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German Pages 264 Year 2019
Irene Lehmann, Katharina Rost, Rainer Simon (Hg.) Staging Gender – Reflexionen aus Theorie und Praxis der performativen Künste
Theater | Band 120
Irene Lehmann (Dr. phil.) lehrt Theaterwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und ist Postdoc-Stipendiatin des Programms zur Förderung von Frauen in Forschung und Lehre der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg mit einem Forschungsprojekt zu Genderperformances zwischen Neuer Musik und Performance-Kunst. Nach dem Studium an der Freien Universität Berlin promovierte sie an der FAU Erlangen-Nürnberg zu Ästhetik und Politik in Luigi Nonos Musiktheater. Katharina Rost (Dr. phil.) lehrt Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth. Sie ist Postdoc-Stipendiatin des Programms »Exzellente Wissenschaftlerinnen für die Universität Bayreuth« und arbeitet in diesem Rahmen an einem Forschungsprojekt zu Gender Performances in der Popmusik. Ihre Promotion mit einer Arbeit zu Theatermusik, Sound Design und Hören im Gegenwartstheater erfolgte an der Freien Universität Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in Theorie und Ästhetik des Gegenwartstheaters, Musik, Sound und Hören im Theater, Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, Performativität, Gender und Queer Theory, Popkultur und Mode. Rainer Simon (Dr. phil.) ist Referent des Intendanten der Komischen Oper Berlin und lehrt als Gastdozent Theaterwissenschaft u.a. an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Nach dem Studium an der Freien Universität Berlin und in Paris promovierte er an der FAU Erlangen-Nürnberg zu Dimensionen einer Analyse der Wahrnehmung von Musikaufführungen. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Gender und Musik, Aufführungsanalyse von Konzerten sowie zeitgenössisches Musiktheater.
Irene Lehmann, Katharina Rost, Rainer Simon (Hg.)
Staging Gender – Reflexionen aus Theorie und Praxis der performativen Künste
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Freistaats Bayern mit Mitteln zur Realisierung der Chancengleichheit von Frauen in Forschung und Lehre.
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Inhalt
Gender on Stage and Beyond Einleitung
Irene Lehmann, Katharina Rost, Rainer Simon | 7 Gender* – Performativität – Aufführungsanalyse Überlegungen zur Berücksichtigung von Gender*-Aspekten in der theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyse
Lea-Sophie Schiel | 25 Gender in Theater, Performance und Tanz der Gegenwart Themen, Strategien, Diskurse
Jenny Schrödl | 47 I’m Gonna Need Another One
Jen Rosenblit | 65 Pina Bausch backstage, oder: Tanztheater von hinten
Eike Wittrock | 81 Look Where the Money Is!
Annemie Vanackere und Aenne Quiñones im Interview mit Rainer Simon | 103 Gender in Comedy Reflections from a Practitioner-Researcher
Neslihan Arol | 113 Some Girls Are Bigger Than Others Genderrelationen in Aufführungen von Jennifer Walshe und Eva Reiter
Irene Lehmann | 131 Performing Gender As Polyphony
Pia Palme | 151 On Being Included Eine intersektionale Perspektive auf deutsche Bühnen
Azadeh Sharifi | 167
Musicking Gender Beethoven-Konzerte und das Aufführen von Geschlecht
Rainer Simon | 175 Überwinden der Außenseiterrolle Regietheater und Opernkritik als Diskurs- und Vermittlungsebenen von Homosexualität
Sebastian Stauss | 189 Wer besetzt wen?
Susanne Moser im Interview mit Rainer Simon | 209 Tiefenstruktur und Tiefengestaltung Un/Doing Gender im deutschen Theaterbetrieb
Ellen Koban | 217 »Sisters Are Doin’ It for Themselves«? Popmusikerinnen und ihre Strategien ökonomischer und ästhetischer Selbstbestimmung
Katharina Rost | 229 Autor*innen | 253
Gender on Stage and Beyond Einleitung Irene Lehmann, Katharina Rost, Rainer Simon Der gegenwärtige gesellschaftliche Umgang mit Gender- und Diversity-Fragen ist von Gegensätzlichkeiten geprägt, die auch die Kulturinstitutionen betreffen. Auf der einen Seite stehen Auseinandersetzungen, politische Anliegen und konkrete Bemühungen, Geschlechterungleichheiten aufzuheben sowie Diversität zu verstärken. Dies reicht von Stipendienprogrammen für Frauen*1 über die Forderung nach Frauenquoten bis hin zu Workshops in Kunsthochschulen zur #MeTooProblematik. Gleichzeitig nimmt die abwertende Haltung gegenüber dem angeblichen ›Gender-Wahn‹ zu, die sich auf die Verteidigung der Kunstfreiheit
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Nur im Sinne eines ausschließlich strategischen Essentialismus rechtfertigt sich mit Gayatri Spivak die Verwendung des Pauschalbegriffs »Frauen«, der zu einer Simplifizierung und Unsichtbarkeit der Differenzen unter Frauen* führt und den verschiedenen Situationen und Ansprüchen der bezeichneten Individuen und Kollektive nicht gerecht wird. Daher setzen wir den Begriff »Frauen« ein im Bewusstsein der realen Vielfalt innerhalb dieser durch soziale Strukturen hervorgebrachten Kategorisierung und ihrer Konstruiertheit in Relation zu ihrem kategorischen und ebenfalls konstruierten Gegenüber (»Männer«). Vgl. Eide, Elisabeth: »Strategic Essentialism«, in: Naples, Nancy A. (Hg.), The Wiley Blackwell Encyclopedia of Gender and Sexuality Studies, Vol. 5, Chicester 2016, S. 1-2; Vgl. Grosz, Elizabeth: »Criticism, Feminism and The Institution« [interview with Gayatri Spivak, 1984], in: Donna Landry/Gerald MacLean (Hg.), The Spivak Reader, London 1996, S. 203-235. Für unseren Band ergibt sich aus diesen Überlegungen eine uneinheitliche Genderschreibweise, da Geschlecht weder biologisch essentialistisch noch als »nur« konstruiert aufgefasst wird. Auf theoretischer Ebene ver wenden die Beiträge das Gender-Sternchen. Kontextabhängig treten jedoch immer wieder soziale Gruppen in den Blick, deren Sozialisation als »Frauen« oder »Männer« über ihre gesellschaftlichen Möglichkeiten entscheidet.
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gegenüber einer angeblichen Genderideologie und damit verbundener Zensur beruft sowie sich für eine kreative Unangepasstheit anstatt einer übertriebenen politischen Korrektheit ausspricht. Die simultan wirkenden progressiven und reaktionären Strömungen2 stellen neue Herausforderungen nicht nur an Gesellschaft und Kulturbetriebe, sondern gleichermaßen an die Wissenschaft, sich jenen Widersprüchlichkeiten auszusetzen, von denen sie auch selbst betroffen ist. Nicht selten werden Vorwürfe der Nichtwissenschaftlichkeit gegenüber genderbezogener, geisteswissenschaftlicher Analysetätigkeit und Theoriebildung erhoben. Andererseits ist die Gendergerechtigkeit innerhalb der Wissenschaft trotz der Versprechungen und Bestrebungen seit Mitte der 1990er Jahre bei Weitem nicht erreicht.3 Umso wichtiger erscheint es, sich in Wissenschaft und Kultur weiterhin mit dem Thema auseinanderzusetzen, nicht zuletzt, weil die aktuellen Debatten die bestehende Ungleichbehandlung der Geschlechter auf und jenseits der Bühne offenlegen.4 Vor allem die Ungleichbezahlung fällt im Vergleich deutlich auf: 2016
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Vgl. Geiselberger, Heinrich (Hg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017. Der Sammelband verdeutlicht, dass es sich um eine internationale Dynamik handelt, die Europa genauso betrifft wie die USA, die Türkei oder Indien. Beschrieben wird, dass Gender-Fragen häufig der ›neoliberalen‹ Politik und Ökonomie zugeschlagen und gegen ›Klassen‹-Fragen ausgespielt würden. Damit wird impliziert, dass Fragen der sexuellen Identität/Orientierung oder der Gen der(non)konformität nur Besserverdienende beschäftigen. Tatsächlich gibt es jedoch keine Korrelation zwischen dem Entstehen von sexueller Identität/Orientierung und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht. Unterstrichen sei daher, dass es bei Fragen der Geschlechtergerechtigkeit sowohl um finanzielle Gleichstellung als auch um kulturelle Teilhabe geht.
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Konkrete Ziele, die hier zu verstärkten Bemühungen und besseren Arbeitsverhältnissen führen könnten, sind nach wie vor nicht formuliert. Siehe Schröder, Felix/ Lerche, Jelka: »Geschlechterverhältnisse«, in: Die Zeit, Nr. 11, 07.03.2019, https:// www.zeit.de/2019/11/frauen-wissenschaft-geschlechterverhaeltnisse-nobelpreisminderheit. Schmollack, Simone: »Die Fehler im System. Frauenquote an deutschen Unis«, in: taz, 15.05.2017, http://www.taz.de/Frauenquote-an-deutschen-Unis/!5404 497/.
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Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (Hg.): Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 2015; Schrödl, Jenny: »Gender Trouble, once again. Von Unwissenschaftlichk eitsvorwü rfen und (ver-)störendem Wissen«, in: Ulrike Haß u.a. (Hg.), Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit, Bielefeld 2016, S. 609-618.
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veröffentlichte der Deutsche Kulturrat die Studie Frauen in Kultur und Medien, aus der hervorgeht, dass und in welchem Verhältnis Frauen am Theater deutlich weniger verdienen als ihre Kollegen. 5 Darüber hinaus ist der Anteil von Frauen an künstlerischen oder ökonomischen Entscheidungspositionen im Theater bislang auffallend gering.6 Von 1996 bis 2016 ist die Zahl der Theaterleiterinnen gerade mal auf 22 Prozent gestiegen, um 3 Prozent in den letzten 20 Jahren, und es wird dabei noch nicht berücksichtigt, von welcher Art und Größe das geleitete Haus sowie das damit verbundene Budget eigentlich ist. Beim Runden Tisch »Frauen in Kultur und Medien« 2017 wurden zwar Kriterien formuliert, die daran etwas ändern sollten: transparente Gagenstrukturen, Mentoring-Programme für Frauen und regelmäßige Kongresse zum Aufbau von Netzwerken. 7 Mit den Initiativen »Burning Issues«, die theaterschaffende Frauen 2018 zur Konferenz am Theater Bonn versammelte und 2019 beim Theatertreffen eine Konferenz zu der Gender(un-)gleichbehandlung veranstaltete, dem »Ensemble-Netzwerk« und »GRiNM – Gender Relations in New Music« kommt gegenwärtig etwas in Bewegung.8 Doch ob diese Strategien wirklich greifen, bleibt abzuwarten. Festzuhalten
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Im Bereich Regie sind dies bis zu 36 % weniger, bei Regieassistentinnen 45 % weniger, bei Schauspielerinnen 46 % weniger, wobei die Gagen der älteren Schauspieler über die Jahre noch ansteigen. Vgl. Schulz, Gabriele/Ries, Carolin/Zimmermann, Olaf: Frauen in Kultur und Medien. Ein Überblick über aktuelle Tendenzen, Entwicklungen und Lösungsvorschläge, Berlin 2016, S. 209, siehe https://www.kulturrat.de/wpcontent/uploads/2016/12/Frauen-in-Kultur-und-Medien.pdf veröffentlicht im April 2016.
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Die Studie stellt fest: »Die Leitung von Theatern ist eine Männerdomäne, hier hat sich in den letzten 20 Jahren nur sehr wenig geändert.« Ebd., S. 85.
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Siehe https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/staatsministerin-fuerkultur-und-medien/runder-tisch-frauen-in-kultur-und-medien--429814
vom
02.08.
2017 und kritische Stimmen in Deutschlandfunk, Tagesspiegel: Habermalz, Christiane /Gerk, Andrea: »Enttäuschend wenig, was am Ende dabei herumkam«, Gespräch, https://www.deutschlandfunkkultur.de/runder-tisch-frauen-in-kultur-und-medien-enttaeuschend.1013.de.html?dram:article_id=391346 vom 17.07.2017; https:// www.tages spiegel.de/kultur/runder-tisch-frauen-in-kultur-und-medien-warum-so-defen-siv/2007 5594.html vom 18.07.2017. 8
Siehe https://www.ensemble-netzwerk.de/burning-issues/burning-issues-meets-theater treffen.html; https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view =article&id=15134:theatermacherinnen-tagen-in-bonn&catid=126:meldungen-k&Ite mid=100089 vom 12.03.2018; https://www.ensemble-netzwerk.de/home.html; https://www.grinm.org/ vom 24.06.2019. Weitere Zeichen werden gesetzt, insofern
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ist: Das deutschsprachige Theater ist primär von Männern gemacht und der Blick auf die Bühne zumeist männlich geprägt.9 Zu kritisieren ist neben den patriarchalen Verhältnissen und Geschlechterasymmetrien auch ein Zweigeschlechtermodell, von dessen Diskriminierungsmechanismen alle Geschlechteridentitäten betroffen sind. Zur Disposition steht nicht nur die ungleiche Behandlung, sondern grundlegender die binäre Unterscheidung von Mann und Frau sowie die Offenlegung und Analyse der Konstruktionsprozesse dieser Geschlechtervorstellungen. Eine damit verbundene Kritik an Heteronormativität umfasst die Sichtbarmachung und Gleichstellung von queeren, trans*, inter* und nicht-binären Personen. Mit der – nicht unumstrittenen10 – gesetzlichen Einführung einer dritten Option »divers« als Geschlechtsidentität in Deutschland seit Dezember 2018 verändert sich das Denken über Gender möglicherweise allmählich, doch bildet sich ein entsprechender Wandel bislang kaum in den Kulturinstitutionen und noch viel weniger auf deren Bühnen ab. Es wird zu beobachten bleiben, ob neu entstandene Einrichtungen wie das seit 2017 von den Kulturprojekten Berlin getragene »Diversity Arts Culture«11 hier langfristig zu
z.B. die Intendantin Anna Bergmann am Badischen Staatstheater in Karlsruhe für die Spielzeit 2017/18 nur Regisseurinnen ans Haus holt, der Bühnenverein bei seiner Gesamtversammlung im Juni 2018 einen »Wertebasierten Verhaltenskodex zur Prävention von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch« beschließt oder die Jury des Theatertreffens verkündet, dass 2020/21 jeweils eine 50%-Quote angesetzt werden wird. Siehe Bergmann, Anna/Peter, Anne: »Von alleine ändert sich nicht«, Gespräch, https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=16385: interview-mit-der-regisseurin-und-karlsruher-schauspieldirektorin-anna-bergmannueber-geschlechtergerechtigkeit-und-die-frauenquote-im-theater&catid=53:portraet-aprofil&Itemid=83 vom 04.02.2019; http://www.buehnenverein.de/de/publikationen und-statistiken/kulturpolitische-statements/statements.html?det=505 vom 09.06.2018. 9
Männer besitzen zu 78 % die Theaterleitung und ihr Anteil an der Regie beläuft sich nach der Studie auf 70 %.
10 Einerseits führt die Veränderung des Personenstandsgesetzes im Dezember 2018 dazu, dass mit »divers« eine dritte Geschlechter-Option auf allen offiziellen Formularen sowie in Stellenausschreibungen gegeben sein muss, was ein erstes Aufbrechen der zuvor bestehenden ausschließlichen Binarität darstellt; andererseits werden die Gesetzesänderung von queeren und trans*-Kritiker*innen als »Minimal-Gesetz« bezeichnet und weitere Möglichkeiten auch für Trans*-Personen gefordert. Siehe https://www.zeit.de /politik/deutschland/2018-12/personenstandsrecht-geburtenregister-geschlecht-diversbundestag vom 24.06.2019. 11 Siehe http://www.diversity-arts-culture.berlin vom 24.06.2019.
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wirksamen Veränderungen und mehr Diversität auf und jenseits der Bühnen führen können. Die Genderungerechtigkeit korreliert auf struktureller und personeller Ebene häufig mit der (Re)Präsentation von Geschlecht auf den Bühnen. Genderstereotype wie die der femme fatale, der femme fragile oder des Don Juans werden nach wie vor performativ auf diversen Schauspiel-, Ballett- und Opernbühnen reproduziert und tragen somit zu einer genderbedingten Asymmetrie bei. Diese spiegelt sich auch hinter der Bühne z.B. im Personalschlüssel der Kulturinstitutionen wider. Die Inszenierung von heteronormativen Figuren, Konflikten und Beziehungsgeflechten auf der Basis von klassischen Dramen verfestigen weiterhin binäre Zweigeschlechtervorstellungen. Die historische Genese dieser Verflechtungen von genderbezogenen institutionellen und ästhetischen Aspekten entsteht mit der Etablierung der festen Bühnen, der National- und Stadttheater in Deutschland, wie Beate Hochholdinger-Reiterer anschaulich darlegt. Im selben Prozess wurde eine patrilineare Geschichtserzählung installiert, die Frauen als Theaterproduzentinnen und kreative Künstlerinnen von der Bühne ausschloss.12 Auch dort, wo Genderaushandlungen inhaltlich auf den ersten Blick keine Rolle spielen – wie beispielsweise auf den Konzertpodien für klassische Musik – wirken sie doch implizit z.B. bei der Besetzung von Dirigent*innen oder Solist*innen und der etablierten Geschlechtercodierung der Musikinstrumente und ihrer Spieler*innen. Umgekehrt verschleiert die exponierte, Emanzipation suggerierende Präsenz von Frauen in der Popmusik die nach wie vor stark männlich dominierten Produktionsstrukturen und Ästhetiken. Künstler*innen der freien Szene beschäftigen sich vermehrt mit diesen Mechanismen, kritisieren sie und setzen ihnen andere Gendervorstellungen, Rollenzuschreibungen, Produktionsstrukturen, Strategien des Ko-Kuratierens und das Aufführen von in Vergessenheit geratenen Künstler*innen entgegen.13 Hier aber stellt sich wiederum die Frage, wie der Anspruch
12 Die patrilineare Geschichtserzählung färbte sich zudem auch nationalistisch, insbesondere auch anti-französisch. Vgl. Hochholdinger-Reiterer, Beate: Kostümierung der Geschlechter, Göttingen 2014; Vgl auch: Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2010. 13 Beispiele sind die Berliner Festivals Heroines of Sound, MaerzMusik oder Tanz im August, die mit dem Porträt-Format arbeiten. In Gesprächsrunden wird immer wieder deutlich, dass die fehlende Diversifizierung des Kanons auch in den Kunsthochschulen kritisiert wird. Für Theater- und Opernhäuser ginge es darum, die z.T. bereits bestehende Forschung zu Dramatiker*innen aufzugreifen; für Wissenschaftsinstitutionen darum, Fördermittel zur Erforschung von Künstler*innen bereitzustellen.
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an Diversität und der Wunsch nach gesellschaftlicher Transformation mit den eigenen, mitunter unsichtbaren Barrieren und der begrenzten Reichweite dieser Szene zu vereinbaren ist. Die genannten Initiativen beziehen sich mit ihrer Kritik und ihren Forderungen dementsprechend nicht nur auf strukturelle Ungleichheiten, sondern stellen diese in Verbindung mit zu hinterfragenden ästhetischen, programmatischen und thematischen Setzungen und Praktiken. So verknüpft das Berliner Theatertreffen die Einführung einer Quote mit der qualitativen Evaluation der in den eingeladenen Produktionen verhandelten Geschlechtervorstellungen. Struktur und Ästhetik, Stage und Backstage, Gender-Pay-Gap und Gretchenschema werden aufeinander bezogen und gleichermaßen kritisiert. Diese Verflechtungen erfordern auch von der Wissenschaft neue Perspektiven, die über die ästhetische Reflexion von künstlerischen Arbeiten hinaus die strukturellen Mechanismen des Produktionsprozesses einbeziehen. Die beschriebenen Bewegungen und die neue Dynamik – innerhalb eines durchaus nicht mehr so neuen Diskurses14 – bildeten den Anlass, im Mai 2018 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg einen Workshop zu der Frage, wie Gender heute auf und hinter der Bühne verhandelt wird, zu veranstalten. Die Konzeption des Workshops und des vorliegenden Bandes nimmt die Verschränkungen zwischen Struktur und Ästhetik ernst und sieht Theorie und Praxis nicht getrennt voneinander, sondern bringt sie miteinander in Dialog.15 Daher wur-
14 Bereits 1929 fordert Virginia Woolf in ihrem Essay A Room of One‘s Own einen Zugang für Frauen zu finanziellen Ressourcen und Institutionen (hier: Bibliotheken) als Voraussetzung zur Kunstausübung. 1971 stellt Linda McNochlins die polemische Titelfrage »Why there have been no Great Women Artists?« und beantwortet sie in dem darauffolgenden Text ebenfalls mit der Problematisierung der Barrieren von Kulturinstitutionen (hier: Akademien) für Frauen – eine Problematik, die im Zuge des in den 1960er bis 1980er Jahren aufkommenden Feminismus auch von zahlreichen weiteren Autorinnen reflektiert wird. Vgl. Woolf, Virginia: Ein eigenes Zimmer [1929], Frankfurt am Main 2001; McNochlin, Linda: »Why Have There Been No Great Women Artists?« [1971], in: Hilary Robinson (Hg.), Feminism – Art – History. An Anthology 1968-2014, Hoboken 2015, S. 134-149. 15 Die Forschung zur Verflechtung von Ästhetik und Strukturen ist hier erst am Anfang, verwiesen sei auf das Forschungszentrum »Institutionelle Ästhetik« (ineas) an der LMU München, das vor allem das deutsche Stadttheatersystem im Blick hat: Siehe https:// www.inaes.kunstwissenschaften.uni-muenchen.de/forschungszentum/index.html vom 24.06.19. Ein erster Blick auf die theoretische Auseinandersetzung mit Institutionen
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den Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Produzent*innen aus den unterschiedlichen Bereichen der performativen Künste eingeladen, ihre Forschungsergebnisse, ihre ästhetischen und politischen Positionen sowie ganz individuelle, mitunter mit Widerständen einhergehende Erfahrungen zu den Genderaushandlungen auf und hinter der Bühne zu teilen. Um Differenzen, Gemeinsamkeiten und etwaige Mythen zu beleuchten, wurden unterschiedliche Genres – darunter Schauspiel, Performance, Oper, Tanz, klassische, neue und Popmusik – und Orte – des sogenannten Stadt- und Staatstheaters genauso wie der freien Szene – in die Diskussion einbezogen. Der folgende Band versammelt diese sowohl im Inhalt als auch in der Form sehr unterschiedlichen Positionen – vom künstlerischen Essay über Interviews mit Praktiker*innen bis hin zu wissenschaftlichen Beiträgen –, die sich vor allem darin einig sind, dass es aktuell einen sehr großen Diskussions- und Handlungsbedarf hinsichtlich Gender-Fragen in den performativen Künsten gibt. In seiner offenen Anlage nimmt die Publikation die Struktur des Workshops auf, will eher eine Stichprobe derzeitiger Positionen geben, als den Anspruch einer systematischen Bestandsaufnahme zu erheben. In seiner Vielstimmigkeit führt der Band die bislang meist getrennten Forschungsbereiche von Theater, Tanz und Performance einerseits und Neue Musik, Konzertwesen und Popmusik andererseits zusammen.16
zeigt, dass es sinnvoll ist, die Verschränkung von Institutionen und Ästhetik als Gefüge aufzufassen, in denen eine Vielfalt von Akteur*innen interagiert. Die ›klassische‹ soziologische Forschung zu Institutionen (Erving Goffmann, Pierre Bourdieu) macht immer wieder deutlich, dass Institutionen keine feststehenden Entitäten sind, sondern eine performative Dimension besitzen (vgl. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag [1959], München 1973; Bourdieu, Pierre: Kunst und künstlerisches Feld (Hg. Franz Schultheis), Konstanz 2011; Latour, Bruno: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, New York 2005. Institutionen können als Verfestigung von Verfahrensweisen verstanden werden und sind in ihrer jeweiligen Gestalt von den Personen abhängig, die sie repräsentieren und ver körpern. 16 Zur Gender-Forschung in Theater, Performance, Oper, Musik und Tanz seien hier einige ausgewählte Titel genannt: Zimmermann, Andrea Maria: Kritik der Geschlechterordnung. Selbst-, Liebes- und Familienverhältnisse im Theater der Gegenwart, Bielefeld 2017; Birkner, Nina/Geier, Andrea/Helduser, Urte (Hg.), Spielräume des Anderen. Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater, Bielefeld 2014; Behr, Bettina: Bühnenbildnerinnen. Eine Geschlechterperspektive auf Geschichte und Praxis, Bielefeld 2013; Angerer, Marie-Luise/Hardt, Yvonne/Weber, Anna-Carolin (Hg.), Choreographie – Medien – Gender, Zürich 2013; Pailer, Gaby/Schößler, Franziska
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Zugleich soll seine Polyphonie dazu dienen, dem Konzept einer linearen Forschungsgeschichte eine vielmehr historisch heterogene Perspektive auf die Diskurse über Feminismus, Gender, Queerness und Diversität entgegenzustellen. Teleologische Lesarten von Feminismus, Gender-, Queer-, Inter*-, Trans*Perspektiven und Intersektionalität sind insofern mit Vorsicht zu betrachten, als sie sowohl zur Zersplitterung und Isolierung von Sichtweisen als auch zu einer unzutreffenden Homogenisierung von Strömungen (z.B. des Feminismus) beitragen und einen differenzierten Blick auf die Unterschiedlichkeit der Interessen und Bedürfnisse verstellen.17 Letztlich geht es im vorliegenden Band auch darum, wie die häufig durch Kunstfreiheit und Objektivität legitimierte männliche Hegemonie hinterfragt, wie patriarchale Strukturen aufgebrochen und dadurch die Konzepte von Wissenschaftlichkeit und Autonomie der Kunst neu bestimmt werden können. Den Einstieg in den Band bildet eine grundsätzliche Diskussion bzw. Konfrontation von Performativitäts- und Gendertheorie. Lea-Sophie Schiel widmet sich in ihrem Text Gender* – Performativität – Aufführungsanalyse. Überlegungen zur Berücksichtigung von Gender*-Aspekten in der theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyse der Frage nach der Position von Gender in der Theaterwissenschaft.
(Hg.), GeschlechterSpielRäume. Dramatik, Theater, Performance und Gender, Amsterdam/New York 2011; Ellmeier, Andrea/Ingrisch, Doris/Walkensteiner-Preschl, Claudia (Hg.), Gender Performances. Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film, Wien/Köln/Weimar 2011; Charton, Anke: Prima donna, primo uomo, musico. Körper und Stimme, Geschlechterbilder in der Oper, Leipzig 2012. Vgl. außerdem: Dolan, Jill: Feminist Spectator as Critic, Ann Arbor 2014; Diamond, Elin: Unmaking Mimesis. Essays on Feminism and Theater, London/New York 1997; Case, Sue-Ellen (Hg.), Performing Feminisms. Feminist Critical Theory and Theatre, Baltimore 1997; Conboy, Katie (Hg.), Writing on the Body. Female Embodiment and Feminist Theory, New York 1997; Bergmann, Franziska/Eder, Antonia/Gradinari, Irina (Hg.), Geschlechter-Szene. Repräsentation von Gender in Literatur, Film, Performance und Theater, Freiburg 2010, Dreysse, Miriam: Mutterschaft und Familie: Inszenierungen in Theater und Performance, Bielefeld 2015; Rode-Breymann, Susanne/Tumat, Antje (Hg.), Der Hof. Ort kulturellen Handelns von Frauen in der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 2013. 17 Anlässlich der Ausstellung #Re.Act Feminism macht Bettina Knaup deutlich, dass die Historisierung von feministischen Perspektiven auch zur Delegitimierung aktueller Anliegen dienen kann. Vgl. Knaup, Bettina: »Telling Stories Differently. Strategien der Aneignung und Verbreitung feministisch-queerer Performancegeschichten«, in: Dies./ Beatrice Stammer (Hg), Re.act Feminism #2. A Performing Archive. Nürnberg 2014, S. 220-227, hier S. 221.
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Sie kontrastiert die unterschiedlichen Verbindungen von Gender und Performativität in den Schriften von Judith Butler und Erika Fischer-Lichte. Dadurch kommt sie zu einer Interpretation Butlers, die über bisherige Lesarten hinausgeht, indem sie das durch gesellschaftliche Machtstrukturen Verworfene, das in Performances nur indirekt zur Erscheinung gelangende Abjekte fokussiert. Hieraus lassen sich neue Impulse für die Analyse von Gender in Theateraufführungen erlangen, die von differenzierteren Leib- und Körperkonzepten ausgehen, als es bislang häufig geschieht. Schiels theoretischem Aufriss folgt ein Überblick über die aktuellen ästhetischen Ansätze, sich auf der Bühne mit Geschlecht auseinanderzusetzen. Die Theaterwissenschaftlerin Jenny Schrödl stellt in ihrem Beitrag Gender in Theater, Performance und Tanz der Gegenwart: Themen, Strategien, Diskurse fest, dass Geschlecht nicht unbedingt ein zentrales Thema vieler Inszenierungen des Stadtund Staatstheaters oder Arbeiten der freien Szene darstellt, sondern häufig eher mitverhandelt wird. Bei der Sondierung dieses vielfältigen Feldes hebt Schrödl auf der Basis zahlreicher Beispiele vier wesentliche ästhetische Aspekte gegenwärtiger Gender-Performances hervor: erstens Nacktheit, zweitens Frauen und Arbeit(slosigkeit), drittens Un/Doing Drag sowie viertens Materialien, Dinge und Queerness. Die Konstruiertheit von Geschlecht dabei voraussetzend befassen sich diese Arbeiten u.a. eher mit der Aufhebung, mit Praktiken des Undoing Gender. Einem binären Geschlechterverständnis setzen viele der Künstler*innen Diversität oder Undefiniertheit entgegen. Häufig sind hier trans*, inter*, queere, a-gender Personen oder andere Körper, die ausgehend von kulturell geprägten Begriffen von ›Gesundheit‹ oder ›Schönheit‹ als abweichend gelten, in Performances zu erleben. Schaffen die beiden ersten Texte einen theoretischen wie ästhetischen Einblick in das Feld, so widmen sich die daran anschließenden Beiträge konkreten Fragen nach Ästhetiken, Arbeitsweisen, Strukturen und Erfahrungen in der freien Szene. Die Performance-Künstlerin Jen Rosenblit vollzieht in ihrem Text I’m Gonna Need Another One ihre künstlerischen Denk- und Kreationsprozesse nach. In den unterschiedlichen Passagen reflektiert sie ihr künstlerisches Vorgehen; andere Texte stammen aus einer Reihe ihrer Performances: Clap Hands (2016), Swivel Spot (2017) und I’m Gonna Need Another One (2018-2019). Rosenblit setzt sich in ihren Arbeiten zum einen mit der Mehrdeutigkeit von Sprache, insbesondere des Englischen, auseinander, das es ermöglicht, Gender-Zuschreibungen offenzulassen und eindeutige Bestimmungen zu durchkreuzen, sowie zum anderen mit der Agency von Dingen im Rahmen einer post-anthropozentrischen Haltung. Ausgehend von einzelnen, fotografisch eingefangenen Drag-Bühnenmomenten in Pina Bauschs Oeuvre begibt sich Eike Wittrock in seinem Text Pina
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Bausch backstage, oder: Tanztheater von hinten auf die Suche nach Ansatzpunkten für eine queere Lesart des Wupperthaler Tanztheaters. Die den Stücken zugrundeliegende binäre, heterosexuelle Geschlechterordnung und eine Rezeption, die dem Bausch‘schen Crossdressing jegliche Queerness abspricht, lassen die Entwicklung einer queeren Perspektive auf Bausch zunächst unmöglich erscheinen. Wittrock findet allerdings in einem Backstage-Video, in dem Lutz Förster The Man I Love mit lautsprachebegleitenden Gebärden quasi lediglich für ihn persönlich zu performen scheint, einen Anknüpfungspunkt für eine womöglich nicht intendierte, aber durchaus nachvollziehbare und bislang fehlende queere Sicht auf das Bausch‘sche Tanztheater. In dem Interview Look Where the Money Is! diagnostizieren HAU-Intendantin Annemie Vanackere und ihre Stellvertreterin Aenne Quiñones viele positive Entwicklungen hinsichtlich der Beschäftigung mit Gender in der freien Szene. So hat die Zahl der frei produzierenden Choreografinnen, Performerinnen, Regisseurinnen etc. seit den 1980er und 1990er Jahren deutlich zugenommen, die Produktionsweisen haben sich nachhaltig bzw. hin zu mehr Kollektivität verändert und eine Reihe freier Produktionshäuser und Festivals werden heute von Frauen künstlerisch geleitet. Als Schattenseite nennen Vanackere und Quiñones die finanzielle und strukturelle Benachteiligung der freien Szene gegenüber den großen Kulturinstitutionen, eine Benachteiligung, die wiederum unmittelbar mit der Genderfrage zusammenhänge. Dort, wo mehr Geld und Personal zur Verfügung stehen, also an den großen Kulturinstitutionen, werden vornehmlich Männer in Leitungspositionen berufen, während Frauen vor allem für die Leitung von freien Produktionshäusern und Festivals mit weniger Ressourcen engagiert werden – also vornehmlich in der freien Szene. Aus der Perspektive der künstlerischen Forschung geht Neslihan Arol mit ihrem Text Gender in Comedy: Reflections from a Practitioner-Researcher der Frage nach, wie sich Genderstereotype im Genre des Komischen niederschlagen und konterkarieren lassen. Mittels eigener Performances untersucht sie die komischen performativen Formate der Clowns-Show, der Stand-Up-Comedy und der türkischen Meddahlık-Form und reflektiert diese Forschung im vorliegenden Beitrag. Aus künstlerischer und wissenschaftlicher Sicht beschäftigt sich Arol mit den Möglichkeiten und Grenzen feministischer Strategien, im komischen Genre kritisch zu wirken; und wie sich ein Perspektivwechsel zwischen Istanbul und Berlin auswirkt, der neben Gender-Fragen auch interkulturelle und GenerationenAspekte berücksichtigt. Irene Lehmann analysiert in ihrem Text Some Girls Are Bigger Than Others. Genderrelationen in Aufführungen von Jennifer Walshe und Eva Reiter zwei musiktheatrale Performances von Jennifer Walshe und Eva Reiter und untersucht,
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wie die Genderkonventionen, die den Bereich der Neuen Musik durchdringen, in beiden Performances in Frage gestellt und neu verhandelt werden. Dabei reflektiert sie, wie die Trennung von Musik und sichtbaren Vorgängen, die in der konventionellen Konzertform hochgehalten wird, eine Allianz mit der Idee einer nicht-performativen Männlichkeit eingegangen ist. Aus den Analysen erhellt sich, wie Künstlerinnen, die als Komponistinnen eigene Stücke aufführen, sich die Überblendung von Gender und Weiblichkeit mit Performativität zunutze machen, um in Erscheinung treten zu können. Als forschende Composer-Performerin beschreibt Pia Palme in einem wissenschaftlich-künstlerischen Essay Performing Gender As Polyphony, wie Genderaspekte sie in verschiedenen Lebensabschnitten begleiteten und wie sie sich heute aus einer kritischen Praxis des Hörens und der musikalischen sowie kompositorischen Perspektive reflektieren lassen. Mit der Polyphonie als Form des Hörens und Komponierens macht Palme deutlich, dass Gender in seinen vielfältigen Facetten an unerwarteten Stellen hörbar wird, und wie sich daraus Möglichkeiten des Re-Komponierens gesellschaftlicher Genderrollen ergeben. Mit ihrem Essay On Being Included. Eine intersektionale Perspektive auf deutsche Bühnen öffnet Azadeh Sharifi den Blick auf die großen Kulturinstitutionen und liefert damit eine Art Überleitung zu den folgenden Beiträgen, die sich vor allem mit deren Produktionen, Traditionen und Strukturen auseinandersetzen. Sharifi steigt mit dem zunächst positiven Befund, dass sich in den vergangenen Jahren mit dem Aufkommen neuer Initiativen wie Bühnenwatch oder der #MeToo-Debatte einiges hinsichtlich des Kampfes gegen Rassismus und Sexismus an deutschen Theatern getan habe, ein. Schnell gelangt sie mit ihrer intersektionalen Perspektive allerdings zu der Erkenntnis, dass diese neue Dynamik mit einer zeitgleichen Stagnation einhergeht, die sich u.a. in dem Festhalten an patriarchalen Strukturen, gewaltvollen Machtmechanismen und einer problematischen Auffassung von der Autonomie der Kunst zeigt. Eine Diversifizierung scheint sich nur an der kosmetischen Oberfläche der Kulturinstitutionen zu vollziehen, während die Entscheidungspositionen nach wie vor von weißen Männern eingenommen werden. Demgegenüber ruft Sharifi zu einem tatsächlichen Paradigmenwechsel auf. Rainer Simon widmet sich in seinem Aufsatz Musicking Gender. BeethovenKonzerte und das Aufführen von Geschlecht der Aufführung von Geschlecht in klassischen Konzerten – einerseits, um die bislang in Aufführungsanalysen von Musik weitestgehend vernachlässigte Kategorie Gender miteinzubeziehen, und andererseits, um anhand des auf Repetitionen angelegten traditionellen Konzertrituals Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sich Gendertheorie und theaterwissenschaftliche Performativitätstheorie produktiv aufeinander beziehen lassen. Hierzu
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befasst er sich mit Aufführungen von Beethovens Klavierkompositionen zu Beginn des 19. und des 21. Jahrhunderts. Beide historischen Stichproben belegen, dass Gendervorstellungen in Konzerten nicht nur repräsentiert, sondern mit hervorgebracht werden, sie sich in Kompositionen einschreiben und über Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte, tradieren und mitunter losgelöst von den ursprünglichen Aufführungspraktiken Strukturen, Programmgestaltung und Besetzung bestimmen. Sebastian Stauss untersucht in seinem Text Überwinden der Außenseiterrolle. Regietheater und Opernkritik als Diskurs- und Vermittlungsebenen von Homosexualität anhand von Operninszenierungen und ihren Rezensionen den Umgang insbesondere mit männlicher Homosexualität in den letzten 20 Jahren. Während sich um die Jahrtausendwende noch eine weitgehend abwertende Haltung feststellen lässt, die sowohl queere Lesarten und Inszenierungsweisen des klassischen Repertoires als auch die Thematisierung einer nicht heteronormen sexuellen Orientierung/Identität von Opernkomponist*innen oder Regisseur*innen betrifft, konstatiert Stauss eine seitdem gewachsene Offenheit gegenüber dieser Thematik bei der opernaffinen Öffentlichkeit. In dem Interview Wer besetzt wen? berichtet Susanne Moser von ihren Erfahrungen als Geschäftsführende Direktorin der Komischen Oper Berlin mit der Kulturpolitik, Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen. Susanne Moser betont dabei, dass es bei genderbedingten Besetzungsentscheidungen weniger auf das jeweilige Geschlecht der Verantwortlichen als auf die jeweilige Haltung ankäme: je liberaler die Entscheidungsträger*innen, desto mehr Frauen in Führungspositionen. Sie spricht sich für Frauenförderung aus, wünscht sich von Frauen ein selbstbewussteres Auftreten, hält allerdings Diversität für das übergeordnete Ziel eines zeitgemäßen Kulturbetriebs. Gerade in Hinblick auf Vielfalt im Programm, Publikum und Personal hätten die großen Kulturinstitutionen weit stärkeres Potenzial als manch eine Spielstätte der freien Szene, da jene einen breiteren Querschnitt der Gesellschaft abbildeten und ansprächen. Die Theaterwissenschaftlerin Ellen Koban untersucht in ihrem Beitrag Tiefenstruktur und Tiefengestaltung. Un/Doing Gender im deutschen Theaterbetrieb die Ensemblestruktur des deutschsprachigen Theaterwesens hinsichtlich der für ihre Zusammensetzung, die Besetzungspraxis des Theaters und die Spielweise von Figuren bestimmenden Faktoren. Ensembles werden, wie sie kritisch herausarbeitet, auch gegenwärtig noch nach Kriterien gecastet, die vom Rollenfachsystem des 19. Jahrhunderts herrühren, wobei von einem Verhältnis der Identifikation zwischen Schauspieler*in und Rollenfigur ausgegangen wird. Der Schauspieler*innenkörper wird dadurch zu einem zentralen Kriterium bei der Auswahl von Neuzugängen an Theatern, denn die literarischen Figuren sind – entsprechend des
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Rollenfachsystems und seiner Figurentypen – mit einem spezifischen äußeren Erscheinungsbild aufseiten der Schauspieler*innen verknüpft. Als ein Beispiel widerständiger Praxis beschäftigt sich Koban mit der besonderen Körperlichkeit der Schauspielerin Jana Schulz, die in den Ensemble- und Besetzungsstrukturen eine »Joker-Position« einnimmt. Der letzte Beitrag des Bandes weitet einmal mehr den Blick – über die deutschsprachige Kulturlandschaft hinaus auf die internationale Popmusikszene. In »Sisters Are Doin’ It for Themselves«? Popmusikerinnen und ihre Strategien ökonomischer und ästhetischer Selbstbestimmung stellt die Theaterwissenschaftlerin Katharina Rost die Frage nach dem Zusammenhang von Gender und Produktionsbedingungen in der Popmusik. Deutlich weniger Frauen sind als professionelle Musikerinnen erfasst und ebenfalls deutlich weniger sind an der Produktion beteiligt oder besitzen gar eigene Labels. Ausgehend von Studien zu Geschlecht in der Popmusik sowie durch Bezüge auf Interviews mit einer Reihe Musikerinnen, die ihre eigene Musik schreiben, produzieren und über ein eigenes Label präsentieren, zeichnet Rost die unterschiedlichen Probleme und Hindernisse, aber auch die Möglichkeiten und Strategien auf, mit denen Frauen* in der Popmusik heute umzugehen haben. Es zeigt sich, dass nicht allein praktische oder individuelle, sondern in der Mehrheit vor allem kulturelle und soziale Gründe dazu führen, dass Frauen weniger in den technik- und wirtschaftsaffinen Bereichen der Produktion und Vermarktung zu finden sind; es geht nicht ums Können oder Wollen, vielmehr um eine bestimmte Kultur eines »Boys’ Club«, die es zuallererst zu verändern oder dazu parallele Netzwerke aufzubauen gilt. Abschließend möchten wir uns bei Clemens Risi für seinen Rat und seine Unterstützung, beim Büro für Gender und Diversity der FAU Erlangen-Nürnberg für die finanzielle Förderung des Workshops und der Publikation, bei Kati Kroß für das engagierte und genaue Lektorat und bei Bridget Schäfer für das Lektorat der englischen Beiträge bedanken. Für die Hilfe während des Workshops gilt unser Dank Gerd Budschigk, Dorothea Pachale, Louisa Behr und Inga Bergmann, die sich mit großem Einsatz in die Durchführung der Tagung einbrachten. Nicht zuletzt danken wir allen Autor*innen des Bandes und allen Teilnehmenden des Workshops für ihre Beiträge und die spannenden Diskussionen.
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Gender* – Performativität – Aufführungsanalyse Überlegungen zur Berücksichtigung von Gender*-Aspekten in der theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyse Lea-Sophie Schiel
Während in der zeitgenössischen Aufführungspraxis die Kategorie Gender* 1 zunehmend und in zentraler Weise thematisiert wird, fehlt es auf der theaterwissenschaftlichen Ebene an analytischem Handwerkszeug. Faktoren wie Geschlechtlichkeit, class und race sind als soziale Konstrukte an Machtrelationen 2 gekoppelt, 1
Mit der Schreibweise Gender* verweise ich auf die Fluidität des Begriffes von Gender. Das * soll verdeutlichen, dass Gender nicht nur als reine Kategorie von Geschlechtlichkeit zu verstehen ist, sondern in radikaler Abhängigkeit zu anderen Faktoren wie Macht, Sexualität sowie class und race zu betrachten ist. Gender als geschlossene Kategorie zu bezeichnen oder vielmehr zu konstruieren, wird von vielen Autor*innen, wie u.a. von Judith Butler, kritisiert. Vgl. z.B. Lorey, Isabell: »Von den Kämpfen aus. Eine Problematisierung grundlegender Kategorien«, in: Sabine Hess/Nikola Langreiter/ Elisabeth Timm (Hg.), Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen, Bielefeld 2011, S. 101-116; Butler, Judith: »Die Geschlechtsidentität: Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte«, in: Dies.: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 2012, S. 25-32 sowie Dies.: »Kontingente Grundlagen. Der Feminismus und die Frage der ›Postmoderne‹«, in: Dies./Seyla Benhabib/ Drucilla Cornell/et al. (Hg.), Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1993, S. 31-58. Ich danke an dieser Stelle Agnes Böhmelt für ihre Kompetenz auf diesem Gebiet sowie ihre fundierten Literaturhinweise.
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Den Begriff der Machtrelationen bzw. -beziehung entlehne ich Michel Foucault. Vgl. z.B. Foucault, Michel: »Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere«, in:
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die sich nicht ohne Weiteres sichtbar und im Moment der Aufführung nur eingeschränkt ausfindig machen lassen.3 Die theaterwissenschaftliche Methode der Aufführungsanalyse gerät hier in Bedrängnis: Das Ableiten bestimmter analytischer Urteile auf Basis der individuellen Beschreibung der besuchten Aufführung stößt an seine Grenzen, zumal Sicht- und Wahrnehmbarkeit häufig im Zentrum der jeweiligen Beschreibungen stehen.4 Flapsiger ausgedrückt könnte man also formulieren: Wie soll man etwas analysieren, das man nicht zwangsläufig sehen,
Ders: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 104-117. Hier schreibt er: »Jedes Kräfteverhältnis impliziert in jedem Augenblick eine Machtbeziehung (die gewissermaßen dessen momentaner Querschnitt ist) und jede Machtbeziehung verweist, als auf ihre Wirkung aber auch als auf ihre Möglichkeitsbedingungen, auf ein politisches Feld, dessen Teil sie ist.« Ebd., S. 112. 3
Eindeutiger nachvollziehbar sind hier etwa in Zahlen ausdrückbare ökonomische Faktoren, wie beispielsweise der sogenannte Gender-Pay-Gap, also die ungleiche Bezahlung von weiblichen* gegenüber männlichen* Personen bei gleicher Arbeit. Auf diesen Umstand verweist auch Haas, Birgit: »Gender-Performanz und Macht. (Post)feministische Mythen bei Sarah Kane und Dea Loher« in: Dies. (Hg.), Macht. Performativität, Performanz und Polittheater seit 1990, Würzburg 2005, S. 197-226. Zur Bedeutung von Macht in Aufführungen: Vgl. Czirak, Adam: »Macht in Aufführungen«, in: Ders./Erika Fischer-Lichte/Thorsten Jost/et al. (Hg.), Die Aufführung. Diskurs – Macht – Analyse, München 2012, S. 125-134. In seiner Einleitung zu dem Kapitel Macht des oben zitierten Sammelbandes wendet sich Czirak vor allem jenen Performances zu, die Macht konstellationen, z.B.die zwischen Agierenden und Publikum, unterlaufen und auf diese Art und Weise wahrnehmbar machen.
4
Innerhalb der theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyse sind Sicht- und Wahrnehmbarkeit von zentraler Bedeutung. Vgl. z.B.Fischer-Lichte, Erika: Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches, Tübingen/Basel 2010, S. 72100; Roselt, Jens/Weiler, Christel: Aufführungsanalyse: Eine Einführung, Tübingen 2017, S. 22-29; Wortelkamp, Isa: Sehen mit dem Stift in der Hand: die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung, Freiburg im Breisgau 2006, S. 192-214. Auf die Bedeutung des Abwesenden, des nicht Wahrnehmbaren, nicht Sichtbaren hat bereits Gerald Siegmund hingewiesen. Allerdings dient das Abwesende ihm zur Analyse der Entstehung von Präsenzerfahrung und deren ästhetischer Dimension. Vgl. z.B.Siegmund, Gerald: »Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes«, in: Krassimira Kruschkova (Hg.), OB?SCENE. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film, Wien/Köln/Weimar 2005, S. 71-84 oder Ders.: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2006, S. 49-114.
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geschweige denn beschreiben kann? Aus dieser Herausforderung resultiert die folgende Forschungsfrage, der ich in diesem Aufsatz nachgehen werde: Ist es möglich, sich auf die Beschreibung der Aufführungen zu fokussieren, wenn man die Kategorie Gender* in besonderem Maße in den Blick nehmen will? Und wenn ja, wie? In diesem Beitrag argumentiere ich dafür, dass das Sicht- und Wahrnehmbare sowie das Nicht-Sicht- und Wahrnehmbare immer als Ausdruck größerer gesellschaftlicher diskursiver Zusammenhänge zu betrachten ist oder anders ausgedrückt: Ich plädiere dafür, die ästhetisch-phänomenale Erscheinung und den semiotisch-diskursiven Rahmen von Aufführungen und Performances in radikaler Abhängigkeit voneinander zu denken.5 Was genau eine derartige wechselseitige Beeinflussung impliziert, werde ich im Folgenden erörtern. Für dieses Unterfangen ist zunächst eine genaue Diskussion der Begriffe von Performativität und Performance notwendig. Beginnen möchte ich an dieser Stelle mit einer Diskussion des in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft dominanten Begriffes von Performativität. Hierin vermuten auch andere Theaterwissenschaftlerinnen, wie z.B. Jenny Schrödl, einen
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Fischer-Lichte hat zwar bereits darauf hingewiesen, dass das Semiotische und das Performative einander wechselseitig bedingen, weshalb sie eine »radikale Oppositionsbildung« beider Begriffe explizit ablehnt. Ferner sei das Performative keinesfalls als ›insignifiant‹ zu denken. Dennoch nimmt Fischer-Lichte diese Wechselwirkung ausdrücklich nicht in den Fokus ihrer Untersuchungen, wenn sie schreibt: »Aber bei seiner [gemeint ist das Performative – Anm. L.S.S.] Wahrnehmung als eines Performativen – und nicht als eines Zeichens – steht nicht die Frage im Vordergrund, auf welche Weise es den Prozeß der Bedeutungserzeugung ermöglicht, beeinflusst oder bedingt, noch gar, welche Bedeutungen ihm in der gegebenen Situation beigelegt werden könnten.« (Herv. durch L.S.S.) Stattdessen gehe es um die »sinnlichen Qualitäten« des Performativen. Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen 2001, S. 142. Auf die Bedeutung des Rahmens von Aufführungen hat bereits Henri Schoenmakers hingewiesen: Vgl. Schoenmakers, Henri: »The Spectator in the leading Role: Developments in Reception and Audience Research with Theatre Studies: Theory and Research«, in: Wilmar Sauter (Hg.), Nordic Theatre Studies: Special International Issue. New Directions in Theatre Research, Stockholm 1990, S. 93-106. Um zu betonen, dass Zeichenhaftigkeit und die gesellschaftlich ausgehandelte Funktion von Theater als Rahmen ebenfalls voneinander abhängen, spreche ich hier bewusst von einem semiotischdiskursiven Rahmen. Anders ausgedrückt: Der diskursive Rahmen bestimmt, wie Zeichen produziert und rezipiert werden können.
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Grund für die mangelnde Aufmerksamkeit, die der Kategorie Gender* bis dato in der Theaterwissenschaft zugestanden wurde. In ihrem Aufsatz Die Kategorie ›Gender‹ in der Theaterwissenschaft und im Gegenwartstheater setzt sich Schrödl mit der Kategorie Gender in der Theaterwissenschaft auseinander. Sie weist darauf hin, dass »die besondere Definition von Performativität, wie sie sich in der Theaterwissenschaft innerhalb der 2000er Jahre etabliert hat, mit Begriffen wie Präsenz, Ereignishaftigkeit und Unwiederholbarkeit, […] wesentlich dazu bei[trägt], dass ›Gender‹ als Analysekategorie vom Zentrum an den Rand verschoben wird«6.
Wie also kann der Marginalisierung von Gender*-Fragen methodisch entgegengetreten werden? Die von Schrödl angesprochene »besondere Definition von Performativität« in den 2000er Jahren prägte vor allem Erika Fischer-Lichte in ihrem einflussreichen Standardwerk Ästhetik des Performativen. Darin bezieht sie sich u.a. auf das Performativitätskonzept der ebenso einflussreichen Gender-Theoretikerin Judith Butler. Auf den ersten Blick scheint es so, als würden die [beiden] theoretischen Ansätze von Fischer-Lichte und Butler widerspruchsfrei ineinander aufgehen und als wären sie völlig unproblematisch miteinander zu verbinden, z.B. dann, wenn Fischer-Lichte in dem Unterkapitel Einstürzende Gegensätze unauflösbare Widersprüche innerhalb von Aufführungssituationen beschreibt: »[In der Aufführung] zeigt sich, daß nicht ein Entweder-oder gilt, sondern ein Sowohl-alsauch. In der autopoietischen feedback-Schleife ist jeder Teilnehmer immer zugleich Subjekt und Objekt: Er gibt ihrem Verlauf eine neue Wendung, bestimmt damit über ihn und das, was dem anderen erscheint, zugleich aber muß er sich von ihrem Verlauf, von den Wen dungen, die andere ihr geben, bestimmen lassen.«7
Diese Gleichzeitigkeit und Unauflösbarkeit von scheinbar ›aktiv‹ Handelnden und ›passiv‹ Erlebenden sind auch in Butlers Performancetheorie zentrale Elemente. Für sie sind Handelnde insofern immer auch ›passiv‹, als ihre Handlungen Ausdruck eines bestehenden gesellschaftlichen Diskurses sind und nur durch diesen ermöglicht werden. Die Handlung (oder Performance) als solche obliegt zwar der Willkür des handelnden Subjekts, wird gleichzeitig aber durch den bestehenden
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Schrödl, Jenny: »Die Kategorie ›Gender‹ in der Theaterwissenschaft und im Gegenwartstheater«, in: Karoline Spelsberg-Papazoglou (Hg.), Gender und Diversity. Die Perspektiven verbinden, Berlin/Münster 2016, S. 28-40.
7
Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2007, S. 301.
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Diskurs hervorgebracht. Die von Butler für soziale Kontexte des alltäglichen Lebens beschriebenen Prozesse wechselseitiger Hervorbringung finden bei FischerLichte mit dem Konzept der autopoietischen Feedbackschleife für Aufführungssituationen innerhalb von Theater- und Kunstkontexten ihr Äquivalent (allerdings ohne, dass Fischer-Lichte an dieser Stelle explizit auf Butler Bezug nehmen würde).8 Die starke Referenz auf die Butler’sche Theorie, die Fischer-Lichte in der Entwicklung ihres Begriffes von Performativität/des Performativen vornimmt, übersieht meiner Ansicht nach aber zentrale Aspekte von Butlers Performancetheorie und mündet daher in einer vereinfachenden Lesart ebenjener Theorie. In FischerLichtes Überlegungen zur Ästhetik des Performativen bleibt eine diskursive Verortung des Phänomens ›Theater‹, in Bezug auf dessen soziale Kontexte und Funktionen, randständig. Fragen danach, wann welche Aufführung zustande kommt und warum, welche Körper in welcher Weise sichtbar werden, von welchen gesellschaftlichen Debatten die Aufführung begleitet wird, welche gesellschaftlichen Dynamiken in und mit der Aufführung wiederholt werden, rücken zugunsten der Beschreibung der ästhetischen Dimension von Handlungsvollzügen in den Hintergrund. Dieses Betonen einer Ästhetik des Performativen ist freilich selbst vor einem historischen Hintergrund zu betrachten, in dem die spätestens seit den 1950er Jahren entwickelte Gattung Performance sich gegen Angriffe verteidigen musste, die ihr den Kunstanspruch absprechen wollten, und in dem zusätzlich eine
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Zum Begriff der autopoietischen Feedbackschleife: Vgl. ebd. S. 59ff. Den Begriff der Autopoiesis entlehnt sie dabei den Neurobiologen Huberto Maturana und Francisco Valera. In ihrer Schrift Der Baum der Erkenntnis definieren Maturana und Valera Autopoiesis am Beispiel der Zellteilung als schöpferisch gedachten Selbsterhaltungsprozess eines biologischen Systems, das sich selbst re/produziert, indem es seine kons titutiven Systemelemente reproduziert. Die beiden Neurologen entwerfen mit ihrem Konzept der Autopoiesis einen radikalen Konstruktivismus, der davon ausgeht, dass neurologische Prozesse das Produkt menschlichen Handelns seien und somit »[j]edes Tun Erkennen und jedes Erkennen Tun [sei]«. Maturana, Humberto R./Varela, Francisco J.: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Er kennens, Frankfurt am Main 2015, S. 31. Eine tiefergehende Analyse der Theorie Maturanas und Valeras würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Auch Fischer Lichte verweist lediglich auf Maturana und Valera, ohne zu überprüfen, ob sich das Konzept wirklich für eine Übertragung eignet. Auf das Fehlen einer fundierten Übertragung der Ideen Maturanas und Valeras auf theaterwissenschaftliche Konzepte hat bereits Gunter Lösel hingewiesen. Vgl. Lösel, Gunter: Das Spiel mit dem Chaos. Zur Performativität des Improvisationstheaters, Bielefeld 2013, S. 263.
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zunehmende Loslösung der Theaterpraxis vom Literaturtheater zu beobachten war9, ohne dass hierfür geeignete Analysemethoden bereitstanden. Die beschriebenen Handlungen wie ihre Ästhetik schienen nicht auf einen vorgefertigten Text – oder im engeren Sinn – ein festgeschriebenes Drama zu verweisen, zu denen man sie literatur- oder inszenierungsanalytisch in Bezug hätte setzen können. Für die Definition der Besonderheiten des Performativen und von Performativität bezieht sich Fischer-Lichte neben Butler vor allem auf die Sprechakttheorie John Langshaw Austins. Danach sind solche Akte als performativ zu begreifen, die in ihrem Vollzug auf sich selbst verweisen und durch den Akt selbst die Realität hervorbringen, auf die sie verweisen. 10 Als Paradebeispiel eines solchen performativen Sprechaktes führt Austin den Satz »Ich erkläre Euch hiermit zu Mann und Frau« im Rahmen von (standesamtlichen) Hochzeiten an.11 Der Satz schafft eine neue Realität, auf die er zugleich verweist. Analog dazu hält Fischer-Lichte in ihrer Definition von Performativität fest: »Performativität [hebt] auf die Selbstbezüglichkeit von Handlungen und ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft ab.« 12 Von dieser Definition von Performativität grenzt Fischer-Lichte gleichzeitig den Begriff der Performance ab. Damit von einer Performance gesprochen werden kann, müssen – laut Fischer-Lichte – noch eine ganze Reihe weiterer Charakteristika erfüllt sein: »die prinzipielle Unvorhersehbarkeit ihres Verlaufs; spezifische Ambivalenzen und die mit ihnen verbundene Fähigkeit, dichotomische Begriffssysteme als solche zu de-stabilisieren;
9
Vgl. hierzu z.B.die Zensur von Performance-Theatern und -Kunstschaffenden in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren in den USA, zu der die nationale Kunstförderung National Endowment of Arts (NEA) im Jahr 1989 durch den US-amerikanischen Senat verpflichtet wurde, um zu verhindern, dass der Staat ›obszöne‹ Kunst fördere. Vgl. Apfelthaler, Vera: Die Performance des Körpers – Der Körper der Performance, St. Augustin 2001, S. 47-51. Fischer-Lichte kritisiert immer wieder ein zu enges Theaterverständnis innerhalb der (deutschsprachigen?) Theaterwissenschaft, die historische Phänomene wie die Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts als auch (damalige und z.T. bis heute andauernde) zeitgenössische Performancekunst wie die des Wiener Aktionismus oder die Marina Abramovićs ausschließen würde. Vgl. E. Fischer -Lichte: Ästhetische Erfahrung, S. 139-150.
10 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: »Performativität/performativ«, in: Dies./Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2014, S. 251-258. 11 Vgl. z.B. Butler, Judith: Bodies That Matter. On the Discursive Limits of ›Sex‹, Abingdon/New York 2011, S. 170f. 12 Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 29.
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die Flüchtigkeit der Materialität, welche der Aufführung nur für die Dauer ihres Verlaufs Existenz sichert; ein spezifischer Modus der Wahrnehmung sowie der Erzeugung von Bedeutung und eine transformative Kraft.«13
Wendet man sich an dieser Stelle dem Begriffspaar Performativität/Performance in der Butlerʼschen Theorie zu, wird deutlich, wie stark die jeweiligen Performativitätskonzepte von Fischer-Lichte und Butler voneinander abweichen. Denn Butlers Begriff von Performativität und ihre Unterscheidung zu dem der Performance betonen soziale, diskursive Zusammenhänge wesentlich stärker als Fischer-Lichte. Obwohl Fischer-Lichte Butler für ihr Performativitätskonzept kritisiert, weil Butler die Beziehung der beiden Phänomene nicht ausreichend erklären würde,14 findet sich eine sehr zentrale Stelle bei Butler, in der sie genau auf dieses Verhältnis eingeht. Sie schreibt: »Performance as bounded ›act‹ is distinguished from performativity insofar as the latter consists in a reiteration of norms which precede, constrain, and exceed the performer and in that sense cannot be taken as the fabrication of the performer’s ›will‹ or ›choice‹; further, what is ›performed‹ works to conceal, if not to disavow what remains opaque, unconscious, unperformable.«15
Hinter jeder Performance steckt laut Butler also immer etwas, das die Performance überhaupt erst hervorgebracht hat. Performativität meint hier also nicht nur den sicht- und wahrnehmbaren selbstbezüglichen Vollzug, sondern bezeichnet auch und in erster Linie jene Prozesse der Hervorbringung, die sich in dem schwerer greifbaren Bereich diskursiv-sozialer Konstruktion abspielen. Performativität bezeichnet für Butler also nicht – wie bei Fischer-Lichte –, dass und die Art und Weise wie (in Bezug auf seine sinnliche Dimension) etwas in Erscheinung tritt,
13 Ebd., S. 68. 14 Vgl. ebd., S. 41. Wörtlich schreibt sie: »Für Beide [gemeint sind Austin und Butler – Anm. L.S.S.] ist eine enge Beziehung zwischen Performativität und Aufführung (performance) offensichtlich und nicht weiter erklärungsbedürftig.« Auf S. 40 weist Fischer-Lichte in einer Fußnote darauf hin, dass sie sich ausschließlich auf Butlers Aufsatz Performative Acts and Gender Constitution bezieht und spätere Schriften außer Acht lässt, in denen Butler einen anderen Begriff des Performativen vertreten würde, der sich mit dem aus dem vorliegenden Aufsatz nicht in Übereinstimmung bringen ließe. Butler, Judith: »Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory«, in: Theatre Journal, 4. 40 (1988), S. 519-531. 15 J. Butler: Bodies That Matter, S. 178.
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sondern adressiert den z.T. nicht sicht- und wahrnehmbaren Prozess der Hervorbringung von Performances. Den sicht- und wahrnehmbaren Teil dieses performativen Diskurses umschreibt sie dagegen als Performance, die von den Spuren dieses Nicht-Wahrnehmbaren geprägt ist. Immer gibt es also etwas, das nicht Teil der Performance ist und doch wesentlich an ihrem Entstehen beteiligt ist.16 Was, wann, wie (auch in seiner sinnlichen Dimension) und dass etwas in Erscheinung tritt, steht immer im Zusammenhang mit diesem nicht ›performierbaren‹ (im Original: unperformable) Rest. Immer werden bestimmte Handlungen, Seinsweisen und Körperlichkeiten der Szene verwiesen, verworfen, verabjektiviert. Ähnlich wie die Psychoanalytikerin Julia Kristeva17 verwendet Judith Butler den Begriff des Abjekten. Sie verortet es ebenfalls in einem Zwischen von Subjekt und Objekt. Allerdings unterscheiden sich ihre theoretischen Annahmen in einem entscheidenden Punkt: Anders als Kristeva lehnt Butler es ab, als Begründung für Abjektivierungsprozesse den mütterlichen Körper als ontologisches Außen zu setzen. 18 Für Butler ist das Abjekte das konstitutive Außen, das notwendig (für bestimmte Positionen) ist, um sich selbst als Subjekt begreifen zu können und hervorgebracht zu werden. »The abject designates here precisely those ›unlivable‹ and ›uninhabitable‹ zones of social life which are nevertheless densely populated by those who do not enjoy the status of the subject, but whose living under the sign of the ›unlivable‹ is required to circumscribe the domain of the subject.«19 Durch Abgrenzung, durch das Verwerfen bestimmter Verkörperungen entsteht das, was als Performance schließlich sichtbar, verbalisierbar und verstehbar ist. Dieser Prozess der Abjektion ist jedoch kein Prozess, der ausschließlich etwas Äußeres verwerfen oder die Subjekte durch ein von außen nachträglich auf sie einwirkendes Gesetz dazu zwingen würde oder könnte, bestimmte Teile ihrer Persönlichkeit abzuspalten. Vielmehr entsteht – laut Butler – das Subjekt als solches (und in diesem Kontext auch die Performance) erst durch Prozesse der Verwerfung, die dadurch quasi verinnerlicht wird: »In this sense, then, the subject is constituted through the force
16 Dieses Phänomen bezeichnete der Tanzwissenschaftler Gerald Siegmund als Abwesen heit. Allerdings konzentriert er sich in seiner Abhandlung überwiegend auf ästhetische Aspekte der Abwesenheit, von der laut Siegmund überwiegend künstlerische Arbeiten aus dem zeitgenössischen Tanz geprägt sind. Gleichwohl betont er, dass die Spuren, die die Abwesenheit auf dem Körper hinterlässt, gesellschaftlich geprägt sind. Vgl. G. Siegmund: »Abwesenheit«, S. 71-83; Ders.: Abwesenheit. 17 Vgl. Kristeva, Julia: Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York 2010. 18 Vgl. Butler Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, London/New York 1999, S. 107-127. 19 J. Butler: Bodies That Matter, S. xiii.
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of exclusion and abjection, one which produces a constitutive outside to the subject, an abjected outside, which is, after all, ›inside‹ the subject as its own founding repudiation.«20 Dabei verdeckt die Performance selbst die ›nicht performierbare‹ (unperformable) Geschichte ihres Entstehens. Es ist genau diese Geschichte des Entstehens der Performance, die in Fischer-Lichtes Performancekonzept aus dem Blick gerät. Performative Handlungen verweisen nur oberflächlich ausschließlich auf sich selbst. Tatsächlich müssen aber eine ganze Reihe an Hervorbringungsbedingungen erfüllt sein, damit die Performance wie die Körperlichkeit der* Performenden in Erscheinung treten kann. Jede Handlung und jede Performance ist immer sowohl als Zitat ebenjener Bedingungen zu begreifen, auf die sie implizit verweist, als auch als zitat- und gleichförmige Wiederholung jener Handlungen, die in einer zeitlich vorgelagerten Vergangenheit bereits durch ähnliche, wenn nicht sogar dieselben Bedingungen hervorgebracht worden sind.21 Wenn also, um ein Beispiel aufzugreifen, auf das Fischer-Lichte immer wieder eingeht, die Performancekünstlerin Marina Abramović im Rahmen ihrer Performance Lips of Thomas ein Weinglas mit ihrer Hand zerdrückt, sodass ihre Hand zu bluten beginnt, referiert die Handlung nicht nur auf die blutende Hand und den tropfenden Wein, sondern auch auf die bestehende Körperlichkeit wie deren Geschlechtlichkeit. Zweifellos ändert dieselbe Handlung ihren Charakter, je nachdem wer bzw. welcher Körper sie performt. Man stelle sich vor, Abramovićs langjähriger Performance-Partner Ulay hätte die Handlung ausgeführt. Während Abramovićs Handlung als Verweis auf die Verwundung weiblicher Subjekte in patriarchalen Gesellschaftsstrukturen gelesen werden kann, hätte man Ulays Handlung hingegen als Geste cis-männlicher Aggression und Wut lesen können.22 Ob von den Performenden intendiert oder nicht, entstehen also immer gesellschaftliche
20 Ebd. 21 Auch wenn Fischer-Lichte im ersten Teil ihrer Semiotik des Theaters Theater als Teil eines kulturell variablen semiotischen Systems konturiert, argumentiert sie im dritten Teil in Anschluss an Juri Michailowitsch Lotman: »Der ästhetische Text unterscheidet sich also von nicht-ästhetischen durch die Eigenart, daß keines seiner Elemente redundant ist.« Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Die Aufführung als Text, Band 3, Tübingen 1999, S. 11 sowie Dies.: Semiotik des Theaters. Das System der theatralischen Zeichen, Band 1, Tübingen 1994. 22 Selbstredend kann auch Abramovićs Geste als Ausdruck von Wut und Ulays Geste als Ausdruck von Verwundbarkeit gelesen werden. Immer jedoch ließe sich eine Vergeschlechtlichung dieser Zustände ableiten, also spezifisch ›weibliche‹ Wut und ›männliche‹ Verletzbarkeit.
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(gleichsam also kontingente, nicht jedoch emergente) Zuschreibungen, die es niemals zulassen, die Handlung nur als Handlung an sich zu verstehen, die auf nichts weiter als sich selbst verweist. Gewiss leugnet Fischer-Lichte diese Zuschreibungen nicht, nimmt sie aber im Rahmen ihrer Überlegungen zum Performativen auch nicht in den Fokus.23 Im Fokus ihrer Analysen stehen dagegen der scheinbar reine Vollzug, der schiere Leib, die blutende Wunde, die ausschließlich auf sich selbst verweist und in der Lage ist, unabhängig von der Semiotizität des Körpers in Erscheinung zu treten.24 Mit Butler könnte man dagegen argumentieren, dass gesellschaftlich diskursive Zuschreibungen die Handlung und die Handlungsspielräume der performenden Person verändern und dass sie das auch in explizit als künstlerisch ausgewiesenen Räumen wie Theater tun. Gender-Performances25 finden also immer statt, auch in Theater- oder Performancekunstkontexten. Aber wie unterscheiden sich Gender-Performances innerhalb des Theaters von jenen außerhalb? Ein weiterer Grund, weshalb Fischer-Lichtes Überlegungen nicht unmittelbar an Butlers Überlegungen anschließen, ist auch die Unterscheidung von Kunst und Wirklichkeit, die von beiden Theoretikerinnen jeweils anders vollzogen wird.
DIE UNTERSCHEIDUNG ZWISCHEN KUNST UND NICHT-KUNST Einerseits betont Fischer-Lichte zwar stets, dass performative Prozesse auch außerhalb von Theater- oder Performancekunstkontexten stattfinden können. So hält sie beispielsweise Sportveranstaltungen oder Wahlkampfinszenierungen für äußerst spannende und durchaus legitime Untersuchungsgegenstände. Andererseits
23 Vgl. z.B.E. Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung, S. 139-152. 24 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 243-283. Fischer-Lichte geht ausführlich auf die Frage ein, ob performative Vollzüge, die einer Ästhetik des Perfor mativen zuzuordnen sind, als de-semantisiert zu betrachten sind. Entscheidend ist, dass sie die Bedeutungserzeugung performativer Akte genuin von derjenigen semiotischer Prozesse unterscheidet. Es handele sich bei ersteren um selbstreferentielle Handlungen, die, indem Signifikant, Signifikat und Materialität zusammenfielen, auch Bedeutungen erzeugen würden. In dieser Hinsicht sei zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und der Zuweisung von Bedeutung als geistiger Akt nicht zu unterscheiden, dennoch sei die Art der Bedeutungserzeugung höchst individuell, emergent und nicht gekoppelt an bestehende semiotische Systeme. Vgl. hierzu: Ebd. S. 243ff. 25 Zum Begriff der Gender-Performance: Vgl. Schrödl, Jenny: »Gender Performance«, in: E. Fischer-Lichte/D. Kolesch/M. Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 131-133.
