

Es wäre zu wünschen, daß allen Männern der Wissenschaft für eine Zeitlang der Titel »Nichtwisser« von Staatswegen aufgenö­ tigt würde; freilich so, daß in diesem Titel eine ehrenvolle, nicht eine herabsetzende Distinktion erblickt würde, indem eben alsdann die Wisser als die Unbelehrbaren und folglich nicht zu Belehrenden, die Nichtwisser als die Lernenden und Lehrenden angesprochen würden. (254)

Wie kommt man zum Wissen? Durch Worte. (255)

Diese Tatsache ist auch die einzige Entschuldigung dafür, daß die kümmerlichen Brocken Wissen oft in so breiten, flauen Wortsuppen schwimmen. (255 A)

Wenn man bedenkt, was alles Sokrates und noch dazu durch den Mund eines andern hat geredet und hat reden müssen, nur um zu beweisen, daß seine Gegenredner nichts wissen und er selber noch weniger! (256)

Die Methode des Sokrates war, so wie sie ausgeübt wurde, eine fast übermenschliche (inhumane) Probe auf den Edelmut der athenischen Jugend. Ich wenigstens bewundere die Geduld und den Enthusiasmus der auf solche Weise Belehrten fast noch mehr als die Weisheit des »weisesten aller Menschen«. (257)

8o

Wer die Prüfung des Geheimnisses nicht ertragen will, weiß nichts von Bräutigam und Braut. Chor. (Largo, Fortissimo) »Sei das Wort'die Braut genannt, Bräutigam der Geist.« Sokratische Fistel (falsch einsetzend) »Und das Kind ein Wechselbalg, Der Menschenwissen heißt.« (258)

Die tiefste, die abgründigste Ironie der sokratischen Apologie ist die, daß sie eigentlich eine Apologie seiner Richter ist. Er steht in Wahrheit vor ihnen als ein Todbegehrender. (259)

Der Tod des Sokrates ist — natürlich nur in einem gewissen, aber ihm selber vielleicht gar nicht einmal ganz ungemäßen Sinn — der Fall des Löwenbändigers auf einem allerdings nur sozu­ sagen unpolitischen Felde. (260)

Wenn wir an dem deutschen Wort »Begriff« die vielleicht allzu drastische Sinnlichkeit zugleich tadeln und loben möchten die Worte »erfassen«, »faßbar«, »Faßbarkeit« würden uns in dem gleichen zweideutigen Lichte erscheinen -, so ge­ bührt uneingeschränktes Lob, uneingeschränkte Bewunderung dem Sprachgeist, der für die noch über dem Begriff stehende Kategorie des geistigen Verhaltens, für die wir den Terminus der Intuition anwenden, ein so schönes, so frommes, so tief be­ zeichnendes Wort hat wie »Eingebung«. Auch hier ist das Ge­ fühl der Nähe zu dem höchsten geistigen Gegenstand frappant und frappant ausgedrückt, aber indem ein Erleiden und ein dies 8i

Erleiden verursachender Gnadenakt angenommen wird, ver­ liert hier der Begriff der Einverleibung alles Dreiste oder Be­ gehrliche. - Und doch, man wird immer leichter von »Intui­ tion« reden als von »Eingebung«, vielleicht aus reinem Scham­ gefühl. (261)

Überall, wo man sich auf der festen, grünen Weide der Begriffs­ bestimmungen und der Begriffsvertauschungen munter und ungefährdet ergehen zu dürfen glaubt, tritt man unversehens in Fußangeln! »Latet anguis in herba«. Die Ringe, die diese Schlange - nach Schlangenart - rollt, könnte man mit kühner Metapher als »circuli vitiosi« bezeichnen. (262)

Nein, Flerr Heidegger, es gibt nicht das »Nichts«, es gibt immer - und das ist das viel Grauenvollere - das Andere. (263)

Der Begriff der Entelechie ist der große, der gewaltige Fund des Abendlandes. Er verbindet unsre alte Welt mit unsrer neuen. Er ist Fundament alles Humanismus, aller abendländi­ schen Humanität. (264)

»Der Weg des Geistes ist der Umweg.« Nein, lieber, großer Hegel, der Weg des Geistes ist der Weg des Feuers, der Weg des Lichtes und ein noch schnellerer als dieser. Der Umweg ist der Weg der Vernunft und ihrer Erkenntnisse. Er ist sogar ein Um­ weg, der sich an jeder Ecke als Holzweg offenbaren würde, wenn nicht der Geist von Zeit zu Zeit neue Breschen schlüge, durch die die Schnecke Vernunft ihm nachgekrochen käme. (265) 82

Nietzsche hat als der unvergleichliche Seelenkünder, der er ist, sehr wohl die psychologischen Grundlagen der christlichen Gesinnung erkannt. Er hat nur verkannt, daß diese Grundlagen überhaupt allem menschlichen Wesen und Tun insofern eignen, als es unter Menschen keine Eigenschaften an sich, sondern immer und überall nur reflektierte (Interferenz-)Eigenschaften gibt. Deshalb ist sein Kampf gegen das »Ressentiment« inner­ halb d er allgemeinen Reziprozität des Daseins ein Kampf gegen Windmühlen. (266)

Psychologie ist Philosophie nach dem Sündenfalle. (267)

Da die Philosophie im allgemeinen zu harmlos, die Theologie zu vornehm ist, um sich mit der Naturgeschichte des Teufels abzugeben, so muß man diesen höchst wichtigen und belang­ reichen Wissenszweig - vorläufig wenigstens - noch den Na­ turwissenschaften überlassen. (268)

Psycho-Analyse ist vollends Naturgeschichte - oder sagen wir nicht besser nur Statistik? - des Teuflischen. In dieser Hinsicht, aber auch nur in dieser einen Hinsicht tut sie ihren Dienst und erfüllt sie ihren Zweck. (269)

Seine eigenen höheren Zwecke erreicht der Psychoanalytiker, als Praktiker, nur durch einen Taschenspielertrick, indem er sich nämlich - unter der Hand, ihm selber vielleicht unbewußt aus dem Analytiker in den »Psych-Agogen« verwandelt, hier­ bei unweigerlich ein mystisches, ja religiöses Element der ganz §3

naiven metaphysischen Wertsetzung, den Glauben an das »Höhere«, in seine Praxis übernehmend. (270)

Erst wenn die Wohnungen des Geistes oberhalb des Zwerch­ fells durchforscht und erhellt sind, dürfte man sich füglicher Weise an die Erforschung der niederen Regionen begeben, in denen er zweifelsohne auch behaust ist. (271)

Der alten Psychologie kann etwas wie die instinktive Erkennt­ nis dieser Sachlage zugute gerechnet werden. Die neuere, vor allem seit Freud hat den Fehler gemacht, daß sie das Unterste, den noch gärenden, indifferenzierten, wenigstens relativ unbegeistigten Trieb, ohne weiteres mit dem Höchsten, mit dem, was wir im engeren Sinne Geist nennen, hat verbinden wollen und darüber die gewaltige, so wenig gekannte mittlere Region, die des Herzens aus ihren Kombinationen ausgeschaltet hat. An diesem Fehler krankt alles, was sie hervorgebracht hat, an ihm wird alles zugrunde gehen. (271 A)

Vergewaltigung ist das zeugende Prinzip. (272)

Wo Gestalt ist, ist auch Gewalt. (272 A)

An einer Formel wie dieser erkennt man deutlich die Indivi­ dualzüge einer Sprache. Sie läßt sich in keiner andern - außer vielleicht den nächstverwandten - wiedergeben. (272 B)

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Alle Geisteskrankheit ist im allereigentlichsten Sinne Rache der Materie. (273)

Die feinen Namen, die die neueste Wissenschaft für allerhand seelische Gebrechen erfunden hat, bedeuten nicht nur für die Justizpflege eine ärgerliche Gefahr. »Hemmungen« und »Komplexe« sind zu einem gern getragenen Seelenschmuck derjenigen geworden, die sich früher nur ungern der Trägheit oder andrer Laster zeihen ließen. (274)

Jedes philosophische System ist ein Usurpator auf religiösem Gebiet. (275)

Wer an der Welt verzweifelt, weil er sie nicht begreift, könnte schon an ihr verzweifeln, weil er mit seinen Fingerspitzen nicht sehen kann. (276)

Kategorien sind Zielpunkte des geistigen Blicks. In Wirklich­ keit ist alles Stufenfolge. (277)

Worin beruht die schöpferische - magische - Kraft des Men­ schengeistes? Im Vermögen der Assoziation. Es ist theoretisch wie praktisch unbegrenzt wie die Wirklichkeit selbst. (278)

IX

Die Berge,

die du nicht versetzen

KANNST, MUSST DU ERSTEIGEN.

Da hilft dir niemand.

Es ist eine alte Erfahrung des Menschen, daß Götter sich ihm in Verkleidungen nahen, weil er ihr wahres Angesicht nicht ertragen würde. Denke ein wenig über den tiefen Sinn solcher Berichte nach. (279)

Wer ein Brot auf dem Tische sieht, wer den Wein im Glase vor sich stehen sieht, was sieht er? Wer ein Kindlein in der Wiege gewahrt, was gewahrt er? Es ist nichts in der Welt, das dich nicht auf die Kniee zwingen könnte, weil Er dir darin erscheint. Es braucht nicht einmal den feurigen Dornbusch. - Ein ge­ wöhnlicher tuts unter Umständen auch. (280)

Man kann gewiß niemanden Lügen strafen, der da sagt, Gott habe sich in der Natur ebenso geoffenbart wie im Wort. Und doch stellen wir mit Recht die Offenbarung durchs Wort höher. Geschaut hat Adam die Welt durch das Geschenk seiner natür­ lichen Augen. Benannt hat er sie auf besonderen Befehl. - Also: homo intuetur, Deus inspirât. Da hast du den Gegensatz von »Intuition« und »Inspiration«. In begnadeten Naturen freilich kommunizieren beide unablässig. Ein Auge, das »umfaßt« ist wie ein Ohr, das »vernimmt«. »Afflavit Deus.« (281)

Wann fängt das »neue Leben« an? Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jeden Moment! Jetzt! ! - Und immer wieder und immer wieder; denn auch das »alte Leben« hat seine Unsterblichkeit, die Unsterblichkeit des - Todes. (282)

Nur ein Gott, der zugleich überall und in allem und nicht über­ all und in allem ist, ist in Wahrheit Gott. Der ausschließliche §9

Pantheismus und der ausschließliche Theismus sehen beide nur einen Aspekt des Geheimnisses. (283)

Warum kreisen die Sterne, warum recken Menschen die Hände aus, gehen, laufen, arbeiten, u.s.w.? Warum wird gezeugt und gesäet? Weil die Welt keinen Frieden hat und haben soll. Sehn­ sucht nach Frieden und Leben im Streit, Sehnsucht nach Frie­ den und deshalb Streit, das ist die Signatur der Welt. Nicht ein­ mal im Jenseits glauben wir Frieden zu finden. Würden wir sonst den Tod fürchten? »Meinen Frieden gebe ich euch«. »Nicht gebe ich wie die Welt gibt«. — »Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.« - Das sind Worte aus einem Jen­ seits hinter allem Jenseits, von dem der Mensch träumen kann. (284)

Verzichte oder vernichte; verzichte oder geh zu Grunde. Das ist das exotensche und esoterische Dilemma unseres Lebens, dies der Sinn alles »wachet und betet«. (285)

Noch einmal und immer wieder: das höchste Geschäft des Glaubens ist, daß er auf genau dem Punkt Trost finde, wo die Vernunft beginnt und beginnen muß, zu verzweifeln. (286)

Glaube, Hoffnung, Liebe. Du kannst für diese drei höchsten Worte der Welt, drei sehr schlichte, sehr nüchterne Stellver­ treter einsetzen, ohne - wenigstens dem irdischen Verstände nach - ihnen Wesentliches zu nehmen. »Erfahrung«, »Erwar­ tung«, »Zustimmung« wären diese drei Worte. (287)

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Gegen alles Gift der Welt gibt es nur ein Gegengift: Glau­ ben. (288)

Wer glaubt wird selig. Nein! - Wer glaubt ist selig. (289)

Wer nicht fortwährend das Ganze hat, kann niemals das Ein­ zelne haben. — Grund, weshalb ich an der Praerogative des Glaubens festhalte. (290)

Sagt nicht, ich verflüchtige die Vorstellungen des Glaubens. Sie sind nur, wo der Gedanke und die Phantasie sich an sie her­ anmacht, nicht zu greifen. Unbegreiflich, also, in der Tat ver­ flüchtigt, in der Tat im Sinne des Verstandes und der Vorstel­ lung »nonexistent«. Das ist ihr wahres Wesen und ihr Geheim­ nis. (291)

Nietzsche hat vollkommen Recht, unser Glaube ist die Frucht des ressentiment, denn er beginnt mit dem Schreck über und dem Abscheu vor uns selber. (292)

Wißt ihr, warum der Glaube »in Wirklichkeit« keine Berge versetzt? Weil der Glaube, der in sich die Möglichkeit oder die Lust zu einem solchen Experiment in sich empfände, schon nicht mehr der Glaube wäre, dem dies-Experiment gelingen könnte. (293)

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Fange nur erst einmal an zu glauben. Von dem Augenblick an werden nirgendwo in deiner Welt mehr »Berge« zu finden sein. (293 A)

Nicht du sollst durch die Wände dieser Welt hindurch zu Gott dich retten; du sollst selber die Wand sein, durch die hindurch du selbst und alles hindurch zu gehen vermag. Das ist die wahre sittliche Forderung, das die wahre Wirkung wahren Glaubens. Du selber der Berg, den du versetzest. Aber was hier der Einsicht am leichtesten fällt, fällt dem Leben, wie wir es nun einmal leben, am schwersten. (294)

Es ist Erfahrung, unwiderlegbare, unumstößliche Erfahrung, die, ebenso wie sie uns darüber belehrt, daß Dunkel nicht hell und Hell nicht Dunkel sei, uns den Unterschied von Gut und Böse — wenn wir hier einmal von aller Kasuistik, auch der brei­ testen, absehen und die Sache ganz im Groben fassen dürfen — zu einem consensus omnium macht, Erfahrung des Einzelnen, Erfahrung unzählbarer Geschlechter. (295)

Es wird dem Teufel gehen wie dir: ihr beide werdet zuguterletzt »nichts in der Hand behalten«. Sieh zu, daß dieser Moment dich nicht unvorbereitet treffe. Das ist im Grunde die einzige Lehre des Christentums, ja aller wahrhaft gottesfürchtigen Religion. (296)

Mentanoia, gewiß, wörtlich heißt’s nicht »Buße«, sondern »Bekehrung« oder meinetwegen »Umkehr«. Aber wie ge-

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schieht sie? Todesangst und der Arm des unerbittlichen Rich­ ters, wer beide spürt, am eignen Leib, im eignen Herzen, der steht vor dem Weg zu dieser Umkehr. Angst vor allen Schrekken des Hochgerichts, die völlige Hilfslosigkeit des Ausge­ stoßenseins, wer sie nicht spürt und schmeckt, wie soll der sich bekehren? (297)

Großer Gedanke der Stoiker von der Einheit aller Seelen: Brechungen des gleichen Sonnenlichtes. Er ist wohl in die Welt christlicher Gedanken zu übernehmen. Die Sünde ist dann das, was uns von dieser Gemeinschaft ausschließt. Der Zustand rettungsloser Sündenknechtschaft wäre einer Sonnenfinsternis zu vergleichen. (298)

Es ist wie im Traum: du fällst aus deinem Mittelpunkt in eine bodenlose Tiefe und erwachst - vor dem Auge deines Rich­ ters. (299)

Zu nahe Erkenntnis der Sünde ist eine der schwersten Gefähr­ dungen des sittlichen Lebens. (300)

»Wachet und betet.« - Das ist »wachet und schlaft« in Einem. Denn wenn du betest, »schläft« deine Sünde. (301)

Wo keine Sünde ist, da ist auch kein Mittler. (302)

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Es ist ein Wort, so alt wie die Schlange im Paradiesgarten: Wer nicht sündigen will, will auch nicht selig werden. (303)

Denn deine Sünde kann zweierlei sein: der Weg, der dich von Gott wegführt in Verstockung und der dich zu ihm hinführt, in Buße und Zerknirschung, du - Herkules am Scheidewege! (304)

Raum beanspruchen, das heißt Sünde. Zeit gewinnen, das heißt Gnade. Klein werden, das heißt Wandel vor Gott und zu Gott. Der natürliche Mensch wird mit den Jahren anspruchsvoller. Auch darum heißt’s, wir sollen wieder zu Kindern wer­ den. (305)