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will sie jene aber von Aufführungen in einem künstlerischen Sinn getrennt wissen.26 Streng genommen werden performative Handlungen für Fischer-Lichte also eher ausgeführt als aufgeführt. »Wohl ist eine Aufführung immer als performativ zu bezeichnen. Aber nicht alles, was wir als performativ ansehen, ist zugleich auch eine Aufführung.«27 Diese Unterscheidung zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Darstellungen ist für Fischer-Lichte zentral, weil sie künstlerischen Aufführungen im Sinne einer Ästhetik des Performativen die Fähigkeit zuspricht, sie könnten Dichotomien zum Einsturz bringen. Gegensatzpaare wie Wirklichkeit vs. Kunst, Signifikat und Signifikant würden in Aufführungen von Performancekünstlerinnen wie Marina Abramović verwischen, etwa dann, wenn sie ein Glas in ihrer Hand zerbricht und ihre Hand zu bluten beginnt. Die Wirklichkeit der blutenden Hand wird Teil der Aufführung. Aber auch unabhängig von Body ArtPerformances ist Wirklichkeit für Fischer-Lichte immer schon Teil der Aufführung. Schauspieler*innen gehen wirklich über die Bühne und tun nicht nur so, als ob. Trotzdem lehnt Fischer-Lichte es ab, die Unterscheidung von Kunst und Wirklichkeit komplett aufzuweichen. Obwohl sie den Autonomie-Status der Kunst hinterfragt, scheint es so, als spräche sie (wie das Zitat oben verdeutlicht) ausschließlich künstlerischen Performances die Fähigkeit zu, Dichotomien zum Einsturz zu bringen und auf diese Art und Weise bestehende gesellschaftliche Diskurse zu destabilisieren.28 Allerdings schenkt sie denjenigen Aspekten von künstlerischen Performances, die Wirklichkeit nicht zwangsläufig verändern, sondern sie vielmehr reproduzieren, kaum, wenn nicht sogar keine Beachtung.29 Betrachtet man an dieser Stelle die jeweiligen Begriffe von Wiederholung, wird abermals die Differenz der beiden theoretischen Ansätze Butlers und Fischer-Lichtes deutlich: Während Butler neben dem Potenzial zur Abweichung stets die normierende Kraft des Iterativen betont, fokussiert sich Fischer-Lichte auf die Abweichungen, die
26 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 351f. 27 E. Fischer-Lichte: Performativität, S. 71. 28 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 296f. 29 Auf die mangelnde Beachtung der Bedeutung der Wiederholung in theaterwissenschaftlichen Performativitätskonzepten haben Rost und Schrödl bereits hingewiesen. Vgl. hierzu Rost, Katharina/Schrödl, Jenny: »Körperlichkeit, Materialität und Gender in Theater und Theaterwissenschaft«, in: Open Gender Journal (2017), S. 1-19. Auch Frank Richarz weist auf diesen Aspekt hin. Vgl. Richarz, Frank: »Von der Aufführung zum Performativ. Die theatrologische Untersuchung machtmimetischer Prozesse«, in: Ders./Erika Fischer-Lichte/Adam Czirak/et al. (Hg.), Die Aufführung. Diskurs – Macht – Analyse, Bielefeld 2012, S. 135-156.
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beispielsweise bei der mehrfachen Aufführung einer Inszenierung (oder auch Reenactments) entstehen.30 Wie also nähert man sich als Theaterwissenschaftler*in auf analytischer Ebene jenen Aufführungen des zeitgenössischen Kunsttheaters, die sehr klassische Gender-Performances entlang der (scheinbaren) Dichotomie Mann-Frau wiederholen und sie eben nicht transformieren? Wie analysiert man Crossgender-Performances, die so inszeniert werden, dass sie binäre Geschlechtsidentitäten stärken, wie es beispielsweise sogenannte ›Rockrollen‹ in der Theatergeschichte getan haben?31 Auf eine andere Art und Weise als Fischer-Lichte nimmt Butler die Rahmung und Funktion von Theater in den Blick: Auch sie unterscheidet zwischen Theater und Wirklichkeit, etwa dann, wenn sie fragt, warum Cross- und Transgender-Performances auf der Bühne innerhalb des Theaters akzeptiert werden, während Cross- und Transgender-Performer*innen auf offener Straße nicht selten mit Anfeindungen, Aggressionen und körperlicher Verletzung, sogar mit dem Tod bedroht werden. Als Antwort auf diese Frage betont sie die diskursive Rahmung von Theater als ›nur‹ Theater: »In the theatre, one can say, ›this is just an act,‹ and derealize the act, make acting into something quite distinct from what is real. […] the various conventions which announce that ›this is only a play‹ allows strict lines to be drawn between the performance and life.«32 Die Handlungen, die auf einer Theaterbühne oder im Rahmen einer Kunstperformance vorgenommen werden, verändern die Wirklichkeit also nur eingeschränkt. Tatsächlich existiert in diesem Zusammenhang ein Sowohl-als-auch, allerdings nicht in dem Sinne, dass Dichotomien während Theateraufführungen ausschließlich zum Einstürzen gebracht
30 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: »Wiederholung als Ereignis. Reenactment als Aneignung von Geschichte«, in: Jens Roselt/Ulf Otto (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bochum 2012, S.13-52. Gleich zu Beginn des Essays betont sie die Differenz von Reenactments zu ihrer historischen Vorlage: »Reenactments werden in diesem Sinne als Wiederholungen verstanden, die niemals mit dem identisch sind, was sie wieder holen, d.h. leiblich ins Gedächtnis zurückholen. Sie tragen sich vielmehr selbst als Ereignisse hier und heute zu. Insofern es sich bei ihnen um Aufführungen handelt, sind sie gar nicht anders denn als einmalige Ereignisse im Hier und Jetzt zu konzeptualisieren.« Ebd. S. 13. 31 Vgl. z.B.: Schreiber, Daniel: »Travestie«, in: E. Fischer-Lichte/D. Kolesch/M. Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 397-399. 32 J. Butler: »Performative Acts and Gender Constitution«, S. 527.
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würden. Denn nicht selten lassen Kunstperformances Dichotomien zwar einstürzen, aber reproduzieren sie auch im selben Moment. Besonders gut ablesbar sind solche Paradoxien an der Theaterpraxis des Cross-Dressings, das auf eine lange Tradition zurückgeht. Die sogenannte Rockrolle entstammt der Zeit, in der Frauen das Betreten von Theaterbühnen untersagt war. Weibliche Figuren wurden daher von männlichen Darstellern in Frauenkleidern verkörpert. Die hierzu betriebene Forschung betont in ihren Ergebnissen die Ambivalenzen dieser Form des CrossDressings.33 Die Theaterwissenschaftlerinnen Katharina Rost und Jenny Schrödl fassen diese Erkenntnisse wie folgt zusammen: »Die Beständigkeit der vermeintlich ›eigentlichen‹ Geschlechtsidentität der agierenden Figur [wird] kaum je in Frage gestellt, insofern sie am Ende der Aufführung zumeist wieder der heteronormativen Ordnung entspricht.«34 Jedoch könne »aufgrund der ausgestellten Wandlungsfähigkeit der Darstellenden die Unveränderlichkeit soziokultureller Bestimmungen in Frage gestellt werden.«35 Wenngleich hier durch das CrossDressing auf einen Möglichkeitsraum verwiesen werden kann, der Geschlechteridentitäten jenseits der binären Logik zulässt, dient dieselbe Praxis im gleichen Moment der Affirmation ebenjener Binarität. Oder, wie Butler betont, kann der Theaterrahmen hier vielmehr dafür dienen, die Handlung zu ›de-realisieren‹ (derealize), mit anderen Worten, er macht sie für die Realität quasi unmöglich. Der Theaterrahmen oder auch -raum dient hier als Raum oder Ort des Verworfenen, Abjekten. Indem er etwas in Szene setzt, was als reale Seins-Weise (auch ›Identität‹ genannt) verworfen wurde, wiederholt er paradoxerweise diese Verwerfung. Performative Handlungen und Performances im Sinne Fischer-Lichtes verändern und transformieren demnach Wirklichkeit nicht nur, sondern wiederholen sie in ebenso entscheidender Weise.
DAS ABJEKTE UND DIE MATERIALISIERUNG DER AUFFÜHRUNG Für dieses Zusammenspiel von Transformation und Wiederholung sind in der Butler’schen Theorie die bereits oben erläuterten Begriffe des Abjekten sowie der Abjektion von zentraler Bedeutung. Sie sind zentral an der Materialisierung von Körper und Performance beteiligt. Da immer etwas aus dem Handlungsvollzug ausgeschlossen, verworfen wird, entsteht ein Raum des Verworfenen. Dieser
33 Vgl. K. Rost/J. Schrödl: »Körperlichkeit, Materialität und Gender in Theater und Theaterwissenschaft«, S. 1-19. 34 Ebd., S. 7. 35 Ebd.
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Raum (bzw. Nicht-Raum) konstituiert ex negativo das, was in Erscheinung treten darf, und dringt so in die Strukturierung der Materie, Körper, Praktiken ein bzw. ›zurück‹. Durch diese Verwerfung entstehen sowohl die Gleichförmigkeit von Handlungen als auch ihre Abweichungen. Fischer-Lichte betont für die Materialität der Aufführung dagegen fortwährend deren Transitorik, Flüchtigkeit, Ereignishaftigkeit und deren Fähigkeit, Wirklichkeit zu transformieren.36 Die Materialität der Aufführung wurde deshalb nie mit Fragen nach Gender* in Zusammenhang gebracht. So schreiben Rost und Schrödl: »Kurz gesagt: Materialität und Geschlecht sind im theaterwissenschaftlichen Diskurs keine miteinander verknüpften Kategorien.«37 Die Materialität von Aufführung wurde so als vorwiegend transformativ bestimmt oder anders ausgedrückt: Das (von Fischer-Lichte geprägte) theaterwissenschaftliche Erkenntnisinteresse konzentrierte sich damit auf den transformativen Aspekt der Materialität von Aufführung. Fischer-Lichte legt deshalb meines Erachtens eine zu optimistische Lesart von Butlers Performativitätskonzept vor, indem sie die transformative Kraft performativer Handlungen betont, wenn sie schreibt: »Das heißt, […] in Butlers Konzept des Performativen ist offensichtlich die […] Fähigkeit des Performativen virulent, Dichotomien zum Einsturz zu bringen. In/mit den performativen Akten, mit denen gender – und generell Identität – konstituiert wird, übt einerseits die Gemeinschaft auf die/den einzelnen körperliche Gewalt aus. Zugleich aber eröffnen sie durchaus die Möglichkeit, daß sich in/mit ihnen die/der einzelne selbst hervorbringt – und zwar durchaus abweichend von den in der Gemeinschaft dominierten Vorstellungen, wenn auch um den Preis gesellschaftlicher Sanktionen.«38
Die kurze Erwähnung am Ende des Zitats (»wenn auch um den Preis gesellschaftlicher Sanktionen«) zeigt, dass Fischer-Lichte in ihrer Interpretation Butlers die Bedeutung des Abjekten gerade für ihren eigenen Kontext, den der künstlerischen Performance, unterschätzt. Zwar erkennt sie an, dass performative Akte auf die Einzelnen »körperliche Gewalt« ausüben, fragt aber nicht danach, wie sich diese gesellschaftlichen Konventionen und Machtzugriffe auch und gerade im Bereich der künstlerischen Performance manifestieren. Dabei werden gerade im Theater und auf der Theaterbühne ebenso wie im (Performance-/Aktions-)Kunstbereich
36 Vgl. zum Beispiel Fischer-Lichte, Erika: Theaterwissenschaft, S. 24-72. 37 K. Rost/J. Schrödl: »Körperlichkeit, Materialität und Gender in Theater und Theaterwissenschaft«, S. 3. 38 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 39.
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immer wieder zahlreiche tradierte Symboliken zitiert, stilisierte Handlungen und Geschlechterstereotypen wiederholt.
PHYSISCHE KO-PRÄSENZ ZWISCHEN PHÄNOMENALEM LEIB UND SEMIOTISCHEM KÖRPER Anders als Butler unterscheidet Fischer-Lichte zudem innerhalb von künstlerischen Aufführungen zwischen semiotischem Körper und phänomenalem Leib. Während Körper laut Fischer-Lichte von Zeichenhaftigkeit charakterisiert und mit Hilfe von Semiotik analysierbar sind, könne man sich dem Phänomen Leib nur mit Hilfe der Phänomenologie nähern.39 Trotzdem sind Leib und Körper für Fischer-Lichte in Aufführungssituationen miteinander verbunden: »[P]hänomenaler Leib und semiotischer Körper [sind] unlösbar miteinander verknüpft, wobei freilich der phänomenale Leib durchaus ohne den semiotischen Körper gedacht werden kann, das Umgekehrte dagegen nicht möglich ist.«40 Diese für Fischer-Lichtes Überlegungen zentrale Leib-Körper-Differenz ist mit den Butler’schen Denkansätzen allerdings nicht in Übereinstimmung zu bringen. Für Butler gibt es keinen vorgängigen Leib, der erst später durch soziale Körperkonzepte geformt oder ohne den semiotischen Körper hervorgebracht werden könnte und ohne ihn denkbar ist. Leib und Körper sind für Butler immer untrennbar miteinander verbunden, also auch notwendigerweise im Rahmen von Theateraufführungen. Oder anders ausgedrückt: Das, was für Fischer-Lichte als phänomenaler Leib der Schauspieler*in in Erscheinung tritt, ist durch eine ganze Reihe beispielsweise geschlechtlicher Zeichen geprägt, auch dann, wenn gerade keine fiktive Figur verkörpert wird. Die Sex/Gender-Unterscheidung41, also zwischen
39 E. Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, S. 81-88. 40 E. Fischer-Lichte: Performativität, S. 62. 41 Die Differenzierung von sex und gender geht u.a. auf das Buch Sex and Gender: On the Development of Masculinity and Femininity von Robert J. Stoller zurück, das dieser 1968 publizierte. Stoller bezog sich darin aber laut Paula-Irene Villa auf die Unterscheidung zwischen ›biologischem‹ und ›geistigem‹ Geschlecht, darin einem seiner Vorgänger, dem Sexualwissenschaftler und Psychologen John Money, der im Rahmen seiner (ethisch höchst problematischen) Forschungen zu Intersexualität die Begriffe gender role und gender identity erstmals in den 1950er-Jahren einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht hatte, ähnlich. Vgl. hierzu Villa, Paula-Irene: Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper, Wiesbaden: 2011, S. 76; Stoller, Robert J.: Sex and Gender: On the Development of Masculinity and Femininity, New York 1968; Money, John/Hampson, Joan G./Hampson John L.: »Hermaphroditism, Gender
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vorgängig bestehendem biologischem (Sex) und geistigem Geschlecht (Gender), existiert für sie nicht. Die Materialität von Geschlecht betrachtet sie als Produkt sozialer Konstruktion.42 Sex ist in gewissem Sinne mit Gender identisch und wird durch letzteres überhaupt erst hervorgebracht. In der Butler’schen Theorie ist also genau das Gegenteil von Fischer-Lichtes Annahme der Fall: Das, was als Leib in Erscheinung tritt, wird durch Körper überhaupt erst hervorgebracht. Nie kann der Leib nur als Leib in Erscheinung treten. Es gibt in Butlers Konzept demnach keine Materie, die quasi unberührt vor ihrer sozialen Strukturierung existieren würde. Dennoch (und das ist für ihr Konzept der Materialisierung, das sie zwischen Konstruktivismus und Essentialismus ansiedelt43, entscheidend) gibt es stets eine Form der Abweichung. Denkt man Butlers Konzept in Bezug auf eine Leib-Körper-Differenz weiter, weicht Leiblichkeit insofern von der Körperlichkeit ab, dass sie den Normierungen des Körpers nie vollkommen gerecht werden kann. Das Abjekte manifestiert sich im Leib als eine Art ›dunkle Materie‹44, die den Leib einerseits als der Norm entsprechend und andererseits als die Norm unterlaufend hervorbringt. Eine der zentralen Bedingungen, die Fischer-Lichte für Aufführungen formuliert, ist die leibliche Ko-Präsenz von Akteur*innen und Publikum.45 Diese Betonung von Leiblichkeit dient ihr zur Beschreibung spezifischer Phänomene während der Aufführung, wie physiologische, affektive, energetische und motorische Zustände anderer phänomenaler Leiber. 46 Diese Betonung von Leiblichkeit verunmöglicht aber eine Analyse des konstruiert-konstruktiven Charakters ebendieses Leibes und der von Fischer-Lichte benannten Phänomene. Dennoch ermöglichen Aufführungen meiner Ansicht nach auch die von Fischer-Lichte genannten spezifischen ästhetisch-affektiven Erfahrungen und Wahrnehmungsmodi. Um
and Precocity in Hyperadrenocorticism: Psychologic Findings«, in: Bulletin of Johns Hopkins Hospital, Jg. 96, Nr. 6 (1955), S. 253-264. Die feministische Genealogie beruft sich lieber auf Rubin, Gayle S.: »The Traffic in Women: Notes on the ›Political Economy‹ of Sex«, in: Reiter, Rayna (Hg.), Toward an Anthropology of Women, New York 1975, S. 157-201. 42 Vgl. J. Butler: »Performative Acts and Gender Constitution«, S. 519-531. 43 Vgl. Butler, Judith: Körper von Gewicht, Frankfurt am Main 2014, S. 30. 44 Vgl. Folkers, Andreas: »Was ist neu am neuen Materialismus? Von der Praxis zum Ereignis«, in: Tobias Goll/Daniel Keil/Thomas Telios/et. al. (Hg.), Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus, Münster 2013, S. 16-33. 45 Vgl. zum Beispiel Fischer-Lichte, Erika: »Aufführung«, in: Dies./D. Kolesch/M. Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 15-26. 46 Vgl. E. Fischer-Lichte: Performativität, S. 61.
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diesen besonderen Bedingungen von Verkörperungen in Aufführungssituationen gerecht zu werden, schlage ich deshalb vor, nicht von leiblicher, sondern von physischer Ko-Präsenz zu sprechen. Die Berücksichtigung einer physischen KoPräsenz ermöglicht es, Beschreibungen ästhetischer Erfahrung (im Sinne FischerLichtes) vorzunehmen und diese zugleich in einen Zusammenhang zu Fragen nach Gender* zu bringen, in dem die ästhetische Erscheinung der Physis (und ihre Wahrnehmung) als Ausdruck performativer gesellschaftlicher Diskurse gelesen wird. Im Begriff des Physischen bleibt offen, ob es sich um Körper oder Leib handelt. Eine rein essentialistische Lesart des Leiblichen wird so ausgeschlossen.47 Das Physische soll so verdeutlichen, dass ›Leib‹ immer schon semiotisch und das Phänomenale an gesellschaftlich konstituierte Wahrnehmungsmodi gekoppelt ist. Von einer physischen Ko-Präsenz auszugehen, ermöglicht so gleichzeitig nach den sozialen Bedingungen des In-Erscheinung-Tretens zu fragen. Die besonderen Bedingungen dessen, was ich als physische Ko-Präsenz bezeichnet habe, betont auch Butler: »No one’s body establishes the space of appearance, but this action, this performative exercise, happens only ›between‹ bodies, in a space that constitutes the gap between my own body and another’s. […] Indeed, the action emerges from the ›between‹.«48 Tatsächlich verortet Butler in diesem Zwischenraum subversives Potenzial (im Sinne von Fischer-Lichtes transformierender Kraft, die Dichotomien zum Einstürzen bringt), allerdings unabhängig davon, ob dieses Zwischen in einem explizit als künstlerisch ausgewiesenen Raum stattfindet.49 Entscheidend für Butler ist dabei die Heterogenität des Publikums. In ihrem Buch Gender Trouble geht Butler in einem Unterkapitel (Bodily Inscriptions,
47 Hierauf verweisen auch der bildungssprachliche und etymologische Gebrauch. Während Physis bildungssprachlich für Körper bzw. die körperliche Beschaffenheit des Menschen steht, wird das griechische Wort phýsis mit Natur oder natürlicher Beschaffenheit übersetzt. Siehe hierzu z.B.https://www.duden.de/rechtschreibung/Physis vom 24.11.2018. Ich bezeichne mit Physis jenes somatische Erleben von Leiblichkeit, des sen konstruiert-konstruktive Genese entlang gesellschaftlicher Konzepte von Körperlichkeit durch die Naturalisierung des somatischen Erlebens verschleiert wird. 48 Butler, Judith: »Bodies in Alliance and the Politics of the Street«, in: Meg McLagan/Yates McKee (Hg.), Sensible Politics. The visual Culture of nongovernmental Activism, New York 2012, S. 117-138, hier: S. 121. 49 Das im Folgenden angeführte Beispiel der Drag Queen-Shows verdeutlicht, dass eine eindeutige Unterscheidung zwischen künstlerischer oder (sub-)kultureller Performance nicht sinnvoll erscheint. Anders ausgedrückt: Während es mit Fischer-Lichtes Überlegungen möglich wäre, Herrmann Nitschs sexistische Kunstaktionen (nackte cis-Frau wird scheinbar passiv mit Tierblut übergossen) als Kunst und Drag Queen-Shows als
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Performative Subversions) der Frage nach, ob bzw. warum Drag Queen-Shows, die in Teilen des feministischen Diskurses als männliche, teilweise auch bösartige Parodie des Weiblich-Seins gelesen wurden/werden,50 subversiv sein können. Drag-Shows versteht Butler nicht als Parodie eines geschlechtlichen ›Kerns‹ oder einer geschlechtlichen ›Wahrheit‹, sondern als Parodie überhaupt der Vorstellung, es gäbe einen solchen Kern. 51 Sie sind demnach dann subversiv, wenn sie als Parodie der Parodie, als Pastiche, gelesen werden können.52 Butler analysiert, dass und wie verschiedene affektive Reaktionen die Bedingung für Subversion darstellen. In Drag-Shows lachen verschiedene Zuschauer*innen beispielsweise an verschiedenen Stellen. Dies verdeutliche, dass Affekte nicht nur durch die Zeichen auf der Bühne erzeugt werden, sondern auch durch das Zirkulieren dieser Zeichen innerhalb eines kollektiven Bezugssystems. Außerdem verweisen affektive Reaktionen auf jeweils verschiedene individuelle Referenzrahmen. Es kommt so während der Aufführung zu einem non-verbalen Austausch über die jeweiligen individuellen Vorstellungen von geschlechtlicher Identität, die sich damit als sozial konstruiert und kontingent offenbart.
FÜR EIN NEUES PERFORMATIVITÄTSKONZEPT Während der Begriff der Performance für Butler also lediglich das beschreibt, was sichtbarer Teil der Performativität ist, umfasst der Begriff der Performativität auch all das, was sich als Abjektes, als Verworfenes jeglicher ›Performierbarkeit‹, jeglicher Aufführung entzieht, was also abseits der Szene ist. Ein neues von mir skizzenhaft entworfenes Performativitätskonzept hat das Potenzial, Performance in
kulturelle Performance zu bezeichnen, halte ich es für sinnvoll, mit derartigen Zuordnungen äußerst zurückhaltend umzugehen und stattdessen den diskursiven Ursprung der Zuordnungen zu analysieren. Selbstredend sind Drag Queen-Shows als künstlerische Phänomene zu beschreiben, was jedoch nicht impliziert, dass sie vom gesamtgesellschaftlichen Diskurs auch zwangsläufig als solche wahrgenommen werden. 50 Butler spricht hier sehr allgemein von feministischer Theorie, die Travestie als »unkritische Aneignung stereotyper Geschlechterrollen, die aus dem Repertoire der Heterosexualität stammt«, betrachten würde: Leider verweist sie nicht explizit auf entsprechende Autor*innen. Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 202. 51 Vgl. J. Butler: Gender Trouble, S. 175-193; von Redecker, Eva: »Gender Parody«, in: Bettina Papenburg (Hg.), Gender: Laughter, Farmington Hills/San Francisco/New York 2017, S. 279-292. 52 Vgl. J. Butler: Gender Trouble, S. 175-193
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Abhängigkeit des Prozesses der Abjektion zu verstehen. Denn ästhetische Erscheinungen und Erfahrungen im Performance-Kontext sind meiner Auffassung nach nicht von gesellschaftlichen Machtstrukturen entkoppelt zu betrachten, sondern sind vielmehr ihr Ausdruck und von ihnen durchdrungen. Will man den Aspekt Gender* in zentraler Weise für theaterwissenschaftliche Analysen berücksichtigen, ist diese Relation entscheidend. Im Folgenden fasse ich abschließend in fünf Punkten zusammen, welche Perspektiven durch eine Erneuerung des Performativitätskonzeptes – wie von mir oben skizziert – ermöglicht werden. Welche Aspekte sind entscheidend, wenn man Gender* ins Zentrum der theaterwissenschaftlichen Analyse rücken will? 1. Betrachtet man Performance als Ausdruck eines bestehenden performativen Diskurses, die diesen einerseits verändern kann, ihn aber gleichzeitig immer wiederholt, ermöglicht das 2. das Augenmerk auf diese Wiederholung zu richten und danach zu fragen, in welchem gesellschaftlichen Kontext die jeweilige Aufführung stattfindet. Genauer: Was bzw. welcher Diskurs ist es, der hier wiederholt wird und wie stellt er sich in der analysierten Performance dar? Was entzieht sich als Verworfenes der Darstellung? 3. Es erscheint produktiv, sich von der Fokussierung auf letztlich in ihrem Kern essentialistische Konzepte von Leiblichkeit abzuwenden und stattdessen die konstitutive Kraft von Körperkonzepten in den Blick zu nehmen. 4. Das Konzept einer physischen Ko-Präsenz in Abgrenzung zu einem Konzept von leiblicher Ko-Präsenz ermöglicht es, sich selbst als Analysierende*r nicht auf eine (scheinbar nicht sozial geprägte) subjektive Wahrnehmung von Leiblichkeit zu berufen, sondern die eigene subjektive Analyseposition diskursiv zu verorten und mit den Positionierungen von Agierenden und Publikum ins Verhältnis zu setzen. 5. Eine bewusste Reflektion darüber, warum und wann künstlerische Darstellungen als zwangsläufig von anderen Aufführungsformen verschieden und als genuin transformativ betrachtet werden, eröffnet die Möglichkeit, sie als Ausdruck eines gesellschaftlichen Diskurses zu verorten. Ein solches Zusammenführen von ästhetischer und diskursiver Analyse operiert entlang partikularer ästhetischer Praktiken und subjektiver Zugänge und kann so einerseits den komplexen Bedingungen für die Entfaltung von transformativem oder auch subversivem Potenzial auf den Grund gehen. Andererseits können jene reproduktiven Elemente (etwa die Reproduktion von Genderstereotypen oder rassistischen Klischees) in den ›aufführungsanalytischen Blick‹ genommen werden.
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Gender* – Performativität – Aufführungsanalyse | 45
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Gender in Theater, Performance und Tanz der Gegenwart Themen, Strategien, Diskurse Jenny Schrödl
Im Mittelpunkt meines Beitrags stehen Inszenierungen von Geschlecht im experimentellen Theater, im Tanz sowie in der Performancekunst der Gegenwart. Dabei gehe ich von der Beobachtung aus, dass in den freien darstellenden Künsten Geschlecht auf vielfältige Weisen in Szene gesetzt und verhandelt wird und dass nahezu jede*r Künstler*in (z.B.: Lindy Annis, Antonia Baehr oder Vanessa Stern) und fast alle Kollektive (z.B.: Fräulein Wunder AG, Henrieke Iglesias oder She She Pop) sich in einer oder in mehreren Arbeiten explizit mit Geschlechterfragen auseinandergesetzt haben. Die künstlerischen Arbeiten umfassen ein großes Spektrum an Themen um Geschlechtlichkeit (z.B.: Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, mediale Frauenbilder im Kontext von Globalisierung und Neoliberalismus, dritte Geschlechter u.a.), ebenso wie sie unterschiedliche Strategien, Techniken und Formen der Geschlechterinszenierung beinhalten (z.B.: Maskerade, Drag, Nacktheit, sprachliche, rhetorische oder stimmliche Strategien, Figuren des Dritten wie Cyborgs, Puppen oder Tiere). Viele der Künstler*innen kritisieren mit ihren Geschlechterinszenierungen gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlecht, wenden sich gegen Diskriminierungen bzw. Privilegierungen, gegen Ungleichheiten oder Gewalt- und Machtverhältnisse, zugleich nutzen sie die Bühne als Ort der Aneignung, Ermächtigung und des Entertainments. Feststellen lassen sich – neben einer großen Vielfalt und Diversität an Themen, Strategien und kritischen Diskursen – einige zentrale Gemeinsamkeiten: Die Ausstellung der Konstruiertheit und Performativität von Gender ist in fast allen künstlerischen Auseinandersetzungen präsent, bildet aber keine thematische Dominanz mehr. Das heißt, dass Geschlecht konstruiert ist und performativ funktioniert, wird
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nahezu vorausgesetzt, so dass es kein einzelnes Thema mehr ist. Bildete in künstlerischen Arbeiten der 1990er bis in die 2000er Jahre hinein der performative Herstellungsprozess, die Art und Weise, wie Gender konstruiert wird, eine wichtige Dimension des demonstrativen und expliziten Zeigens, so spielt dies in den letzten Jahren weniger eine Rolle bzw. wird überlagert von anderen Thematiken. Darüber hinaus lässt sich eine Verschiebung des Interesses hin zu einer Prozessualität und Episodenhaftigkeit von Gender konstatieren. Es geht nicht nur um die Thematisierung und Relevanzsetzung von Geschlecht, sondern gleichzeitig um Strategien und Techniken der Zurücknahme, des Undoing. Zudem ist eine Erweiterung der Kategorie Gender zu beobachten: Steht Gender einerseits immer noch für zwei Geschlechter, männlich und weiblich, erfährt es andererseits eine konzeptuelle Ausweitung, welche weitere Geschlechter wie Trans*, Genderqueer, Inter, Nicht-Binär (u.a.) miteinschließt. Zweigeschlechtlichkeit wird nicht als selbstverständliches Modell (westlicher) Kultur und Kunst betrachtet, vielmehr gibt es eine Öffnung hin zu mehr als zwei Geschlechtern; man könnte auch sagen, dass sich hier ein (eventuell gesamtgesellschaftlicher) Übergang vom Zwei-Geschlechter-Modell zum Drei-Geschlechter-Modell bereits abzeichnet und konturiert. Nicht zuletzt erfahren intersektionale Fragestellungen und Perspektiven einen deutlichen Zuwachs, ja Gender ist ohne weitere Relationen und Kategorien wie Queerness, Sexualität, Begehren, Race, Klasse, Ethnie, Alter oder Behinderung nicht mehr denkbar. In den freien darstellenden Künsten vollzieht sich damit eine ähnliche Fokusverschiebung wie in der universitären Theorie und Institution seit den 1970er Jahren bis zur Gegenwart: von den Women Studies/Frauenforschung über die Gender Studies/Frauen- und Geschlechterforschung hin zu Diversity Studies/Gender und Diversity Forschung/Management. Im Gegensatz zur allgegenwärtigen Präsenz geschlechtsspezifischer Fragen im künstlerischen Kontext spielt Gender in der theaterwissenschaftlichen Forschung und Theorie, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. 1 Mit den
1
Die Marginalisierung von Gender in der deutschsprachigen Theater- und Tanzwissenschaft wurde bereits von unterschiedlicher Seite kritisch angemerkt und ver schiedentlich begründet. Vgl. u.a.: Hardt, Yvonne/Weber, Anna-Carolin: »Choreographie – Medien – Gender. Eine Einleitung«, in: Marie-Luise Angerer/Dies. (Hg.), Choreographie – Medien – Gender, Zürich 2013, S. 9-25; Hochholdinger-Reiterer, Beate: Kostümierung der Geschlechter. Schauspielkunst als Erfindung der Aufklärung, Göttingen 2014, insbes. S. 30-46; Röttger, Kati: »Theaterwissenschaft. Zwischen Repräsentation und Performanz: Gender in Theater und Theaterwissenschaft«, in: Hadumod Bußmann/Renate Hof (Hg.), Genus. Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Stuttgart 2005, S. 520-557; Schrödl, Jenny:
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zentralen ästhetischen und theaterwissenschaftlichen Paradigmen der Theatralität und Performativität seit den 1990er Jahren wurde zwar zunächst auf Gender und Queer Theorien (vor allem auf Judith Butler) eingegangen, in den nachfolgenden Theoriebildungen und Analysen verschwand Gender allerdings nahezu. Einen wesentlichen Bezugspunkt bilden bis heute gender- und queerorientierte Forschungen aus dem angloamerikanischen Raum, obgleich weder Themen noch Methoden immer eins zu eins auf die deutsche oder kontinentaleuropäische Theater- und Kunstlandschaft übertragbar sind. Erst in jüngerer Zeit gibt es (wieder) ein stärkeres Interesse an Geschlechterfragen in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft – wie dieser Sammelband und der vorausgehende Workshop verdeutlichen. Vor allem die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den freien darstellenden Künsten der Gegenwart weist erstaunlicherweise noch sehr viele Lücken auf und dieser Aufsatz versteht sich in dem Zusammenhang als ein Beitrag, der den Versuch unternimmt, das heterogene Feld zu sondieren und zielt darauf, einen ersten Überblick zu geben. Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht somit weniger ein einzelnes Thema, vielmehr geht es mir um das (Ver-)Sammeln ganz unterschiedlicher Themen, Strategien und Diskurse um Gender, die sich in diversen künstlerischen Arbeiten finden lassen. Ohne damit Vollständigkeit zu beanspruchen, möchte ich vier Themenfelder hervorheben und anhand jeweils einer künstlerischen Arbeit näher erläutern: 1) die explizite Ausstellung von nackten (Geschlechts-)Körpern, 2) die Thematisierung von Weiblichkeit und Frausein u.a. im Kontext prekärer und ungleicher Arbeitsverhältnisse, 3) Prozesse des Un/doing Drag und damit verbunden die Zeitlichkeit von Gender und Prozesse des Queerings sowie 4) der Umgang mit Dingen und Materialien im Zusammenhang mit queerer Erotik und Begehren. Diese vier Bereiche kommen im Theater, in der Performancekunst und im Tanz der Gegenwart durchaus gleichzeitig und nebeneinander vor, z.T. überlagern sie sich auch. Sie sind aber keinesfalls als zeitliche Abfolge zu verstehen und nicht als genuin neue Thematiken (wenn es so etwas wie ›Neues‹ überhaupt gibt). Historische Bezüge zur Theater-, Performance-, Tanz- sowie Kulturgeschichte lassen sich für alle vier Themenfelder unschwer herstellen, z.T. greifen die Performer*innen bewusst und explizit auf historische Performances oder vergangene Stile zurück, wie später noch genauer am Beispiel von Antonia Baehrs Drag-Performance erläutert werden wird. Der Schwerpunkt meines Beitrags liegt indes bei der Gegenwart; das Verhältnis historischer und
»Die Kategorie ›Gender‹ in der Theaterwissenschaft und im Gegenwartstheater«, in: Karoline Spelsberg-Papazoglou (Hg.), Gender und Diversity – die Perspektiven verbinden, Berlin/Münster 2016, S. 28-39; Schrödl, Jenny: »Gender Performances. Theaterwissenschaftliche Perspektiven und Problematiken«, in: etum 1/1 (2014), S. 33-52.
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zeitgenössischer künstlerischer Auseinandersetzungen mit Gender ist ein ebenso spannendes wie notwendiges Thema, das in Zukunft stärker zu erforschen sein wird.
NACKTHEIT Ein zentrales Thema sowie eine ästhetische Strategie in Bezug auf die Inszenierung und Verhandlung von Geschlecht in den performativen Künsten stellt die Nacktheit dar, die explizite Entblößung der Körper und damit oftmals der geschlechtlich codierten Körper der Performer*innen oder Tänzer*innen. Ganz unterschiedliche Umgangsweisen lassen sich hierbei finden: So nutzt etwa Mette Ingvartsen in ihren Performances Nacktheit auf verschiedene Weisen, in 69 Positions (2014) z.B. wird der nackte Körper als Archiv, als Kostüm, aber auch als überschüssige Materialität eingesetzt und erfahrbar gemacht. Eine wesentliche Rolle spielen zudem nackte männliche Körper, so bemerkt Katharina Pewny ein »geradezu obsessives Verbergen und Zeigen nackter männlicher Genitalien« 2, man denke z.B. an Tanzperformances von Xavier Le Roy oder Jochen Roller. Darüber hinaus wird versucht, Nacktheit jenseits eindeutiger geschlechtsspezifischer Codierungen und Zuordnungen in Szene zu setzen. Ein Beispiel dafür ist other feature (2002) von Saskia Hölbling, die mit ihrer Rückenansicht des Körpers versuchte, Körper als Material jenseits geschlechtlicher und anderer Codes zu zeigen. Auf diese Weise sollten neue Wahrnehmungs- und Denkräume entstehen: »Das Abtragen der sozialen Hülle und Fülle öffnet neue Erfahrungsräume und Einsichten, die in dieser Weise, roh und ›unzivilisiert‹ und in unsere Seh-, Assoziations- und Denkkontexte rückgeführt, ganz neue Ansichten und Gedankenverknüpfungen erlauben.«3
2
Pewny, Katharina: »Männlichkeiten im Blick der feministischen Performance Studies«, in: Andrea Ellmeier/Doris Ingrisch/Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.), Gender Performances. Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film, Wien/Köln 2011, S. 125138, hier S. 131.
3
Vgl. Hölbling, Saskia: »Gender Shifts«, in: A. Ellmeier/D. Ingrisch/C. WalkensteinerPreschl (Hg.), Gender Performances, S. 139-151, hier S. 140. Zur Kritik an dieser Arbeit von Hölbling und inwiefern das De-Gendern dabei gerade nicht aufgeht, sondern vielmehr Weiblichkeitsstereotype wiederholt: Foellmer, Susanne: »Un/Doing Gender. Markierungen und Dekonstruktionen der Inszenierung von Geschlecht in zeitgenössischen Tanzperformances«, in: M.-L. Angerer/Y. Hardt/A.-C. Weber (Hg.), Choreographie – Medien – Gender, S. 139-155.
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Dass nackte Körper immer nur temporär und prozessual bestimmten geschlechtlichen Zeichen- und Deutungsprozessen ausgesetzt sind, zeigt die Untitled Feminist Show (2012) der amerikanischen Theaterregisseurin Young Jean Lee, die im Jahr 2014 im HAU gastierte. Eine Gruppe von sechs Performer*innen steht hier eine Stunde unbekleidet auf der Bühne und präsentiert lust- und humorvoll, mit viel Energie und großem Selbstbewusstsein anhand von Bewegungen, Gesten, Mimiken und Körperhaltungen Vorstellungen von Weiblichkeit und weiblichen Rollen, die quasi vorübergehend figuriert und dargestellt, gleichfalls von weiteren Bildern abgelöst und fallen gelassen werden. Der erste Teil der Performance kreist um traditionelle Frauenbilder, die in der westlichen Kultur oftmals negativ besetzt sind und z.T. belächelt werden, wie Hexen im Märchen, Frauen im Haushalt oder feen- und mädchenhafte Spiele; Lee und ihren Performer*innen geht es dabei aber nicht primär um Kritik an diesen Bildern, sondern um eine selbstbewusste Aneignung, Affirmation, ja sogar Glorifizierung dieser. 4 Im zweiten Teil geht es dann stärker um die Vielfalt dessen, was mit menschlichen und vor allem weiblichen Körpern getan werden kann und wozu Körper fähig sind – im positiven wie negativen Sinne. Gleichzeitig verdeutlichen die Performer*innen mit dem Auftritt ihrer nackten Körper, dass sie sich keinen Normen weiblicher Körperlichkeit, die u.a. mit Schlankheit und Jugendlichkeit assoziiert ist, unterwerfen. Dafür hat Lee eine möglichst große Bandbreite an unterschiedlichen Körpern gecastet, wie sie selbst in ihrem Skript zur Performance schreibt: »The production team and cast should be as diverse as possible. To that end, it is important that the performers represent a range of body types. […] The performers playing PERFORMER 1 and DANCER 1 should be full-figured/people of size. PERFORMER 1 should have a female-coded body. […] The performer playing PERFORMER 2 should be a transgender or gender non-conforming person who is a good actor.«5
Wie Ulrike Traub in ihrer Studie zu Theater und Nacktheit herausgearbeitet hat, drehen sich die Vorstellungen zum (nackten) Körper seit den 1990er Jahren vorwiegend um Selbstkontrolle und Selbstoptimierung, um eine fortwährende objektivierende Gestaltung des Körpers: »Es genügt nicht mehr, einen Körper zu haben, dieser manifestiert nicht mehr das Subjekt Mensch, sondern wird zum Objekt, das
4
Lee, Young Jean: Untitled Feminist Show. Unveröffentlichtes Skript, New York 2012, S. 25.
5
Ebd., S. 6.
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es zu gestalten gilt.«6 Der schlanke, unbehaart-glatte, junge, androgyne, durch Schönheitsprodukte und -industrie relativ uniform modellierte Körper bildet nach Traub das normative Ideal. »Neben der Uniformierung des Aussehens innerhalb der Geschlechtergrenzen ist eine An gleichung des weiblichen Schönheitsideals an die männliche Statur zu beobachten. Das neue Ziel ist der androgyne Einheitskörper. Galten früher ausgeprägte weibliche Formen wie die Marilyn Monroes als Ideal, ist es heute ein schmaler Körperbau.«7
Die Performer*innen in Untitled Feminist Show präsentieren sich entgegen dieser körperlichen Ideale des uniform Schmalen als körperlich sehr heterogen, in verschiedenen Formen, Breiten und Längen, mit langen und kurzen Haaren und dazu offensiv fröhlich, selbstbewusst und raumeinnehmend: Sie hüpfen und tanzen ausgiebig, headbangen von der Rampe, springen von der Bühne – sie zelebrieren also ihre Anwesenheit, bejahen ihre je individuelle Körperlichkeit und führen so eine »mögliche Vielfalt, weiblich und schön zu sein, vor Augen«8.
FRAUEN UND ARBEIT(SLOSIGKEIT) Wie die Untitled Feminist Show bereits andeutet, ist ein weiteres zentrales Themenfeld das im Zusammenhang mit Gender wahrscheinlich klassischste Thema: Weiblichkeit oder Frauen. Auch wenn der Gender Turn parallel zur Ablösung der Frauen- zur Geschlechterforschung in der Wissenschaft seit den 1990er Jahren ebenso in den darstellenden Künsten stattgefunden hat und neben Weiblichkeit/Frauen nun vermehrt Männlichkeit/Maskulinität/Männer zum Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzungen wurde und wird, lässt sich dennoch bis heute eine stärkere Tendenz der Thematisierung von Frauen und Weiblichkeit finden. Dabei spielen die geschlechtsspezifischen Zuschreibungen bzw. NichtZuschreibungen durch das Publikum und durch die Kritik eine wichtige Rolle. Einzelne (männliche) Performer werden nach wie vor weniger mit der Thematisierung von Männlichkeit in Verbindung gebracht, selbst wenn sie diese offensiv
6
Traub, Ulrike: Theater der Nacktheit. Zum Bedeutungswandel entblößter Körper auf der Bühne seit 1900, Bielefeld 2010, S. 304.
7
Ebd., S. 307.
8
Rost, Katharina/Schrödl, Jenny: »Körperlichkeit, Materialität und Gender in Theater und Theaterwissenschaft«, in: Open Gender Journal 1 (DOI: 10.17169/ogj.2017.8), S. 11.
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– etwa in Form nackter männlicher Genitalien – zur Schau stellen.9 Männer erscheinen immer noch dann als selbstverständlich ›männlich‹, wenn diese Männlichkeit gerade unmarkiert und nicht-thematisiert ist und bleibt – so werden Inszenierungen aus Tanz und Performance oftmals wieder in konventionelle und traditionelle Genderrahmen gebracht. Im experimentellen Theater, im Tanz und in der Performancekunst gibt es wiederum eine Vielzahl an Arbeiten, die bewusst und offensiv weibliche Rollen, Figuren oder Bilder thematisieren. Zu denken ist beispielsweise an She She Pop, die u.a. familiäre Rollen und Beziehungen beleuchten, wie Mutter-Tochter-Rollen in Frühlingsopfer (2014) oder in 7 Schwestern (2010). Annabel Guérédrat verhandelt in ihrer Performance A FREAKSHOW FOR S. (2014) Handlungsspielräume von sexualisierten Schwarzen Frauen; unter dem Titel Colored women in a white world organisierte sie ab 2013 ein Projekt mit verschiedenen Künstlerinnen of Color, in dem sie der Frage nachging, ob sie nach 130 Jahren immer noch Frauen of Color in einer weißen Welt sind. Die Gruppe Henrieke Iglesias thematisiert in ihren Arbeiten ganz verschiedene, primär weiße Weiblichkeiten, u.a. ›böse‹ Frauen in Grrrrrl (2016), weibliche Vorbilder in Heldinnen (2017) oder mediale Frauenbilder angelehnt an Germanys Next Topmodel in Wir haben heute leider ein Foto für dich (2014). Ein wesentliches Thema ist der Zusammenhang von Frauen und Arbeit (z.T. sollte man besser sagen: von Frauen und Arbeitslosigkeit) und der damit verbundenen Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, was die Bezahlung und den Status anbelangt. Diese Aspekte werden inzwischen (und dennoch erstaunlich spät) vielfach öffentlich verhandelt, sei es auf Workshops oder im Rahmen von Initiativen, wie dem 1. Treffen der Theatermacherinnen (März 2018, Bonn)10 und dem Verein Pro Quote Bühne, der 2017 gegründet wurde.11 In dem von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Bericht Frauen in Kultur und Medien (2016) erscheinen folgende Zahlen: Im Jahr 2014 sind nur 30 Prozent Frauen für Regie
9
So bemerkt etwa Susanne Foellmer in Bezug auf eine der zentralen Tanzperformances der letzten Jahrzehnte, Xavier Le Roys Self Unfinished (1998), dass diese in Kritiken in der Regel auf das »innovative ästhetische Potential« hin untersucht wird und nicht in Bezug auf »genderspezifische Phänomene«. S. Foellmer: »Un/Doing Gender«, S. 143, Fußnote 10.
10 O.A.: »Burning Issues. Theatermacherinnen tagen in Bonn«, Siehe https:// www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article &id=15134:theater macherinnen-tagen-in-bonn&catid=126:meldungen-k&Itemid=100089 vom 12.03. 2018. 11 Siehe https://www.proquote-buehne.de/
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und Spielleitung zuständig, 47 Prozent, also fast die Hälfte, arbeiten im Schauspiel und 80 Prozent Frauen soufflieren. 12 Entsprechend lässt sich für den Theaterbereich nach wie vor konstatieren: Die mächtigeren, besser bezahlten Führungspositionen sind nach wie vor männlich dominiert, die am wenigsten mächtigen, zuarbeitenden, quasi unsichtbaren Tätigkeiten nach wie vor weiblich. Auch die freie Szene ist vor Machtgefällen, Geschlechterungleichheiten und prekären Arbeits- und Lohnsystemen nicht gefeit – hier fällt aber, wie die Gründerinnen von Pro Quote Bühne bemerken, ein nahezu gegenteiliges Bild zu den Stadt- und Staatstheatern auf: In der freien Szene »tummeln sich sehr viele Frauen. Das ist der Niedriglohnsektor. Wenn man sich die Leitungen der freien Häuser z.B. in Berlin anschaut: Die Sophiensäle, das HAU, der Heimathafen Neukölln sind alle von Frauen geleitet. Es gibt auch viel mehr weiblich besetzte Kollektive.«13 Eine Inszenierung, die diese prekären Arbeitsverhältnisse für Frauen parodistisch überspitzt und humorvoll aufgreift, ist Vanessa Sterns Die Umschülerinnen oder Die Komödie der unbegabten Kinder (2018). Sechs Performerinnen begeben sich in eine Art therapeutischen Gesprächskreis, in dem die jeweilige Situation als prekär arbeitende oder (bald) arbeitslose Schauspielerin und Künstlerin thematisiert wird. Abgesehen davon, dass die Performerinnen ganz unterschiedliche Begründungen aufmachen (wie das Frausein an sich, ein bestimmtes Alter und Kinder habend, aus einer anderen Kultur kommend etc.), etablieren sie die Idee von Umschulungen, die sie dann ad absurdum führen. So kommen sie zu der Erkenntnis, dass nicht die Umschulungen der Weg sind, sondern die Verweigerung von Begabung und weiteren Selbstoptimierungsfantasien. Hinzu kommen das explizite Hässlich-Machen mit künstlichen Gebissen und Tierkostümen, wodurch sich die Performerinnen gängigen Attraktivitätsnormen entziehen. Sie entwickeln die »12 Schritte der unbegabten Umschülerinnen«, in denen es u.a. heißt: »Wir hören auf, irgendeine Begabung in uns zu suchen«. Oder: »Wir machen allen Menschen
12 Schulz, Gabriele/Ries, Carolin/Zimmermann, Olaf: Frauen in Kultur und Medien. Ein Überblick über aktuelle Tendenzen, Entwicklungen und Lösungsvorschläge, Berlin: 2016,
(https://www.kulturrat.de/wp-content/uploads/2016/12/Frauen-in-Kultur-und-
Medien.pdf), S. 85. 13 Diesselhorst, Sophie/Peter, Anne: »Es braucht Vitamin V. Der Verein ›Pro Quote Bühne‹ fordert eine Frauen-Quote für das Theater – ein Interview mit den Regisseurinnen und Mitgründerinnen France-Elena Damian und Angelika Zacek«, Siehe https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id= 14520: der-verein-pro-quote-buehne-fordert-eine-frauen-quote-fuer-das-theater-ein-interviewmit-den-regisseurinnen-und-mitgruenderinnen-france-elena-damian-und-angelika-za cek&catid=101&Itemid=84 vom 16.10.2017.
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klar, dass sie nichts mehr von uns zu erwarten haben.« Auf den ersten Blick unterlaufen und verweigern sie sich so neoliberalen Forderungen von kreativer Selbstoptimierung, indem sie nichts tun, indem sie sich verweigern, etwas unterlassen – was aber schlussendlich nicht zu unterlassen ist (wie ließe sich Begabung unterlassen?) – und diese Paradoxie, dieser Widerspruch macht die Komik der Situation aus sowie das gelöste Lachen des Publikums. Anders gesagt: Stern und ihre Mitstreiterinnen antworten den neoliberalen Anforderungen nicht einfach mit Verweigerung und Entzug (oder nicht nur), sondern mit Komik, Humor und Lachen, also mit ebenso traditionsreichen wie oft unterschätzten Formen der Kritik.
UN/DOING DRAG Steht bei dieser und vergleichbaren Inszenierungen vorrangig das weibliche Geschlecht im Fokus und damit implizit ebenfalls das andere, männliche Geschlecht, so ist gleichzeitig eine starke, fast gegensätzliche Tendenz in der zeitgenössischen Genderästhetik zu beobachten, nämlich sich derartigen Zuschreibungen auf ein Geschlecht bzw. auf zwei Geschlechter zu entziehen. Im Vordergrund stehen Dynamiken der Loslösung aus dem binären Schema von Geschlecht, was mal offensiv und aggressiv, mal hintergründig und subtil geschehen kann. Für diese GenderPerformances kursieren verschiedene Begriffe: genderqueer, genderneutral, trans*, nicht-binär, agender (u.a.). Die Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Bezeichnungen sind dabei durchaus intendiert und gewollt, geht es doch gerade darum, Grenzen von Bezeichnungssystemen und Kategorisierungen auszuweisen, zu kritisieren und Veruneindeutigungen, auch in der Sprache, zu schaffen. Gemeinsam ist diesen Konzepten von Genderqueerness, Trans* und NichtBinärem eine Verweigerung der identitären Zuordnung, eine Verweigerung, den gesellschaftlich zugewiesenen und intelligiblen Ort des einen oder des anderen Geschlechts einzunehmen; sich demgegenüber in einer Zone der Unbestimmtheit/-barkeit wie der Uneindeutigkeit und Ambiguität aufzuhalten. Damit schließt die aktuelle Bewegung des Non-Binären ganz bewusst an queere Theorien und LGBTQI-Bewegungen an.14 In künstlerischen Performances wird dabei mit unterschiedlichen ästhetischen Strategien gearbeitet, um solche uneindeutigen und nicht-binären Entwürfe her- und auszustellen, z.B. mit doppelten oder mehrfachen geschlechtlichen Codierungen einer Person, wie es bereits Eszter Salamon in ihrer Tanzperformance Reproduction (2004) genutzt hat; weitere ästhetische Strategien
14 Vgl. Bergman, Bear. S./Barker, Meg-John: »Non-Binary Activism«, in: Christina Richards/Pierre Walter Bouman/Meg-John Barker (Hg.), Genderqueer and Non-Binary Genders, London 2017 (DOI 10.1057/978-1-137-51053-2_3), S. 31-51, hier S. 32f.
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sind Stimme, Sprache und Narration, etwa bei Xenia Taniko Dwertmanns Performance Not your man (2018), in der der*die Performer*in von ihrer*seiner Kindheit berichtet und sich als Mädchen und gleichermaßen als Junge bezeichnet oder bei T/HE/Y (2015) von und mit Océan LeRoy, Black Cracker, Josep Caballero Garcia, die von ihren Trans*-Identitäten erzählen. Eine fast schon als klassisch zu bezeichnende ästhetische Strategie, eine solche Veruneindeutigung herzustellen, ist Drag. Die gegen- oder andersgeschlechtliche Performance via Kleidung, Frisur, Make-up, Gestik, Mimik, Proxemik oder Stimme vermag im Spalt zwischen körperlichem und sozialem Geschlecht die Frage von Original und Kopie zu verwirren, die Konstruiertheit von Geschlecht auszustellen und Binarität in Zweifel zu ziehen, wie Judith Butler, Marjorie Garber (u.a.) bereits ausführlich dargelegt haben.15 Drag kann eine Möglichkeit sein, eine uneindeutige, nicht-binäre sexuell-geschlechtliche Position zu schaffen, die gleichzeitig weiblich-männlich oder nichts von beidem bedeuten kann. Dass Drag zu den Standards geschlechtlicher Inszenierung, auch in den zeitgenössischen darstellenden Künsten gehört, muss nicht extra betont werden. Dennoch, so meine Beobachtung, lässt sich eine besondere Tendenz feststellen, die ich als Un/Doing Drag bezeichnen möchte. In diesen Performances spielt Geschlecht via Drag eine Rolle, wird aber nach der Thematisierung als nicht so relevant gesetzt und in den Hintergrund der Aufmerksamkeit verschoben. Ganz im Sinne von Stefan Hirschauers Begriff des »undoing Gender« gibt es zwar einen Ausweiszwang von Geschlecht, doch keine Permanenz dieses Zwanges oder ein Zwang der dauerhaften Relevanzsetzung.16 Nach Hirschauer müssen wir davon ausgehen, »dass das Elementargeschehen der Geschlechtskonstruktion aus Episoden besteht, in denen das Geschlecht in sozialen Situationen auftaucht und verschwindet«17. Ein Beispiel dafür sind Antonia Baehrs Performances: In den meisten ihrer Inszenierungen, bei denen sie selbst performt, tritt Baehr in Drag auf – mit kurzen, oft nach hinten gelegten Haaren, rasierten Schläfen, dreiteiligem Hosenanzug und
15 Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1990, S. 202ff.; Garber, Marjorie: Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst, Frankfurt am Main 1993, S. 22ff. 16 Vgl. Hirschauer, Stefan: »Die Praxis der Geschlechter(in)differenz und ihre Infrastruktur«, in: Julia Graf/Kristin Ideler/Sabine Klinger (Hg.), Geschlecht zwischen Struktur und Subjekt. Theorie, Praxis, Perspektiven, Opladen/Berlin/Toronto 2013, S. 153-171, hier S. 160. 17 Ebd.
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manchmal mit Krawatte. Dies fällt zunächst als deutliche Markierung von Geschlecht und als Drag auf, so dass nahezu alle Kritiker*innen und Wissenschaftler*innen darauf verweisen. Gerald Siegmund schreibt beispielsweise in seiner Analyse von Baehrs Rire/Laugh/Lachen (2008): »Zu Beginn des Stücks tritt Antonia Baehr vors Publikum, im altmodisch wirkenden dreiteiligen Herrenanzug mit Krawatte, die Haare streng nach hinten gekämmt«18. Hernach aber spielt Geschlecht als Thema und die Drag-Performance als explizite Strategie kaum eine Rolle; Geschlecht rückt in den Hintergrund der Aufmerksamkeit, ja wird beiläufig, während andere Themen und Fragestellungen in den Vordergrund treten: Bei Rire/Laugh/Lachen (2008) sind es verschiedene Formen des Lachens, bei Abecedarium Bestarium (2013) sind es ausgestorbene Tiere oder das TierMensch-Verhältnis (u.a.). Zwei Aspekte sind hieran bemerkenswert: Der erste Aspekt betrifft die Herausstellung der Zeitlichkeit von Drag und Gender. Letzteres erscheint und verschwindet, taucht wieder auf, verschwindet etc. Diese Prozessualität von Geschlecht tritt bei Antonia Baehr noch stärker hervor, da es oft Teile in ihren Performances gibt, die nach einem gewissen Abklingen bzw. Verschwinden von Gender, es wieder zum Erscheinen bringen und in den Vordergrund rücken. Dies ist etwa bei Abecedarium Bestarium die Sequenz, in der Baehr den Bauch raushängt, sich eine Elvis-Tolle macht, die Lederjacke überstreift und als rockender Delphin-Sänger performt. Die zeitliche Dimension von Gender wird bei Baehr zudem noch betont durch die Antiquiertheit ihres Anzuges, der merkwürdig aus der Zeit fällt oder aus einer anderen Zeit zu kommen scheint, wie Siegmund sagt, der »altmodisch« ist. Baehr wird des Öftern als Dandy oder als dandyhaft beschrieben, mit einem Konzept also, dem ebenfalls etwas ›Altes‹ und Anachronistisches anhaftet. Baehrs Drag-Performance lässt sich diesbezüglich mit Hilfe des Konzepts »temporal Drag« verstehen, welches Elizabeth Freeman ursprünglich mit anachronistischen Inszenierungen von Geschlecht und Sexualität in Verbindung gebracht hat;19 wenn sich beispielsweise Lesben in den 1990er Jahren stärker mit Inszenierungs- und Verkörperungsformen der 1970er oder -80er Jahre identifizieren als mit den je aktuellen lesbischen Stilen und Erscheinungsformen.
18 Siegmund, Gerald: »Affekte ohne Zuordnung – Zonen des Unbestimmbaren: Zu den Choreographien von Antonia Baehr«, in: Martina Gross/Patrick Primavesi (Hg.), Lücken sehen … Beiträge zu Theater, Literatur und Performance, Heidelberg 2010, S. 303-318, hier S. 304. 19 Vgl. Freeman, Elizabeth: »Packing History, Count(er)ing Generations«, in: New Literary History: A Journal of Theory & Interpretation 31 (2000), S. 727-744, hier 728f.
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Temporal Drag steht so im Gegensatz zu abfälligen oder herabsetzenden Umgangsweisen mit vergangenen Stilen sexuell-geschlechtlicher Performanz, die als essentialistisch, biologistisch oder schlicht altmodisch und out of time, als rückständig abgewertet und z.T. ausgeschlossen werden.20 Der zweite Aspekt betrifft die Funktion des Drag innerhalb eines Prozesses des Undoing Gender. Denn, man könnte sich natürlich fragen, warum überhaupt mit Drag gearbeitet wird, wenn Drag und sexuell-geschlechtliche Erscheinung ohnehin in den Hintergrund rücken – dann hätte man sich Drag ja sparen bzw. eine unauffälligere geschlechtliche Inszenierungsform wählen können. Zunächst einmal besteht die Paradoxie des Nicht-Tuns nun einmal darin, immer auch etwas zu tun, um als Nicht-Tun in Erscheinung zu treten. Hier kommt meines Erachtens noch ein weiterer Punkt hinzu: Bislang habe ich recht pauschal von Nicht-Tun, Un-Doing, Nicht-Relevanzsetzung (o. Ä.) gesprochen, genauer gesagt müsste man jedoch eher von so etwas wie »Mit-Relevanzsetzung« oder einem »Mit-Tun« ausgehen. Geschlecht steht mit der Drag-Performance von Baehr zwar nicht im permanenten Mittelpunkt, aber es steht auch nicht völlig außerhalb der Wahrnehmung, es ist nicht nicht-markiert, sondern es wird immer MIT-thematisiert. Das Un/Doing Drag von Baehr – und damit überschreitet sie das Undoing Gender von Hirschauer – geht im binären Schema von Vordergrund/Hintergrund, Mittelpunkt/Rand, Tun/Nicht-Tun nicht auf, sondern sprengt diese Binarismen. Und dieses MIT(laufen) des Drag – so meine These – bestimmt dann weitere Bereiche der Performance (wie das Lachen, die Tiere usw.) als queer, insofern Drag die Funktion übernimmt, diese anderen Bereiche zu queeren bzw. als queer lesbar zu machen.
MATERIALIEN, DINGE UND QUEERNESS Eine weitere Thematik nimmt im zeitgenössischen Tanz und in der Performancekunst einen zunehmend größeren Stellenwert ein, der mal mehr und mal weniger explizit mit dem New Materialism assoziiert wird: die Materialien und Dinge sowie ihre Relationen, Verstrickungen und Versammlungen mit und ohne Menschen. Der spezielle, eigenständige Status von Materialien und Dingen wird in verschiedenen Arbeiten in engem Zusammenhang mit Gender, queerer Körperlichkeit, Sexualität, Erotik und Begehren zur Erscheinung gebracht, z.B. in Biofiction (2016) von Simone Aughterlony, Hahn Rowe, Petra Hrašćanec, in Sheena McGrandles und Zinzi Buchanans Steve and Sam’s Man Power Mix (2015) oder in Jeremy Wades Drawn Onward (2015).
20 Vgl. ebd. sowie Lorenz, Renate: Queer Art. A Freak Theory, Bielefeld 2012, S. 103.
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In der Tanzperformance Biofiction von Simone Aughterlony verstricken sich die Performer*innen wiederholt im wörtlichen wie übertragenen Sinne mit den vorhandenen Dingen: Es wird Holz gehackt, das durch den Raum fliegt, verschiedene Hölzer und Materialien erklingen, die beiden Performerinnen verwickeln sich in das Holz und in ein Seil, entwinden sich wieder, das Aus- und Anziehen erhält eine besondere Bedeutung und lässt Kleidung als markantes Ding und ihre je spezifische Materialität hervortreten usw. In einer Szene sind die beiden Frauen nackt, berühren sich gegenseitig, reiben sich aneinander – zwischen ihnen ist ein größerer Ast, der gehalten, gedreht und verschoben wird, an dem sie sich reiben und verausgaben. Wirkt dies zunächst wie eine umständliche Sexszene, konnte ich im Verlauf dennoch einen gewissen Kippmoment wahrnehmen, der den Status des Dinges – hier den des Astes – betrifft. Erschien es mir anfangs noch so, als machten die Performerinnen etwas mit dem Ast im Sinne eines Objekts, das man gebraucht, so kippte meine Wahrnehmung im Fortgang der Szene insofern, dass ich plötzlich den Ast als etwas wahrnahm, das etwas mit den Performerinnen machte. Mit anderen Worten: Das Ding erhält einen eigenständigen, aktiven, prozessualdynamisierenden Status und ist nicht mehr auf ein vermeintlich sekundäres (und stabilisierendes) Objekt reduzierbar. Damit trifft sich die Performance mit den Vertreter*innen des New Materialism (wie Louis Althusser, Jane Bennett, Brian Massumi, Michel Serres oder Isabelle Stengers), denen die eigengesetzliche, dynamisierende und verflüssigende Qualität von Materie und Dingen wichtig ist. 21 Ding, so Bruno Latour mit Rückgriff auf die Etymologie des Wortes aus dem althochdeutschen Wort ›thing‹, bedeutet kein einheitlicher Gegenstand, sondern heterogene Versammlungen oder assemblages.22 So formuliert auch Simone Aughterlony zum Umgang mit den Dingen in ihrer Performance: »Wir griffen auf die Materialien zurück, die wir als Dinge und nicht so sehr als Objekte benutzt haben. Wir fragten nicht ›Was kann ich damit tun?‹, sondern nahmen eine nicht besitzergreifende Haltung ein und halfen den Materialien, ihre eigene ›Dinglichkeit‹ darzustellen. Ein Objekt ist ja etwas, das sich das Subjekt aneignet; ein Ding dagegen bedeutet, dass etwas ›anders‹ erscheint und auf diese Weise unheimlich wird. Sich dem Ruf der Dinge
21 Vgl. Folkers, Andreas: »Was ist neu am neuen Materialismus? – Von der Praxis zum Ereignis«, in: Tobias Goll/Daniel Keil/Thomas Telios (Hg.), Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus, Münster 2013, S. 17-34, hier S. 21f. 22 Latour, Bruno: Das Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich/Berlin 2007, S. 23f.
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und dem engen Verhältnis zwischen den Dingen zu widmen, ließ temporäre Assemblagen entstehen, aus denen dann wiederum Hybridkörper entstanden.«23
An dieser Beschreibung und Wortwahl wird eine vertiefte Auseinandersetzung mit Positionen des New Materialism deutlich, an anderer Stelle erwähnt sie explizit Jane Bennetts Text Vibrant Matter24. Und dennoch geht die Performance gerade in ihrer queeren Erotik und Sexualität über die geläufigen Theorien des New Materialism hinaus. Denn, wie Aughterlony betont, ginge es bei Biofiction nicht nur um einen neuen Umgang und veränderten Status der Dinge, sondern ebenso um eine bestimmte Form queerer Erotik und Sexualität, die sie als utopisch, als zukünftig entwirft. Im Ankündigungstext heißt es entsprechend: »Die Neuorientierung und Reklassifizierung der Sinne generiert ein queeres Bewusstsein und schafft eine Landschaft, die sowohl gegenwärtig als auch utopisch ist. Wir sehen Stereotypien und Prototypen, wir erkennen Verwechslungen und freuen uns an ihnen, vielleicht lachen wir sogar, ohne es zu wollen. Biofiction als Narration einer Sexualität, die es noch nicht gibt, sorgt für anhaltende Neugierde, stellt sich gegen Konventionen, gegen Zuordnungen, und schafft aus der choreographischen Arbeit eine anhaltende Praxis von Weltenbau.«25
Was sich in den Bemerkungen andeutet und in der Performance markant wird, ist eine andere Art von Kritik. Grundsätzlich lässt sich in Bezug auf ein kritisches Potenzial bei Inszenierungen von Geschlecht in den freien darstellenden Künsten zweierlei beobachten: Einerseits ist festzustellen, dass Kritik an stereotypen Ge-
23 Aughterlony, Simone/Müller, Dominikus: »›Ich beschäftige mich mit dem Bau von Realitäten, die einmal existieren sollen oder für die wir noch keinen Namen haben.‹ Die Choreografin und Tänzerin Simone Aughterlony im Gespräch mit Dominikus Müller«, Siehe http://performanceprocessbasel.ch/journal/ich-besch%C3%A4ftige-mich-mitdem-bau-von-realit%C3%A4ten-die-einmal-existieren-sollen-oder-f%C3%BCr-diewir-noch-keinen-namen-haben vom 24.09.2017. 24 Vgl. Bennett, Jane: Vibrant Matter. A political Ecology of Things, Durham/London 2010. 25 S. Aughterlony/D. Müller: »›Ich beschäftige mich mit dem Bau von Realitäten, die einmal existieren sollen oder für die wir noch keinen Namen haben.‹« Siehe http://performanceprocessbasel.ch/journal/ich-besch%C3%A4ftige-mich-mit-dem-bau -von-realit%C3%A4ten-die-einmal-existieren-sollen-oder-f%C3%BCr-die-wir-nochkeinen-namen-haben vom 24.09.2017.
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schlechterbildern und -verhältnissen vor allem im Zusammenhang mit Übertreibung, Parodie, Komik, Lachen nach wie vor hoch im Kurs steht, wie weiter oben anhand der feministischen Performances von Lee und Stern beschrieben wurde. Andererseits zeigen u.a. die queeren Performances von Baehr und Aughterlony eine andere Form von Kritik: Hier steht nicht (ausschließlich) eine Kritik an oder gegen Etwas im Vordergrund, im Gegenteil, es wird sich z.T. gar nicht so sehr mit vorhandenen (politischen, sozialen, kulturellen etc.) Gegebenheiten auseinandergesetzt, die zur Disposition stehen könnten. Vielmehr liegt die Betonung auf dem Schaffen von Situationen, die sich an einem irgendwie Möglichen, vielleicht Besseren, auf jeden Fall anderen Zukünftigen oder generell Anders-Zeitlichen (wie das Konzept des temporal Drag bereits manifestierte) abarbeiten. Kritik lässt sich damit nicht mehr allein als eine Art intellektueller Distanzierung und Entlarvung verstehen, eher als ein Versammeln, Hin- und Aus-Stellen oder Sorge-Tragen. Ähnlich formuliert Bruno Latour seine neue Vorstellung von Kritik und Kritiker*in: »Der Kritiker [sic!] ist nicht derjenige, der entlarvt, sondern der, der versammelt. Der Kritiker ist nicht der, der dem naiven Gläubigen den Boden unter den Füßen wegzieht, sondern der, der den Teilnehmern Arenen bietet, wo sie sich versammeln können. Der Kritiker ist […] derjenige, für den, was konstruiert wird, zerbrechlich ist und der Pflege und der Vorsicht bedarf.«26
Ein zentraler Begriff, der des Öfteren in diesem Zusammenhang von den Künstler*innen genannt wird, ist der der Utopie. Betont wird dabei stärker ein affirmativer, bejahender kreierender Gestus als ein abgrenzender, subversiver oder dekonstruktiver. Man könnte von einer wieder stärkeren Tendenz zur Utopie als zur Heterotopie sprechen. Wie diese Art der Kritik, die sich nicht mehr vollständig mit der distanzierenden-dekonstruktiven, ja westlichen Form von Kritik fassen lässt, genauer bestimmt werden könnte und inwiefern diese überhaupt als politisch zu verstehen ist oder auch nicht – diese und viele weitere Aspekte gehören zu den relevanten Forschungsfragen, die zukünftig näher untersucht werden müssen.
26 B. Latour: Das Elend der Kritik, S. 55.
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I’m Gonna Need Another One Jen Rosenblit
I’m Gonna Need Another One is a performative line, a poetic, a title, a motto that I currently engage in my performance-making research to speak about the endless, the things we do not yet know. A constant tasting, a re-tasting, a going-back-in, a short pause, a re-start. In this chapter, I will consider ideas, practices, representations, problems and feelings around gender on the stage by sharing a body of my performance texts in which I linguistically track the disappearance or fleeting temporality of the body, or maybe as close as we can come to meaning – where absence is as confusing, expansive and immeasurable as the constructs of genders as we think we know them. I find gender to be as complicated to hold on to as most things that we have practices of naming, yet not as much practice with holding them, as complex systems that we are moving toward, rather than pinning down. Gender is around, I wouldn’t want to come across as so idealistic as to suggest that I don’t see it, or it doesn’t matter. I play into it, I play with it, I am held down by it and misunderstood in relation to it very often. When it comes to considering gender on the stage, I am even more confused. Is the stage the perfect place to play with constructs, or the most impossible place? Is the most impossible place the perfect place? These texts hover around most things, gender included. I use the English language in a flexible way, not bound to proper sentence structure or even pronoun address. Making sense is something I am interested in doing but not bound to. As we read on, consider that a table could be a person, a thing could be a memory and a fantasy could manifest in the form of a chair or wanting more chairs. I never mean one thing. I am trying to tangentially track meaning to be as multiple as the representation or feeling or insistence of gender seems to be. The first example is a monologue written as a staged script that reads somewhere between a poetic journal entry and a news broadcast. It’s from a work titled Clap Hands where four bodies try to narrate and navigate the text as it is happening. A wrestler, a boxer, a fencer and an unidentified figure rotate around a yellow
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table sitting in the center of the room, while a large stack of bright fuchsia pink felted material demands its own space as the fifth figure.
SCRIPT FOR CLAP HANDS, 2015 It’s quite haunting really. Translator…? (We explain herself, look at each other) (fast and loud eyes closed arms out, ecstatic) I’d like to know where we are if we are not together. I’d like to know where we are if we are not together. (Eyes still closed, swiveling backwards) this is the close close part. I just barely recall you, any of you. (Jacket off) The Mary Celeste was an American merchant ship that was discovered on December 4, 1872, off the Azores Islands, sailing with no one on board and with her lifeboat missing. When found by another Canadian ship, Mary Celeste was in a disheveled but seaworthy condition. She had left New York for Genoa a month previously, and was well provisioned. Her cargo of alcohol was apparently undisturbed, as were the captain’s and crew’s personal belongings. None of those who had been on board were seen or heard from again. The real mystery is not whether, but why the crew abandoned an apparently sound and seaworthy ship, with ample provisions. Commentators agree that, to precipitate such a course of action, some extraordinary and alarming circumstance must have arisen. Perhaps the crew assumed that the ship had taken on more water than she had, and was in danger of sinking. Displaced icebergs. Synonymous with unexplained desertion is invented detail. Swivel spot.
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(like football round-up call – circular ribs and loose arms, maybe something of seduction, something of adult content) From memory, this goes a little something like this. Uh huh. (grab mic, move to chair) It’s in this spot where she would have washed their hands, it would have taken time, it would be sensual and a bit rude, not gentle like you might imagine in some other dynamic, like you might imagine on yourself. (walking to a new spot) It’s here where they bring tongues, rotating. (on table) Her, an abstract landscape painter Her would have positioned right here, covering me. I need to take my time with this. But before all of this there would be a feeding. Opening and closing mouths on each other, sliding down arms across torso we’ve been looking for a way to sit he down, a chair for, a place where. End/as/babies Boy, boy, (I fold felt) Absence has to be organized. The table is not a bed you can position horizontally, laying down, and if the chair is next to the table there is something about sitting and waiting, something about a gathering, what might occur there, nothing for the in between,
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I am broken and you are a pirouette, this will not be clean, this will not manage well. Preparations for leaving. He felts themselves. The chair is now a bit closer to the window. They have moved the table into the center of the room. The sole purpose of this room is just to rest, nothing touching the walls. In fact, most things are free standing. The missing Swivel spot The magician displays a bird cage, holding it between both of his hands. The cage is rectangular, about 6 inches tall by 6 inches wide by 6 inches short by 6 inches high by 6 inches round by 6 inches tight by 6 inches long, and made of wire on all 6 sides. Often there is a bird, though in modern performances of this act it is usually fake. The magician will offer the cage for inspection by an audience member, but he will never actually release his grip of it. Then, without covering the cage, the magician makes a sudden motion and the cage and anything inside vanishes from sight. We went from one thing to the next, we took time between long breaks where feelinglikedonelike, potentially we had fastened every position or like, letting a fade commence. Him has been concerned with the still. With framing time passing. Against an archeology or something linear that talks about reasoning. I have been concerned. A hair grows from its follicle at an average rate of about ½ inch per month. Each hair grows for 2 to 6 years, then rests, and then falls out. A new hair soon begins growing in its place. Baldness occurs when hair falls out and normal new hair does not grow in its place. The reason for female pattern baldness is not well understood, although medically manageable. An aerial view of the head reveals evaporated lake-like formations.
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The missing. But the lake’s size fluctuates substantially due to its shallowness. Remnants of/depositing minerals. No outlet besides evaporation. Uninhabitable for all but a few species, it is a critical nesting area for birds. A solitary Chilean flamingo named Pink Floyd wintered at the Great Salt Lake. He lived in the wild, eating brine shrimp and socializing with gulls and swans. (Pink Floyd is often referred to as a »he«, although the bird’s gender is not actually known.) A group of Utah residents suggested petitioning the state to release more flamingos in an effort to keep Floyd company and as a possible tourist attraction. Wildlife biologists resisted these efforts, saying that deliberate introduction of a non-native species would be ecologically unsound and might have detrimental consequences. Pink Floyd was last seen in Idaho where he was known to migrate. He has not been seen since and is presumed not to have survived the winter. Locals claimed to have seen a large monster with a body like a crocodile and a horse’s head in the lake. They claimed this monster attacked the men, who quickly ran away and hid until morning. An unpredictable disease. In some people, hair grows back but falls out again later. In others, hair grows back and remains. Each case is quite unique. Even if someone loses all of their hair, there is a chance that it will grow back … of course, with varying degrees of effectiveness. You are a pirouette but you take your time on axis touching the walls you will manage this quite well you always do. Start at the table, use the table to put things on. Make sure there are some chairs in case you need to sit. Gather all the things and posture, I mean, position them around you. Create the altar with yourself as central. Broadcast a scenario where your absence is noted. You are dreamed of, longed for. I barely recall you. In the past you have catalogued entrances and exists, actually, for the past three years, maybe four. You have taken your time, you tend not to rush but nothing about you is slow. You have done so much. Memorialized. Please. Don’t. Disappear.
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A phenomenon that occurs when the majority of worker bees in a colony disappear and leave behind a queen. Many possible causes have been proposed, but the syndrome does not seem to be seasonally restricted, and that it may not be a »disease« in the standard sense – that there may not be a specific causative agent, leads to a large amount of speculation. »Disappearing disease«, or, a sudden rash of disappearances, similarly mysterious and unknown. If the queen is not present, the hive died because it was queenless. She would be without clothes. Next to nude. Just so you could see the subtle shifts, the unnoticed. Hailing. Some kind of slow operation. Hailed. Helen, where did you go? I could wear you like a fur, draped. Chantal, where did you go? That body bend. My boyfriends in the band. Stay here now, stay her, no. On certainty, grief tranced. To disappear seems to be something of magic. No offense magicians but this calls for the super real. That was offensive. Lay down on soft goods, slowly, show her the caves you create by position. Show her the escape route, offer up your departure, you could wait in the terminal one more night. They will grow so old together that they will turn back to dinosaurs and our hairs, silver grey. We will still have split ends but they won’t fall in love so easily. We will finally have patience for our mother. Our skin will be rough, I can tell it’s already turning. But before all of this, there will be a feeding. He will come to the altar and slowly bypass the holiness. She will mount the form. She would position right here, covering me.
›Clap Hands‹. Photo: Maria Baranova-Suzuki
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I was busy with architecture as a poetic for the domestic but not necessarily in relation to the family. True stories or situations after a quick google search on »things that disappear« revealed the content I would have to make sense of: The Mary Celeste, an American ship lost at sea, hair loss, the bird in a magic act, Pink Floyd, the flamingo in Utah but also the lake which evaporated and is no longer there and of course, bees. What often is an explanation for a lack of facts or archived information leads to the idea of invented details. I found this problem to be at the center of how we would begin to make meaning for the various sports figures and one more unidentifiable figure, to consider togetherness. We would just make it up as we saw fit. The boxer could be the queen bee, the wrestler could be Pink Floyd, the flamingo. All we had to do was put them in partial relation to each other and tell ourselves that is what was happening. This is where the material felt came in. First of all, that the material is »the felt«; I was able to quickly anoint this stack of material, which means nothing in the context, as the pile of feelings or felt things. We decided that the fencer would be the one most responsible for the felt: The elite figure who spars with another figure who is armored just like the first. The existential duel with oneself. The table became yellow upon reading somewhere that yellow is the most hated color and taking it as a truth without question or further inquiry. So, how would these figures narrate the text, make literal what could be taken as the poetic or outside of literal? How could we move around the most hated color and how could this felted material remain the most abstract subject, especially amongst the bodies or the figure, which in art history, as we know, is the center of meaning, the measure of all things; how could the felt become the soloist? In the end we wrap everything in the felt, we obfuscate ourselves and the room, no yellow remains. And we are all left with the problematics of color. Everything is pink. Suddenly, what people didn’t get the whole time, now they think they do. I didn’t know how to unpack that; I wasn’t sure if I could stand behind that statement when we live in a world that honors and understands people best when they look like one another, are the same color, share the same customs, have the same logic. We understand sameness, or we think we do. I had tapped into an existing problematic and couldn’t bring myself to choreographically change it or create the idea that I as an author am beyond the problem or have an answer to it. So, I had to write another thing; I had to dive back into the poetics to begin to talk about rotation, shifting, role play, fantasy or the imaginary which is often much closer to the mundane or real than we give it credit for. A short epilogue to address a temporality or a further desire even though we had reached the inevitable end of a theatre show which ultimately has so much more meaning than the middle. So, I wrote a fairy tale comprising invented details in the absence of facts. An attempt to dissolve absoluteness, to remember absence, to acknowledge
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a pleasure in making meaning, even if it references or touches what we think we know, but the pleasure is found in the between, the getting there. It was crucial to unwind the landing, the marking of everything being engulfed in the felt: That this moment didn’t supply any more understanding than standing still does.
EPILOGUE FOR CLAP HANDS, 2015 you be the bread and I’ll be the butter you be the monster and I’ll be the hunter I’ll be the butter and you be the beat you be the rhythm and I’ll be the beat you be the rhythm and I’ll be the beat I’ll be the monster and you be the night you be the swivel and I’ll be the spot I’ll be the night and you be the hunter I’ll be the swivel and you be the spot you be the cargo I’ll be the ship you be tomorrow and I’ll be tonight me, honey you be queen I’ll be the queen and you be the night I’ll be the lake you be the monster I’ll be the rhythm and you be the beat you be the absence I’m the lake grab mic, move to chair I’ll be the table and you be the bed, I’ll be on the bed I’ll be the presence and you take note I’ll be the presence, you take note you be the magician and I’ll be the bird I’ll be the terminal and you be the night you be the butter and I’ll be the bread I’ll be the skin he’ll be the charmer you be the snake you be the rhythm and I’ll be the lake
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I’ll be the monster I’ll be tonight
The next work is titled Swivel Spot. It was the companion work to Clap Hands. It was not intended to resemble or make meaning of Clap Hands; for me it was another line of thinking, a deeper inquiry into a cavernous space, with questions of preservation and the endless labor around foreverness. We immediately went toward ideas of death drive, the anus, a graveyard, a recycling shed, a space used to hold things, maybe things that are no longer used but are still lingering around. Two performers who are a bit unaware of each other and again a third, more anonymous figure tending to the space, constantly covering everything and anything in plastic. As if it’s a scene from Samuel Beckett’s Waiting for Godot (1952), we sit, we wait, we eat peanuts, we move about without regard for a future. I emerge with a text as if I’m a football coach or inspirational speaker, ready to usher us into some afterlife, or some place beyond or underneath the performance itself. With a visor around my face the whole time, the speech is the only time I am revealed and the only time I get to see everyone. I’m clutching the podium where my collaborator, Geo Wyeth, begins his silent rant as a preacher with nothing to say but all the will to be there anyway. As I move through the text and shake the podium it begins to look like a walker for an older person or someone in need of an apparatus to give assistance in walking and standing. The materials in the room again begin to demand attention without transformation as an inevitable tool for change. Nothing changes here, except the way we begin to see things. In this text I explicitly use »You« as a way to address the audience, all the while speaking about myself and the other performers, trying to toss around the room the ability or inability to know who is actually being addressed. In the end »You« shifts to »They« maybe in reference to my generation’s demand for more space around the gender binary but maybe also partially to challenge my language, to offer that the misuse of the singular and direction of »You« from the beginning could let its use slide into the unknown and ungovernable »They« or plural, all of us, even more than we could imagine.
MOTIVATIONAL SPEECH FROM SWIVEL SPOT, 2017 You are the bull, your partner, the fighter, an emotional connection with the crowd is transmitted through you. You wear your jacket inside the arena, you perform a series of passes and observe her behavior. At your disposal are various formal moves some of which have meaning, or at least a name.
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You come with entourage: You, of course, will eventually make the final move. You have nothing but time, a condition of waiting. You are the lure, the guide, while the assistants have minor roles of »preparing«. You stay within a few centimeters throughout the entire fight, pelvis lifted, hips pressed. You have worn her out, as you tend to do toward the end you re-enter the ring with a small red cape. It is not the color that upsets her. Sometimes, the life of the bull is spared due to her braveness, very rarely, but if she is granted pardon, they leave the ring, alone, anointed stud for the rest of their life.
›Swivel Spot‹. Photo: Paula Court
In this work the text comes just before the audience sees certain correlations. They might have seen a lime green matador’s jacket lying on the ground during the whole show. As I’m reading, the two other performers are changing a multipurpose tool we use throughout the work to not only dispense the plastic and become a cleaning tool; finally it is made into what appears to be a practice bull toy with glowing yellow bike handlebars for the horns. Again, yellow. The anonymous laborer puts on the matador jacket and leaves the space. I and Geo continue with our bull fight; it’s unclear who is the bull and who is the fighter. I don’t know how to speak about gender. I don’t know how to represent it then, in theatre. There
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is some idea which does feel true, that we don’t know the female, the feminine, we have only had a conversation about it in opposition or relation to and ultimately, in the lack of the masculine, the male. As a queer person who enters sexual practices where the phallus is not owned by the male body, I don’t think I can proceed thinking I know what masculinity even is. In Clap Hands, the yellow table in the center comes to hold a strong space: Not representing or speaking about a man-ness, but if we consider the table as a symbol, a place to write. The written form, as it relates to validating histories and archive of truths or invented details, is not speaking to what I can locate as a feminine symbol. I won’t even entertain the table as a kitchen table, where ideologically, one might note, a woman’s work takes or took place. Especially the table with one chair. This is the thinker’s table. And so, I don’t consciously arrive at this architecture to name gender, but I do have to be curious about how I can’t seem to approach it: About how it remains in the center, the most dominant space on floor. The matador jacket, the dominance over the bull, the fighter. Again, my fantasies include a woman in the jacket and those tight pants but I have to consider the problematic lean I have toward historically masculine representation or space, even if it is not completely true or a constant rule. It seems impossible to consider bodies as genders and then to make meaning from there, but this is actually the reality of it. My progressive self is not outside of a dominant binary; I am inside of it, untangling the braid to move closer to what a self and series of selves could be. My recent work is titled I’m Gonna Need Another One. I am interested in the very problem of meaning-making. Land emerges as the perfect material to speak toward meaning. Everything we assume that we know about ourselves and others, especially the other, is based on where they come from, the origin of that place often outside of our own origin. I am hoping to work with the idea of land making, cultivating communities and the impossibilities around the durability of identitymaking, using twelve identical blocks of green foam, which begin to decay and crumble upon touch and even further as the weight and force of the body is applied to them. As my tangential process often collects various thoughts and images in an unrelated way, part of the process is stumbling into a logic that only the various parts brought together over time could manifest. In a solo centered on a monologue, I will track the emergence of five figures who all somehow speak to land building and an acknowledgment of the pain that comes when troubling ideas arise of origin, home and the inevitable departure from this place. From a compulsive furniture re-arranger, to Chiron, The Greek god of pain who is a centaur (half horse, half man), a sous chef, a wheat farmer and finally, the figure who might
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never make a physical appearance in the work, Dorothy from the WIZARD OF OZ1, waking from her dream, announcing that her winding quest to finally get home wasn’t a dream, it was a place. I’d like to consider lost as a valid location. The blocks, much like the felt, take on an impossible embodiment. They never hold equal value to the human form, yet through uncanny situations where meaning is made from a communal or shared knowledge, without contexts that we understand, the eventual absence of the blocks in the end, as they are finally crumbled and without form, has us long for them as if they did mean something all along. I wonder if the only way to get toward the presence of something is through acknowledging its absence. I am looking to use the over-abundant rotation of figures as a distraction from myself as the solo performer, or possibly as a way to begin to dissolve or unwind, but likely and unavoidably highlight, my presence. Much like the green blocks or the felt, I put things in proximity to myself in order to see myself more. In their book Intimacies by Leo Bersani and Adam Phillips, Bersani is quoted saying, »when no one really exists, there is room for everyone«2. Is this Utopia? – or from Utopus, the meaningful place, the place which cannot be? Like all our expansive and failed or closed off attempts at identity politics, is it possible for a gathering to exist that does not exclude someone, something? I don’t know, but I do have to sit with the knowledge that in my privileged position, my body is not experiencing constant harm but maybe having some kind of experience around not fitting, not fulfilling, not being settled or understood as I grab or run closer to what I think gender is at the moment; I return to architectures, shapes, problems around agendas for togetherness.
›I’m Gonna Need Another One‹. Photo: Simon Courchel 1
WIZARD OF OZ (USA 1939, R: Victor Fleming).
2
Bersani, Leo/Phillips, Adam: Intimacies, Chicago/London 2008, p. 118.
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MONOLOGUE FOR I’M GONNA NEED ANOTHER ONE, 2018 You are curious about building a house but you become increasingly interested in the individual parts. Suddenly, the door frame becomes the only thing you can see. You realize that if you just strip off the paint you could see it better, you could understand what it is made of, maybe even replicate another. You would need to learn a thing or two about woodwork but after that, you could live inside a series of your own custom frames. You could constantly enter yourself. You like beds and tables and chairs but you love an empty room. Checkmate. It seems there is no way to proceed. You are a pawn but you act like a knight. The lower portion of your body is that of a horse with the top strikingly similar to a human. Because of this you have a strong fight -or-flight response, you sleep standing up and your favorite is when ridden bareback but you of course understand the need for a saddle. You manage pain quite well but are known for ignoring it as long as possible. You find the fragility of the body confusing. Breaking is something that is hard to understand: mending, then, might be even harder to comprehend on both ends, both pre-break and once the ligaments, the connection points, have healed. This might be what aching is, that unrequited memory that all things might break. You are the wizard of oz. You become disorganized by situations in which you don’t know where you are and knowing where you are is mostly based on a proximity, a radius to home. Your profile is built on being perpetually lost from that place, define yourself by changing all the time. You wander and ultimately, disobey. You stray. You stumble. You are a compulsive furniture re-arranger, you constantly shift and alter the landscape to confuse the organization of the family. you act as if you have endless chairs, you take pleasure in their rotations, I’m gonna need another one, anyone, I’m gonna need another, placing one near another until the situation is somewhat indistinguishable from the last. Any number of chairs could be near the next but you do favor an explicit particularity in fact, your possibilities run forever such that no one can actually ever sit bodies which lose their chairs the table seems to be something we have left out as meaningful
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You do miss that table, its surface, From here you could imagine what falls on to the floor. Its a good floor. you are a one-night stand that happens over and over and over again on that floor you actually only have 2 chairs which is odd, anyway, it makes it difficult to have more than one guest at a time. You are contradictory. You are never satisfied. You are a pack of wolves, safe in numbers among and with the others Together, amongst many, you are a spaceship, you hover but you don’t worry You are the glorious sound of trumpets and the distant call of danger It’s rare but sometimes late at night, even early in the morning, you are at ease you are an octopus, when attacked you leave your wounded limbs behind, unattached, you have no problem letting go. you are in fact solitary when not mating. You are not territorial you are not a local You hold no sentimentality for this place, you are known to be migratory. You catch more prey than you can eat, often surrounded by dead and uneaten items. You are bottom-dwelling, predatory, you sit with skeletons on the floor. you are an accidental sous chef you spend your time on the preparations you take no credit you are hard to see unless one peers in the back you are not in front you are concerned with proportions ensuring no bite bigger than the other you love a picnic for that egg salad when no one is looking you skin a salmon to place over that of a cod you don’t bake but if you did you could imagine 360 degrees back to the preparation you are the fertile crescent you have mountains on one side and the sea on the other you are yearly and when plentiful, you can convince countries you are a jealous sky(guy), an age old grain you are not gluten free crop is strong method is that there are no roots showing because you are topical, you cultivate the surface you strategize between soil and sun repeat, actually, don’t
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It’s temporary, how things stand in Sex is hard to keep. You don’t remember most things but you hold a re-occurring nostalgia. If you had to name it, it would be the sous chef with the soldier in the wheat field. Then again, it could have been the furniture re-arranger with the celery in the dream. No, it must be the pawn dressed as the horse with the farmer near the table. I like the lion from THE WIZARD OF OZ. He was in search of courage. What a courageous thing to admit to lacking. What a way to navigate our complete irrelevance, to be wanting but to be without, to adjust to being lost as a valid location. I never liked all of the characters put together. The Tinman wanting a heart, the scarecrow wanting a brain. All somehow holding meaning inside of Dorothy’s subconscious. My analyst asks me if I somehow intend to sabotage myself, somehow, subconsciously, is my absence a certain relief, can I just take the bench? Aren’t we tempted to leave as much as we hope to stay? The heart is the full thing. Courage could be the full thing. Imagine the film with the Lion as the main character. If Dorothy were to just take a long nap in the poppy field without it having to be a distraction from the great return home, she could be at ease. The poppy field could be the whole thing. Parts of things which are separated from other things are, in fact, in the painful process of becoming whole things themselves. Where was I, I’m a bit lost now. It’s funny because we don’t have so much in common, but we do share this recurring dream that we are in a field, it’s a wheat field and when we pass by on a train we feel like we should remember something, that we should recall being there but we don’t, it must be someone else’s memory, or from a film. That’s it, it’s from that film, only it’s a poppy field and we’ve lingered a bit too long. Anyway, I thought we could maybe take a short pause to talk about what I like. I like scallops browned with butter I like folding other people’s laundry I like a good contradiction, even a faulty one I’d like to marry a furniture maker, I’d position them to design everything custom, for a perfect fit, original, like no other. I could imagine marrying a furniture maker and we would have separate houses but we would always visit. He would come over in the evenings and we would sit in the sitting room and we would enjoy one another’s company as if we were alone with our separate selves. He would take care that each angle is unique and particular
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to our conversations. I would never need to re-arrange the lamp which sat next to the couch, facing the window which looked out on a distant manhattan. This would already be built into the consciousness of the cut. I like it when you close your eyes in front of me. close your eyes. I rarely admit it but I like when someone gently touches my lower back especially while they are talking to someone else I like so much to be close enough to something massive like a mountain, but far enough away that I can really see it I like putting things together but I also like when things stay apart open your your eyes. I like to leave my windows without curtains, so that the neighbors can see in, but I like to live alone so that I have privacy.
REFERENCES Bersani, Leo/Phillips, Adam: Intimacies, Chicago/London 2008. WIZARD OF OZ (USA 1939, R: Victor Fleming).
Pina Bausch backstage, oder: Tanztheater von hinten Eike Wittrock
»Love as a medium is part of an economy of resistance, ecstatic resistance I would say, provoking questions of memory and tactics. What does love want?«1
MÄNNER IM TUTU Das Musikvideo von NO MORE ›I LOVE YOU’S‹2 ist eine queere Fin de siècleCabaret-Fantasie: Annie Lennox singt auf einem beleuchteten Halbmond, um sie herum tanzen Männer in Tutus und bestreuen sie mit Blütenblättern. Das Publikum des Nachtclubs ist anfangs von der seltsamen Travestie-Nummer gelangweilt, beginnt sich aber zu begeistern, als es an der Kostümfantasie teilhat und selbst en travesti geht. Lennox coverte diesen Song vom britischen New-WaveDuo The Lover Speaks, das nicht nur dieses Lied, sondern offenbar seine komplette Bandexistenz als Hommage an Roland Barthes’ Fragmente einer Sprache der Liebe begriff: »No more I love you’s. Changes are shifting outside the words«. Diese in kryptischen Pop-Zeilen verfasste Referenz an poststrukturalistische Theorien ist mir in den 1990er Jahren als schwuler Jugendlicher in der westdeutschen Provinz vollkommen entgangen ebenso wie weitere kulturelle Signifikanten des Musikvideos. Die Männer im Tutu sind natürlich eine Referenz an die berühmteste Ballett-Drag-Truppe der Welt Les Ballets Trockadero de Monte Carlo. Welt-
1
Roysdon, Emily: »Queer Love« [2006], in: David J. Getsy (Hg.), Queer. Documents of Contemporary Art, London 2016, S. 178-179, hier S. 178f.
2
NO MORE ›I LOVE YOU ’S‹ (USA/UK 1995, R: Joe Dyer/Annie Lennox).
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weit kommerziell äußerst erfolgreich ist diese Truppe mittlerweile im (heterosexuellen) Mainstream angekommen, auch wenn sich ihre Genealogie bis in die queere Theateravantgarde, zu Charles Ludlams Ridiculous Theatre Company, zurückverfolgen lässt. Jedoch begreift schon Stefan Brecht (ja, der Sohn von Bertolt Brecht und Helene Weigel) in seinem Kompendium des queeren Theaters im New York der 1960er und 70er Jahre den ästhetischen Beitrag dieser Company als vernachlässigbar – besonders wohl im Gegensatz zum subtilen Geschlechterspiel ihrer Schwestergruppe The Original Trockadero Gloxinia Ballet Company, das er wie folgt beschreibt: »[As] sometimes the art of some of these performers momentarily magically creates illusions of ideal perfection, occasionally the figures’ neutral ambiguity of gender gives rise to an intuition of a transcendence of gender, – not that any of the dancers ever seem to be or become women (at most, momentarily, they seem just like women), but at moments an obliteration of difference intimates the ideal identity of oppositions.«3
Brecht formuliert hier bereits Ende der 1970er Jahre eine Ahnung davon, was später eines der zentralen Theoreme der queeren Theorie sein sollte, die anhand von Drag-Performances die performative Konstruktion von Geschlecht als Wiederholung ohne Original beschrieb und somit die heterosexuelle Geschlechterbinarität theoretisch aufbrach. Queere Theoretiker*innen wie Judith Butler radikalisierten damit poststrukturalistische Dekonstruktionen von Identität und Subjektivität, die von Poststrukturalisten wie Jacques Derrida und Roland Barthes zuerst am Medium der Sprache exerziert wurden, und übertrugen diese auf die vormals biologisch betrachtete Kategorie des Geschlechts.4 Die von Butler zitierten Vermögen performativer Äußerungen in ihrer repetitiven Struktur hatte Barthes so u.a. an der Liebesäußerung – I love you, je t’aime, ich liebe Dich! – gezeigt, die möglicherweise wie kein anderer Satz an den Grund von Subjektivität rührt: »Gleich dem Argonauten, der sein Schiff während der Reise erneuert, ohne seinen Namen zu ändern, durchläuft der Liebende in dem gleichen Ausruf einen langen Weg, dialektisiert allmählich das erste Verlangen, ohne jedoch die Leuchtkraft seiner ersten Anrede abklingen zu lassen, und geht davon aus, dass die Arbeit der Liebe und der Sprache eben darin besteht,
3
Brecht, Stefan: Queer Theatre. The Original Theatre of the City of New York. From the mid-60s to the mid-70s, Book 2, Frankfurt am Main 1978, S. 135.
4
Vgl. Jagose, Annamarie: Queer Theory. Eine Einführung, Berlin 2017, S. 98-107.
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dem gleichen Satz immer neue Inflexionen zu geben, und schafft so eine noch nicht vernommene Sprache, in der die Form des Zeichens sich wiederholt, niemals jedoch sein Signifikat […].«5
Mit seiner Drag-Motivik und dem Verweis auf Roland Barthes verbindet Lennox’ 6 NO MORE ›I LOVE YOU’S‹ die beiden Eckpunkte des aktivistisch-akademischen Projekts der Queer Theory: queere Subkultur-Performance und poststrukturalistische Zeichenreflexion. In der generellen Neunziger-Jahre-Renaissance, die sich gerade in der Popkultur abspielt, kann so das kritische Projekt der Queer Theory im derzeit weltweiten Erstarken der extremen Rechten und ihrer Identitätspolitik erneut von Bedeutung sein. Judith Butlers großes Anliegen neben der Heteronormativitätskritik war es ja auch, eine Möglichkeit von politischen Bündnissen zu formulieren, die nicht mit einer ausschließenden Norm von Identitäten operiert, wie sie heute von vielen Enden des politischen Spektrums (wieder) in Anschlag gebracht wird. Dabei wird immer wieder klar, dass Lebensweisen jenseits der Heteronormativität und ihre kulturellen Ausdrucksweisen keine Garanten für Subversion sind, auch wenn das in den 1990er Jahren einem Teenager in der westdeutschen Provinz vielleicht so vorkam. Judith Butler betont in Körper von Gewicht, »daß es keine zwangsläufige Verbindung zwischen drag und Subversion gibt und daß drag so gut im Dienst der Entnaturalisierung wie der Reidealisierung übertriebener heterosexu eller Geschlechtsnormen stehen kann. Im günstigsten Fall ist drag der Ort einer bestimmten Ambivalenz, die die allgemeinere Situation reflektiert, wie man in die Machtverhältnisse, von denen man konstituiert wird, einbezogen ist und wie man demzufolge in die gleichen Machtbeziehungen verwickelt ist, die man bekämpft.«7
Nicht jeder Mann im Tutu ist eine queere Kritik, nicht jeder Geschlechtertausch auf der Bühne ein subversiver Akt.
5
Barthes, Roland: Über mich selbst, Berlin 2010, S. 133.
6
Annie Lennox ist – durch ihre Rezeption und ihre eigene Gender-Performance – als ›androgyner‹ Popstar selbst eine queere Figur. Vgl. für eine differenzierte Lesart: Rost, Katharina: »Frauen mit Fliege. Die Popsängerin Janelle Monáe und ihr ambivalentes Accessoire«, in: Gertrud Lehnert/Maria Weilandt (Hg.), Ist Mode queer? Neue Perspek tiven der Modeforschung, Bielefeld 2016, S. 93-108, hier S. 100f.
7
Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt am Main 1997, S. 178.
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Abbildung 1: Umschlag von Raimund Hoghes Probentagebuch zu Bauschs ›Bandoneon‹, die Dominique Mercy im Tutu zeigt. Foto: Ulli Weiss
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TUNTEN UND TANZTHEATER Mit dieser queeren Sensibilität möchte ich mich nun einem anderen Phänomen widmen; ebenfalls aus einer vergangenen Zeit in Westdeutschland, jedoch von weit größerer kultureller Bedeutung als meine recht insignifikante und zugegebenermaßen langweilige und naive Jugend in der Provinz. Als ich vor Kurzem durch einen Bildband mit frühen Backstage-Fotografien von Pina Bausch blätterte, fiel mir eine Reihe von Fotografien auf, in denen Drag-Momente eingefangen zu sein schienen und die mich nach einer queeren Lesart von Bauschs Œuvre fragen ließen. Zehn Jahre nach dem plötzlichen Tod dieser einflussreichen – und in der öffentlichen Wahrnehmung beinahe überpräsenten – Choreografin und zu einer Zeit, in der ihre Stücke mit einer unheimlichen Nostalgie vom Wuppertaler Tanztheater wiederaufgenommen bzw. rekonstruiert werden, scheint es angebracht, neue Perspektiven auf Bauschs Ästhetik und deren gesellschaftspolitische Implikationen zu werfen.8 Wie sieht es mit dem Staging Gender bei Pina Bausch aus, deren Inszenierung von Weiblichkeit heute, 2019, bei manchen Betrachter*innen (inklusive mir) eher unangenehme Gefühle erzeugt? Lassen sich die transvestitischen Aspekte in ihren Choreografien queertheoretisch als subversiv begreifen? Wie steht ihre Arbeit zur westdeutschen queeren und/oder schwulen Bewegungsgeschichte? Und wie lässt sich schließlich durch (historische) Aufführungsdokumente ein Verhältnis von Gegenwart und Geschichte erzeugen, das affizierende, identifizierende Beziehungen zulässt, ohne in nostalgische Verklärung zu geraten? Bei den Fotografien, die bei mir diesen historiografischen Affekt auslösten,9 handelte es sich um Proben- und Aufführungsfotos von KH. W. Steckelings, die erst vor Kurzem wieder einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Einblick geben die Fotografien in Proben- und Aufführungssituationen aus der Anfangszeit von Pina Bausch in Wuppertal, 1974/1975, als sie dort ihre ersten Choreografien vorstellte. Ich blieb bei den Fotografien zum Fliegenflittchen hängen, einer Choreografie, die in (deutschsprachigen) Werkverzeichnissen von
8
Vgl. z.B. Ansätze wie Elswit, Kate: »Ten Evenings with Pina. Bausch’s ›Late‹ Style and the Cultural Politics of Coproduction‹«, in: Theatre Journal 65, 2 (2013), S. 215233; Siegmund, Gerald: »Doing the Contemporary. Pina Bausch as a Conceptual Art ist«, in: Dance Research Journal 50, 2 (2018), S. 15-30.
9
Zu einem solchen affektgeleiteten, queeren Zugang zu historischem Material: Vgl. Wittrock, Eike: »Bittersweet Memories. Looking for Queer Evidence in the Archives«, in: Gurur Ertem/Sandra Noeth (Hg.), Bodies of Evidence. Ethics, Aesthetics, and Politics of Movement, Wien 2018, S. 247-257.
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Bausch bisher nicht aufgeführt wird.10 Ein im selben Bildband abgedrucktes Manuskript weist das Stück als Pas de deux für zwei Geschwindigkeiten mit Ed Kortlandt und Heinz Samm zu Musik von Jacques Offenbach aus, den Bausch zu einem gemeinsamen Werkstattabend unterschiedlicher Choreograf*innen (mit dem Titel Tanz und Jazz) in Wuppertal im März 1975 beisteuerte. Es handelt sich hierbei offenbar um eine kleinere Arbeit von Pina Bausch, eingeschoben zwischen den (größeren) Premieren des Schlagerballetts Ich bring Dich um die Ecke im Dezember 1974 und der Tanzoper Orpheus und Eurydike im Mai 1975. Auf einigen dieser Fotografien ist der Tänzer Ed Kortlandt mit Absatzschuhen, langem Rock, hochgebundener Bluse und ausgestopften Brüsten in – für mein schwules Auge – ›tuntigen‹ Posen zu sehen. 11 Mit herausgestrecktem Hintern, abgewinkelten Armen und abgeknickten Händen scheint Kortlandt eine als stereotyp weiblich gelesene Pose zu parodieren und grotesk zu überzeichnen (oder deren immanente groteske Überzeichnung zu imitieren), bleibt dabei aber eindeutig als Mann markiert (Abb. 2). Die Inszenierung verzichtet (ebenso wie, den Fotografien Steckelings nach zu urteilen, die Aufführung) auf Maske, und Kortlandt ist weder als Frau geschminkt noch trägt er eine Perücke, sondern Frisur und Brille weisen ihn deutlich als Mann aus, der für die Zeit der Aufführung in die Rolle einer Frau schlüpft. Was mir an dem Bild auffiel, war ein Tunten-Look, wie er mir aus historischen Dokumenten der westdeutschen Schwulenbewegung bekannt war. Für diese stellte die Figur der »Tunte« einen zentralen Gegenstand der politischen Auseinandersetzungen dar – eine Form des Drags, die im Gegensatz zur GlamourKultur der Travestie die Brüche betont und vornehmlich mit Trash und Camp operiert.12
10 Siehe das Werkverzeichnis auf http://www.pina-bausch.de/de/stuecke/ vom 27.05. 2019; Servos, Norbert: Pina Bausch Tanztheater. Fotos von Gert Weigelt, München 2003; Schulze-Reuber, Rika: Das Tanztheater Pina Bausch: Spiegel der Gesellschaft. Mit Fotografien von Jochen Viehoff, Frankfurt am Main 2005; Schmidt, Jochen: Pina Bausch. ›Tanzen gegen die Angst‹, München 2002. Gelistet wird es hingegen bei Climenhaga, Royd: What Moves Them. Pina Bausch and the Aesthetics of Tanztheater, Dissertation, Evanston Illinois 1995, S. 365-369. 11 Vgl. Steckelings, KH. W.: Pina Bausch backstage, in Kooperation mit der Pina Bausch Foundation, hg. von Stefan Koldehoff, Wädenswil am Zürichsee 2014, S. 14-21. 12 Für eine Definition von »Tunte« aus der Zeit des Fliegenflittchens: Vgl. Dannecker, Martin/Reiche, Reimut: Der gewöhnliche Homosexuelle. Eine soziologische Untersuchung über männliche Homosexuelle in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1974, S. 354-356. Für eine zeitgenössische Auseinandersetzung: Vgl. Aichberger,
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Abbildung 2: Heinz Samm und Ed Kortlandt proben ›Fliegenflittchen‹. Foto: KH. W. Steckelings
Muriel: »Tuntige Ästhetik – Performativer Widerstand«, Siehe https://www.gwiboell.de/de/2018/06/07/tuntige-aesthetik-performativer-widerstand vom 07.06.2018; Balzer, Carsten: »The Beauty and the Beast. Reflections about the Socio-Historical and Subcultural Context of Drag Queens and ›Tunten‹ in Berlin«, in: Journal of Homosexuality 46, 3/4 (2004), S. 55-71.
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1973 – also gut zwei Jahre vor Bauschs Fliegenflittchen – brach in der westdeutschen Schwulenbewegung der sogenannte Tuntenstreit aus, eine Auseinandersetzung zwischen dem feministischen und dem marxistischen Flügel der Bewegung.13 Das politische Argument für tuntenhaftes Verhalten lautete, dass in einem öffentlichen Zurschaustellen von (schwulen und weiblichen) Stereotypen Geschlechterrollen subvertiert würden und die Schwulen sich über diese Alltagsperformances mit der Frauenbewegung solidarisieren können. Ein Zitat aus Rosa von Praunheims Film NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION, IN DER ER LEBT von 1971, der als Auslöser der deutschen zweiten Homosexuellenbewegung gilt, macht hingegen deutlich, inwiefern die Tunte und ihre Imitation von Geschlecht stets Gefahr laufen, im politischen Kampf für schwule Emanzipation auf misogyne Frauenbilder zurückzugreifen – wie hier im Verweis auf die Figur der Hysterikerin: »Tunten sind weibische Homosexuelle, die versuchen, das Gehabe der hysterischen Frau nachzuahmen. Sie schminken sich und sind der Schrecken des Spießers und des angepassten Schwulen, der durch sie verraten werden könnte. […] Tunten übertreiben ihre schwulen Eigenschaften und machen sich über sie lustig. Sie stellen damit die Normen in unserer Gesellschaft in Frage und zeigen, was es bedeutet, schwul zu sein.« 14
Eine ähnliche Ambivalenz zwischen queerer Subversion von Geschlechterbildern und der Reproduktion von Misogynie scheint auch dem Fliegenflittchen inhärent zu sein, das ja bereits im Titel auf einen abwertenden Begriff für promiskuitive Frauen rekurriert. Auf der Basis der Fotografien lässt sich diese Ambivalenz, wenn es denn überhaupt möglich ist, nicht auflösen. Dennoch wirft dieses Aufblitzen von ›etwas Tuntigem‹ in diesen frühen Fotografien von Bausch Fragen nach dem gesellschaftlichen Bezug ihrer choreografischen Arbeit in Wuppertal auf. Tanztheater – so der Tenor der Bausch-Literatur – bildete die gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren zugespitzt und verschärft ab. Ist damit möglicherweise auch die westdeutsche Homosexuellenbewegung dieser Zeit gemeint, in der wiederum auf aktivistischer Ebene stark mit
13 Vgl. Griffiths, Craig: »Konkurrierende Pfade der Emanzipation. Der Tuntenstreit (1973-1975) und die Frage des ›respektablen Auftretens‹«, in: Andreas Pretzel/Volker Weiß (Hg.), Rosa Radikale. Die Schwulenbewegung der 1970er Jahre, Hamburg 2012, S. 143-159. 14 Voiceover aus NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION, IN DER ER LEBT
(BRD 1971, R: Rosa von Praunheim).
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theatralen Formen gearbeitet wurde?15 Mit dieser Perspektive ließe sich wiederum tanz- und theaterwissenschaftliche Theorieproduktion um Aspekte von Geschlechterperformance und Queerness ergänzen, die in den Analysen des Gegenwartstheaters der letzten fünfzig Jahre überraschend wenig Beachtung fanden.16 Während in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft der 1970er und 1980er Jahre nämlich epistemologische Fragen im Vordergrund standen, die nach Gegenstand und Methode der Theaterwissenschaft suchten, verhandelten Aufführungen zu dieser Zeit bereits in großer Breite Repräsentationen von Geschlecht und Sexualität – durch cross-gender Besetzung, inhaltliche Thematisierung nicht-normativer Sexualitäten oder in der Verwendung spezifisch queerer ästhetischer Modi wie Camp. Steckelings Fotografien von Bauschs Fliegenflittchen ermöglichen so, zwei synchrone Phänomene der BRD der 1970er Jahre – Tanztheater und Schwulenbewegung – näher zusammenzubringen. Mit dem um fast fünfzig Jahre verspäteten Blick ließe sich dann das Wuppertaler Tanztheater, zumindest in einigen Aspekten, auch als Echo der historischen Schwulenbewegung der 1970er Jahre und ihrer politischen Verhandlung von Geschlecht mit all ihren Ambivalenzen begreifen.
SPILLING THE T Dennoch: eines der zentralen Themen von Pina Bauschs choreografischem Werk – wenn nicht sogar das einzige – ist Heterosexualität. So legt es zumindest ein kursorischer Blick in die breite Bausch-Literatur nahe, die, wenn von Geschlecht die Rede ist, stets von einem binären System ausgeht, welches in einer notwendigen, spannungsvollen Beziehung zueinander stehe:
15 Neben zahlreichen Straßentheateraktionen gibt es auch zahlreiche aktivistische Thea tergruppen, wie Brühwarm, Die Maintöchter oder das Wuppertaler [sic!] Lesbentheater. Vgl. Rosenkranz, Berhard/Lorenz, Gottfried: Hamburg auf anderen Wegen. Die Geschichte des schwulen Lebens in der Hansestadt, Hamburg 2006, S. 184-190; Suffner, Jillian B.: »Eine Lesbe macht noch kein Theater. Bewegte Theaterkultur auf Straßen und Bühnen«, in: Gabriele Dennert/Christiane Leidinger/Franziska Rauchut (Hg.), In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007, S. 235-238. 16 Vgl. dazu Schrödl, Jenny: »Gender Performances. Theaterwissenschaftliche Perspektiven und Problematiken«, in: etum 1, 1 (2014), S. 33-52.
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»Mann und Frau, die Wechselfälle der Liebe, unsere Verhaltensweisen, unsere Affekte, unser Unvermögen: davon erzählen die Stücke Pina Bauschs jedesmal aufs neue und jedesmal in anderen Farben.«17 »Die dem Kampf der Geschlechter innewohnende Dynamik ist zweifellos eines von Pina Bauschs existentiellen Themen […].«18 »[Die] Differenz der Geschlechter – jenes Thema, das Pina Bausch in allen ihren Stücken immer wieder neu beleuchtete […].«19 »[Gender] roles and sexual relations became her primary focus […].«20 »Obwohl Pina Bausch sich nicht als Feministin verstand, boten ihre Stücke Anlass zur Reflexion überkommener Geschlechterbilder und stellten Verhaltensweisen des Alltags in Frage, die die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern demaskierten.«21 »[Das] Kernthema dieser Stücke – das Verhältnis der Geschlechter […].«22 »Vorgeführt wird […] die grauenhaft komische Tragik dessen, was vor der Jahrhundertwende und bei Strindberg & Co. ›Kampf der Geschlechter‹ hieß […].« 23 »Im Zentrum der Bausch’schen Arbeit steht die ästhetische Spiegelung und Verarbeitung von gesellschaftlichen Stimmungslagen und Umgangsformen aus der alltäglichen körpersprachlichen Kommunikation zwischen Männern und Frauen […].« 24 »Pina Bausch näherte sich dem an, was in Zukunft ihr Kernthema werden sollte: das Verhältnis der Geschlechter und ihr tragikomisches Erproben des Glücks.« 25
17 Bentivoglio, Leonetta/Carbone, Francesco: Pina Bausch, oder Die Kunst, über Nelken zu tanzen, Frankfurt am Main 2007, S. 18. 18 Ebd. S. 68. 19 Brandstetter, Gabriele: »Pina Bauschs Das Frühlingsoper. Signatur – Übertragung – Kontext«, in: Dies./Gabriele Klein (Hg.), Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanalysen zu Pina Bauschs Le Sacre du Printemps/Das Frühlingsopfer, Bielefeld 2015, S. 93-122, hier S. 114. 20 Manning, Susan A.: »An American Perspective on Tanztheater«, in: The Drama Review: TDR 30, 2 (1986), S. 57-79, hier S. 65. 21 Müller, Hedwig: »Angst essen Seele auf. Ballett und Tanztheater der 70er- und 80erJahre in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Hedwig Müller/Ralf Stabel/Patricia Stöckemann (Hg.), Krokodil im Schwanensee. Tanz in Deutschland seit 1945, Frankfurt am Main 2003, S. 177-217, hier S. 187f. 22 Schlicher, Susanne: TanzTheater. Traditionen und Freiheiten. Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Hans Kresnik, Susanne Linke, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 125. 23 J. Schmidt: Pina Bausch, S. 54. 24 R. Schulze-Reuber: Das Tanztheater Pina Bausch, S. 82. 25 N. Servos: Pina Bausch Tanztheater, S. 21.
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Bauschs Choreografien spiegeln ein konservatives, sexistisches Rollenbild der alten Bundesrepublik und führen sexuelle Spannungen, gesellschaftliche Normen und Geschlechterbilder, Erwartungen und Störungen in heterosexuellen Beziehungen auf. Die weiblichen Figuren werden in Bauschs Choreografien meist von den männlichen mehr oder minder gewaltvoll gehandhabt, herumgeworfen und körperlich untersucht. Frauen selbst erscheinen teils hilflos, oft begehrend und sehnsüchtig. Sei es in der brutalen weiblichen Selbstopferung im Frühlingsopfer (1975), im beinahe besinnungslosen Herumrennen der nahezu unbekleideten Tänzerinnen in Café Müller (1978), dem missbrauchsähnlichen Anbahnungsversuch einer Gruppe männlicher Tänzer an eine weibliche Tänzerin in Kontakthof (1978) oder in der Vorführung als (weibliches) Sexualobjekt in Die sieben Todsünden (1976). Auch wenn das Bühnengeschehen generell aus einer weiblichen Perspektive heraus artikuliert zu sein scheint – nicht nur weil von einer weiblichen Choreografin inszeniert, sondern da die weiblichen Tänzerinnen oft im Zentrum stehen und choreografische Impulse meist von ihnen ausgehen –, fällt es mit historischer Distanz nicht leicht, Bauschs Œuvre feministisch zu betrachten. In der älteren Bausch-Literatur wird dies mitunter so interpretiert, wobei sich die Choreografin selbst gegen eine solche Deutung explizit gewehrt hat.26 Bausch bekräftigt selbst in einem Interview, in dem sie zu ihrem Verhältnis zur Frauenbewegung und zum ›Frauentheater‹ befragt wird, dass ihre Perspektive einerseits heterosexuell und andererseits explizit nicht feministisch ist: »Ich habe mich vielleicht öfter dagegen gewehrt, weil mir das immer untergeschoben wird. Deswegen habe ich immer deutlich gesagt: Nee, mich interessiert der Mann im Bezug zur Frau und umgekehrt, einfach beide interessieren mich. Ich kann nicht allein an eine Frau denken, ohne an einen Mann zu denken, und umgekehrt.«27
Nun verfügt ein künstlerisches Werk bekanntlicherweise ja über weit mehr Dimensionen, als von der Autorin intendiert. Feministische Lesarten von Bausch
26 Vgl. hingegen Goldberg, Marianne: »Artifice and Authenticity. Gender Scenarios in Pina Bausch’s Dance Theatre«, in: Women & Performance. A Journal of Feminist Theory 4, 2 (1989), S. 104-117; J. Schmidt: Pina Bausch, S. 49-60 (Kap. 4: »Women’s Lib auf der Tanzbühne?«). 27 »Eine gewisse Erregung dabei/Bin im Moment bei den Gefühlen. Gespräch mit Stephen Locke« [1979], in: O-Ton Pina Bausch. Interviews und Reden, hg. von Stefan Koldehoff und der Pina Bausch Foundation, Wädenswil am Zürichsee 2016, S. 45-59, hier S. 57.
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entzünden sich stets an der repetitiven Struktur der Werke, in denen Geschlechterbilder und -szenen bis zur Erschöpfung wiederholt werden. Susanne Schlicher interpretiert diese mit Hélène Cixous als Suche nach einer »weiblichen [choreografischen] Sprache«28 und Susan Manning bringt sie in einen direkten Zusammenhang mit Butlers Theorie der performativen Geschlechtsidentität, die auf der stilisierten Wiederholung von Akten beruht: »[Her] dancers acted out violent games and unconscious fantasies, rehearsing and reversing rigid images of masculinity and femininity. Their endless role-playing dramatized not only the performativity of gender – a term not then in circulation, for the publication of Judith Butler’s Gender Trouble was still a few years off but also the interchangeability of victim and victimizer.«29
Womöglich besteht also die queerfeministische Kritik der Arbeiten von Bausch nicht darin, einen Ausweg aus dieser Wiederholungsstruktur aufzuzeigen bzw. – wie Butler es am Drag exemplifiziert hat – sie subversiv zu verschieben, sondern das Machtregime der Heterosexualität überhaupt erst einmal auf der Bühne analysierbar gemacht zu haben. Sabine Hark zufolge liegt bereits in der Analyse dieses Machtregimes, »dessen Aufgabe die Produktion und Regulierung einer Matrix von hegemonialen und minoritären sozio-sexuellen Subjektpositionen ist«30, eine theoretisch entscheidende Leistung der Queer Theory. Was in Bauschs Arbeiten heute teilweise Unbehagen bei heutigen Zuschauenden (inklusive mir) erzeugt, ist ihre brutale Wiederholung dieser Matrix, in der gerade sexuell minoritäre Positionen immer wieder marginalisiert werden. In Palermo Palermo (1989) agiert z.B. eine von Jan Minarik (Jean Mindo) dargestellte Figur über lange Zeit am vorderen Bühnenrand – abseits und deutlich getrennt von den heterosexuell organisierten Gruppenchoreografien im Zentrum –, schminkt und kleidet sich zu einer geschlechtlich ambivalenten Figur, bleibt aber von der Gemeinschaft abgesondert. Ließe sich argumentieren, dass sich BauschInszenierungen durch eine generelle Ambivalenz auszeichnen, die das Dargestellte in der Schwebe halten und zeigen, ohne zu kommentieren, ist der diskursive Aufwand der Bausch-Literatur umso auffälliger, mit dem solche protoqueeren
28 S. Schlicher: TanzTheater, S. 143. 29 Manning, Susan A.: »Pina Bausch 1940-2009«, in: TDR/The Drama Review 54, 1 (2010), S. 10-13, hier S. 11. 30 Hark, Sabine: »Queer Studies«, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 449470, hier S. 449.
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Momente in heteronormative Lesarten eingehegt werden. So bezeichnet Norbert Servos eben jene Figur in Palermo Palermo als »einsame[n] Junggeselle[n]« 31. Damit wiederholt er eine der gewaltvollsten homophoben Verklausulierungen der alten bundesrepublikanischen Gesellschaft für sexuell nichtnormative Lebensentwürfe. Ähnlich steht es um ein weiteres, berühmtes choreografisches Bild mit queerem Potenzial: die Gruppenchoreografien aus der zweiten Hälfte von Die sieben Todsünden, in der Männer und Frauen gemeinsam in Ballkleidern tanzen. Modell dieses Drag ist – mit Perücken und Make-up in Stadttheaterqualität – weniger die Tuntenkultur mit ihrer Ästhetik des Unfertigen wie im Fliegenflittchen, sondern die auf perfekte Illusion zielende Travestie. Was auf der Bühne an queerem Potenzial aufscheint, wird erneut in den Beschreibungen und Kommentaren der Bausch-Literatur zurückgenommen, ja beinahe gewaltvoll unterdrückt. In der illustrierten Geschichte des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch oder Die Kunst über Nelken zu tanzen treten Leonetta Bentivoglios skizzenhafte, fragmentarische Reflexionen in Korrespondenz mit Francesco Carbones Fotografien von Bauschs Stücken. Der Doppelseite, auf der vier männliche Tänzer in vollem Drag und eine weibliche Tänzerin in einem exaltierten tänzerischen Moment in Die sieben Todsünden zu sehen sind, folgt auf der nächsten Seite ein korrespondierender Text, der die möglichen Assoziationen des Geschlechtertauschs an queere Subkultur in ein heterosexuelles Narrativ zu überführen versucht (und ersteres noch verlacht): »Es kommt vor, daß die Männer des Tanztheaters Wuppertal Frauenkleider anhaben. Sie geben nicht vor, Frauen zu sein. Sie tragen lediglich Frauenkleider. Der Zuschauer denkt: Aha, ein als Frau verkleideter Mann. Doch nach ein paar Minuten hat man sich vollkommen an den Anblick der Verkleidung gewöhnt. Im Theater von Pina Bausch vollzieht sich ein solcher Prozeß auf schnelle und schmerzlose Weise und mit überraschender Natürlichkeit. Nicht nur, weil die Möglichkeit des Spiels und somit der Verkleidung dem Tanztheater innewohnt, in dessen Mittelpunkt die Beziehung zwischen Mann und Frau und die tragikomische und unmögliche Suche nach dem Glück stehen. Die Stärke des Tanztheaters besteht darüber hinaus in der besonderen Fähigkeit, einen zum Lachen zu bringen. Man lacht über Nonkonformismus und paradoxe Bilder.«32
Ähnlich argumentiert auch Rika Schulze-Reuber in Das Tanztheater Pina Bausch: Spiegel der Gesellschaft in Bezug auf das Motiv von Männern in Frauenkleidern. Sie lässt den Tänzer Dominique Mercy ganz deutlich aussprechen, dass eine solche theatrale Praxis explizit nichts mit Homosexualität zu tun habe:
31 N. Servos: Pina Bausch Tanztheater, S. 146. 32 L. Bentivoglio/F. Carbone: Pina Bausch, S. 84.
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»Nach dem Motiv befragt, warum Männer vereinzelt Frauenkleider tragen […] sinniert die Choreographin: ›Das hat dann bestimmte Gründe. Natürlich, es kann im Prinzip alles geben. Zum Beispiel in Nelken, wenn Männer Kleider anhaben. Manchmal denken sich die Leute zuerst: ein Mann im Kleid. Nach fünf Minuten ist das normal. Das finde ich einfach schön, daß das nur so eine kurze Zeit braucht.‹ […] Dominique Mercy, der in vielen Stücken in den unterschiedlichsten Kleidermoden auftritt, kommentierte in einem Gespräch mit der Autorin diese männliche ›Entstellung‹: Er glaube, ein Mann, der in Frauenkleidern auftrete, könne sogar noch männlicher wirken als im Anzug. Es könne aber auch sein, dass man auf diese Weise bestimmte Schwächen betonen könne – im positiven Sinn. Mit Homosexualität habe das nichts zu tun. Es könne auch einfach toll aussehen. Die Bühne sei ein geeigneter Ort, an dem man das alles zeigen könne.«33
Es ist beachtlich, was in diesen Texten an diskursivem Geschütz aufgefahren wird, um die Möglichkeit einer homosexuellen oder queeren Lesart der Drag-Momente bei Bausch zu unterbinden. Die ›kulturelle Angst‹ vor dem Transvestismus springt einen förmlich aus diesen Texten an.34 Ihre Logik erinnert daher an die (alte) Form der Travestie, die heute noch an Orten wie dem Hamburger Pulverfass-Cabaret oder dem Berliner Theater im Keller zu erleben ist. Hierbei handelt es sich um Veranstaltungen, die sich durchweg an ein heterosexuelles Publikum richten und queere Akte (wie homosexuellen Analverkehr) in Sketchen und Witzen als Obszönitäten markieren. Für eine solche Form von Drag wie auch für die diskursive Einhegung der transvestischen Momente bei Bausch gilt daher eher, was Judith Butler für Filme wie TOOTSIE35 oder MANCHE MÖGEN’S HEISS36 formuliert hat. Sie stellen »eine ritualistische Entlastung für eine heterosexuelle Ökonomie zur Verfügung […], die ihre Grenzen andauernd gegen die Invasion von queerness überwachen muß, und [man kann sagen,] daß diese verschobene Erzeugung und Auflösung der panischen Angst vor Homosexuellen das heterosexuelle Regime in seiner selbstverewigenden Aufgabe in Wirklichkeit verstärkt.«37
33 R. Schulze-Reuber: Das Tanztheater Pina Bausch, S. 96-97. 34 Vgl. Garber, Marjorie: Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst, Frankfurt am Main 1993. 35 TOOTSIE (USA 1982, R: Sydney Pollack). 36 MANCHE MÖGEN ’S HEISS (USA 1959, R: Billy Wilder). 37 J. Butler: Körper von Gewicht, S. 179.
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CHANGES ARE SHIFTING OUTSIDE THE WORDS Es scheint schier unmöglich, aus diesen Aufführungsdokumenten queere Perspektiven auf Bausch zu entwickeln. Dennoch möchte ich es noch ein letztes Mal versuchen und mich dafür dem Tanztheater von hinten nähern. Dazu werde ich abschließend eine weitere Backstage-Szene betrachten und – um in den Kategorien meines Anfangsbeispiels zu bleiben – vom Motiv des Drag auf eine Liebesäußerung übergehen. Lutz Försters ikonische The Man I Love-Nummer aus Nelken (1982), in der der langjährige Tänzer des Wuppertaler Ensembles den Gershwin-Song mit Lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG) vorträgt38, hatte ich schon öfter in Aufzeichnungen gesehen und sie – leicht augenrollend – als verkitschte Tanztheaterreflexion über Gesten auf der Bühne und die (Un-)Übersetzbarkeit von Sprache und Emotionen betrachtet. Nie jedoch – obwohl es eigentlich auf der Hand liegt – als ein Dokument schwulen Liebesbegehrens. Erst durch eine leicht verschobene Perspektive – backstage nämlich – hat sich mir dieser Blick eröffnet. In der Bausch-Dokumentation der lesbischen Filmemacherin Chantal Akerman UN JOUR PINA A DEMANDÉ … (1983)39 taucht dieser Moment der Choreografie zweimal auf: in der Bühnenfassung, vorgetragen im schwarzen Anzug, dem klassischen Bühnenkostüm der männlichen Bausch-Tänzer sowie in einem Backstage-Setting mit beleuchteten Schminkspiegeln, einem Monitor und den Wänden einer improvisierten Garderobe hinter Förster, der den Ausschnitt der Choreografie hier in einem großgemusterten kurzärmeligen Freizeithemd zeigt. Der Effekt, eine Bausch-Szene nicht im Bühnenkostüm, dem typischen RetroLook von langen Kleidern und dunklen Anzügen mit seinen heteronormativen Konnotationen, zu sehen, ist frappierend.40 Diese andere Perspektive, buchstäblich
38 Ich danke Lua Leirner für die Hilfe bei der Identifizierung der Gebärden. »Lautsprachbegleitende Gebärden (abgekürzt LBG) bezeichnen die Gebärden, die simultan zu jedem gesprochenen Wort ausgeführt werden. Dies unterscheidet sie von der Gebärdensprache. […] Die Gebärdenzeichen der LBG sind eine Reduktion der Gebärdensprache auf isolierte Begriffe, um damit eine ›1:1‹-Umsetzung der jeweiligen Landes-Lautsprache in Gebärdenzeichen zu vollziehen.« Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/ Lautsprachbegleitende_Gebärden vom 25.08.2018. 39 UN JOUR PINA A DEMANDE … (FR/BE 1983, R: Chantal Akerman). 40 Später in Akermans Film wird eine Walzer-Probe in Avignon gezeigt, in der Frauen in Jogginghosen und Männer in Hotpants und mit nacktem Oberkörper oder im Unter hemd tanzen, was einen ähnlichen Effekt hatte.
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auf das Tanztheater von hinten, ermöglichte mir plötzlich eine queere Identifikation mit Pina Bausch – vermittelt durch Lutz Förster. In einem der wenigen Momente von Akermans Bausch-Dokumentation, in denen direkt in die Kamera gesprochen (bzw. leicht an ihr vorbei) und aus dem Arbeitsprozess erzählt wird, berichtet Förster (auf Französisch), dass Pina – wie immer – während der Proben zu Nelken »Fragen« gestellt hätte.41 Eine davon sei gewesen, etwas zu machen, worauf man stolz sei. Gerade aus den USA zurückgekehrt, wo er ein paar Gebärden und den Gershwin-Song gelernt hatte, führte Förster dies in der Probe vor. Bei seinen letzten Worten blitzt ein verschämtes Lächeln über sein Gesicht. Er schaut zur Seite, um die Musik zu starten. Dann richtet er seinen Blick direkt in die Kamera und beginnt mit der Choreografie bzw. der LBG-Übersetzung des Songs, die er – im sichtbaren Kontrast zum lockeren Ton der Einführung – mit ernstem Ausdruck vorträgt (Abb. 3). Zu Sophie Tuckers Aufnahme von 1928 gebärdet Förster nun den Text von The Man I Love, wobei er ihn zusätzlich leise und monoton mitspricht. Während man in Videoaufzeichnungen der Aufführungen sieht, dass die Tänzer*innen an dieser Stelle ihre Lippen bewegen42, ist in dieser Backstage-Version von Akerman die Stimme darüber hinaus leise zu hören, was den Grad der Intimität dieser Szene erhöht. Förster scheint das Lied nur für mich zu performen. Diese queere Adressierung verstärkt sich noch, wenn man eine weitere biografische Anekdote hinzuzieht, die Förster in einer anderen Performance erzählt. In Portrait of a Dancer (2009)43 führt Förster aus, was er in seiner kurzen Einleitung in Akermans Dokumentation nicht erwähnt: Er hatte die Übersetzung des Liedes in LBG von einem Mann gelernt, den er in Blacks Beach, dem schwulen FKKStrand von San Diego, kennengelernt hatte. Dort lebte früher sein bester Freund Axel, der ihm US-amerikanische Popkultur (und somit auch Sophie Tucker und das Lied The Man I Love) nahegebracht hatte und der zwei Jahre zuvor an Krebs
41 Zu diesem Grundprinzip der Bausch’schen Arbeit, bei dem es sich streng genommen nicht nur um Fragen, sondern auch um Aufgaben, Spielprinzipien und Scores handelt: Vgl. Hoghe, Raimund: Pina Bausch. Tanztheatergeschichten. Mit Fotos von Ulli Weiss, Frankfurt am Main 1986, S. 84-89. 42 So später in Akermans Film, wie auch in Nelken in Indien. 43 Die Uraufführung fand 2009 unter dem Titel Lutz Förster unter der Autorschaft von Jérôme Bel statt. Bel hat mittlerweile die Autorschaft von diesem Werk zurückgezogen und es Lutz Förster übergeben.
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gestorben war. »Every time I do it, I somehow hear in the background of Sophie Tucker’s raw voice, Axel singing along« sagt Förster in dieser Performance. 44
Abbildung 3: Lutz Förster in der »The Man I Love«-Szene, backstage in Akermans Bausch-Dokumentation
Worauf genau ist Förster stolz? – wenn das der Rahmen bzw. Pinas Frage war, auf die er mit dieser Szene antwortete. Dass er einen Song gebärden kann? Auf seinen Aufenthalt in den USA? Auf die schwulen Erlebnisse, die er dort – mit Axel? am Strand? mit dem Dolmetscher? – hatte? Ist diese Szene gar ein subtiler, leiser Ausdruck von queer pride inmitten eines Pina Bausch-Stücks? Ja, ist die The Man I Love-Szene in Nelken nicht sogar eine klassische Drag-Nummer, und die Übersetzung in LBG eine Art queeres Lip-Synching? Lip-Synching ist eine der zentralen Elemente von Drag-Performance. Esther Newton unterscheidet in ihrer wegweisenden anthropologischen Studie zur USamerikanischen Drag-Kultur, die auf Feldforschungen in den 1960er Jahren beruht, vier grundlegende Performance-Kategorien, »dancing«, »singing«, »glamour« und »comedy«, die bis heute in Drag-Performances wiederzufinden sind.
44 Zitiert nach einer Aufzeichnung der Aufführung, hier noch als Lutz Förster tituliert, vom 24.10.2009 im HAU Berlin.
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Newton erwähnt dort bereits die »record vocalists«, die zu aufgenommener Musik nur die Lippen bewegen und nicht – wie die eine vollkommene Illusion anstrebenden Damenimitatoren – auch den Gesang der weiblichen Stars nachahmen.45 Klassische Lip-Synching-Nummern, die wohl erst in den 1960er Jahren aufkommen, bringen die geschlechtliche Identität in die Schwebe, da die gegengeschlechtliche Verkörperung einer Stimme sowohl als Illusion angestrebt und gleichzeitig als solche entlarvt wird. Lip-Synching inszeniert einen Bruch zwischen Stimme und Körper und spielt mit den Affekten, die dieser auszulösen vermag.46 Die NelkenSzene ist insofern ein queeres Lip-Synching, da es Grundprinzipen der Form aufgreift (gegengeschlechtliche Verkörperung einer Stimme) und sie zwischen zwei Äußerungsformen, zwischen Stimme und Gebärde, verlagert. Sie bleibt als heterosexuelle Szene lesbar, unter der sich – gleichsam unter Tuckers Stimme, wie Axels Stimme in Försters Imagination – ein queeres Begehren im Gebärden abzeichnet. Es zieht sich wie ein Nachhall durch den Song, der durch die spekulierte Queerness von George Gershwin und Sophie Tucker selbst mit queerem Potenzial aufgeladen ist. Queeres Begehren erscheint nicht nur in dem »I«, das nun auf einen männlichen Tänzer referiert, der einen Mann begehrt, sondern ist im Wissen über den Ort, an denen die Gebärdensprache gelernt wurde, wie auch als Erinnerung an Axel und in den Gerüchten um die Queerness der ›originalen‹ Künstler*innen präsent. Die Szene produziert einen vielschichtigen temporal Drag, eine Öffnung der Gegenwart auf vielschichtige Vergangenheiten hin: 2019 schaue ich auf eine Backstage-Aufnahme aus den frühen 1980ern, in der ein Tänzer eine Erinnerung an einen verstorbenen Freund in Gebärden aufführt, zu einer musikalischen Aufnahme von 1928. Elizabeth Freeman hat diesen Begriff eingeführt, um gegenüber einem linearen und teleologischen Geschichtsdenken »retrogression, delay and pull of the past upon the present«47 ins Spiel zu bringen und so ein komplexeres
45 Newton berichtet von einem Performer, der auf das »red hot mama«-Genre spezialisiert sei, und besonders die Aufnahmen von Sophie Tucker imitierte. Newton, Esther: Mother Camp. Female Impersonators in America. With a new Preface, Chicago/London 1979, S. 46. Für eine weitere Erzählung der historischen Genese des Lip-Synching: Vgl. Senelick, Laurence: The Changing Room. Sex, Drag and Theatre, London/New York 2000, S. 377-408. 46 Ich paraphrasiere hier: Jarman, Freya: »Watch My Lips. The Limits of Camp in Lip Syncing Scenes«, in: Christopher Moore/Philip Purvis (Hg), Music & Camp, Middelton 2018, S. 95-117. 47 Freeman, Elizabeth: »Packing History, Count(er)ing Generations«, in: New Literary History 31, 4 (2000), S. 727-44, hier S. 728.
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Verständnis der historischen Zeitlichkeit (politischer) Bewegungen zu denken. Gerald Siegmund hat ihn wiederum herangezogen, um Bauschs Stücke als Verkörperung einer (verdrängten oder aufgeschobenen) Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und das nationalsozialistische Deutschland zu beschreiben. 48 Es lässt sich aber auch ganz konkret als eine queere Zeitlichkeit denken, die sich korporeal mit Vergangenem verbindet, um eine andere Zukunft zu entwerfen; 49 verdichten sich doch hier über einen Zeitraum von beinahe einem Jahrhundert ganz unterschiedliche Erfahrungen, Sprachen und Gesten zu einem Begehren, dessen Erfüllung utopisch in der Zukunft liegt: »Maybe I shall meet him Sunday, maybe Monday, maybe not. Still I’m sure to meet him one day, maybe Tuesday will be my good news day.« Akermans Backstage-Perspektive auf Lutz Försters Sign-Synching ist Dokument einer queeren Liebe, eines Affekts, dessen Referent nicht eindeutig ist und es nicht sein möchte. So lassen sich Resonanzen mit queerer Kultur in Bauschs Choreografie herstellen, die möglicherweise weder intendiert noch erwünscht waren, die jedoch auf jeden Fall in der Bausch-Literatur bisher keinen Raum hatten. »Distinguishing this discourse of love as one that implicitly speaks queer love we do not take for granted modes of reproduction, exchange values or teleological engagements. We allow simultaneous investments, contradiction, excess, relief and excess.«50 In diesem Blick auf das Tanztheater von hinten scheint ein queeres Potenzial von Liebe auf, das sich in alle Richtungen erstreckt: über Zeiten und Örtlichkeiten hinweg, medial vermittelt, auf ihre Unabgrenzbarkeit und Unbestimmbarkeit insistierend.
48 G. Siegmund: »Doing the Contemporary«, S. 21. 49 Ich paraphrasiere hier: Muñoz, José Esteban: Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York/London 2009, S. 1f. Vgl. zu unterschiedlichen Ansätzen queerer Zeitlichkeit: Dinshaw, Carolyn/Edelman, Lee/Ferguson, Roderick A./et al.: »Theorizing Queer Temporalities. A Roundtable Discussion«, in: GLQ 13, 2/3 (2007), Special Issue: Queer Temporalities, S. 177-195. 50 E. Roysdon: »Queer Love«, S. 178.