Gnade, nicht Gericht ist der Sinn dieser Welt. Deshalb darf der Mensch siebenzig und achtzig Jahre werden, deshalb darf er hoffen, glauben, lieben, von einem Abend zum andern Morgen und von einem Morgen zum andern Abend; deshalb darf er sündigen, wie er sündigt und getrost sein, wie er getrost ist. (306)

Im dicken Strich durch die Hauptbücher des alten Rechenmei­ sters besteht eine der Freuden Gottes. (307)

Solange du in der Zeit lebst, lebst du in und von der Gnade. Zeit ist in jedem Sinne Gnadenfrist. (308)

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Was will die Gnade? Uns unsere Angst nehmen; aber wir fürch­ ten immer noch mehr die Welt, als wir Gott lieben. (309)

Von allen Wundern und Gleichnissen des Neuen Testamentes ist mir das von dem auf den Wassern wandelnden Petrus das schönste und das lehrreichste. Es enthält in die Enge eines Symbolum gebracht die ganze frohe Botschaft. (310)

Wer im Wunder lebt für den haben »die Wunder« ihr Ende erreicht. In einem gewissen Sinne gibt es also keinen Wunder­ glauben. Insofern nämlich, als die in dem Wort enthaltene Be­ griffskoppelung sich auf gewissen Stufen des Erlebens als das Oxymoron enthüllt, das sie in der Tat ist. (311)

Eine der herrlichsten Wundergeschichten des Neuen Testa­ mentes ist die von der Speisung der Zehntausend. Es hat mich immer tief berührt und ergriffen, daß sich gerade nach diesem Wunder Christus, wie in einer Erschütterung über sein eigenes Vermögen, in die Einsamkeit begeben habe. Jeder, der etwas dergleichen erfahren hat, weiß, was es mit den wenigen Fischen und Broten auf sich habe. Gott ist in der Tat »in den Schwa­ chen mächtig«. (312)

Gott ist in den Schwachen mächtig. Zugegeben. Aber nicht in den Verzagten. Unsre Verzagtheit schließt uns in uns selber. Gott will keine verzagten Diener, sondern schwache, aber ge­ troste. Mit den Mutigen ist Gott. (312A)

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Advent ist Gegenwart, oder er ist nicht. (313)

Noch eines: Hoffen und Harren macht nur den zum Narren, der nicht recht zu hoffen und zu harren versteht. Was sagt Christus: »Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.« Heute noch! - Da haben denn freilich Gestern und Morgen nichts mehr zu sagen. (313 A)

Und noch eines: Unsre Gegenwart ist Warten. - Gottes Gegen­ wart ist Advent. (313 B)

Du mußt soweit kommen, daß dir das leise Verrinnen des San­ des im unsichtbaren Stundenglas, wenn du’s manchmal spürst, süß bedünkt wie die Heilsbotschaft. Du mußt dahin kommen in dem Gefühl der Vergänglichkeit zugleich eine Vorfreude zu empfinden. Bedenke doch, alle Zeit, die deines eigenen Lebens und die der ganzen Welt, was ist sie anders als - Advents­ zeit? (314)

In der Krippe und im Stall. - Das ist dir recht zum Tort und zur Buße geschehen. Welt, liebe Welt, du magst nachträglich Weih­ nacht und alle Kirchenfeste mit aller erdenklichen Pracht und Ehrerweisung feiern. Das kannst du mit keinem Petersdom und keiner deutschen Paulskathedrale wieder gut machen. (315)

Wo du nicht mehr stirbst, brauchst du nicht mehr zu leben. Das ist das Geheimnis der Erlösung. (316) 96

Alle Erlösung ist Zerstörung. - Bedenke das, seufzender Christ. (317)

Wenn Gott sagt: »Dir sind deine Sünden vergeben«, so spricht er damit ein Todesurteil aus. (318)

Wen Gott zu sich ruft, den nimmt er aus der Tretmühle in die Kelter. Ich sage dies nicht etwa nur von Gestorbenen. (319)

Virtus behält immer das Recht vor dem Aktus. Darum ist alle Verheißung größer als alle Erfüllung. Darum ist alle Berufung größer als alle Erwählung. (320)

»Nichtigkeit der Nichtigkeiten«, singt der Verstand. »Herr­ lichkeit der Herrlichkeiten«, singt der Glaube. Aus diesem Duett besteht die ganze »Sphärenharmonie«. (321)

Die Berge, die du nicht versetzen kannst, mußt du ersteigen. Da hilft dir niemand. (322)

Wahrheiten rangieren wie die Brillanten nach der Zahl ihrer Facetten.

Die meisten Menschen — alle Anwesenden eingeschlossen gehen mit ihrer Zeit um, wie der Verschwender mit seinem Vermögen, von dem er weiß, daß das Zusammenhalten seiner Reste nichts mehr helfen würde. (323)

Nimm nur das Maul recht voll. Wenn es Gott oder auch nur einem der Baalim einfallen sollte, dir den Blasebalg abzudros­ seln, käme doch nichts heraus. (324)

Wer sich noch ironisieren kann, der hat seine Prärogativen noch nicht aufgegeben. (325)

In allen Schilderungen fremder Personen, die wir machen, lie­ fern wir immer ein Stück Selbstportrait mit. (326)

Langeweile ist ein Besitz, der den Kindern und den Hohlköpfen vorbehalten bleibt. (327)

Wenn es dem Hochmut am schwersten fällt, sich zur Liebe zu bekehren, so wird es der Liebe am schwersten fallen, sich von ihrem Hang zur Anarchie zu lösen. (328)

Nur in der Form der Demut kann Mut transzendieren. (329)

IOI

Tapferkeit. Wir ehren sie, wenn sie das Leben verachtet um des Lebens willen, nämlich das eigene um des andern willen. Der bloß Tapfere, bloß Kriegerische steht dem Tier und dem Verbrecher sehr nahe. (330)

Kühnheit und Haß sind nur die Rückseiten der Münze. Es gibt keine Kühnheit, die nicht um der Furcht willen kühn wäre, keinen Haß, der nicht um der Liebe willen haßte. (331)

Mut und Unschuld, Furcht und Schuld sind Geschwister. Die zarteste Verbindung des Mutes mit der Schuld ist die Kühnheit; die gewaltsamste die Verwegenheit, die verworfenste die Drei­ stigkeit. (332)

Ohnmacht und Unbescheidenheit wohnen unter einem Dach. Wer nicht Bescheid weiß, der ist eben unbescheiden. Die Ent­ wicklung, die dies Wort »bescheiden« im Laufe der Jahrhun­ derte genommen hat, hat es in tiefen und gedankenreichen Köp­ fen genommen. (333)

Es ist höchst bedenklich und beherzigenswert zugleich, daß selbst die Schrift uns befiehlt, unser Pfand nur dahin zu leihen, wo wir sicher sind Zins zu erhalten. Nur die Kraft, die uns in verwandelter Gestalt reicher zurückkommt, ist recht angewen­ det. (334)

Geben und nehmen heißt es auf der einen Seite. Rauben und fahren lassen auf der anderen. Dazwischen steht, dem geheim102

nisvollen Bereich menschlicher Übereinkunft angehörig, der Vertrag. (335)

Zu dem Mann, der mir das Meine aus Habsucht wegnimmt, ist ein menschliches Verhalten möglich, zu dem, der es mir aus Grundsatz wegnimmt, nicht. (336)

Du mußt es vertragen können, daß dir Ehre widerfährt. Ja, du mußt es unter Umständen sogar vertragen, Ehre anzustre­ ben, ohne dabei deinem höheren Selbst etwas zu vergeben. Weltflucht mag zum größten Teil Flucht vor dem Teufel sein, zu einem - wie immer proportionierten - Teile wird sie aber zugleich Flucht vor dem Gott sein, der dich auf den Heerwegen seiner Welt sucht und finden will. (337)

Geballte Faust kann kein Geschenk entgegennehmen. (338)

Wer dir etwas gibt, lädt dich ein, an seinem Wesen teilzuhaben. Du nimmst damit aber zugleich teil an seiner Verantwortung. Hier liegen die tiefsten Wurzeln aller Freundschaft, alles Ge­ genseitigkeitsverhältnisses. (339)

Im »do ut des« kommt der Interferenzcharakter des geselligen Lebens, ja des Lebens überhaupt zum Vorschein. (340)

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Nichts ruft so sehr alle deine zartesten sittlichen Kräfte ins Feld als das Bewußtsein, einen redlich gemeinten Dank nicht in vollem Maße verdient zu haben. (341)

Der ehrliche Dank adelt die schlechte Gabe. Der ehrliche Dank beschämt aber den leichtfertigen Geber. (342)

Undankbarkeit ist Selbstbehauptung der Schwäche. (343)

Mehr wiedergeben wollen als man empfangen hat, ist eine weit verbreitete, vielleicht die weitverbreitetste Form der Herrsch­ sucht. (344)

Wahrheiten rangieren wie die Brillanten nach der Zahl ihrer Facetten. (345)

Die energischeste Form der Analyse ist die Sprengung. Die ge­ lindeste aber unter Umständen wirksamste die der Zerset­ zung. (346)

Das Streben ins Kompendiose ist Weltflucht; nur aus Unvoll­ ständigem besteht, nur durch Unvollständiges erhält sich das Leben. (347)

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Wer zugleich jung und klug ist, der hat das höchste aber auch das gefährlichste Geschenk des Lebens empfangen. (348)

Eine zur Schau getragene Gleichmut oder gar Gleichgültigkeit ist das wesentliche Element alles erzieherischen Erfolges. Wer erzogen wird, sollte niemals wissen, mit welchen Mitteln er er­ zogen wird. (349)

So liegt denn auch in der Tatsache, daß man den Lehrer - über­ haupt den geistigen Arbeiter - im allgemeinen so dürftig ent­ lohnt, weniger ein Element der Mißachtung als vielmehr eines der - vielleicht unbewußten - Hochschätzung und ein Kompli­ ment an seine postulierte Vollkommenheit. Man wünscht ihn so selbstlos wie man ihn - mit Recht! - fordert. (349 A)

Du kannst niemanden besser machen, als er ist. Du kannst ihn nicht einmal »so gut« machen, wie er ist. Auch das kann nur er selber. (350)

Die Unbelehrbarkeit ist kein Zeugnis gegen die Lehre; Unrecht keines gegen das Recht, Lüge keines gegen die Wahrheit. Sie alle leben nur von dem, das sie verleugnen. (351)

Jede Strafe, die kein Opfer der Eltern an ihre Kinder bedeu­ tet, ist ein Machtmißbrauch. (352)

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Es gibt Naturen, für die das »zu spät« keine oder nur geringe Bedeutung hat, weil sie ein zu deutliches Gefühl der Inkon­ gruenz von Wunsch und Erfüllung in sich tragen. (353)

Du brauchst dich nicht für schlechter zu halten als andere, du wirst es auch normalerweise nicht tun, selbst nicht, wenn du dir Mühe in der Richtung gibst. Du brauchst nur einzusehen, daß du nicht besser seiest als andere; wenn du dann nur die Forde­ rung vor Augen hast, nach der Gut und Schlecht gemessen und gewogen wird, so genügt das für den ersten Schreck. (354)

Was man auf der einen Seite fleißig ist, ist man auf der andern faul! Mit anderen Worten: Man kann nicht zugleich beißen und singen. (355)

Deine linke Hand mag ruhig wissen, was deine rechte tut. Sie wird es ihr doch nicht nachtun können. Aber es stünde mit um dich, wenn die rechte Hand deines Feindes nicht wüßte, was deine täte. (356)

Wo Selbsterkenntnis allen Ernstes geübt werden sollte, würde es immer das schlechtere Selbst sein, das von dem besseren Selbst erkannt würde. Wer es dazu bringen könnte, daß er »sich selber« begegne, würde etwas Schreckliches gewahren. (357)

Viele sich durchkreuzende Wellenringe auf einer Wasserfläche ge­ ben ein Symbol alles Leidens und alles Erfolges unsrerWelt. (358)

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Das Scheinleben des abgeschnittenen Zweiges in der Vase, eine der absonderlichsten und verwirrendsten Vorstellungen. (359)

Güte kann lächeln, weil in ihr ein wenig Stolz ist. Erbarmen lächelt nicht. (360)

Lächeln ist der Dank für unverhofftes Glück. Bescheidenem Gemüt kommt jedes Glück unverhofft. (361)

»Eine Hand wäscht die andere«, sagt man, und meint damit, daß eine Hand die andere schmutzig macht. (362)

Wer glaubt, durch den Zerrspiegel die Welt ad absurdum füh­ ren zu können, ist ein miserabler Hund. (363)

XI

Manche Gedanken tauchen wie Inseln aus dem Meer unsres Seelenschlafes. Andre springen wie fliegende Fische drüber hinweg.

Große Gedanken sind wie Gebirge dem Auge nur aus der Ent­ fernung deutlich. (364)

Einer der tiefsten Beweise unsrer Unsterblichkeit ist unser Ge­ dächtnis. - In den Bereich dieses Gedankens gehört das Goethesche: ». . . auch Treue wahrt uns die Person.« (365)

In jedem Geschaffenen wohnt sein eigener Gott. (366)

Vorwegnahme ist das Element alles Dichterischen. (367)

Denkbar, ja möglich dürfte ein inneres Dasein sein, das aus lauter Vorwegnahme bestünde. Sache der Geisteskraft wäre es alsdann, diesem Dasein eine ihr gemäße Wirklichkeit zu geben. (368)

»Frühreif« ist jedes höhere geistige Produkt. (369)

Manche Gedanken tauchen wie Inseln aus dem Meer unsres Seelenschlafes. Andre springen wie fliegende Fische drüber hinweg. (370)

Wo hat der Mensch sein höchstes Leben? Im Innewerden. (371)

in

Die Analoga sind das einzige Mittel göttlich-menschlichen Unterrichts. Ihre Masse gebiert die Erfahrung, ihre Sublimie­ rung die Erkenntnis. (372)

Das Leben bringt unzählige Analogien hervor, keine einzige Kongruenz. Der Systematiker müßte sich diese Wahrheit immer vor Augen halten. (373)

Das eigentlich Fruchtbare und Entscheidende der Analogie ist nicht das Gleiche, sondern der Gegensatz. (374)

Die Formel, mit der die Weisheit ihren Schüler, den Verstand, entläßt, ist die gleiche, mit der sie ihn unter tausenden Verklei­ dungen abspeist. Hier lautet sie: Es gibt kein Heterogenes, son­ dern nur Analoges und es gibt kein Analoges, sondern nur Heterogenes. Alles Wirkliche ist im Übergange. (375)

Alles Analoge ist ein göttlicher Hinweis. Nur bleibt es jedem überlassen, sich zu deuten, worauf es hinzielt. So werden wir zugleich belehrt und geneckt. (376)

Alles Triebleben hat sein Analogon im Geistigen. Furcht und Anbetung, Geschlechtsliebe und Caritas, Erwerb und Erkennt­ nis sind solche Analogien. Sie sind auch ein Hinweis darauf, daß das Gemeine, wie breit es sich immer in der Welt mache, doch nur ein Mittel sei, von geistigen Kräften zu ihrem Zwecke verwaltet. (377)

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Die Mathematik kann sich mit ihren Analogien nicht von dem Boden, auf dem sie einmal begonnen hat, erheben. Sie ist der Steigerung unfähig. Deshalb sind ihre Beweise an sich ebenso schlüssig wie unfruchtbar. Wirksam und zwar im höchsten Maße werden sie erst, wenn sie als Sauerteig der Erfahrung wirken. (378)

Wer Wert und Unwert der Analogie erkennt, der wird mit dem Wort »Beweis« sparsam umgehen. (379)

Man spricht von dem Kreise, den man auszufüllen wünscht, aber das ist eine Bescheidenheitsfloskel, man wünscht wie alles Erschaffene zur Kugel zu gelangen. (380)

Wie sehr übrigens unsere Begierden und Ängste mit dem Inter­ ferenzcharakter alles Daseins zu tun haben, darüber ließe sich ein eigenes Kapitel schreiben, das Kapitel der Begegnungen, das, soweit ich weiß, noch nicht geschrieben ist und so bald auch wohl noch nicht geschrieben werden wird. (381)

Alle Zeit und aller Raum werden uns nur durch rhythmische Gewahrwerdung konform. (382)

Im Rhythmus kreuzen sich Wille und Notwendigkeit. Das ist das Geheimnis seines Rausches. Das Gewicht des musikalischen Taktes trifft genau auf den Kreuzungspunkt. (383)

ID

Magisch nennen wir ein Wirken, das über den direkten, gewis­ sermaßen absteckbaren und übersehbaren Kreis des sofortigen Effektes noch einen anderen viel weiter reichenden, nicht zu er­ rechnenden oder anderweitig bestimmbaren Wirkungsradius hat. So ist die Wirkung der Bedrohung unter Umständen eine viel magischere als die der Strafe, die der Verheißung eine magi­ schere als die der Erfüllung, die des Wortes sogar unter allen Umständen eine magischere als die der Tat. Wer von solchen Gesichtspunkten ausgeht, dem wird es nicht schwer fallen den Unterschied von erlaubter und verbotener Magie im Einzelnen wie im Allgemeinen anzugeben. (384)

Unser Gesetz heißt: Begehren und nicht erreichen, erreichen und nicht halten, halten und nicht haben. Unser Los ist das Los des Teils. Das Ganze steht bei Gott. (385)

Sich zu bilden ist eine schwere Kunst. Will man sie nur in der Aneignung von an sich Gemäßem ausüben, so gerät man in Ge­ fahr, sie sich über Gebühr zu erleichtern, wobei dann auch die leichterworbene entsprechend enger und ärmlicher ausfallen dürfte. Hohe Beispiele bei uns Deutschen etwa Klopstock, Brentano, George. (386)

Harmonische Bildung läuft darauf hinaus, daß man zwar das Gemäße bevorzugt und als eigentlichen Bildungsstoff verwen­ det, aber drüber hinaus von dem nicht eigentlich Gemäßen, ja vielleicht scheinbar zunächst Antinomen soviel aufnimmt, als genügt um Zugang und Aufnahmefähigkeit für alles in irgend einem Sinne Wissenswerte und Förderliche der eigenen - inne­ ren und äußeren! - Epoche offen zu halten. Beispiel eines enge-

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ren harmonischen Bildungskreises: etwa Hofmannsthal. Bei­ spiel größester Weite: Goethe, Leonardo da Vinci. (387)

Man denkt alle seine Gedanken mit seinen Freunden gemein­ sam, wenigstens der inneren Vorstellung nach, auch mit den verstorbenen. (388)

Das Geheimnis der Gleichaltrigkeit: das gleiche Erleben, die Lebensgemeinschaft. Beginnt in gewissen Jahren zu ermangeln. Der Unterschied der Jahre eine gläserne Scheidewand, an der die Verständigungsversuche hüben und drüben zu Boden fallen. (389)

Polarität ist die Forderung des Lebens, Steigerung sein Ge­ schenk. (390)

Alle Erziehung ist Magie. Sie ist es in der Tat und ist deshalb auch mit allen Gefährdungen und Bedenklichkeiten magischen Wesens ausgestattet. (391)

Man kann mit dem Messer der Lehre wohl einen Baum be­ schneiden, seine Früchte muß er selber bringen. (392)

Alle Magie ist in höherem Sinne gerechtfertigt und wirksam nur da, wo sie unbewußt ausgeübt wird. (393)

ri5

Es ist furchtbar, wie unlösbar Alles ineinander verflochten und verschlungen ist. Wir sind Schlange, Fisch, Insekt, Wurm, Pflanze, alles in Einem! (394)

»Im Augenblick ist Ewigkeit.« - Motto der Erwählung. Über­ haupt die ganze Strophe des goetheschen Gedichtes höchster Erkenntnisse voll. (395)

Die größte Euphorie haben wir im Blitz der Erleuchtung. Sie gibt uns das Gefühl, schneller zu sein als die Zeit. (396)

Der Einfall kommt aus dem Licht. Die Vermutung geht ins Licht. (397)

Das Durchlaufen des Kreises bedeutet den Tod, das Durch­ laufen der Spirale das Leben. (398)

Wer einen geistigen Gegenstand ernsthaft betrachtet, der wird sich genötigt sehn, ihn gleichsam zu umkreisen. Schließlich wird er sich an der nämlichen Stelle wiederfinden, von der er ausge­ gangen ist, - freilich auf einer erhöhten Stufe. (399)

Polarität und Steigerung. - Beide verbindet die Spirale. In der Magie der stufenweisen Erhöhung des Kreislaufes liegt alles beschlossen, was wir von dem Geheimnis des Wachstums zu gewahren vermögen. (400)

116

Ungefähr Gewußtes. Ungefähr Getanes. Ungefähr Erreichtes. Ungefähr Vermiedenes. Dies Ungefähr ist ja eben die Gefahr, in die wir uns hineinbegeben haben und in der wir umkom­ men. (401)

Das Ungefähre ist die Luft des geistigen Lebens. Sie zu reinigen, nicht sie aufzuheben, ist irdisches Geschäft. (402)

Es gibt im verborgensten Inneren des Menschen einen ewigen Punkt. Was in den trifft, bleibt sein Eigentum. (403)

Anmerkungen

Die Anmerkungen bleiben auf ein Minimum beschränkt. Nur was zum sinngemäßen Verständnis der ausgewählten Texte notwendig ist, wird erklärt. Von Schröder selbst Nachgewiesenes wird auch bei unvoll­ ständigem Nachweis nicht mehr aufgegriffen. Dies gilt für literarische wie für biblische Quellen. Der Text wird jeweils nach Nummer, mit dem zu erklärenden Wortlaut beginnend, angegeben.

3 Disjectamembrametaphyseos separate Stücke aus der Metaphy­ sik; Fragmente metaphysischen Denkens 44 »insaniens sapientia«

unsinnige Weisheit; wahnsinnige Wissenschaft

54 lego, diligo,. . .

[in der Reihenfolge des Textes] ich lese (sammle), ich schätze (liebe), ich sammle (ziehe die Konse­ quenz), verbinden, das Verbin­ dende (Verbundene), lesen (sam­ meln), das Wort (der Logos), reden (urteilen, berechnen; eig.: »logizomai«), die Ausdrucksweise (Lesung, Lesart, Stil)

58 (vates, vati-cinium)

Wahrsager, Prophezeiung

61 »sui compos«

seiner fähig; fähig, ihn zu begreifen

103 Abbé Galiani - Frau v. Epinay Ferdinando Galiani (1728-1787), italienischer Nationalökonom, den französischen Enzyklopädisten verbunden- Louise Florence Pétro­ nille de la Live d’Epinay (17261783); in ihrem Salon trafen sich die Enzyklopädisten

119

118 »Was wär ein Gott . . .«

J. W. Goethe, aus »Procemion« aus dem Zyklus »Gott und Welt«

121 »Acheronta movebo«

»Flectere si nequeo superos, Ache­ ronta movebo« (Vergils Änäis, Buch 7, V. 312): Wenn ich die Götter nicht rühren kann, werde ich die Hölle in Bewegung setzen

122 »Der Geist ist willig . . .«

Markus 14:38

134 »Nehmt die Gottheit . . .«

aus dem Gedicht »Das Ideal und das Leben«

138 »Werft die Angst. . .«

aus dem Gedicht »Das Ideal und das Leben«

139 »Winter unsres Mißbehagens« Aus dem ersten Vers von Shake­ speares »Richard in«

170 »Liebe deine Feinde«

Lukas 6:27

176 Zwei der größten . . .

J. W. Goethe, aus »Faust«, V. 544H.

209 »Einer trage des andren . . .«

Galater 6:2

221 Kluges Wort des Chrysippus

griechischer Philosoph, gestorben um 205 v. Chr.; neben Zenon der bedeutendste Denker der Stoa in Athen

224 »Gebt dem Kaiser« »Laß dich nicht gelüsten«

Matthäus 22:21 - 2. Mose 20:17

262 »Latet anguis in herba«

aus der Dritten Ecloge Vergils (V- 93), sprichwörtlich für drohen­ de Gefahr: die Schlange lauert im Grase

120

166 (Interferenz-)Eigenschaften

Interferenz - ein von RAS des öfteren (s. 38, 102, 340, 381) be­ nutzter Begriff, der aus der Physik stammt, wo er auf das Zusammen­ treffen und Zusammenwirken von mehreren Wellen in einem Punkt im Raum zielt. Bei RAS ein Termi­ nus, der besonders eine nicht not­ wendig dialektische, geistige Be­ gegnung, sowie Gegen- und Wech­ selseitigkeit bedeutet

281 homo intuetur, Deus inspirât — der Mensch schaut (beschaut, be­ trachtet), Gott haucht seinen Geist »Afflavit Deus.« hinein — Gott hat ihn angehaucht

285 »wachet und betet«

Matthäus 26:41

287 Glaube, Hoffnung Liebe.

1. Korinther 13:13

293 Wißt ihr . . . Berge versetzt?

Matthäus 17:20

301 »Wachet und betet«

s. 285

322 »Die Berge, die du . . .«

s. 293

340 »do ut des« — Interferenz­ charakter

bezieht sich auf das die Gottheit zum Gegengeschenk auffordernde Opfer, das der Mensch ihr dar­ bringt: ich gebe, damit du gibst — s. 266

365 ». . . auch Treue wahrt . . .«

aus »Faust«, V. 9984

380 zur Kugel zu gelangen

diesem auf einem fünfseitigen an Herbert Steiner, den Herausgeber der Zeitschrift »Corona«, gesand­ ten Manuskript an zweiter Stelle stehenden Aphorismus fügte RAS

I2I

handschriftlich den amüsanten Satz in Klammern bei: »wobei ich bemerken möchte, daß der 2. Aphorism nicht etwa eine unan­ gebrachte Schmeichelei für Dr. Steiner sein soll« [H. St. wurde »die Kugel« genannt]

381 Interferenzcharakter

s. 266

395 »Im Augenblick ist Ewigkeit.« aus »Vermächtnis«, aus Zyklus »Gott und Welt«

dem

Danksagungen

Ohne die Möglichkeit, die von Rainer Noltenius angefertigten Transkriptionen mit den Originalen vergleichen und stellenweise korrigieren zu können, wäre die Textgrundlage dieses Buches nicht zu schaffen gewesen. Ich danke Frau Marie-Luise Borchardt, daß sie mir in Bergen die fünf Manuskripthefte Schröders zur Einsichtnahme und zur endgültigen Anfertigung meiner Auswahl zugänglich machte und mir in allen Phasen der Auswahl und beim Hinzuziehen zusätzlicher Texte ihren erfahrenen Rat zugute kommen ließ. Mehrmals ergaben sich Schwierigkeiten beim Entziffern der von Schröder teilweise sehr rasch niedergeschriebenen Texte. In solchen Fällen war mir ihre Hilfe besonders wertvoll, ebenso die von Herrn Dr. Rudolf Hirsch. Auch mit ihm konnte ich mehrere Probleme der Auswahl und Anordnung durchsprechen. Für das Nachwort hat er mir aus der Korrespondenz von Schröder und Hofmannsthal mehrere Passagen zur Einsichtnahme und Drucklegung überlassen. Dafür danke ich ihm herzlich. Bei der Beschaffung weiterer in Marbach aufbewahrter und bei Noltenius nicht erwähnter Texte leistete mir Herr Dr. Werner Volke wertvolle Hilfe. Einige davon (siehe »Quellen« ix) werden in meiner Auswahl zum ersten Mal veröffentlicht. Die Genehmigung dazu verdanke ich Frau Marie-Luise Borchardt und dem Deutschen Literaturarchiv. Es versteht sich fast von selbst, daß ohne die Vorarbeiten, die Rainer Noltenius in seiner 1969 veröffentlichten Dissertation zur Aphoristik Hofmannsthals, Schröders und Schnitzlers geleistet hat, meine Auf­ gabe wesentlich schwieriger und zeitraubender gewesen wäre. Herr Dr. Francis Golffing hat mir freundlicherweise erlaubt, Einblick in seine vor einigen Jahren angefertigte unveröffentlicht gebliebene Aus­ wahl Schröderscher Aphorismen zu nehmen. Wohlweislich schob ich die Einsichtnahme hinaus, bis meine eigene um mehr als das Dreifache umfangreichere Auswahl abgeschlossen war. Es stellte sich heraus, daß sie sich mit einem knappen Drittel seiner einhundertundzwanzig Stücke deckte. Dem Suhrkamp Verlag, besonders Herrn Dr. Unseld und Herrn Dr. Honnefeider danke ich für ihr ermutigendes Interesse an diesem Band und Frau Erika Batz-Ebersole für ihre unermüdliche Hilfe wäh­ rend der Herstellung und Überprüfung des druckfertigen Manuskrip­ tes. Santa Barbara, California, USA

I23

Hinweise für den Leser

Das unbefangene Blättern oder das systematische Lesen in einzelnen Textgruppen oder der gesamten Auswahl sollte durch den folgenden kommentierenden und aufschlüsselnden Anhang in keiner Weise be­ einträchtigt werden. Wen solch ein relativ bescheidener Apparat irri­ tiert,mag ihn unbeschadet ignorieren. Der Herausgeber wünscht ledig­ lich darüber Rechenschaft abzulegen, welche Gedanken und Ent­ schlüsse ihn während der Komposition und Textgestaltung der Aus­ wahl geleitet haben. Zudem soll die Möglichkeit gegeben sein, sich mit Hilfe einer kurzen Beschreibung der verschiedenen Quellen und Text­ grundlagen und den allen Texten beigegebenen fortlaufenden Zahlen im Hinblick auf Entstehungsdaten und Zuordnung ohne Schwierig­ keiten zu orientieren. So wollen also diese begrenzten Hinweise der philologischen Neugier mancher Kenner und Liebhaber des Werkes von Rudolf Alexander Schröder entgegenkommen, nicht zuletzt des­ halb, weil in der vorliegenden Auswahl zum ersten Mal eine repräsen­ tative Anzahl dieser Texte vorgelegt wird. Zm Komposition und Textgestaltung der Auswahl Wie bereits im Nachwort bemerkt wurde, wendet sich dieses Buch nicht nur an ohnehin begeisterte und eingeschworene Schröder-Leser, sondern an ein allgemeines Lesepublikum. Der Herausgeber meint, Schröder habe in diesen Aphorismen und Reflexionen nicht nur »seinen« Lesern etwas zu sagen, sondern weise sich in diesen kurzen Stücken auch als unser Zeitgenosse aus. So konnte es also nicht darum gehen alles auszusparen, was schon einmal von Schröder an anderer Stelle und in anderer Form, etwa als lyrisches Gedicht oder im größeren Zusammenhang eines Essays ausgesprochen wurde. Zum Zeitgenössischen gehört kurioserweise, daß man auch das vermeintlich Gestrige - und wenn nur an wenigen Beispielen — aufzeigt, weil seine damalige (und womöglich morgige) Aktualität eben zur Gegenwart Schröders und damit in einer Weise auch zu der seiner gegenwärtigen Leser gehört. Das gilt für einige politische Aphorismen, die den einen überlebt, das gilt für den kämpferischen Protestantismus, der den anderen zu konfessionell klingen mag - was an allen Einzeltexten, die als solche vielleicht sogar schwer zu verteidigen wären, immer wie­ der das Entscheidende schien, war ihr Nebeneinander und Ineinander

124

in Schröders Gedanken. Diese Präsenz so dicht und so vielgestaltig wie nur möglich darzustellen, erwies sich als meine wesentliche Auf­ gabe und zugleich als ihr bedeutendster Ansporn.