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Look Where the Money Is! Annemie Vanackere und Aenne Quiñones im Interview mit Rainer Simon Rainer Simon: Gesamtgesellschaftlich lässt sich wohl kaum von einer Geschlechtergerechtigkeit sprechen. Auf die »genderungerechte« Besetzungs- und Ensemblepolitik der Stadt- und Staatstheater wurde in den letzten Jahren oftmals hingewiesen. Wie sieht es in der freien Szene aus? Aenne Quiñones: Da muss man ein bisschen in die Vergangenheit zurückschauen. Die Mitglieder der Performance-Gruppe She She Pop beispielsweise, also ein Urgestein der freien Szene in Deutschland, haben während ihres Studiums in Gießen bemerkt, dass meistens Männer die Projekte machen und Frauen nur mitmachen. Sie haben sich gefragt, inwiefern da eigentlich ihre Fragen und ihre feministische Perspektive vorkommen – was schließlich zur Gründung von She She Pop geführt hat. Das war sicherlich ein harter Kampf, sich zuerst einmal zu etablieren, sich dann 25 Jahre als Kollektiv zu behaupten und das heutige Standing zu erlangen. Und damit war auch eine Abkehr von den Stadt- und Staatstheatern verbunden, in deren Strukturen sie sich sowieso nicht wiedergefunden haben. Habt ihr den Eindruck, dass sich seither, also in den letzten 25 Jahren, in der gesamten Szene etwas verändert hat? Quiñones: Ja, da hat sich viel getan – eben auch durch She She Pop, die ja Teil dessen sind und auch eine Verantwortung in dem Sinne den jüngeren Kolleg*innen gegenüber wahrnehmen. Annemie Vanackere: Ein Wandel lässt sich längst in der freien Tanzszene beobachten. In den Niederlanden und Belgien, wo ich länger gearbeitet habe, haben sich bereits in den frühen 1980er Jahren viele Choreograf*innen und Tän-
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zer*innen vom klassischen Ballett, das auf Leitungsebene und die Autorschaft betreffend heute noch eher eine Männerdomäne ist, losgesagt, um in antiautoritären und gleichberechtigten Zusammenhängen zu arbeiten. Heute sind in der freien Tanzszene sehr viele Choreografinnen und queere Personen mit sehr guten Arbeiten vertreten. Und doch ist nicht alles gut. In den großen Institutionen steckt viel, in der freien Szene wenig Geld. Große Institutionen werden meist von Männern geleitet, die Produktionshäuser und Festivals der freien Szene häufig von Frauen: »Look where the Money is!« Je mehr Geld, desto mehr Männer sind in der Leitung. Das hat viel mit immer noch männlich dominierten Netzwerken in Politik und Verwaltung, mit Machtansprüchen und entsprechenden Besetzungspolitiken zu tun. Und mit einem unterschiedlichen Vertrauen in männliche und weibliche Leitungspersonen. Wenn etwas an einem freien Produktionshaus schiefläuft, geht’s um weniger Geld als an einem großen Haus. Festivals bestehen aus einer kleineren Infrastruktur als große Häuser mit ihren großen Immobilien. Eine bessere Finanzierung und Ausstattung der freien Szene wäre also auch ein Schritt zu mehr Gendergerechtigkeit. Heißt frei produzieren womöglich auch anders und hierarchiefreier produzieren, wodurch gewisse patriarchale Strukturen auch durchbrochen werden können? Quiñones: Ja, das würde ich, generell betrachtet, schon sagen. Institutionalisierte Produktionsabläufe scheinen es eher zuzulassen, dass man sich als Leitungsperson selbst wichtiger nimmt als die Künstler*innen und deren Prozess. Denn der steht ja schon fest. Darüber hinaus ist es gerade bei männlichen Kollegen öfter zu beobachten, dass sie sich gerne erstmal in die erste Reihe stellen. Uns ist es wichtig, die Künstler*innen ins Zentrum zu stellen, deren unterschiedliche Herangehensweise zu befördern und da auch immer wieder gemeinsam neue Produktionswege zu gehen. Vanackere: An großen Häusern geht es auch mehr um Repräsentation. Traditionell sind das Orte, wo sich Leute treffen, um sich auch zu zeigen und in der Pause Geschäfte zu machen. Und die Geschlechterasymmetrien werden häufig auch auf der Bühne gespiegelt. Ich kann die Geschichten, die da immer wieder erzählt werden, nicht mehr ertragen. Wenn es z.B. in einer Oper nur eine einzige Frauenfigur inmitten lauter Männerfiguren gibt, die alle gesellschaftlichen Domänen vertreten, und die Frau dann als Muse fungieren muss und schließlich auch noch zum Opfer wird … Wenn eine Frau ein Opernhaus leiten würde, würde so eine Oper vielleicht nicht mehr auf diese Weise erzählt werden? Es wird sich zeigen müssen, ob und
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inwieweit Repertoire und Struktur des Betriebs hier wirklich reformfähig und -willig sind. Quiñones: Das hängt auch mit der Geschichte des Repräsentationstheaters zusammen. Frei nach René Pollesch: Kommt ein Mann durch die Tür, ist er ein Mensch, kommt eine Frau durch die Tür, ist sie eine Frau. Das sagt ja eigentlich schon alles. Solche Zuschreibungen versuchen wir und die Künstler*innen, mit denen wir arbeiten, von vornherein zu durchbrechen, indem diese sich ja selbst auch als Autor*innen verstehen und damit nicht das repräsentieren, was sich jemand anderes ausgedacht hat, sondern eigene Perspektiven auf der Bühne vertreten können. Und wie könnt ihr das als Programmverantwortliche konkret durchbrechen? Vanackere: Wir sind nicht aktiv mit dem Durchbrechen, sondern eher mit dem Ermöglichen beschäftigt. Das ist eine positive Arbeit, die Spaß macht. Und wenn die Vorstellungen und Perspektiven passen, finden wir und die Künstler*innen einander. Mal kommen wir auf sie zu, mal sie auf uns. Wir entscheiden letztendlich, wer auf die Bühne kommt, das stimmt, und darin besteht auch eine gewisse Entscheidungsmacht. Heißt das, dass das Thema Gender bei der Programmierung nicht wirklich eine Rolle spielt? Oder doch? Und wenn ja, inwiefern? Vanackere: Wenn ich mich als Intendantin selbst als Teil der Fragestellung verstehe, dann hat das natürlich Auswirkungen auf die Programmgestaltung, darauf, wie und mit welchen Künstler*innen man arbeitet. Ein gutes Beispiel ist Tanz im August, deren Leiterin Virve Sutinen ›good old-style‹ Feministin ist und das auch in ihrer kuratorischen Praxis umsetzt. Bislang widmeten sich die von ihr für das Festival neu eingeführten Retrospektiven ausschließlich Choreografinnen wie Rosemary Butcher (2015), La Ribot (2017) oder (für das Festival 2019) Deborah Hay, also Frauen, die wunderbare Arbeiten gemacht, aber bislang keinen Eingang in den Kanon gefunden haben. Rosemary Butcher kannte ich selbst kaum und sie ist dann im Jahr danach gestorben. Was für ein Glück, dass wir das gemacht haben. Ich halte es auch für wichtig, sich immer wieder kritisch selbst zu hinterfragen: Wer kommt in unserem Programm vor? Wie viele Männer, Frauen, PoC, Queers, Cis-, Trans-, Inter-Menschen? Hier hilft oft einfach mal zu zählen. Manchmal hat man ja selbst blinde Flecken. Die Frage lässt sich nicht endgültig beantworten, sondern ist ein Prozess der fortlaufenden Selbstbefragung. Auf jeden Fall kann ich es überhaupt nicht mehr ertragen, wenn ein Podium nur mit Männern besetzt ist. Und das sehen nicht nur Frauen so. Tim Etchells von Forced Entertainment hat
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für sich entschieden, dass er nicht mehr auf ein Panel geht, auf dem keine Frau sitzt … Die Genderfrage ist also nicht nur ein Frauenthema … Quiñones: Die Genderfrage kann nicht isoliert betrachtet werden, sie ist strukturell bedingt und geht mit anderen Fragestellungen einher: Wie sieht das Geschlechterverhältnis in der Gesellschaft aus? Welche Werte werden vertreten? Dann ist Gender Teil von weiteren Zusammenhängen, die mit dem Begriff Intersektionalität gefasst werden können. Gender, Class, Race, Disability hängen miteinander zusammen. Letztlich geht es immer um Diskriminierung und Ausgrenzung. Die Freiheit der Kunst wird ja mitunter auch als Unabhängigkeit von sozialen Fragen verstanden: auf der einen Seite das Ästhetische, auf der anderen das Politische und Soziale. Der Begriff Intersektionalität weist wiederum auf eine permanente gegenseitige Durchdringung hin. Wie sieht die Gewichtung bei eurer Programmierung aus? Gibt es Projekte und Festivals, die dezidiert politisch ausgerichtet sind und andere nicht? Quiñones: Das hängt alles miteinander zusammen. Die Genderfrage und alles, was mit Identitäten zu tun hat, verweist ja auch immer auf die soziale Frage. Es lässt sich nicht voneinander trennen. Wenn wir programmieren, gehen wir zunächst inhaltlich vor, wobei sich das Ästhetische und Politische verschränken. Beides gehört zusammen – vor allem, wenn es um die Produktionsweisen geht, darum wie man arbeitet, was man unter Realität auf der Bühne versteht, und sie nicht abtrennt von all den Produktionsmechanismen, in denen man sich befindet, und schließlich auch, wie man in der Aufführung mit dem Publikum interagiert … Vanackere: Als Zuschauerin kann ich diese Dimensionen auch nicht auseinanderhalten. Forced Entertainment ist ein gutes Beispiel, weil sie seit mehr als 30 Jahren scheinbar lächerliche Dinge machen – wie Bäume aus Pappkartons herstellen –, die allerdings aus dem Leben geholt sind und implizit eine Kritik an bestimmten traditionellen Formen von Theater formulieren. Ästhetik und Soziales gehören hier zusammen. Auch bei Meg Stuart, wie sich in ihren Arbeiten eine Haltung zeigt, wie sie mit Leuten umgeht und eine Gemeinschaft darstellt – das hat etwas sehr Politisches. Das, was auf der Bühne verhandelt wird, hängt also maßgeblich damit zusammen, wie es produziert wird, mit welcher Einstellung, mit welchem Bewusstsein …
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Quiñones: Um mit Godard zu sprechen: »Es geht nicht darum, politische Filme, sondern politisch Filme zu machen.« Das ist der Ausgangspunkt, wie etwas entsteht, und in welchen Produktionsverhältnissen. Vanackere: Aber kein Raum ist machtfrei – auch nicht das HAU. Als Institution ist es nicht unser Streben, eine hierarchiefreie Organisation zu sein. Wir brauchen eine klare Struktur und eine klare Aufteilung von Verantwortungsbereichen, um unsere Arbeit gut machen zu können. Man kann das Macht nennen oder auch eine funktionale Hierarchie. Am Ende muss irgendjemand entscheiden – und im Zweifelsfall auch den Kopf dafür hinhalten. Und selbstverständlich üben wir auch eine gewisse Macht bei der Programmierung aus. Ich kenne Kolleg*innen, die sagen, wir sind zu klein und zu abhängig von den Drittmitteln, die die Künstler*innen mitbringen, um wirklich Macht zu haben. Aber letztendlich treffen wir eine Auswahl. Und die wird nicht allein von ästhetischen Fragen geleitet, sondern auch von Fragen wie: Wer spricht hier eigentlich wie über wen? Machtverhältnisse offen zu legen und zu versuchen, sie so transparent wie möglich zu kommunizieren, ist sehr wichtig. Quiñones: Und sie auch zur Disposition zu stellen. Mit der von Donna Haraways Denken inspirierten Imagekampagne am Anfang der Intendanz haben wir die Frage gestellt, wer tatsächlich spricht. Wir wollten zeigen, dass wir nicht für die Anderen sprechen, sondern das Haus auch als Podium zur Verfügung stellen wollen für Leute, die aktiv sind in der Gesellschaft. Denn wir wissen nicht immer alles besser oder müssen nicht immer alles anders machen. Viele Künstler*innen, mit denen wir kooperieren, arbeiten zudem kollektiv und erproben andere Formen der Zusammenarbeit und damit andere Machtverhältnisse. Das Kollektiv She She Pop rotiert sogar in den verschiedenen Funktionen. Es bedeutet natürlich viel Arbeit und Anstrengung, die Verantwortung immer wieder abzugeben, eine neue zu übernehmen und sich im Arbeitsprozess immer wieder neu zu erfinden. Vanackere: Das machen wir noch nicht. [Gelächter] Wenn du sagst, das machen wir hier nicht, gibt es dennoch Dinge, die ihr hier am HAU ähnlich wie Performance-Gruppen macht – also z.B. kollektives Arbeiten, mit flacheren Hierarchien etc.?
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Vanackere: In unserer wöchentlichen Programmteamsitzung diskutieren wir z.B. mit den Kurator*innen für Tanz, Musik, Performance, Diskurs und – wenn möglich – mit den Produktionskolleg*innen und unserer Kommunikationsleiterin angeregt darüber, was uns und die Künstler*innen umtreibt und wie sich das in unserem Programm niederschlagen könnte. Natürlich hat jede*r ihre*seine Verantwortlichkeiten und ihre*seine spezifischen Expertisen. Über das konkrete Programm entscheiden beispielsweise am Ende die Kurator*innen, aber wir arbeiten letztlich alle aus unterschiedlichen Richtungen an einer gemeinsamen Perspektive. Weil wir sehr viel machen, müssen die Zuständigkeiten geklärt sein. Ansonsten fließt die Kommunikation nicht. Quiñones: So faszinierend die großen Institutionen mit den verschiedenen Gewerken und Abteilungen auch sind, so liegt doch ein gewisses Entfremdungsmoment in der Natur der Sache, ist der Dimension einfach immanent. Man müsste schon sehr viel Widerstand entwickeln, um dem wirkungsvoll entgegenzuwirken. Wir arbeiten hingegen niederschwelliger, haben deutlich kürzere und direktere Wege. Zudem geht es in den großen Institutionen, die ich ja z.T. auch von innen kennengelernt habe, häufig um machtpolitische Entscheidungen, sodass inhaltliche Fragestellungen leicht auf der Strecke bleiben können. Das sind Riesenapparate, die sich teilweise ein bisschen überlebt haben und trotzdem weiterfunktionieren. Die Leute haben gute Arbeitsplätze und sind sozial abgesichert, was ja auch wichtig ist. Aber es besteht die Gefahr, dass der arbeitsteilige Apparat der künstlerischen Produktion nicht unbedingt immer dienlich ist. Vanackere: Der Eindruck entsteht, dass in größeren Institutionen die Leute zu sehr miteinander beschäftigt sind: Wer ist über wen weisungsbefugt usw.? Wie gesagt, auch wir haben eine Hierarchie, aber wir versuchen, sie so funktional und klar wie möglich zu gestalten, damit die Machtverteilung nicht ständig selbst zum Thema wird und wir die Energie in unser Kerngeschäft stecken können: die künstlerische Produktion und Präsentation. Hängt es also nicht nur vom finanziellen Volumen, sondern auch von der Größe und dem Grad der Entfremdung ab, wo Frauen Kulturbetriebe leiten? Vanackere: Ja, das kann man so sagen. Und ich würde auch meinen, dass sich das auf unser Personal auswirkt. Viele, die hier arbeiten, haben – als Frauen, queere Menschen und auch als Heteromänner – die Erfahrung gemacht, dass sie nicht die gleichen Privilegien wie bestimmte Personen in der Gesellschaft haben. Insbesondere in unserem Alter haben wir alle erfahren, dass straight white men andere
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Chancen hatten als wir, die wir anders zu unserem Ziel kommen mussten – uns nicht alles zufliegt, wir kämpfen müssen. Und dieses Gefühl von Ungerechtigkeit, den Vorsatz, so nicht werden zu wollen, nehme ich und viele andere hier mit in die Arbeit. Dafür gibt es keine Garantie, aber unsere Antenne ist da sehr scharfgestellt. Es geht darum, nicht dieselben Privilegien für sich zu beanspruchen, die die power in charge hat. Da kommt wieder die Intersektionalität ins Spiel … Vanackere: Mit dem Unterschied, dass Frauen keine Minderheit sind. Wir haben nun über Vorzüge eines freien Produktionshauses gesprochen. Gibt es denn hinsichtlich des Themas Gender bei euch oder in der freien Szene allgemein noch Nachholbedarf? Quiñones: Hmm … Selbst unsere technische Abteilung wird von einer Frau geleitet. Uns wird ja immer vorgeworfen, dass wir neoliberal organisiert seien. Da ist auch auf eine gewisse Weise was dran. Aber in dem Moment, in dem man etwas als Problem erkennt, kann man ja auch dagegenhalten, die Vorzüge stärken und auf der anderen Seite immer wieder Grenzen setzen. Um den richtigen Umgang damit zu finden, muss man das immer wieder zum Thema machen. Das ist genauso wie mit der Kunstproduktion. Auch hier müssen wir uns ständig hinterfragen, uns neu erfinden. Wir haben über den Pay-Gap zwischen Intendant*innen von großen Institutionen und von freien Produktionshäusern gesprochen, der im Grunde auch mit einem Gender-Pay-Gap einhergeht – dort eher Männer, hier eher Frauen. Wie sieht es bei den Künstler*innen der freien Szene aus? Vanackere: Der Pay-Gap betrifft nicht nur die Leitungen, sondern setzt sich in den jeweiligen Szenen fort. Wenn du 20 bis 30 Jahre lang in der freien Szene gearbeitet, dich immer von Projekt zu Projekt gehangelt hast, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass du in der Altersarmut landest, ziemlich groß. Wenn mehr Geld in der freien Szene wäre und die Leute besser bezahlt werden würden, könnte man auch andere Karrieren mitfördern. Jemand, wie z.B. Jeremy Wade, müsste mal vier oder fünf Jahre lang eine ordentliche Summe und ein gutes Gehalt bekommen, um seine Projekte machen zu können. Danach kann eine Jury das immer noch beurteilen und dann vielleicht sagen: »Danke, war schön, wir nehmen jetzt andere.« Aber mit einer immer unsicheren Förderung von Projekt zu Projekt kann er
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sein Potenzial nicht voll entfalten. Das ist frustrierend für den Künstler und ein Verlust für das Publikum. Und er ist nur ein Beispiel von vielen. Das macht mich echt wütend und ich finde das wirklich nicht in Ordnung. Deswegen sind in der freien Szene mehr Frauen und Queers tätig, weil die keine anderen Zugänge haben. Oder umgekehrt … Quiñones: Das ist auch eine Frage der sozialen Absicherung, die in den großen Häusern eher als in der freien Szene gewährleistet ist. Organisationen wie der LAFT kämpfen schon seit Jahren für eine bessere Absicherung und zumutbare Arbeitsbedingungen in der freien Szene und wir unterstützen sie dabei. Inwiefern wirken sich euer Programm, die Künstler*innen und die Themen, die sie bearbeiten, auf die Zusammensetzung eures Publikums aus? Vanackere: Wir haben sicherlich ein Publikum, das das, was auf der Bühne verhandelt wird, auch so liest, so versteht, kritisch hinterfragt und deswegen kommt. Ins HAU kommt ein sehr engagiertes Publikum, das auch äußert, wenn es mit etwas nicht einverstanden ist. Das finde ich spannend und wir müssen das dann auch aushalten. Die Stimmen und die Fragen, die z.B. bei Zehn Jahre Missy Magazin, einer Veranstaltung, die intersektional gedacht war, auftauchten, waren sehr scharf, aber vor allem auch anregend … Quiñones: … und die Mehrheit im Publikum waren People of Color – das ist ja im Berliner Kunstbetrieb keine Selbstverständlichkeit … Oder bei Western Society und vielen anderen Projekten von Gob Squad ist man z.B. selbst aufgerufen, sich zu beteiligen – muss man nicht, kann man aber. Das hat nichts mit Partizipation im herkömmlichen Sinne, mit Mitmachtheater, zu tun, sondern öffnet den Raum jenseits der vierten Wand, um Ideen miteinander zu teilen, gemeinsam in einen Prozess des Denkens oder der Reflexion zu treten. Es geht um eine politische Sichtweise, darum, einen demokratischen Raum zu schaffen, in dem man sich trifft, sich austauscht und automatisch involviert wird. Und das zieht selbstverständlich ein bestimmtes Publikum an, das an solch einem Austausch auch interessiert ist. Inwiefern berücksichtigt ihr bei eurer Publikumsansprache – also in euren Publikationen, in euren Texten und in eurer Fotoauswahl – Aspekte wie Gender, Race, Class?
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Vanackere: Wir verwenden in unseren Texten das Gender-Sternchen, um alle möglichen geschlechtlichen Identitäten anzusprechen. Die Fotos für unseren Leporello und unsere Website bekommen wir von den Künstler*innen, mit denen wir zusammenarbeiten. Da diese sehr divers sind, haben wir auch ein diverses Abbild. Und wir lassen die Texte von den Künstler*innen auch immer absegnen. Letztlich geht es aber natürlich auch um Marketing. Wir wollen ja Leute mit den Texten und Bildern erreichen und da heißt es dann immer auch: »break it down«. Wo liegen die Grenzen des Einsatzes für diese identitätspolitischen Dimensionen? Kann das Engagement für Gender, Queerness etc. auch in neue Formen der Homogenität und der Exklusivität münden? Vanackere: Als wir angefangen haben, haben wir Janina Audick mit der Neugestaltung der Innenräume, der Foyers und des WAU beauftragt. Mit wenig Geld hat sie eine verspielte, helle, farbenfrohe und vor allem offene Atmosphäre geschaffen. Viele Menschen haben mir gesagt: »Wow, ich fühle mich hier jetzt wohl!« Auch in Anzug und Krawatte soll ›Mann‹ sich im HAU neben den Tattoos und Piercings wohlfühlen. Und andersherum: Ich habe den Eindruck, dass das inzwischen so ist. Homogenität, auch wenn sie einer Antihaltung bzw. dem Einsatz für Diversität geschuldet ist, halte ich nicht für erstrebenswert. Das Hinterfragen von Privilegien darf für diejenigen, deren Privilegien hinterfragt werden, nicht zu dem Gefühl kippen: I don’t belong. Quiñones: Das lässt sich auch nicht mit Schlagworten erfassen, sondern ist wesentlich komplexer – zumal, wenn man es in Bezug auf die soziale Frage begreift. Die Konzentration auf bestimmte Gruppierungen finde ich mittlerweile mehr und mehr problematisch, auch wenn das für einen gewissen emanzipatorischen Prozess zuerst einmal notwendig ist. Letztlich ist aber das eine ohne das andere nicht denkbar: Feminismus ohne Antirassismus ist z.B. kein Feminismus für mich. Ein wichtiges Ziel wäre, dass die verschiedenen Szenen zusammenkommen, sich verschiedene Gruppen in der Gesellschaft untereinander verständigen, um letztlich ein breiteres Spektrum mit einem Thema, das alle betrifft, zu erreichen – z.B. mit der Eigentums- und der Wohnungsfrage, die mittlerweile sehr viele Menschen in dieser Stadt betrifft. Vanackere: Zuerst einmal ist es wichtig, dass es Schutzräume für einzelne Communities gibt. Und dazu gehört auch, dass nicht jede*r willkommen ist. Aber es braucht auch sichere Orte der Begegnung. Wir wollen ja, dass die Dinge sich nachhaltig verändern, dass sie einen gesamtgesellschaftlichen Effekt haben. Und dazu
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braucht man auch die, die nicht zu den strukturell benachteiligten Gruppen gehören: um sie zu sensibilisieren, ihren Blick zu öffnen und in Austausch darüber zu kommen, dass ihre Möglichkeiten und Zugänge für andere nicht selbstverständlich gegeben sind und dass es dafür keine ›guten Gründe‹ gibt. Es gibt ja ganz wunderbare junge und alte straight white men, die ganz anders drauf sind und die unbedingt angesprochen, eingebunden und mitgenommen werden müssen. Um echte Veränderungen zu bewirken, braucht es größere Dimensionen, aber vor allem auch Zeit. Das Interview wurde geführt am 14.11.2018.
Gender in Comedy Reflections from a Practitioner-Researcher1 Neslihan Arol
The marginalization of women in comedy is identified as »double marginalization«2 by Helga Kotthoff, since comedy, with its low status in the arts, is already marginalized. Drawing on this argument, it can be contended that feminists suffer a triple marginalization, as they are often labelled as fierce enemies of comedy or ›killjoys‹ as Sara Ahmed states: »Feminists are typically represented as […] humourless [...]. Feminists don’t even have to say anything to be read as killing joy.«3 Kathryn Kein furthers this argument by pointing out to its effects on the scholarship: »The meager scholarly space devoted to feminism and humour is likely shaped by the fraught relationship women and feminism have had with humour in our cultural imagination.«4 Fortunately, we can benefit from a growing strain of literature today, which is consistent with the remarkable increase of comedic performances created by women in recent decades. 1
I borrowed the term »practitioner-researcher« from Robin Nelson, who utilizes this term in his edited book Practice as Research in the Arts: Principles, Protocols, Pedagogies, Resistances. The term fits me well as I work both practically and theoretically in my field. After this paper was first presented at FAU on 26 May 2018, there have been some changes to my PhD in terms of its emphasis on practice, which is left out of this article since it mainly focuses on the practitioner-researcher perspective. Nelson, Robin: Practice as Research in the Arts: Principles, Protocols, Pedagogies, Resistances, New York 2013.
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Kotthoff, Helga: »Gender and Humor: The State of the Art«, in: Journal of Pragmatics 38, 1 (2006), pp. 4-25, here p. 5.
3
Ahmed, Sara: The Promise of Happiness, Durham/London 2010, p. 65.
4
Kein, Kathryn: »Recovering Our Sense of Humor: New Directions in Feminist Humor Studies«, in: Feminist Studies 41, 3 (2015), pp. 671-681, here p. 672.
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With my PhD project Feminist Approaches to Comedy through Solo Performance Forms5, I set out to contribute to the feminist line of work on comedy through a comparative, theoretical and practical analysis of three different performance forms: meddahlık6, stand-up comedy, and clowning. This work is crucial in terms of the existing research gap and the ongoing marginalization of women in comedy in general and even more so in these normatively male performance forms. Working as a practitioner-researcher since starting my master’s thesis7, I create and present performances within the scope of my research projects and thereby engage in critical reflection upon my artistic work. Accordingly, the research approaches »both ›theory‹ and ›practice‹ in an iterative process of ›doingreflecting-reading-articulating-doing‹«8. During the course of research, constant negotiation takes place between the different modes of knowledge on a spectrum ranging between haptic knowledge in the performer’s body to explicit academic knowledge in written format.9 To render the haptic knowledge explicit, methods such as keeping a performer diary and conducting audience surveys have been used.10 Although there is not enough space to do justice to this process within the confines of this article, it aims to offer an insight into the influences of this process on the artistic work and its approach to the representation of gender. In order to achieve this, the article provides, firstly, a very brief literature review on the intersection of feminism and comedy. This is followed by the short introduction to three solo performances in the order of their creation, and their ways of dealing with »feminist comedy«.
5
I have been a PhD student in the Performing Arts Department at Universität der Künste Berlin since October 2014.
6
This term will be explained more in detail later in the article.
7
Arol, Zeynep Neslihan: Clown as a Possibility for Women’s Theatre. Unpublished Master’s thesis, Istanbul 2013, p. iv.
8
R. Nelson: Practice as Research in the Arts, p. 32.
9
This negotiation is effectively explained by the diagram created by Robin Nelson to visually represent the multi-mode epistemological model for ›Practice as Research‹. Ibid., p. 37.
10 Some results of my audience surveys were shared on 27 June 2018 in the panel Asking the Audiences: Laughter in Performance, which I supported as a convener and a contributor, apart of the 30th International Society for Humor Studies Conference in Tallinn.
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TOWARDS A FEMINIST COMEDY? Feminist academic and critic Jill Dolan writes that she turned to criticism and »gave up acting because of how acting constrained her own gender expression by its gender-enforcing strategies and norms«.11 I had similar experiences and felt most constrained when struggling to find funny female roles in the canonical texts to perform for my acting classes. My quest to find alternative forms of representation that do not belong to the classical actor training practices led me to clowning. Clowning as an art form which provides direct communication possibilities with the audience, and embraces idiocy12 and failure, empowered me to act with more freedom on stage. Moreover, it enabled me to be the creator of my own comedy, although it is very challenging for a woman, since comedy »is perhaps the most fiercely guarded of all, against female clowns and female critics«13 as Frances Gray states. Encouraging women to embrace the role of clown, Gray also points to the potential of laughter as a force for change. 14 Many early studies on women and comedy were influenced by the secondwave feminist movement which included seminal works recognizing laughter as a powerful social force. Ignited by the search for a feminine tradition, numerous early works on comedy attempted to identify a humour specific to women that differs from mens’. Such a gender binary is no longer a prominent reference point for feminist inquiries. Judith Butler’s gender theory, which recognizes gender not as a stable identity but rather »an identity instituted through a stylized repetition of acts«15, took centre stage. This theory of gender as a constructed identity over time asserts the performativity of gender, which draws attention to the possibilities of its deconstruction. Butler suggests the potentiality of subversive laughter in parodic practices of heteronormativity which can »expose the phantasmatic effect of abiding identity as a politically tenuous construction«16. In this regard, contemporary feminist
11 Dolan, Jill: The Feminist Spectator in Action: Feminist Criticism for the Stage and Screen, London 2013, p. 193. 12 »Clowning turns idiocy into an art form.« Wright, John: Why is that so funny? A Practical Exploration of Physical Comedy, New York 2007, p. 180. 13 Gray, Frances: Women and Laughter, London 1994, p. 13. 14 Cf. ibid., p. 33. 15 Butler, Judith: »Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory«, in: Theatre Journal 40, 4 (1988), pp. 519-531, here p. 519. 16 Butler, Judith: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, New York 1999, p. 179.
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scholarship often uses the term »subversive laughter« in connection with the favoured comedy, which attempts to target and parody the dominant heteronormative culture. This is also consistent with the primary understanding of the label »feminist humour« in the literature. Some definitions of this label can be cited as follows: »The persistent attitude that underlies feminist humor is the attitude of social revolution ⎼ that is, we are ridiculing a social system that […] must be changed.«17 »Feminist humor […] both elucidates and challenges women’s subordination and oppression.«18 »[F]eminist humor […] reveals and ridicules the absurdity of gender stereotypes and gender-based inequality.«19 »Feminist humor […] inverts sexist culture to expose its fallacies.«20
The common ground of these explanations can be interpreted as their explicit focus on gender and awareness of women’s oppression as well as exposure and ridicule of the responsible social system, in order to promote change and the empowerment of women. Thus, feminist humour, which is seen as a strategy towards political and social change, has to be something more than mere entertainment.
LOOKING FOR SUBVERSIVE LAUGHTER: THE IDEAL WOMAN UP AGAINST THE PERFECTION DISPOSITIF My first feminist practice in comedy was built on an understanding of feminist humour similar to that mentioned above and was part of my master’s thesis. For that practice-based research, I created a solo clown performance in Istanbul called The Ideal Woman in 2013. I further developed and performed this act during my
17 Kaufman, Gloria: »Introduction«, in: Gloria Kaufman/Mary Kay Blakely (Eds.), Pulling Our Own Strings: Feminist Humor & Satire, Bloomington 1980, pp. 13-16, here p. 13. 18 Walker, Nancy A.: A Very Serious Thing: Women’s Humor and American Culture, Minneapolis 1988, p. 152. 19 Gallivan, Joanne: »Group difference in appreciation of feminist humor«, in: Humor 5, 4 (1992), pp. 369-374, here p. 373. 20 Crawford, Mary: Talking Difference: On Gender and Language, London 1995, p. 177.
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PhD process in various locations including Berlin, Toronto, Vienna and Helsinki, the last two at international women’s clown festivals.21 In this performance, as apparent from the title, Süper22 is a clown who claims to be the ideal woman or Die perfekte Frau23 after she migrated to Germany. This thematic concept enabled me to deliberate on the tension created by the idealization of womanhood, which I connect to the tension and discrepancy that Teresa de Lauretis identified in her inspiring work Technologies of Gender between »Woman« as representation with the capital letter and »women«, the real, historical beings and social subjects.24 The idealization of womanhood and the characteristics like modesty, virtue and passivity associated with the concept of ideal womanhood are among the most crucial strategies that sustain the disadvantaged position of women in comedy, and in wider social life as well.25 The migration of Süper from Istanbul to Berlin not only changed the title of the performance but also the costume26 and some ›ideal‹ options. But the main concept remained the same. The short promotion text gives a clear idea of the performance concept:
21 The festival in Helsinki is called Red Pearl Women’s Clown Festival and I was a part of the festival in 2016. The festival in Vienna is called Clownin International Women’s Clown Festival, which was unfortunately cancelled in 2017 due to budget constraints. I was lucky enough to perform in the last edition of it in 2015. 22 Süper means super in Turkish. 23 The performance premiered with this updated title in Berlin and was first shown in Theaterhaus Berlin Mitte on 12 October 2015 as a work-in-progress. 24 Cf. de Lauretis, Teresa: Technologies of Gender: Essays on Theory, Film, and Fiction, Bloomington 1987, p. 10. 25 Anthropologist and humour scholar Mahadev E. Apte states that due to this idealization, women were kept in the private domain and prevented from publicly engaging in humour. Cf. Apte, Mahadev E.: Humor and Laughter: An Anthropological Approach, Ithaca 1985, p. 73. 26 Since I was searching for the possibilities that clowning provides for the intersection of feminism and comedy, I decided first to make use of a cliché clown image. For this purpose, I used a curly pink wig as well as colourful and shiny clothes. You can see this in the following photo (Fig. 1), which was taken by Ronald Spratte before the work-inprogress showing in Theaterhaus Berlin Mitte in 2015. Later, I gave up the wig and chose to wear more neutral clothing, which was basically necessary for my comfort on stage. This look is visible in the following video links of my Helsinki performance in 2016.
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»The clown ›Süper‹, as can also be understood from her name, is a super hero who finally solved a very big social problem. By the guidance of her superpowers and after much hard work and countless tests, she is now able to apply the formula of being the perfect woman! Depending on preference she can be not only the perfect mother but also the perfect bitch or the perfect feminist.«27
Therefore, the performance deals with the perfection dispositif28 which »emerges as a highly hetero-normative vector of competition for women«29 in today’s world. Feminism is also made compatible with this »inner directed self-competition«30 which became a key element in contemporary neo-liberalism.31 As Jessalynn Keller and Jessica Ringrose puts it: »This version of feminism recognizes current inequalities between men and women yet disavows the social, cultural and economic roots of these inequalities in favour of the neo-liberal ethos of individual action […].«32 Trapped within the perfection dispositif, Süper is desperate to find a formula to become the perfect woman. In order to achieve this, she realizes she needs to perform certain roles. She comes on the stage with her huge bag full of »femininities« that are in high demand and tries to create the ideal pose to declare that she is the perfect woman. To choose which pose and position would be the best, she
27 This text is taken from the playbill of the performance »The Perfect Woman«, which was performed on 8th of February 2016 in Helen Gardiner Phelan Playhouse in Toronto, Canada. For more information on the event, see: https://www.facebook.com/events/ 753525994749402/ (accessed 11. April 2019). 28 This term is borrowed from Angela McRobbie, who writes: »The dispositif of the perfect expects the young women to ›fix‹ things for herself, by means of a constantly monitored life-plan. « McRobbie, Angela: »Notes on the Perfect«, in: Australian Feminist Studies 30, 83 (2015), pp. 3-20, here p. 17. 29 Ibid., p. 7. 30 Ibid., p. 15. 31 This short video clip from the ending of the clown performance The Perfect Woman reveals the demand for a certain ›harmless‹ kind of feminism. When Süper shows the woman power symbol, which is usually associated with radical feminism, she is warned to be »not that feminist«. Arol, Neslihan: »Not THAT Feminist Please […]«, Vimeo video: February 12, 2016, See https://vimeo.com/29 3935482 (Password: notthat feministplease). 32 Keller, Jessalynn/Ringrose, Jessica: »›But then feminism goes out the window!‹: exploring teenage girls’ critical response to celebrity feminism«, in: Celebrity Studies 6, 1 (2015), pp. 132-135, here p. 132.
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asks the opinion of the audience. But she is not sure until she sees herself with her own eyes. This is an example of »being the surveyor and the surveyed«33 at the same time, which can also be referred to as self-regulation that Angela McRobbie identifies as »male dominance carefully disguised through the perfection dispositif«34. In order to achieve this self-regulation, Süper invites a female audience member onto the stage and turns her into a clown by making her wear a red clown nose ready to pose like Süper herself. When the pose and the position of this new clown is approved by Süper, who goes to sit among the audience to see and judge it properly, she goes back onstage to take a selfie with the other clown while the audience applauds. Taking selfies is a tool for the technology of the self, often reinforcing self-regulation and competition. After this process, Süper is ready to reveal her ›perfection‹.
Süper reveals her special t-shirt, which includes the words »The Perfect« on the front and »Woman« on the back. These words were embroidered with gold sequins. Photo: Ronald Spratte, taken on 12.10.2015 during the work in progress showing in Theater haus Berlin Mitte.
33 Berger, John: »From Ways of Seeing«, in: Amelia Jones (Ed.), The Feminism and Visual Culture Reader, London 2003, pp. 37-39, here p. 37. 34 McRobbie, A.: »Notes on the Perfect«, p. 3.
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After the declaration of Süper’s secret identity as the perfect woman, the audience members are given the chance to draw cards from Süper’s hat to place an ›order‹ for the perfect woman of their choice. The choice of cards and their sequence are based on chance, so there is enough room for improvisation and, therefore, laughter. For instance, when someone chooses the perfect mother card, clown Süper animates a birth scene. As a ›fit‹ mother, she stuffs ten organic Brussels sprouts into her mouth, then gives birth to a yellow helmet. 35 Süper shatters the peaceful, idealised mother image later on by kicking the helmet to the back of the stage after she is done with the role. Thus, the performance focuses solely on gender, strives to disrupt the male gaze and aims to show the absurdity of gender stereotypes through the journey of a super hero clown. In this manner, it fits the aforementioned definitions of feminist humour and plays with subversive laughter by parodying heteronormative gender roles.36
DELIBERATING ON THE LIMITS OF SUBVERSION: STAND-UP COMEDY FROM AN INTERSECTIONAL FEMINIST PERSPECTIVE My second feminist comedy performance as a stand-up comedy routine was developed in Berlin in 2016. It was at a time when I was fully aware of my nonwhiteness. I am considered white in the Turkish context, but in Germany I suddenly became a person of colour, a Muslim Turk, who surprisingly has fair skin and light brunette hair. Looking for feminist perspectives that do not isolate gender as a sole category of discrimination, I came across Chandra Talpade Mohanty`s work. »Intersectionality«37 for her is a conceptual anchor for feminist inquiries:
35 For the video of the birth scene see Arol, Neslihan: »The Perfect Woman Performance (Mother Part)«, Vimeo video: February 12, 2016, https://vimeo.com/228234874 (Password: perfectmothervideo). 36 Süper not only claims and confronts the role of the perfect ›actress‹, but also the perfect mother, the perfect virgin and the perfect whore, which have long been recognized by feminist scholarship as the dominant female images. For a detailed overview of the sources of inspiration and the process of creating the performance, see Z. N. Arol: Clown as a Possibility for Women’s Theatre, p. 60-71. 37 This term was first coined by Kimberlé Crenshaw. Cf. Crenshaw, Kimberlé: »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics«, in: The University of Chicago Legal Forum 1 (1989), pp. 139-167, here p. 140.
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»It is the intersections of the various systemic networks of class, race, (hetero)sexuality, and nation, then, that position us as ›women.‹ Herein lies a fundamental challenge for feminist analysis […].«38 As a result, my stand-up comedy routine was marked by intersectionality and touched upon the intersections of gender, nation, class and religion. In my standup comedy, I also wanted to incorporate critique of stand-up comedy itself, which »clearly announces itself as a genre focused on the performance of an exposed individual«39 as Judith Yaross Lee writes. Jason Zinoman identifies this crucial aspect of stand-up comedy as the »fetishization of the real«.40 Accordingly, authenticity is valued as a way of judging performances because the stand-up comic normally appears to be herself: it is not anticipated that her persona is filtered through a character, as in the case of an actor. Stand-up comedians face the demand to share even the most private details of their lives for the sake of comedy and they often become more popular as they do so, like Kevin Hart, Louis C.K. and Amy Schumer. So I open my stand-up comedy performance by ironically apologizing to the audience beforehand because I won’t be talking about my sex life or my penis. My apology is always greeted with laughter. This way, I intended not only to criticize the demand for exposure in the stand-up comedy industry but also the abundance of dick jokes. As Elaine Aston and Geraldine Harris state, stand-up comedy is to a great extent the most male-dominated form of popular entertainment and the most challenging on account of its gender bias.41 After this opening, I go on to explain my tragicomic experiences and encounters as a migrant woman in Germany, who is constantly asked where she is from. The main part of the performance consists of my imitations of the absurd reactions that I receive to my answer: »I am from Turkey«: from the puzzled face of a stranger, who tries to hide his discomfort and looks for a nice word to say and can only come up with a forced »cool«, to the meddler who warns me about the alcohol in my drink as soon as he learns where I am from. This part functions quite well and evokes laughter from its audiences. I feel very empowered to give the meddler
38 Mohanty, Chandra Talpade: Feminism without Borders: Decolonizing Theory, Practicing Solidarity, London 2009, p. 55. 39 Lee, Judith Yaross: Twain`s Brand: Humour in Contemporary American Culture, Jackson 2012, p. 28. 40 Zinoman, Jason: »The Authentic Joke«, Keynote Address at Ethics and Aesthetics of Stand-Up Comedy Conference, Pennsylvania, 6 April 2017. 41 Cf. Aston, Elaine/Harris, Geraldine: Performance Practice and Process: Contemporary [Women] Practitioners, New York 2008, p. 160.
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an ironic answer on stage as if I could also do it in real life: »Don’t worry, Allah protects me.« The jokes in this performance also work on the basis of subversion. I try to make fun of sexist ways in the stand-up comedy industry; I criticise minor racist reactions and ways of speech by parodying them and answering them with irony. This approach is used in many jokes that are considered subversive in the feminist literature. But for each attempt to target and subvert the dominant culture, one must first quote, invoke or repeat it to some extent. Since comedy functions mostly through incongruity and recognition, repetition-with-a-difference42 is a common technique in comedy. In an ideal scenario, subversive comedy reveals the situation by repeating it with a difference, thus creating a breach through which it offers a glimpse into the possibility for change.43 As Mary Douglas succinctly writes: »The joke merely affords opportunity for realising that an accepted pattern has no necessity.«44 Although repetition-with-a-difference can be a productive strategy for seeking social change, it also risks being caught in a negative practice as Janelle Reinelt elaborates: »The bi-polar oppositions of gender are reinscribed even in their critique. In effect, it reproduces the conceptual framework of things-as-they-are. Thus, women are left with a negative practice; all they can theoretically say is ›no, that’s still not it’.«45 Nearly three decades have passed since Reinelt suggested a »reconstructive phase of feminist theatre«46, which provides novelty and new meanings as »a second reconstructive moment to follow the naysaying«47. Are we currently in a reconstructive phase of feminist theatre? Or do we repeat accepted patterns to critique them rather than offering new ones?
42 This term is borrowed from Eva von Redecker, who identifies »subversive performance« as repetition-with-a-difference. Cf. von Redecker, Eva: »Gender Parody«, in: Bettina Papenburg (Ed.), Gender: Laughter, Farmington Hills 2017, pp. 279-292, here p. 283. 43 In a similar vein, Simon Critchley states that: »Humour both reveals the situation, and indicates how that situation might be changed.« Critchley, Simon: On Humour, London 2002, p. 16. 44 Douglas, Mary: »The Social Control of Cognition: Some Factors in Joke Perception «, in: Man 3, 3 (1968), pp. 361-376, here p. 361. 45 Reinelt, Janelle: »Feminist Theory and the Problem of Performance«, in: Modern Drama 32, 1 (1989), pp. 48-57, here p. 50. 46 Ibid., 52. 47 Ibid., 50.
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With these questions in mind, I decided to distance myself from the critique of the things-as-they-are with my latest feminist comedy practice. I turned my focus away from the dominant »subversive laughter« discourse in order to look for different ways to contribute to the feminist struggle, which was well put in Jill Dolan’s words: »to create new meanings for gender, race and sexuality«48. In a similar vein, Teresa de Lauretis’s work also inspired my practice with its identification of a vital part of feminism as: »the ongoing effort to create new spaces of discourse, to rewrite cultural narratives, and to define the terms of another perspective – ›a view from elsewhere‹.«49
ASPIRING TO A VIEW FROM ELSEWHERE: MEDDAH PRACTICE With my meddah performance Meddah geldi Haaanım/Meddah kommt, meine Damen! (Here comes Meddah, my ladies!), I aimed at providing a view from elsewhere, where a feminist might feel at home. Meddah literally means panegyrist as the word originally comes from the Arabic verb meth, meaning ›to praise’. But the usage of this word in Turkey’s cultural milieu is often associated with a comedic storyteller. Meddahlık, which means the art of meddah, was one of the popular forms of traditional theatre in Turkey prior to the advent of European-style theatre. Currently, it is seen as a dying traditional heritage of Turkish theatre and was included in 2008 on the Representative List of the Intangible Cultural Heritage of Humanity by UNESCO.50 Meddah’s traditional image consists of a man51 sitting on a chair accompanied by his main objects: a stick and a big handkerchief, which is a type of scarf. He
48 Dolan, Jill: Utopia in Performance: Finding Hope at the Theater, Ann Arbor 2005, p. 46. 49 Cf. T. de Lauretis, Technologies of Gender, p. 25. 50 For more information see: »Arts of the Meddah, public storytellers«, Unesco Intangible Cultural Heritage, https://ich.unesco.org/en/RL/arts-of-the-meddah-public-storytellers00037 (accessed 01. February 2017). 51 The only record of a female meddah in history is mentioned by Özdemir Nutku in his book Meddahlık ve Meddah Hikâyeleri with reference to Lady Hornby. Although Lady Hornby does not use the word »meddah« explicitly, she writes about her visit to Pasha’s harem, where there was a female jester making jokes. Hornby states: »The jester was a wild and most extraordinary-looking woman, with an immensity of broad humour and drollery in her face.« Hornby, Lady: Constantinople During the Crimean War, London 1863, p. 253.
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uses these objects to aid his story-telling and his imitation of multiple characters. The stick is used during the performance as a substitute for many different objects. It can also help to make sounds. Some meddahs use the stick to alert the crowd and to draw their attention by knocking on the floor to indicate the start of their performances. In this regard, it is a phallic symbol of authority and power. The fact that the stick was historically a bayonet 52 also emphasises the phallic symbolic value of this object. For these reasons, I chose to use a hand fan instead of a stick and it turned into various objects such as a steering wheel, flashlight and cellphone during the performance. The other main object of meddah, the hankerchief, usually hangs from the meddah’s shoulder or he wears it around his neck. The hankerchief plays an active role during his imitations. It is most commonly used as a headscarf to imitate female characters. Below is a picture of one of the characters, Kiraz Tante (Kiraz Aunt)53, an old woman whose trademark is her headscarf and her short poems about her dear friend Zeynep Hanım (Mrs. Zeynep), who is actually more than a friend as we find out later in the story.
Two pictures are merged to show the characters Zeynep Hanım (on the left) & Kiraz Tante (on the right) together. Photo: Ronald Spratte, taken on 11.12.2017 during the work-in-progress showing in Theaterhaus Berlin Mitte 52 Cf. Nutku, Özdemir: Meddahlık ve Meddah Hikâyeleri, Ankara 1997, p. 50. 53 The way this character is addressed in the play is especially in reverse form instead of Tante Kiraz because it is a playful direct translation from »Kiraz Teyze«, which is how the character would be addressed in Turkish.
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The short promotional text of the performance provides a brief overview of the plot: »Zeynep Hanım’s daughter Ayşe, who lives in Berlin and couldn’t visit her mother’s village for a while, takes the first plane to the homeland with her daughter Ella due to the sudden death of her father. After the funeral, Ayşe doesn’t want to leave her mother alone in the village but she needs to go back to Berlin urgently for her work. So Ella, the nineteen-yearold granddaughter, is left behind to persuade Zeynep Hanım, who is happy in her village, to travel abroad. Zeynep Hanım’s fear of flying as well as unexpected fellow passengers make this journey much more difficult than Ella could ever imagine.«54
One of the unexpected fellow passengers is Kiraz Tante. Others like Helga join when Ella decides to offer their ride on a carsharing website in order to save money on petrol, which leads to additional humorous conflicts in a car full of indescribable amounts of food and clothes, an old TV and passengers.55 I performed eleven characters throughout the story. Meddahs not only perform all the characters, they also imitate animals and sometimes even inanimate objects in their stories. So my imitations also included animals and things, like wolves, a chicken, a door, a storm and a radio. Based on this aspect, meddah was identified by Selim Nüzhet Gerçek as a small universe holding the contents of the whole world.56 That’s how meddahlık models the fluidity of identities and fits Jill Dolan’s theory for monopolylogues. Dolan sees monopolylogues as particularly suited for feminist investigation, as a site of utopian performatives through which
54 This text is taken from the playbill of the performance »Meddah geldi Haaanım«, which premiered in Izmir, Turkey on 11 th of May 2018 at the historical marketplace Arasta in the scope of the Bergama International Theatre Festival. For more information on the event, see: http://2018en.bergamatiyatrofestivali.com/meddah-geldi-haaan305m.html (accessed 11. April 2019). 55 The video, which starts with Helga getting in the car, gives a good idea about the performance. Ella is driving the car and Zeynep Hanım is sitting behind with Kiraz Tante to her left. Arol, Neslihan: »Meddah geldi Haaanım/Meddah kommt meine Damen! – A Short Section«, Vimeo video: May 13, 2018. See https://vimeo.com/295996300 (Password: meddahpart). 56 Gerçek, Selim Nüzhet: Türk Temaşası: Meddah, Karagöz, Orta Oyunu, Istanbul 1942, p. 8.
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communitas57 can be experienced and an effective vision of a better world becomes palpable.58 Dolan asks: »Is it because the simple complexity of the solo performer’s presence and transformation across multiple identities asks us to suspend our disbelief in particular ways that let us see and hear other people with more empathy and understanding? Because we’re willing to look, through the solo performer as shamanic guide, at subjects we would otherwise avoid?«59
In this respect, meddahlık can offer refreshing ways of seeing and can be very productive for a feminist performer, but only if she is willing to tell her own stories for and with the current audience to »promote an alternative imaginary to a hegemonic imaginary«60. Traditional meddah stories, of which only a few have survived to this day, generally fail to offer alternative imaginaries and often represent the female characters in a binary of either ›good women‹ or ›bad women‹. For this reason, I attempted with my performance to show an alternative imaginary through the story of a journey with multifaceted characters, to open up a site for utopian performatives. Shortly after my work-in-progress showing in Theaterhaus Berlin Mitte on 11 December 2017, I had a chance to join a performance analysis seminar at Freie Universität Berlin to discuss my performance. One of the students was confused about the relationship of my meddah performance with feminist comedy because I did not directly criticise the dominant culture on gender issues. She stated that she was expecting something very political. I asked myself whether I gave too much joy instead of killing it with my view from elsewhere?
57 This term was coined by Victor Turner as »the mutual confrontation of human beings stripped of status role characteristics«. Turner, Victor: »Frame, Flow and Reflection: Ritual and Drama as Public Liminality«, in: Japanese Journal of Religious Studies 6, 4 (1979), pp. 465-99, here p. 470. 58 Cf. J. Dolan, Utopia in Performance, p. 11. 59 Ibid., p. 68. 60 »[I]t is simply to promote an alternative imaginary to a hegemonic imaginary and to show, through that assertion, the ways in which the hegemonic imaginary constitutes itself through the naturalization of an exclusionary heterosexual morphology. « Butler, Judith: Bodies That Matter: On The Discursive Limits of ›Sex‹, New York/London 1993, p. 91.
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This engaging discussion as well as several other meetings with audiences showed me that the current expectations aroused by the label »feminist« are usually consistent with earlier identifications of feminist humour in the literature as quoted above. A feminist comedy is generally expected to be a clear protest, a declaration of opposition against the standards and values of dominant culture. But a view from elsewhere, where, for instance, old women are in love with each other and dance together, is also a protest, indeed a much needed one. Teresa de Lauretis states: »The representation of gender is its construction – and in the simplest sense it can be said that all of Western Art and high culture is the engraving of the history of that construction.«61 She stresses that the construction of gender continues today through various technologies of gender such as cinema and asserts that »the terms of a different construction of gender also exist, in the margins of hegemonic discourses.«62 Although de Lauretis does not touch upon comedy regarding what constitutes the margins, the generally comedic performance forms of meddahlık, clowning and stand-up comedy are arguably marginalized as art forms often labelled as low art and excluded by high culture. They can certainly be utilized to share a view from elsewhere, which prioritizes the representation of alternative imaginaries over the critique of the things-as-they-are. However, it is important to note that, while both approaches are of utmost significance for the intersection of feminism and comedy, they don’t exclude one another and should be equally acknowledged for their contribution to the field.
REFERENCES »Arts of the Meddah, public storytellers«, Unesco Intangible Cultural Heritage, https://ich.unesco.org/en/RL/arts-of-the-meddah-public-storytellers-00037,
accessed February 01, 2017. Ahmed, Sara: The Promise of Happiness, Durham/London 2010. Apte, Mahadev: Humor and Laughter: An Anthropological Approach, Ithaca 1985. Arol, Zeynep Neslihan: »Clown as a Possibility for Women’s Theatre.« Master’s thesis, Kadir Has University 2013. Dies.: »Meddah geldi Haaanım/Meddah kommt meine Damen! – A Short Section«, Vimeo video, 3:57. May 13, 2018. https://vimeo.com/295996300
61 T. de Lauretis: Technologies of Gender, p. 3. 62 Ibid., p. 18.
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Dies.: »Not THAT Feminist Please...«, Vimeo video, 0:18. February 12, 2016. https://vimeo.com/293935482
Dies.: »The Perfect Woman Performance (Mother Part)«, Vimeo video, 2:55. February 12, 2016. https://vimeo.com/228234874 Aston, Elaine/Harris, Geraldine: Performance Practice and Process: Contemporary [Women] Practitioners, New York 2008. Berger, John: »From Ways of Seeing«, in: Amelia Jones (Ed.), The Feminism and Visual Culture Reader, London 2003, pp. 37-39. Butler, Judith: Bodies That Matter: On The Discursive Limits of »Sex«, New York/London 1993. Dies.: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, New York/ London 1999. Dies.: »Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory«, in: Theatre Journal no. 40, 4 (1988). pp. 519-31. Crawford, Mary: Talking Difference: On Gender and Language, London/New Delhi 1995. Crenshaw, Kimberlé: »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics«, in: The University of Chicago Legal Forum 1 (1989): pp. 139167. Critchley, Simon: On Humour, London 2002. de Lauretis, Teresa: Technologies of Gender: Essays on Theory, Film, and Fiction, Bloomington 1987. Dolan, Jill: The Feminist Spectator in Action: Feminist Criticism for the Stage and Screen, London 2013. Dies.: Utopia in Performance: Finding Hope at the Theater, Ann Arbor 2005. Douglas, Mary: »The Social Control of Cognition: Some Factors«, in: Joke Perception. Man, no. 3, 3 (1968), pp. 361-376. Gallivan, Joanne: »Group difference in appreciation of feminist humor«, in: Humor, no. 5.4 (1992), pp. 369-374. Gerçek, Selim Nüzhet: Türk Temaşası: Meddah, Karagöz, Orta Oyunu, Istanbul 1942. Gray, Frances: Women and Laughter, London 1994. Hornby, Lady: Constantinople During the Crimean War, London 1863. Kaufman, Gloria: »Introduction«, in: Gloria Kaufman/Mary Kay Blakely (Ed.), Pulling Our Own Strings: Feminist Humor & Satire, Bloomington 1980. pp. 13-16 Kein, Kathryn: »Recovering Our Sense of Humor: New Directions in Feminist Humor Studies«, in: Feminist Studies 41, 3 (2015), pp. 671-81.
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Some Girls Are Bigger Than Others Genderrelationen in Aufführungen von Jennifer Walshe und Eva Reiter Irene Lehmann
Anhand der beiden Aufführungen Everything is Important und The Lichtenberg Figures1 der Composer-Performerinnen Jennifer Walshe und Eva Reiter möchte ich untersuchen, wie mit Gender und Genderbeziehungen auf der Bühne der experimentellen und Neuen Musik umgegangen wird.2 Dabei soll der institutionelle
1
Eva Reiter: The Lichtenberg Figures. After Ben Lerner. For Voice, eleven instruments and electronics (2014/2015). Aufführung vom 18.03.2017, Haus der Berliner Festspiele, Berlin. Jennifer Walshe: Everything is Important. For Voice, String Quartet and Film (2016). Aufführung vom 19.03.2017, Haus der Berliner Festspiele, Berlin. Zum Text von Some Girls are bigger than others (The Smiths, 1986) bemerkte Sänger Morrissey, er habe zu dieser Zeit erstmals realisiert, dass Frauen unterschiedliche Körper hätten und wollte mit dem Text darauf hinweisen. So wird es zumindest im Internet kolportiert: Siehe https://www.songfacts.com/facts/the-smiths/some-girls-are-biggerthan-others vom 16.04.2019. In diesem Text verwende ich bei allgemeinen Formulierungen die Genderschreibweise mit Sternchen. Nur männliche oder nur weibliche Schreibweisen verwende ich, um sichtbar zu machen, dass sich eine bestimmte Gruppe aus zufälligen oder sozialen, politischen oder institutionellen Gründen nur aus Personen zusammensetzt, die die soziale Zuweisung »Frauen« oder »Männer« erhalten haben. Siehe zur Frage der Genderschreibweisen auch die Einleitung in diesem Band, Fn 1.
2
Häufig werden Trennungen zwischen den Bezeichnungen neue Musik, Neue Musik und Experimentelle Musik getroffen. Vgl. Hiekel, Jörn Peter: »Neue Musik«, in: Ders./ Christian Utz (Hg.), Lexikon Neue Musik, Kassel 2016, S. 434-444. Mir geht es in der Untersuchung um ein Phänomen, für das diese Trennung nicht relevant ist.
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Rahmen der beiden Aufführungen, insbesondere die Strukturierungen, die durch die tradierte Konzertform entstehen, in die Analyse einbezogen werden. Diese ist sowohl durch das Verhältnis von Bühne und Publikum, die Arten der Produktion als auch die Konventionen des Auftretens strukturiert.3 Zusätzliche Rahmungen werden durch die Form des Festivals geschaffen, in denen die Konzerte der Neuen Musik meistens stattfinden.4 Auf diese Weise überlagern sich verschiedene Dispositive im Sinne von Michel Foucault und Jacques Rancière.5 Rancière beleuchtet den Zusammenhang der Ordnung und Etablierung eines Dispositivs mit polizeilichen Maßnahmen, während er seine Unter- oder Durchbrechung als politische Akte definiert. 6 Im Folgenden möchte ich zeigen, wie die Arbeiten von Jennifer Walshe und Eva Reiter über ihre ästhetischen Qualitäten hinaus als Unterbrechungen der Dispositive wirksam werden. Zum Dispositiv der Neuen und experimentellen Musikszene in Deutschland gehört, dass diese noch immer fast ausschließlich männlich dominiert wird. 7 Unterschiedliche Initiativen versuchen, hier Veränderungen herbeizuführen, die Ernsthaftigkeit ihrer Bestrebungen bleibt abzuwarten.8 Aufschlussreich sind einige empirische Studien, die den Gender-Bias und seine Effekte offenlegen und
3
Vgl. Brüstle, Christa: Konzert-Szenen. Bewegung, Performance, Medien. Musik zwischen performativer Expansion und medialer Integration 1950-2000, Stuttgart 2013, S. 9-13.
4
Bei der Strukturierung von Festivals spielen thematische Setzungen genauso eine Rolle wie die Organisation von Programmslots und die Unterscheidung von Haupt- und Nebenbühnen, denen Aufführungen zugeordnet werden. Diese Rahmungen beeinflussen auch die Wahrnehmung der ästhetischen Aspekte.
5
Vgl. Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978; Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main 2002. Zum Dispositiv in der Theaterwissenschaft vgl. Pavis, Patrice: Dictionnaire de la performance et du théâtre contemporain. Paris 2014; Aggermann, Lorenz/Döcker, Georg/Gerald, Sigmund (Hg.), Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung, Frankfurt am Main u.a. 2017.
6
Vgl. Rancière (2002), S. 33.
7
Vgl. Studie des Deutschen Kulturrats: Schulz, Gabriele/Ries, Carolin/Zimmermann, Olaf: Frauen in Kultur und Medien. Ein Überblick über aktuelle Tendenzen, Entwicklungen und Lösungsvorschläge, Berlin 2016.
8
Angeregt durch die Forschung der Komponistin Ashley Fure im Archiv der Darmstädter Ferienkurse gründete sich 2016 die Assoziation Grid, inzwischen GRiNM (Gender Relation in New Music). Siehe https://www.grinm.org/, https://griddarmstadt. wordpress.com/ vom 27.02.2019. Siehe zu diesen Prozessen auch: Heldt, Katja,
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die Notwendigkeit einer Erneuerung unterstreichen. Die Beschreibung von individuellen Erfahrungen zeigt nicht nur eine Genderzuordnung zu Arbeitsbereichen, sondern auch zu Instrumenten und Ästhetiken. Demnach gibt es bestimmte Erwartungen, wie die Komposition einer Frau zu klingen habe, welche Klangcharakteristika oder Dynamiken schicklich seien und welche nicht. 9 Verschiedene Interviews mit Musiker*innen machen deutlich, wie wirkmächtig das Genderdispositiv ist, das das Komponieren als auch den Auftritt auf der Bühne reguliert. In der Konsequenz bedeutet dies beispielsweise, dass eine als weiblich bezeichnete Komponistin, die mit Perkussion arbeitet, bereits ihre Genderrolle destabilisiert, da Perkussion männlich konnotiert ist. In den Zusammenkünften des offenen Netzwerkes von GRiNM (Gender Relations in New Music) bei MaerzMusik 2017 wurden Erfahrungen quer durch unterschiedliche Generationen und über verschiedene Berufsgruppen (Komponist*innen, Performer*innen, Kurator*innen, Journalist*innen) hinweg ausgetauscht. Die Erlebnisse, die berichtet wurden, lassen sich auf beinahe schon traditionelle Weise mit Judith Butlers Theorie zur performativen Erzeugung von Gender beschreiben, 10 nach der Aktivitäten gendercodiert werden und ihr Ausführen oder Unterlassen die jeweilige Genderzugehörigkeit stabilisiert oder destabilisiert. Es wäre auch an das ältere Konzept von Erving Goffman zu denken, der aus soziologischer Perspektive untersucht, wie Ensembles und Hintergrundstrukturen zusammenwirken, um Gender hervorzubringen. 11
»Feministische Aufbrüche in der zeitgenössischen Musik«, in: Positionen. Texte zur aktuellen Musik, Nr. 114 (2018), S. 36-39. Im Programm De:Fragmentation haben sich die großen deutschen Festivals für Neue Musik (Darmstadt, MaerzMusik Berlin, Donaueschingen) zusammengeschlossen, um mit Finanzierung der Kulturstiftung des Bundes Verbesserungen im Bereich Gender und Diversity durchzuführen. Siehe z.B. http://internationales-musikinstitut.de/de/ferienkurse/defragmentation/
vom
28.02.
2019. 9
Vgl. Born, Georgina/Devine, Kyle: »Gender, Creativity and Education in Digital Musics and Sound Art«, in: Contemporary Music Review 35, 1 (2016), S. 1-20; Eckhardt, Julia/De Graeve, Leen: The Second Sound. Conversations on Gender and Music, Brüssel 2017; Rodgers, Tara: Pink Noises. Women on Electronic Music and Sound, Durham NC 2010.
10 Vgl. Butler, Judith: »Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2003, S. 301-320. 11 Vgl. Goffman, Erving [1959]: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1973. Während Butler mehr das Individuum fokussiert, beschreibt Goffman auch das Zusammenwirken von »Kulissen«, »Ensembles«, dem »Publikum« bei der
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Obwohl die engmaschigen Gendercodierungen von ästhetischen Praktiken und Erscheinungsweisen eine Destabilisierung bereits durch kleine Gesten nahelegen, zeigen die Auseinandersetzungen auf Festivals und in Musikkritiken die Wirkmächtigkeit derjenigen Kräfte, die institutionelle Änderungen verhindern wollen. Die Institutionen selbst erzeugen die Ausstrahlung, dass ein Wandel nur in einem sehr langwierigen Prozess vonstattengehen könnte.12 Aus wissenschaftlicher Perspektive ist sowohl interessant, wie die Gendernormierung der Konzertbühne noch immer so effektiv wirkt und wie der nun vorhandene Druck neue Ästhetiken hervorbringt. Umgekehrt könnte man auch fragen, welche Ästhetiken das Potenzial haben, eine institutionelle Veränderung zu initiieren und damit politisch in Rancières Sinn zu wirken. Die beiden Performances von Jennifer Walshe und Eva Reiter beim Festival MaerzMusik 2017 weisen meiner These nach auf die Wünsche nach einem Wandel hin, die sich in der Szene artikulieren. Umgekehrt beeinflussen diese die Wahrnehmung und Rahmung der Aufführungen. Walshe und Reiter traten beide als Performer-Composerinnen mit jeweils ausschließlich männlichen, sehr renommierten Ensembles auf, dem Arditti Quartett und dem Ictus Ensemble. Unter anderem durch diese Konstellation rücken in beiden Aufführungen die Genderbeziehungen in den Fokus. Die Tätigkeiten von Composer-Performer*innen wurden bislang vor allem mit Michael Kirbys Konzept des »non-matrixed acting« beschrieben.13 Dieses nimmt jedoch soziale Zuschreibungen, die durch den gesellschaftlichen und institutionellen Rahmen entstehen, und ihren Umgang damit nicht in den Blick. Vielversprechender scheint mir der komplexere Persona-Begriff von Philip Auslander, der zusätzlich zum Bühnenauftritt die öffentliche Präsenz und Selbstrepräsentation von Performer*innen beleuchtet. 14
Hervorbringung von sozialen Rollen, zu denen Gender gehört. Trotz der unterschiedlichen Konzepte, die sich an das Konzept »Rolle« im Unterschied zur performativen Hervorbringung knüpfen, kann diese erweiterte Perspektive hilfreich sein, um der Analyse der Dispositive von Theater- oder Konzertaufführung näher zu kommen. 12 Dieser Eindruck wurde bei der Vorstellung des De:Fragmentation-Programms erweckt. Siehe auch das Interview mit Thomas Schäfer, Leiter der Darmstädter Ferienkurse: Nauck, Gisela »Gender Research in Darmstadt«, in: Positionen. Texte zur aktuellen Musik, 114 (2018), S. 41-42. 13 Vgl. Kirby, Michael: A Formalist Theatre, Philadelphia 1987; Saxer, Marion: »Composer-Performer«, in: J. P. Hiekel/C. Utz, Christian (Hg.), Lexikon Neue Musik, S. 212214. 14 Vgl. Auslander, Philip: From Acting to Performance. Essays in Modernism and Postmodernism, London 1997.
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Die Theoretisierung von Gender und Performativität steht in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft in einem so engen Zusammenhang, dass er zuweilen die Analyse von Genderaspekten erschwert hat.15 Diese Verknüpfung hat als Vorgeschichte die ebenso enge Verbindung von ›Weiblichkeit‹ und Schauspiel, die zu einer generellen Identifikation von Frauen* als Schauspielerinnen geführt hat. 16 Ein theoretischer Zugang, der beides verbindet, findet sich bei J.* Halberstam. Sie*er beschreibt die Non-Performativität von Männlichkeit, die zur Hierarchisierung der Genderbeziehungen gehört. Der langen Tradition, Weiblichkeit und Schauspiel zu verknüpfen, steht gegenüber, Männlichkeit einen ›Echtheitswert‹ zuzuschreiben.17 So lässt sich ein komplementäres Verhältnis zwischen der Performativität von Weiblichkeit (und Gender) und der Nicht-Performativität von Maskulinität beschreiben. Deren performative Hervorbringung wird demnach verschleiert und die generelle Performativität von Geschlecht von der männlichen Subjektivität abgespalten und weiblich zugeschriebenen Personen zugeschoben. 18 Der Aspekt der Nicht-Performativität haftet auch der Konzertbühne an, sodass sich an ihr der Ausschluss von Frauen, von Weiblichkeit und visuellen oder theatralen Elementen überkreuzen. Das kulturell codierte Verhältnis, in das Frauen und Männer zum Schauspiel treten, scheint seinen Gegenpart mit der Konzertbühne gefunden zu haben. Infolgedessen werden die Kompositionen männlich zugeschriebener Künstler als selbstverständlich angesehen, die der weiblich zugeschriebenen aber als außergewöhnlich.19 Meiner Hypothese nach brechen Walshes und Reiters Aufführungen mit diesen Konstruktionen von Nicht-Performativität. Die intensive Nutzung von theatralen und visuellen Elementen erlaubt es ihnen,
15 Vgl. Schrödl, Jenny (2015): Wider eindeutige Geschlechtlichkeit. Formen und Spielräume des Entkommens in Gender und Queer Performances, in: Escape: Strategien des Entkommens, https://escape.univie.ac.at/wider-eindeutige-geschlechtlichkeit/ vom 28. 02.2019. Siehe auch Lea-Sophie Schiels Beitrag in diesem Band. 16 Vgl. Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2010, und Hochholdinger-Reiterer, Beate: Kostümierung der Geschlechter, Göttingen 2014. 17 Dies schlägt sich nieder in der Annahme, nur (biologisch) »echte« Männer könnten Männlichkeit verkörpern. Vgl. Halberstam, Judith: Female Masculinity, Durham 1998, S. 234f. 18 Vgl. ebd. 19 Vgl. auch Isabelle Graws Analyse der Figur der »Ausnahmekünstlerin« im Bereich der Bildenden Kunst. Vgl. Graw, Isabelle: Die bessere Hälfte. Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts, Köln 2003, S. 169-186.
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als Komponistinnen die Bühne zu betreten und einen Bruch mit den Konventionen der Konzertbühne zu vollziehen.
I HAD MEANT TO APOLOGIZE IN ADVANCE 20 Schon bei seiner Premiere bei den Darmstädter Ferienkursen 2016 empfanden Teile des Publikums Eva Reiters Stück The Lichtenberg Figures als Affront. 21 Grundsätzlich ist festzustellen, dass der Akt, das Publikum vor den Kopf zu stoßen, eine politische und ästhetische Strategie ist, die in der Neuen Musik in Deutschland eine tiefe Verankerung hat und für manche Ästhetiken konstitutiv ist.22 Doch die Reaktionen auf Eva Reiters Komposition zeigen, dass ihr diese Position nicht zugestanden wurde. An der Aufführung entlud sich eine generelle Unzufriedenheit mancher Kritiker*innen mit dem Einbinden von popmusikalischem Material und mit dem gestiegenen Interesse an performativen Aspekten in der Szene der Neuen Musik. Anzunehmen ist demnach, dass die Dynamik der Darmstädter Ferienkurse 2016, während deren der ungleiche Umgang mit Kompositionen je nach Gender auf vielen Ebenen thematisiert wurde, zu den starken Reaktionen auf Eva Reiters Stück beitrug.23 Diese wirkten bei der Aufführung 2017, auf die ich meine Analyse beziehe, fort. Die Performances beider Komponistinnen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Gesten und Posen verschiedener popkultureller Musikgenres aufgreifen. Reiter verwendete eine eher ›dunkle‹ Ästhetik, mit einem dunklen Kostüm, Bühnennebel und rotem Licht, in das die Bühne zuweilen getaucht war. Zu dieser Ästhetik fügen sich die verzerrten Gitarrenklänge und eine Lichtdramaturgie, die zu einem Rockkonzert gepasst hätten. Ihr Bühnenauftritt war zudem von einer starken Präsenz geprägt, für die das englische Wort boldness passen würde: eine Person, die gegen alle Widerstände auf der Bühne steht und sich dies nicht nehmen lässt. Durch ihre Körperhaltung und ihre erhöhte Position entstand mehr noch der Eindruck von Dominanz, vor allem im Zusammenspiel mit dem sehr zurückhaltenden Ictus En-
20 Lerner, Ben: No Art. Poems, London 2016, S. 8. 21 Siehe https://blogs.nmz.de/badblog/2016/09/23/ferienkurse-darmstadt-2016-schreibwe rkstatt-regt-weiter-auf/ vom 21.02.2019. 22 Zu denken wäre an Pierre Boulez, Helmut Lachenmann oder Olga Neuwirth. 23 Hierzu gehörte eine sexistische Kritik an einer Komposition von Ashley Fure. Vgl. ihre Replik: Fure, Ashley: »Reflections on Risk«, siehe https://griddarmstadt. wordpress.com/ vom 21.02.2019. Zudem gab es viele Aktionen, die auf vergessene Komponistinnen der Darmstädter Ferienkurse hinwiesen.
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semble, das in einer stufenförmigen Anordnung auf Podesten unterhalb der Sängerin saß. Die Musiker waren vollständig in Weiß gekleidet und verschmolzen mit dem Hintergrund, reflektierten das Licht der Bühnenelemente. Während für ihre Tätigkeiten als Musiker der Begriff des »non-matrixed-acting« zutreffend ist, wird im Kontrast deutlich, dass Eva Reiters Performance darüber hinausging. Sie erinnerte etwa an bestimmte Rocksängerinnen wie Nena oder Gianna Nanini, die eine selbstbewusste, unabhängige Art von weiblicher Sexyness ausstrahlen. Halberstams Analyse von unterschiedlichen Entwürfen von »female masculinit[ies]« folgend, würde ich ihr Vorgehen als eines beschreiben, das sich Elemente von Männlichkeit aneignet, ohne die Feminität zu verstecken. Sie zeigt eine Position, die nicht männlich werden muss, um das traditionell männliche Arbeitsgebiet des Komponisten auszufüllen. Sie verdeutlicht, dass das Präsentieren von selbstbewussten Entwürfen von Weiblichkeit dazu führt, dass diese als eigenständig anerkannt werden müssen. Sie können nicht mit dem Schema der Nachahmung männlicher Rollen und Figuren verkleinert und abgewertet werden.24 Als weitere mögliche Referenzpunkte zur Gestaltung der Stimme können Nena und Gianna Nannini benannt werden. Die Verwendung der Stimme in The Lichtenberg Figures unterstreicht den Eindruck eines neuen Umgangs mit männlichen und weiblichen Elementen. Ihre Virtuosität sowie die elektronischen Mittel erlauben Eva Reiter, sehr hohe und sehr tiefe Klangregister anzuspielen. Insgesamt zeigt sich eine große Bandbreite stimmlichen Ausdrucks, die von Flüstern über Sprechen mit einer rauen Stimme, über ›schönes‹ Singen bis hin zum Deklamieren lyrischer Passagen des Textes reicht. Die vielfältige Verwendung der Stimme akzeptiert körperliche und soziale Gendergrenzen genauso wenig wie musikalische Einschränkungen. In der Aufführung entladen sich immer wieder Energien und Spannungen, die sich mit den Lichtenbergfiguren aus dem Titel assoziieren lassen. Diese sind ein natürliches Phänomen, das durch die Entladung von Hochspannung in Isolationsmaterialien entsteht. Ausgehend von Gedichten
24 Vgl. zu diesem Schema Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt am Main 1979. Bovenschen beschreibt dieses Schema als Abwertungsstrategie von Frauen als Gelehrte und Schriftstellerinnen seit der Aufklä rung. Halberstam, die*der unterschiedliche Möglichkeiten von Männlichkeiten sichtbar macht, öffnet auch das Feld, über Weiblichkeiten genauer nachzudenken. Diesen Weg der Diversifizierung zu verfolgen wäre auch für Theateraufführungen eine Möglichkeit, die wiederkehrende stereotype Darstellung von Frauen und Weiblichkeit zu überwin den.