In den kurz zu beschreibenden fünf Manuskriptheften, denen die überwiegende Mehrzahl der Stücke dieser Auswahl entnommen ist, finden sich zuweilen Aphorismen-Ketten, die nicht immer ganz zitiert werden. Oft sind es »Ramificationen« eines Schröder nicht loslassen­ den Haupt- und Zielgedankens; so nannte und sah es Hofmannsthal, dem eine ganze Reihe dieser Texte vorgelegen hat, also mehrere die­ ser Aphorismen-Ketten. Es gibt in den Manuskriptheften ganze Seiten solcher »Ramificationen«, die man auch als zerrissene, auseinanderge­ rissene Essays bezeichnen könnte, deren Einzelteile sich noch ohne Zuspitzung und Lakonik in einem gleichsam vor-aphoristischen Zu­ stand befinden. So war also zu ordnen, zu streichen, umzugruppieren. Die chronologische Ordnung in den Manuskriptheften war schon aus diesem Grunde nicht zu respektieren. Denn wie oft greift Schröder Monate später, vielleicht beim Zurückblättern in dem gerade vor ihm liegenden oder in einem früheren Heft, einen Gedanken wieder auf, schleift die Formulierung ein wenig oder geht die Essenz oder das Paradox des Gedankens von einer neuen, vielleicht der entgegengesetz­ ten Seite an. So stammen, um nur ein einziges Beispiel zu geben, die Sokrates-Reflexionen aus verschiedenen Manuskript-Konvoluten und Jahren, wovon sich der interessierte Leser in diesem oder einem ähn­ lichen Falle anhand der ihm unter der Rubrik »Zu den Quellen und Textgrundlagen« bereitgestellten Hilfen überzeugen kann. Und so wurde also manches Zerstreute in einen von Schröder vielleicht für später intendierten, aber während der Niederschrift noch nicht voll­ zogenen Zusammenhang gebracht, anderes hingegen, so die in den »Neuen Deutschen Beiträgen« als Konvolut veröffentlichten Apho­ rismen »Zum Begriff des Witzes«, wurde aufgeteilt und gelichtet. Da dem Philologen die Erstveröffendichung dieser Aphorismen-Gruppe ohnehin zugänglich ist, erübrigte sich die Notwendigkeit, sie unge­ kürzt oder in der bereits veröffentlichten Reihenfolge aufzunehmen. Dieses Verfahren schien überdies noch dadurch gerechtfertigt, daß es nun möglich war, bisher unveröffentlichte Texte zum allgemeinen Thema »Witz« neu einzuordnen und dem Schröder-Connaisseur die eine oder andere vielleicht unerwartete Perspektive zu eröffnen und dem unbefangeneren Leser, der die Erstveröffentlichung nicht kennt,

I25

manche Wiederholung zu ersparen. Für beide Lesergruppen ergeben sich dann, je nach Neigung und Interesse, neue Bezüge dank dieser in einer solchen Auswahl möglichen Zwischenverbindungen. Um es auf eine Art Formel zu bringen: auch wer nicht weiß, daß die Bilder ein­ mal umgehängt worden sind, wird durch neue Kontexte zu beein­ drucken sein. Vielleicht muß der Kenner durch mehrere Säle, ehe er das Gesuchte in neuer Umgebung findet - im Katalog (»Zu den Quel­ len . . .«) mag er immerhin die alten Zusammenhänge wiederherstel­ len. Die hier versammelten »Aphorismen und Reflexionen« wurden aus über zweitausend separaten Texten Schröders ausgewählt. Ich habe einer mehrmaligen Versuchung widerstanden, sie nach weithin erkenn­ baren Auswahlprinzipien zu »ordnen«. Rainer Noltenius erwähnt in seinem bereits zitierten Buch (S. 94f.) solche »Themenkreise« Schrö­ ders, den allgemein menschlichen, den erkenntnistheoretischen, den dichterischen und schließlich den religiösen Bereich. Man hätte auch anders unterteilen und rubrizieren können. Das führt beim Auswäh­ lenden oft zu Pedanterie, zu furchtsamer Abgrenzung, und angesichts zu erwartender Kritik führt es zu einer nicht zu rechtfertigenden Angst vor Überschneidungen. Selbstverständlich werden offensicht­ liche Dubletten auch hier vermieden; ein guter Einfall aber mag ruhig in mehrerlei Gewand auftreten. Der Leser findet also elf Grup­ pen von Texten, jede davon eingeleitet von einem besonders im enge­ ren Bezug auf das nicht eigens genannte Thema treffenden Aphoris­ mus, der in der Textgruppe selbst noch einmal vorkommt und deshalb als Motto nicht »mitgezählt« wird. Der Leser wird auch bei einer so losen Anordnung unschwer spüren, welches Thema gerade an der Reihe ist; manchmal wird ihm aber auch Unzusammenhängendes zugemutet, niemals aber - so hoffe ich — sinnlos Aneinandergereihtes. In keinem Abschnitt stehen mehr als fünfzig Texte; Aphorismen und Reflexionen eignen sich in den seltensten Fällen zum Herunterlesen. Themen und Leser dürfen verlangen, daß man sie nicht vorsätzlich erschöpft; lieber soll neu begonnen werden. Auch zeigen die im Nachlaß befindlichen kleineren AphorismenKonvolute, die Schröder selbst anfertigte oder unter seiner Aufsicht anfertigen ließ, wie wenig ihm selbst an dieser oder jener Anordnung lag. Er gab seinen Redaktoren freie Hand. In großen Zügen wäre eine einigermaßen verläßliche Datierung der meisten Stücke durchaus mög-

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lieh, den Gesamteindruck einer Sammlung von Aphorismen und Reflexionen hätte sie nicht wesentlich beeinflußt, wohl aber wäre eine chronologische Anordnung nur in einer kritischen Edition vertretbar gewesen. Schröder, so berichtet Marie-Luise Borchardt, habe alle seine mündlichen Hinweise auf die Aphorismen-Manuskripthefte mit deut­ lichen Mahnungen und Aufforderungen zum Kürzen und Weglassen gespickt. Das war zu beherzigen. Es ging mir auch darum, die Vielfalt des Autors Schröder zu dokumentieren, nicht den einen oder anderen wohlbekannten, wirkungsgeschichtlich bereits verhärteten Aspekt. Lagen mehrere Fassungen eines Aphorismus vor, wählte ich die nach meinem Ermessen wirkungsvollste. So wurde z.B. [367] in den »Münchner Neuesten Nachrichten« und in einem weiteren Konvolut als »Vorwegnahme ist das Element aller Produktion« gegeben; ich wählte die Fassung: »Vorwegnahme ist das Element alles Dichte­ rischen«, nicht nur, weil sie mir besser gefiel, sondern weil diese Fas­ sung ursprünglich für Hofmannsthals Zeitschrift bestimmt war. Innerhalb der Abschnitte erscheinen zusammengehörende und von Schröder selbst hintereinander geschriebene Texte mit der gleichen, nur durch »A«, »B«, »C«, etc. erweiterten Numerierung. Die eben­ falls innerhalb eines Abschnittes auftretenden Sternchen stammen vom Herausgeber, nicht von Schröder; dem Leser bleibt es überlassen, ob er sich die Lektüre durch diese angedeutete Atempause unterbrechen lassen will. Die »Anmerkungen« sind auf ein absolutes Minimum beschränkt. Es wäre Schröder aber nicht in den Sinn gekommen, einen zukünftigen Leser auszuschließen oder ihn um den Genuß einer Pointe zu bringen, nur weil Autor oder Herausgeber es versäumten, einen wenig geläufi­ gen Verweis auf eine Person, einen ausgefallenen Begriff, ein Werk oder auf fremdsprachliche Redensarten und Zitate aufzuschlüsseln. Schröder war ein sehr vielseitig gebildeter Mensch und ein Linguist von hohen Graden; er war kein Snob. Nur die wenigsten seiner aphoristischen Texte hat Schröder selbst aus dem Manuskript ediert. Deshalb wurden offensichtliche Fehler gram­ matischer Art (oft entstanden durch eine begonnene, aber dann abge­ brochene Korrektur eines Satzes) stillschweigend berichtigt. Der heute in gewissen Satzkonstruktionen archaisch anmutende Konjunktiv blieb stehen, weil der recht unverwechselbare Duktus von Schröders Sprache unangetastet bleiben sollte. An wenigen Stellen wurde ein Text

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nur zur Hälfte oder zu zwei Dritteln gedruckt. Schröder hatte die Angewohnheit, gelegentlich eine zugespitzte Formulierung noch ein­ mal in ein zwei Sätzen zu explizieren. Beispiele davon finden sich auch in dieser Auswahl. Kürzungen wie die eben erwähnten sind äußerst selten und werden deshalb nicht angedeutet. Sollten diese Aphorismen, Reflexionen, Betrachtungen und Sentenzen Schröders je in kritischer Ausgabe erscheinen, so werden diese geringen Abbreviaturen wieder aufgelöst. Bis dahin ermöglichen es meine Hinweise auf die Text­ grundlagen dem Forscher, zur Überprüfung und Vergleich die Origi­ nale in den jeweiligen Archiven heranzuziehen. Die Interpunktion wurde behutsam vereinheitlicht: wahrscheinlich auch, um sich im Überblicken des schon Geschriebenen rascher orientieren zu können, setzte Schröder eine Unzahl von Wörtern in Anführungszeichen. Läßt man letztere im Druck, beunruhigt man das Auge des Lesenden und setzt zudem eine ziemliche Unaufmerk­ samkeit voraus, als müsse der Leser durch solche Hervorhebungen ständig wachgerüttelt werden. Die mit seltenen Anführungszeichen und gelegentlichen Sperrungen erzielten Kompromisse im Schrift­ bild haben - wie übrigens alle oben erwähnten editorischen Eingriffe nur einen Sinn: sie sollen Text und Leser unter günstigen Bedingungen zusammenführen und wünschen sich diese Zusammenkunft so frucht­ bar und so ausdauernd wie nur irgend möglich.

Zu den Quellen und Textgrundlagen

Da sich die Entstehung der hier ausgewählten Texte Schröders über einen Zeitraum von mindestens sechzehn Jahren erstreckt, mag man­ chem Leser eine Übersicht der meiner Auswahl zugrunde liegenden Quellen willkommen sein. Da es sich hier selbstverständlich nicht um eine kritische Edition im strikteren Sinne handelt, wird eine kurze Be­ schreibung der Textgrundlagen genügen. Der interessierte Leser ver­ mag mit Hilfe der nun folgenden Zahlenverweise leicht festzustellen, welcher bereits veröffentlichten oder - wie in den meisten Fällen — bis­ her unveröffentlichten Textgrundlage die jeweiligen Texte entstam­ men. Dabei wird er überprüfen können, welche der von mir aus den fünf Manuskriptheften entnommenen Texte bereits zu Schröders Lebzeiten gedruckt wurden. Überschneidungen werden durch einen kurzen Vergleich der jeweils in Reihenfolge auf geführten Textzahlen offensichtlich. Es ist zu beachten, daß die aus den in den »Neuen Deut­ schen Beiträgen« und den »Münchner Neuesten Nachrichten« ausge­ wählten Stücke nicht in den fünf Manuskriptheften zu finden sind, zu­ mindest nicht in der gedruckten Formulierung, da sie sämtlich nieder­ geschrieben wurden, ehe Schröder das erste der fünf Manuskripthefte zu füllen begann. Die Zahlenangaben sollen es dem Schröder-Forscher ermöglichen und erleichtern, in Zukunft die Texte anhand der Originale und in anderen hier außer acht gelassenen Zusammenhängen zu überprüfen. Einer kurzen Beschreibung der nach Möglichkeit chronologisch auf­ einanderfolgenden elf Text-Quellen folgen jeweils die Text-Zahlen, mit Hilfe derer dann die in meiner Auswahl nicht chronologisch angeord­ neten Texte und ihre Quellen mühelos zu identifizieren sind. I

Ein kleines Konvolut (5 Schreibmaschinenseiten) aus Hofmannsthals Nachlaß (Frankfurt/Main), von Hofmannsthal handschriftlich mit »R. A. Schroeder« überschrieben. Es enthält 36 Texte, von denen keine in den »Neuen Deutschen Beiträgen«, neun aber in den »Münchner Neuesten Nachrichten« 78, Nr. 1 (1. 1. 1925) veröffentlicht wurden. Hofmannsthal bezieht sich auf diese ihm durch Willy Wiegand zuge­ gangenen Stücke in einem Brief vom 22. Oktober 1922 (siehe Nach­ wort):

129

io, 13, 56, 62, 67, 79, 83, 115, 157, 163, 184, 188, 205, 208, 239, 275, 277, 332> 347, 353, 364> 367> 368> 369, 372> 373, 376> 377, 378> 379, 39°, 398,400, 402 ii

Die im Februar 1923 im zweiten Heft des ersten Jahrgangs der von Hofmannsthal herausgegebenen Zeitschrift »Neue Deutsche Beiträge« abgedruckten 90 Aphorismen, betitelt »Zum Begriff des Witzes«: 16, 17, 18, 19, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 29, 78, 104, 105, 106, 158, 159, 160, 162, 175, 360, 361, 363, 399 ui

Ein kleines Konvolut (5 Schreibmaschinenseiten) aus Schröders Nach­ laß (Bergen/Obb). Eigenhändige handschriftliche Korrekturen. Hier­ bei handelt es sich wahrscheinlich entweder um das Manuskript, aus dem später die Redaktion der »Münchner Neuesten Nachrichten« oder aber Schröder selbst die 26 in der Neujahrsnummer 1925 dieser Zeitung gedruckten Aphorismen auswählte. Zahlen am Rande. Einige Aphorismen (von Schröder selbst?) angestrichen. — Manche dieser Aphorismen auch in Textgrundlage 1: 62, 115, 157, 165, 239, 277, 332, 347, 364, 367, 368, 369, 372, 373, 376, 377,39°, 39s, 4°o, 402 IV

Die am 1. Januar 1925 in den »Münchner Neuesten Nachrichten« unter dem Titel »Aphorismen« gedruckten 26 Aphorismen: 73, 166,181,182, 188, 197, 208, 332, 367, 382, 383, 390, 398, 400

va Das erste der in Schröders Nachlaß (Bergen/Obb) befindlichen aus­ schließlich handschriftlichen fünf Manuskripthefte, November 1929 bis 12. September 1930 zu datieren (zur Datierung siehe auch Noltenius, 92): 4, 9, 11, 12, 35, 45, 52, 53, 64, 65, 69, 70, 70 A, 74, 74 A, 74 B, 75, 84, 93> 94, 98, "i, II2> ”3, n4> I2O> I22> I23> J33> r38, J39> M7> M9> i52> r53, 17°, J77> J78> r79, l8o> i85> i87> J92> 200, 2°i, 2°2> 222, 224, 238> 244> 263, 271, 271 A> 276, 282, 285> 29E 292> 293> 293 A, 296, 299, 301, 308, 309, 316, 317, 318, 319, 320, 321, 322, 331, 333, 337, 339, 351, 354, 365> 381, 4°j

130

vb Das zweite der Manuskripthefte, dessen Texte höchstwahrscheinlich zwischen Mitte September 1930 und Oktober 1931 geschrieben wur­ den: 2> 6, 14, 33, 34, 43, 30, 31, 38, 39, 66, 68, 68 A, 76, 77, 81, 83, 88, 96, 96 A, 102, 107, 108, 124, 123, 127, 131, 140, 143, 174, 176, 186, 199, 203, 204, 206, 240, 243, 231, 233, 233, 233 A, 236, 239, 261, 262, 266, 293, 312, 312 A, 324, 327, 340, 343, 346, 333, 366, 383, 389

vc Das dritte Manuskriptheft, dessen vermutliche Zeitangabe dem zwei­ ten Heft entspricht: T 3> ri 7> 8> 3T> 36> 39, 39 4°, 42’ 46> 47’ 54> Sri 60, 61, 86, 87, 89, 90, 91, 92, 93, 99, 100, 101, 116, 117, 121, 129, 130, 132, 141, 142, 143, 133, 136, 164, 167, 169, 173, 183, 189, 193, 209, 211, 211 A, 212, 213, 2i6, 217, 218, 219, 220, 223, 223,226,227,228,229,230, 232, 233,234, 233, 246, 247, 248, 237, 260, 267, 268, 269, 270, 274, 279, 286, 290,294, 300, 302, 333, 336, 341, 342, 349, 349 A, 330, 332, 337, 338, 339, 370, 388, 391, 393, 394 vd Das vierte Manuskriptheft, von Schröder Oktober 1931 bis Novem­ ber 1934 datiert:

37’ 38’ 48’ 63> 7A 8i> 97’ I03’ IT9> I2G M4> M6> M8> D0’ 134, 161, 168, 171, 172, 191, 193, 196, 198, 213, 231, 236, 241, 242 A’ 254’ 258’ 264’ 273> 28o> 18l> 288’ 2§9’ 3°6’ 3°7> 3I0> 311» 313 A, 313 B, 314, 313, 323, 323,326,329,334,338,343, 344, 384, 387’ 395’ 396

U1’ 242, 3T3’ 386,

ve Das fünfte Manuskriptheft, zum großen Teil unbeschrieben, von Schröder »1933« datiert: 44, 109, 128, 137, 190, 194, 210, 237, 263, 287, 392 VI Aus den Manuskriptheften von Schröder selbst ausgewählte 60 Texte, ver­ öffentlicht in »Eckart:Blätter für evangelische Geisteskultur« VII (März 1931), eingeleitet von Otto Bruder, betitelt »Gedanken zur Religion«: 31, 66, 243,231,383 I3I

VII

Aus den Manuskriptheften von Schröder selbst ausgewählte 40 Texte, veröffentlicht in »Eckart: Dichtung, Volkstum, Glaube« X (Dezem­ ber 1934), betitelt »Adventsgedanken«: 307,313, 313 A VIII

Ein kleines Konvolut von 5 Schreibmaschinenseiten aus dem Nachlaß in Bergen/Obb von Schröder aus den Manuskriptheften ausgewählt, betitelt »Aphorismen« und mit der Bemerkung »zum beliebigen Ge­ brauch für Corona« versehen. Undatiert. (Die Zeitschrift »Corona« wurde von Herbert Steiner herausgegeben und erschien zwischen 1930 und 1943.): 32, 207, 214, 272, 272 A, 272 B, 278, 328, 348, 380

ix Mehrere handschriftliche Blätter Schröders, aufbewahrt im Deutschen Literaturarchiv (Marbach/Neckar; Konvolut »Aphorismen und Lese­ früchte«, 44 + 2 Bl. Nr. 73.818), zum Teil mit Daten aus dem späten August 1938 versehen. Anderes undatiert Dabeiliegende nach Papier und Schrift ebenfalls dieser Zeit zuzuordnen. Meistens durchgehend als längere Stücke geschrieben. Neben deutlich abgesetzten Aphoris­ men und Betrachtungen befinden sich auf diesen unpaginierten Blät­ tern Excerpte aus Seneca, Cicero, Cato, Chrysippus, Marc Aurel und den Evangelien, jeweils im Original und zuweilen mit Lesenotizen ver­ sehen: 41, 72, 110, 118, 134, 135, 136, 221, 243, 283, 284, 297, 298, 303, 304, 3°5> 33°, 356, 362

x Zwei separate Zettel, handschriftlich im Nachlaß in Bergen/Obb; der eine Zettel einseitig mit Tinte beschrieben, abgesetzte Aphorismen, der zweite Zettel beiderseitig beschrieben mit Tinte und (sehr flüchtig) mit Bleistift. Die Stücke stammen nicht aus den fünf Manuskripthef­ ten. Undatiert: 249,250,252, 252 A, 371, 374, 375, 403

!32

XI

Maschinenschriftliches Manuskript aus dem Nachlaß in Bergen/Obb. Handschriftliche Zusätze von Schröders Schwester Dora. Manche der Stücke aus den fünf Manuskriptheften. Gruppiert (jeweils bis zu sechs Aphorismen), aber ohne Zwischentitel. Undatiert: 30, 49, 80, 397 Die letzte Veröffentlichung von aphoristischen Texten Schröders er­ folgte wiederum in der Zeitschrift »Eckart« xv, im April 1939. Es han­ delt sich um die über die Problematik von Wissen und Glauben ge­ schriebenen 26 Stücke der »Widmungen«, die Schröder, »den Leipzi­ ger Theologiestudenten gewidmet«, im gleichen Jahr noch einmal ab­ druckte. (Zu diesen Stücken und besonders auch zu den als Antwort auf sie verfaßten »Variationen über R. A. Schröders Widmungen« von Heinrich Bornkamm siehe Noltenius, 117-120.) Von diesen Stücken befinden sich keine in meiner Auswahl.