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des amerikanischen Lyrikers Ben Lerner versteht Reiter die Lichtenbergfiguren als Bild für psychische Prozesse innerhalb der Gesellschaft, woraus sie ein musikalisches Universum kreiert, das Wut, Angst und Unruhe kennt.25 Durch die Vielfältigkeit des stimmlichen Ausdrucks und die alternierenden Stellen zwischen männlich scheinender Sprechstimme und weiblich klingender Singstimme entsteht sogar der Eindruck eines Duetts. In der Bühnensituation erzeugte Eva Reiter eine enorme Energie und Kraft, um den Text in seiner Wucht zu entfalten. Sie bringt ihn in einen Dialog mit ihrer Musik und sorgt für eine Bühnenshow mit spektakulären Lichteffekten. Reiter tritt in Kontakt zu dem Text Ben Lerners, performt aber nicht als passives Medium, sondern behält ihre Agency, zeigt ihre Aktivität als Komponistin und Performerin. Damit unterläuft sie das hierarchische Modell der Unterordnung der weiblichen Performerin unter den männlichen Text. Reiters Performance evoziert vielmehr eine Persona mit der Macht, Naturgewalten – im übertragenen Sinne – zu entfesseln und in den Lichtenbergfiguren, ihrer Komposition, zu bannen.
STRANGE FRUIT Um sich den hier verhandelten Genderkonstellationen auf der Bühne zu nähern, ist es von Interesse, einen Blick in den Bereich der populären Musik zu werfen. Gerade die Geschichte der Vokalperformances lässt sich nicht auf ein Genre beschränken und der Ausschluss von Künstler*innen aus bestimmten Bereichen macht es notwendig, über die Gattungsgrenzen hinweg zu denken. In der Konventionalisierung von Geschlechterbeziehungen auf der musikalischen Bühne setzt sich das Bild des männlichen Orchesters wie der männlichen Band durch, die sich durch die Herkunft vieler Musiker aus Militärkapellen erklärt. Zusammen mit einer Sängerin gründeten sie häufig Jazz- und Bluesbands. Eine andere Organisationsform waren Familienmodelle, die eine größere Offenheit in der Zuordnung von Gender und Instrumenten hatten.26 Die Geschichte der Blues- und Jazzsängerinnen macht deutlich, dass diese durch die Entwicklung und Professionalisierung des popkulturellen Musiksektors häufig in ihren Entscheidungen, welche Lieder sie performten, eingeschränkt wurden. Ihre Kreativität und Autor*innenschaft wurde ihnen oftmals abgesprochen, wie sich am Beispiel Billie Holidays zeigt, die
25 Siehe https://www.ictus.be/lichtenberg vom 04.02.2019. 26 Dunbar, Julie C.: Women, Music, Culture. An Introduction, New York 2011, S. 132149. Ein Beispiel ist die Carter-Familiy.
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sogar im Fall des Liedes Strange Fruit als passives Medium für Musik und Text angesehen wurde.27 Hinsichtlich der ästhetischen Entwicklungslinien zur Verwendung der Singstimme ist dieses Machtgefüge interessant, da es zusätzlich mit der Reglementierung der Improvisation zusammenhängt.28 Vor diesem Hintergrund gewinnen die Stimmexperimente der Composer-Performer*innen, mit denen sie Möglichkeiten des Ausdrucks virtuos erweitern, eine neue Dimension. Die menschliche und besonders die weibliche Stimme sind in der Musikgeschichte stark fetischisiert und überhöht worden, während in anderen gesellschaftlichen Bereichen Frauen das Sprechen immer wieder verwehrt wurde.29 Die Stimme hat jedoch eine interessante Gendercodierung: Trotz der artifiziellen Hervorbringung, insbesondere im Kunstgesang, gilt die Stimme in verschiedenen Kontexten als authentisch, als natürliches Verbindungsmoment des männlich konnotierten Geistes und des weiblich konnotierten Körpers. 30 Insofern wohnt ihr eine mehrfache Geschlechtlichkeit inne.
27 Vgl. Davis, Angela: Blues Legacies and Black Feminism. Gertrude ›Ma‹ Rainey, Bessie Smith and Billie Holiday, New York 1998, S. 183-185. Billie Holiday performte Strange Fruit, ein Lied, das den Horror der Lynchmorde an African Americans thematisiert, das erste Mal 1939. Davis beschreibt, wie etwa in dem Film LADY SINGS THE BLUES (USA 1972, R: Sidney J. Furie), der vom Plattenlabel Motown produziert wurde, impliziert wird, dass Holidays Musik nur ein zufälliges Produkt ihrer nicht einfachen Lebensumstände gewesen sei. Davis fasst zusammen: »In other words, the image she has aquired in U.S. popular culture relies on biographical information about Holiday’s life at the expense of acknowledging her role as a cultural producer […].« Davis, S. 184. 28 Vgl. Stras, Laurie: She’s So Fine. Reflections on Whiteness, Femininity, Adolescence and Class in 1960s Music, Farnham u.a. 2011. 29 Vgl. Leonardi, Susan J./Pope, Rebecca A.: The Diva’s Mouth. Body, Voice, and Prima Donna Politics, New Brunswick 1996. Eine äußerst ambivalente Darstellung der weiblichen Stimme findet sich bei Chion, Michel: The Voice in Cinema, New York 1999. 30 Vgl. Kolesch, Doris/Krämer, Sybille: »Stimmen im Konzert der Disziplinen«, in: Dies. (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt am Main 2010, S. 7-15, hier S. 12. Krämer und Kolesch beschreiben die Zuschreibung zur Stimme als Verbindung von geistigen und körperlichen Aspekten. Chions Analyse von Frauen- und Männerstimmen im Film weisen darauf hin, dass Gendercodierungen der Stimme ein komplexes historisch nicht stabiles Feld bilden.
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Die populärkulturellen Elemente in den Performances von Eva Reiter und Jennifer Walshe unterstreichen die Notwendigkeit, Stimme aus einer genreübergreifenden Perspektive zu betrachten. Beide verwenden diese Elemente als Empowerment. So lässt sich vermuten, dass die tatsächliche Aneignung der Position der Produzentin, die einige Frauen im Popbereich für sich durchgesetzt haben, und die feministischen Kämpfe und Gesten, die dort ausgetragen werden und kursieren, von den Musiker*innen der Neuen und Experimentellen Musik aufgegriffen werden.31
GENDER ALS HYPEROBJEKT Als ich nach dem Konzert mit einer Freundin über Jennifer Walshes Bühnenperformance nachdachte, kamen wir zur Assoziation des Punk, mit der Ergänzung: was auch immer das für ein Gender sein mag. Punk zeigt in seinen Gesten der Zurückweisung Parallelen zur Neuen Musik nach 1945 auf, in der Gesten der Verweigerung von Schönheit, Wohlklang und Wohlbefinden zugunsten eines schmerzhaften Wahrheitsanspruchs klanglich umgesetzt wurden. Zusätzlich gibt es starke Bezugnahmen einer Reihe von Komponist*innen und ComposerPerformer*innen auf die Riot Grrrl-Bewegung.32 Im Fall von Jennifer Walshe wäre Postpunk dennoch die passendere Assoziation. Walshe trat in zwei Performances am selben Abend auf, die sich in meiner Wahrnehmung miteinander verbanden. So enthielt die zweite Performance, An gléacht, Indizien, um die Art des Bühnenauftritts in Everything is Important zu
31 Siehe auch den Beitrag von Katharina Rost in diesem Band. Zeisler formuliert eine Kritik an der Kommerzialisierung von Empowerment und Feminismus. Vgl. Zeisler, Andi: Wir waren doch alle mal Feministinnen. Vom Riot Grrrl zum Covergirl – Der Ausverkauf einer politischen Bewegung, Zürich 2017. Auf der anderen Seite steht Virginia Woolfs noch immer gültige Einsicht, wie notwendig Geld und der Zugang zu Bildung für Frauen ist: Vgl. Woolf, Virginia [1929], Ein eigenes Zimmer. Essay, Frankfurt am Main 2001. 32 Dies zeigt das Projekt, aus dem das Her Noise Archive hervorgegangen ist. Siehe http://hernoise.org/ual-archive/ vom 04.02.2019. Neben Konzerten gab es Workshops, in denen Musiker*innen über ihre eigene Geschichte nachdachten; hieraus entstand eine Sammlung von Zines, die nun neben der Dokumentationen der Konzerte und Soundinstallationen die Sammlung des Her Noise Archivs ausmachen. Vgl. zu Riot Grrrl auch: Peglow, Katja/Engelmann, Jonas (Hg.), Riot Grrrl Revisited. Geschichte und Gegenwart einer feministischen Bewegung, Mainz 2013.
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entziffern. Dieser Eindruck verstärkte sich durch die räumliche Situierung der Performances. Um zur zweiten Aufführung zu gelangen, ging das Publikum über die Hauptbühne zur Seitenbühne und saß dann hinter der Hauptbühne. An gléacht fand auf der Rückseite der Leinwand statt, ›behind the screen‹, und weist damit auf die Geschehnisse ›hinter der Szene‹ hin, auf das Verborgene und Verdrängte.33 Auch auf der ästhetischen Ebene, bei der Verwendung von Sprache und Phonemen und bei der Besetzung fällt ein kontrastierender Zugang auf: im ersten Stück das Zusammenspiel mit einem der renommiertesten Ensembles für Neue Musik, im zweiten mit einigen Musikern der subkulturell geprägten Berliner ExperimentalSzene.34 In diesem Gefüge von zugelassenem und verworfenem Material kommt den populärmusikalischen Elementen eine neue Bedeutung zu. Diese verändert sich dadurch, dass die Composer-Performer*innen ihr jeweiliges Material in eine andere Kunstform transferieren. Während Reiter Referenzen zum Rockgenre bildet, integriert Walshe gesangliche und tänzerische Gesten aus der feministischen Rapund Hip-Hop-Kultur. So lautet eine Textzeile »Am I Right, Ladies?« – mit höher werdender Stimme: »Amiright, Amiright, Amiright, Ladies?«, die dann von den Geigen aufgenommen wird.35 Der Titel Everything is Important lässt sich mitsamt der verwendeten visuellen Projektionen schnell auf eine zeitgenössische Mainstream-Kultur beziehen, die durch einen Überfluss an Informationen und sinnlichen Reizen geprägt ist. In der Partitur gibt es zahlreiche Referenzen zur Alltagskultur, eine der gesungenen Zeilen lautet etwa: »she’s on the internet« – und beschreibt eine Situation, die als theatraler oder musikalischer Topos relativ neu ist und keine klare Genrezuordnung hat. Während eines Künstler*innengesprächs bezog sich Walshe unter anderem auf das Konzept der Hyperobjekte von Timothy Morton, die im Kontext eines posthumanen Diskurses stehen.36 Es handelt sich um Objekte, die schwierig zu fassen sind, da ihre schiere Größe einen narrativen oder dramatisch-literarischen Zugang unmöglich macht. Hier drängt sich die Frage auf, ob die aktuellen Hyper-
33 Vgl. zur Bedeutung des »Screens« lacanianisch geprägte Kulturtheorien, etwa Irigaray, Luce: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt am Main 1980. An dieser Stelle soll dieser Interpretationsstrang nicht weiterverfolgt werden. 34 Es handelte sich um Kai Fagaschinki (Klarinette), Tomomi Adachi (Electronics, Stimme), Mario de Vega (Electronics). 35 Siehe https://bura.brunel.ac.uk/bitstream/2438/13768/1/Fulltext.pdf vom 21.02.2019. 36 Vgl. Morton, Timothy: Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World, Minneapolis 2013.
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objekte eine Entsprechung zur Auseinandersetzung mit Katastrophen in den dramatischen Künsten bilden.37 Der Überfluss von Information oder die großen Plastikberge in den Ozeanen werden in ihrer exzessiven Dimension aus unserer Wahrnehmung verdrängt, entwickeln jedoch eine Eigentätigkeit, die ihre Ausblendung zunehmend erschwert. Walshe vermeidet es, dies zu einer neuen Erhabenheit zu stilisieren, verdeutlicht aber die Herausforderung für das (künstlerische) Subjekt, die die aktuellen Hyperobjekte darstellen. Doch in welchem Zusammenhang stehen die Genderaspekte zur Theorie der Hyperobjekte? In der Aufführung gibt es eine überwältigende Menge an ästhetischen Informationen wie Musik, gesungene Texte und die Video-Projektionen, die verschiedene Aspekte der massenkulturellen Überproduktion präsentieren. Die Position des Subjekts ist nicht nur von zunehmenden Naturkatastrophen bedroht, sondern auch von den Überwachungswünschen und -potenzialen der Staaten. Dies wird mit einer Videosequenz adressiert, in der die Komponistin ihr Gesicht mit geometrischen Mustern schminkt und damit ein Anti-ÜberwachungsMake-Up kreiert. Während digitale Gesichtserkennungssoftware solche Masken bislang nicht erkennen kann, wäre eine so geschminkte Person in einer belebten Metropole alles andere als nicht wiedererkennbar. So entsteht ein Paradox des Zeigens und Verbergens, das als Reaktion des Individuums auf die überfordernde Wirklichkeit gelesen werden kann. Diese paradoxe Struktur führt zum ebenfalls paradoxen Verhältnis von Gender und (Un-)Sichtbarkeit, (Nicht-)Repräsentierbarkeit und der erwähnten (Non-)Performativität. 38 Die Friktionen zwischen Realität und Virtualität, die durch den digitalen Raum des Internets auch die Selbstrepräsentation betreffen, artikulieren die Frage nach Gender im Zusammenhang mit Subjekt- oder Identitätskonstruktion. Die Art, wie einem aktuell der Zwang der Genderordnung begegnet, zeigt sie einerseits als grobe und ungenaue soziale Kategorie. Auf der anderen Seite ist Gender tief in körperliche Vorgänge und in psychische Strukturen der Subjektbildung und -wahrnehmung eingelagert. Das heißt, Gender ist genau wie die disparaten Hyperobjekte überpräsent und schwer greifbar. Damit fällt Licht auf die Verbindung zwischen den Hyperobjekten der staatlichen Überwachung, der Informationsüberflutung, der Kämpfe um Gendergerechtigkeit: Komposition und Aufführung von Jennifer Walshe legen nahe, dass auch Gender als Hyperobjekt verstanden werden
37 Vgl. Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt am Main 1988. 38 Vgl. zu diesem Paradox Irigaray (1980); Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, London/New York 1993.
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kann, das sich – ähnlich wie Mikroplastik – in den Körpern anlagert und gleichzeitig als äußerliches und innerliches Phänomen in Erscheinung tritt, auf der Ebene von Mikro- und Makrokosmos.39
Jennifer Walshe und Arditti Quartett, ›Everything Is Illuminated‹, Haus der Berliner Festspiele, Berlin 2017. Foto: Kai Bienert
TANZ MIT DEM QUARTETT Wie Reiter führte auch Walshe ihr Stück mit einem ausschließlich männlichen Ensemble auf, dem berühmten Arditti Quartett. Zum Arbeitsprozess berichtet sie: »Working with the Ardittis it’s very clear. […] I knew from the get go, ›OK, I’m in the piece and I’m making it.‹ There is what I would call very tightly structured improvisation in the piece. I would rather have them listen, and do what they do, […] than, you know, write out 40 pages of hyper complex music. Because there is an immediacy [in structured improvisation, I.L.] and I can react to them. I really enjoy that. We’re tighter together as a group as a result: I’m listening to them and pushing them and they’re pushing me back and we’re responding to the acoustics of each space.«40 39 Vgl. zum Konzept der Hyperobjekte in Walshes Aufführungen auch: Lehmann, Irene: »Jennifer Walshes Time Time Time«, in: Positionen. Texte zur aktuellen Musik 119 (2019), S. 62-64. 40 Siehe https://van-us.atavist.com/the-texture-of-being-alive vom 04.02.2019. Die online verfügbare Partitur von Everything is important gibt mehrere Hinweise zur Interaktion
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Dabei handelt es sich offensichtlich um ein anderes Konzept des Zusammenarbeitens als bei Eva Reiter, die für jedes Instrument über neue Spielweisen nachdachte. In beiden Fällen ist zu betonen, dass die Ensembles die künstlerischen Konzepte mittragen und ihr Renommee einsetzen, um die Wichtigkeit der Stücke und damit auch veränderte Genderbeziehungen auf der Bühne und darüber hinaus zu unterstreichen. Das Commitment des Ensembles wird besonders sichtbar während einer Tanzszene von Jennifer Walshe und dem Cellisten Lukas Fels. Während ihr Tanz ausgelassenen Charakter hat und aktuell in irgendeinem Club oder auf einer Party beobachtet werden könnte, wirken seine Bewegungen eher unbeholfen. In dieser Szene verschränken sich verschiedene ästhetische Modi mit Genderaspekten, zeigen sich die verschiedenen Arten, auf der Bühne zu sein. Die Gendermatrix, die die scheinbare Nicht-Performativität der Konzertbühne hervorbringt, wird auf höchst unkonventionelle Weise durchbrochen. Das Ideal der Nicht-Performativität entstand mit dem Ideal des reinen Hörens und setzte sich im 19. Jahrhundert durch. Es sah vor, dass Musizierende möglichst hinter der Aufführung verschwinden und quasi unsichtbar werden sollten. 41 Verbunden hiermit war das Verbot für Frauen, eine Vielzahl von Instrumenten zu spielen. Derlei Tabus waren sexuell aufgeladen, da offenbar die Vorstellung, eine Frau würde eine Flöte oder ein Cello spielen, (unerwünschtes) Begehren bei den Wahrnehmenden erzeugte, die zu Hörenden erzogen werden sollten. Zumindest verbreiteten religiöse und polizeiliche Autoritäten dieses Bild.42 Nicht anders als in den meisten anderen Kulturen lautete die immer gleiche Lösung für (unerwünschtes) Begehren den Personen auf der Bühne gegenüber, diese – in unserem Fall Frauen – von der Bühne zu verbannen. Wenngleich heute solche Verbote nicht mehr so deutlich ausgesprochen werden, setzt sich die binäre Genderkodierung von Instrumenten und Klangcharakteristika fort. 43 In ihrer Tanzperformance verlassen Walshe und Fels beide ihre Positionen der Unsichtbarkeit, die vom Dispositiv der Konzertbühne je nach zugeschriebenem Gender konstituiert werden. Walshe überschreitet die Konvention, die keine Kom-
zwischen Performerin und Ensemble und auch zur interpretativen Freiheit der Musiker. Siehe https://bura.brunel.ac.uk/bitstream/2438/13768/1/Fulltext.pdf vom 04.02.2019. 41 Vgl. Schnebel, Dieter: »Klang und Körper«, in: Ders. (Hg.), Anschläge – Ausschläge. Texte zur neuen Musik, München 1993, S. 37-49. 42 Vgl. Hoffmann, Freia: Instrument und Körper: die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt am Main 1991. 43 Dies zeigen die empirischen Studien von Born/Devine 2016 und Eckhardt/De Graeve 2017.
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ponistinnen vorsieht, indem sie in einem glitzernden Kleid auftaucht, ihre Komposition selbstbewusst auf der Bühne präsentiert und die Tanzfreude der Popkultur mit sich bringt. Fels hingegen vertieft sich wider alle Erwartungen nicht kontemplativ in sein Instrumentenspiel. Mit ihren unterschiedlichen Ausgangspunkten treffen sie sich in einem Tanz, der in vielerlei Hinsicht als queer44 bezeichnet werden kann und der die institutionellen Verhaltensmuster aufbricht. Dadurch, dass Fels Teil des Tanzes wird, wird sichtbar, dass einer der beiden schon die Erlaubnis hatte, auf der Bühne zu sein, wenngleich nur in sehr zurückgenommener Weise. Walshe geht hier noch einen Schritt weiter als Reiter, indem sie einen anderen, vielleicht utopischen Raum für sich und das Ensemble auf der Bühne kreiert. In einem programmatischen Text formuliert sie: »Or from a different perspective, maybe what is at stake is the idea that all music is music theatre. Perhaps we are finally willing to accept that the bodies playing the music are part of the music, that they’re present, they’re valid and they inform our listening whether subconsciously or consciously. That it’s not too late for us to have bodies.«45
Die Dynamik von Verschwinden und Sichtbarsein ist für die Frage der Präsenz auf der Bühne zentral. Walshes und Reiters Performances machen deutlich, dass die Art des Präsentseins durch intensives und konzentriertes Spiel, das eine spezielle Qualität des Musizierens auf der Bühne hervorbringt, von der Legitimation
44 Queerness entstand als Kategorie, um die Kämpfe von Personen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Identität ausgegrenzt wurden, zu bündeln. Halberstam fasst in ihrem*seinem Konzept der Queer Temporalities damit auch Personen, die generelle soziale Außenseiter sind, wie z. B. Obdachlose. Vgl. Halberstam, Jack: In a Queer Time and Place: Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York 2005. McCallum und Tuhkanen zeigen, dass Momente von Queer Temporalities auch in heterosexuell codierten ästhetischen Kontexten in Erscheinung treten. Jaclyn Pryor verwendet den Begriff, um die »queer« gelagerte Zeitlichkeit von Jewishness in verschiedenen eigenen Performances zu beschreiben. Vgl. McCallum, Ellen Lee/Tuhkanen, Mikko (Hg.), Queer Times, Queer Becomings, Albany 2011; Pryor, Jaclyn: Time Slips: Queer Temporalities, Contemporary Performance and the Hole of History. Evanston 2017. Auf Grundlage dieser Überlegungen, halte ich es für Auseinandersetzungen und Analysen im ästhetischen Bereich für sinnvoll, einen erweiterten Begriff von Queerness zu diskutieren, da das Durchbrechen gesellschaftlicher Normen in diesem Bereich auf einer anderen Ebene stattfindet als in lebensweltlichen Zusammenhängen. 45 Walshe, Jennifer: The New Discipline, 2016. Siehe http://milker.org/the-newdiscipline/ vom 20.06.2018.
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abhängt, überhaupt auf der Bühne sein zu dürfen. Das Auftreten vieler Frauen als Composer-Performer*innen und ihre erhöhte Sichtbarkeit erscheint trotz vieler Vorläufer*innen als Novum, das die Wirksamkeit der jahrhundertelangen Konventionen noch einmal zu überwinden versucht. Der neuerliche Anlauf, der sich zusätzlich gegen das Vergessen bisheriger Versuche durchsetzen muss, sorgt auf ästhetischer Ebene für eine exzessive Qualität, die auf ganz unterschiedliche Weise Walshes und Reiters Performances zu eigen ist und die Besonderheit von Künstler*innen kennzeichnet, die als Frauen wahrgenommen werden. Es gibt keine »unmarkierte«46 Position für sie, von der aus sie sich in die Stücke und Performances stürzen könnten. Für diese Performances und zu diesem historischen Zeitpunkt (2017) war es notwendig, das institutionelle Verbot zu adressieren, um es überwinden zu können. Auf die Frage, was dies hinsichtlich möglicher ästhetischer Subjektivität(en) bedeuten könnte, geben die Selbstrepräsentationen der Künstler*innen einigen Aufschluss. In ihren virtuellen Präsenzen nehmen beide verschiedene Rollen und Posen ein. Eva Reiter zeigt sich etwa mit ihrem Barockinstrument Viola da Gamba und mit Gesten aus dem Hardrock.47 Oder mit der futuristisch wirkenden Kontrabassblockflöte und einem Anzug, den Uma Thurman in KILL BILL hätte tragen können.48 Die implizierte Aggressivität dieser Posen birgt dieselbe Ambivalenz, die auch in ihrer Bühnenperformance zum Tragen kam: Einerseits produziert sie ein gewisses Genre von Sexyness, auf der anderen Seite haben die aggressiven Gesten immer das Potenzial, die beschränkten Handlungsräume, die Frauen zugewiesen werden, aufzubrechen. 49 Jennifer Walshe hat aus der Frage der Selbstrepräsentation eine ästhetische Praxis entwickelt, indem sie Alter Egos mit verschiedenen Genderzugehörigkeiten und verschiedenen ästhetischen Strategien entwirft wie im Grúpat-Projekt
46 Vgl. P. Phelan: Unmarked. 47 Siehe https://van.atavist.com/eva-reiter vom 30.11.2018. 48 Vgl. KILL BILL, Vol. 1&2, (USA 2003/2004, R: Quentin Tarantino). 49 Diese Beschränkungen werden im Übrigen aus so unterschiedlichen Perspektiven, wie sie Susan Brownmiller oder J. Halberstam vertreten, kritisiert und als Movens einer kritischen Auseinandersetzung mit Männlichkeit und Weiblichkeit angegeben: Vgl. Brownmiller, Susan: Weiblichkeit, Frankfurt am Main 1984; J. Halberstam: Female Masculinity.
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(2007f.) oder Aisteach, dem erfundenen Archiv der irischen Avantgarde.50 Die Verknüpfung von ästhetischen Stilen und Gender ist sprechend. Kloos zufolge bezieht sich diese Praxis kritisch auf die Festlegungen in der Szene der komponierten Neuen Musik, Komponist*innen über bestimmte Stile zu definieren, wodurch Experiment und Veränderung schwierig werden. Im Künstlerinnengespräch zu Aisteach verweist Walshe auf den Zusammenhang von ökonomischen Bedingungen und der Entstehung von künstlerischen Avantgarden, der in Irland im frühen 20. Jahrhundert nicht gegeben war.51 Die Performance An gléacht war ebenfalls dem Aisteach-Projekt zugeordnet. Der fiktiven Entstehungsgeschichte nach hatte Walshe Filmmaterial ihres Großvaters gefunden, das sie vervollständigt und zum Teil der Performance mit Musikern der Berliner Experimentalszene gemacht hatte. Das Erfinden eigener Vorgeschichten kann als Fortsetzung einer Praxis gesehen werden, die in den 1960er Jahren in feministischen Kontexten begann und noch immer ihre Notwendigkeit hat: das Suchen nach Frauen in den verschiedenen Bereichen der Kunstgeschichte, ihre Integration in die Lexika, Lehrpläne und Geschichten ästhetischer Innovationen. 52 Jennifer Walshes Projekt macht zudem den Verlust deutlich, wenn bestimmte soziale Gruppen nicht die Möglichkeit der Ausbildung und ästhetischen Praxis haben. Die Traurigkeit und Melancholie über die verpassten Möglichkeiten geben andererseits Anlass zu neuer Kreativität: Walshe erfindet sich ihre künstlerische Community und ihren eigenen Hintergrund und erweitert im selben Zuge ihre kreativen Ausdrucksmöglichkeiten in ästhetischen Stilen und Gender-Performances.
50 Vgl. Kloos, Franziska: Jennifer Walshe. Spiel mit Identitäten, Hofheim 2017. Siehe http://milker.org/anintroductiontogrupat und http://www.aisteach.org/ vom 20.06. 2018. 51 Abgesehen von der vergleichsweise mit weniger Produktionsmitteln realisierbaren Literatur. 52 Bekannt ist das Projekt Dinner Party von Judy Chicago, das in kleinen RechercheGruppen begann und nach Skandalen und Schwierigkeiten seit 2007 im Brooklyn Museum, New York, ist. Der Aufruhr gegen die Geschlechteruniformität in der Neuen Musik ging 2016 bemerkenswerterweise auch von einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Archiv der Darmstädter Ferienkurse aus, bei dem zahlreiche vergessene Komponist*innen entdeckt wurden.
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Performing Gender As Polyphony Pia Palme
INTRODUCTION In this personal exploration, I will establish and discuss a conception of gender as sonorous terrain. In my work as a composer and performer of music I foreground the auditory. Listening perception operates in a different way from that of the visual. As I listen, my experience of the world expands beyond the field of vision, broadens into all directions, and deepens considerably. Close observation of my listening perception allows me to approach the intimate and personal simultaneously with the social and cultural. Listening provides the framework to me to recognise connections between the private and public aspects of gender, as well as the bodily and mental. With my ears, I note both intimate space and its contextual expanse. It was only when I began to use listening as an approach to explore gender that I found sufficient answers in my research. This study incorporates the experience I have gained through this approach, examining gender on stage and beyond, as a coherent sonic experience and polyphony of voices, as a multiphonic composition permeating everyday life. The text provides an overview of listening perception in the context of this discussion, clarifies the idea of gender as an aural phenomenon, and further explores the implications of this idea. From my subjective position as an artist, I investigate how gender can be actively and personally composed, and how this leads to an understanding of gender that is more inclusive, fluid, and pervasive. In so doing, I draw on a body of research I have conducted over the last years, e. g. in my doctoral thesis The Noise of Mind: A Feminist Practice in Composition1.
1
Palme, Pia: The Noise of Mind: A Feminist Practice in Composition. A thesis submitted to the University of Huddersfield in partial fulfilment of the requirements for the degree
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This text is written in alternation between the academic language of English and my mother tongue German. Analytic studies are assembled alongside other more poetic explorations. The juxtaposition of the two languages and styles of writing enable me to compose and notate the polyphony I experience on a personal level. As a professional researching artist, I belong to an international community of colleagues for whom it is important to express one’s findings in multiple languages. Writing about my work and research, I mostly use English and German. I have observed that an initial idea develops in a certain direction when I notate it in English and in a slightly different direction when I notate it in German. When writing, I frequently transfer my texts from German to English and back again – using English, my focus is on how and why I act, while in German I outline shifting situations and states. The subtle changes in frames of mind arising from the process of translation enrich and stimulate my reflections. However, the German of Vienna is the German of my childhood. Its sound, structure, rhythm, and melody express the intimacy I want to communicate in this essay. It is for this reason that I have decided to voice poetic and intimate observations about gender and my memories from early years in German. Just as the use of different languages provides polyphonic compositional material, so the different styles of writing communicate the strands of thought, perception, and reflection as I observe them in my mind-body continuum. Altogether, my text gives voice to the experience of a composer, listener, and a researcher; it echoes the subjective space of a human being and a personal performance of gender oscillating between girl, boy, mother, man, woman, and beyond.
LISTENING Listening is a performative activity; it is a political activity.2 My deep interest in listening as a lifelong practice goes back to my childhood in Vienna. It was in those early years that I first learned to direct my ears inwards. At that time, in the sixties, Austria was a recovering post-war republic and Vienna a bland city with a number of houses still bearing the marks of warfare. The impact of the Second
of Doctor of Philosophy, See http://piapalme.at/wp-content/uploads/2012/02/Thesis_ Palme2017_PPcorrect_last.pdf 2
Cf. Helbich, David: »Hören ist ein performativer Akt«, in: MusikTexte. Zeitschrift für Neue Musik 149 (2016), See http://musiktexte.de/epages/dc91cfee-4fdc-41fe-82da0c2b88528c1e.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/dc91cfee-4fdc-41fe-82da-0c2b88528c 1e/Products/MT-149
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World War and Austria’s Nazi history cast a long shadow. My paternal grandmother was of Jewish decent; many of my questions about the past were met with silence, even within my own family. Mansions in the area where I lived stood imposingly silent, bearing witness to the Jewish families who had once lived there. With their parks turning into wildernesses, the noises of nature thrived around their stillness. Listening into these silences as a child, I found these void places reverberating with concealed voices, permeated by a dark basso continuo. Der Garten ruft rund um das schwarze Riesenhaus strecken sich die Finger der Sehnsucht aus greifen still ins Herz im Vorbeigehen unbewegt schreiend Föhren Stämme stehen im Sonnenlicht flirrt zwischen dichten Nadeln dunkles Rauschen lockt mit Abenteuern ausgesperrt auf meinem geraden Weg wild und jung bleibt mir die Sehnsucht ihr Angriff hat mich gezeichnet
From my work as an artist and composer, it is imperative to me that listening must penetrate beyond external surfaces into interior spaces: into objects, into phenomena, into my own body; further, into, and beyond human interaction and communication – into one’s human and non-human environment. The late composer and
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listening expert Pauline Oliveros introduced the term »sonosphere« as the »sonorous or sonic envelope of the earth«3. From here, I experience the personal sonosphere as a multidimensional expanse surrounding me on all sides and extending into my interior space, my mind-body. This is in stark contrast to visual perception, which covers a limited spatial range in front of the perceiver and stops when interrupted by any surface, such as one’s skin. The sense of hearing4 borders on touch, with the physicality of hearing being vital for this discourse. At approximately 20 Hertz, the lower frequencies of audible sound are felt as tactile vibrations.5 Sound physically penetrates one’s body. This feature of listening perception is certainly familiar to anyone who has visited a club playing electronic dance music. When sound becomes too intimate, too close, it mutates into noise. As the sound artist and theorist Salomé Voegelin articulates, the term noise amplifies the fact that there is no distance between sound and the listener. 6 Noise is an integral facet of listening. Rather than understanding noise purely from an aural point of view, I take it to be an intensely personal and cultural phenomenon: noise is the terrain of the unwanted and blocked. Since one cannot shut off one’s perception of hearing, mental activity filters sonic phenomena through a complex and individual process modulating emotionality, intellect, and cultural habits. As I explained in my doctoral thesis, the conception of noise as such distinguishes listening perception from its visual counterpart7: I concur with Voegelin’s observation that the term noise refers to the penetrability of sound, which relays pain into mind and body.8 I find it interesting that in the conception of noise cultural and social aspects come into play, while the intimate and personal side of the listener is exposed at the same time. In any exploration of gender, the idea of noise is very helpful as an indicator of the hidden and unconscious domains. We cannot
3
Oliveros, Pauline: »Auralizing in the Sonosphere: A Vocabulary for Inner Sound and Sounding«, in: Sage Publications. Journal of Visual Culture 10, 2 (2011), pp. 162-168, here p. 22, See http://vcu.sagepub.com/content/10/2/162
4
Throughout the text, the term »hearing« denotes the general process and faculty of perceiving sound, while »listening« stands for the conscious process of giving attention with the ear.
5
Cf. Schafer, R. Murray: The Soundscape: Our Sonic Environment and the The Tuning of the World, Rochester 1994, p. 11.
6
Cf. Voegelin, Salomé: Listening to Noise and Silence: Toward a Philosophy of Sound Art, London 2010, p. 176.
7
Cf. P. Palme: The Noise of Mind, pp. 40-42.
8
Cf. S. Voegelin: Listening to Noise and Silence, p. 176.
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shut ourselves off from the conventions of gender that surround us. Whether pleasant, supportive, or painfully obstructive, the cultural and social conventions of gender permeate my behaviour, mind, and body. Treating gender as a listener, I become aware of the veils of gender construction that affect me as an individual. Thus, the conception of noise is a helpful instrument in queer and feminist practice: once the demarcations have been discovered and named, I am empowered to work with and re-compose them. A further aspect of listening is its connection to the mental processes. I can direct my listening ear into myself, into my mind. Following the phenomenologist and listening researcher Don Ihde, I identify mental phenomena and cognition in conjunction with voice and language.9 Mind is an inner sonosphere, with the thinking process, its inner speech and vocality, inextricably tied to language. The vocal quality of thoughts is easily neglected because of its constant presence as a non-intrusive background sonority. In thinking, writing, or reading, one connects with the sonosphere. In the auditory realm, the laws of acoustics reign: to the ear, objects become acoustically transparent. Here, I quote from Albert S. Bregman’s Auditory Scene Analysis: The auditory world is like the visual world »if all objects would be very, very transparent and glowed in sputters and starts by their own light, as well as reflecting the light of their neighbours«10. For this reason, I depend on my ear, when studying the field of gender. Listening into society and into culture, my environment becomes transparent. Layers upon layers become audible, sounding together, lively, diverse, and multiple. This kind of sonic transparency and fluidity is what I aim to induce into the conception of gender. My performances Mattoteline, Fern Bowl Piece, and Noisy Swans (2018) illustrate how the ideas described here influence my process of working. They were performed during an artist residency on the island Örö Linnake in the Finnish archipelago, and enact a feminist mode of listening into contextual terrains. The ›mattoteline‹ (carpet rack) is a simple metal structure that can be found outside near Finnish homes. For my piece11 I used a contact microphone to pick up sounds from inside the rack. My idea was to perform a ›hidden‹ score resonating in a common household item. Experimentation with heavy iron objects found on historic military sites led to the performances of Fern Bowl Piece12 and Noisy
9
Cf. Ihde, Don: Listening and Voice. Phenomenologies of Sound, Albany 2007, pp. 137144.
10 Bregman, Albert S.: Auditory Scene Analysis. The Perceptual Organization of Sound, Cambridge 1990, p. 37. 11 See http://piapalme.at/works/mattetoline-performance/ 12 See http://piapalme.at/works/fern-bowl-piece-2018/
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Swans13. With stones and hammer, I extracted various sounds from these objects. A written text accompanies Fern Bowl Piece; the percussive score Noisy Swans is counterpointed with the vivid chatter of trumpet swans, who had promptly answered my hammering performance on site.
SOUNDING GENDER Listening is a powerful practice to re-compose the world. The ear is far more than a receptive vessel that takes in sounds emanating from an outside source. Neuroscientists claim that perception is an enactive process, that is, a complex and productive operation which actively creates the perceived environment. Listening as a process requires mental phenomena beyond information processing, such as imagination, consciousness, and attentiveness. It is accepted that perceptional processes are tied to cultural training.14 Neuro-materiality »has to be discussed in terms of culture, society, cognition, and behaviour, which all give meaning to each other in this process of enacting and intra-acting«15. It is imperative that the sociocultural context of listening is acknowledged. In the neuroscience discourse, the term »brainbody-in-culture« has been established for this perceptional phenomenon.16 Two areas of cognitive psychology and neuroscience seem relevant in the context of my artistic research: a current feminist and queer perspective on brain discourse that is explored by Sigrid Schmitz and Grit Höppner in Gendered NeuroCultures 17 and Eric Kandel’s singular research about corresponding aspects of creation and perception.18 An international network of scholars working in various disciplines in the fields of gender and brain research strongly argue that feminist science studies as well as gender and queer studies must be integrated to evaluate and improve the current state of neuroscientific methods, evidence, and interpretations. The nexus »brainbody-in-culture« addresses aspects of gender construction and helps to stimulate the feminist and queer neuro-discourse. On the other hand, according to Eric Kandel, perception is not a passive act of taking in and
13 See http://piapalme.at/works/noisy-swans-piece-2018/ 14 Cf. Depraz, Natalie/Varela, Francisco J./Vermersch, Pierre: On Becoming Aware. A Pragmatics of Experiencing, Amsterdam 2003, pp. 222-232. 15 Schmitz, Sigrid/Höppner, Grit (Eds.): Gendered Neurocultures. Feminist and Queer Perspectives on Current Brain Disorders, Vienna 2014, p. 17. 16 Cf. Ibid. 17 Ibid. 18 Kandel, Eric: The age of insight: the quest to understand the unconscious in art, mind and brain from Vienna 1900 to the present, New York 2012.
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reacting to stimuli, but it is the intrinsically creative »modelling of physical and psychic reality«19. I re-compose society’s paradigm of gender as I listen to it. Als Knabe war ich stark. Später ist mein Kinderkörper zur dem einer Frau gereift. Da kam die Einsicht als ein Schock, Frau werden müssen, dass das nicht zu ändern war und mich vor allen Menschen äußerlich definierte, anders als ich mich innerlich begriff. Ausgeliefert sein. Schwächer werden. Lernen müssen, was das bedeutet, eine Frau zu sein. Das zeigte sich in meinem Fall darin, dass ich gängige Normen und Moden nicht mitmachte. Keine langen Haare, keine feminine Kleidung, kein mädchenhaftes Bewegen. Kampf gegen enge Normen. Kein Weg war sichtbar, um aufbegehren zu können. Suchend. Sehnsucht Teil Zwei. In den inneren Widerstand gehen: mein Denken bleibt mir, wie es ist und wie ich es will. Dort bin ich zu Hause. Als Kind fühlte ich mich wie ein Bub – in gesellschaftlicher Hinsicht. Mein Mädchenkörper war mir vertraut, ich mochte diesen jungen Körper, war zufrieden damit, die zu sein, die zu verkörpern, die ich war, ich mochte, wie ich aussah. Jedoch habe ich mich wie ein Bub gekleidet. Ich wollte auf keinen Fall den sozialen und kulturellen Normen für Mädchen folgen, die waren mir zu eng und zu dümmlich. Ich wollte wild sein und klug, raufen, stark auftreten, mich so kleiden, wie es meine Bewegungen, mein Tun erforderten. Es ging um das Tun, nicht um den Körper und nicht um Innenwelten. Das Problem war, dass von Außen her (Familie, Schule, Umgebung) ein anderes Bild auf mich projiziert wurde. Ich fand keine Unterstützung. Da war dieser Zwiespalt zwischen meinem Körpergefühl (das gut war) und dem fremden Körperzwang, der von außen über mich gestülpt wurde. Es war der Konflikt zwischen den Konzepten der Erwachsenenwelt und denen meiner eigenen Welt, der mich manchmal innerlich zerrissen hat.
Over my lifetime, my approach towards my own body-mind continuum and its gendered manifestation has undergone changes. In my childhood I defined myself
19 Ibid., p. 205.
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as a boy, dressed, and acted like a boy whenever circumstances allowed. Yet I liked my girl-body, which I found strong and capable. Later, I had to accept that my body developed in a direction of its own and found my refuge in the mind. Rational thinking and reflection offered a space beyond gender problems. From here, it seemed best to accept, adapt, and to learn what it meant to be a woman, as far as I could perceive – that is, I explored woman’s role in society. I did so by listening into my surroundings, a faculty which, in my case, has been honed by the need to listen between the lines and notice the unspoken meaning behind words. These sensations are physical, on a body level, underlying the visual level. As a young parent, I tried very hard to become a conscious mother, or what was considered a good mother. Giving birth twice was a powerful experience for me, bodily and mentally. It felt as if nature herself held me in her grip, her relentless powers far exceeding any conceptions of gender. Studying feminism I discovered new territory to explore. Now, as an ageing human being, my approach to my own gender is once again re-composed. Beyond-woman, more of a woman-man, more cross-gendered and fluid, ageless rather than old, while at the same time being immersed within the ongoing process of disintegration – currently I experience a greater freedom than I have ever felt before, as I move away from any gender roles whatsoever. The various gender-paradigms I have been enacting and performing have all become part of my personal life-story. They have become voices recorded and resounding in my sonic memory. Noch später: sich verlieben. Erkennen, dass Liebe freier sein könnte als das, was ich glaube tun zu können. Kinder gebären. Eine Erfahrung, die unvergleichbar bleibt, brutal elementar. Für mich war die direkte Erfahrung der Geburt jenseits von allen Geschlechterrollen. Ich habe mich nicht ›als Frau‹ erlebt, schon eher als ein Teil der Natur. Eine Naturgewalt, die vollkommen von mir Besitz ergreift. Ein Lebewesen wie jedes andere auf der Welt sein, ohne Wahl in diesem Moment. Eine starke Performance, die mich vollkommen in Bann hält. Gebären, geboren werden, sterben, verwesen. Kompost.
COMPOSING GENDER AS POLYPHONY Listening into society, I re-compose gender. In order to explain my understanding about the process of composition in this context, I put forth corresponding ideas from Donna J. Haraway’s recent book Staying with the Trouble. Making Kin in
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the Chthulucene (2016). The author turns to what she defines as »tentacular thinking«20 and relates her conceptional models to developmental biology and art/science activism. Sketching out utopian post-human cultures, Haraway evokes human and other beings forming »assemblages of organic species and of abiotic actors«21 who will become activists and make history. The author states: »I am a compostist, not a posthumanist: we are all compost, not post-human«22. Kinder aufziehen. Die Rollen von Mutter, Vater, Eltern für mich erkunden, ausverhandeln, neues Terrain begehen, kartografieren. Ich war als junge Mutter in eine Gruppe von anderen jungen Eltern eingebettet, in der neugierig experimentiert und geforscht wurde, auf der Suche nach anderen Rollen als die, die uns vorgelebt worden sind. (Hetero-)Rollen neu ordnen, ausweiten. Dagegen ankämpfen. Sich gegen die Gesellschaft stellen. Sich arrangieren müssen.
During a performance on stage, multi-species, multi-gender, and multiple materials form relationships.23 In a unique way musical performance brings together human beings, instruments, and notations. For the most part, I feel neither female nor male while making music, on stage and beyond. Mainly I perform with my instrument, the two meter high contrabass recorder, occasionally extended with microphones, computer, speakers, and other media. In this way, the recorder forms part of my personal assemblage. It contributes to how I compose/compost my own gender manifestation as artist, or as utopian multi-voiced »Child of Compost«24. Over the years, the instrument has become familiar to me. During long hours of practice, it has grown onto my body and mind. When I perform, the air flows out of my body, through my lips, streaming into a small metal tube and subsequently into the large wooden tube. I feel the warmth of my breath inside the instrument,
20 Haraway, Donna J.: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham 2016, p. 31. 21 Ibid., p. 100. 22 Ibid., p. 101. 23 For example, watch my interdisciplinary work Patterns to punctuate song, with darkness (2015). See http://piapalme.at/works/patterns-to-punctuate-song/ 24 The term »Children of Compost« was introduced by Donna J. Haraway to describe posthuman multi-species: D.J. Haraway: Staying with the Trouble, p. 8.
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as the air starts to vibrate and sounds emerge. The wooden tube resonates. Touching the keys with my fingers, the boundary between skin and metal dissolves. As my fingers melt into the metal, the keys turn into my cyborg fingertips. The sounds that we – the instrument and I – produce together fill the entire space.25 The music spans what can be defined as a third area – per Donald W. Winnicott’s investigations into art and culture as psychological phenomena in Playing and Reality26 – that is, music is a zone of its own between myself and the audience. Only in that sense, I understand music as an intermediate space, as nonterritorial and non-gendered terrain. I think and notate: The wooden instrument is part of my performer’s and composer’s body, yet of no living substance. Part of my composed ageing post-female-or-male body. The biotic and a-biotic join in my instrumental performance. I become an object of compost, a child before gender. The composer composting themselves, orchestrating their pre-binary gender polyphony as a sounding utopian critter. Music is an attire that drapes gender. Music is an attire that clothes gender. Music and gender sound together.
In exploring gender on stage, it is important to look at the role of the community present, that is, the audience. I propose that performer and audience are linked through their listening activity. Through listening perception, we gain a physical awareness of being co-present with others. This experience can enhance an already innate sense of community. Here, I refer to the experience occurring before deliberately communicating as individuals, or without individually communicating at all. In order to explain this in more detail, I turn to Judith Butler and her performative theory of assembly. Butler describes how people’s bodies physically communicate with each other. This exchange happens: »in a space that constitutes the gap between my own body and another’s. In this way, my body does not act alone when it acts politically. Indeed, the action emerges from the ›between‹, a spatial
25 For example see http://piapalme.at/works/arbesbach-2016/ 26 Cf. Winnicott, Donald W.: Playing and Reality, London 2005, p. 139.
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figure for a relation that both binds and differentiates«27. Butler’s descriptions relate to the fact that listening perception borders on touch. Indeed, another argument to underpin the corporal sense of community can be found in acoustics. In any concert hall, theatre, or lecture auditorium, the acoustics change as soon as people enter the space – every single person within a room influences the acoustics of the respective space. Any human body in the concert hall further divides and multiplies the reflecting sound waves; generally, this results in a clearer and more precise auditory reception. Moreover, people do not sit or stand entirely still. The overall quality of listening perception is further enhanced through slightly changing multiple reflections of sounds. Even a minimal physical movement – like a subtle turn of the head – can improve the acoustic experience; the movement enables our ears to collect more information from a wider range of reflections.28 As we listen, we often do such tiny movements habitually. We are not aware that the reason behind these movements is that we can take in sound better. In this way, the interaction of listening perception and room acoustics together make us aware of the presence of others in a shared space. There is a bodily interaction happening within an assembly. This communication is beyond the visible; it is based on listening and touch, and contributes to the collective experience of genders present in the space. Als Mutter wurde ich zur Feministin, habe in einer Runde von Gleichgesinnten theoretisch und praktisch das feministische Terrain erforscht, diskutiert. Habe experimentiert und gelernt, noch schärfer und präziser die Muster im Hintergrund der Gesellschaft zu erkennen. Sprache, immer wieder die Sprache als Hindernis, besonders das Deutsche muss entschärft, geformt werden. Der Wille, der Antrieb, Dinge zu verändern und selbst neu zu bestimmen. Horchen und bestimmen, was es bedeutet Frau zu sein. Was es bedeuten kann, Frau jenseits von Rollen zu sein. Herausfinden, was ich will, dass es bedeutet, Frau zu sein. Totale Neubestimmung, neues Bewusstsein. Rollen erkennen, Muster erkennen. Neu zusammensetzen.
It is not only among my performing artist colleagues that I have observed a qualitative and quantitative increase in discussions on gender and identity, but throughout my social and cultural environment. Over the past few years, I have been
27 Butler, Judith: Notes Toward a Performative Theory of Assembly, Cambridge 2015, p. 77. 28 Cf. Benade, Arthur H.: Fundamentals of Musical Acoustics, New York 1990, p. 201.
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involved in ardent disputes on the topics of feminism and gender-queer activism, stretching beyond the disembodied communication via internet platforms to live meetings and discussion panels. Across all these varied communities and situations, I find especially noteworthy the urge to rethink and reform prevalent conceptions of gender, as well as conceptions of the body and of human physicality. These developments seem to be connected with, or even triggered by, the impact of the digital dimension on human communication and self-perception.29 As an example, I would like to examine a dispute within the female:pressure30 network of female, transgender and non-binary artists in the fields of electronic music and digital arts. The f:p movement, network, and platform was founded by the electronic artist and composer Susanne Kirchmayr (aka. Electric Indigo) in 1998. In 2017 and 2018, discussion threads unfolded over the question of how to correctly address each other in messages, so that everybody and every gender would feel included and respected. The discussion evolved over a long time, gaining in depth and urgency. Several themes were addressed in connection to the issue of gender in electronic music and many personal experiences were shared. As opinions contrasted, verbal violence increased, with the dispute proving destructive for the group process. It took a long time to achieve a new equilibrium after this, with a number of members leaving the network. However, many members stated that in the long run their understanding of gender became more profound. Personally, I found myself touched by the directness and intimacy of the arguments. Even conflicting positions appeared plausible to me, considering the personal histories and experiences behind people’s statements. To continue the discourse, I turn to the field of feminist and queer rhetorics. Here, listening is understood as a vital practice that leads to understanding and respect. In her exploration of feminist rhetorics, Shari J. Stenberg notes that in popular culture as well as in scientific contexts, listening is regarded as an activity that occurs naturally without special practice. While writing, reading, and speaking are cultivated as a means of (scholarly) competition, listening is devalued as the passive counterpart to speech. Stenberg suggests listening as a tool to underscore »reflection, responsibility, and understanding of difference« instead of »individual success« in a dialogue – including academic as well as non-academic
29 Cf. Baym, Nancy K.: Personal Connections in the Digital Age, Cambridge 2015, p. 6. 30 See http://www.femalepressure.net
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contexts.31 Along this line of thinking, listening becomes a powerful practice to foster the peaceful co-presence of multiple manifestations of gender in a society. The above mentioned discussion among the members of the female:pressure network is such a dialogue. As I tried to listen into the various arguments that were brought forth via email, my previously-held view of feminism was scattered: why advocate feminism, when there is no consent about what the term »woman« or »female-identified person« stands for, among the members of a network calling itself female:pressure? When there is no consent about how to respectfully address each other in such a group? However, it is exactly this sort of discussion, of positions between equality and difference, which can lead to a renovation of feminism32; long-standing feminists might have to give up territorial behaviour. These discussions led me to rethink and re-evaluate my own life-story in regard to how I felt that I had been experiencing my own gender. In turn, I found that my approach towards the term »gender« has undergone several changes during my lifetime. Daria Majewski, in her essay Töchter der Räuberin. Zur Differenz und Gemeinsamkeit von cis und trans Weiblichkeit on gender perspectives, writes: »Körper sind keine neutralen Orte, die willkürlich mit Bedeutungen durchzogen werden oder neue Bedeutungen bekommen können. Sie unterliegen historisch gewachsenen Vergesellschaftungsprozessen, die vom Moment unserer Geburt an, vielleicht schon pränatal, auf uns einwirken.«33 The terms compost and composer have the very same root, the Latin verb componere – meaning to put together, to assemble, to arrange in order. Subjectively, I now understand my own gender as a nexus of body-mind-sound elements, a fluid patchwork of experiences, an assembly of activities, a composition of ideas, collected over the course of my life. Older layers of gender conception disintegrate while new ones emerge. Like parts in a sonic performance, they evolve organically, or musically. The idea of time plays an important part here: inherently, sound emerges as fluid rather than solid within a certain timespan – and so does gender as sonic phenomenon. Jetzt, noch später, Komponistin und wieder ein anderer Körper. Ich bin gealtert, die Wechseljahre hinter mir. Mein Körpergefühl erneut anders, eine weitere Art der Pubertät, des Übergangs. Bin keine Frau mehr und kein Mann. Das erste Mal körperlich sehr frei von
31 Stenberg, Shari J.: Lenses on Composition Studies: Composition Studies Through a Feminist Lens, Anderson, 2013, p. 95. 32 Linkerhand, Koschka (Ed.): Feministisch streiten, Berlin 2018, p. 23. 33 Ibid., p. 67.
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Genderrollen, Geschlechterrollen. Interessant. Reduziert. Zusammengestrichen auf das Wesentliche. Kristallin. Hart und sehr weich. Etwas, das ich innen spüre, und etwas, das von außen kommt. Zu beobachten, wie genau dieser Körper langsam und unaufhörlich altert, zerfällt … dieser Körper ist gleichzeitig vertraut seit langer Zeit, als mein Körper, mein Denken. Jetzt wieder neu wie anfangs. Zugleich spüre ich die Erinnerungen, die in meinem Körper gespeichert sind. Schatten von vielen Geschlechtern. Abermals ein Zwiespalt: die Gesellschaft hat nicht Platz für alternde Frauen – Menschen, Wesen. Ich nehme mir Freiheiten.
All around in my environment, my fellow human beings contribute their own personal stories and voices, adding to the collective entirety of gender assumptions. Like single voices in a polyphonic composition, they emerge, dwell, coexist or overlap, and vanish over time. They sound together. For examples, I refer to my vocal compositions MORDACIOUS LIPS, TO DUST (2015)34 and BIRDSONG CRANNIES (2015)35. In acoustics, the term masking refers to the fact that louder sounds can cover up softer ones. However, our ears can still trace the softer sound underneath the louder layers, if one has heard it before. Softer sounds can be masked, but they are never eradicated. With auditory conceptions of gender, this is a helpful idea. Every single voice, every individual manifestation of gender is heard and contributes to the entirety of the polyphonic composition, even if it is a soft emanation.
CONCLUSION This essay introduced listening as a means to explore gender on stage and beyond, and explained how it is possible to approach gender from the perspective of a listener, composer, and artistic researcher. From here, I have argued that diverse conceptions of gender can peacefully coexist and unfold over time, and proposed that in their entirety they perform a polyphonic composition. As individuals, we re-compose the polyphony of gender in our own perceptional process. The various conceptions of gender cultivated over a lifetime contribute to gender as fluid and multi-voiced phenomenon. Recent findings in brain research and neuroscience underpin the idea of listening as a practice that balances personal and cultural aspects in gender conception. Shari J. Stenberg reclaims the »subjectivity of the writer and
34 See http://piapalme.at/works/mordacious-lips-to-dust/ 35 See http://piapalme.at/works/birdsong-crannies/
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reader, arguing for experience as a vital form of knowledge«36. In this sense, it is important to record one’s personal experience of gender conceptions, and to discuss them within a framework of artistic research. To this body of subjective experience, which is continuously expanding our epistemology of gender, I argue that we must ensure not to neglect the aural experience of listening and the effect it can have on our perception and performance of gender.
REFERENCES Baym, Nancy K.: Personal Connections in the Digital Age. (2nd ed.), Cambridge 2015. Benade, Arthur H.: Fundamentals of Musical Acoustics. Second, Revised Edition, New York 1976/1990. Bregman, Albert S.: Auditory Scene Analysis. The Perceptual Organization of Sound, Cambridge 1990. Butler, Judith: Notes Toward a Performative Theory of Assembly, Cambridge 2015. Depraz, Natalie/Varela, Francisco. J/Vermersch, Pierre: On Becoming Aware. A Pragmatics of Experiencing, Amsterdam 2003. Haraway, Donna J.: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham 2016. Helbich, David: »Hören ist ein performativer Akt«, in: Jennifer Walshe (Ed.), Die Neue Disziplin. MusikTexte 149. (2016) Retrieved from http://musiktexte .de/epages/dc91cfee-4fdc-41fe-82da-0c2b88528c1e.sf/de_DE/?ObjectPath=/Sho ps/dc91cfee-4fdc-41fe-82da-0c2b88528c1e/Products/MT-149. Ihde, Don: Listening and Voice. Phenomenologies of Sound (2nd ed.), Albany 2007. Kandel, Eric: The age of insight: the quest to understand the unconscious in art, mind and brain from Vienna 1900 to the present, New York 2012. Linkerhand, Koschka (Ed.): Feministisch streiten, Berlin 2018. Oliveros, Pauline: »Auralizing in the Sonosphere: A Vocabulary for Inner Sound and Sounding«, in: Journal of Visual Culture 2011, 10, 2, pp. 162-168. Retrieved from http://vcu.sagepub.com/content/10/2/162 Palme, Pia: The Noise of Mind: A Feminist Practice in Composition. A thesis submitted to the University of Huddersfield in partial fulfilment of the requirements for the degree of Doctor of Philosophy. (2017). Retrieved from http://piapalme.at/wp-content/uploads/2012/02/Thesis_Palme2017_PPcorrect_la st.pdf
36 S.J. Stenberg: Lenses on Composition Studies, p.16.
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Schafer, R. Murray: The Soundscape: Our Sonic Environment and the The Tuning of the World, Rochester [1977] (1994). Schmitz, Sigrid/Höppner, Grit (Ed.): Gendered Neurocultures. Feminist and Queer Perspectives on Current Brain Disorders, Vienna 2014. Stenberg, Shari J.: Lenses on Composition Studies: Composition Studies Through a Feminist Lens, Anderson 2013. Retrieved from http://www.ebrary.com. Voegelin, Salomé: Listening to Noise and Silence: Toward a Philosophy of Sound Art, London 2010. Winnicott, Donald W.: Playing and Reality, London 2005.
On Being Included1 Eine intersektionale Perspektive auf deutsche Bühnen Azadeh Sharifi
Intersektionalität ist zu einem Buzzword in den deutschen Theatern geworden. Es wird augenscheinlich intersektional gedacht, gehandelt und inszeniert. Intersektionalität ist ursprünglich ein Konzept, das von der Afroamerikanischen Juristin und Aktivistin Kimberlé W. Crenshaw ausgearbeitet wurde, um die verschiedenen Faktoren von Diskriminierung und Marginalisierung, von denen Schwarze Frauen betroffen sind, zu benennen.2 Es gab in der neueren deutschen Geschichte nie so viele Theatermacher*innen of Color und migrantische sowie migrantisierte Theaterschaffende, die auf den Bühnen standen. Aktivistisch-motivierte Gruppierungen wie Bühnenwatch und Bündnis kritischer Kulturpraktiker*innen haben zu einer Auseinandersetzung mit Rassismus und kolonialer Geschichte, die sich in den Bildern, in der Sprache und den Narrativen auf deutschen Bühnen tradieren, beigetragen. Manche Institutionen reagierten darauf mit Programm- und Diskursreihen sowie mit personellen Veränderungen so wie das Hebbel am Ufer Berlin und die Sophiensaele Berlin. Förderinstitutionen erarbeiteten Instrumente, um sich der aktuellen Realität der deutschen Gesellschaft zu stellen. Die Kulturstiftung des Bundes hat das Programm 360°– Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft entwickelt, in dem Migration in die Institutionen hinein- und durch Angebote für
1
Der Titel ist angelehnt an Sara Ahmeds Buch On Being Included – Racism and Diversity in Institutional Life. Ahmed, Sara: On Being Included. Racism and Diversity in Institutional Life, Durham 2012.
2
Vgl. Crenshaw, Kimberlé W.: »Die Intersektion von ›Rasse‹ und Geschlecht demarginalisieren: Eine Schwarze feministische Kritik am Antidiskriminierungsrecht, der feministischen Theorie und der antirassistischen Politik«, in: Helma Lutz/Maria Teresa/ Herrera Vivar/et. al (Hg.), Fokus Intersektionalität, Wiesbaden 2010.
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die Stadtgesellschaft fortgetragen wird. Ähnliches gilt für eine postkoloniale Auseinandersetzung, die beispielsweise in dem umstrittenen Programm TURN – Fonds für künstlerische Kooperationen zwischen Deutschland und afrikanischen Ländern – umgesetzt wurde.3 Parallel hat die #MeToo-Bewegung, die in der US-amerikanischen Filmindustrie begonnen hat, eine globale Welle von Aufmerksamkeit für Sexismus und sexualisierte Gewalt, Schikane, Belästigung und Missbrauch am Arbeitsplatz ausgelöst. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung hat in die deutschen Theater Eingang gefunden. Es folgten feministische Interventionen, woraus sich Initiativen wie Theater.Frauen und Initiative für Solidarität am Theater gegründet haben, deren Anliegen zwar unterschiedlich gelagert sind, aber letztlich ein Überwinden von patriarchalen (und feudalistischen) Machtstrukturen einfordern. So werden derzeit tatsächlich einige künstlerische Leitungen von Theatern und Produktionshäusern an Frauen und Frauengruppen übergeben. In vielen Diskussionen, ob ästhetisch oder kulturpolitisch, geht es darum, zu reflektieren, wie die Diversität der deutschen Gesellschaft auf der Bühne repräsentiert und gleichzeitig die machtvolle Ungleichheit von Privilegien überwunden werden kann. Es scheint etwas in Bewegung zu sein. Aber vielleicht trügt der Schein. Denn die Bewegung wird auch von Stagnation und/oder dem Aufleben tradierter Vorstellungen aufgehalten, torpediert und blockiert. Da werden alte, vornehmlich männliche (weiße) Helden-Figuren weitergefeiert, obwohl der (Theater-)Öffentlichkeit vermehrt Zeugnisse ihrer sexistischen und insgesamt gewaltvollen Intendanz (oder, um es dem feudalistischen System des Theater gemäß zu bezeichnen: Vorherrschaft) vorliegen.4 Es gibt eine skeptische Haltung und 3
In der Publikation Allianzen: Kritische Praxis an weißen Institutionen, herausgegeben von Elisa Liepsch, Julian Warner und Mathias Pees, wird in verschiedenen Beiträgen, u.a. in dem von Simone Dede Ayivi, eine kritische Position zum Programm TURN eingenommen. Vgl. Dede Ayivi, Simone: »Internationalität ≠ Interkultur. Eine Schwarze Deutsche Kritik«, in: Elisa Liepsch/Julian Warner/Matthias Pees (Hg.), Allianzen: Kritische Praxis an weißen Institutionen. Bielefeld 2018, S.74-83.
4
Die letzte Debatte wurde um Frank Castorf geführt, der in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 28. Juni 2018 auf die Frage, warum unter seiner Intendanz kaum Regisseurinnen engagiert wurden, folgendermaßen antwortete: »Wir haben eine Frauen-Fußballweltmeisterschaft und eine Männer-Fußballweltmeisterschaft, und in der Qualität des Spiels unterscheidet sich das schon sehr. […] Ich will nur sagen, dass eine Frau dieselbe Qualität haben muss. Ich war ein großer Verehrer von Pina Bausch, oft kopiert, nie ist einer rangekommen. Nicht jeder, der ein Diplom in Theaterwissenschaft hat, ist dafür prädestiniert, Kunst ausüben zu dürfen und andere Menschen damit
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dementsprechende Debatten, in denen eine Unterscheidung zwischen der ›hochgefeierten‹ künstlerischen Arbeit und der Person des Künstlers unter Bezugnahme auf einen problematischen Begriff von Kunstfreiheit gefordert wird. Die Verehrung und das Festhalten am Status des großen männlichen Genies ist in der Theaterwelt immer noch verbreitet. Emma Willis hat in ihrem Artikel ›Acting in the Real World‹ – Acting Methodologies, Power and Gender analysiert, wie unter der Prämisse des Darstellens von Authentizität (acting in the real world) gewaltvolle Machtstrukturen verfestigt und perpetuiert werden, indem sie nicht nur als Teil des künstlerischen Prozesses hingenommen, sondern in gewissen Sinne erwartet werden.5 Dies wurde auch in der Diskussion um Sexismus an Kunsthochschulen und Studiengängen des Kreativen Schreibens deutlich. So hatten 2017 auf dem Blog der Zeitschrift Der Merkur einige Theaterautor*innen und Theaterschaffende im Rahmen der #MeToo-Debatte in Deutschland über ihre sexistischen, rassistischen und klassistischen Erfahrungen geschrieben. Eine der Autor*innen war Darja Stocker, die über ihre Zeit beim Studiengang Szenisches Schreiben an der Universität der Künste berichtete. In einer persönlichen Darstellung, die sie in strukturelle Dimensionen von Sexismus und sexualisierter Gewalt einbettete, legte sie dar, wie männliche Professoren ihre Position missbrauchten. Einerseits war die Atmosphäre gezeichnet von der Überschreitung privater Grenzen, die der Förde-
zu belästigen. Oder sich schlau hinzustellen und zu sagen: Dieses Stück von Shakespeare geht heute aber gar nicht mehr. Wenn eine Frau besser ist, habe ich nichts dagegen. Nur habe ich so viele nicht erlebt.« (Dössel, Christine: »Es ist wie mit einer Liebe die vorbei ist«. Frank Castorf im Interview. Die Süddeutsche Zeitung vom 28. Juni 2018, siehe https://www.sueddeutsche.de/kultur/frank-castorf-im-interview-es-istso-wie-mit-einer-liebe-die-vorbei-ist-1.4033924?reduced=true vom 30.4.2019. Die Regisseurin Felizitas Stileke hat in einem Offenen Brief, der in Die Welt am 04. Juli 2018 veröffentlicht wurde, eine Antwort auf die sexistischen Äußerungen Castorfs geliefert. Mehrere hundert Theaterschaffende und Theaterwissenschaftler*innen haben diesen Brief mit unterzeichnet. Stileke, Felicitas: »Eine Antwort auf sexistische Äußerungen. Ein Offener Brief«, in: Die Welt vom 4. Juni 2018, siehe https://www.welt.de/kultur/theater/article178746588/Offener-Brief-Eine-Antwort-aufsexistische-Aeusserungen-von-Frank-Castorf.html vom 30.4.2019. 5
Vgl. Willis, Emma: »›Acting in the real world‹ – Acting Methodologies, Power and Gender«, in: Theater Research International, Volume 43, Nummer 3 2018, S 258-271, hier S. 259.
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rung der Kreativität dienten, und andererseits von Machtmissbrauch in einem hierarchischen System, das sexuelle Verhältnisse mit Studierenden begünstigt.6 Die Antwort eines Professors folgte prompt auf der Website der Nachtkritik, in der er einen süffisanten, abwertenden und hochmütigen Ton wählte, Darja Stocker persönlich angriff und in seinem Text unterschiedliche Formen von Sexismus und sexualisierter Gewalt (re)produzierte. Statt über die strukturelle Kritik zu reflektieren, rechtfertigte er seine gewaltvolle ›Lehrweise‹ als erforderliches Mittel für die »notwendige« künstlerische Auslese.7 Unterstützt wurde der Professor durch eine ehemalige Studentin, die in ihrer sogenannten Gegendarstellung so weit ging, Darja Stocker der Lüge zu bezichtigen.8 Während eine Gegendarstellung eine andere Position vertreten kann, bestand das Anliegen der Autorin keineswegs in einer kritischen Auseinandersetzung, sondern in der Diskreditierung der persönlichen Wahrnehmung und Darstellung von Darja Stocker. Die Verstrickungen in patriarchale Strukturen sind tief verwurzelt und wie sich immer wieder zeigt, nicht vom Geschlecht, vielmehr von Privilegien und Machtpositionen abhängig. Dies deutet sich nicht nur an, indem verinnerlichte patriarchale Strukturen weiterhin aufrechterhalten, sondern indem produktive Diskussionen, die zu einer Veränderung von Strukturen und damit auch Institutionen führen könnten, durch Komplizenschaft verhindert werden. In der aktuellen Auseinandersetzung mit Anti-Rassismus lassen sich parallele Verflechtungen erkennen, wobei weiterhin (bewusst oder unbewusst) rassistische Strukturen aufrechterhalten werden. So hat die Performancegruppe Technocandy, die aus den Performer*innen Banafshe Hourmazdi, Golschan Ahmad Haschemi und Frederik Müller besteht, in einer Zusammenarbeit mit dem Theater Oberhausen darauf bestanden, dass eine Anti-Rassismus-Klausel in ihrem Ar-
6
Vgl. Stocker, Darja: Und was hat das mit Sexismus zu tun? Merkur vom 11. August 2017.
https://www.merkur-zeitschrift.de/2017/08/11/und-was-hat-das-mit-sexismus-
zu -tun/ vom 30.4.2019. 7
Vgl. Bukowski, Oliver: »Das Dimmen der Lautstärke«. Nachtkritik vom 17.08.2017, siehe https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id= 14317:oliver-bukowski-antwortet-auf-sexismusvorwuerfe-am-berliner-studiengangszenisches-schreiben&catid=101&Itemid=84 vom 30.04.2019.
8
Vgl. Rabe, Anne: »So war‘s nicht«. Nachtkritik vom 14.08.2017, siehe https://www. nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=14309:gegendarstell ung-zu-darja-stockers-text-und-was-hat-das-mit-sexismus-zu-tun&catid=101&Itemid =84 vom 30.04.2019.
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beitsvertrag aufgenommen wird. Die Anti-Rassismus-Klausel ist von der Regisseurin Julia Wissert gemeinsame mit der Rechtsanwältin Sonja Laaser entwickelt worden. Diese lautet: »Die Vereinbarung sieht vor, dass Auftraggeber*innen, etwa ein Theater, im Falle eines Verstoßes auf eigene Kosten eine Schulung oder vergleichbare Maßnahme mit ihren Mitarbeiter*innen durchführen lassen muss, die zur Aufklärung über rassistische Strukturen und rassistische Wortwahl beiträgt. Eine Besonderheit ist, dass die Deutungshoheit darüber, welche Beleidigungen als rassistisch diskriminierend empfunden und eingestuft werden, bei den Betroffenen selbst liegt.«9
Die nun losgetretene Kontroverse verdeutlicht, wie wenig und nachhaltig über strukturellen Rassismus reflektiert wird. Unter der Berichterstattung über die Anti-Rassismus-Klausel auf der Website von Nachtkritik lassen sich beispielsweise in der Kommentarspalte allerlei Reproduktionen von rassistischen Vorstellungen nachlesen.10 Dabei geht es nicht darum, wie bessere soziale und politische Zustände für Menschen mit Rassismuserfahrungen entstehen könnten. Es geht nicht um einen produktiven Diskurs und die Infragestellung von ungerechten Verhältnissen. Es geht um die Angst des Verlustes der Deutungshoheit sowie der eigenen Privilegien. Sara Ahmed analysiert in ihrem Buch On being included, wie die Exklusion von nicht-weißen (und nicht-männlichen) Körpern in institutionellen Räumen entsteht, weil sie nicht der Norm entsprechen. Sie beschreibt darin ihre eigenen institutionellen (akademischen) Erfahrungen darüber, wie markierte Subjekte (People of Color) für die Veränderung von weißen Räumen selbst verantwortlich sind (oder verantwortlich gemacht werden). Dabei wird diesen Subjekten und insgesamt der Repräsentation von Diversität weniger Wert zugestanden, weil sie in der vorgegebenen (heteronormativen und weißen) Ordnung stören.11 Auf deutschen Bühnen und in der dortigen Auseinandersetzung kann man ein ähnliches Umgehen mit Diversität und Intersektionalität vorfinden. Augenscheinlich ist es wichtig, geschlechtergerechte, antirassistische, klassenbewusste und behindertenge-
9
Laaser, Sonja/Wissert, Julia: Anti-Rassismus-Klausel, siehe http://kanzlei-laaser.com /anti-rassismus-klausel-fuer-die-vertragsgestaltung/ vom 30.04.2019.