Ausgewählte Literatur

[Hier werden nur die für Auswahl, Nachwort und Leserhinweise wichtigsten Werke verzeichnet. Weitere Einzelhinweise sind jeweils im Text selbst nachgewiesen. Eine weit ausführlichere Bibliographie zum engeren Thema der Schröderschen Aphoristik ist bei Noltenius, S. 226-228 zu finden. Verweise auf die Aphorismen und Reflexionen dieser Auswahl immer in eckigen Klammern.]

Rudolf Alexander Schröder, Gesammelte Werke, Frankfurt, 1952 ff. Rudolf Alexander Schröder, »Zum Begriff des Witzes« in Neue Deut­ sche Beiträge 1, 2 (1923). Rudolf Alexander Schröder, »Aphorismen« in Münchener Neueste Nachrichten 78, 1 (1. 1. 1925). Rudolf Alexander Schröder, »Gedanken zur Religion« in Eckart 7 (G31)Rudolf Alexander Schröder, »Adventsgedanken« in Eckart 10 (1934). Rudolf Alexander Schröder, »Widmungen« in Eckart 15 (1939). Rudolf Alexander Schröder, Fülle des Daseins (Ausgew. v. S. Unseld), Frankfurt, 1958.

Werke und Tage: Festschrift für Rudolf Alexander Schröder zum 60. Geburtstage (hrsg. v. E. Hauswedell u. K. Ihlenfeld), Hamburg, 1938. Rudolf Alexander Schröder zum So. Geburtstag, Marbach, 1958. Rudolf Alexander Schröder: Dem Dichter zum Gedächtnis (hrsg. v. K. Ihlenfeld), Witten/Berlin, 1963. Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Stockholm/Frankfurt, 1945 ff., besonders die Bände Prosa 11, Prosa in, Prosa iv und Aufzeichnungen; zitiert mit den üblichen Sigeln. Hugo von Hofmannsthal/Ottonie Degenfeld: Briefwechsel, Frankfurt, 1974Hugo von Hofmannsthal/Harry Graf Kessler: Briefwechsel, Frank­ furt, 1968. Carl Jacob Burckhardt: Abschied von Rudolf Alexander Schröder, Heidelberg, 1962.

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Siegfried Grosse: »Das syntaktische Feld des Aphorismus« in Wirken­ des Wort 15 (1965), 73 ff. Hans Egon Holthusen: Ja und Nein: Neue kritische Versuche, Mün­ chen, 1954. Harry Graf Kessler: Tagebücher 1918-1937, Frankfurt, 1961. Franz H. Mautner: »Der Aphorismus als Literatur« in F. H.M., Wort und Wesen, Frankfurt, 1974. Rainer Noltenius: Hofmannsthal - Schröder - Schnitzler: Möglichkei­ ten und Grenzen des modernen Aphorismus, Stuttgart, 1969. Dolf Sternberger: Kriterien: Ein Lesebuch, Frankfurt, 1965.

Nachwort

Ein Kunstwerk ist eine umständ­ liche und ausgebreitete Hand­ lung, durch die ein Charakter er­ kennbar wird. Jedes ausgesprochene Wort supponiert den Hörer, jedes ge­ schriebene den Leser: diesen mit­ zuschaffen ist der verhüllte, aber größere Teil der schriftstelle­ rischen Leistung. Hugo von Hofmannsthal

In den frühen zwanziger Jahren, als er seine Einleitungen zu zwei Bänden der Goethe-Ausgabe des Ullstein-Verlages gerade abgeschlossen hatte, schrieb Hugo von Hofmannsthal an den Goethe-Forscher Georg Witkowski, den Herausgeber dieser Ausgabe, ihm schwebe für derartige »Einleitungen« (und so­ mit wohl auch für »Nachworte« - Hofmannsthal schrieb meh­ rere vortreffliche Stücke dieser Art) eine ganz bestimmte Form vor, »eine bestimmte Dimension auch, welche dem, was Ab­ handlung ist (und als solche an seinem Platz verdienstlich) völlig ausweicht und den gewöhnlichen Leser noch einbezieht, der ungeduldiger und jeder Form von Abhandlung abgeneigter ist als irgend ein wissenschaftlicher Fachmann vielleicht ahnt«. Es sei das Schwierige dieser Form, »das Richtige zu sagen und den Leser mit dem einzuführenden Kunstwerk in Contact zu bringen«. Dies gilt auch für ein Nachwort zu einer ersten, verhältnis137

mäßig umfänglichen und somit wohl repräsentativen Auswahl von Rudolf Alexander Schröders Aphorismen, Betrachtungen, Sentenzen, Reflexionen und Gedanken. Es soll dem Leser nützen und ihm die Begegnung mit Schröders Texten erleich­ tern und sie intensivieren, ohne ihm unerläßlich zu sein. Es will ihm manche Fragen, die bei der Lektüre aufgetaucht sein mögen, zu beantworten versuchen. Es will ihm also eine kurze und summarische Darstellung einiger Komponenten dieser Auswahl vorlegen, ihre Intention, eine kurze Chronologie von Schröders aphoristischem Schaffen, eine Charakteristik der besonderen Art seiner Aphoristik und zugleich ihre Stellung im Gesamtwerk, schließlich die nachdrückliche Herausstellung der sich in diesen Texten spiegelnden Kontemporaneität vor allem mit dem großen Zeitgenossen und Freund Hofmanns­ thal. Kurz, es will ihn anregen, erneut in der Auswahl zu blät­ tern und die Texte Schröders zu lesen. Philologische und tech­ nische Einzelheiten finden sich in den »Hinweisen für den Leser«.

I

Am 26. Januar 1878 wurde Rudolf Alexander Schröder in Bre­ men geboren. Zur hundertsten Wiederkehr dieses Tages wird dem deutschsprachigen Leser der größte Teil seines Werkes, wenn auch nicht in einer einzigen Ausgabe, zugänglich sein, dank des vorliegenden Bandes vervollständigt um eine reprä­ sentative Auswahl aphoristischer Texte. Schröders Lebensdaten sind in den einschlägigen Enzyklopädien und der Sekundärlite­ ratur aufzufinden. Nur an die wesentlichsten sei kurz erinnert; sie umspannen zwei Drittel unseres Jahrhunderts. Münchener Studium (Musik und Architektur!) und erste Paris-Reise, die Begegnung mit Julius Meier-Graefe, die Gründung der »Insel« mit seinem Vetter Alfred Walter von Heymel, ein erster mit 138

diesen Verlagsplänen verbundener Briefaustausch mit Hof­ mannsthal und die Drucklegung des ersten eigenen Buches fallen noch ins vorige Jahrhundert. Das zwanzigste beginnt mit der für ihn im wahrsten Sinne schicksalhaften, nun auch persönlichen Begegnung mit Hugo von Hofmannsthal und einem ersten Besuch bei ihm in Rodaun. Die beiden hatten sich in Heymels Wohnung getroffen. Wenig später beginnt die Beziehung zu Rudolf Borchardt. Da­ mit war eine für alle drei Freunde und für die Literatur ihrer Zeit und das intellektuelle Leben ihrer Umgebung höchst be­ deutsame menschliche und geistige Trias gegründet. Die manche öffentliche und private Krisen überdauernde Freund­ schaft dieser drei Männer ist auf ihre Weise ebenso einmalig wie erstaunlich, und nur wer alle ihre Werke und Briefe kennt, hat zumindest einen ersten Zugang zu diesem Phänomen, des­ sen Bedeutung nicht von der Erkenntnis geschmälert wird, wie sehr eigenständig jeder einzelne von ihnen noch über das Ge­ webe ihrer Beziehungen und Begegnungen hinaus lebte und wirkte. Im ersten Jahrzehnt widmet sich Schröder besonders seinen architektonischen Studien und Aufträgen; die Freundschaft mit Meier-Graefe vertieft sich, er übersetzt Shakespeare und Horaz, besucht Borchardt in Italien und gibt mit ihm und Hofmanns­ thal zusammen das Jahrbuch »Hesperus« heraus. Zwischen 1910 und 1912 erscheint die Übertragung der Odyssee in zwei Bänden, und Schröder beginnt - neben Werken Vergils - die Ilias. 1913 wird die Bremer Presse gegründet. Die meiste Zeit der Kriegsjahre verbringt Schröder in Brüssel. Nach dem Krie­ ge schreibt er geistliche Gedichte, überträgt weiter Vergil und lernt Carl Jacob Burckhardt kennen. 1929 stirbt Hugo von Hofmannsthal. Schröder hält am 18. Juli eine Trauerrede, sum­ miert und würdigt ausführlich Hofmannsthals literarische Laufbahn und geistige Existenz (»In memoriam Hugo von

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Hofmannsthal«) und läßt einen weiteren großen Essay, »Erster und letzter Besuch in Rodaun«, die fast dreißigjährige Freund­ schaft umspannen. In den dreißiger Jahren hört seine Tätigkeit als Architekt auf, er beendet seine Horaz-Übertragungen und verlegt seinen Wohn­ sitz nach Bergen in Oberbayern, wo er bis zu seinem Tode lebt. Dort führt er seine Übertragungen aus dem Französischen, Flämischen und Englischen weiter. Shakespeare übersetzte er fast ununterbrochen, mit achtundzwanzig den Sommernachts­ traum, mit über achtzig den Macbeth. In den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges erscheint die Ilias. Bis dahin ist er schon mehrere Jahre Peter Suhrkamp verbunden. Seit 1942 bekleidet er ein Lektorat der Evangelisch-Lutherischen Kirche. In den letzten anderthalb Jahrzehnten seines Lebens fördert er vor allem sein übersetzerisches (T. S. Eliot) wie sein essayistisches Werk und erntet zahlreiche Ehrungen und Preise, von Städten, Ländern und Akademien. - Am 22. August 1962 starb Rudolf Alexander Schröder im fünfundachtzigsten Lebensjahr. Die Auswahl von Rudolf Alexander Schröders »Aphorismen und Reflexionen« beschränkt sich auf gut vierhundert von mehr als zweitausend verfügbaren Texten, die sich heute mit Aus­ nahme der wenigen von ihm selbst zum Druck vorbereiteten Proben unveröffentlicht im handschriftlichen Nachlaß befin­ den. Es gibt außer einer 1969 in der J. B. Metzlerschen Ver­ lagsbuchhandlung erschienenen Dissertation Hofmannsthal Schröder — Schnitzler: Möglichkeiten und Grenzen des moder­ nen Aphorismus keine nennenswerte Literatur zu Schröders aphoristischen Texten. Weder zum sechzigsten, noch zu höhe­ ren Geburtstagen, ja nicht einmal in den Gedenkschriften nach seinem Tode wurde - selbst angesichts der 1923 veröffentlich­ ten Aphorismen »Zum Begriff des Witzes« oder der dreimali­ gen Drucklegung religiös-akzentuierter Stücke - jemals der

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aphoristischen Bemühung und Leistung gedacht. In Antholo­ gien ist sie nicht vertreten. So erfüllt die nun vorgelegte Aus­ wahl eine doppelte Aufgabe: sie möchte diese aphoristische Leistung nicht nur einem breiteren, nicht auf Philologen be­ schränkten Leserkreis zugänglich machen, sie will sie auch in das Schrödersche Gesamtwerk integrieren. Obwohl einige von Schröders bedeutenden Essays bis heute ungedruckt oder heute vergessen sind, da sie bisher nur an abgelegener Stelle erschie­ nen, die Kunstform des dichterischen und deutenden Essays ist ein Begriff in Schröders Werk und in den Schriften seiner Inter­ preten — für die Aphorismen und Reflexionen steht das noch aus. Dabei hat es wahrhaftig an Zusammenfassungen und Würdi­ gungen keinen Mangel. Schon zum sechzigsten Geburtstag hatte der Indologe Heinrich Zimmer das damalige »formen­ mächtige« Gesamtwerk Schröders sowohl gegen die Jahre des Jugendstils als gegen die »wogende Formlosigkeit« seiner eigenen Gegenwart - es war das Jahr 1938 - gleichsam aufge­ rufen und herbeizitiert und es dabei, vielleicht unbeabsichtigt, nach Hofmannsthal hin charakterisiert: »in helldunklem Spiel über den bodenlosen Abgrund hinschwebend, der Ziel wie Herkunft ist und ewig wahre Allgegenwart: das immerwache dunkle Auge, das gleichmütig stumm und ihn auflösend den Reigen durchblickt«. Zwanzig Jahre später erschien, von Sieg­ fried Unseld ausgewählt, eine Anthologie mit dem Titel Fülle des Daseins. Dieser Titel war symbolisch zu verstehen und aufs Werk zu beziehen; dem Leser sollte der ganze Schröder vorge­ stellt und erhalten bleiben, denn hatte auch ein Kritiker wie Hans Egon Holthusen die in Schröders Schriften zuweilen bei­ spielhaft ausgetragenen, der modernen Literatur eigenen Span­ nungen erkannt und beschrieben, so fiel - bei aller Bewunde­ rung und Ehrfurcht vor der Vielfalt des Gebotenen - der Akzent nur allzuoft und vornehmlich auf den geistlichen Dich141

ter, in manchen Kommentaren sogar auf den patriarchalischen und fast kirchenväterlichen Aspekt des Werkes und der Per­ son. Dieser gutgemeinten und recht weit verbreiteten Verzeichnung möchte meine Auswahl etwas entgegenwirken. Sie will Schrö­ der als Zeitgenossen vorstellen, als Zeitgenossen seiner eigenen und unserer heutigen Zeit. Dieses Ineinander von Damals und Heute, also das, was man sich angewöhnt hat, mit dem Attribut »zeitlos« zuzuloben, bewahrt Schröder vor seiner eigenen Ge­ schichtlichkeit und macht ihn für uns aktuell. Literatur als Lebensform: nichts, was Schröder in seinen Reflexionen an­ schnitt, wurde weggelassen; der Akzent lag auf gedanklicher Vielfalt, auf stilistischer und dichterischer Qualität; es galt nicht, eine besondere geistige Eigenschaft oder selbst mehrere im übrigen Werk längst dokumentierte Züge hervorzuheben, es ging nicht um Quantität. Ich sehe in manchen seiner politischen Bemerkungen, die für mich bei aller oberflächlichen Obsoletheit gerade durch ihre Intention wieder aktuell sind, den gei­ stigen Menschen Schröder, dessen Meinungen über seine Zeit und ihre Ereignisse nicht versteckt werden müssen, weil man fürchtet, sie könnten einerseits die fromme Lesergemeinde, die ihren Autor in wirklichen und imaginären Beffchen genießen will, unnötig schrecken oder aber die mit den Attributen »abgelebt« und »historisch« freigebig um sich werfenden, vom jungen Nietzsche einmal nachhaltig auf den alten Goethe verwiesenen »Legionäre des Augenblicks« unmäßig langweilen. Ein Mensch, der wie Schröder einmal gestand, Beängstigungen als Gedanken verkleidet niedergeschrieben zu haben [4], hat das gute Recht, daß man ihn nicht gewaltsam im Sinne der aller­ letzten Aktualität relevant macht und seine Person und sein Werk nicht hagiographisch hochstilisiert. Wer in diesen Texten liest, trifft nur dann auf einen »neuen« Schröder, wenn sein Schröder-Bild wesentlicher Korrekturen bedurfte; er trifft aber

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auf einen kompletteren Autor. Meine Auswahl ist kein Manifest und kein Brevier.

Schröder nahm sich ernst und leicht zugleich. Die Reflexionen, mit denen meine Auswahl beginnt, zeigen sehr deudich das Maß, mit dem er sich als Aphoristiker mißt. Er war kein rabia­ ter Aphoristiker, der das, was er sagen wollte, nicht gegebenen­ falls auch anders hätte ausdrücken können und mögen. Der frappante und aphoristische Ausruf Musils »?Der Aphoristiker ein Schicksal!« trifft auf Schröder nicht zu. Hingegen rücken die häufigen Warnungen vor dem System und dem Systemati­ schen Schröder deutlich in die Nähe der älteren, historisch ausgewiesenen Essayisten und Aphoristiker, denen Anregen und Weiterdenken wichtiger waren als das Ausarbeiten system­ fördernder Zusammenhänge. Das widerspricht übrigens keineswegs der Bemerkung seines Freundes C. J. Burckhardt, Schröder habe zwar manche Warnung in den Wind gesprochen, habe sie aber überhaupt nur dank seines historischen Sinnes aussprechen können; für Schröder, sagt Burckhardt, war die nie abreißende Geschichte »nicht atomisiertes Stückwerk [. . .] sondern ein ungeheures leitendes Element, das er in Strö­ men empfing und in Erkenntnis verwandelte«. Darin sehe ich übrigens auch die Rechtfertigung, einer Auswahl aphoristischer Texte von Schröder den so bewußt an Goethe erinnernden Titel »Aphorismen und Reflexionen« zu geben. Die Intentionen des Schröderschen Denkens haben Hinweis und Erbfolge weiß Gott nicht zu scheuen. Man wird mühelos erkennen, was die Freunde, besonders Hof­ mannsthal und Borchardt, von denen er 1953 sagte, alles was er schreibe, geschehe noch immer in stiller Auseinandersetzung mit ihnen, in Schröder sahen und an ihm hatten. Hofmannsthal spricht in einem Brief vom Juni 1918 von dem »frohen Be­ 143

wußtsein«, das der Gedanke an Schröder ihm gebe und fünf Jahre später, wiederum vor Ottonie Degenfeld, bemerkt er, wie viel man doch an Schröder habe, wenn man ihn ganz und unge­ stört habe. Damals hatte er bereits das Aphorismen-Konvolut »Zum Begriff des Witzes« in seiner Zeitschrift veröffentlicht. Wie uns die kleine Chronik im nächsten Abschnitt zeigen wird, versuchte er Schröder zur Fortführung und Drucklegung wei­ terer aphoristischer Stücke zu bewegen. Sicher hatte er die so oft ausgesprochene Devise, als Ganzes müsse der Mensch sich regen, auch in diesen kurzen Stücken bestätigt gefunden und den ganzen Schröder in ihnen gesehen. Auch der Leser dieser Auswahl wird ihn sehen, und wie deutlich, da ihre Thematik, ihre Anordnung und ihr Ausmaß diesen Blick auf den ganzen Schröder erleichtern. Wir lesen die Aphorismen und Reflexio­ nen eines Menschen, der auf innere und äußere Ereignisse mit Witz, Skepsis und Humor, mit Weisheit, Güte und lutheri­ schem Zorn reagierte, also mit differenziertestem ethischen und ästethischen Empfinden, dem Rüstzeug des reizbaren Ge­ schlechtes der Dichter.

II

Die folgende kurze Chronologie gibt uns ebenso viele Fragen auf wie sie zu beantworten scheint. Sie bezieht sich im wesent­ lichen auf die Veröffentlichung des Aphorismeii-Konvolutes »Zum Begriff des Witzes« in den von Hofmannsthal herausge­ gebenen »Neuen Deutschen Beiträgen« (Erste Folge, zweites Heft, Februar 1923). Trotzdem ist sie von Interesse hier, weil Grundsätzliches zu Schröders aphoristischen Texten und deren Drucklegung zur Sprache kommt und sich nun einige noch zu lösende Fragen zu Schröders Gesamtwerk präziser stellen lassen.

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1. Hofmannsthal an Schröder (4. Mai [1922], von Aussee): »— Laß mich bald die Gedichte haben und gewiß auch die beiden Aphorismen haben. Ich will diese und »Heimkehr« in diesem Heft bringen.« [Es handelt sich um das zweite Heft der Ersten Folge der Zeitschrift. Darin wurde an erster Stelle Schröders langes Gedicht »Die Heim­ kehr« veröffentlicht, ebenso die neunzig Aphorismen »Zum Begriff des Witzes«. Mit »beiden« Aphorismen meint Hofmannsthal sicher zwei Gruppen oder Konvolute von Aphorismen. Schröder war im Mai in Bad Aussee.]

2. Hofmannsthal an Schröder (28. Oktober 1922, von Aussee): »— Wiegand sandte mir die Aphorismen, sie sind alle sehr schön, besonders bedeutend scheinen mir die über Analogie, die sich alle in einen großen Aphorismus gruppieren ließen; sie sind Ramificationen eines bedeutenden Aperçus. Worauf es mir nämlich so sehr ankäme und was wir auch besprachen, das wären jene zwei (und mit dem über Analogie) also drei aphoristische[n] Körper eines gewissen Volumens, damit sie ihren Platz behaupten unter den sehr bedeutenden Dingen, die in Heft II die Miscellen bilden. Laß mich also die beiden, die Dir vorschwebten und die complété Gedanken waren, schleunigst haben (nach Rodaun) zugleich mit den Gedichten und schreibe, ob ich die Gedanken über Analogie zusammenstellen darf als dritten.« [Siehe Anmerkung zu 1. Bei dem von Wiegand übersandten Manu­ skript handelt es sich höchstwahrscheinlich um das im Anhang dieser Auswahl unter »Quellen und Textgrundlagen« als 1 beschriebenes Konvolut Schröderscher Aphorismen. Die Aphorismen über Analogie mag Hofmannsthal exzerpiert haben; in den Nachlässen findet sich hierzu kein Anhalt, veröffentlicht wurden sie als separates Konvolut weder von Hofmannsthal noch von Schröder selbst. Siehe die Stücke [374 13731> [376], [3771- [378] und [379] der vorliegenden Auswahl.]

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3- Schröder an Hofmannsthal (4. November 1922): »— Für jetzt nur ein opusculum über den Witz, das mir an der neuen Sonne gereift ist. Vielleicht kannst Du aus ihm entneh­ men, was in Dein Heft paßt. Die Anordnung könnte vielleicht noch methodischer sein, das Ganze scheint mir den Gegenstand so ziemlich von allen Seiten her anzublicken und zu umschrei­ ben. Aphorismen habe ich noch viel mehr geschrieben in diesen Tagen, aber es mangelt mir die Möglichkeit im Augenblick ab­ zuschreiben und zu ordnen [. . .] Der Aphorismus über das Hinein und Hinaus aus dem Leben will erst langsam Fleisch ansetzen, man kann sowas ja nicht zwingen - und bei mir ge­ lingt nur wenig, was nicht ganz aus der Intuition kommt.« [Siehe auch Noltenius, S. 73. Hofmannsthal druckte das Konvolut ohne Streichungen, Änderungen und Umstellungen ab. Interessant ist Schröders Gebrauch von »Aphorismus« für eine Gruppe von aphori­ stischen Stücken; vgl. hierzu auch 2.]

4. Hofmannsthal an Schröder (20. November 1922): »— Auch das Aphoristische, das Du mir schicktest, ist wahr­ haft bewundernswert. Könnte ich für jedes Heft dergleichen von Dir haben, wie würde für mich selber der Wert der Zeitschrift und die Freude daran steigen. Dies, was Du da hingeschrieben hast, läßt weitaus alles hinter sich, was in dem »Buch der Freunde« steht. Das erkenne ich mit Freude. Eine solche Publi­ kation, wie diese meinige, hat bei mir einen sehr bescheidenen urbanen Sinn, keine[n] anderen Hintergedanken als den, etwas Freundliches gelegentlich darzubieten.« [Erstmals abgedruckt in Neue Rundschau lxv (1954), S. 383f. Hier handelt es sich wahrscheinlich nur um Schröders Manuskript »Zum Begriff des Witzes«. Hofmannsthal hatte aber bereits andere Aphoris­ men Schröders in seinem Besitz.]

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j. Schröder an Hofmannsthal (24. November 1922): »— Aphorismen wehen mich noch manche an, und es bedarf nur des bewußten ruhigen Abends, um verschiedenes zu fixie­ ren und abzuschreiben.« [Von einer Übersendung wissen wir nichts.]

6. Schröder an Hofmannsthal (23. Dezember 1922): »----Du siehst, die Aphorismiasis hat mich noch beim Wickel; und Du wirst nächstens ein ungeheures Convolut ungereimter Bemerkungen erhalten.« [Im Nachlaß Hofmannsthals weist nichts auf die angekündigte Sen­ dung hin.]

7. Hofmannsthal an Schröder (17. Juni [1923]): »— Soll ich die Aperçus über den Begriff der Analogie zusam­ menstellen?« [Von Rudolf Hirsch auf 1923 datiert. Die gleiche Anfrage, die Hof­ mannsthal am 28. Oktober 1922 an Schröder richtete. Anscheinend wurden diese Aperçus dann doch nicht von Hofmannsthal zusammen­ gestellt. Sie wurden zu Schröders Lebzeiten niemals im Zusammen­ hang veröffentlicht. Einige davon fanden sich in einem fünfseitigen Konvolut (»Quellen und Textgrundlagen« in), das den »Münchener Neuesten Nachrichten« vorgelegen haben könnte. In deren Veröffent­ lichung von Schröders Aphorismen zu Neujahr 1925 finden sich keine von den Stücken über Analogie.]

Man muß bedenken, daß selbst aus einer größeren Anzahl von Mitteilungen - manches mag immerhin verlorengegangen seinkeine verläßliche und genaue Abfolge der zwischen Hofmanns­ thal und Schröder vereinbarten Veröffentlichungsmöglichkeiten abzulesen sein würde, da sich beide Dichter in jener Zeit wie­ derholt sahen. Schröder, der anscheinend auf Hofmannsthals erste Anfrage wegen der Stücke über Analogie gar nicht ant­ 147

wortete, legte wohl auch auf diese Aphorismen nicht entfernt den gleichen Wert wie auf seine Lyrik. Immerhin bleibt es rät­ selhaft, daß Schröder in der Neujahrsnummer der »Münchener Neuesten Nachrichten« einige jener Aphorismen veröffent­ lichte, die Hofmannsthal vorlagen und von ihm besonders ge­ rühmt worden waren. Auch scheint Schröder zumindest nicht schriftlich angefragt zu haben, ob er die Hofmannsthal zur eventuellen Veröffentlichung in den »Neuen Deutschen Bei­ trägen« bereits vorgelegten Stücke für diese Neujahrsnummer verwenden dürfe. Die »Neuen Deutschen Beiträge« bestanden damals nämlich noch; das zweite Heft der Zweiten Folge wurde im Januar 1925, das dritte im August 1927 ausgeliefert. Es fehlt anscheinend auch irgendeine schriftliche Reaktion Hofmanns­ thals auf die erwähnte Veröffentlichung in der Münchener Ta­ geszeitung. Alles in allem ist es kaum verständlich, daß sich Hofmannsthal die Stücke, die er besser als die eigenen im »Buch der Freunde« fand, als Herausgeber der »Neuen Deut­ schen Beiträge« entgehen ließ. Um diese vorangegangenen Überlegungen in die Dimension des gesamten aphoristischen Schaffens von Schröder zu inte­ grieren, ist schließlich noch zu bedenken, daß erst im Jahre 1929, ein gutes Vierteljahr nach Hofmannsthals Tod, Schrö­ ders Produktion dieser kurzen Reflexionen, Sentenzen und Aphorismen richtig in Gang zu kommen schien. In den näch­ sten sechs Jahren sollte er über vier große Manuskripthefte fül­ len, aus denen er selten exzerpierte. Und selbst in diesen sechs Jahren schrieb er keineswegs ununterbrochen. 1933 unter dem Druck der politischen Ereignisse schien es, als wollte er das Schreiben ganz einstellen und sich aufs Malen verlegen. 1934 aber schrieb er wieder Aphorismen und widmete sich religiös akzentuierten Arbeiten. Dann bricht das Schreiben von Apho­ rismen wieder ab, bis 1939 das kleine Konvolut »Widmungen« in den Druck gegeben wird.

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Wie sich Schröders Aphorismen-Schaffen entwickelt hätte, wenn Hofmannsthal 1929 nicht gestorben wäre, können wir nur vermuten. Daß dieses Ereignis und Hofmannsthals frühes Interesse an den aphoristischen Arbeiten des Freundes aber von einschneidender Bedeutung für Schröders aphoristische Produktion waren, steht außer aller Frage.

III

Hier ist kaum der Ort und der Moment, wissenschaftlich Bün­ diges über den Aphorismus zu sagen. Rhetorische Figuren wären zu beschreiben und aufzuschlüsseln, Widersprüchlich­ keiten innerhalb jener Beschreibungen aufzulösen; man erin­ nere sich nur an Lichtenbergs treffende Bemerkung, jemand habe bereits em paar Tage in müßigen Stunden an einem Im­ promptu gearbeitet. Der deutsche Leser tut auf alle Fälle gut daran, sich Nietzsches Aphoristik und zugleich Nietzsches aphoristische Bemerkungen über die Aphoristik als Denk- und Kunstform vor Augen zu halten. Wenn Schröder recht hat, daß man über wichtige Dinge nur kurze Bücher schreiben soll [6], so gilt dies für Sentenz und Aphorismus, aber mit dem Zusatz, daß das Übrige und Stehengelassene der Aussage das Unausge­ sprochene und zum weiteren Nachdenken Anregende rein grammatisch-syntaktisch zu tragen imstande sein muß. Die Abbreviatur dank sicherster, fast traumwandlerischer SprachArchitektonik — wie anders ließe sich der Ehrgeiz verwirkli­ chen (Nietzsche im letzten »Streifzug« der Götzen-Dämmerung)'. »in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andre in einem Buche sagt - was jeder andre in einem Buche nicht sagt . . .«. Schröder besaß diesen Ehrgeiz kaum; ihm lag zudem unendlich viel mehr an seiner Lyrik. Hofmannsthal mußte die geistige Spannung in Schröder sehr stark empfunden haben und ver­ mochte sie in jenem schon erwähnten Heft der »Neuen Deut­

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sehen Beiträge« denkwürdig zu komponieren, indem er an den Anfang des Heftes jenes große und im Gefühl ausladende Ge­ dicht stellte und gegen Ende die Sentenzen über den Witz, deren drittletzte »Der Zweifel ist die schöpferische Grundkraft des Witzes« [78] Ausgang und Pfeiler zu sein vermöchte für einen das ganze Thema umspannenden Bogen, der auf dem Aphoris­ mus Nietzsches ruhen könnte: »Der Witz ist das Epigramm auf den Tod eines Gefühls«. Nicht um Gescheitheit und um das zitierbare und unvergeßliche Bonmot ging es Schröder in seinen Aphorismen - was nicht besagt, er habe nicht sehr oft in gedrängtester und schlagfertig­ ster Form ein Thema erledigt -, der zuschlagende, den Betrof­ fenen erschlagende, wie ein Blitz einschlagende Aphorismus war nicht so sehr Schröders Art wie der momentane Denk- und Re­ flexionsstoß, der wie ein ins Wasser geworfener Kiesel Ringe zieht. Bei den kürzeren Aphorismen überläßt es Schröder dem Leser, eine Weile einzuhalten und diese Ringe im Geiste nach­ zuzeichnen, mitunter aber tut er es selbst und schreibt zum ersten Einfall die kommentierende Reflexion. Das ist ihm kongenial und entwickelt sich nicht erst über Jahre hin Beispiele finden wir bereits in den von Hofmannsthal veröf­ fentlichten Stücken (z.B. [16] oder [18]). Es ging ihm nicht darum, auf Kosten dessen, den die Sentenz traf, clever zu sein um geschniegelte Abscheulichkeiten zu Papier zu bringen, war er ein viel zu verantwortungsbewußter Künstler. Und von der Sprache selbst ließ er sich im Grunde bei aller denkwürdigen Fertigkeit auch nicht zu Bravourstückchen verleiten - Nietz­ sches Satz, die Antithese sei die engste Pforte, durch welche sich am liebsten der Irrtum zur Wahrheit schleicht, war ihm aus dem Herzen gesprochen. Davon wird sich der Leser unschwer überzeugen können.