10 Vgl. Heppekausen, Sara: »Depri in Deutschland«. Nachtkritik vom 08.02.2019, siehe https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=16404: schaffen-theater-oberhausen-technocandy&catid=38&Itemid=40 vom 30.04.2019. 11 Vgl. S. Ahmed: On Being Included, S. 3.
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rechte Rahmenbedingungen zu schaffen. Aber am Ende sitzen in den Entscheidungspositionen, sei es in künstlerischen, sei es in akademischen oder kulturpolitischen Kontexten, häufig vornehmlich weiße Männer aus demselben sozialen Milieu, die über Kunst, akademisches (und ästhetisches) Curriculum und Förderung entscheiden. Wenn Diversität und die Berücksichtigung von unterschiedlichen Marginalisierungs- und Diskriminierungsebenen gefordert werden, dann wird das nie – oder in Deutschland immer noch nicht – als ein Paradigmenwechsel verstanden, in dem der Theaterbegriff und das Verständnis über Theater einer postkolonialen und postmigrantischen Gesellschaftsordnung neu justiert werden, was Bilder, Sprache und eine theatrale Umsetzung aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und ästhetischen Perspektiven benötigt. Diversität und deren Repräsentation auf und hinter der Bühne werden bloß als ›soziale‹ Aufgabe angesehen, was dazu führt, dass ein*e Theatermacher*in of Color in den mehrheitlich weißen Institutionen eingeladen und lediglich zur*zum Diversitätsbeauftragten erklärt wird. Es gibt weiterhin nur eine Woman of Color in der künstlerischen Leitung eines deutschsprachigen Hauses und weiterhin wird das Themenspektrum Migration und Postkolonialismus einem einzigen Stadttheater (und einem freien Haus) als ›Anliegen‹ zugeordnet. Weiterhin wird in der deutschen Theaterszene lediglich an der Oberfläche gekratzt und es werden nur Pflaster auf Wunden geklebt, statt wirklich eine Operation am Herzen vorzunehmen und Macht breiter zu verteilen. So lange die feudal-patriarchalen Verhältnisse gepaart mit einem unsichtbaren, aber fortwährenden kolonialen Diskurs fortbestehen, so lange kann auch nicht behauptet werden, dass Theater der Raum für kritische und zeitgenössische Diskurse sei. Und so lange muss mit widerständigen Strategien gegen diese Behauptung vorgegangen werden, so lange müssen inklusive, marginalisierungs- und diskriminierungskritische Räume (safe spaces) geschaffen werden, in denen durch solidarische Bündnisse Gegenentwürfe und Gegennarrative zu den hegemonialen Verhältnissen entstehen können. Um es mit Sara Ahmeds Worten abzuschließen: »Don‘t look over it, if you can‘t get over it.«12
REFERENZEN Ahmed, Sara: On Being Included. Racism and Diversity in Institutional Life, Durham 2012. Bukowski, Oliver: »Das Dimmen der Lautstärke«, in: Nachtkritik. https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&i
12 Ebd., S. 187.
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d=14317:oliver-bukowski-antwortet-auf-sexismusvorwuerfe-am-berlinerstudiengang-szenisches-schreiben&catid=101&Itemid=84 vom 17.8.2017 (letzter Zugriff 30.4.2019). Heppekausen, Sara: »Depri in Deutschland«, in: Nachtkritik. https://www. nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=16404:scha ffen-theater-oberhausen-technocandy&catid=38&Itemid=40 vom 8.2.2019 (letzter Zugriff 30.4.2019). Laaser, Sonja; Wissert, Julia: »Anti-Rassismus-Klausel«, siehe http://kanzleilaaser.com/anti-rassismus-klausel-fuer-die-vertragsgestaltung/ vom 11.01. 2019 (letzter Zugriff 30.4.2019). Liepsch, Elisa/Warner, Julian/Pees, Matthias: Allianzen: Kritische Praxis an weißen Institutionen, Bielefeld 2018. Rabe, Anne: »So war‘s nicht«, in: Nachtkritik. https://www.nachtkritik.de /index.php?option=com_content&view=article&id=14309:gegendarstellungzu-darja-stockers-text-und-was-hat-das-mit-sexismus-zu-tun&catid=101& Itemid=84 vom 14.8.2017 (letzter Zugriff 30.04.2019). Willis, Emma: »›Acting in the real world‹. Acting Methodologies, Power and Gender«, in: Theater Research International 43, 3, S. 258-271.
Musicking Gender Beethoven-Konzerte und das Aufführen von Geschlecht Rainer Simon
»To music is to take part, in any capacity, in a musical performance, whether by performing, by listening, by rehearsing or practicing, by providing material for performance (what is called composing), or by dancing.«1 Als einer der ersten Musikwissenschaftler*innen entwickelt Christopher Small in seinem 1998 erschienen Buch Musicking. The Meaning of Performance and Listening eine performative Vorstellung von Musik, welche jegliche Tätigkeit im Zusammenhang mit Musik einschließt und somit die praktischen Dimensionen derselben betont. »The fundamental nature and meaning of music lie not in objects, not in musical works at all, but in action, in what people do.«2 Indem »Musicking« sich nicht nur auf die Klangerzeugung beschränkt, sondern auch die damit einhergehenden sozialen Interaktionen der Beteiligten umfasst, bietet es Small den Schlüssel zu einer kritischen Analyse der bürgerlichen Konzertkultur. »The whole event that is a symphony concert as it takes place today might have been designed and indeed was designed, even if not necessarily consciously, as an instrument for the reassurance of the industrial middle and upper classes, for the presentation to themselves of their values and their sense of ideal relationships, and for persuading those who take part that their values, their concepts of relationship, are true and will last.«3
In und durch klassische Musik werden also laut Small neben Klängen auch »race« und »class« aufgeführt – die Konzerthäuser stellen Orte der weißen Mittelschicht 1
Small, Christopher: Musicking. The Meanings of Performing and Listening, Hanover 1998, S. 9.
2
Ebd., S. 8.
3
Ebd. S. 193.
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dar. Doch was ist mit Gender? Nicht nur an Smalls Abhandlung, sondern an vielen weiteren Studien, die sich mit aufgeführter Musik auseinandersetzen – meine eigene, Ansätze einer Aufführungsanalyse von Musik entwerfende Dissertation eingeschlossen4 –, fällt auf, dass zwar durch einen rein philologischen Blick auf Musik vernachlässigte performative Dimensionen, ja mitunter sogar soziale Ebenen wie »race« und »class«, in den Forschungsfokus rücken, die Kategorie Gender allerdings weitestgehend ausgeschlossen bleibt.5 Jenny Schrödl beobachtet in der Theaterwissenschaft Ähnliches und doch ungleich Paradoxeres, wenn sie feststellt, dass die Entwicklung einer Ästhetik des Performativen in den 1990er und 2000er Jahren sich zwar stark auf Judith Butlers Gender-Theorie bezog, Gender selbst aber zu keinem zentralen Konzept jener Ästhetik avancierte. 6 Als Gründe hierfür nennt Schrödl zweierlei Abweichungen: Während Judith Butler sich auf das durch Semiotisierungsprozesse hervorgebrachte Konstrukt Gender konzentriert, widmet sich z.B. Erika Fischer-Lichte eher phänomenalen Erscheinungen, wobei die phänomenologische Betonung der Materialität Gefahr läuft, als essentialistisch verstanden zu werden.7 Und während Fischer-Lichte stets die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit von Aufführungen hervorhebt, bildet die Wiederholung von Gender-Praktiken bei Butler eine entscheidende Voraussetzung für die (De-)Konstruktion von Gender.8 Hinter den phänomenologischen oder konstruktivistischen Erkenntnissen der beiden Theorien zurückzufallen, stellt für Schrödl keine Option dar, um die Kategorie Gender vom Rand in das Zentrum der theaterwissenschaftlichen Forschung zu rücken. »Die Herausforderung der nächsten Jahre wird vielmehr darin bestehen, genau diese Dimensionen von Diskursivität und Materialität, von Bedeutung und Erfahrung, von Dekonstruktion/Poststrukturalismus und Phänomenologie konstruktiv miteinander zu verbinden.«9 Auf den folgenden Seiten werde ich versuchen, diesem Forschungsdesiderat anhand von klassischen Konzerten nachzugehen – einerseits um zur Schließung der eingangs erwähnten musikwissenschaftlichen Gender-Lücke beizutragen und
4
Vgl. Simon, Rainer: Konzert der Sinne. Dimensionen einer phänomenologischen Ana lyse der Wahrnehmung von Musikaufführungen, Freiburg im Breisgau 2018.
5
Vgl. Cook, Nicholas: Beyond the Score. Music as Performance, Oxford: 2013; Abbate, Carolyn: »Music – Drastic or Gnostic«, in: Critical Inquiry 30, 2 (2004), S. 505-536.
6
Vgl. Schrödl, Jenny: »Gender Performances. Theaterwissenschaftliche Perspektiven und Problematiken«, in: etum 1, 1 (2014), S. 33-52, hier S. 33ff.
7
Vgl. ebd., S. 48.
8
Vgl. ebd., S. 48f.
9
Ebd., S. 49.
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andererseits um auszuloten, ob ein Gegenstandswechsel (von postdramatischen Theater- zu klassischen Musikaufführungen) womöglich bislang unbeachtete Ansatzpunkte zu jener konstruktiven Verbindung bieten könnte. Denn FischerLichtes vornehmlicher Gegenstand, die postdramatischen Theaterentwicklungen der letzten Jahrzehnte, hat einer Betonung der Einmaligkeit, der Phänomenalität von Erscheinungen sowie der Erfahrung derselben und damit der von Schrödl beschriebenen Opposition zu Butlers Gender-Konzept gewissermaßen Vorschub geleistet. Fischer-Lichtes Gegenstandswahl war durchaus naheliegend und produktiv für die von ihr angestrebte Ausarbeitung grundsätzlicher, durch eine eher philologisch orientierte Theaterwissenschaft vernachlässigter Aufführungsdimensionen.10 Gerade die Beschäftigung mit klassischeren Formen, die auf Wiederholung angelegt sind und deren weit zurückreichende Traditionen Humus für eine nachhaltige Identitätskonstruktion bilden, könnte allerdings einen Link zu Butlers Gender-Theorie schaffen, ohne dabei Fischer-Lichtes Erkenntnisse über die Performativität von Aufführungen aufgeben zu müssen. Dieser Vermutung folgend, werde ich mich in zwei historischen Stichproben mit der Aufführung von Beethoven-Kompositionen und der damit einhergehenden Gender-Performance auseinandersetzen.
STICHPROBE 1: BEGINN DES 19. JAHRHUNDERTS, WIEN Einen Blick auf die Konzertpraxis zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu werfen, scheint für das hiesige Unterfangen interessant und aufschlussreich zu sein, weil sich in dieser Zeit das von Thomas Laqueur diagnostizierte Zweigeschlechtermodell11 sowie die Vorstellung einer absoluten, von jeglichen extrinsischen Bedeutungen losgelösten Musik herausbilden und in den folgenden Jahrzehnten stetig verfestigen. Der Essentialismus, der u.a. laut Butler einer dichotomischen Geschlechtervorstellung zugrunde liegt, lässt sich in den Konzeptionen von absoluter Musik wiederfinden – allen voran bei Eduard Hanslick, dem wohl einflussreichsten Musikkritiker des 19. Jahrhunderts und zugleich theoretischen Schrittmacher dieser Strömung. So weist Hanslick der Musik einen besonderen ontologischen Status zu, indem er feststellt, dass sie nichts anderes als ihre eigene Form bzw.
10 So werden Dimensionen wie Räumlichkeit, Körperlichkeit oder Lautlichkeit von den postdramatischen Formen in besonderem Maße betont, ja mitunter explizit thematisiert. 11 Vgl. Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt am Main/New York 1992, S. 13-38.
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»tönend bewegte Formen«12 zum Inhalt habe. Kompositionen, deren Anlage dieser Auffassung widersprachen – etwa die ein außermusikalisches Programm darstellenden Tondichtungen von Liszt oder Berlioz oder die musikdramatischen Opern von Verdi –, wertet Hanslick gegenüber den Werken seiner musikalischen Vorbilder ab: »Wie aus dem gleichen Marmor der eine Bildhauer bezaubernde Formen, der andere eckiges Ungeschick heraushaut, so gestaltet sich die Tonleiter unter verschiedenen Händen zur Beethovenschen Ouvertüre, oder zur Verdischen. Was unterscheidet die beiden? Etwa, daß die eine höhere Gefühle, oder dieselben Gefühle richtiger darstellt? Nein, sondern daß sie schönere Tonformen bildet. Nur dies macht eine Musik gut oder schlecht, daß ein Komponist ein geistsprühendes Thema einsetzt, der andere ein gemeines […].«13
Marion Gerards hinterfragt diese essentialistische Vorstellung, analysiert eine Reihe von Hanslicks Kritiken und bemerkt dabei, dass Hanslick in der konkreten Auseinandersetzung mit Musik sein eigenes Theorem unterläuft und selbst bei der Beschreibung von absoluten Kompositionen eines Brahms oder Beethovens auf außermusikalische Bedeutungskontexte und insbesondere auch auf Gender-Zuschreibungen zurückgreift. 14 Attribute wie kräftig, natürlich, logisch, deutsch und vor allem männlich15 weist Hanslick eher den absoluten Kompositionen von Brahms und Beethoven zu. Als weichlich, sentimental, geziert und weiblich werden Kompositionen z.B. von Richard Wagners diskreditiert. 16 Mit derartigen Zuschreibungen arbeitet Hanslick nicht nur mit an einer Festigung des Zweigeschlechtermodells, sondern in Kombination mit seiner Musikästhetik auch an der Etablierung des Männlichen als absoluter, keiner Begründung oder Interpretation bedürftiger Norm. Musik, die ihren Namen verdient und nichts bedeutet als sie selbst, scheint nach Hanslick zwangsläufig männlich zu sein. Auf die Frage, wie sich derartige musikalische Gender-Vorstellungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts herausbilden und etablieren konnten, finden sich in der
12 Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch Schönen, Wiesbaden 1989, S. 59. 13 Ebd., S. 73. 14 Vgl. Gerards, Marion: Frauenliebe – Männerleben. Die Musik von Johannes Brahms und der Geschlechterdiskurs im 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 282ff. 15 Die verwendeten Zuschreibungen scheinen eine intersektionale Perspektive regelrecht einzufordern, indem sich in ihnen Kategorien wie Gender und Nationalität verschränken. 16 Vgl. M. Gerards: Frauenliebe – Männerleben, S. 288f, S. 295.
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Forschung vornehmlich zwei Antworten, die jedoch beide nicht vollständig überzeugen können: Der häufigste musikwissenschaftliche Erklärungsversuch, jene Zuschreibungen in den jeweiligen Kompositionsstrukturen nachzuweisen17 – z.B. dass die in Beethovens Kompositionen angelegte Tatkraft und Stärke sich in dementsprechenden gesellschaftlich bedingten Männlichkeitsvorstellungen widerspiegeln –, lässt eine essentialistische Auffassung erkennen, die hier gerade zur Disposition steht. Die These, dass das aufkommende Zweigeschlechtermodell in der Musik wie in anderen kulturellen Praktiken repräsentiert wird und so zu einem Verständnis von männlicher und weiblicher Musik führt, erscheint durchaus nachvollziehbar, vernachlässigt aber wiederum den performativen Einfluss der damaligen Musikpraxis bei der Hervorbringung jenes Modells. Eben diesen nimmt die Musiksoziologin Tia de Nora in den Blick und offeriert somit einen Alternativansatz, der im Folgenden exemplarisch betrachtet werden soll. Anhand der Aufführungspraxis von Beethovens Klavierwerken zu dessen Lebzeiten, also ein paar Jahrzehnte vor Hanslicks Wirken als Kritiker und Autor, legt de Nora dar, dass die Antwort auf die Frage nach der Entstehung von GenderZuschreibungen weniger in den Kompositionen oder der Repräsentation von Diskursen durch kulturelle Praktiken als vielmehr in diesen selbst liegt. Tia de Noras Analyse von Konzertstatistiken in Wien kurz vor der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zeigt, dass damalige Klavieraufführungen nicht genderspezifisch waren. Frauen und Männer spielten gleichermaßen Klavier, traten in derselben Weise öffentlich auf und präsentierten dabei die gleichen Werke. De Nora führt diese »gender-equality« auf die wenigen physischen Anforderungen des Klavierspielens zurück, die es vor allem Frauen erlaubten, dem nach wie vor wirksamen aristokratischen, aber inzwischen dezidiert weiblichen Ideal vom bewegungslosen Körper zu entsprechen.18 Wer es sich leisten konnte, musste sich nicht körperlich betätigen – egal, ob für den Lebensunterhalt oder für die Kunstproduktion. Und das Klavier ermöglichte es seinen Spieler*innen, in vergleichsweiser ruhiger Position und auf ›anständige‹ Art – ohne Instrument zwischen den Beinen oder im Mund – zu musizieren.19 Mit dem Erfolg von Beethovens Kompositionen auf den Wiener Konzertbühnen wendet sich diese Statistik schlagartig: Weniger Pianistinnen treten auf und
17 Vgl. McClary, Susan: Feminine Endings: Music, Gender, and Sexuality, Minneapolis 1991. 18 Vgl. de Nora, Tia: »Music into action: performing gender on the Viennese concert stage, 1790-1810«, in: Poetics 30 (2002), S. 19-33, hier S. 28. 19 Vgl. Hoffmann, Freia: Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt am Main 1991, S. 42ff.
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sie meiden insbesondere Beethovens Klavierkompositionen.20 De Nora führt dies vor allem auf Beethovens eigene Spielweise, seinen körperlichen Einsatz, seinen harten Anschlag und seine kontrastreichen Phrasierungen zurück, die sich in seine Klavierkompositionen einschrieben – etwa in große Sprünge oder plötzliche dynamische oder rhythmische Änderungen.21 Die physische Beweglichkeit, die Beethovens eigenes Spiel auszeichnete und die auch die Interpretation seiner Klavierkompositionen einforderte, konnten Pianistinnen dieser Zeit nun allerdings nicht leisten, wollten sie den an sie gestellten gesellschaftlichen Anforderungen entsprechen: »To be a woman and to play Beethoven was to risk one’s decorum as a feminine being.«22 Somit brachten vornehmlich Männer Beethovens Werke zur Aufführung, demonstrierten performativ, was sich musikalisch für Männer und für Frauen ziemte, was es hieß, Bürger und nicht Adeliger zu sein. Sie trugen durch die permanente Wiederholung dieser Praxis maßgeblich zur Entstehung eines gegenderten bzw. männlichen und bürgerlichen Images nicht nur von Beethovens Klavier-Oeuvre, sondern seiner gesamten Komponisten-Persona bei. Indem de Nora die Herausbildung von Gender-Konnotationen auf die musikalische Praxis zurückführt, gelingt es ihr, auf essentialistische Erklärungsversuche zu verzichten, ohne dabei den Stellenwert der Komposition zu vernachlässigen. Denn auch diese ist Teil der Praxis, in die sich die Aufführungen einschreiben und tradieren. So erweisen sich die in den Noten festgelegten musikalischen Formen und Strukturen (die großen Sprünge, die weiten Akkordgriffe und die abrupten Änderungen in Tempus und Dynamik) eben nicht einfach nur als tönend bewegte Formen, die ein musikalisches Genie aus seiner Fantasie heraus erschuf – obgleich sie als solche und damit einhergehend als männliche Norm in der Folge u.a. von Hanslick deklariert werden –, sondern als Ergebnisse einer genderbedingten Musikpraxis. Zudem erschöpfen sich diese Praktiken nicht in der Repräsentation eines aufkommenden Diskurses über Zweigeschlechtlichkeit, vielmehr bringen sie diesen erst mit hervor: »[T]he corporeal-gestural acts of performing music, as these came to be codified as ›style‹ and social drama in music, came to afford the constitution of new notions of gender difference, and in this sense, music was active in effecting cultural change.«23 Anhand dieses Fallbeispiels lassen sich konstruktive Verbindungsmöglichkeiten zwischen der Theorie des Performativen und der Gender-Theorie aufzeigen. Eine performative Perspektive, die den Fokus von Kultur als Text hin zur Kultur
20 Vgl. ebd., S. 29. 21 Vgl. ebd., S. 29f. 22 Ebd., S. 30. 23 Ebd.
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als Aufführung verschiebt, ermöglicht es, die nach wie vor weit verbreiteten essentialistischen Vorstellungen von Musik zu hinterfragen. Komposition und Aufführung sind miteinander eng verbundene Praktiken, hinter denen sich keine Essenz als Vorgängiges verbirgt: Aufführungen schreiben sich in Kompositionen ein und Kompositionen bilden wiederum nur eines von vielen Materialien zum Vollzug ganz unterschiedlicher Ereignisse.24 Erst durch eine solche Fokusverschiebung, die die Ereignishaftigkeit und Gemachtheit von Musik betont, werden konstruktivistische Gender-Theorien anschlussfähig. In Musikaufführungen wird dementsprechend sowohl Musik als auch Gender aufgeführt, in Kompositionen werden sowohl musikalische als auch Gender-Vorstellungen fixiert und tradiert. Diesen Gender-Konstruktionen, die sich in konkreten Praktiken und Akten, wie in Sprüngen oder einem harten Anschlag, konstituieren, tatsächlich konkret nachzugehen, dafür liefert die Performativitätsforschung am Material orientierte Analysemethoden.25 Umgekehrt holt die Gender-Forschung ins Bewusstsein, dass die Performativität von Musik sich nicht in ihrer Einmaligkeit und Materialhaftigkeit erschöpft, sondern auch Repetitionen – z.B. in Form gleicher Materialvorlagen oder der Wiederholung bestimmter Ritualabfolgen – umfasst. Die Repetition solcher Praktiken schafft erst die Voraussetzung dafür, dass sich überhaupt GenderVorstellungen – wie der männlich konnotierte Werkkanon von Beethoven – langfristig etablieren können.
STICHPROBE 2: BEGINN DES 21. JAHRHUNDERTS, BERLIN Von Wien nach Berlin, vom Anfang des 19. zum Beginn des 21. Jahrhunderts: Hélèn Grimaud spielt am 28. Februar 2015 mit den Berliner Philharmonikern unter dem Dirigat von Valery Gergiev Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G-Dur. Wie von Solist*innen, die in der Berlin Philharmonie auftreten, zu erwarten ist, meistert Grimaud die technischen Schwierigkeiten von Beethovens Partitur spielerisch. Insbesondere in der Kadenz des ersten Satzes demonstriert sie ihre Virtuosität und ihre körperliche Agilität. Grimauds Hände überwinden die von Beethovens Akkordfolgen geforderten großen Abstände auf der Tastatur in höchster Geschwindigkeit. Ihre Finger sind kaum noch als einzelne wahrzunehmen, so schnell jagen sie von einem Triller zum nächsten, von einem chromatischen Lauf zum anderen. In den ruhigeren Passagen lässt Grimauds körperlicher Einsatz
24 Vgl. N. Cook: Beyond the Score, S. 239ff. 25 Vgl. R. Simon: Konzert der Sinne.
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ebenso wenig nach: So vollzieht sie mit ihrem Oberkörper entsprechend der Phrasen langsame Kreisbewegungen, lehnt ihren Kopf leicht zurück, schließt ihre Augen, zieht ihre Augenbrauen zusammen, legt ihre Stirn in Falten und lässt ihre Unterlippe leicht beben, als würde sie die langsamen Kantilenen mitsummen bzw. -hauchen. Beethovens Partitur verlangt der Solistin nichts ab, was sie nicht problemlos und mit großem Engagement geben würde – ohne, wie noch zwei Jahrhunderte zuvor, sich als Frau zu kompromittieren. Anstatt Hélène Grimaud zu disziplinieren oder gar zu sanktionieren, klatscht das Publikum sowohl ihrem musikalischen als auch ihrem damit verbundenen physischen Einsatz regen Beifall. Als eigenständige Aufführungsdimension fällt ihre Physis dem Publikum womöglich angesichts zahlreicher Aufführungen, in denen Klavierwerke von Beethovens Komponistennachfahren wie z.B. von Chopin, Ravel oder Bartók gespielt werden, Werke, die weit größere technische und körperliche Anforderungen an ihre Interpret*innen stellen und heute durchaus auch von Frauen auf Konzertpodien gegeben werden, überhaupt nicht besonders auf. Wer z.B. erleben durfte, wie Marta Argerich über die Tastatur hinwegfegt, um eines von Prokofjews Klavierkonzerten zu spielen, dem erscheint Grimauds Bewegungsradius bei ihrer BeethovenInterpretation sogar vergleichsweise klein – was allerdings weniger auf ihr Geschlecht als auf die kompositorischen Anforderungen zurückzuführen ist. Denn vergleicht man wiederum ihre Bewegungen mit denjenigen von Rudolf Buchbinder und Yefim Bronfman, zwei Pianistenkollegen, die die beiden darauffolgenden Beethoven-Klavierkonzerte an der Philharmonie bestritten (Rudolf Buchbinder am 17. Dezember 2016, Yefim Bronfman am 12. Mai 2018), wird erkennbar, dass sie sich in einem ähnlichen Maße eines vergleichbaren Gestenund Mimikrepertoires bedienen wie Grimaud – bei langsamen Passagen z.B. geschlossener Augen, einer gerunzelter Stirn und leichten Lippenbewegungen. Nach 200 Jahren Kompositions-, Aufführungs- und Geschlechtergeschichte stellen die physischen Anforderungen einer Beethoven-Partitur und die noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts damit verbundenen Regulierungen, die damals Pianistinnen von Konzertpodien fernhielten, heute für Frauen kein Ausschlusskriterium mehr dar. Und doch fällt beim Blick über das einzelne Konzert hinaus, beim Blick auf die Programme der großen Berliner Orchester auf, dass sich an der schieren Anzahl an Auftritten von Klavierspielerinnen mit einem Beethoven-Konzert, zumindest auf den großen Konzertbühnen, kaum etwas geändert hat. So führten in den letzten fünf Jahren neben Hélène Grimaud drei Männer gemeinsam mit den
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Berliner Philharmonikern Beethoven-Klavierkonzerte in der Philharmonie auf. 26 Zieht man noch die Spielpläne der anderen großen Berliner Sinfonieorchester (Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Konzerthausorchester Berlin, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und Staatskapelle Berlin) in den letzten fünf Jahren (von Beginn 2014 bis März 2019) hinzu, so zeigt sich, dass in den 32 Konzerten mit einem Beethoven-Klavierkonzert auf dem Programm 28 Solisten und lediglich vier Solistinnen auftraten. 27 De Noras Quote von 21 Prozent Klavierspielerinnen, die mit einem Beethovenprogramm zwischen 1787 und 1810 in Wien aufgetreten sind, steht eine Quote von 13 Prozent Pianistinnen gegenüber, die zwischen 2014 und 2019 gemeinsam mit einem der großen Berliner Sinfonieorchester eines von Beethovens Klavierkonzerten aufgeführt haben. Noch signifikanter als das Stagnieren bzw. gar Sinken der Beethoven-Zahlen erscheint die Veränderung der Aufführungszahlen von Mozarts Klavierkompositionen. Während laut de Nora in Wien zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch 74 Prozent Frauen Mozarts Klavierwerke öffentlich präsentierten – eine Vergleichszahl, anhand derer de Nora den immensen Rückgang von Pianistinnen bei der Aufführung von Beethovenwerken veranschaulicht –, liegt der Anteil der Pianistinnen, die ein Mozart-Klavierkonzert zwischen 2014 und 2019 mit einem der großen Berliner Sinfonieorchestern aufgeführt haben, nur noch bei 30 Prozent. Dieser statistische Exkurs könnte selbstverständlich noch weitergetrieben werden sowie zusätzliche und tiefergehende Stichproben umfassen, als es in diesem Rahmen möglich ist. Aber bereits die Ergebnisse dieser kleinen Erhebung lassen erste wichtige Rückschlüsse und Thesen zu: Obgleich die körperlichen Anforderungen von Beethovens Klavierkonzerten und die damals damit verbundenen sozialen Regulierungen heute Pianistinnen nicht mehr von ihrer Aufführung abhalten, interpretieren nach wie vor wesentlich weniger Frauen als Männer diese Werke auf den Berliner Konzertbühnen. Ist diese Geschlechterverteilung zu Beethovens Lebzeiten noch auf eine konkrete körperliche Praxis und daran beteiligte Disziplinierungsmechanismen zurückzuführen, so scheint sie sich gegenwärtig eben von jener physischen Reglementierung losgelöst und stattdessen in die institutionelle, programmatische und diskursive Praxis des Konzertwesens derart eingeschrieben zu haben, dass sie jener körperlich-moralischen Legitimierung
26 Rudolf Buchbinder spielte am 25. Januar 2014 das Klavierkonzert Nr. 5 in cis -Moll, derselbe am 17. Dezember 2016 das Klavierkonzert Nr. 1 in C-Dur und Yefim Bronfman am 12. Mai 2018 das Klavierkonzert Nr. 3 in c-Moll. 27 Siehe die Programmbroschüren der Orchester: www.issuu.com (zuletzt aufgerufen am: 10.05.2019). Wiederholungen desselben Konzertprogramms mit derselben Besetzung werden in den Zahlen nicht berücksichtigt.
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überhaupt nicht mehr bedarf. Pianistinnen werden heute weniger aufgrund sittlicher Bedenken als vielmehr aufgrund einer sich – womöglich seit dem Auftauchen von Beethovens Klavierrepertoire auf den Wiener Konzertbühnen – etablierenden und tradierenden geschlechterspezifischen Besetzungspraxis seltener für Beethovenkonzerte engagiert. Die Emanzipation von physisch-sittlichen Maßregelungen und die damit scheinbar gegebene körperliche Gleichstellung verschleiern hierbei die Wirkmechanismen auf institutioneller, programmatischer und diskursiver Ebene. Vordergründig scheint es keinen konkreten Hinderungsgrund zu geben, warum Frauen nicht genauso wie Männer Beethovens Klavierkonzerte spielen könnten. Doch trotz sich angleichender körperlicher und moralischer Anforderungen bleiben die Zugänge zu den Konzertpodien ungleich verteilt. In den Rezensionen über Grimauds Beethoven-Interpretation finden sich einzelne Motive, welche anstelle der physisch-sittlichen Anforderungen zur Legitimierung einer solchen Besetzungspraxis beitragen. Wenn auch ihre für eine mit einem Orchester wie den Berliner Philharmonikern und an der Seite eines Dirigenten wie Valery Gergiev auftretende Solistin erforderliche Durchsetzungs- und Gestaltungskraft nicht grundsätzlich bezweifelt werden, finden sie doch in den Artikeln zweier großer Berliner Tageszeitungen – anders als z.B. in Rezensionen über den Auftritt Yefim Bronfmans, der u.a. »als kongenialer Partner«28 beschrieben wird – Erwähnung: So schreibt der Tagesspiegel, dass sie für einen Auftritt mit Gergiev und den Philharmonikern »lange genug unter Wölfen gelebt« hätte – aber scheinbar nicht lange genug, um nicht Gergievs Strategie, »Solisten kompromisslos in den Vordergrund zu rücken«29, zu erliegen. In der Berliner Zeitung wird Gergievs Dirigat weniger zurückhaltend beschrieben, »trumpft« er doch gegenüber ihrem »zarten« Spiel auf und macht es ihr dadurch »nicht immer ganz leicht«, sodass es ihr »nur mit Macht und Finesse gelang […], gegenzuhalten«30. Wie unterschiedlich die Urteile über das jeweilige Auftreten der Protagonist*innen auch
28 Peitz, Christiane: »Auf offener Bühne«, in: Der Tagesspiegel vom 11.05.2018: https://www.tagesspiegel.de/kultur/tugan-sokhiev-und-die-berliner-philharmoniker-a uf-offener-buehne/21289404.html (zuletzt aufgerufen am: 10.05.2019). 29 Ahmling, Ulrich: »Keine Revierstreitigkeiten zwischen Gergiev und Grimaud – leider«, in: Der Tagesspiegel vom 28.02.2015: https://www.tagesspiegel.de/kultur/berlinerphilharmonie-keine-revierstreitigkeiten-zwischen-gergiev-und-grimaud-leider/114370 28.html (zuletzt aufgerufen am: 10.05.2019). 30 Lukaschewitsch, Matthias: »Als die Noten das Fliegen lernten«, in: B.Z. vom 26.02.2015: https://www.bz-berlin.de/kultur/als-die-noten-das-fliegen-lernten (zuletzt aufgerufen am: 10.05.2019).
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ausfallen mögen, so zeigen sich in ihnen gewisse Gender-Konnotationen (einerseits ein strategisches und kraftvolles, andererseits ein zartes und finessenreiches Herangehen), die denjenigen in Hanslicks Rezensionen ähneln und nicht ohne Einfluss auf die Besetzungsentscheidungen solch exponierter Positionen sind. Wie die Mozart-Zahlen schließlich demonstrieren, ist das Herausbilden einer solchen Besetzungspolitik nicht nur auf Beethovens Klavierkonzerte beschränkt. Die Beethovenaufführungspraxis zu Beginn des 19. Jahrhundert scheint ein Auslöser für die Entstehung und Etablierung einer geschlechterspezifischen Besetzungspraxis zu sein, die sich auf ein Repertoire ausdehnt, das, wie Mozarts Klavierkonzerte, ehemals vornehmlich von Frauen aufgeführt wurde und letztlich ebenfalls zu einer Männerdomäne wird. Durch diese zweite, in die Gegenwart hineinreichende Stichprobe werden die konstruktiven Verbindungsmöglichkeiten zwischen Performativitäts- und Gender-Forschung abermals bestätigt. Um feststellen zu können, dass die physischen Anforderungen eines Beethoven-Klavierkonzertes Pianistinnen gegenwärtig nicht mehr davon abhalten, diese auf Konzertpodien zu spielen, bedarf es der konkreten Untersuchung derer Körperlichkeit. Hierfür liefert die phänomenologisch-theaterwissenschaftliche Aufführungsanalyse eine am konkreten Material orientierte Methode. Um zugleich erklären zu können, warum trotz physischer Emanzipation weit mehr Männer als Frauen als Solist*innen für Beethoven-Konzerte engagiert werden, müssen institutionelle, programmatische und diskursive Praktiken in den Blick genommen werden. Hierfür liefert die Gender-Forschung einen Ansatz, der die Bedeutung einerseits der Wiederholung für die Etablierung solcher Praktiken und der andererseits die Semiotisierungsprozesse, die für die Tradierung von Gender-Konnotationen erforderlich sind, berücksichtigt. Erst die produktive Kombination beider Ansätze ermöglicht das Zusammendenken von musicking und gender.
GEGENSTÄNDE In der Musikwissenschaft bilden nach wie vor Werke des klassischen Kanons den hauptsächlichen Untersuchungsgegenstand – sei es in den traditionellen, philologischen Partituranalysen, sei es in den letzten beiden Jahrzehnten aufkommenden performativen Ansätzen eines Nicholas Cook, einer Carolyn Abate oder eines Christopher Smalls, die sich fast ausschließlich der Aufführung von klassischen Werken im klassischen Konzert- oder Opernsetting widmen. Wie bereits eingangs erwähnt, rücken demgegenüber in der Theaterwissenschaft mit dem Aufkommen des Performativitätsdiskurses vor allem zeitgenössische, postdramatische Formate, die sich mitunter auch mit klassischen Dramenvorlagen auseinandersetzen,
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sie aber nicht im klassischen Sinne in Szene setzen, in den Fokus der wissenschaftlichen Analyse. Gerade in jüngeren theaterwissenschaftlichen Gender-Studien werden insbesondere postdramatische Aufführungen in den Blick genommen, da sie Gender häufiger und eher auf der Höhe des aktuellen Gender-Diskurses als dramatische Produktionen (implizit oder explizit) thematisieren.31 Für eine Beschäftigung mit aktuellen Gender-Konzepten erscheint diese Gegenstandswahl durchaus sinnvoll. Und doch wäre zu fragen, ob die in der Musikwissenschaft verbreitete Fokussierung auf tradierte Werke und deren traditioneller Aufführung, gerade hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Gender nicht überaus produktiv sein könnte. Denn die für die Etablierung von Gender-Vorstellungen notwendige Wiederholung ist zugleich wesentlicher Bestandteil traditioneller Aufführungsrituale bzw. der Aufführung des immer gleichen Werkkanons. Und begreifen wir Gender als etwas gesellschaftlich Konstruiertes, so spricht einiges dafür, sich mit denjenigen Musik- und Theaterpraktiken zu befassen, die große Publikumszahlen aufweisen, breite Publikumsschichten ansprechen und damit in besonderem Maße an der Hervorbringung gängiger Gender-Vorstellungen mitwirken.
REFERENZEN Abbate, Carolyn: »Music – Drastic or Gnostic«, in: Critical Inquiry 30, 2 (2004), S. 505-536. Ahmling, Ulrich: »Keine Revierstreitigkeiten zwischen Gergiev und Grimaud – leider«, in: Der Tagesspiegel vom 28.02.2015. Cook, Nicholas: Beyond the Score. Music as Performance, Oxford 2013. DeNora, Tia: »Music into action: performing gender on the Viennese concert stage, 1790-1810«, in: Poetics 30 (2002), S. 19-33. Gerards, Marion: Frauenliebe – Männerleben. Die Musik von Johannes Brahms und der Geschlechterdiskurs im 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2010. Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch Schönen, Wiesbaden 1989. Hoffmann, Freia: Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt am Main 1991. Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt am Main/New York 1992. Lukaschewitsch, Matthias: »Als die Noten das Fliegen lernten«, in: Berliner Zeitung vom 26.02.2015.
31 Vgl. z.B. Jenny Schrödls Beitrag in diesem Band.
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McClary, Susan: Feminine Endings: Music, Gender, and Sexuality, Minneapolis 1991. Peitz, Christiane: »Auf offener Bühne«, in: Der Tagesspiegel vom 11.05.2018. Schrödl, Jenny: »Gender Performances. Theaterwissenschaftliche Perspektiven und Problematiken«, in: etum 1, 1 (2014), S. 33-52. Simon, Rainer: Konzert der Sinne. Dimensionen einer phänomenologischen Analyse der Wahrnehmung von Musikaufführungen, Freiburg im Breisgau 2018. Small, Christopher: Musicking. The Meanings of Performing and Listening, Hanover 1998.
Überwinden der Außenseiterrolle Regietheater und Opernkritik als Diskurs- und Vermittlungsebenen von Homosexualität Sebastian Stauss
Als Opernsujet hat sich männliche Homosexualität ab Mitte des 20. Jahrhunderts vergleichsweise früh etabliert. 1 Opern und Musicals mit Homosexualität als Handlungselement und/oder explizites Figurenmerkmal im Libretto sind auch exem-
1
Spätestens durch das Œuvre von Benjamin Britten, andeutungsweise seit den früheren Bühnenwerken und explizit in Death in Venice, wird Liebe zwischen Männern auf der Opernbühne nicht mehr in längst vergangene Epochen zurückprojiziert. In jüngster Zeit erscheint der Trend in dieser Hinsicht mit den Opern um Edward II. von Andrea Lorenzo Scartazzini (an der Deutschen Oper Berlin 2017 uraufgeführt) und George Benjamin (Lessons in Love and Violence, Covent Garden 2018) rückläufig. Auf einen klaren zeitgeschichtlichen Bezug zielen dagegen Opern wie Brokeback Mountain von Charles Wuorinen (erstmals 2014 in Madrid) und zuvor Harvey Milk von Stewart Wallace, deren Weltpremiere bereits 1996 an der San Francisco Opera, damit ganze zwölf Jahre vor dem Kinofilm mit Sean Penn als titelgebendem Bürgerrechtler, stattfand. In diesem Zusammenhang ist auch Peter Eötvös’ Angels in America (Paris 2004) nach Tony Kushners gleichnamigem und populärem Schauspiel zu sehen. Mit der Uraufführung von Sidney Corbetts San Paolo 2018 am Stadttheater Osnabrück, in der ein nicht verfilmtes Drehbuch von Pier Paolo Pasolini mit dessen Biografie verflochten wird, ist jüngst außerdem die Form des Künstlerdramas im Kontext von Homosexualität wieder aufgegriffen worden. Verglichen mit dieser Kontinuität scheint die Zäsur zwischen Alban Bergs Lulu und Patience and Sarah von Paula M. Kimper aus dem Jahr 1998 deutlich größer, was das Thema weiblicher Homosexualität betrifft.
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plarisch schon Gegenstand musik-, theater- und literaturwissenschaftlicher Betrachtungen gewesen.2 Bisher weniger behandelt worden sind inszenierungsbezogene und aufführungspraktische Beispiele, über die Homoerotik und -sexualität als implizite Zeichenebene hervorgehoben werden (können) und die sich für Queer Studies als relevant erweisen: z.B. Stimmtechnik und -ästhetik, zum einen besonders hoher Frauen- wie Männerstimmen und von Countertenören im Barockrepertoire (das im Folgenden zugunsten des Kernrepertoires vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert ausgeklammert bleibt), zum anderen der Hosenrolle3. Verstärkt nachzugehen wäre der Frage, ob und in welcher Deutlichkeit beispielsweise letztere hinsichtlich ihrer homoerotischen Implikationen inszenierungsgeschichtlich ausgespielt werden oder sich daraus im sogenannten Regietheater erweiterte semiotische Codierungen von Homoerotik und Homosexualität herausgebildet haben, sofern diese für den jeweiligen Inszenierungstext konstitutiv sind.4
2
Siehe z.B.: Clarke, Kevin (Hg.), Glitter and be gay: die authentische Op erette und ihre schwulen Verehrer, Hamburg 2007; Linke, Ulrich: »›A little taller‹. Zur Entstehung von Gay Musicals im Amerika der 1970er Jahre«, in: Kadja Grönke/Michael Zywietz (Hg.), Musik und Homosexualität – Homosexualität und Musik (= Jahrbuch Musik und Gender, Band 10), Hildesheim 2007, S. 93-109; Steinke, Tim: »›Hörst du das Lied? Hörst du den Ruf, geheimnisvoll?‹ Einige Gedanken zur musikalischen Darstellung des Fremden in der Oper Król Roger von Karol Szymanowski«, in: K. Grönke/M. Zywietz (Hg.), Musik und Homosexualität – Homosexualität und Musik, S. 111-117.
3
Ein erster Literaturüberblick findet sich in Readers Guide to Lesbian and Gay Studies: Frantzen, Allen J.: »Music: Opera«, in: Timothy Murphy (Hg.), Readers Guide to Lesbian and Gay Studies, Chicago/London 2000, S. 401f. Dabei wird auch das einschlägig bekannte Buch von Wayne Koestenbaum The Queen’s Throat (dt. Königin der Nacht) von 1993 erwähnt. Zu ihm merkte die Musikkritikerin Eleonore Büning an, seit Koestenbaum wären »viele Seminararbeiten und Dissertationen zum Themenfeld Homosexualität und Oper verfasst worden. Sie werden immer spezieller, dickleibiger, dogmatischer und langweiliger. Dies sowie der Preisverfall bei Koestenbaum zeigen an: Das Thema ist durch.« Genauere Belege zu ihrer These nennt Büning nicht. Büning, Eleonore: »Was finden Homosexuelle an der Oper so toll?«, in: Allgemeine Sonntagszeitung vom 04.09.2016, S. 46.
4
Es geht hier wohlgemerkt nicht um die Stereotypisierung oder karikaturartige Zeichnung von Chargenrollen und negativen (›Bösewicht‹-)Figuren durch ›schwule‹ Klischeevorstellungen und Andeutungen, wie sie z.B.für populäre Genres der Theater-, Film- und Fernsehforschung wiederholt thematisiert werden.
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Abgesehen von einem Beispiel (dem von Peter Konwitschny in Hamburg inszenierten Rosenkavalier) geht der folgende Text demgegenüber stärker auf Inszenierungen jüngeren Datums an deutschen Opernhäusern ein, die Homosexualität thematisiert haben, ohne dass diese explizit im Libretto benannt wird. Zentral für die Analyse sind Aufführungskritiken. Sie fungieren zum einen als maßgebliche Quellen für die früheren Inszenierungsbeispiele vor Krzysztof Warlikowskis Inszenierung von Eugen Onegin 2007/08. Zum anderen spiegeln die zeitgenössischen Rezensionen seit den frühen 1990er Jahren, bezogen auf Homoerotik und -sexualität, einen Diskurs wider, in dem sich Operninszenierungen als eine Ebene vom ›Theater als Dispositiv‹ und der entsprechenden methodischen Betrachtung erweisen, mit der Maßgabe, »das Theater in strategischer Beziehung zu einem künstlerischen und (oder) gesellschaftlichen Problem zu begreifen und zu überlegen, wie sich die spezifische Materialisation der theatralen Ordnung dazu verhält. Methodisch lässt sich auf dieser Grundlage die Forderung ableiten, bei einer analytischen Auseinandersetzung mit dem Dispositiv Theater an den Sollbruchstellen anzusetzen – den dysfunktionalen oder fiktiven Elementen –, in denen die bestehende Ordnung und die regulierende Vernetzung von Aktanten nicht mehr reibungslos funktioniert.«5
Seit der Jahrtausendwende findet sich Homosexualität in Operninszenierungen als nicht explizit vom Libretto benannte Textebene an einer Sollbruchstelle bezüglich der gesellschaftlichen Offenheit bzw. Restriktionen ihr gegenüber. Die herangezogenen Rezensionen dienen dabei nicht zuletzt zur methodischen Betrachtung des Dispositivs Theater in »seinen Dimensionen der institutionellen Verankerung und Arbeitsweisen, der Produktions- wie der Rezeptionsverhältnisse«.6 Wie an den zitierten Opernkritiken zu erkennen sein wird, setzen diese häufig gerade beim Verhandeln des gesellschaftlichen ›Problems‹ Homosexualität im institutionellen Rahmen der Opernproduktion an und bündeln Rezeptionsverhältnisse und ihren Wandel. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das Dispositiv allenfalls in der ersten der herangezogenen Rezensionen vom ästhetischen Diskurs um
5
Aggermann, Lorenz: »Die Ordnung der darstellenden Kunst und ihre Materialisationen. Eine methodische Skizze zum Forschungsprojekt Theater als Dispositiv«, in: Ders./ Georg Döcker/Gerald Siegmund (Hg.), Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung, Frankfurt am Main 2017, S. 7-32, hier S. 22f.
6
Ebd.
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Werktreue und Regietheater gerahmt wird. Für alle übrigen zitierten Rezensent*innen ist eine affirmative Haltung zum sogenannten Regietheater belegbar, subsumiert man darunter wie Clemens Risi eine »Aufführungspraxis unter Beibehaltung der musikalischen Dramaturgie bei gleichzeitig radikaler Infragestellung, Neubefragung und Neukontextualisierung der in den verfügbaren (Libretto, Partitur, Diskurs der Aufführungsgeschichte) vermittelten und ermittelbaren Bedeutungsschichten einer Oper«7. Insofern ist die Opernkritik mit ihren genrespezifischen Gendervorstellungen auch als spezielles journalistisches Feld eines sich verschiebenden öffentlichen Diskurses einzubeziehen – u.a. im Wandel durch veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen vom Lebenspartnerschaftsgesetz der Bundesrepublik Deutschland 2001 (bzw. bereits seine Verabschiedung im Jahr davor) bis zur Ehe für alle 2017. Es liegt nahe, dass diese kontinuierliche Dispositiv-Neujustierung mitbestimmt, inwieweit Homosexualität in Operninszenierungen vermittelt und geradezu verhandelt wird.
LEICHTE IRRITATIONEN – INSZENIERUNGEN UM 2000 Im Unterschied zu den angeführten Opernlibretti verdichtet sich die Tendenz der Opernregie, Homoerotik und -sexualität als nicht explizite Textebene – also bezogen auf Figurenkonstellationen, die im Libretto gar nicht oder höchstens implizit, in Andeutungen als homosexuell bezeichnet werden – offenzulegen oder als alternative Lesart zu präsentieren erst seit der Jahrtausendwende. Bereits in den 1990er Jahren findet sich das Verfahren, unter Heranziehung werkbiografischer Hintergründe Figuren zu verdoppeln oder zusätzliche, oft stumme Figuren zum Personal des Librettos hinzuzufügen. Statt Neukontextualisierung und zusätzlicher Bedeutungsschichten hat dieses Regietheater-Verfahren eher Fußnoten-Charakter.8
7
Risi, Clemens: Oper in performance: Analysen zur Aufführungsdimension von Opern inszenierungen, Berlin 2017, S. 19.
8
So inszenierte beispielsweise der vor allem als Filmregisseur bekannte Brite Ken Russell 1993 Richard Strauss’ Salome an der Oper der Stadt Bonn und verlegte das Geschehen dabei in ein Halbwelt-Etablissement der Jahrhundertwende, in welchem (der einführenden Erklärung via Lautsprecher vor Opernbeginn zufolge) dem Verfasser der Vorlage, Oscar Wilde, sein eigener Einakter zum Geburtstag dargeboten wird: »Als der Dichter (stumme Rolle) schließlich erscheint, wird er von den Herren umringt und gebührend abgeküßt […].« Als wesentliches Problem der Inszenierung wurde, vom diskursiven Standpunkt des Rezensenten aus (Hiller, Carl H.: »Spiel im Bordell«, in: Opernwelt 8 (1993), S. 49-50) durchaus für das Regietheater typisch und noch pejorativ behaftet, festgehalten, dass »ja auch die Musik von Richard Strauss gespielt und nach
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Mit einem ähnlichen Grundkonzept, aber auf der Figurenebene stärker eingreifend und (nach Risis Definition) neu kontextualisierend, verfuhr John Dew 2001 am Badischen Staatstheater Karlsruhe mit Richard Wagners Lohengrin. Dew setzte den biografischen Hintergrund um den Komponisten und seinen wichtigsten Mäzen in Szene: König Ludwig II. von Bayern trat an die Stelle der Elsa bzw. sie wurden in den politischen Konflikten zu Alter-Ego-Figuren, die ihre vorübergehende Rettung in Lohengrin in Gestalt Richard Wagners als künstlerisch-musikalischem Erlöser fanden. Nicht vollkommen konsequent war Dews Vorgehen, in Hinblick auf Ludwigs Homoerotik, in der Brautgemach-Szene: Er ließ diese von seinen Protagonisten als Spiel im Spiel verfolgen, wie Rolf Fath in seiner Premierenkritik für Die Welt schilderte: »Nachdem Elsa bereits mit Wagner alias Lohengrin in Uniform zum Münster geschritten war, beobachten Ludwig und Wagner aus der Königsloge eine konventionelle Opernszene […], um die Peinlichkeit zweier Männer im Brautgemach zu umgehen.«9 Die potenziell »peinliche« Wirkung homoerotischer Interaktion belegt an dieser Stelle der Kritik im Aufführungsdiskurs genau das Dispositiv der konventionellen Opernproduktion, die letztlich – trotz des Irritationsmoments der Figurenverdopplung und GenderImplikationen – nur leicht befremdet, ansonsten aber aufrecht erhalten und ungestört bleibt. Somit muss auch der grundsätzlich positiv gestimmte Rezensent nicht auf Dysfunktionalitäten oder Reibungen hinweisen.10 Einen anderen Ansatz hinsichtlich des Entstehungs- und Uraufführungshintergrunds wählte Peter Konwitschny bei seiner Inszenierung von Richard Strauss’ Rosenkavalier an der Hamburgischen Staatsoper 2002. Dort stand die Auflösung der Hosenrolle des Octavian am Anfang des Opernabends – und damit die Umcodierung in eine lesbische Beziehung anstelle der (im Wilhelminismus schwer
seinen Noten gesungen wurde«, als ob dies durch den Fokus auf Wilde und seine Sprechtheatervorlage ansonsten beinahe untergegangen wäre. Genderbezogen blieb das Stück und sein biblisches Sujet offenbar, unter Anzitieren von Wildes Homosexualität, nicht mehr als in den Rahmen der décadence und damit einer Epoche erhöhter Bereitschaft zum Risiko und Flirt mit der Gefahr gesetzt. 9
Siehe https://www.welt.de/print-welt/article463540/Lohengrin-zwischen-Wahnfriedund-Neuschwanstein.html.
10 In Faths Rezension wird zudem deutlich akzentuiert, dass Dews Regie nicht vom Anspruch getragen wurde, mittels des inszenierten Stücks genderspezifische Fragestellun gen und Probleme einer (Homoerotik und Homosexualität negierenden) Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu vermitteln, sondern eben primär das Stück Lohengrin im erweiterten Kontext seiner frühen Aufführungsgeschichte (einschließlich der Gründung des Deutschen Reiches) zu präsentieren.
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denkbaren) Darstellung einer verheirateten Frau im Schlafzimmer mit ihrem jungen Liebhaber. Claus Spahn, damals Kritiker der Zeit, nahm dies auch zum Ausgangspunkt seiner Premierenbesprechung: »Selbst da, wo gar kein Süßstoff klebt, hat das lustvolle Schlecken kein Ende. So lässt Peter Konwitschny an der Hamburgischen Staatsoper zwei verliebte Frauen frühstücken, die reife Feldmarschallin und ihre junge Quinquin, die turtelnd in den großen Kissen eines hochherrschaftlichen Betts liegen.«11 Dass Spahn darin »ein treffendes Bild«12 sah, wie Konwitschny den Rosenkavalier als »die genießerische Leck- und Schmeckoper par excellence«13 decouvrierte, ließ ihn offenbar die Frage vernachlässigen, ob nicht um den Preis dieses treffenden Bildes ein Geschlechter-Klischee – die für die Hosenrolle übliche Darstellung eines ›Kerls‹ durch eine Frau – schlichtweg durch ein anderes (»lustvolle[s] Schlecken«) ausgetauscht wurde.14 Dass gerade der stark betonte Geschlechterdiskurs der Inszenierung in seiner Dysfunktionalität das Publikum irritieren könnte, wurde nicht nur mit der ›kulinarischen‹ Argumentation Spahns tendenziell unterspielt. Der Stimmenspezialist schlechthin in der deutschsprachigen Opernkritik, Jürgen Kesting, stabilisierte die bestehende Ordnung, das Geschlechter-Dispositiv, beinahe gegenläufig zur Inszenierung mit Expertenwissen. Zu Beginn seiner Opernwelt-Rezension berichtete er von der Umgestaltung der Hosenrolle zu »einer jungen Frau«, »die – aus welchen Gründen auch immer – nur im gesellschaftlichen Leben ihr sexuelles ›Außenseitertum‹ dadurch camoufliert, dass sie den Grafen Octavian spielt […]. Übrigens: Diese sexuellen Ambivalenzen hat schon Mary Garden gespürt, die sich ob der lesbischen Implikationen weigerte, die Rolle des Octavian zu übernehmen.«15 Über den eigenen Schreibstil positioniert sich Kesting als Kritiker im Fachmagazin dabei
11 Siehe https://www.zeit.de/2002/21/Die_vereiste_Rose vom 16.05.2002. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Auch indem die Inszenierung auf drei Zeitebenen angesiedelt war (jede für einen Akt) und mit dem ›Absingen‹ des Schlussterzetts durch die drei Sängerinnen wie von Schaufensterpuppen endete, führte sie festgefügte genderbezogene Vorstellungen ad absurdum. Einschließlich dieser Schlusswendung, der dystopischen Zukunftsvision von Geschlechterbeziehungen, wurde über die Produktion in ihren überzeitlichen Dimensionen seitens der Premierenkritiken weitgehend positiv geurteilt – und für skeptische Teile des Publikums in bewährter Manier auf die gelungene musikalische Ensembleleitung verwiesen. 15 Kesting, Jürgen: »Ein Abschied von einem Abschied«, in: Opernwelt 7 (2002), S. 6-8, hier S. 6.
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im Rezeptionsverhältnis mit seiner Leserschaft so ›objektiv‹ wie möglich als Experte, der über der potentiellen Emotionalisierung durch den reflektierten ästhetischen Gegenstand (Konwitschnys Inszenierung) und den Reaktionen von Teilen des Premierenpublikums steht. Diese Expertenstellung fügt sich in das von Georg Simmel herrührende Paradigma der Figur des Dritten, in diesem Fall des*der lachenden Dritten (tertius gaudens), das in der Soziologie und Sozialphilosophie weiterentwickelt wurde. Hier manifestiert es sich, wie von Gert J. F. Leene und Theodorus N. M. Schuyt hinsichtlich der »Objektivität des Fremden« bei Simmel zusammengefasst, zwischen zwei Parteien: dem Produktionsteam und dem Publikum: »Wherein lies the skill, the substance of the expertise of the third element? […] To fill in the specific role of the third party, Simmel refers to the ›objectivity‹ aspect. Thanks to this objectivity, the third party can mediate, arbitrate, or indeed, in the role of tertius gaudens manipulate.«16 So übertrieben die Kategorie der Manipulation für Kestings Vorgehen erscheinen mag: Der Versuch mittels opernhistorischer Expertise Konwitschnys Umsetzung zu vermitteln und zu neutralisieren, ist offenkundig – mit dem Vorteil des*der lachenden Dritten, »keinem der Lager eindeutig zugehörig zu sein und nach Faktenlage (und nicht nach Ideologie) handeln zu können«17. Nicht umsonst konnte auf diesem Weg ohne Hinterfragung »sexuelles ›Außenseitertum‹« gleichsam »nach Faktenlage« unangetastet bleiben.
EIN DEUTLICHES STÖRSIGNAL IM DISPOSITIV OPER Relativ lautstark bemerkbar und kontrovers war das Echo, als 2007 Tschaikowskys Eugen Onegin, inszeniert von Krzysztof Warlikowski, an der Bayerischen Staatsoper herauskam. Da diese Produktion nicht nur in den Aufführungen zu Reibungen mit dem Publikum führte, sondern darüber hinaus im Diskurs der Fachpresse (für die Süddeutsche Zeitung redaktionsintern und medienübergreifend) quasi über die Deutungshoheit verhandelt wurde, sollte dazu detailliert auf wichtige szenische Abschnitte eingegangen werden. 18 Mit dem Regiekonzept,
16 Leene, Gert J. F./Schuyt, Theodorus N. M.: The Power of the Stranger: Structures and Dynamics in Social Intervention, Abingdon 2008, S. 27. 17 Bedorf, Thomas: »Stabilisierung und/oder Irritation. Voraussetzungen einer triadischen Sozialphilosophie«, in: Ders./Joachim Fischer/Gesa Lindemann (Hg.), Theorien des Dritten. Innovationen in Soziologie und Sozialphilosophie, München 2010, S. 13-32, hier S. 25. 18 Neben wiederholten Vorstellungsbesuchen seit der Premierenserie stützen sich die Beobachtungen hierzu auf den privaten Video-Mitschnitt einer Vorstellung vom 24.03.2012, die live gestreamt wurde.
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die homoerotische Anziehung zwischen dem Titelhelden und dem Dichter Lenski szenisch in den Fokus zu rücken, provozierte Warlikowski anlässlich der Premiere einigen Widerspruch. Er wurde im Feuilleton sogar, wie von Reinhard J. Brembeck unter der Überschrift Im Chaos der Kolchose19, regelrecht abgekanzelt, da die Begründung des Figurenverhältnisses nach gewohnten Interpretationsmustern zunächst im Biografismus20 gesucht wurde: »Schließlich war wohl auch Tschaikowsky schwul. Doch Frauenschwärmer Lenski und Obermacker Onegin können nicht zueinanderfinden. Übrigens auf jenem Bett, auf dem zuletzt auch Tatjana und Onegin nicht zueinanderfinden. Kurz zuvor tanzt noch ein Schwulenballett, das – wie sollte es in München anders sein – erbost wüstes Zwischenaktgebuh provoziert. Ein provinzielles Skandälchen.«21
Brembeck vernachlässigte bei dieser Beschreibung des Bogens vom vorletzten zum letzten Akt der Oper gleich mehrere Details von Warlikowskis Inszenierung. Auch vergröbert die pauschale Bezeichnung »Schwulenballett« die choreografischen Abschnitte vor und (!) nach dem Zwischenakt mit unterschiedlichen Facetten von Queerness. Die Auftritte der Tänzer sind in klare Abschnitte gegliedert und verhandeln zwei genderspezifische Positionen. Die erste wird, unmittelbar nach Lenskis Erschießung, als direkte Konfrontation mit den homoerotisch maskulin aufgeladenen, paarweise auftretenden Cowboy-Erscheinungen der Tänzer präsentiert. Sie bezieht sich auf das vorangegangene Duell, in einem Totentanz um den auf dem Bett liegenden Erschossenen und dem danebensitzenden Onegin. Dies spielt sich zu den Klängen jener Polonaise ab, die eigentlich den Folgeakt einleitet und zu der bereits Robert Sollich hinsichtlich einer Leipziger Eugen Onegin-Inszenierung von 1995 (wiederum von Peter Konwitschny) die Beobach-
19 Brembeck, Reinhard J.: »Im Chaos der Kolchose«, in: Süddeutsche Zeitung vom 02.11.2007, S. 13. 20 Im Fall von Tschaikowskys Oper Pique Dame stellte Julia Spinola auch schon 1999 in Mannheim szenisch flüchtige homoerotische Bezüge »eher als biographistische Würze einer Tschaikowsky-Inszenierung« von Regisseur David Mouchtar-Samorai fest (Spinola, Julia: »Traumwelt aus Pappe«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.06.1999, S. 54); in der Inszenierung von Stefan Herheim 2016 in Amsterdam (und 2019 neu einstudiert in London) wurden sie erneut durch eine Rahmenhandlung mit dem Komponisten als Bühnenfigur virulent. 21 Brembeck, Reinhard J.: »Im Chaos der Kolchose«, in: Süddeutsche Zeitung vom 02.11.2007, S. 13.
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tung machte: Die aus der früheren musikwissenschaftlichen Betrachtung und Aufführungstradition heraus gewohnte »emotionale Wirkung der vorgeblich so heiteren Musik«22 verkehrt sich regelrecht bei einer Verbindung mit entsprechender szenischer Bebilderung. Im Fall von Warlikowskis Cowboy-Leichenzug für Lenski verdichten sich der ritualhaft paradierende Charakter der Musik und ihre kreisenden Bewegungen. Das Agieren der Tänzer nimmt, auch in ihren an den Titelhelden Onegin gerichteten Blicken, geradezu provozierende Züge an. Diese Entwicklung erreicht spätestens ihren Höhepunkt, wenn sich die Tänzer im Mittelteil der Polonaise Bauch an Rücken im mittlerweile leeren Bett aneinanderreihen, wie in einem Dominoeffekt abrollen und weiterschreiten. Für Onegin gerät an dieser Stelle, an Körperhaltung und Mimik erkennbar, jener vom SZ-Kritiker als obermackerhaft eingestufte Habitus klar ins Wanken. Die zweite Position der Tänzer nach der Zwischenaktmusik markiert ihr Auftritt in Frauenkleidern im Rahmen des Festes von Fürst Gremin (im vorletzten Bild der Oper). Dieser drag act dient allerdings wiederum vor allem dazu, Onegins inneren Konflikt zu verdeutlichen: weniger im Sinn eines nachträglichen homosexuellen Bekenntnisses zum getöteten und damit als möglichen Liebespartner negierten Freund. Der Protagonist scheint sich vielmehr den homoerotischen Impuls zumindest grundsätzlich einzugestehen bzw. wirkt nach dem Duell von ihm in einer regelrechten Fixierung wie verfolgt. Davon ist auch schließlich das gendertypische Objekt der erotischen Begierde, in Gestalt Zigarette rauchender Frauen in Abendgarderobe im drag act bildlich überlagert. So wird auch die finale Begegnung des Titelhelden mit Tatjana – ihrerseits nunmehr auf den entsprechenden Habitus getrimmt – vorab unterminiert. Gerade um das Thema der genderbedingten Festlegung und Verunsicherung kreist die Eugen Onegin-Inszenierung mit punktuellen historischen Bezügen aus den späten 1960er Jahren (etwa mit Fernsehbildern der Mondlandung 1969), aber auch aus dem Postkommunismus, weshalb die Inszenierung in den Kritiken wahlweise sowohl im ehemaligen Ostblock als auch in den USA angesiedelt wurde. Nicht zufällig hatte Warlikowski 2007 schon mit Tony Kushners’ Angels in America in seiner polnischen Heimat für Aufsehen in der Theaterkritik gesorgt,
22 Sollich, Robert: »Die Promiskuität der Musik – Über intermediale Verfremdungsstrategien in der zeitgenössischen Inszenierung der Oper«, in: Henri Schoenmakers/Stefan Bläske/Kay Kirchmann/et al. (Hg.), Theater und Medien. Theatre and the Media. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2008, S. 329-335, hier S. 331.
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die Verbindungen zwischen den USA und Polen zog, wo Homosexuelle von der Liberalisierung seit Ende der 1980er Jahre ausgeschlossen geblieben waren.23 Derartige Aspekte hatte Reinhard J. Brembeck bezeichnenderweise beim Verweis auf Tschaikowskys eigene unterdrückte homoerotischen Neigungen gar nicht erwogen. Die Inszenierung von Warlikowski irritierte ihr Publikum bei der Premiere somit nicht zuletzt, weil sie keine fixen Epochenbezüge herstellte oder jene überzeitlich abstrahierte. Sie verwies vielmehr auf die Kontinuität einer im vorgeblich liberalen Westen, im kommunistischen bzw. sozialistischen Osten (und danach) beziehungslosen und bestimmte Formen von Intimität zensierenden Gesellschaft. In München lag damit eben doch kein »provinzielles Skandälchen«24 vor, sondern ein soziokulturell klar aufgezeigtes, fortbestehendes Tabu im Osten wie im Westen. Tschaikowskys Biografie und seine Oper boten Warlikowski und seinem Team in München einen Ansatzpunkt, sie legten gemeinsam aber keine einseitig auflösbare Lesart der Inszenierung nahe. Im vom Produktionsdramaturgen Miron Hakenbeck aufgezeichneten Programmheft-Interview formulierte Warlikowski das ausdrücklich so: »Wenn wir den Gedanken nicht beiseite schieben, dass Tschaikowsky homosexuell war, dann sind alle Geschichten, die sich hier abspielen, ambivalent.«25 Gerade hinsichtlich der visuellen Anspielungen auf BROKEBACK MOUNTAIN wies Warlikowski auf eine grundsätzliche Deutungsoffenheit hin: »Das ist einerseits ein Film über zwei Männer, die sich lieben, andererseits, und das macht ihn universell, auch ein Film über die tragischen Folgen, wenn man sich nicht zu seiner Liebe bekennen kann.«26 Im Pressespiegel zur Opernwelt ist dagegen erneut, diesmal verfasst von Wolfgang Schreiber, der Versuch nachzulesen, eindeutiges Skandalpotenzial einer solchen Deutung durch Expertise abzufedern. Nach dem erläuternden Hinweis auf den Paradigmenwechsel der Inszenierung (und seine diskursive Vorbereitung
23 Vgl. Lease, Bryce: »In Warsaw’s New York: Krzysztof Warlikowski’s Queer Interven tions«, in: Alyson Campbell/Stephen Farrier (Hg.), Queer Dramaturgies. International Perspectives on Where Performance Leads Queer, New York 2016, S. 35-51, hier S.38ff. 24 Brembeck, Reinhard J.: »Im Chaos der Kolchose«, in: Süddeutsche Zeitung vom 02.11.2007, S. 13. 25 »Unausgesprochene Bekenntnisse, ausgesprochen. Ein Gespräch mit Krzysztof Warlikowski« (Interview und Übersetzung von Miron Hakenbeck), In: Bayerische Staatsoper: Programmbuch zur Neuinszenierung EUGEN ONEGIN von Peter I. Tschaikowsky am 31. Oktober 2007, S. 27-32, S. 31. 26 Ebd.
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in einem Programmheftaufsatz von Slavoj Žižek) – das Männerpaar sei »auf der Rückseite […] homoerotisch zusammengebunden«27 – folgt die Beurteilung des Gesehenen: »Verwandelt sich jedoch die Latenz in eindeutige Bilder und Zuordnungen auf der Bühne, wird die Sache zu direkt und plakativ. So erscheint die Duellszene umgedeutet in eine zu fällige, im erotischen Kontext vollzogene Erschießung Lenskis durch Onegin. Und wie ein Vorspiel [sic] dazu, eine Metapher, sieht die schwule Cowboyballett-Entkleidungsepisode aus, die unmissverständlich Ang Lees Film ›Brokeback Mountain‹ nachempfunden ist.«28
Zielte Kestings Rosenkavalier-Kritik von 2002 paradoxerweise darauf, die lesbische Rollen-Umcodierung durch Konwitschny mittels Hervorhebung der werkimmanenten Ambivalenz zu entschärfen, so beharrte Schreiber angesichts Warlikowskis Eugen Onegin in geradezu absurder Manier mit dem Argument der »Latenz« auf einem Tabu der Darstellung von Homoerotik. Interessanterweise wurde – wie erwähnt – innerhalb der SZ-Redaktion das Urteil zur Premiere in (für die opernbezogene Berichterstattung) ungewöhnlicher Art und Weise später mehrfach revidiert. So schrieb Helmut Mauró bereits anlässlich der Festspielaufführungen im Jahr nach der Premiere unter der Überschrift Szenischer Volltreffer: »[Z]aghafte[n] Buhs gingen in tosendem Applaus unter. […] Der Beifall galt […] auch der Regie von Krzysztof Warlikowski: Der breitete mit einfallsreichem Geschick und sicherem Gespür für dramatische Feinheiten eine von Anfang bis Ende stimmige, vor allem mehrschichtige Seelenlandschaft aus und ließ Tschaikowskys philosophisch-romantischer Oper mehr Gerechtigkeit und Detail-Aufmerksamkeit widerfahren als viele vorgeblich traditionelle Inszenierungen.«29
Bemerkenswert ist die Diskurs-Verlagerung auf die Ebene des Austauschs von Argumenten, wer in seiner Beurteilung von Warlikowskis Interpretation Recht hat bzw. Tschaikowsky Gerechtigkeit widerfahren lässt. Sie setzt sich noch sieben Jahre später, wiederum in der SZ, in einer Aufführungsbesprechung von Egbert Tholl fort:
27 Schreiber, Wolfgang: »Romantischer Trash«, in: Opernwelt 7 (2002), S.14-15, hier S. 15. 28 Ebd. 29 Mauró, Helmut: »Szenischer Volltreffer«, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.07.2008, S. 45.
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»Fast acht Jahre ist Krzysztof Warlikowskis Inszenierung von Tschaikowskys ›Eugen Onegin‹ an der Bayerischen Staatsoper nunmehr alt, und noch immer hat die Polonaise der schwulen Cowboys darin ein großes Potenzial, Teile des Publikums in Rage zu bringen. Dass die Inszenierung dieses Tanzes, der nichts anderes ausdrückt als Onegins Angst vor den eigenen homoerotischen Neigungen, ungemein treffsicher auslotet, was in der Musik ohnehin drin ist, spielt für die partielle Teilzeitwut keine Rolle. Auch dass Warlikowski hier eine stimmige Lösung für diesen Tanz fand, den Tschaikowsky so seltsam bizarr nach dem tödlichen Duell in seine Oper hineinschrieb, spielt offenbar nicht für alle eine Rolle. Das ist schwul, das ist seltsam, das mag man nicht.«30
Anlässlich derselben Wiederaufnahme mit Stargastspiel Anna Netrebkos als Tatjana stellte in der Welt Manuel Brug zudem etwas befremdlich anmutend fest: »[J]etzt, wo Schwule in Russland per Gesetz von Vladimir Putin unterdrückt werden«, erhalte die Inszenierung, bei der Premiere »irgendwie unfertig und spekulativ […], eine unerwartete Aktualität und Richtigkeit«31 – als hätte es zur Erinnerungshilfe bezüglich des von Warlikowski dargestellten gesellschaftlichen Klimas erst neuer politischer Restriktionen bedurft! Ebenfalls gleichsam ex posteriori, aber raffinierter geht der langjährige SZTheaterkritiker und Dozent für Kritik C. Bernd Sucher in einem von ihm veröffentlichen Buch zum besseren Theaterverständnis vor: »Warlikowski zitierte einen Film von Ang Lee, nämlich ›Brokeback Mountain‹ […]. Dieses Zitat entdeckten allerdings die wenigsten Zuschauer und auch die wenigsten Kritiker […]. Aber während die meisten die dargestellte Homosexualität nur am Rande erwähnten […], schlägt der Kritiker des Deutschlandfunks zu, besessen von einem Thema: ›Ein schwuler Regisseur vergewaltigt eine heterosexuelle Oper. […] Weil jedoch Komponist und Regisseur homo sind, muss in der Logik Warlikowskis die ganze Theaterwelt homo sein.‹«32
Suchers nachträgliche Premierensicht stellt eine weitere, diesmal im Sinn des*der lachenden Dritten nach Simmel, manipulative Zuspitzung der WarlikoswkiProduktion im öffentlichen Diskurs dar: Dass das BROKEBACK MOUNTAIN-Zitat einem Großteil des Publikums und der Kritik entgangen war, ist zum einen in
30 Tholl, Egbert: »Anrührend perfekt«, in: Bayern Region vom 28.07.2015, S. 32. 31 Brug, Manuel: »Anna allein unter Schwulen«, in: Die Welt vom 30.07.2015, Siehe http://klassiker.welt.de/2015/07/30/anna-allein-unter-schwulen-eugen-onegin-in-muen chen/. 32 Sucher, C. Bernd: Wie es euch gefällt – Der kleine Theaterversteher, München 2016, S. 77.