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Schröders Aphorismen-Schaffen ist innerhalb seines Werkes leicht überschaubar, es ist auch aus dem Werk heraus erklärbar, denn Denken in eigenen Systemen und Verneigen vor den Systemen anderer waren ihm fremd. Er sah wohl auch die mannigfachen künstlerischen Komponenten seines Werkes als Facetten einer einzigen Tätigkeit: »Ich habe mich stets be­ müht«, schrieb er im Nachwort zu den »Weltlichen Gedich­ ten«, ein Jahr, nachdem er zum letzten Mal Aphorismen zum Druck gegeben hatte, »Dichtung im Zusammenhang mit allen übrigen menschlichen Tätigkeiten zu gewahren und so gilt mir für sie das gleiche Gesetz wie für alle andern, daß sie nämlich da ihren bedeutsamsten Sinn und ihre eigentliche Würde er­ wirbt, wo sie sich in die Kette wechselseitigen Gebens und Empfangens eingliedert, innerhalb derer alles förderliche Tun als ein Dienst an andern erscheint, mögen nun diese andern viele oder wenige sein.« Das ist kaum das Credo eines Wort­ künstlers, der alles für eine Formulierung hingibt und ist doch zugleich Beweis, wie wenig die aphoristischen Stücke als erra­ tischer Block im Werk liegen. Das würde freilich schon von der Form her ins Auge fallen. Vielleicht ist es gut, sich das ins Ge­ dächtnis zu rufen. Im Januar 1923 schrieb Hofmannsthal an Schröder (Neue Rundschau lxv [1954], S. 384), ganz beson­ ders teuer unter Schröders Gedichten seien ihm die »so schmucklosen aber wie innigen in gepaarten Reimen«. Er wird damit kaum die bereits 1900 erschienenen »Sprüche in Reimen« gemeint haben, aus denen hier drei zitiert werden sollen, um diese von Hofmannsthal gerühmte und in Schröder seit Anfang seines Dichtens liegende wesentlich lyrische Fähigkeit, so schmucklos wie innig zu schreiben, als eine unter mehreren Fähigkeiten zu zeigen, die Schröder zum Verfasser kurzer und dichter, vom Essay bis zum Aphorismus reichender Betrach­ tungen vorzubcstimmen schien:

B1

Denn, was lebendig innen sich gebar, Sucht sich lebendige Formen rein und klar. Nun aber will, was innerst überwallt, In’s Feste dringen bleibender Gestalt.

Und so in Dauerformen festgebannt Ersteht Empfundenes als ein Werk der Hand.

Auch noch im nächsten Jahrzehnt schreibt Schröder in dieser Art, wie ein Blick in die von Herbert Steiner 1934/1935 in der Zeitschrift »Corona« veröffentlichten »Sprüche« beweist. So kongenial eine systemfeindhche und vom ethischen und ästhetischen Bewußtsein dirigierte Aphoristik Schröder auch gewesen sein mag, man gerät in einige Schwierigkeiten, wenn man (wie z.B. Noltenius, S. 74 f.) bei Schröder nach allen sonstigen Merkmalen des Aphorismus sucht, nach Knappheit und Präzision - fälschlich fast als Synonyma verstanden - und aus ihrem gelegentlichen und streckenweisen Fehlen Rück­ schlüsse zieht. Schröders vorsichtiger Umgang mit dem bei aller Rasanz möglicherweise falschen und ungerechten Bonmot wurde bereits erwähnt. Knappheit und Rasanz widersprachen auch der homerischen Breite und der möglichen Behaglichkeit einer Reflexion, die bei ihm zwar oft der Knappheit, aber kaum je der Anmut entbehrt. Noltenius meint, Schröder habe die im Witz-Konvolut der »Neuen Deutschen Beiträge« veröffent­ lichte Invektive »Wer glaubt, durch den Zerrspiegel die Welt ad absurdum führen zu können, ist ein miserabler Hund« [363] leider zu spät gestrichen; Hofmannsthal hatte sie bereits dem Drucker übergeben, wohl in dem richtigen Gefühl, daß sie durchaus dazu paßte. Das ist innerhalb der Reihe keineswegs ein »ganz typischer Ausfall« im Ton. Der Leser blättere noch einmal und erinnere sich an einen ähnlichen »Ausfall«: IJ2

»Schrecklich zu denken, daß Sokrates gelebt hat, Platon gelebt hat, Christus auf Erden gewandelt hat, und daß nun ein Trotzki und Lenin möglich sind« [225]. Allein der Wechsel des Ver­ bums von »leben« zu »wandeln« sollte uns, ob wir nun zu­ stimmen oder ablehnen, darauf aufmerksam machen, wie sorg­ fältig Schröder formuliert. Gerade solche aphoristischen Re­ flexionen scheinen mir das Bild Schröders zumindest für man­ che Leser heilsam zu vervollständigen. Man muß wohl auch die bei Noltenius verfochtene Etikettierung Schröders als eines »christlichen Aphoristikers« zurückweisen, zumal das un­ beschadet aller auf Pascal hindeutenden aber nicht zu übertrei­ benden gedanklichen Verwandtschaft geschehen kann. Man könnte weitergehen und grundsätzlich von der Forschung er­ bitten, sie möchte auf solche Etikette wie »christlicher Aphoris­ mus« verzichten, da sie Schaden anrichten und sich ebenso­ wenig halten lassen werden wie die mit ihnen durchaus ver­ wandten, wenn auch politisch und soziologisch heute brisante­ ren einer »schwarzen Mathematik« oder »feministischen Shakespeare-Kritik«. Über Schröders allgemein akzeptierte »christliche Bekehrung« und »Wandlung« bleibt im nächsten Abschnitt noch einiges zu sagen. Auch ging es ihm, um auch dies noch zu bemerken, im wesent­ lichen nicht um Originalität. In dem bereits zitierten Nachwort zu den »Weltlichen Gedichten« verweist Schröder besonders deutlich auf sein ihn niemals verlassendes Gefühl des Einge­ gliedertseins »in einen jahrtausendalten Zusammenhang« und daß er sich »niemals als Neubeginner, Neutöner [. . .] sondern als Fortsetzer, mitunter sogar - und zwar mit Vergnügen - als Wiederholer empfunden habe«.

So stellt sich noch einmal die Frage nach dem Titel dieser Aus­ wahl. Ebenso leicht, aber nicht so wörtlich wie Hofmannsthals Titel seines »Buchs der Freunde«, schließen sich die »Aphoris153

men und Reflexionen« an Goethe an. Dabei verfängt es nicht, Bezeichnungen wie »Glosse«, »Gedanken«, »Sentenzen« oder »Maximen« als wesentlich zum Christlichen hingewandt zu be­ zeichnen (Noltenius, S. 124E) und dann, was Formstrenge be­ trifft, von einem Nachlassen oder freiwilligen Verzichten zu sprechen. Das wäre allein durch die 1938 aufgezeichneten Stücke zu widerlegen. Deshalb sind auch in dieser Auswahl Aphorismen und Betrachtungen, also Reflexionen, ohne Rück­ sicht auf ihr Entstehungsjahr nebeneinander gereiht und - um der jeweiligen Thematik willen - gleichsam ineinander ver­ schoben. Nicht nur der zugespitzte Gedanke, auch der für Schröder so typisch fließende sollte zu Worte kommen. Bei­ spiele dieser letzteren Art grenzen an sorgfältig formulierte Tagebuch-Aufzeichnungen. Einmal bemerkt Schröder [61], all­ mählich sei er fähig geworden, Novalis zu begreifen, speziell dessen besondere Klugheit, die allen seinen Äußerungen — be­ sonders den aphoristischen, möchte man hinzufügen — einen universalen und zugleich fragmentarischen Charakter verlie­ hen. Man möchte ebenfalls hinzufügen, Schröder habe von No­ valis gelernt, seine eigene Eloquenz etwas zu beschneiden, und jedenfalls habe er einige jener Gedanken niedergeschrieben, die Novalis sehr glücklich »Senker« nannte. In einem der ersten Briefe an die »Bremer Presse« (s. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft vn [1963] S. 60) erbat sich Flofmannsthal einen Beitrag H. H. Schaeders zu einem orienta­ lischen Thema. Er sollte »möglichst wenig ausgesponnen« sein, also »durchaus kein Essay«, sondern »fast aphoristisch behan­ delt« werden, einfach eine »weitgefaßte Intuition«. Weitgefaßte Intuition: das beschreibt auf eine das Formale nicht gängelnde, zugleich vage und präzise Weise wohl genau das, was Schröder in seinen Aphorismen-Reihen vorgeschwebt haben mußte und dessen formale Problematik er in seinen Aphorismen und Re­ flexionen verschiedenartig zu lösen versuchte.

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IV

Auch in der Schröderschen Essayistik bewundern wir diese »weitgefaßte Intuition«. Sie ist ein unveräußerliches Ingrediens seines Schaffens. Die aphoristischen Arbeiten und Bemühungen sind, es sei noch einmal betont, auch unter diesem Aspekt ins Gesamtwerk zu integrieren. In seiner Gedächtnisrede erinnerte C. J. Burckhardt an den ernsten, den zugleich so gütig-heiteren und ironisch-wissenden, den festen Blick. Diese nicht nur im Augenblick der Trauer gültige Summierung hilft uns manchen Aphorismus entschlüsseln. Verglichen mit seinen Freunden Hofmannsthal und Borchardt, schien Schröder ein Mensch von heiterer Skepsis, begabt mit dem Schuß Fontane, den Hof­ mannsthal ebenso bewunderte wie den Seelenstoff der Stimme des Lyrikers Schröder (zu Schröders Sonetten an eine Verstor­ bene; Prosa ii, 158). Diese Stimme vermochte, ob im Gedicht oder der Übersetzung klassischer Dichter, hier des Homer, aus Aufrichtigkeit gegen sich selbst, durch ungequälte Mensch­ lichkeit und Entspanntheit »scheinbar auseinanderliegende Ele­ mente zu verbinden und den Zusammenhang mit den reinen Bestrebungen früherer deutscher Epochen zu beleben« (Hof­ mannsthal über die Homer-Übertragungen; Prosa in, 103f.). Es bleibt zu sagen, auch im Hinblick auf die Aphorismen und Reflexionen, Schröder habe sich mit der Vergangenheit nicht als Historie, sondern als einer Wirklichkeit befaßt, die mit der Gegenwart Dichte und Dringlichkeit gemeinsam hatte. Dazu eben Leichtigkeit und großes Können; in den mensch­ lichen Umgang übersetzt, sind das heitere Liebenswürdigkeit und Takt. Wie oft werden sie, um nur ein Beispiel zu geben, bei aller Klage über Schröders epistolarische Saumseligkeit, zwischen Hofmannsthal und Ottonie Degenfeld brieflich apostrophiert. Die nicht zustande kommenden Vereinbarungen und versäumten Briefe spiegeln oft nichts anderes als Schröders berufliche Belastungen, so daß es nicht verwunderlich ist, im 155

Januar 1925 Hofmannsthal anläßlich der von Schröder wohl in Aussicht genommenen Niederlegung seines Architektenberufs erleichtert schreiben zu sehen: »Ich fuhr weg mit dem glück­ lichen Gefühl, daß die Starrnis um ihn und in ihm sich wirklich löst — daß wir ihn wieder haben werden. Daß er die Last dieses elenden Handwerkerbetriebes von sich werfen kann [. . .] gibt ihm eine neue, unendlich liebenswürdige Jugend. Der gute, sel­ tene, unvergleichliche Mensch!«

Rainer Noltenius spricht von christlicher Aphoristik, die Se­ kundärliteratur zu Schröder spricht ganz allgemein von einer religiösen Bekehrung, die sich natürlich auch in den Aphoris­ men spiegeln müßte. Und von Otto Bruder, der für die »Ge­ danken zur Religion« (»Quellen und Textgrundlagen« vi) ein kurzes Vorwort schrieb, wird das auch fest behauptet: diese »religiösen Gedanken« seien »Fundament eines Bekenntnisses, Dokument der Begegnung eines Laien mit Gott«, es seien Ge­ danken eines Mannes, »der sich vor die Entscheidung gestellt sieht, dem das Schwert über dem Haupte schwebt«. Und Nolte­ nius widmet dieser plötzlichen oder allmählichen Christianisie­ rung Schröders nach seinem vierzigsten Lebensjahr einen eige­ nen Abschnitt, »Der Wendepunkt im Bekehrungsprozeß«, und geht dann noch weiter, indem er später von der 1934 zusätzlich stattfindenden Wendung des schon über Fünfundfünfzigjähri­ gen »zur festen Gemeindefrömmigkeit« spricht. - Es lohnt sich also, kurz über diese »Wandlung« nachzudenken. Schröder mag derartige Mißverständnisse zum Teil selbst ver­ schuldet haben. Er äußerte sich einige Male zum Thema und wurde dann aus dem Zusammenhang und sicher mit zustim­ mendem Eifer zitiert. In jenem heute berühmten Brief an Hof­ mannsthal vom November 1914, der einen Monat später zum ersten Mal und seitdem sehr oft abgedruckt wurde, sieht Schrö­ der voraus, daß man nach dem Kriege wieder schnell vergessen

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wird und äußerlich alles wieder seinen gewohnten Gang gehen würde. Dann fährt er fort: »Aber im Innern? Vielleicht geht auch das schneller als man meint, denn unser Herz ist ein wunderliches Ding und seine Vergeßlichkeit ist die wunderlich­ ste seiner Wunderlichkeiten. Ich fange jetzt an, das Alte Testa­ ment zu begreifen und zu besitzen, lese mit schmerzlicher Rüh­ rung in den Büchern der Könige und der Richter, wie das Ju­ denvolk von einer Katastrophe zur andern seinen Gott verließ und ihn wieder aufsuchte. Auch Jesaias hat jetzt für mich eine Stimme bekommen. Früher war das alles totes Papier für mich«. In einem Brief vom 28. September 1963 bemerkt Carl J. Burckhardt, er fühle sich nicht berufen, über Schröder als Christen zu sprechen und schreibt dann weiter an Otto von Taube: »Schrö­ der hat mir ein einziges Mal von seiner Konversion gesprochen. Er sagte mir, sie sei plötzlich erfolgt, im Augenblick, in dem er bis auf den Grund begriffen habe, was Sünde sei«. In seinem Abschied von Rudolf Alexander Schröder erweitert Burckhardt diesen Gedanken und sagt, Schröder sei die Gnade des Glau­ benkönnens zuteil geworden, nicht nur was Sünde, sondern auch was Erlösung sei, habe er damals begriffen, und von einem bestimmten Augenblick habe alles, was er danach geschaffen, unter dieser Tatsache gestanden, um die keine Deutung herum­ kommen könne. Dieses Erlebnis von Sünde und Erlösung sei das zentrale Ereignis seines langen Lebens gewesen. Alles scheint auf eine Bekehrung hinzudeuten. Und doch schei­ nen mir die Akzente falsch gesetzt. Schröders Nichte berichtet, Hans Egon Holthusens Aufsatz über »Tradition und Aus­ druckskrise«, in den frühen fünfziger Jahren im Merkur er­ schienen und später in dem Band Ja und Nein: Neue kritische Versuche wieder abgedruckt, habe Schröder gerade ob seines Hinweises auf den Aspekt der »Bekehrung« in seinem Schaffen verstimmt. Er fühlte sich damals mißverstanden. Schröder wird, wie alle Dichter seines Jahrhunderts, ständig auf der U7