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Zweifel zu ziehen, weil sowohl in der Vorberichterstattung als auch in einem Programmheft-Interview mit Warlikowski explizit auf den Film hingewiesen wurde. Zum anderen ist Suchers Behauptung regelrecht in Abrede zu stellen, da die meisten Kritiken der großen Tageszeitungen ganz klar auf den Aspekt der Homosexualität eingingen und viele, wie z.B. Die Welt sogar schon in der Artikelüberschrift (»Tschaikowsky à la Brokeback Mountain« von Klaus Kalchschmid), auch auf Ang Lees Film Bezug nahmen33. Dass Sucher, in Entsprechung zu wenigen BuhRufenden unter vielen Applaudierenden, eine einzelne gänzlich polemische und tatsächlich homophob anmutende Pressestimme34 zwischen mehreren vergleichsweise differenzierten herausgegriffen hat, unterstreicht nur einen entscheidenden Wandel im Diskurs um Oper und Homosexualität: Warlikowskis Produktion fiel 2007 – und sie fällt es bis heute – in eine Zeit, in der Kategorien wie jene des homosexuellen Außenseitertums (zu der z.B. Kesting noch für seine Rosenkavalier-Kritik unkommentiert, wenngleich in Anführungszeichen griff) auf der Opernbühne endlich und direkt hinterfragt sowie auf die Normalität von Homosexualität hingelenkt werden konnten. Für die Rezensierenden, die ihre Funktion noch als Vermittler*innen zwischen Künstler*in und Rezipient*innen, als Expert*innen tertius gaudens, begreifen (wie hinsichtlich biografischer Hintergründe zu Wilde, Ludwig II. oder Tschaikowsky), ergibt sich daraus ein Problem: Sie drohen als Erklärende an einem Punkt der theatralen Kommunikation an Bedeutung einzubüßen, an dem Opernschaffende ihre Positionen in einer offeneren Gesellschaft offen, nicht mehr für Spezialisierte als Subtext codiert, darzulegen angehalten sind. Fraglich ist, ob dieser Relevanzverlust im Diskurs durch andere Kompetenzen, z.B. ein größeres transmediales Wissen (wie von C. Bernd Sucher suggeriert), kompensiert werden kann.
ENTSPANNTE NEU-ORDNUNG? Ebenfalls an der Bayerischen Staatsoper ging während der Festspiele 2018 im Prinzregententheater noch eine weitere Variante homosexueller Umcodierung durch eine Operninszenierung über die Bühne, diesmal von Joseph Haydns
33 Siehe
https://www.welt.de/welt_print/article1322400/Tschaikowsky-a-la-Brokeback
Mountain.html oder auch Lemke-Matwey, Christine: »Tatjanas Einsamkeit«, in: Tagesspiegel vom 02.11.2007, Siehe https://www.tagesspiegel.de/kultur/tatjanaseinsamkeit/1084594.html. 34 Vgl. Schmitz, Christoph: »Schwule Kunstpenetration«, Deutschlandfunk 01.11.2007, Siehe https://www.deutschlandfunk.de/schwule-kunstpenetration.691.de.html?dram:ar ticle_id=51089.
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Dramma eroicomico Orlando Paladino durch Axel Ranisch. Passend zur hybriden Gattungsbezeichnung des heroisch-komischen Dramas erweiterte der als Multitalent und Senkrechtstarter zwischen Theater- und Filmwelt gerühmte Regisseur die ohnehin einigermaßen verworrene Opernhandlung noch. Sein Konzept zur selbsterdachten Rahmenhandlung eines Coming-Out in einem Programmkino erläutert Ranisch folgendermaßen: »Für den Kinobetreiber Heiko beginnt ein ganz gewöhnlicher Tag. Die Beziehung des Ehepaars ist von Routine und der gleichzeitigen Unfähigkeit zur Kommunikation durchzogen – kurz gesagt: Es läuft nicht sehr gut. […] Seine Frau hat eine Beziehung zum Hausmeister. Doch das wird versteckt und vertuscht, vielleicht deshalb, weil es auch auf Heikos Seite ein gewisses Geheimnis gibt: seine Sehnsucht nach seinem Lieblingsschauspieler Rodolf Rodomonte. Beides, Affäre und Homosexualität, wird jeweils nicht offen kommuniziert und ausgelebt; das Ehepaar lebt also in dieser ständigen Lüge.«35
Wie bei den knapp 20 Jahre (und länger) zurückliegenden Regiekonzepten von Russell und Dew bediente sich Ranisch also einer Rahmenhandlung, um der auf den Spielplan gesetzten, über 200 Jahre alten Opernvorlage Neues abzugewinnen – diesmal allerdings unter kompletter Erfindung von Figuren (ohne werkhistorische oder biografische Begründung). Wieder wurde das Thema männlicher Homoerotik zur Brechung der gewohnten Perspektiven eingesetzt. Der entscheidende Unterschied in der szenischen Transformation durch Ranisch besteht gerade darin, dass er keine werkgeschichtlichen Hintergründe reflektiert, sondern die Homoerotik zur Hinterfragung und Distanzierung von der Spielvorlage nutzt.36 Am Ende
35 »Herz-Kino. Axel Ranisch im Gespräch über seine Liebe zu den Figuren in Orlando Paladino« (Interview von Franziska Betz und Rainer Karlitschek), in: Bayerische Staatsoper: Programmbuch zur Neuinszenierung ORLANDO PALADINO von Joseph Haydn am 23. Juli 2018, S. 68-75, hier S. 72f. 36 Zentral wird in diesem Zusammenhang der zweite Akt der Oper, in der als filmische Sequenz die von Ranisch hinzugefügte Figur des Heiko die beiden Todfeinde Rodomonte und Orlando mit verbundenen Augen zusammenbringt und im behutsamen Ertasten Zärtlichkeit und Versöhnung möglich scheinen – bis mit dem gegenseitigen Anblick die Rivalität zurückkehrt und erst im Schlussakt (erneut als Spiel im Spiel bzw. ›Film im Film‹) durch Kameradschaft bei der Rettung Angelinas aufgehoben wird. Formal gesehen ist dieser abschließende Schritt auch insofern konsequent, als die Arien dieser Primadonnen-Figur als regelrechtes Vehikel für den zusätzlichen Handlungsstrang eines Coming-out genutzt werden. Ein anderer Aspekt ist die Begleitung Orlandos durch Heiko bei seinem zwischenzeitlichen Totalverlust der Kontrolle über
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von Ranischs Haydn-Inszenierung steht im Unterschied zu Warlikowskis Tschaikowsky-Deutung ein Happy End, das Ranisch ebenfalls im Programmheft begründet hat: »Meinem Eindruck nach wünscht sich Haydn zu jener Zeit in dieser Geschichte nicht anderes, als dass diejenigen Figuren zusammenkommen, die sich auch wirklich lieben. Das berührt mich sehr. In der heutigen Zeit können wir noch einen Schritt weiter gehen, indem wir sagen: Wir leben im 21. Jahrhundert – da können sich auch zwei Ritter verlieben, und es ist okay!«37
Als Beleg, dass dieses Konzept, u.a. begünstigt vom gemischten Genre der HaydnOper, ohne größeren Widerspruch aufgenommen wurde, sei an dieser Stelle nur auf die Kritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von Jan Brachmann verwiesen, der in Entsprechung zum überwiegenden Presseecho resümiert: »Haydns musikalischer Witz zersprengt die Etikette von heute. Beim Schlussapplaus haben die wenigen Buh-Muffel keine Chance gegen den Jubel für Axel Ranisch. Dieser schlagfertige Menschenfreund hat der Mehrheit im Saal an diesem Abend das Herz gestohlen.«38 Hiervon lässt sich auf eine durchaus erfreuliche Lockerung im Diskurs eines zuvor tendenziell von Restriktionen bestimmten (musik-)theatralen Dispositivs schließen. Diese Lockerung bemisst sich zumal am Protest gegenüber Warlikowski ein Jahrzehnt früher und an selber Stelle, der in den Kritiken noch als typisch (bei einigen freilich bereits eher moderat) für das Münchner Publikum eingestuft wurde. Über die klare Aussage der Inszenierung hinaus gehört Axel Ranisch zu den Künstler*innen, die aus ihrer eigenen Homosexualität keinen Hehl machen und für Offenheit und Akzeptanz werben. Unterschiedliche Positionen gibt es indes zu der Frage, inwieweit ein Regiestil vom Lebensstil der*des Regieführenden geprägt ist. Barrie Kosky, der an der Komischen Oper Berlin quasi seit Beginn seiner Intendanz mit einer queeren Ästhetik assoziiert worden ist, gab dazu
sich selbst (Ende des zweiten Aktes) – der sich neben der Verzweiflung über die Unerreichbarkeit Angelinas im Libretto dem Verlauf der Inszenierung nach, ähnlich Warlikowskis Eugen Onegin, auch als Verunsicherung über die Entdeckung eigener homoerotischer Impulse deuten lässt. 37 Bayerische Staatsoper: Programmbuch zur Neuinszenierung ORLANDO PALADINO, S. 75. 38 Brachmann, Jan: »Haydns Witz zersprengt die Etikette von heute«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.07.2018, S. 17.
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gleich nach der ersten Saison, anlässlich der Auszeichnung der Komischen Oper Berlin als Opernhaus des Jahres, zu Protokoll: »Zunächst einmal: Ich habe nie in den Vordergrund gestellt, dass ich schwul bin. Aber ich gehe offen damit um […]. Natürlich fließen irgendwie alle Erfahrungen, auch Sex und Erotik, in meine Arbeit ein. Aber das heißt doch nicht, dass bei mir die Bühne dauernd in den Farben des Regenbogens leuchtet, überall Pailletten funkeln oder Lederkerle herumlaufen. […] Dass schwule Künstler an Camp, Glitz und Glamour zu erkennen seien, ist ein Klischee. […] Viel wichtiger ist doch unsere kulturelle Identität. Sind die großartigen Inszenierungen eines Hans Neuenfels oder Peter Konwitschny denkbar ohne die jeweiligen Erfahrungen, die sie nach 1945 im Westen und im Osten des geteilten Landes gemacht haben?«39
Koskys Standpunkt ist nicht nur ihn selbst betreffend aussagekräftig, sondern darüber hinaus umgekehrt für Inszenierungen, die mit der Textebene der Homosexualität arbeiten. Ihre ästhetischen Qualitäten erweisen sich darin (vollkommen losgelöst von der ›Orientierung‹ der jeweiligen Regisseur*innen), inwieweit sie im produktiven Umgang mit musiktheatralen Formen Gendererfahrungen nachvollziehbar und teilbar machen.
RESÜMEE Seit dem Jahr 2000 lässt sich in deutschen Operninszenierungen die verstärkte Tendenz einer homoerotischen (Neu- und Re-)Codierung beobachten, teils um Subtexte zum inszenierten Werk aufzuzeigen, teils um genderbezogen zeitgemäße Gegenpositionen zu historischen Sujets (beispielsweise durch Rahmenhandlungen) zu markieren. Was die Rezeptionshaltungen eines breiten Publikums und vor allem jene der Fachkritik für die Oper als Dispositiv betrifft, wird dieser Code erkennbar alltäglicher und selbstverständlicher gegenüber seiner anfänglich reservierten und spezialisierten Beurteilung. Insofern erweist sich anhand dieser Entwicklung, trotz diskursiver Reibungen, für das so häufig als bürgerlich apostrophierte Musiktheater-Genre der Oper ein starkes Potenzial offener Verständigung über Diversität sowohl in der Interpretation durch die Künstler*innen als auch durch das Publikum. Es wäre voreilig (und bedürfte empirischer Überprüfung), von diesem Diskurswandel auf eine tatsächlich erhöhte gesellschaftliche bzw. in der Teilöffentlichkeit der Opernaffinen gesteigerte Akzeptanz zu schließen. Für
39 Thiemann, Albrecht: »Shakespeare war Entertainer«, in: Opernwelt. Oper 2013 – Das Jahrbuch (Jg. 54), Berlin 2013, S. 6-10, hier S. 7.
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neueste Entwicklungen in diesem Bereich müsste auch mehr denn je die nichtprofessionelle Musik(theater)kritik, gerade in Onlinemedien einbezogen werden. Legt man aber grundsätzlich die Prämisse zugrunde, dass Akzeptanz und Toleranz im Diskurs über- und miteinander beginnen, sollten die Zeiten jedenfalls dankenswerterweise vorbei sein, in denen ein ›Starkritiker‹ des deutschen Feuilletons beim Rezensieren einer Inszenierung von Wagners Rheingold über die Darstellung der Götterfigur Froh kurzerhand festhielt, er würde »sich aufführen wie ein dümmlich blonder, stark aids-gefährdeter Kitsch-Künstler«40.
REFERENZEN Aggermann, Lorenz: »Die Ordnung der darstellenden Kunst und ihre Materialisationen. Eine methodische Skizze zum Forschungsprojekt Theater als Dispositiv«, in: Ders./Georg Döcker/Gerald Siegmund (Hg.), Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung, Frankfurt am Main 2017, S. 7-32. Bedorf, Thomas: »Stabilisierung und/oder Irritation. Voraussetzungen einer triadischen Sozialphilosophie«, in: Ders./Joachim Fischer/Gesa Lindemann (Hg.), Theorien des Dritten. Innovationen in Soziologie und Sozialphilosophie, München 2010, S. 13-32. Betz, Franziska/Karlitschek, Rainer: »Herz-Kino. Axel Ranisch im Gespräch über seine Liebe zu den Figuren in Orlando Paladino« (Interview von Franziska Betz und Rainer Karlitschek), in: Bayerische Staatsoper: Programmbuch zur Neuinszenierung ORLANDO PALADINO von Joseph Haydn am 23. Juli 2018, S. 68-75. Brachmann, Jan: »Haydns Witz zersprengt die Etikette von heute«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.07.2018. Brembeck, Reinhard J.: »Im Chaos der Kolchose«, in: Süddeutsche Zeitung vom 02.11.2007. Brug, Manuel: »Anna allein unter Schwulen«, in: Die Welt vom 30.07.2015. Büning, Eleonore: »Was finden Homosexuelle an der Oper so toll?«, in: Allgemeine Sonntagszeitung vom 04.09.2016.
40 Kaiser, Joachim: Erlebte Musik, Band 2 (erweiterte und überarbeitete Ausgabe), München/Leipzig 1994, S. 73. Die Kritik zu einer Münchner Inszenierung von Nikolaus Lehnhoff, erschienen in der SZ vom 21.03.1987, wurde sogar noch in Buchform in dieser Kritikensammlung nachgedruckt.
206 | Sebastian Stauss
Clarke, Kevin (Hg.), Glitter and be gay: die authentische Operette und ihre schwulen Verehrer, Hamburg 2007. Frantzen, Allen J.: »Music: Opera«, in: Timothy Murphy (Hg.), Readers Guide to Lesbian and Gay Studies, Chicago/London 2000. Hakenbeck, Miron: »Unausgesprochene Bekenntnisse, ausgesprochen. Ein Gespräch mit Krzysztof Warlikowski« (Interview und Übersetzung von Miron Hakenbeck), In: Bayerische Staatsoper: Programmbuch zur Neuinszenierung EUGEN ONEGIN von Peter I. Tschaikowsky am 31. Oktober 2007, S. 27-32. https://www.welt.de/print-welt/article463540/Lohengrin-zwischen-Wahnfriedund-Neuschwanstein.html. https://www.zeit.de/2002/21/Die_vereiste_Rose. Kaiser, Joachim: Erlebte Musik, Band 2 (erweiterte und überarbeitete Ausgabe), München/Leipzig 1994. Kesting, Jürgen: »Ein Abschied von einem Abschied«, in: Opernwelt 7 (2002), S. 6-8. Lease, Bryce: »In Warsaw’s New York: Krzysztof Warlikowski’s Queer Interventions«, in: Alyson Campbell/Stephen Farrier (Hg.), Queer Dramaturgies. International Perspectives on Where Performance Leads Queer, New York 2016, S. 35-51. Leene, Gert J. F./Schuyt, Theodorus N. M.: The Power of the Stranger: Structures and Dynamics in Social Intervention, Abingdon 2008. Lemke-Matwey, Christine: »Tatjanas Einsamkeit«, in: Tagesspiegel vom 02. 11.2007. Linke, Ulrich: »›A little taller‹. Zur Entstehung von Gay Musicals im Amerika der 1970er Jahre«, in: Kadja Grönke/Michael Zywietz (Hg.), Musik und Homosexualität – Homosexualität und Musik (= Jahrbuch Musik und Gender, Band 10), Hildesheim 2007, S. 93-109. Mauró, Helmut: »Szenischer Volltreffer«, in: Süddeutsche Zeitung vom 11. 07.2008. Risi, Clemens: Oper in performance: Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen, Berlin 2017. Schmitz, Christoph: »Schwule Kunstpenetration«, Deutschlandfunk 01.11.2007. Schreiber, Wolfgang: »Romantischer Trash«, in: Opernwelt 7 (2002), S.14-15. Sollich, Robert: »Die Promiskuität der Musik – Über intermediale Verfremdungsstrategien in der zeitgenössischen Inszenierung der Oper«, in: Henri Schoenmakers/Stefan Bläske/Kay Kirchmann/et al. (Hg.), Theater und Medien. Theatre and the Media. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2008, S. 329-335.
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Spinola, Julia: »Traumwelt aus Pappe«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.06.1999. Steinke, Tim: »›Hörst du das Lied? Hörst du den Ruf, geheimnisvoll?‹ Einige Gedanken zur musikalischen Darstellung des Fremden in der Oper Król Roger von Karol Szymanowski«, in: Kadja Grönke/Michael Zywietz (Hg.), Musik und Homosexualität – Homosexualität und Musik, S. 111-117. Sucher, C. Bernd: Wie es euch gefällt – Der kleine Theaterversteher, München 2016. Thiemann, Albrecht: »Shakespeare war Entertainer«, in: Opernwelt. Oper 2013 – Das Jahrbuch (Jg. 54), Berlin 2013, S. 6-10. Tholl, Egbert: »Anrührend perfekt«, in: Bayern Region vom 28.07.2015.
Wer besetzt wen? Susanne Moser im Interview mit Rainer Simon
Rainer Simon: Gesamtgesellschaftlich sind wir nach wie vor weit entfernt von einer Geschlechtergerechtigkeit. Unternehmen werden z.B. meist von Männern geleitet. Wenn wir uns die Leitungsebenen von Opernhäusern und Theatern anschauen, dann wird diese Asymmetrie dort widergespiegelt. Warum gibt es am Theater so wenige Frauen in Führungspositionen? Susanne Moser: Es ist einfach, zu diagnostizieren, dass es in den großen Kulturbetrieben wenig Frauen in Führungspositionen gibt. Weit schwerer wird es allerdings, die Gründe dafür zu bestimmen. Das lässt sich nicht so einfach und pauschal sagen. Zuerst einmal stellt sich die Frage, wer wen besetzt. Für gewöhnlich bestimmt die Kulturpolitik die Intendant*innen und geschäftsführenden Direktor*innen. Wenn man auf die vergangenen Jahre in Berlin zurückblickt und sich anschaut, wer die kulturpolitische Verantwortung für die Intendantenbesetzungen hatte, so lassen sich hierbei gewisse Tendenzen festmachen. Ich wurde z.B. von einem linken Kultursenator und seiner Staatssekretärin Mitte der Nullerjahre verpflichtet. Etwa zur gleichen Zeit wurde auch Kirsten Harms zur Intendantin der Deutschen Oper Berlin, dem größten Berliner Opernhaus, berufen. Von sechs Leitungsposten in der Berliner Opernlandschaft wurden also gleich zwei auf einmal an Frauen vergeben. Dass Kirsten Harms wiederum nach vergleichsweise kurzer Zeit von den darauffolgenden Kulturpolitikern, zwei Männern, abberufen wurde, hat womöglich auch damit zu tun, dass sie eine Frau ist. Man mag Kirsten Harms’ künstlerisches Profil und gewisse Entscheidungen kritisch sehen. Dennoch war sie und ihr Programm sowohl intern als auch beim Publikum beliebt. Sie war in gewisser Hinsicht nicht weniger erfolgreich – weder künstlerisch noch in Zahlen – als viele männliche Kollegen, die sich weit länger auf solchen Posten halten. Und doch wurde ihr dieser Erfolg nicht zugeschrieben. Meinen Erfahrungen nach ist man allerdings erst dann tatsächlich erfolgreich, wenn man nicht nur den Fakten nach
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erfolgreich ist, sondern auch als solches von der Öffentlichkeit und der Kulturpolitik wahrgenommen wird. Heißt das, dass mehr Frauen in politische Entscheidungspositionen gebracht werden müssten, damit auch mehr Frauen auf den Leitungspositionen von großen Theaterbetrieben landen? Moser: Das kann auf jeden Fall ein Schlüssel sein. Wesentlich wichtiger scheint mir allerdings, die Haltung der jeweiligen politischen Entscheidungsträger*innen zu sein. Manch einem männlichen Politiker sind die personelle Vielfalt und die Frauenförderung weit größere und ernsthaftere Anliegen als weiblichen Entscheidungsträgerinnen. Vielleicht lässt sich sagen: Je weltoffener und liberaler die Politiker*innen sind, desto mehr liegt ihnen an der Frauenförderung. Das erlebe ich in Berlin genauso wie in Wien. Nun bist Du als Geschäftsführende Direktorin selbst in einer Führungsposition mit weitreichenden Entscheidungsbefugnissen und Personalverantwortung. War Dir Frauenförderung – oder allgemeiner – das Thema Gender in den letzten Jahren an der Komischen Oper Berlin ein Anliegen? Moser: Ja. Dabei geht es mir vor allem um Vielfalt. Wenn Besetzungen auf der von Männern dominierten Leitungsebene anstehen, z.B. die Abteilungsleitungen hier im Haus, dann heißt das sicherlich, mitunter Frauen gezielt anzusprechen und zum Karriereschritt zu ermutigen. Aber in anderen Bereichen, in denen vornehmlich Frauen arbeiten, favorisiere ich im Sinne der Diversität auch Männer. Es kommt mir mehr auf eine Gender-Diversität als auf die Förderung nur eines Geschlechtes an. Letztlich liegen die abteilungsbezogenen Personalentscheidungen allerdings bei den Abteilungsleiter*innen, die ihre jeweiligen Mitarbeiter*innen nicht nur nach Kompetenzen, sondern auch nach sozialen Gesichtspunkten auswählen. Ich beobachte, dass die jeweilige Entscheidung häufig auch für das sozial Vertraute fällt: Männer wählen eher männliche Mitarbeiter aus, Frauen eher weibliche. Einerseits halte ich es für wichtig, die Abteilungsleiter*innen ihre Mitarbeiter*innen auswählen und ihnen auch den Spielraum für eigene Personalentscheidungen zu lassen. Andererseits versuche ich aber auch, die Auswahlprozesse in Hinblick auf Diversität zu steuern. Da ich den Abteilungsleiter*innen keine Quote auferlegen und sie auch nicht überstimmen möchte, kommt es vor, dass eine Personalentscheidung entgegen meinem Wunsch nach Diversität getroffen wird. Allerdings
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gelingt es mir auch immer wieder, die Abteilungsleiter*innen von einer Neubesetzung nach Diversitätskriterien zu überzeugen. Ich weise also auf Diversitätsaspekte hin, diskutiere sie mit den Abteilungsleiter*innen und moderiere die entsprechenden Bewerber*innen an, ohne von den Abteilungsleiter*innen zu verlangen, ihre Entscheidungen zu 100 Prozent danach zu richten. Welche Bereiche der Komischen Oper Berlin sind bereits gendergerecht besetzt? Wo siehst Du Nachholbedarf? Moser: Viele Opern- und Konzerthäuser haben in ihren Orchestern einen hohen Männeranteil. U.a. mit anonymisierten Probespielen hinter Vorhängen versuchen sie dagegen zu steuern. Wir haben dieses Problem nicht. Die Frauenquote unseres Orchesters, vor allem auch bei den Stimmführer*innen, also in »Führungspositionen«, ist hoch. Wie bereits erwähnt, sehe ich eher Handlungsbedarf bei den Abteilungsleiter*innen, die noch überwiegend männlich besetzt sind, oder bei der Technik. Gerade in Bereichen wie Licht, Ton und Video verstehe ich überhaupt nicht, warum es so gut wie keine Frauen gibt. Das versuchen wir gerade anzugehen. So haben wir seit dieser Spielzeit z.B. eine neue Mitarbeiterin in der Tonabteilung engagiert, die bislang ausschließlich aus männlichem Personal bestand. Wir haben uns einstimmig für sie entschieden, nicht nur, weil sie eine Frau ist, sondern vor allem auch, weil ihr Lebenslauf für sie sprach. Die politische Debatte dreht sich immer wieder um den Gender-Pay-Gap, also um die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen bei gleicher Arbeitsleistung. Als Geschäftsführende Direktorin bist Du u.a. für die Finanzen zuständig und führst auch Gagenverhandlungen. Spielt der Gender-Pay-Gap auch an der Komischen Oper Berlin eine Rolle? Moser: Zunächst einmal erlebe ich Männer und Frauen sehr unterschiedlich in Gagenverhandlungen. Frauen fordern meist deutlich weniger Geld als Männer und geben sich auch mit deutlich niedrigeren Gagen zufrieden. Häufig nehmen Frauen bereits das erste Angebot an, das ihnen ein Arbeitgeber anbietet, auf dessen Basis allerdings eigentlich mehr Gage verhandelt werden könnte. Wohingegen Männer gewisse Honorare einfach abschlagen. Ich würde mir von Frauen wünschen, dass sie ihrer eigenen Arbeit einen höheren Wert beimessen und selbstbewusster auftreten. Das Gleiche gilt für die eigenen Kompetenzen. Viele Frauen, die sich für Führungspositionen bewerben, treten oft unsicher auf, äußern Zweifel, ob sie den Aufgaben, die an sie gestellt werden, überhaupt gewachsen sind. Männer hingegen
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behaupten viel häufiger, etwas zu können, was sie noch nie gemacht haben. Interessanterweise habe ich es selten erlebt, dass Frauen in Führungspositionen nicht das leisten, was sie vorgeben zu können – bei Männern hingegen des Öfteren. Wenn Frauen in einer Führungsposition angekommen sind, dann müssen sie richtig gut sein. Ausnahmen bestätigen natürlich in beiderlei Hinsicht die Regel. Steuerst Du in Gagenverhandlungen wie in den Personalentscheidungen manchmal gegen? Moser: Ich frage in Verhandlungen prinzipiell nach den jeweiligen Gagenvorstellungen. Frauen verlangen mitunter weniger als das Minimum, mit dem ich in die Verhandlung gehe. Daher habe ich schon häufiger die Gage von mir aus erhöht, da ich nicht wollte, dass die entsprechenden Frauen bei gleicher Leistung weniger verdienen als die männlichen Kollegen. Ich versuche darauf zu achten, allerdings sind viele Aufgaben in einem Kulturbetrieb nicht vergleichbar. Häufig wird bei Diversitätsthemen die freie Szene als Vorbild genannt. Hier gibt es mehr Künstlerinnen, mehr Intendantinnen etc. Was machen eigentlich die großen Kulturinstitutionen bezüglich der Genderfrage richtig bzw. vielleicht sogar besser? Moser: Ich glaube, dass Häuser wie die Komische Oper Berlin, die sich dezidiert um Vielfalt im Programm, im Publikum und im Personal bemühen, nicht nur bezüglich Gender, sondern insgesamt bezüglich Diversität mit Institutionen der freien Szene mithalten können, ja womöglich sogar vielfältiger sind. Denn das Personal und das Publikum solcher Häuser bilden oft einen breiteren Querschnitt der Gesellschaft ab, das Programm richtet sich häufig an einen breiteren Adressatenkreis. Wo gibt es zum Beispiel in der freien Szene eine solche Bandbreite an unterschiedlichen Altersklassen, an unterschiedlichen Milieus im Publikum, auf und hinter der Bühne wie z.B. an der Komischen Oper Berlin? Oder um noch auf einen weiteren Genderaspekt zu sprechen zu kommen: Wo lassen sich z.B. Beruf und Familie besser vereinbaren? Ab einer gewissen Größe erscheint es mir einfacher, den Bedürfnissen der Mitarbeiter*innen entgegenzukommen und sinnvoll Teilzeitarbeit zu organisieren. Dieser Vorteile muss man sich bewusst sein und auf dieser Basis die Vielfalt pflegen und weiter ausbauen. Hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie scheinen alle Kulturbetriebe noch Nachholbedarf zu haben …
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Moser: Das halte ich allerdings nicht nur für ein Problem der Kulturbetriebe, sondern für ein gesamtgesellschaftliches Problem. Eine Familiengründung erfordert es meist, dass eine*r der beiden Partner*innen weniger Zeit in die berufliche Karriere und mehr Zeit in die Familie steckt. Um eine Führungsposition einnehmen zu können, kann man sicherlich eine gewisse Zeit reduziert arbeiten – z.B. in der Elternzeit –, allerdings halte ich es über einen längeren Zeitraum hinweg für problematisch. Bei einem Kind mag es noch funktionieren, dass sich beide Elternteile auch beruflich verwirklichen. Bei größeren Familien fallen mir allerdings kaum Beispiele ein, in denen beide Elternteile Karriere machen. Für die meisten Frauen bedeutet dies nach wie vor, sich zwischen Familie und Karriere zu entscheiden, da die wenigsten Männer bereit sind, beruflich für die Familie zurückzustecken. Es gibt natürlich auch einige Beispiele, in denen Mütter Karriere machen – wie Ursula von der Leyen oder die BVG-Vorstandsvorsitzende Sigrid Evelyn Nikutta. Das sind allerdings meist Fälle, in denen die Frauen zum Zeitpunkt der Familiengründung auf der Karriereleiter bereits deutlich weitergekommen sind, weit mehr Karriereoptionen haben als ihre männlichen Partner und sich die Frage, wer mehr Zeit für die Familie investieren sollte, schon allein unter ökonomischen Gesichtspunkten kaum stellt. Stehen allerdings beide Partner*innen zum Zeitpunkt der Familiengründung auf der gleichen Karrierestufe oder sind die Frauen nur ein bisschen weitergekommen, erlebe ich es häufig, dass letztlich die Frauen sich um die Familie kümmern. Du hast gerade schon das Publikum angesprochen: Wie sieht es da mit der Geschlechterverteilung an der Komischen Oper Berlin aus? Moser: Wir haben deutlich mehr weibliche Besucherinnen, die auch häufig die Initiator*innen für einen gemeinsamen Opernbesuch sind. Dann scheint es ja so etwas wie einen Gender-Gap zwischen Führungspositionen im Kulturbetrieb und Publikum zu geben: Vornehmlich Männer am Dirigentenund Regiepult sowie in den Intendanzen, mehr Frauen im Publikum. Moser: Ja, die Motivationen und Haltungen von Publikum und Leitungspositionen in Kulturinstitutionen unterscheiden sich aber auch grundlegend. Opernbesucher*innen sind ja zuerst einmal interessiert an Oper, hier an der Komischen Oper meist auch neugierig und offen für Unerwartetes. Das trifft sicherlich auch auf viele Dirigent*innen, Regisseur*innen und Intendant*innen zu. Zusätzlich sind für eine künstlerische Führungsposition noch ein Gestaltungswille, ein Machtanspruch und ein gewisser Mut erforderlich. Viele Frauen treten in diesen Punkten
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wesentlich moderater als Männer auf, sodass häufig der Führungsanspruch nicht wahrnehmbar wird. Dich würde ich auch im Umgang mit anderen Menschen und in Deiner Kommunikation eher als moderat beschreiben. Wie bist Du dann in diese Führungsposition gekommen? Wie gelangt man überhaupt mit einem moderaten Führungsstil in eine Führungsposition? Moser: Auch wenn ich vielleicht freundlich und weniger dominant wirke, weiß ich sehr wohl, was ich will und bin in meinen Entscheidungen klar. Allerdings musste ich mir auch viele Kompetenzen, die für eine Führungsposition wichtig sind, erarbeiten. Führung ist ja auch tatsächlich etwas, was man lernen kann und muss. Ich habe viel durch die Beobachtung u.a. von dominanten Männern in Führungspositionen gelernt. Deren Führungsstil erscheint mir vornehmlich geprägt von der europäischen Strategielehre, die auf einem eher militärischen, mitunter brachialen Ansatz basiert. Um ein Ziel zu erreichen, muss für die eigene Überzeugung gekämpft und müssen Barrieren durchbrochen werden. Viele dominante Führungskräfte – darunter nicht nur Männer, sondern auch Frauen – gehen häufig mit dem Kopf durch die Wand, um ans Ziel zu gelangen. Mich interessiert demgegenüber die asiatische Strategielehre, mit der sich der Philosoph Francois Jullien auseinandersetzt: Hier geht es nicht darum, Entscheidungen mit Gewalt herbeizuführen, sondern darum, eine schiefe Ebene zu erzeugen, sodass die Entscheidung quasi von selbst die richtige Richtung »hinunterrollt«. Wenn ich mit meinem Willen irgendwo nicht durchkomme, gebe ich weder mein Ziel auf noch setze ich es mit Brachialgewalt durch. Vielmehr trete ich einen Schritt zurück und überlege mir, wie ich die Ebene zum Kippen bringe, sodass die richtige Entscheidung von allein getroffen wird. D.h., ich gehe nicht in Konfrontation, sondern versuche z.B. für mein Anliegen offene Ohren zu finden, die mein Anliegen zu dem ihren machen und es als Fürsprecher*innen weitertragen, bis vielleicht diejenigen, die zu Beginn dagegen waren, von sich aus zu Fürsprecher*innen werden. Das ist meist ein längerfristiger Prozess, der allerdings ohne Gewalt funktioniert und meist wesentlich mehr Menschen mitnimmt. Manchmal lässt sich eine Ebene auch nicht sofort schief stellen bzw. man stößt auf große Ablehnung, sodass man nicht gleich weiterkommt. Da heißt es dann, gewisse Vorbereitungen zu treffen und abzuwarten, bis vielleicht später der richtige Zeitpunkt eintritt. Die asiatische Strategielehre denkt in größeren Bögen und längeren Zeiträumen. Geduld ist hier sehr wichtig. Und inwiefern sind es dann letztlich Deine Entscheidungen?
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Moser: Wenn der Entscheidungsprozess einmal in die für mich richtige Richtung einlenkt, ist es für mich nicht wichtig, dass die Entscheidung noch mit mir in Verbindung gebracht wird. Auch darin unterscheidet sich meiner Ansicht nach der asiatische Ansatz vom europäischen. Dominante Führungskräfte müssen am Ende eines Entscheidungsprozesses häufig darauf hinweisen, dass es eigentlich ihre Entscheidung gewesen sei, dass sie die Position ja von Anfang an vertreten hätten. Wichtig erscheint mir, noch einmal zu betonen, dass sich diese beiden Führungsstile, auch wenn Genderaspekte in sie hineinspielen, nicht klar einem Geschlecht zuordnen lassen. Studien haben z.B. gezeigt, dass auch viele männliche Führungskräfte einen eher introvertierten Führungsstil pflegen, auch wenn in der Öffentlichkeit vornehmlich die extrovertierten Konzernchefs wahrgenommen werden. In gewisser Hinsicht spricht das für die asiatische Strategielehre und dafür, dass Frauen nicht den dominanten Führungsstil mancher Männer nachahmen müssen, sondern auch mit einem moderateren Stil ans Ziel gelangen können. Das scheint mir für große Institutionen sowieso der bessere Weg zu sein. Denn in einem Kulturbetrieb wie der Komischen Oper Berlin kann man nicht nur das machen und durchsetzen, was man selbst will und für richtig hält, sondern man muss konsensual Entscheidungen treffen und möglichst viele Menschen im Prozess mitnehmen. Die Führung eines Kulturbetriebs dient nicht dem Selbstzweck, sondern der Schaffung des bestmöglichen Rahmens für die Entstehung von Kunst, für die Künstler*innen und ihre Arbeit. Und da die wichtigste Ressource eines Kulturbetriebs das Personal darstellt, gilt es, dieses sehr ernst zu nehmen, den Mitarbeiter*innen zuzuhören und sie einzubinden. Dafür erscheint mir ein kooperativer Führungsstil am geeignetsten. Das Interview wurde geführt am 22.02.2019
Tiefenstruktur und Tiefengestaltung Un/Doing Gender im deutschen Theaterbetrieb Ellen Koban
Der vorliegende Aufsatz wurde als Impulsvortrag für den Workshop Gender on Stage am 26. und 27. Mai 2018 an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg konzipiert. Er gibt eine thesenhafte Zusammenfassung der Forschungsergebnisse meiner Dissertationsschrift wieder, die kurz zuvor im Bielefelder transcript Verlag erschienen und im Rahmen der interdisziplinären, kultur- und sozialwissenschaftlich orientierten DFG-Forschergruppe 1939 Un/doing Differences an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz entstanden ist.1 Unter einer theater- und sozialwissenschaftlichen Perspektive setzte sich die in großen Teilen ethnografische Feldstudie mit Fragen nach den Ein- und Ausschlussmechanismen von Schauspieler*innen im deutschen Ensembletheater sowie mit den verschiedenen ›Spielweisen von Geschlecht‹ auf und hinter der Bühne auseinander. Dabei habe ich versucht, zwei forschungsleitende Stränge konstruktiv miteinander zu verknüpfen: die inhaltliche Untersuchung der Herstellung, Inszenierung, Stabilisierung und Destabilisierung von Geschlecht und Geschlechtsrollen im Theater mit der theoretischen und methodischen Rahmung des Forschungsfeldes durch ein dem Gegenstand angepasstes heuristisches Analyseraster. Denn je mehr ich mich damit beschäftigte, wie verschiedene Gender-Performances im theatralen Rahmen der Aufführung zwischen darstellenden und wahrnehmenden Akteur*innen in Szene gesetzt, außer Kraft gesetzt und kulturell betrachtet werden, desto stärker rückten die gegebenen Bedingungen, Strukturen und Traditionen des deutschen Stadt- und Ensembletheaters in den Blick.
1
Vgl. Koban, Ellen: Der Joker im Schauspiel. Zur Reproduktion und Transgression von Typen im deutschen Ensembletheater am Beispiel des Thaterduos Vontobel/Schulz, Bielefeld 2018.
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Pierre Bourdieus Feldanalyse bot mir schließlich jenes heuristische Instrumentarium, mit dem theoretisch wie auch empirisch erklärt werden konnte, wie bzw. auf welchen Analyseebenen Staging Gender funktioniert. Denn die Kategorie Geschlecht fungiert im sozialen und speziell im künstlerischen Feld des Ensembletheaters – ähnlich wie Humandifferenzierungen nach Alter oder Ethnizität – sowohl als eine Strukturkategorie als auch als relationale, hochgradig kontingente Kategorie: Das soziale Geschlecht von Figuren respektive Schauspielerinnen- und Schauspieler-Körpern auf der Bühne ist einerseits fest eingeschrieben in den Kanon tradierter dramatischer Theatertexte, andererseits lässt es sich durch performative Akte sozial wie theatral herstellen und durch ein Hoch- und Herunterfahren anderer Kategorien situativ verstärken oder auch ignorieren. So geht das kulturund sozialwissenschaftliche Theorem des »Un/doing Gender« von der Annahme aus, dass Humandifferenzierungen »grundsätzlich kontingent, deshalb aber keineswegs flüchtig oder beliebig [sind]. Sie verfügen über unterschiedliche Grade von Stabilität, mit denen sie sozial mehr oder weniger ausgestattet werden«.2 Wie sehr die Kategorie Geschlecht im Feld des institutionalisierten deutschen Ensembletheaters sozial ausgestattet sowie kulturell aufgeladen und performativ (re-)produziert wird, sollte die Analyse zur Reproduktion und Transgression von Typen im deutschen Ensembletheater darlegen.3 Untersucht habe ich dieses grundlegende Paradox im Theater zwischen Reproduktion und Transgression kultureller Kategorien4 auf drei unterschiedlichen, der Bourdieu’schen Feldanalyse entlehnten Ebenen: erstens auf der Makroebene des Feldes, das es in einem ersten Schritt zur Genese des Stadttheaters historisch zu rekonstruieren und zu rahmen galt; zweitens auf der Mesoebene der Organisation von (Stadt-)Theaterbetrieben mit Blick auf die Ensemblepraxis; drittens auf der Mikroebene des Theatermachens, das am Beispiel unterschiedlicher Regie- und Probenarbeiten von Regisseur Roger Vontobel mit Schauspielerinnen und Schauspielern am Schauspielhaus Bochum, speziell mit der Protagonistin Jana Schulz, beobachtet und in der Konsequenz als Produktions- und Subjektivationsprozess von (Anti-)Typen analysiert wurde.
2
Hirschauer, Stefan/Boll, Tobias: »Un/doing Differences. Zur Theorie und Empirie eines Forschungsprogramms«, in: Stefan Hirschauer (Hg.), Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung, Weilerswist 2017, S. 7-26, hier S. 13f.
3
Vgl. E. Koban: Der Joker im Schauspiel.
4
Vgl. Kreuder, Friedemann: »Theater zwischen Reproduktion und Transgression körperbasierter Humandifferenzierungen«, in: Stefan Hirschauer/Tobias Boll (Hg.), Un/doing Differences, S. 234-258.
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Nachfolgend werden die Ergebnisse der ethnografischen Feldstudie in Ausschnitten und Thesen vorgestellt. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach dem Verhältnis von Struktur und Praxis, von Tiefenstruktur und Tiefengestaltung, das zwischen der Makro-, Meso- und Mikroebene im Theaterbetrieb changiert und tief in die Besetzungs-, Inszenierungs-, Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken des deutschen Stadt- und Ensembletheaters eingeschrieben ist.
THESE 1: KÖRPER-KAPITAL DES SPRECHTHEATERS In der Analyse der Produktion und Subjektivation/Subjektivierung5 von Schauspielerinnen und Schauspielern konzentrierte sich die Untersuchung auf die Sparte des Sprechtheaters und damit auf einen – auch institutionell – eingegrenzten Teilbereich des Stadttheatersystems. Diese Fokussierung war nicht allein dem Kriterium der Durchführbarkeit des Vorhabens hinsichtlich der empirischen Arbeitsweise geschuldet, sondern vielmehr durch die Spezifik der jeweiligen darstellenden Kunstform begründet. Anders als etwa im Musiktheater, wo Opernpartien primär durch in Fächer eingeteilte Stimmen zur Aufführung gebracht werden, werden Figuren im Schauspiel – abgesehen von wenigen Ausnahmen aus dem Bereich des Figuren- oder Objekttheaters – im Darstellungsmodus verkörpert. Figuren- respektive Schauspieler*innen-Körper gehen hier in sich gegenseitig verstärkender, neutralisierender oder kontrastierender Weise eine während des Darstellens und Zuschauens imaginative oder bereits im Vorfeld – bei der Besetzung von Schauspieler*innen für bestimmte Figuren – imaginierte Beziehung ein. So basiert die Kommunikation im Sprechtheater stärker als im Musiktheater oder im Tanz nach wie vor – selbst noch in postmodernen und postdramatischen Zeiten – auf der »Idee der Identifikation«6 sowohl zwischen Schauspieler*in und Rolle
5
Mit den meist im Doppel verwendeten Termini der Subjektivation/Subjektivierung übernehme ich die von Andrea Bührmann und Werner Schneider vorgeschlagene, analytische Perspektivierung beider Begriffe: Mit Blick auf Subjektivationsprozesse werden »diskursiv produzierte und vermittelte normative Vorgaben zu Subjektformierungen/Subjektpositionierungen« fokussiert; der Begriff Subjektivierung betont habitualisierte »Subjektivierungsweisen als formierende und darstellende Praktiken des ›Selbst-Verständnisses‹ und ›Selbst-Verhältnisses‹ von Subjekten«. Bührmann, Andrea/Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008, S. 69.
6
Lehmann, Hans-Thies: »Schauspielen zwischen Drama und Postdramatik«, in: Klaus Dermutz (Hg.), Next Generation, Wien 2009, S. 13-24, hier S. 16.
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als auch zwischen Bühne und Publikum, die es primär über durch Sprache und Körper dargestellte Figuren zu vermitteln versucht.7 In seiner Körper- und Sprachfixierung zu Identifikationszwecken zeichnet sich das Feld des deutschen Sprechtheaters als relativ autonome Handlungssphäre innerhalb des Gesamtkomplexes der darstellenden Künste aus: Mit der Fokussierung auf die Körperlichkeit von Schauspieler*innen grenzt es sich einerseits von der dominierenden Stimmgewalt im Musiktheater ab. Darüber hinaus behauptet es hinsichtlich der Idee der Identifikation mit und Projektion von Figuren kontinuierlich seine im Feld der Kulturproduktion hegemoniale Position als genuin bürgerliche Kunst gegenüber Formen der Performance Art oder Tanzkunst. Im Spannungsfeld von künstlerischen und nichtkünstlerischen Praktiken liegt das vielseitig einsetzbare Kapital des Schauspieler*innen-Körpers begründet, welches den Markt des Sprechtheaters reguliert. Als wesentliche Ressource von Berufsschauspieler*innen fungiert der Körper nicht allein als eine kulturelle Entität. In Bezug auf die erfolgreiche Ausübung des Berufes bedeutet er ebenso ein ökonomisch, sozial und erotisch verfügbares, hochgradig ästhetisches Kapital. Betrachtet man die Körper von Schauspieler*innen vor diesem Hintergrund zudem als »materialisierte Produktionsmittel«8 eines (nicht-)künstlerischen Produktionsprozesses, werden hinsichtlich der Subjektivation von Schauspieler*innen Fragen nach deren Konsekration und Distribution innerhalb des Feldes virulent. Betrachtet man das deutsche Stadttheatersystem als »Re/produktionsmaschine körperbasierter Humandifferenzierungen«9, heißt dies somit zugleich, sich
7
Die Verwendung des theaterwissenschaftlichen Begriffs der Figur soll grundlegend auf den performativen Akt der Herstellung verweisen, der in theatral gerahmten Situationen – unabhängig von sogenannten identitären oder nicht-identitären Spielformen – die Ambivalenz von Schauspielerinnen und Schauspielern zwischen Repräsentation eines fiktiven und Präsentation eines realen Körpers konstituiert.
8
Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. D.: »Die Logik der Felder«, in: Dies. (Hg.), Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main 1996, S. 124-147, hier S. 132.
9
Vgl. F. Kreuder: Theater zwischen Reproduktion und Transgression körperbasierter Humandifferenzierungen, S. 234-258.
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»mit den Gesetzen [zu] befassen, gemäß derer die Strukturen die Tendenz haben, sich dadurch zu reproduzieren, dass sie Vermittler produzieren, die mit dem Dispositionssystem versehen sind, das in der Lage ist, den Strukturen angepasste Praktiken zu erzeugen, und damit dazu beiträgt, die Strukturen zu reproduzieren.«10
THESE 2: WIEDERHOLBARKEIT DER ENSEMBLESTRUKTUR Heutige Ensembles an Staats-, Stadt- und Landestheatern weisen noch eine ähnliche Struktur wie die Ensembles des bürgerlichen Theaters aus dem 19. Jahrhundert auf – inklusive Rollenfachsystem und Besetzungsschlüssel im Geschlechterverhältnis. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, habe ich mir – parallel zu einer Befragung von Intendant*innen, leitenden Dramaturg*innen, Vermittler*innen der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) – die historische Entwicklung des Ensembleprinzips aus der Tradition und Konvention des Rollenfachs heraus genauer angesehen. Literatur- und theaterhistorisch betrachtet, war dabei zwar klar, dass das Rollenfachsystem als theatrale Konvention die Aufführungs- sowie Ausbildungspraxis im 18. und noch im 19. Jahrhundert organisierte. Auf welche Weise es sich im 19. Jahrhundert jedoch weiterentwickelte und bis ins 20. und 21. Jahrhundert einlagerte, war in diesem Zusammenhang noch nicht untersucht worden. So konnte ich zeigen, dass ein ganz bestimmtes Medium, nämlich der Wolff’sche Almanach für Freunde der Schauspielkunst11, seit Mitte der 1830er Jahre als Ordnungs- und als Vermittlungsinstrument sowohl für Theaterdirektor*innen als auch für die neu hinzukommende Berufsgruppe von Agent*innen diente. Dabei kategorisierte das Fach – als Parameter im Almanach und in den Verträgen des 19. sowie beginnenden 20. Jahrhunderts – Schauspieler*innen nach dramatischen Figurentypen; es klassifizierte sie darüber hinaus hierarchisch im Ensemble und im gesamten Feld des sich konstituierenden Stadttheaters. Durch das Medium des Almanachs sowie die Vermittlungspraxis fand zunächst eine starke Institutionalisierung des Faches statt, bis es als Ergebnis aus
10 Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean-Claude: »Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt«, in: Dies. (Hg.), Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, Frankfurt am Main 1973, S. 7-87, hier S. 92. 11 Wolff, Ludwig (Hg.), Almanach für Freunde der Schauspielkunst, Berlin 1836-1853.
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dem sogenannten »Kampf um das Fach«12 zwischen dem Deutschen Bühnenverein und der Genossenschaft deutscher Bühnenangehörigen im Normalvertrag von 1924 erneut de-institutionalisiert wurde. Ab 1924 lässt sich folglich von einer schwachen Institutionalisierung sprechen, da das Rollenfach seither in das implizite, praktische Wissen verlagert worden ist, wo es bis heute nicht nur schlummert, sondern quasi als »Negativfolie« immer wieder explizit hervorgeholt und aktualisiert wird. Wie nicht nur die empirische Interviewstudie mit Theatermacher*innen,13 sondern auch die in den letzten Spielzeiten wieder aufgeflammte Diskussion zu Auflösung oder Aufrechterhaltung der auf Fächern und (Stereo-)Typen basierenden Ensemblestrukturen erkennen lassen, wird dem Ensemble in seiner Funktion als Betriebssystem des Stadttheaters eine zentrale Bedeutung sowohl auf theaterpraktischer als auch kulturpolitischer Ebene beigemessen. Das Ensemble ist in diesem Sinne nicht nur das ›Herz des Theaters‹, sondern verkörpert die »illusio«14 des Systems schlechthin: Es bietet Vertrautheit in der Wiedererkennung, Vergleichbarkeit von Leistungen und Besetzungsentscheidungen; es schreibt (wie das Stadttheater als Ganzes) seine eigene, miterlebbare Geschichte als Erzählung durch das lokale Publikum fort.15 Die Analyse der Interviewstudie mit Verantwortlichen der Ensemblezusammenstellung brachte genau dieses Ergebnis hervor: Vertreter*innen von Stadt-, Staats- und Landestheatern verweisen auf jenen »Schlüssel« im Geschlechterverhältnis aus dem 19. Jahrhundert von 60 Prozent Herren zu 40 Prozent Damen und
12 Doerry, Hans: Das Rollenfach im Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts, Berlin 1926, S. 118. 13 Vgl. E. Koban: Der Joker im Schauspiel, S. 175-213. 14 Nach Pierre Bourdieu ist mit dem Begriff »illusio« das spezifische Interesse eines jeden Feldes gemeint, das, worum in einem bestimmten sozialen Feld gekämpft wird. Durch die »illusio« werden die Regeln des Feldes definiert. Anstelle von festgeschriebenen Spielregeln seien in sozialen Feldern jedoch eher »Regularitäten« am Werk, »die nicht expliziert und kodifiziert sind« und doch zugleich das Ziel des Spiels bestimmen. Vgl. P. Bourdieu/L. J. D. Wacquant: Die Logik der Felder, S. 127. 15 Das Ensemble muss aufrechterhalten werden, weil es die Verbindung zwischen Theater, Stadt und Stadtgesellschaft (und damit die kommunale Finanzierung legitimierend) möglich macht – so lässt sich aus Perspektive der ›orthodoxen‹ Position argumentieren. Es muss aufgelöst werden, weil es keine Freiräume, sondern Abhängigkeiten schafft und den rezipierenden Blick zugunsten einer vermeintlich notwendigen Identifikation verengt – so lässt sich aus Perspektive der ›Häretikerinnen‹ und ›Häretiker‹ die kritische Position formulieren.
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der Begriff des »Typs« als Schnittstelle zwischen literarischen, bürgerlichen Typen und phänomenologischen Typen besteht fort. Bezogen auf die konkrete Auswahl und Aufstellung des (Stamm-)Ensembles ließ sich hierbei erkennen, dass primär die Kriterien bzw. Kategorien Alter und Geschlecht sowie Attraktivitätsnormen in einem relationalen, häufig heteronormativen Verhältnis zueinander die konkrete Ensemblefindung und Ensemblezusammenstellung bei Beginn einer neuen Intendanz wie auch bei Nachbesetzungen im Ensemble bestimmen. So pragmatisch, so standardisiert zunächst das Casting für den sogenannten »Grundstock« oder das »Stammensemble« im Alltagsgeschäft des Theaterbetriebs erscheint, so individuell und persönlich gestaltet sich wiederum – zumindest im Umfeld des von mir untersuchten Theaterduos Vontobel/Schulz – die tägliche informelle Arbeit am Theater.
THESE 3: AUSBRECHEN DURCH EINBEZIEHEN Innerhalb des sozialen Feldes des deutschen Stadttheaters ist ein Ausbrechen aus der (Ensemble-)Struktur erst im Produktions- und Probenprozess möglich. Wie sich am Beispiel der Zusammenarbeit von Roger Vontobel und Jana Schulz zeigen lässt, kann dies durch ein persönliches Hineinholen der Schauspieler*innenpersona in ihre jeweilige Rolle – auch Geschlechtsrolle – auf der Bühne geschehen. Im dritten und abschließenden Teil der Forschungsarbeit habe ich mich in den Mikrokosmos begeben und die subjektivierenden und zugleich subversiven Effekte im Feld des Stadttheaters am konkreten Fall ›Schulz‹ untersucht. Dieser stellt sich insofern als ein Sonder- oder Spezialfall im Betriebssystem dar, weil sich mit Blick auf die Schauspielerin Jana Schulz ein sogenanntes Blending, eine längerfristige Beziehungsgeschichte und ein Überblenden von der Schauspieler*innenpersona und den fiktiven, von ihr bislang dargestellten und vielfach männlichen Figuren, mit einem Genderblending, der Vermischung/Verwischung/Veruneindeutigung von geschlechtlichen Codes, in der Rezeption ihrer Rolle(n) verschränken. Ein Einblick in die Probenarbeit und die Zusammenarbeit von Roger Vontobel und Jana Schulz soll in Ansätzen zeigen, wie sich die Verbindung von Blending (Einswerden mit den Rollen) mit einem damit einhergehenden Genderblending vollzieht und die Transgression von geschlechtlichen (Stereo-)Typen geschieht. Im Rahmen meiner Feldforschung konnte ich 2014 und 2015 drei Produktionen in Bochum begleiten; vor allem eine Produktion und Probenphase ist dabei stark in Erinnerung geblieben, aus der auch die nachfolgenden Ausführungen
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stammen. Jana Schulz war darin – ganz entgegen ihrer schauspielerischen Biografie – nicht männlich, sondern ›klassisch weiblich‹ besetzt, als Käthe Vockerat nämlich, die frisch gebackene, junge Erstlingsmutter in Gerhart Hauptmanns Stück Einsame Menschen, die sich in der neuen Rolle als Mutter zunehmend befremdet, vielleicht überfordert, in jedem Fall emotional und sozial ausgeschlossen fühlt. Wollte man die Arbeit(en) Vontobels unter einen Begriff fassen, dann ließe sich von einer ›dramaturgischen Regiekonzeption‹ sprechen. Bei Vontobel nehmen Schauspieler*innen eine dramaturgische Position im Inszenierungsgefüge ein; dabei inszeniert er Stücke gerade nicht über Figuren, sondern über bestimmte Schauspieler*innenpersonae, mittels derer die fiktiven Figuren eine meist weit über die Rollenanlage im Stück hinausgehende »Menschwerdung« – eine, wie er es nennt, »Tiefengestaltung der Figuren«16 – erfahren. In Bezug auf die Besetzung der Figur Käthe durch Jana Schulz sprach Vontobel in einem längeren Interview dann auch davon, dass die Figur Käthe die Schauspielerin Jana Schulz brauche: »dass diese Figur modern und heutig und auch stark werde«17. Wer schon einmal Vontobel-Inszenierungen gesehen hat, weiß, dass dieser durch den Einsatz von Live-Musik, von Videos und abstrakten, bildstarken Bühnenräumen zwar durchaus einzelne surrealistische Elemente auf Inszenierungsebene verwendet, jedoch auf Ebene des Spiels/Schauspiels eher eine identitäre und psychologisch-realistische Darstellung verfolgt. Für das Spiel von Jana Schulz gilt, dass diese im emotionalen und körperlichen Vollzug von (Sprech-)Handlungen immer eine »Connection«18 zu ihren Figuren sucht, wie sie nicht nur im Interview äußert, sondern wie sich auch implizit wie explizit während des Probenprozesses und in einer ausdauernden sowie anstrengenden und verärgernden Suche nach einem in sich ›stimmigen‹ Figurenkörper zeigt. Dabei geht es ihr gerade nicht um das Herstellen eines abgeschlossenen, immer gleich reproduzierbaren Produktes ›Käthe‹, sondern um ein (Wieder-)Erleben von permanent neuen dramatischen und interaktiven Situationen im theatralen Raum der Proben und der daran anschließenden Aufführungen. Je nach Probensituation bzw. Veränderung der Situation kann es für sie momentweise »ganz schwierig [sein], da hin zu kommen, in diesen [je spezifischen] Zustand«19 der Figur, der aber seitens der Schauspielerin
16 Roger Vontobel im Interview, vgl. E. Koban: Der Joker im Schauspiel, S. 230. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 229. 19 Ebd., S. 256.
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erlebt werden will, sogar erlebt werden »muss«, denn da möchte Jana Schulz »hinkommen«: »[D]ann weiß ich, dass diese Figur auch ein Mensch wird und eine Seele bekommt.«20 Schauspieltheoretisch ließe sich demnach im sogenannten StanislawskiSystem und einer damit verbundenen psychologisch- oder besser psychophysischrealistischen Spielweise eine Voraussetzung für das Verschmelzen zwischen Person und Bühnenfigur finden. In der Verbindung zu Regisseur Roger Vontobel liegt der Fall aber komplexer und paradoxer, wie die (Proben-)Arbeit zu Einsame Menschen im Gesamten vermittelt: Denn Vontobel hält während der Proben erstens eine ganze Reihe an »Einfühlungsverhinderungsmechanismen«21 für die Schauspieler*innen bereit und arbeitet zweitens simultan an einer ganz eigenen, sinnlichen Welt der Inszenierung. Neben dem Einsatz theatraler Mittel, wie den musikalischen und ton-/technischen (Stör-)Elementen, sind als Einfühlungsverhinderungsmechanismen beispielsweise auch Regieanweisungen Vontobels zu verstehen, welche die Person und deren Situation (in der Probe oder in einem anderen Kontext) betreffen, wie auch die sichtbare und spürbare Präsenz der Mitspielerinnen und Mitspieler durch die Einführung eines ko-aktiven Spielprinzips. All dies sind inszenierungs- und schauspielästhetische Strategien, die zwar das Erleben der vorgeschlagenen Situationen auf der (Probe-)Bühne intensivieren, jedoch immer zugleich – bewusst oder unbewusst – die eigene Person bzw. das »persönliche Wollen«, wie Vontobel im Interview selbst sagt, mitreflektieren. Sein Konzept und seine Methode bezwecken folglich nicht ein Aufgehen im Sinne eines Auflösens in der Rolle, sondern ein Hineinholen der Schauspieler*innenpersonae in die Zustände, Texte und Körper der Figuren – und zwar so, dass deren ›Spur‹ sichtbar bleibt. Das ›Medium‹ Schauspieler*in trägt in der Vontobelʼschen Regiekonzeption somit nicht nur einen Fremdtext, sondern zugleich Eigentext weiter; die dargestellte Bühnenfigur ist nicht der Körper eines Anderen, sondern der Andere im eigenen Körper. Es ist also kein Wunder, dass die Suche nach diesem Anderen im Eigenen moment- oder phasenweise ebenso zu einem Fremdeln mit einer – in der Art – fremd gewordenen Körperlichkeit des eigenen Körpers führen und der Akt der schauspielerischen Ver-Körperung in den Augen von Zuschauerinnen und Zuschauern sogar misslingen kann, wie etwa eine Theaterkritik von Anke Dürr vermittelt, die das Fremdeln Jana Schulz’ mit der
20 Ebd., S. 259. 21 Ebd.
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Rolle der Käthe beschreibt.22 Dabei meint sie jedoch mehr oder anderes als die tiefe professionelle Auseinandersetzung von Schauspielerin und Figur: »Jana Schulz als Käthe ist, das muss man leider so sagen, eine Fehlbesetzung. Dass ihre Körpersprache, angefangen bei der Sitzhaltung, so gar nicht zu dem Etuikleid passt, in das man sie gesteckt hat, ist nur eine Ungenauigkeit. Aber sie vermittelt auch kaum etwas von dem Leiden der depressiven, überängstlichen Mutter, eher vom Fremdeln mit der Rolle. «23
Genau hier, im öffentlichen Darstellen der Figuren in der theatralen und sozialen Situation der Aufführung, bricht erneut die Struktur, das heißt die Wahrnehmungsstruktur, über den individuellen Prozess der Tiefengestaltung herein. Wahrgenommen wird von einem Teil des Publikums nicht nur die schauspielerische Leistung, sondern eine leibliche Inkongruenz und geradezu ein soziales Fehlverhalten von Figur und Person in der Darstellung ihrer (Geschlechts-)Rolle.
SCHLUSSBEMERKUNG Im Rahmen meiner Forschungsarbeit zeigte sich, dass nicht nur Bühnenfiguren, sondern auch Schauspieler*innen »haunted«24, also heimgesucht, werden von dem Vorwissen und den Erwartungen, zugleich Phantasmen seitens des Publikums, die stark durch vorgehende Rollendarstellungen und Rezeptionen von Schauspieler*innen geprägt scheinen. Auch deshalb, weil sie in ihrer Doppelgestalt aus Leib und Zeichenkörper exemplarisch als »visual subject«/»visuelle Subjekte«25 fungieren, deren Körper in visuelle, mediale und ästhetische Diskurse eingebunden sind, durch welche sie im Feld des deutschen Stadt- und Ensembletheaters nicht nur kategorisiert und differenziert, sondern insbesondere subjektiviert werden. Aufgrund der spezifischen (Berufs-)Situation von Schauspieler*innen, den eigenen Körper nicht nur als kulturellen, sondern in verstärktem Maße als sozialen und
22 Vgl. Dürr, Anke: »Familiendrama im Theater«, Siehe www.spiegel.de/kultur/ gesellschaft/hauptmann-inszenierungeinsame-menschen-am-schauspielhaus-bochuma-1001879.html vom 10.11.2014. 23 Ebd. 24 Carlson, Marvin: The Haunted Stage. The Theatre as Memory Machine, Ann Arbor 2013, S. 15. 25 N. Mirzoeff zitiert nach Marx, Peter W.: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900, Tübingen 2008, S. 55.
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ästhetischen »Aus- und Aufführungsort«26 zu erfahren und zur Disposition zu stellen, sind im theatralen Rahmen – mehr noch als im alltäglichen – die Übergänge zwischen Persona, Typ und Figur fließend, schließlich fallen, wie anhand der Persona Schulz exemplarisch veranschaulicht werden konnte, »[i]m Habitus […] Merkmale der Person und des Systems zusammen«27. Die dramaturgische, konzeptionelle Funktion, welche für die Besetzung von Jana Schulz im Kontext der Vontobel’schen Regiearbeiten charakteristisch ist, lässt sich abschließend um eine symbolische Dimension erweitern, die nicht nur Stück und Figurenkonstellation – arbiträr zur erwarteten und erwartbaren Spielrichtung – neu justiert, sondern davon ›Abweichendes‹ in sie hineinprojiziert. So ist die ›Persona Schulz‹ mit einem zwischen den Geschlechtern oszillierenden Habitus vergleichbar, der ein altes Fach, nämlich die Hosenrolle, in neuem Gewand und zeitgenössischem Kontext kreiert – es ist die kategorial unbestimmbare, wandelbare Joker-Position im Ensemble, welche die standardisierte, nach Geschlecht, Alters- und Attraktivitätsgraden differenzierte Ensemblekonfiguration zu überschreiten und neue, überraschende Sinnhorizonte in der Fantasie der Produzent*innen und der Rezipient*innen zu eröffnen vermag.28 Der Joker im Schauspiel offenbart damit eine kontingente, im Moment seines Wirkens stets widerständige Gestalt. In seiner Funktion als Anti-Subjekt führt der Joker hierbei nicht allein einen Wendepunkt im (Schau-)Spiel herbei. Er markiert und konturiert auf plastische Weise die Grenzen des Feldes und die Differenz zur – in diesem Fall – zweigeschlechtlich codierten Norm.
REFERENZEN Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. D.: »Die Logik der Felder«, in: Dies. (Hg.), Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main 1996, S. 124-147. Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean-Claude: »Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt«, in: Dies. (Hg.), Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, Frankfurt am Main 1973, S. 7-87. Bührmann, Andrea/Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008.
26 Reckwitz, Andreas: Subjekt, Bielefeld 2008, S. 87. 27 Faulstich, Peter: Menschliches Lernen. Eine kritisch-pragmatistische Lerntheorie, Bielefeld 2013, S. 197. 28 Vgl. E. Koban: Der Joker im Schauspiel, S. 296-306.
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Carlson, Marvin: The Haunted Stage. The Theatre as Memory Machine, Ann Arbor 2013. Doerry, Hans: Das Rollenfach im Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts, Berlin 1926. Dürr, Anke: Familiendrama im Theater. Siehe www.spiegel.de/kultur/gesellscha ft/hauptmann-inszenierungeinsame-menschen-am-schauspielhaus-bochum-a1001879.html vom 10.11.2014. Faulstich, Peter: Menschliches Lernen. Eine kritisch-pragmatistische Lerntheorie, Bielefeld 2013. Hirschauer, Stefan/Boll, Tobias: »Un/doing Differences. Zur Theorie und Empirie eines Forschungsprogramms«, in: Stefan Hirschauer (Hg.), Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung, Weilerswist 2017, S. 7-26. Koban, Ellen: Der Joker im Schauspiel. Zur Reproduktion und Transgression von Typen im deutschen Ensembletheater am Beispiel des Thaterduos Vontobel/ Schulz, Bielefeld 2018. Kreuder, Friedemann: »Theater zwischen Reproduktion und Transgression körperbasierter Humandifferenzierungen«, in: Stefan Hirschauer, Tobias Boll (Hg.), Un/doing Differences, S. 234-258. Lehmann, Hans-Thies: »Schauspielen zwischen Drama und Postdramatik«, in: Klaus Dermutz (Hg.), Next Generation, Wien 2009, S. 13-24. Marx, Peter W.: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900, Tübingen 2008. Reckwitz, Andreas: Subjekt, Bielefeld 2008. Wolff, Ludwig (Hg.), Almanach für Freunde der Schauspielkunst, Berlin 18361853.
»Sisters Are Doin’ It for Themselves«?1 Popmusikerinnen2 und ihre Strategien ökonomischer und ästhetischer Selbstbestimmung Katharina Rost
Nach dem Auftritt von Miley Cyrus bei den VMAs 2013 ging ein Aufschrei durch die feministisch orientierte Popmusikkritik und -forschung. Auf der einen Seite wurde ihr kulturelle Appropriation vorgeworfen, insofern sie mit ihrer vorrangig aus Twerking-Elementen3 bestehenden Choreografie wesentliche Aspekte gegen-
1
Der Titel stammt von einem 1985 veröffentlichten Popsong, der von Eurythmics (Annie Lennox und Dave Stewart) geschrieben und von Lennox gemeinsam mit Aretha Franklin gesungen wurde. Insbesondere die Lyrics (beispielsweise mit den Zeilen »Standin’ on their own two feet«, »The conscious liberation of the female state« oder »We got doctors, lawyers, politicians too«) manifestieren die feministische Haltung der Künstler*innen und rufen zu weiblichem Empowerment und Unabhängigkeit auf. Der Song war in den Charts (u.a. auf Platz 18 der US-amerikanischen Billboard Hot 100) sehr erfolgreich und wurde seither im popkulturellen Kontext häufig zitiert, wenn eine feministisch-kämpferische Einstellung zum Ausdruck gebracht werden sollte.
2
Entsprechend der eingangs zu diesem Sammelband dargestellten Gender-Schreibweise (vgl. Einleitung, Fn 1) sind, wenn im Folgenden von ›Sängerinnen‹ oder ›Frauen‹ die Rede ist, alle Personen gemeint, die sich als weiblich identifizieren.
3
Mit dem Begriff »Twerking« wird eine afro-amerikanisch geprägte, in den 1980er Jahren in New Orleans entstandene Form des Tanzens bezeichnet, die ursprünglich aus der Hip-Hop-Kultur des Bounce stammt und deren charakteristische Merkmale eine nach vorn gebeugte Haltung, gebeugte Knie, eine nach hinten ausgestreckte Hüfte sowie das Schütteln der Pobacken sind. Die Tanzenden führen die Bewegungen gewöhnlicher weise so aus, dass den Zuschauenden ihre Rückseite zugedreht ist. Twerking wurde aus
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wärtiger Schwarzer Kultur in Anspruch nahm, ohne dies entsprechend zu würdigen oder wenigstens zu kontextualisieren. 4 Auf der anderen Seite zeichnete sich damit ein weiterer Höhepunkt in der zunehmenden Sexualisierung und Pornografisierung der Popmusik ab, die zumeist speziell auf die Darbietung von Frauen gemünzt und Teil der sich ebenfalls wieder verstärkenden Hyperfeminisierung sind.5 Feministische Popmusiktheoretikerinnen und Musikerinnen regten sich über Cyrus’ Outfit und Tanzbewegungen auf,6 zeigten ihre Wut in kritischen Kommentaren – so u.a. Annie Lennox oder Sinéad O’Connor – und spekulierten sarkastisch, wie diese Performance wohl zu nehmen sei, denn ernst gemeint könne sie doch wohl nicht sein.7 Die Sängerin selbst wiederum verteidigte sich gegen all
der Perspektive einer feministisch geprägten Popmusikforschung kontrovers diskutiert : Vgl. z.B. Richardson, Elaine: »Developing Critical Hip Hop Feminist Literacies: Centrality and Subversion of Sexuality in the Lives of Black Girls«, in: Equity & Excellence in Education 46, 3 (2013), S. 327-341; Toth, Lucille: »Praising twerk: Why aren’t we all shaking our butt?«, in: French Cultural Studies 28, 3 (2017), S. 291-302; Lundy, April D.: »Caught Between a Thot and a Hard Place: The Politics of Black Female Sexuality at the Intersection of Cinema and Reality Television«, in: The Black Scholar 48, 1 (2018), S. 56-70. 4
Siehe
https://www.theguardian.com/commentisfree/2013/aug/27/miley-cyrus-twerk
ing-cultural-appropriation
vom 27.08.2013; https://thefeministwire.com/2013/08/
mileys-finger-is-pointing-at-you-stereotypes-plus-objectification-equals/ vom 29.08. 2013; http://www.independent.co.uk/artsentertainment/music/news/the-tongue-the tw erking-theteddy-outfit-should-someone-have-stopped-miley-cyrus-vmaperformance-8 785494.html vom 28.08.2013. 5
Vgl. u.a. Whiteley, Sheila: Too Much Too Young: Popular Music, Age and Gender, London 2005; Reitsamer, Rosa/Liebsch, Katharina: Musik. Gender. Differenz, Münster 2016; Schumacher, Jessica: Die Sexualisierung der Gesellschaft: Die zunehmende Präsenz von Sexualität in den Medien und Anforderungen an die Pädagogik, Hamburg 2015; Villa, Paula-Irene et al. (Hg.): Banale Kämpfe? Perspektiven auf Populärkultur und Geschlecht, Wiesbaden 2012; Lieb, Kristin J.: Gender, Branding, and the Modern Music Industry: The Social Construction of Female Popular Music Stars, New York 2013.