Suche nach seinem wahren Selbst gewesen sein. Worin immer er Hofmannsthal nachgeeifert haben mag, und wie sehr sich sein aphoristisches Schaffen nach dessen Tod intensivierte, jenen Satz Hofmannsthals »Oft quäl ich mich stundenlang über mich selber, wer ich denn bin und was ich denn bin« (Brief vom 2.7.5. [T9i8J an Ottonie Degenfeld), hat er gewiß an sich selbst immer wieder erfahren. Der Akzent auf der Bekehrung setzt aber doch wohl voraus, erst mit dieser plötzlichen Wandlung sei Schröder ein religiöser Mensch geworden. Das aber, man schlage das Werk auf, wo man will, war er schon immer. Und gerade das, wird berichtet, habe er nach der Lektüre des Holthusenschen Essays mehrfach ausgesprochen. Eine »Umkehr«, etwa nach Art der Claudelschen Bekehrung, habe keineswegs stattgefunden. Sehen wir die sich über sechzehn Lebensjahre erstreckenden aphoristischen Sentenzen und Bekenntnisse an, so erstaunt und fasziniert die unablässige ethische Bemühung, die fast manische Bewußtheit der Gegenwart des Bösen im Le­ ben. Manche der Reflexionen sind in der Diktion Gebeten nicht unähnlich, manche sind sich selbst und anderen zuge­ sprochene Lebensweisheiten und -Hilfen, etwas wovor sich Schröder niemals scheute. Gewiß war für ihn das Bewußtsein der Sünde ein wesentlicher Zug theologischer und allgemein religiöser Bemühung. Auch war ihm das lutherische Gespräch des Menschen mit sei­ nem Gott nicht fremd, so wenig wie das ebenso lutherische Be­ wußtsein von der verheerenden Macht des Teufels, der in den Aphorismen oft vorkommt. Die religiöse Haltung mancher Schröderscher Poesien ist auch im Sinn und Geist des deutschen Kirchenliedes zu verstehen. Persönliche Krisen brachten Schröder während des Krieges der völligen Verzweiflung nahe. Zu Beginn der dreißiger Jahre gewinnt das Kirchliche neue Bedeutung aus der Opposition gegen den Nationalsozialismus. Schröders politische Haltung ist aus den Aphorismen unzwei158

deutig abzulesen. Harry Graf Kessler berichtet in seinen Tage­ büchern 1918—1937, Schröder habe im Herbst 1932 beleidigend und geringschätzig von Hitler gesprochen und damals der Überzeugung Ausdruck verliehen, der Schwindel sei ja schon geplatzt. Wie er sprach, so schrieb er - daß der Schwindel 1932 keineswegs vorüber war, wird nicht wenig dazu beigetragen haben, daß sich Schröder öffentlicher und deudicher zum Christentum bekannte. Immer ist der ganze Schröder im Auge zu behalten, nicht nur der Laienprediger und Autor von kir­ chenliedartigen Poesien. Schröder erforschte skrupulös sein Gewissen - vor und während des Dritten Reiches und danach bis zu seinem Tode. Der Schock des Krieges und mancher per­ sönlicher Krisen wird diese Skrupel zuzeiten bis zu einem Unglücklichsein verstärkt haben, dessen Schleier sich über Le­ ben und Werk legte. Auch in den Aphorismen ist dieser Schleier sichtbar. Witz und Humor hatten Trauer und Melancholie zu dämpfen. Schröder, auch das wird aus dem Werk deutlich, ge­ noß das Leben und war protestantisch genug, sich manchmal ob dieses Genießens zu schämen. Wie Clemens Brentano war ihm daran gelegen, das weinende Kind in seiner Brust zu beruhigen. Die Bibel mag ihm vor dem Kriege »totes Papier« gewesen sein, aber er kannte sie, er hatte sie immer gekannt, wie er Goethe und die Klassiker kannte. Wie charakterisiert man aber nun Schröders unzweifelhafte Religiosität, die man viel höher als eine »feste Gemeinde­ frömmigkeit« veranschlagen sollte? Hofmannsthal hatte sich bereits 1905 notiert: »R. Schröder - Die Dichter sind die einzig Religiösen unserer Epoche: sie halten sich an das, woran sie zu glauben vermögen. [. . .] Der innere Wohllaut, dem der Schmuck eine Befleckung wäre« (A, 141). Das mag auf ein lange vor allen später angesetzten und beobachteten Wandlun­ gen und Bekehrungen geführtes Gespräch zwischen den Freun­ den zurückgehen. Und 1930 schrieb Schröder eine ihn selbst

überraschende, Borchardt gewidmete Prosa »Der Wanderer und die Heimat«, in welcher er, wenn man es summarisch haben will, selten schön und deutlich über seine religiöse Ge­ wißheit spricht: »Der Wanderer wußte, daß es das alte, ewige Paradies der Menschheit sei, das der Einzelne hier auf Erden nur in winzigen, kleinen Bruchstücken wiedergewinnt und wiederentdeckt, daß aber, eben weil alles Glück und alle Selig­ keit der Erde nur ein solches winziges Bruchstück des alten Paradieses sei, es auch kein Glück und keine Seligkeit gebe, die unserm Innern nicht schon bekannt wären, wenn sie zu uns kommen«. In den Aphorismen, die ich ans Ende der Auswahl gestellt habe ([395]-[4O3J), rührt er an Ähnliches, wenn er in manchen Variationen über die »Magie der stufenweisen Erhö­ hung des Kreislaufes« schreibt. Zu Beginn der fünfziger Jahre summiert Schröder noch einmal diese Religiosität: »Ich hab es längst gewußt, daß Abend war:/Der bleiche Stern in leer gewordner Runde/Blickt fragend auf, ward hell, macht offen­ bar,/Was ich verschwieg. - Dies ist die letzte Stunde.« Das sind die Schlußzeilen der »Letzten Stunde« — ein Gedicht, das Martin Buber, wie uns Werner Kraft berichtet hat, herzbewe­ gend nannte. Zurück zu den Aphorismen und Reflexionen, von denen wir uns nur scheinbar entfernt haben. Dem Leser wird aufeefallen sein, wie abfällig Schröder zuweilen über Dostojewski, über Freud und die Psychoanalyse spricht. Liegen da vielleicht seine Grenzen des Aufnehmens, dort, wo ihm seelischer Aufruhr unverhüllt entgegentritt? Bereits 1908 scheint das nachweis­ bar schon so gewesen zu sein und sich später wenig geändert zu haben. Damals schrieb er am 21. Juni an Hofmannsthal über dessen gerade empfangene und gelesene Prosastücke zu Shake­ speare, Victor Hugo und Balzac. Er sagte, diese Stücke seien ihm die liebsten, macht dann aber die Einschränkung, er teile

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Hofmannsthals Gefühle so wenig für Hugo als für Balzac: »Namentlich der letztere läßt mich ganz kalt und ich muß im­ mer hinter jeder Beschreibung, die er macht, denken >das ist sicher garnicht so gewesem - übrigens geht es mir bei den Rus­ sen ebenso. Ich schätze die Art Goethes, Immermanns und Jean Pauls sehr viel mehr und vor allen Dingen auch die guten Engländer von Goldsmith, Sterne, Fielding bis zu Thackeray ja selbst Dickens herab.« Er schätze an diesen Autoren beson­ ders das richtige Gefühl dafür, was man »selbst von den Ge­ schöpfen seiner eigenen Phantasie« behaupten darf und dem, was man umschreibt oder unausgesprochen läßt. - Einen Aspekt dieses Bekenntnisses wird Hofmannsthal ihm un­ schwer nachgefühlt haben, denn noch 1920 schreibt er am 24. Februar an Ottonie Degenfeld, er müsse nun auch an Schrö­ der über die Ausseer Ode schreiben, die ihm wie derartige Ge­ dichte Schröders, die »aus der unmittelbaren Erregung des Le­ bens hervorgehen, eher erschreckend und fremd als anziehend« gewesen sei. Den wenigsten Menschen sei es gegeben, aus der Erregung heraus das wirklich Dichterische zu schaffen. Auch Schröder ertrug das nicht und hätte wohl selbst das daraus ent­ standene Dichterische eher abgelehnt. Autoren wie Joyce und Dostojewski versagte er seine Zustimmung. Und der Psycho­ analyse mißtraute er, weil er in ihr im wesentlichen eine Apolo­ gie für seelische Trägheit und seelisches Sich-Gehenlassen und nicht eine Hilfe für seelisch Kranke sah. Das Thema des Repres­ siven, das im Bereich von Skrupel und Sünde auch das Sexuelle berühren muß, schnitt er nur selten an. Wer es sich schwer macht und wer den Weg durch die enge Pforte nimmt, sieht ungern ähnlich Betroffene auf der breiten Straße einer ärzt­ licherseits geförderten Leichtherzigkeit einherkommen; das dünkt ihn verantwortungslos und im Grunde irreligiös. Dafür hatte Schröder ein sehr feines Ohr. Und nicht nur dafür. Hofmannsthal hatte es ihm 1913 anläßlich 161

der Übersetzung der Odyssee schwarz auf weiß gegeben, er be­ sitze eine subtil durchgebildete Syntax, die er mit dem zartesten Gefühl handhabe, er gebe jedem Wort zugleich den seelischen und den Versakzent, der ihm zukomme. Wir erinnern uns noch, wie subtil Schröder das Wort »wandeln« in dem Aphoris­ mus über Sokrates, Plato, Jesus, Lenin und Trotzki [225] ge­ setzt hatte! Das geschulte, gewitzte und unbestechliche Ohr be­ wahrten ihn lebenslänglich vor ideologischen Donquichotte­ rien. Anläßlich der intendierten, von Hofmannsthal und Bor­ chardt gewünschten Besetzung eines Münchner Lehrstuhles mit Josef Nadler, äußerte Schröder Bedenken, nicht so sehr wegen Nadler persönlich, sondern wegen der möglichen litera­ tur-ideologischen Gleichmacherei, die man mit seinen Haupt­ arbeiten betreiben könnte. Borchardt, bemerkt er scherzhaft, habe sich sogar Arno Holz bereits als Stammes- und Artver­ wandten aufdiktieren lassen, um des schönen parti pris willen, also aus einer vorgefaßten Meinung heraus. Schröder schreibt am 28. März 1927 hierzu die ihn — und nun ganz besonders seine Aphorismen — vortrefflich charakterisierenden Sätze: »Da sieht man wieder, welch ein grobes Werkzeug die Sprache ist. Man braucht sie nur einen Moment allein weiterdenken zu lassen und aller Unfug, gegen den dann vernünftige Leute lange anzukämpfen haben, ist im Werke. Es gibt ja ganze Katego­ rien grenzenlos dehnbarer und versatiler Begriffe, mit ihnen wird jedesmal operiert, wenn irgend etwas »passend gemacht* werden soll. Die Prämisse tut ganz klein und unschuldig und muß es sich nach ihrem Fehltritt alsbald gefallen lassen, daß eine riesengroße, mißratene Tochter ihr den Rücken kehrt, sie nicht mehr kennt und einzig darauf aus ist, selber mit einem andern bislang noch unverdorbenen Begriff ein unzüchtiges Verhältnis einzugehen, das dann wieder nicht ohne Folgen bleibt. Manche dickleibige Bücher sind dann nichts andres als die Geschichte solcher wilder Ehen. Es scheint demnach, 162

daß es eine der schwierigsten Aufgaben ist, nichts weiter zu sagen, als was man wirklich meint.« Hier denkt Schröder, dessen Skrupel sich nicht aufs Religiöse beschränken und für den es dank des sich natürlich auch auf das Wort erstreckenden Sünden-Erlebnisses eine Sprach-Moral gab, außerordentlich konsequent. In seinen Aphorismenheften bildet er einmal, dem sprichwörtlichen »Latet anguis in herba« (»Die Schlange lauert im Grase«) aus der Dritten Ecloge Vergils folgend, em lateinisches Wortspiel: »Latet anguis in verbo«: Die Schlange lauert im Wort. Damit ist der Passus aus dem Brief an Hofmannsthal prägnant zusammengefaßt. Dieses Wortspiel war Schröder bitterernst.

Die stufenweise Erhöhung des Kreislaufes wird in dem Bild und Symbol der Spirale offenbar: »Das Durchlaufen des Kreises bedeutet den Tod, das Durchlaufen der Spirale das Leben« [398]. Diesen Aphorismus hatte Schröder 1922 an Hofmannsthal ge­ sandt; in der Neujahrsnummer der »Münchener Neuesten Nachrichten« wurde er zum ersten Mal gedruckt. Er muß Hof­ mannsthal außerordentlich verwandt und goethisch vorgekom­ men sein. Und darin, und selbstverständlich nicht nur darin, er­ fuhr er Schröder gegenüber jene höhere Zeitgenossenschaft, jene »Contemporaneität«, von der er so oft sprach und schrieb. Diese geisterhafte Verwandtschaft hieß ihn alles von Schröder lesen und aufnehmen. Wo er bejahte, geschah es letzten Endes aus diesem Gefühl der Kontemporaneität heraus. Der Gräfin Ottonie Degenfeld empfahl er im Januar 1913 die Lektüre von Schröders »Deutschen Oden«; sie solle sie laut lesen, je zwei oder drei, nicht mehr, und »dadurch die Vortrefflichkeit dieser Poesie, Reinheit der Gedanken, männliche Zartheit des Ge­ fühls, die unbeschreibliche Richtigkeit jedes Details darin, er­ kennen und genießen lernen«. Von dieser höheren Zeitgenossen­ schaft mit dem Freunde war wiederum auch Schröder durch­

drungen. Er war es so sehr, daß er - besonders in seinem aphoristischen Schaffen - das Werk des Freundes nach dessen Tod im Geiste dieser ihrer Zeitgenossenschaft fortzusetzen wünschte. Dazu nun noch ein paar abschließende Gedanken.

v Das Glück der Zeitgenossenschaft, das die beiden Freunde an sich erfahren hatten, wuchs von Jahr zu Jahr. Man könnte es vom Ende der zwanziger Jahre her aufleuchten lassen, dann in die frühesten Jahre der Bekanntschaft zurückgehen und es wie­ der durch die Jahrzehnte hin verfolgen. Da es Schröder weit über Hofmannsthals Tod hinaus erfüllte und im wahrsten Sinne begeisterte, seien hier ein paar sorgfältig gewählte Doku­ mente dieser für beide Menschen so wichtigen Gemeinsamkeit aneinandergereiht. Vielleicht wird daran auch deutlich, was eine geistige Begegnung ist, die aus einer Bekanntschaft erwächst und von der Hofmannsthal selbst einmal gesagt hat, wenn sie bedeutend sei, so zerlege sie uns und setze uns neu zusammen: »Ist sie von der größten Bedeutung, so machen wir eine Rege­ neration durch« (A,27). Dies gilt in dieser nun noch kurz zu skizzierenden Gemeinsamkeit gewiß für Schröder, der es im­ mer wieder bestätigt hat; es gilt aber auch - und spätestens die Drucklegung des gesamten Briefwechsels wird es zu Schröders Ehren erweisen - nicht weniger für Hofmannsthal. Dieser hatte sich weniger als ein Jahr vor seinem Tode notiert: »Begegnung mit Schröder. Übereinstimmung« (A, 243). Dies als Zusammenfassung und Summe einer Begegnung. Am 10. September 1909 schrieb er von Bad Aussee an Harry Graf Kessler, »Schröder«, den Kessler im Gegenbrief einen lieben, tiefen, fast kindlichen Menschen nannte, werde ihm »nach und nach einer der drei oder vier wichtigsten Menschen« seines Lebenskreises. Auch seiner dichterischen Produktion nähere

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sich sein Innerstes mehr und mehr, »wie es sich zu Goethe zu Molière zu Shakespeare zu Hölderlin im gleichen Verhältnis erhält und immer befestigt [. . .]«. Sehr bald, im Jahre 1912, steht Schröder in Hofmannsthals Augen ganz einfach für Deutschland und die Deutschen: »Ich frage mich oft, wo ist Deutschland? - in Menschen wie du, da ist es ja doch, so braucht man nicht weiter zu suchen« {Neue Rundschau, lix [1948], S. 219). Dieses Gefühl steigert sich noch bei Hof­ mannsthal; im ersten Nachkriegsjahr, am 11. Juni 1919, schreibt er an Ottonie Degenfeld über den Weltkrieg: »Die Na­ tion wird das Ereignis natürlich spielend überstehen u. viel­ leicht eine höhere Stufe der Entwicklung davon datieren. Für uns Individuen ist es schwerer, als Generation nicht verloren zu gehen. Borchardt, Schröder, dies ist mein Vaterland und dies ist meine Epoche. Alles kommt darauf an, was wir aus uns machen!« Diese Gedanken sind um so denkwürdiger als sie keineswegs vereinzelt in Hofmannsthals Briefen auftauchen. Schröder ließ es an ähnlichen Versicherungen nicht fehlen. Die Freundschaft war zuweilen nicht ohne Spannungen, immer aber war sie intensiv gegenseitig. »Denn mit der Beziehung zu Dir«, schrieb Schröder im Oktober 1922 aus Bremen, »würde das einzige wahrhafte und in höherem Sinne wirksame Seelen­ band zerreißen, das mich noch an einen Mitlebenden fesselt.« Und später, im gleichen Brief, auf die gelegentlichen Spannun­ gen hindeutend, »Anwandlungen von Kaltsinnigkeit, wie sie einen in Zuständen seelischer Überreiztheit oder Erschöpfung wohl heimsuchen, sollte man unter allen Umständen bekämp­ fen. Sie sind im wörtlichsten Sinne des Teufels. Auch von der Freundschaft gilt das Schriftwort >Halte was du hast, auf daß dir niemand deine Krone raube