6
Nachdem sie sich eine Art silbernen Frottee-Badeanzug mit einem kindlich wirkenden Teddy-Aufdruck abriss, trug sie nun nur noch einen hautfarbenen Bikini, während sie in gebückter Haltung und breitbeinig vor ihrem Co-Sänger Robin Thicke stand und ihn rückwärts mit der Hüfte antanzte.
7
Siehe https://www.rollingstone.com/music/music-news/guest-op-ed-was-miley-cyrusvma-performance-a-parody-179935/ vom 27.08.2013.
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diese Angriffe durch den Verweis auf die sensationshungrige Popmusikindustrie, in der nur die ständige Steigerung und das gegenseitige Überbieten an Spektakulärem, Schockierendem, Überraschendem zähle. Um in diesem Bereich Geschichte zu schreiben, bedürfe es schon des Gewagten oder Tabuisierten – und insbesondere die VMA-Zeremonie ist tatsächlich berüchtigt für ihre provokanten Auftritte, die zumeist an gesellschaftliche Tabus rund um Vorstellungen von Gender/Sexualität/Femininität rühren, angefangen mit Madonnas berühmtem Hochzeitskleid-Bodenrollen 1984, Britney Spears’ Tanz mit einer echten Python 2001, Madonnas lesbischem Kuss mit Christina Aguilera und Britney Spears 2003 bis hin zu Lady Gagas Fleischkleid 2010 und ihrer Drag-Performance als Jo Calderone ein Jahr darauf.8 Seit Cyrus’ kontroversem Auftritt hat sich die mediale Aufmerksamkeit, noch verstärkt durch die 2017 aufkommende #MeToo-Debatte, auf den offenbar im Bereich der Popmusik weitverbreiteten Sexismus gerichtet. Darüber hinaus prangern auch international erfolgreiche Sängerinnen wie Dua Lipa, Annie Lennox, Halsey, Madonna, Lady Gaga, Lulu, Beyoncé, Pink, Sinéad O’Connor, Grimes, Björk, Janelle Monáe u.a. diesen Sachverhalt seit einigen Jahren offen an. Sie kritisieren vor allem die für Frauen geltenden besonderen Maßstäbe, an denen sich Bewertungen ihrer Performances orientieren, nämlich zumeist keine spezifisch musikalischen oder ästhetischen, sondern vorrangig soziokulturelle Wertvorstellungen stereotyper Weiblichkeit zwischen erwünschter Freizügigkeit und gebotenem Anstand.9
8
Siehe https://www.independent.co.uk/arts-entertainment/music/news/miley-cyrus-de fends-vma-performance-i-wanted-to-make-history-8797687.html vom 04.09.2013.
9
Janelle Monáe live bei der Grammy Awards-Zeremonie 2018: Siehe https://eu. usatoday.com/story/life/entertainthis/2018/01/28/janelle-monae-times-up-grammy/107 3781001/ vom 28.01.2018; Ariana Grande in Billboard Magazine 2018: Sieh e https://www.teenvogue.com/story/ariana-grande-called-out-music-industry-sexism-bi llboard-interview vom 5.12.2018; Dua Lipa in der BBC 2018: Siehe https://www. bbc.com/news/entertainment-arts-43584939 vom 29.03.2018; Annie Lennox im Independent 2017: Siehe https://www.independent.co.uk/arts-entertainment/music/ features/annie-lennox-eurythmics-nelson-mandela-dave-stewart-sweet-dreams-are-ma de-of-this-here-comes-the-a8040811.html vom 09.11.2017; Halsey 2017 in Teen Vogue: Siehe https://www.teenvogue.com/story/halsey-speaks-out-sexism-music vom 15.04.2017;
Pink
auf
Music-News.com
2017:
Siehe
http://www.music-
news.com/news/UK/110035/Pink- More-needs-to-be-done-to-tackle-sexism-in-music vom 20.12.2017; Grimes im Rolling Stone 2016: Siehe https://www.rolling stone.com/music/music-news/grimes-on-art-angels-follow-up-why-she-loves-tool-162 756/ vom 12.04.2016; Björk im The Guardian 2016: Siehe https://www.
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In meinen folgenden Ausführungen interessieren mich die von den Sängerinnen eröffneten Diskurse und Problemfelder in diesem Kontext sowie insbesondere die verschiedenen Strategien, die sie für sich entwickeln, um mit diesen sexistischen – oder sexistisch-rassistischen – Be- und Abwertungen umzugehen. Ein erster Abschnitt wird die in aktuellen Studien abgebildete Situation von Frauen im Popmusikgeschäft darstellen und daraus resultierende Fragen und Probleme ableiten, ein zweiter wird dann anhand von vier Beispielstrategien unterschiedliche Umgangsweisen und Antworten auf diese Aspekte aufzeigen.
STUDIEN ZU GENDER IM POPMUSIKGESCHÄFT Bei den Grammy Awards 2018 hielt die US-amerikanische Sängerin, Produzentin und Label-Gründerin Janelle Monáe im Rahmen ihrer Ankündigung des Auftritts von Kesha, die sich durch einen Gerichtsprozess gegen frühere sexuelle Übergriffe durch ihren Produzenten Dr. Luke wehrte, eine leidenschaftliche Kampfrede, deren zentrale Botschaft war: Die Zeit ist reif für Veränderung und für eine andere Machtpolitik in der Popmusikindustrie – »We say time’s up for pay inequality. Time’s up for discrimination. And time’s up for the abuse of power. You see, it’s not just going on in Hollywood. It’s not just going on in Washington. It’s (also) right here.«10 Der Vergleich mit Hollywood – ein direkter Verweis auf die Vorwürfe gegenüber dem Filmproduzenten Harvey Weinstein – deutet auf das
theguardian.com/music/2016/dec/21/ bjork-sexism-open-letter-music-industry-facebo ok
vom 21.12.2016; Madonna in Irish Times 2016: Siehe https://www.
irishtimes.com/culture/music/madonna-on-the-rules-of-the-music-industry-be-sexy-be -cute-don-t-age-1.2902919 vom 12.12.2016; Lady Gaga in Harper’s Bazaar 2015: Siehe https://www.harpersbazaar.com/celebrity/latest/a13319/lady-gaga-billboard-wo men-in-music-speech/ vom 13.13.2015; Lulu im Telegraph 2015: Siehe https:// www.telegraph.co.uk/news/celebritynews/11443429/Sexism-is-worse-in-the-music-in dustry-now-than-it-was-in-the-1960s-says-Lulu.html vom 01.03.2015; Beyoncé in The Guardian 2014: Siehe https://www.theguardian.com/music/2014/apr/09/beyonce-double-standard-contemporary-sexuality-equality vom 9.04.2014; Sinéad O’Connor im Independent 2014: Siehe Charlotte Church in der BBC 2013: https://www. bbc.com/news/entertainment-arts-24528022 vom 15.10.2013. 10 Janelle Monáe live bei der Grammy Awards-Zeremonie 2018: Siehe https://eu.usa today.com/story/life/entertainthis/2018/01/28/janelle-monae-times-up-grammy/ 10737 81001/ vom 28.01.2018; vgl. auch Madonnas Rede bei der Verleihung des Titels Woman of the Year bei den Billboard‘s Women in Music Awards 2016.
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Vorhandensein ähnlicher Machtstrukturen in den Bereichen Film- und Musikproduktion hin, was sich bei näherer Betrachtung entsprechender Erhebungen bestätigt. Im quantitativen Teil ihrer aktuell veröffentlichten Studie Inclusion in the Recording Studio? Gender and Race/Ethnicity of Artists, Songwriters & Producers across 700 Popular Songs from 2012-2018 weist Stacy L. Smith auf, dass der Marktanteil von Musikerinnen gegenüber Musikern in einem Verhältnis von 17,1 % zu 82,9 % steht.11 Auch in Bezug auf die Produktion der Popmusik dominieren Männer – so beträgt das entsprechende Verhältnis hier 47 zu 1 (bei insgesamt 2,1 % Frauen) und hinsichtlich Frauen of Color ist es noch drastischer (mit 871 zu 4).12 Bei der Komposition bzw. beim Songschreiben ist die Gewichtung ähnlich: 12,2 % Frauen zu 87,8 % Männer im Jahr 2018.13 Smiths Studie befindet demnach, dass das Fazit bei 21,7 % Künstlerinnen, 12,3 % Songschreiberinnen und nur 2,1 % Produzentinnen lauten muss: »Women are missing in the music industry.«14 Diese Aussage wird nochmal durch die Übersicht zu den Grammy-Preisverleihungen von 2013 bis 2019 unterstrichen, die verdeutlicht, dass Musikerinnen ausschließlich in der Kategorie »Best New Artist« mit einer signifikanten zweistelligen Zahl gewürdigt wurden (41,1 %). Daneben fanden sie zwar noch in der Kategorie »Song of the Year« mit einer weiteren zweistelligen Zahl (20,6 %) Anerkennung, aber in den immens wichtigen Kategorien »Record of the Year«, »Album of the Year« und »Producer of the Year« wurden sie mit einstelligen Zahlen von 8,6 %, 6,6 % und 2,6 % nicht annähernd auf ein den Musikern gleichwertiges Ergebnis gebracht. Insgesamt zeigte sich, dass nur 10,4 % aller Nominierten zwischen 2013 und 2019 weiblich waren.15 Im deutschsprachigen Raum sieht es kaum anders aus: Im Monitoringbericht Kultur- und Kreativwirtschaft 2017 des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie wird ein Frauenanteil an der gesamten Kultur- und Kreativwirtschaft von 38,8 % bei sinkender Tendenz (gegenüber einem gesamtwirtschaftlich zunehmen-
11 Vgl. Smith, Stacy L./Choueiti, Marc/Pieper, Katherine: Inclusion in the Recording Stu dio? Gender and Race/Ethnicity of Artists, Songwriters & Producers across 700 Popular Songs from 2012-2018, University of Southern California Inclusion Initiative: Siehe http://assets.uscannenberg.org/docs/aii-inclusion-recording-studio-2019.pdf vom 25. 02.2018. 12 Vgl. ebd., S. 8. 13 Vgl. ebd. 14 Ebd., S. 3. 15 Vgl. ebd.
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den Anteil von Frauen) und speziell an der Musikwirtschaft von 39,9 % mit nahezu gleichbleibendem Wert festgestellt.16 Neugründungen wurden 2015 zu rund 21 % von Frauen initiiert, speziell in der Musikwirtschaft allerdings nur von 16 %.17 Als selbständige Musikerinnen in sozialpflichtiger Beschäftigung haben sich 51,4 % eingeordnet (2016) – interessant ist diesbezüglich der Unterschied zur geringfügigen Beschäftigung mit 75,8 % im selben Jahr, woran deutlich wird, dass die wirtschaftliche Situation der mengenmäßig die Anzahl männlicher Künstler sogar leicht übersteigenden Frauen höchstwahrscheinlich als eher schwierig bis prekär einzuschätzen ist.18 Auch bei Preisverleihungen ist die Lage hierzulande vergleichbar: Unter den jährlich Nominierten für den »Preis für Popkultur« sind nur etwa 5 % weiblich und von den 860 Personen der Jury nur ca. 35 % Frauen, wie die Initiatorin des Preises selbstkritisch anmerkt: »Da ist ein akutes Missverhältnis. […] Aber wir haben noch keine Methode gefunden, das zu ändern.«19 Beim sogenannten GEMA-Preis für Musikautor*innen, der jährlich vergeben wird, sieht es nicht anders aus – 2018 war unter den 21 insgesamt Nominierten nur eine Frau. Ursachen dafür werden u.a. in der Zusammenstellung der Jury gesucht, die in jenem Jahr rein männlich besetzt war – 2019 sind unter den sieben Juror*innen immerhin nun vier Frauen, unter den Nominierten sechs Musikerinnen – aber, so GEMA-Kommunikationschefin Ursula Göbel, es gebe strukturelle Gründe für dieses Missverhältnis und diese gingen über die – nicht von der GEMA selbst bestimmte – Jury20 hinaus. Sie zeigten sich vor allem daran, dass die Branche von Männern dominiert sei. Balbina, die einzige 2018 nominierte Musikerin,
16 Siehe https://www.kultur-kreativ-wirtschaft.de/KUK/Redaktion/DE/Publikationen/ 2017/monitoring-wirtschaftliche-eckdaten-kuk-2017.html vom 8.12.2017, S. 33 ff.; Siehe auch https://www.musicaustria.at/frauen-in-der-musik-2-0-zusammenfassungeiner-diskussion-im-mica/ vom 8.03.2007. 17 Vgl. ebd., S. 37, Abb. 2.16. 18 Vgl. ebd., S. 159, Abb. 8.11 und S. 161, Abb. 8.12. 19 Siehe https://www.deutschlandfunkkultur.de/preis-fuer-popkultur-kaum-frauen-unterden-nominierten.2177.de.html?dram:article_id=430932 vom 18.10.2018. 20 Ebd.: Goebel: »[D]as ist vielleicht ein strukturelles oder auch ein systemisches Problem. Der Prozess der Juryfindung ist kein Prozess, den die GEMA alleine bestimmt. Also da sitze nicht ich und sage, ich möchte die Juroren oder Jurorinnen haben, sondern es ist ein demokratisch geführter Prozess, der innerhalb der Akademie Deutscher Musikautoren stattfindet. Wer ist die Akademie Deutscher Musikautoren – darin sind alle ehemaligen Preisträger und Nominierten zusammengeschlossen, und wir rufen die Akademie jedes Jahr dazu auf, Vorschläge einzureichen für mögliche Juroren und Jurorinnen. Diese sammeln wir, stellen wir dann später zur Wahl, und dann gibt es am Ende pro
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stellt fest: »Die Diskussion muss seine Schuldigen in den Führungsetagen der Musikbranche suchen.«21 Wobei nicht nur konkret die Menschen in den entsprechenden Entscheidungspositionen, sondern vielmehr die existierenden kulturellen Bilder und Stereotype zu befragen wären, wie die Feministin Andi Zeisler meint: »People assume that itʼs a complete accident or a bunch of fat cats sitting around a table with cigars thinking how can we oppress the women. It’s not. It’s a cumulative problem, decades and decades of stereotypes and ambient bias against women in music.«22 Diese stereotypen Bilder werden von Stacy Smith und Kolleg*innen im qualitativen Teil ihrer Studie aufgegriffen. Ergebnisse der über 70 Interviews zeigten, dass die Zugänge zu Räumen, Ressourcen und Netzwerken erschwert seien, es häufig an der Anerkennung als ernstzunehmende Künstlerin mangele und sich Widerstände bei der Zusammenarbeit mit männlichen Kollegen ergäben. Darüber hinaus finde die künstlerische Arbeit häufig in einem Kontext statt, in welchem der Fokus auf die Kategorie Gender gerichtet ist, d.h. in welchem die Sängerinnen, Musikerinnen und Produzentinnen primär als »Frauen« und nicht als Künstlerinnen wahrgenommen würden und Femininität oft mit Sexualisierung, Verfügbarkeit und Unterordnung verknüpft sei.23 Während Sängerinnen und Musikerinnen hier eher mit Forderungen nach Selbstsexualisierung konfrontiert werden (nach eigenen Aussagen 39 %), begegnen Produzentinnen dem Klischee, dass der Bereich Produktion als technologisch dominiertes künstlerisches Handwerk männlich belegt sei, weshalb ihnen diese Fähigkeiten und Techniken oftmals nicht zugetraut würden (nach eigenen Aussagen 43 %).24
Genre – wir wechseln die einzelnen Kategorien ja in jedem Jahr –, gibt es dann Kandidaten, die wir ansprechen und fragen, habt ihr Zeit für das Jurorenamt. Und da hatten wir auch im letzten Jahr einige Frauen, starke Frauen, die gewählt wurden, die aber leider – so ist es – alle abgesagt haben.« 21 Ebd. 22 Siehe https://www.teenvogue.com/story/halsey-speaks-out-sexism-music vom 15.4. 2017. 23 S. Smith/M. Choueiti/K. Pieper: Inclusion in the Recording Studio?, S. 9: »More than three-quarters (83%) of participants said that they or other women experienced discomfort in the studio. 39% stated that they had been objectified, and 25% pointed to being the lone female or one of few women in environments populated by males. Third, 28% were uncomfortable due to having their contributions, knowledge, or expertise dismissed, or due to facing hostile language from others.« 24 Vgl. Ebd., S. 9 und die Tabelle auf S. 23.
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STRATEGIEN DER KÜNSTLERISCHEN SELBSTBESTIMMUNG IN DER POPMUSIK Den eigenen Look bestimmen Die eingangs erwähnte Kontroverse um Miley Cyrus’ Auftritt bei den VMAs 2013 manifestiert, dass die übertriebene Ausstellung des Körpers und der eigenen Sexualität insbesondere für weibliche Popstars eine wesentliche Vermarktungsstrategie bedeutet. Viele Sängerinnen berichten, wie sie von ihren Labels und Produktionsteams in eine solche Richtung beraten, wenn nicht gar gedrängt werden – so äussert sich beispielsweise die Sängerin Charlotte Church über ihr früheres sexualisiertes Image bedauernd und meint, ihre damaligen Produzenten hätten sie zu diesem Look überredet: »Whilst I can’t defer all blame away from myself, I was barely out of my teenage years and the consequence of this portrayal of me is that now I’m frequently abused on social media, being called slut, whore and a catalogue of other indignities. Now I find it difficult to promote my music in the places it would be best suited because of my history. «25
Obgleich der Druck, einem vor allem auf Körperlichkeit bezogenen Ideal von Maskulinität zu entsprechen, ebenfalls auf männliche Popstars zutrifft und ihre Imagebildung auch von den Marketingagenturen und Labels abhängt, ist es doch vielleicht so, dass diese Erwartungshaltung in Bezug auf Musikerinnen noch über eine idealisierte Körperlichkeit hinaus stets stärker auf sexualisierte Aspekte zielt. Der Punkt ist, dass die kulturell erwünschte Inszenierung von Männlichkeit und männlicher Sexyness – analog zur stereotypen Vorstellung des »Mannseins« – auf Stärke, Ernsthaftigkeit, Autonomie und Stolz ausgerichtet ist, während die Inszenierung von Weiblichkeit und weiblicher Sexyness – gleichermaßen analog zu stereotypen Aspekten des »Frauseins« – an Werten wie Emotionalität, Gefälligkeit, Verfügbarkeit und Abhängigkeit bemessen wird. Somit scheint es, als wäre
25 Siehe https://www.bbc.com/news/entertainment-arts-24528022 vom 15.10.2013, hier auch: »When I was 19 or 20 I found myself in this position, being pressurised into wearing more and more revealing outfits. The lines that I had spun at me again and again – generally by middle-aged men – were: ›You look great, you’ve got a great body, why not show it off?‹ Or: ›Don’t worry, it will look classy, it will look artistic.‹ I felt deeply uncomfortable about the whole thing, but I was often reminded by record label executives just whose money was being spent.«
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der von Laura Mulvey in Bezug auf Filme kritisierte male gaze in der Popmusikindustrie weiterhin am Wirken: Eine Vielzahl von Sängerinnen berichtet davon, wie sie von ihren Produktionsfirmen, Musikvideo-Regisseuren oder Marketingabteilungen dahin gebracht wurden oder werden sollten, mehr Haut und sich in sexualisierten Posen zu zeigen.26 Teilweise verbindet sich die von Produktions- und Marketingseite geäusserte Forderung nach einem sexualisierten Image auch auf höchst problematische Weise mit der Auffassung, diese Sängerinnen wären tatsächlich derart sexuell verfügbar, wie sie sich aus Marketinggründen geben sollten, bzw. mit einer entsprechenden Forderung nach tatsächlichen sexuellen Handlungen. Der Prozess der Sängerin Kesha gegen ihren ehemaligen Produzenten Dr. Luke seit 2014 weist auf das von vielen weiteren Künstlerinnen angesprochene Dilemma der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Sängerinnen von ihren Labels und Produktionsfirmen und auf die existierende sexuelle Gewalt und Ausbeutung in diesem Bereich hin. Die kanadische Sängerin, Songwriterin und Produzentin Claire E. Boucher alias Grimes kommentiert das Verhältnis zwischen Sängerin und – zumeist männlichem – Produzenten aus ihrer persönlichen Erfahrung heraus ähnlich: »I’ve been in numerous situations where male producers would literally be like, ›We won’t finish the song unless you come back to my hotel room.‹ If I was younger or in a more financially desperate situation, maybe I would have done that.«27 In Opposition zu bzw. jedenfalls in Auseinandersetzung mit solchen idealisierten, sexualisierten Images erschaffen sich manche Popmusikerinnen einen Freiraum für ihre Pop-Personae und gehen auf verschiedene Weise mit den an sie gerichteten Erwartungen, Vorgaben und Maßstäben um. Eine solche Strategie setzt die US-amerikanische Sängerin, Schauspielerin und Label-Besitzerin Janelle Monáe um, indem sie sich statt in High Heels und Bikini oder Unterwäsche – ein in aktuellen Musikvideos von Popsängerinnen häufig zu findendes Outfit28 – in
26 Wie die britische Sängerin und Songwriterin Dua Lipa feststellt: »For lots of females, be it actresses, singers, models, no matter what it is, it’s not being able to have the right to dress and wear how and what you want and be taken seriously.« Siehe https://www.gq-magazine.co.uk/article/dua-lipa-1-billion vom 29.03.2018. 27 https://www.rollingstone.com/music/music-news/grimes-on-art-angels-follow-upwhy-she-loves-tool-162756/ vom 12.04.2016. 28 So z.B.in Taylor Swifts »You Need To Calm Down« (2019), in Lizzos »Truth Hurts« (2017), in Ava Max’s »Sweet But a Psycho« (2018) oder auch in Ariana Grandes »7 Rings« (2019), die derzeit Plätze 2, 9, 17 und 18 der US-Billboard-Charts Top 100 einnehmen und insofern mit hoher Rotation auf Musikvideo-Kanälen laufen und auf
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Anzüge mit Hut, Hemd und Fliege kleidet. Mit diesem Styling verfolgt sie ein bestimmtes Ziel, und zwar dem Stereotyp sexualisierter Weiblichkeit – und darüber hinaus sexualisierter Schwarzer Weiblichkeit – nicht zu entsprechen und den beschränkten Radius der Möglichkeiten, sich als Frau, als Künstlerin, als Popsängerin/-songautorin zu präsentieren, sichtbar zu erweitern.29 Auch die selbstbewusste Ausstellung der eigenen Andersartigkeit und das positive Feiern der abweichenden Individualität können Strategien sein, dem »sexist gaze« und den kulturell sehr eng gefassten und in den Medien omnipräsenten Weiblichkeitsidealen von Schönheit, Schlankheit, Zartheit und Zurückhaltung etwas entgegenzusetzen. Lady Gaga hat dies bei den Alben The Fame (2008), The Fame Monster (2009) und Born This Way (2011) mit ihrer Selbststilisierung zur »Mother Monster« erfolgreich gemacht und vorgeführt, wie die Vermarktung von ›Freakishness‹ funktionieren kann.30 Auf andere Weise vollzieht die US-amerikanische Sängerin und Songwriterin Beth Ditto Ähnliches, insofern sie ihre kulturell nicht-idealisierte Körperlichkeit präsentiert und zelebriert. Ihr gewichtiger Körper fällt in der vom Schlankheitsgebot regulierten Mode- und Popmusikwelt stark auf, in der ein solcher Körper häufig zur Zielscheibe heftigen »Body Shamings« wird. Doch die Künstlerin zeigt sich mit einer selbstbewussten Haltung, mit einem Selbstverständnis von sich als attraktiv, schön, begehrenswert und cool und übernimmt damit eine Vorbildfunktion für andere Frauen.31 Weitere Popsängerinnen setzen sich mit ihrem Stil und ihren von den Idealbildern abweichenden Zügen durch: Während das Label der schwedischen Sängerin und Songwriterin Robyn
Youtube höchste Klickzahlen erhalten – und damit also weithin sichtbar sind und massenmedial rezipiert werden. 29 Janelle Monáe: »It had to do with the fear of being judged. All I saw was that I was supposed to look a certain way coming into this industry, and I felt like I [didn’t] look like a stereotypical black female artist.« https://www.rollingstone.com/music/musicfeatures/janelle-monae-frees-herself-629204/ vom 26.04.2018. 30 Vgl. u.a. Click, Melissa A./Lee, Hyunji/Willson Holladay, Holly: »Making Monsters: Lady Gaga, Fan Identification, and Social Media«, in: Popular Music and Society 36, 3 (2013), S. 360-379. 31 Beth Ditto: »I think when you’re a fat person, you have experiences in life that are different from everyone else’s, and you think you’ve already experienced it all at a young age. […] In my 30s, I’ve become much more forgiving of people and the world, especially as it relates to beauty, and what people feel like they need to do to survive in a culture that is so brutal and judges people so hardcore on the way they look and feel. « Siehe https://www.refinery29.com/en-us/2018/08/206352/beth-ditto-music-makeup-lo oks vom 28.08.2018.
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meinte, dass ihre dichten, dunklen Augenbrauen im Musikvideo zu Handle Me (2007) einer US-amerikanischen Vermarktung des Songs im Wege stünden, da sie nicht dem dortigen Schönheitsideal entsprächen und als »unsexy« gelten würden, verweigerte sie einen Re-Shoot und blieb dabei.32 Andere Sängerinnen wiederum stellen ihren Körper aus, unterstreichen ihre das kulturelle Stereotyp voll erfüllende Femininität und betonen ihre Sexualität, aber dies nicht ohne die Kontrolle über die präsentierten Bilder abzugeben, sondern, im Gegenteil, mit voller Intention ihre Pop-Persona so in Szene setzen zu wollen – z.T. mit einer Ästhetik der Übertreibung oder gar der Ironisierung. Insbesondere Nicki Minaj verfolgt eine Strategie der exzessiven Selbstsexualisierung, die z.B. im Musikvideo zu Anaconda einen kontrovers diskutierten Höhepunkt fand.33 Es ist umstritten, was Beyoncé, Rihanna, Taylor Swift oder Katy Perry tun, weil sie sich in einem stark besetzten Feld zwischen Respektabilitätspolitik und einer von Empowerment motivierten, selbstbestimmen Freizügigkeit bewegen, das von Debatten über Post- und Popfeminismus durchsetzt ist. Ihre Bilder, Videos und Live-Auftritte lassen sich demnach immer aus mindestens zwei Perspektiven rezipieren: als affirmative Bestätigung des kulturell Idealisierten oder aber als – eher postfeministische – Auseinandersetzung mit ebendiesen Werten und Ansprüchen.34 Autorinnenschaft unterstreichen Eine andere Strategie des Umgangs mit Sexismus in der Popmusik ist es, den Blick über die Ebene der Repräsentation des Images hinaus auf die Musikkreation und -produktion zu richten und immer wieder die eigene Autorinnenschaft zu betonen. Viele bekannte weibliche Popstars werden nur als Sängerinnen wahrgenommen, obgleich sie ihre Songs zum Großteil selbst schreiben – wie z.B. Mariah Carey,
32 Siehe https://www.theguardian.com/music/2018/sep/28/how-robyn-transformed-popmusic-honey vom 28.09.2018. 33 Vgl. Hunter, Margaret/Cuenca, Alhelí: »Nicki Minaj and the Changing Politics of HipHop: Real Blackness, Real Bodies, Real Feminism?«, in: Feminist Formations 29, 2 2017, S. 26-46, hier S. 29. 34 Vgl. z.B. Villa, Paula-Irene: »Pornofeminismus? Soziologische Überlegungen zur Fleischbeschau im Pop«, in: Paula-Irene Villa/Julia Jäckel/Zara S. Pfeiffer/et al. (Hg.), Banale Kämpfe? Perspektiven auf Populärkultur und Geschlecht, Wiesbaden 2012, S. 229-247; McRobbie, Angela: The aftermath of feminism: gender, culture and social change, London 2009; McRobbie, Angela: »Post‐feminism and popular culture«, in: Feminist Media Studies 4, 3 (2004), S. 255-264.
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Alicia Keys, Adele, Pink, Tori Amos, Alanis Morissette, Dido, Sade, Taylor Swift, Tina Turner, Katy Perry, Madonna, Sheryl Crow, Janis Joplin, Amy Winehouse, Sia, Britney Spears, Lorde, Lady Gaga, Cyndi Lauper, Avril Levigne, Joni Mitchell u.v.a. In den »Besten«-Listen der Rocksong-Autor*innen tauchen weibliche Songwriterinnen kaum auf, stellt Mary Celeste Kearney in Gender and Rock (2017) fest, obgleich Künstlerinnen wie Aretha Franklin, Kate Bush, Joni Mitchell, Tracy Chapman, Carole King, Patti Smith u.v.a. eine solche Anerkennung mehr als verdient hätten.35 Um als Autorinnen endlich die Anerkennung zu bekommen, die ihnen gebührt, verfolgen manche Sängerinnen die Strategie, sich als solche sichtbarer zu machen, z. B. durch einen offensiveren Umgang mit dem eigenen Anteil am künstlerischen Produktionsprozess oder durch eine bewusste Setzung und Präsentation der eigenen künstlerischen Credits. Grimes’ Musikvideos zum Album Art Angel enthalten häufig explizit Credits, die auf ihre künstlerische Urheberschaft verweisen. Dies sind Credits, die Künstlerinnen nicht automatisch zugesprochen werden, wie verschiedene Musikerinnen betonen. Grimes berichtet: »People still ask me all the time who produces my stuff and who directs my videos. I also get people accusing me of showing off, like I’ve been insane for asking for a credit.«36 Für wen ist es in Ordnung, sich im Credit explizit zu nennen und wer wird dafür kritisiert? Es scheint, als wenn diese Frage einen Genderbezug hätte, insofern Frauen immer noch dafür angegriffen werden, wenn sie zu laut betonen, was sie geleistet und kreiert haben. Dabei müssen Künstlerinnen ohnehin für Anerkennung mehr tun, wie Björk beispielsweise, die sich ebenfalls in den Credits anführt und in Interviews oft betont, welchen gewichtigen – meist überwiegenden – künstlerischen Anteil sie an ihren Alben hatte.37 Dieser Aspekt hängt zusammen mit einer Klischeevorstellung weiblicher Popstars als Marionetten, nicht als eigenständig schaffende Künstlerinnen und Musikerinnen. Die britische Sängerin und Songwriterin Dua Lipa meint: »For a female artist, it takes a lot more to be taken seriously if you’re not sat down at a piano or with a guitar, you know? For a male artist, people instantly assume they write their own music, but for women, they assume it’s all manufactured.«38 Ähnliche Argumente führt die US-amerikanische Sängerin und Songwriterin Halsey an. Über
35 Vgl. Kearney, Mary Celeste: Gender and Rock, Oxford 2017, S. 213. 36 https://www.timeout.com/london/music/grimes-writer-producer-fighter vom 26.02.2016. 37 Siehe https://pitchfork.com/features/interview/9582-the-invisible-woman-a-conversati on-with-bjork/ vom 21.01.2015. 38 https://www.gq-magazine.co.uk/article/dua-lipa-1-billion vom 29.03.2018.
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ihre eigenen Erfahrungen berichtend meint sie, dass eine Musikerin schnell das Label »Pop« erhält, selbst wenn sie eher alternative Musik macht. Offenbar werden Musikerinnen hinsichtlich solch stilistischer Fragen nicht ernst genug genommen, um ihre Musik nach Genres auszudifferenzieren. 39 Mit dem Label »Pop« gehen dann schnell Zuschreibungen von Künstlichkeit, Oberflächlichkeit und Einfachheit einher, gegen die sich die Musikerinnen zur Wehr setzen müssen und wodurch zudem das kontroverse Verständnis von Pop als feminine und Rock als maskuline Kunstform untermauert wird. Auf Tumblr beschwert sich Grimes wie folgt: »I’m tired of being considered vapid for liking pop music or caring about fashion as if these things inherently lack substance.«40 Technologie beherrschen und Räume (ein-)nehmen Nicht nur das Songwriting, sondern zugleich die technisch und vor allem digital geprägte Produktion gilt als Bereich, der Frauen eher nicht zugetraut wird (und in dem Frauen zahlenmäßig tatsächlich deutlich weniger vorkommen).41 Einer der schwierigen Aspekte bei der Produktion sei vor allem der häufig erschwerte Zugang zur Technologie: Denn im angemieteten Studio ist es keineswegs selbstverständlich, dass die Musikerinnen ihre Musik selbst mischen. Vielmehr werde hier häufig durch die dort angestellten, meist männlichen Techniker ein Abhängigkeitsverhältnis kreiert, bei dem diese an den Maschinen sitzen und die Sängerin/Musikerin sagen soll, welches Resultat sie sich wünscht.42 Grimes meint dazu: »Going into studios, there’s all these engineers there, and they don’t let you touch the equip ment. I was like, ›Well, can I just edit my vocals?‹ And they’d be like ›No, just tell us what to do, and we’ll do it.‹ And then a male producer would come in, and he’d be allowed to do
39 Siehe https://www.cbsnews.com/news/lady-gaga-makes-history-as-first-female-head liner-in-a-decade-at-coachella/ vom 14.04.2017. 40 https://www.thefader.com/2015/07/28/grimes-cover-story-interview vom 28.07.2015. 41 »Overall, about 20 percent of undergraduate engineering degrees are awarded to women, but only 13 percent of the engineering workforce is female. Numerous explanations have been offered for this discrepancy, including a lack of mentorship for women in the field; a variety of factors that produce less confidence for female engineers; and the demands for women of maintaining a balance between work and family life.« http://news.mit.edu/2016/why-do-women-leave-engineering-0615 vom 15.06.2016. 42 Siehe https://www.theguardian.com/music/2016/apr/15/grimes-producers-have-deman ded-sex vom 15.04.2016.
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it. It was so sexist. I was, like, aghast. It made me really disillusioned with the music industry. It made me realize what I was doing is important.«43
Schließlich hat sie sich ein eigenes Studio gebaut, um die vollständige und ausschließliche Kontrolle über die entstehende Musik zu haben.44 Dies gewährleistet ihr zwar künstlerische Unabhängigkeit, aber setzt wiederum deutlich größere finanzielle Investitionen voraus. Dennoch zeigt sich mit diesem Weg eine Möglichkeit für Musikerinnen, sich nach ersten auch finanziellen Erfolgen Freiheit und Unabhängigkeit von Vorgaben bestehender Studios und Labels zu erarbeiten.45 Nicht nur mehr Einsatz, Beharrlichkeit und Durchsetzungsvermögen werden von Musikerinnen gefordert, sondern darüber hinaus begegnen sie weiteren Widerständen, die sich eher indirekt in warnenden oder gar demotivierenden Worten manifestieren.46 Ariana Grande erzählt davon, dass sie im Studio oft unterschätzt wird: »I’ve politely walked out of sessions before. It has happened. I’m a small girl. People tend to underestimate that. And then I sit down and comp my own vocals and can produce my own session, and they’re like – here she adopts an excellent impersonation of a dopey man – ›Oh, I didn’t know you could do that.‹ I’m like, ›Believe it or not, there are plenty of tiny women that can do this.‹«47
43 https://www.thefader.com/2015/07/28/grimes-cover-story-interview vom 28.07.2015. 44 https://www.stereogum.com/1840380/grimes-details-gear-behind-art-angels/news/ vom 27.10.2015: »I’ve built a studio in my house. It needs to be my space because I’ve tried to work in studios a couple of times, but at 200 bucks an hour it’s too much pressure to write like that. When it’s my space, I can take as much time as I want fucking around and trying different things without worrying how much it’s costing per minute.« 45 Weitere Künstlerinnen, die neben dem Gesang/Songwriting auch in verschiedenem Ausmaß die Produktion ihrer Songs übernehmen, sind u.a.: Björk, Taylor Swift (bei 1989), M.I.A., Madonna (u.a. bei True Blue), Jennifer Lopez (bei This is Me…Then), Regina Spektor (für What We Saw From The Cheap Seats), Kate Bush (u.a. bei Hounds of Love). 46 https://www.vanityfair.com/style/2018/09/robyn-songs-about-abortion-not-released-in -us vom 21.09.2018: »A lot of people told me that they thought I was crazy, and that I would lose a lot of money […]. If I would have followed their advice, none of this would have happened.« 47 Siehe https://www.billboard.com/articles/events/women-in-music/8487877/ariana-gra nde-cover-story-billboard-women-in-music-2018 vom 05.12.2018.
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Auch die britische Sängerin, Songwriterin und Produzentin Mathangi Arulpragasam alias M.I.A. zeigt sich verärgert über die Kommentare, die ihr online oder in Interviews aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer ethnischen Herkunft entgegengebracht werden, und stellt richtig, dass die meisten zu ihrem Album Arula (2005) erschienenen Presseartikel darin falsch lagen, den Produzenten Diplo als »Mastermind« hinter dem Projekt M.I.A. zu bezeichnen. Vielmehr habe sie selbst das Album kreiert, in partieller Zusammenarbeit mit dem Produzenten Switch. Sie erinnert sich: »There is an issue especially with what male journalists write about me and say ›this MUST have come from a guy.‹«48 Björk ist im Verlauf ihrer erfolgreichen Karriere als Songwriterin, Sängerin und Produzentin ebenfalls solchen Vorurteilen begegnet – in Interviews unterstreicht sie daher explizit, dass sie ihre Songs zu 80 % selber schreibe und produziere, die Credits dann aber trotzdem häufig den männlichen Gastkünstlern zugeschrieben würden, selbst wenn diese tatsächlich nur einen Bruchteil der künstlerischen Arbeit übernommen hätten.49 Ihre Strategie, damit umzugehen, besteht neben den expliziten Credits und der Verdeutlichung in Interviews auch darin, sich mit elektronischen Geräten – an Mischpulten, Computern und Synthesizern – fotografieren zu lassen, um auf diese Weise das stereotype gesellschaftliche Bild von technologieferner Weiblichkeit aufzubrechen und demgegenüber die Sichtbarkeit von Frauen, die technische Geräten bedienen können und wollen, zu verstärken. »I remember seeing a photo of Missy Elliott at the mixing desk in the studio and being like, a-ha! It’s a lot of what people see. During a show, because there are people onstage doing the other bits, I’m just a singer. For example, I asked Matmos to play all the beats for the Vespertine tour, so maybe that’s kind of understandable that peop le think they made them. So maybe it’s not all sexist evil. [laughs] But it’s an ongoing battle.«50
Mit der Schaffung einer größeren Sichtbarkeit technisch affiner und kompetenter Frauen übernehmen diese Musikerinnen Verantwortung als Vorbilder und erweitern die in den Medien präsenten Vorstellungen, wie eine Musikerin sein und was sie leisten kann. Warum es nach wie vor nur wenige Studio-Technikerinnen gibt, beantwortet Susan Rogers, einstmals Produzentin für Prince und nun Professorin am Berklee
48 https://pitchfork.com/news/27349-mia-confronts-the-haters/ vom 03.08.2007. 49 https://www.theguardian.com/music/musicblog/2008/aug/27/whybjorkisrighttostickup vom 27.08.2008. 50 https://pitchfork.com/features/interview/9582-the-invisible-woman-a-conversationwith-bjork/ vom 21.01.2015.
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College of Music in Boston, folgendermaßen: »Women who want to enter the field face ›a boys‹ club, or a guild mentality. You have to have a lot of swagger. A lot of swagger. If you don’t, you won’t be successful.«51 Die Sängerin Robyn, die ihre Songs selbst produziert, bestätigt dies: »Getting that control takes a lot of stamina, and a lot of drilling, drilling, drilling. It’s not a sexy process, although the result is, of course, something that’s very desirable for people. I think getting there has been something that I’m admired for by the industry, but people that have been very close to it, they haven’t been very impressed.«52
Darüber hinaus führt Rogers noch einen weiteren – nicht unumstrittenen – Grund an: »The bottom line is, women aren’t interested. Right now, I currently teach engineering and production; and I also teach psychoacoustics and music cognition. In the psychology topics, the students are half women and half men. But in production and engineering, maybe one out of every 10 students is a young woman.«53
Aber dass in diesen Bereichen so wenig Frauen zu finden sind, hat wohl andere Gründe als ein vermeintlich fehlendes Interesse – Interviews mit IT-lerinnen lassen darauf schließen, dass sich Frauen in technikaffinen Berufen permanent gegen einen Sexismus wehren müssen, der sich in Form eines grundlegenden NichtZutrauens zeigt.54 Eine Studie von Susan S. Silbey von der MIT fand heraus: »The negative group dynamics women tend to experience during team-based work projects makes the profession less appealing. More specifically, the study finds, women often feel marginalized, especially during internships, other summer work opportunities, or teambased educational activities. In those situations, gender dynamics seem to generate more opportunities for men to work on the most challenging problems, while women tend to be assigned routine tasks or simple managerial duties.«55
51 https://www.bbc.com/news/entertainment-arts-19284058 vom 29.08.2012. 52 https://www.theguardian.com/music/2018/sep/28/how-robyn-transformed-pop-musichoney vom 28.09.2018. 53 https://www.bbc.com/news/entertainment-arts-19284058 vom 29.08.2012. 54 Siehe https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2017/04/why-is-silicon-valley-so -awful-to-women/517788/ vom April 2017 (Monatsausgabe). 55 Siehe http://news.mit.edu/2016/why-do-women-leave-engineering-0615 vom 15.06. 2016; https://hbr.org/2016/08/why-do-so-many-women-who-study-engineering-leave-
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Grimes’ Meinung nach stellt für weibliche Producer die erschwerte Zugänglichkeit und ein geschlossener »Boys’ Club« das wesentliche Problem dar: »I don’t think there are few female producers because women aren’t interested. It’s difficult for women to get in. It’s a pretty hostile environment.«56 Diese Ansicht spiegelt die von Ursula Göbel angesprochenen strukturellen Gründe wieder und weist auf die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Änderung in der Besetzung der Entscheider*innenpositionen hin – die allerdings wohl nur über Quotenregelungen o.Ä. erzielt werden könnte, was zurzeit ja in Bezug auf Festival-Line-ups und Awards-Zeremonien stärker diskutiert wird. Es handelt sich somit nicht um eine Frage des Könnens oder Wollens, sondern vielmehr der Energie-des-permanenten-Sich-Wehrens und des pionierhaften Erkämpfen-Müssens von Positionen. Ein eigenes Label gründen und Mentorinnenschaften Eine weitere Strategie ist es, ein eigenes Label zu gründen, unter dem dann die Musik ganz nach individuellen künstlerischen Bedürfnissen gestaltet bzw. darüber hinaus zudem noch andere Künstler*innen gefördert werden können. Hinzu kommt ein von manchen Musikerinnen verfolgtes soziokulturelles Engagement hinsichtlich der grundlegenden Veränderung von Strukturen wie beispielsweise der Erhöhung der Frauenquote in einschlägigen Positionen, in der musikalischen (Aus-)Bildung oder bei der Berücksichtigung von Musikerinnen bei Preisverleihungen, Festival-Line-ups oder den Charts. Ein Label zu gründen, bedeutet, ein ökonomisches Risiko auf sich zu nehmen, um eine größere Freiheit für die künstlerische Arbeit zu gewinnen – wobei die Entscheidung, künstlerisch ganz eigene Wege zu gehen, ein Wagnis sein kann, insofern dies häufig mit einer Abwendung von etablierten Mainstream-Methoden einhergeht und sich neue, alternative Sounds nicht unbedingt in ökonomisch-kommerzieller Hinsicht positiv auswirken müssen. Die künstlerische Verwirklichung der eigenen Ideen wird dabei also zunächst über das Streben nach sofortigem Chart-Erfolg gestellt. Häufig ist ein Konflikt mit dem Label über künstlerische
the-field vom 23.08.2016; publiziert wurden die Ergebnisse in: Seron, Carroll/Silbey, Susan S./Cech, Erin/et al: »Persistence is Cultural: Professional Socialization and the Reproduction of Sex Segregation«, in: Work and occupations 43(2) (December 16, 2015), S. 178-214. In dieselbe Richtung weist auch die Studie »Elephant in the Valley« (2016), in: Michele Madansky/Trae Vassallo (Hg.), Women in Tech 2017, siehe https://www.elephantinthevalley.com aus dem Jahr 2017. 56 Siehe https://www.rollingstone.com/music/music-news/grimes-on-art-angels-followup-why-she-loves-tool-162756/ vom 12.04.2016.
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Fragen der Auslöser für die Aufkündigung der Zusammenarbeit und die Neugründung eines Unternehmens. Als Beispiel dafür lässt sich auf die schwedische Sängerin, Songwriterin und Produzentin Robyn verweisen, die ihr Label Konichiwa Records 2005 gründete, nachdem das Label Jive Records, bei dem sie zuvor unter Vertrag stand, sich gegen den von ihr gewünschten elektronischen SynthesizerSound ihrer Single Who’s that Girl gesperrt hatte. Um ihre musikalischen Ideen um- und durchsetzen zu können, beendete sie den Vertrag mit Jive Records vorzeitig, indem sie sich aus dieser Vereinbarung herauskaufte, und startete das Label Konichiwa Records, auf dem nun ihre Alben und seit 2014 die Musik der Sängerin Zhala veröffentlicht werden. Robyns Anfangszeit mit ihrem Label war nicht einfach, wie sie im Nachhinein berichtet: »I didn’t have any role models of artists that were in the same playing field as me – making expensive videos, travelling, marketing and promoting an album. It was a big challenge, but also I didn’t feel like I had a choice.«57 Zugleich riskierte sie viel, weil sie mit diesen Veränderungen und vor allem dem Durchsetzen des weniger Mainstream-adäquaten Stils ihren Bekanntheitsgrad und die Zukunftsspekulationen ihrer Manager*innen aufs Spiel setzte. Wenn Künstler*innen ein Label verlassen, gelten sie innerhalb der Popmusikszene, also bei den Labels und Journalist*innen, als »damaged goods«58. Aber in einer Vielzahl der Interviews mit Musikerinnen, die auf ihre frühere Karriere zurückblicken, ist zu hören: »I wasn’t doing what I wanted to.«59 Solche und ähnliche Aussagen deuten darauf hin, dass die Musikerinnen weder Kontrolle über die Musik noch über ihre Künstlerinnen-Persona hatten und sich erst nach ihren Anfangserfolgen und nach Beendigung ihrer Vertragslaufzeit Unabhängigkeit und künstlerische Autonomie einstellten. Die britische Musikerin Victoria Hesketh alias Little Boots gründete zu ihrem zweiten Album Nocturnes 2013 ihr Label On Repeat Records, obgleich sie zuvor bei einem der großen Unternehmen unter Vertrag gewesen war. Sie erklärt diesen Schritt folgendermaßen: »It was kind of complicated, but when I split ways with Atlantic I looked at the other options and didn’t want to jump back in bed with another one of those big labels that takes away your creative control and decides how your money’s going to be spent. I wanted to be in
57 https://www.theguardian.com/music/2018/sep/28/how-robyn-transformed-pop-musichoney vom 28.09.2018. 58 https://noisey.vice.com/en_us/article/6wqjkb/the-story-of-being-dropped-by-a-majorlabel vom 17.06.2015. 59 https://www.theringer.com/2018/10/25/18022526/robyn-honey-career-review-call-yo ur-girlfriend vom 25.10.2018.
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control, and I guess I felt like some parts of my identity, or how I was being represented as an artist, were not things I was comfortable with.«60
Demnach ging es bei ihrer Entscheidung um Kontrolle und um künstlerische Freiheit, die sich sowohl auf den gewünschten Sound als auch auf das vermarktbare Image beziehen. Hier spricht Little Boots genderbezogene Unterschiede an: »There’s so much more to being an artist than music these days. A lot of it is about branding and your visual representation, and this can mean something very different for a female artist, than it does for a male.«61 Nicht nur die Kontrolle über ihre Musik motivierte die US-amerikanische Country-Sängerin Gretchen Wilson dazu, das Label Redneck Records zu gründen. Vielmehr war es das Bestreben, andere Sängerinnen fördern zu können und so nahm sie die junge Country-Sängerin Jessie G unter Vertrag. Wilson meint: »I hope that what I’m doing right now – having started my own label, producing my own music, hoping to sign new artists someday– is not just making a name for Gretchen Wilson. I hope that it’s making a name for women.«62 Tatsächlich gründen zunehmend mehr Musikerinnen eigene Label, doch sei dies, so Musikproduzent Keith Harris, nicht unbedingt an sich, sondern eher allgemein ein stärkerer Trend in der Popmusikbranche.63 Dennoch gäbe es Anlass zur Hoffnung auf eine zukünftige Angleichung der Chancen unter Musiker*innen, findet die Musikproduzentin Tina Shoemaker: »Women are entering the field in drives now. There’s maybe a 20-year curve before they’re fully recognised. But look at doctors – they’re pretty much equal now. […] So I think about the time I retire, we’ll see a very level playing field.«64 Mit den Projekten CODE2040, Project Include, Women ReBOOT, Fem the Future, Keychange Project oder Time’s Up gibt es eine
60 https://www.scpr.org/programs/the-frame/2015/07/29/43887/why-little-boots-left-amajor-label-and-started-he/ vom 29.07.2015. 61 https://www.theguardian.com/small-business-network/2017/jun/06/need-fair-represen tation-rise-female-led-record-labels vom 06.06.2017. 62 https://www.rollingstone.com/music/music-news/gretchen-wilson-talks-triple-release2013-being-her-own-boss-and-nearly-a-decade-of-being-the-redneck-woman-101019/ vom 17.04.2013: »I think that I’ll feel even better when there’s just as many women producing the records and there’s just as many people that are women that are running the labels and when there are just as many women behind the scenes as there are men. We haven’t really made our way to that point, but it’s coming.« 63 Siehe https://www.theguardian.com/small-business-network/2017/jun/06/need-fair-re presentation-rise-female-led-record-labels vom 06.06.2017. 64 Siehe https://www.bbc.com/news/entertainment-arts-19284058 vom 29.08.2012.
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Vielzahl an unterschiedlichen Initiativen, die an der Erhöhung des Frauenanteils, an der Verbesserung der Arbeitsbedingungen und an der Erweiterung von Diversität im Bereich technischer oder technikaffiner Berufe und in der Popmusik arbeiten.65 Ganz aktuell wurde in New York City ein Fördertopf von 500.000,- USDollar speziell für Musikerinnen ausgeschrieben und Dinge scheinen in Bewegung zu kommen.66 Insgesamt bleibt aber weiterhin abzuwarten, was die nächsten fünf bis zehn Jahre an Veränderungen im Hinblick auf Gleichstellung und Diversität mit sich bringen werden.67
REFERENZEN Cirisano, Tatiana: »NYC Mayor’s Office Announces $500,000 in Grants for Female Musicians«, in: Billboard Biz vom 04.06.2019, https://www. billboard.com/biz/articles/8514507/nyc-mayors-office-announces-500k-ingrants-for-female-musicians?fbclid=IwAR35cHUuuopr-Bw30---_ro9iFQ_d C%20YFtFavwB08iVIEpfy8xxApNZc2AlU#disqus_thread. Click, Melissa A./Lee, Hyunji/Willson Holladay, Holly: »Making Monsters: Lady Gaga, Fan Identification, and Social Media«, in: Popular Music and Society 36, 3 (2013), S. 360-379. Dizikes, Peter: »Why do women leave engineering?«, in: MIT Press vom 15.06.2016, http://news.mit.edu/2016/why-do-women-leave-engineering-06 15. »Elephant in the Valley« (2016), Studie, in: Michele Madansky/Trae Vassallo (Hg.), Women in Tech 2017, siehe https://www.elephantinthevalley.com aus dem Jahr 2017. https://www.bbc.com/news/entertainment-arts-43584939 vom 29.03.2018. https://www.bbc.com/news/entertainment-arts-24528022 vom 15.10.2013. https://www.bbc.com/news/entertainment-arts-19284058 vom 29.08.2012.
65 Siehe http://www.code2040.org, https://projectinclude.org, https://www.software skillnet.ie/women-reboot/, http://www.femfuture.com, https://keychange.eu/about-us/, https://www.timesupnow.com/timesupx2. 66 Siehe https://www.billboard.com/biz/articles/8514507/nyc-mayors-office-announces500k-in-grants-for-female-musicians?fbclid=IwAR35cHUuuopr-Bw30---_ro9iFQ_dC YFtFavwB08iVIEpfy8xxApNZc2AlU#disqus_thread vom 04.06.2019. 67 Hinzuweisen ist auf die in Kürze erscheinende Publikation: Wolfe, Paula: Women in the Studio. Creativity, Control and Gender in Popular Music Sound Production, London 2019.
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https://www.billboard.com/articles/events/women-in-music/8487877/ariana-gran de-cover-story-billboard-women-in-music-2018 vom 05.12.2018. https://www.cbsnews.com/news/lady-gaga-makes-history-as-first-female-headli ner -in-a-decade-at-coachella/ vom 14.04.2017. http://www.code2040.org. https://eu.usatoday.com/story/life/entertainthis/2018/01/28/janelle-monae-timesup-grammy/1073781001/ vom 28.01.2018. http://www.femfuture.com. https://www.gq-magazine.co.uk/article/dua-lipa-1-billion vom 29.03.2018. https://www.harpersbazaar.com/celebrity/latest/a13319/lady-gaga-billboard-wo men-in-music-speech/ vom 13.13.2015. https://hbr.org/2016/08/why-do-so-many-women-who-study-engineering-leavethe-field vom 23.08.2016. http://www.independent.co.uk/artsentertainment/music/news/the-tongue-the-twe rking-theteddy-outfit-should-someone-have-stopped-miley-cyrus-vmaperfor mance-8785494.html vom 28.08.2013. https://www.independent.co.uk/arts-entertainment/music/news/miley-cyrus-defe nds-vma-performance-i-wanted-to-make-history-8797687.html vom 04.09. 2013. https://www.independent.co.uk/arts-entertainment/music/features/annie-lennoxeurythmics-nelson-mandela-dave-stewart-sweet-dreams-are-made-of-this-he re-comes-the-a8040811.html vom 9.11.2017. https://www.irishtimes.com/culture/music/madonna-on-the-rules-of-the-musicindustry-be-sexy-be-cute-don-t-age-1.2902919 vom 12.12.2016. https://www.kultur-kreativ-wirtschaft.de/KUK/Redaktion/DE/Publikationen/20 17/ monitoring-wirtschaftliche-eckdaten-kuk-2017.html vom 8.12.2017. https://keychange.eu/about-us. https://www.musicaustria.at/frauen-in-der-musik-2-0-zusammenfassung-einerdiskussion-im-mica/ vom 8.03.2007. http://www.music-news.com/news/UK/110035/Pink-More-needs-to-be-done-totackle-sexism-in-music vom 20.12.2017. https://noisey.vice.com/en_us/article/6wqjkb/the-story-of-being-dropped-by-amajor-label vom 17.06.2015. https://pitchfork.com/features/interview/9582-the-invisible-woman-a-conversati on-with-bjork/ vom 21.01.2015. https://pitchfork.com/news/27349-mia-confronts-the-haters/ vom 03.08.2007. https://projectinclude.org. https://www.refinery29.com/en-us/2018/08/206352/beth-ditto-music-makeuplooks vom 28.08.2018.
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Autor*innen
Arol, Neslihan, finished her Master’s degree in Film and Drama Programme of Kadir Has University (Istanbul) with a practice-based research on clowning from a feminist perspective and performed her solo clown performance in several cities including Berlin, Helsinki, Toronto and Vienna. Currently, she is a PhD student in the Faculty of Performing Arts at Universität der Künste Berlin, where she continues her research on the intersection of feminism and comedy. Her research interests include gender studies, political theatre, puppetry, audience reception in theatre and utopia in performance. She combines her academic and artistic work as a multifaceted practitioner-researcher, who creates her own solo work in clowning, stand-up comedy and meddahlık (a traditional storytelling form in Turkey). Apart from her solo performances, she collectively created performances in Berlin with gastkollektiv and Clowns ohne Grenzen over the last years. She also works as a voice artist, teaches clowning and continues to act throughout Germany in the plays of Bühne für Menschenrechte based in Berlin. Koban, Ellen (Dr.), lehrte von 2010 bis 2013 am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz speziell im Bereich Gender- und Subjekttheorie. Von 2013 bis 2017 forschte sie zudem im Rahmen der interdisziplinären Mainzer DFG-Forschergruppe 1939 Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung zum Un/doing Gender im deutschen Theaterbetrieb aus praxistheoretischer und kulturhistorischer Perspektive. In diesem Forschungszusammenhang promovierte sie 2017 mit der Dissertationsschrift Der Joker im Schauspiel. Zur Reproduktion und Transgression von Typen im deutschen Ensembletheater am Beispiel des Theaterduos Vontobel/Schulz, die im Mai 2018 im Transcript Verlag erschienen ist. Sie ist Mitherausgeberin des Sammelbandes Re/produktionsmaschine Kunst. Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten (Transcript Verlag 2017). Im Sommer 2017 wechselte Ellen Koban als wissenschaftliche Mitarbeiterin in die Stabsstelle Kultur-
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und Kreativwirtschaft der Stadt Heidelberg, wo sie konzeptionell für die gesamtstädtische Strategieentwicklung und beratend wie projektbegleitend für Kulturund Kreativschaffende in der Gründungs- und Nachgründungsphase zuständig ist. Lehmann, Irene (Dr.), ist PostDoc-Stipendiatin des FFL-Programms zur Förderung von Frauen in Forschung und Lehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und arbeitet an einem PostDoc-Projekt zu Gender, Experimenteller Musik und Performancekunst. Sie hält außerdem Lehrveranstaltungen an der FAU Erlangen-Nürnberg. Darüber hinaus arbeitet sie als wissenschaftliche Beraterin für Projekte aus dem Bereich der künstlerischen und ästhetischen Forschung, und berät zur Zeit ein Projekt an der Koninklijke Academie voor Schone Kunsten in Gent, Belgien und eines an der Kunstuniversität Graz, Österreich. Irene Lehmann studierte Theaterwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie an der Freien Universität Berlin und promovierte in Theaterwissenschaft an der FAU Erlangen-Nürnberg mit der Dissertation: Auf der Suche nach einem neuen Musiktheater. Politik und Ästhetik in Luigi Nonos Musiktheater zwischen 1960 und 1975 (Wolke Verlag 2019). Sie erhielt Promotionsstipendien des Ev. Studienwerks Villigst, des Deutschen Studienzentrums Venedig und des Deutschen Historischen Instituts Rom. Moser, Susanne, ist gebürtige Salzburgerin und studierte Betriebswirtschaft in Wien. Sie ist nach Positionen u.a. am Wiener Burgtheater sowie am dortigen Schauspielhaus seit 2005/06 Geschäftsführende Direktorin an der Komischen Oper Berlin. Ab der Spielzeit 2022/23 übernimmt sie zusätzlich zu ihrer aktuellen Position gemeinsam mit Operndirektor Philip Bröking die Intendanz der Komischen Oper Berlin. Susanne Moser ist Mitgründerin der Graf Moser Management GmbH, die mit dem Kulturplaner ein maßgeschneidertes Controllinginstrument für Kulturbetriebe entwickelt hat. Seit 2005 unterrichtet sie Controlling, strategische Unternehmensführung und Kulturmanagement u.a. an der Universität Zürich. Seit 2013 ist Susanne Moser Vorstandsmitglied der Stiftung Berliner Leben und war von 2017 bis 2019 stellvertretende Vorsitzende des Boards von Opera Europa. Von 2009 bis 2018 war sie Aufsichtsratsmitglied der Wiener Burgtheater GmbH, der Staatsoper Wien GmbH, der Volksoper Wien GmbH, der Theaterservice GmbH sowie der Wiener Bundestheater Holding und ist seit 2016 stellvertretende Vorsitzende im Kuratorium des mumok in Wien. 2018 wurde sie als Mitglied in den gesetzlichen Beirat der Berliner Sparkasse bestellt.
Autor*innen | 255
Palme, Pia (Dr.), ist Komponistin, Performerin und Theoretikerin. Ihre stets räumlich gedachten Kompositionen für Solist*innen oder Ensembles verbindet sie mit Installationen, Elektronik oder Video; immer wieder rückt sie die menschliche Stimme in den Vordergrund. Sie lebt in Wien und ist vielfältig tätig, improvisiert, schreibt Texte, lehrt und kuratiert. Die Körperlichkeit ihrer Praxis als Performerin und Blockflötistin und die elektronische Musik liefern ihr einen persönlichen Zugang zur Komposition. Zudem ist die Barockmusik für Pia Palme ein wesentlicher Impulsgeber: Schließlich hat sie mit dem künstlerischen Diplomstudium im Fach Blockflöte am (vorm.) Konservatorium der Stadt Wien (heute Musik und Kunst Universität Wien (MUK)) die Ausbildung zur Instrumentallehrkraft absolviert. Sie hat Oboe studiert und ein Studium der Geometrie und Mathematik an der Technischen Universität Wien abgeschlossen. 2017 promovierte sie im Fach Komposition an der University of Huddersfield. Derzeit forscht sie an der Kunstuniversität Graz: ihr vom FWF Austrian Science Fund gefördertes künstlerisches Forschungsprojekt On the Fragility of Sounds untersucht den Kompositionsprozess von Musiktheater als feministische Praxis. Als Performerin wirkt Palme bei experimentellen Projekten mit und entwickelt das interdisziplinäre Format der Performance-Lecture weiter. Sie erhielt mehrere Preise, darunter das Staatsstipendium für Komposition der Republik Österreich, eine Kompositionsförderung durch die Ernst-von-Siemens Stiftung (2017), den George-ButterworthPrize für Komposition und den Ernst-Krenek-Preis der Stadt Wien (2016) sowie den Outstanding Artist Award der Republik Österreich (2015). Quiñones, Aenne, ist Kuratorin und Dramaturgin für zeitgenössische performative Künste. Nach ihrem Studium an der Humboldt-Universität Berlin war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ostberliner Akademie der Künste tätig und arbeitete hier u.a. an der Konzeption für die Neugründung einer Europäischen Sozietät unter Leitung von Heiner Müller. 1996 war sie Mitbegründerin und bis 2003 Mitglied der künstlerischen Leitung des Theaterfestivals reich&berühmt in Berlin. Von 1997 bis 2002 war sie im künstlerischen Leitungsteam des Berliner Podewil – Zentrum für aktuelle Künste für das Theater- und Performanceprogramm verantwortlich, u.a. 1997 das Festival Live Art – New Theatre for the 90s. Von 2002 bis 2011 arbeitete sie an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und hier insbesondere als Kuratorin und Dramaturgin für die Volksbühne im Prater in enger Zusammenarbeit mit René Pollesch. Es entstanden u.a. Produktionen mit Gob Squad, René Pollesch, Schorsch Kamerun, Stefan Pucher und Forced Entertainment. 2004 war sie Teil der Künstlerischen Leitung der Ruhrfestspiele Recklinghausen unter Frank Castorf. 2010 und 2012 war sie Künstlerische Leiterin des Theaterfestivals FAVORITEN in Dortmund und während der Spielzeit
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2011/12 als Dramaturgin am Residenztheater München tätig. Seit September 2012 ist sie Stellvertretende Künstlerische Leiterin im HAU Hebbel am Ufer in Berlin unter Intendanz und Geschäftsführung von Annemie Vanackere. Hier kuratierte sie u.a. die Festivals Good Guys Only Win in Movies – Künstlerische Positionen aus Bukarest und Chišinau (2014), Die Ästhetik des Widerstands – Peter Weiss 100 (2016) und Einar Schleef – Erinnern ist Arbeit (2019). Rosenblit, Jen, makes performances based in both New York City and Berlin surrounding architectures, bodies and ideas concerned with problems that arise inside of agendas for togetherness. Rosenblit’s works lean toward the uncanny and maintenance of care, locating ways of being together amidst impossible spaces. Often chasing after existing notions and images, the process tracks the tangential rather than the linear, looking for meaning as it emerges between things. Rosenblit has collaborated with artists including Simone Aughterlony, Miguel Gutierrez, A.K. Burns and Philipp Gehmacher. Recent works include I’m Gonna Need Another One (2018–2019 co-production between Sophiensaele (DE) and The Chocolate Factory Theater (NYC)), Everything Fits In The Room (a 2017 collaboration with Simone Aughterlony, HAU Hebbel am Ufer), Swivel Spot (2017, The Kitchen), Clap Hands (2016, The Invisible Dog/New York Live Arts), a Natural dance (2014, The Kitchen). Rosenblit is a 2018 Guggenheim Fellow, a 2018 Atelier Mondial Artist-in-Residence in Basel, Switzerland, a 2015–16 Movement Research Artist-in-Residence, a 2014–2015 Workspace Artist through Lower Manhattan Cultural Council, a recipient of a 2014 New York Dance and Performance Bessie Award, a 2013 Fellow at Insel Hombroich (Nuese, Germany) and a recipient of the 2012 Grant to Artists from the Foundation for Contemporary Arts. Rost, Katharina (Dr.), ist Theaterwissenschaftlerin und seit 2017 Stipendiatin des Programms Exzellente Wissenschaftlerinnen für die Universität Bayreuth. Sie arbeitet an ihrem PostDoc-Projekt zu Pop-Personae, Gender und der Verhandlung von Identitätskategorien und lehrt im Bereich Theater und Medien der Universität Bayreuth. 2015 promovierte sie zum Hören und zur auditiven Aufmerksamkeit im Theater an der Freien Universität Berlin (Sounds that matter, Transcript Verlag 2017). Bis 2016 arbeitete sie mehrere Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Darüber hinaus hat sie Seminare an verschiedenen anderen theater- und musikwissenschaftlichen Instituten gegeben, u.a. an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der FAU Erlangen-Nürnberg oder auch der Kunstuniversität Graz. Sie gehört der Gender-AG der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, der Fachgesellschaft Gender e.V. sowie dem in Bayreuth lokalisierten Netzwerk Gequindi
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(Gender-Queer-Intersektionalität-Diversität) an. Neben der wissenschaftlichen Betätigung hat sie im Bereich der Pressearbeit für Tanzfestivals wie z.B. Tanz im August und als Assistentin des Regisseurs Rabih Mroué sowie der Choreografin Deborah Hay gearbeitet. Schiel, Lea-Sophie (Dr.), studierte Theater- und Medienwissenschaft und Philosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) sowie an der Universität Bern. Parallel zu ihrem Studium sammelte sie zahlreiche Erfahrungen im Rahmen von Praktika (schauspielfrankfurt und Staatstheater Nürnberg), der Organisation von Theaterfestivals (u.a. Arena… der jungen Künste) und Jury-Tätigkeiten. Von 2012–2014 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Theater- und Medienwissenschaft wie dem Büro für Gender und Diversity an der FAU tätig. Zudem ist sie Mitglied des mehrfach ausgezeichneten Performance-Kollektivs Hysterisches Globusgefühl. Ihre Monografie Theater im politischen Kampf wurde mit dem Förderpreis der Gesellschaft für Theatergeschichte 2012 ausgezeichnet. Sie promovierte als Stipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung an der Freien Universität Berlin (FU) über Das Theater des Obszönen. Über Sex-Performances. Neben Lehraufträgen an der FU, FAU sowie der Hochschule für Bildende Kunst (HFBK) Dresden wurde sie für Vorträge über Sex-Performances u.a. nach Bochum, Chester (Großbritannien), Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hyderabat (Indien) und Wien (Österreich) eingeladen. Ferner ist sie Mitglied des wissenschaftlichen Ausschusses der Gesellschaft für Theatergeschichte sowie der AG-Gender der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Schrödl, Jenny (Dr.), ist seit 2015 Juniorprofessorin am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin mit den Schwerpunkten Gegenwartstheater und Performancekunst. Von 2015–2018 leitete sie die Nachwuchsgruppe Kunst-Paare. Beziehungsdynamiken und Geschlechterverhältnisse in den Künsten (FU/MPIB). Im Rahmen des Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen promovierte sie 2010 mit einer Studie zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater (Vokale Intensitäten, Transcript Verlag 2012). Von 2011 bis 2013 war sie als Koordinatorin in verschiedenen genderorientierten Forschungsverbünden der Freien Universität und der Humboldt-Universität Berlin tätig. Sie ist Initiatorin und Leiterin der Arbeitsgruppe Gender der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (gem. mit Rosemarie Brucher). Jenny Schrödl arbeitet derzeit an einem Habilitationsprojekt zu Inszenierungen von Geschlecht in den performativen Künsten der Gegenwart. Zu ihren Publikationen zählen u.a.: Kunst-Paare. Historische, ästhetische und politische Dimensionen, (hg. mit Magdalena Beljan und Maxi
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Grotkopp), Berlin: Neofelis 2017; Die Kategorie ›Gender‹ in der Theaterwissenschaft und im Gegenwartstheater, in: Gender und Diversity – die Perspektiven verbinden, hg. von Karoline Spelsberg-Papazoglou, Berlin et al.: Lit-Verlag 2016, S. 28–39; Gender Performances. Theaterwissenschaftliche Perspektiven und Problematiken, in: etum 1:1 (2014), S. 33-52. Sharifi, Azadeh (Dr.) ist Theater- und Kulturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2016 arbeitet sie an ihrem PostDoc-Projekt (Post)migrantisches Theater in der deutschen Theatergeschichte – (Dis)Kontinuitäten von Ästhetiken und Narrativen am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 2014 bis 2015 war sie Fellow am Internationalen Forschungskolleg Interweaving Performance Cultures der Freien Universität Berlin. 2011 und 2013 war sie als wissenschaftliche Autorin beim Balzan-Preis Forschungsprojekt Die Rolle der freien Theater im europäischen Theater der Gegenwart: Strukturelle und Ästhetische Veränderungen unter der Leitung von Prof. emer. Dr. Manfred Brauneck und dem Internationalen Theaterinstitut (ITI) Deutschland tätig. Azadeh Sharifi ist Mitglied des Future Advisory Board des Performance Studies international (PSi). Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit ist sie auch in praxisnahen Feldern, u.a. als Kuratorin und Jurorin tätig. Simon, Rainer (Dr.), ist Theater- und Musikwissenschaftler, Kulturmanager und Kurator. Seit 2012 ist er als Referent des Intendanten an der Komischen Oper Berlin engagiert. Zudem ist er Vorstandsmitglied des Vereins Zeitgenössisches Musiktheater Berlin e.V. sowie Jury- und Kuratoriumsmitglied des BAM!Festivals für aktuelles Musiktheater Berlin. Er hält Lehrveranstaltungen u.a. an der Kunstuniversität Graz, der Universität der Künste Berlin und der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2008 bis Ende 2010 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter innerhalb des Sonderforschungsbereichs Kulturen des Performativen an der Freien Universität Berlin. 2016 promovierte er bei Prof. Dr. Clemens Risi an der FAU Erlangen-Nürnberg. Seine 2018 erschienene Dissertation Konzert der Sinne (Rombach Verlag 2018) setzt sich mit den Möglichkeiten einer phänomenologischen Analyse von Musikaufführungen auseinander. Weitere Forschungsschwerpunkte sind u.a. Gender in Musikaufführungen, die Produktionsbedingungen von freien Musiktheaterprojekten (siehe Labor oder Fließband, Theater der Zeit 2013) sowie die Berliner Jazz-Operette (siehe Kunst der Oberfläche. Operette zwischen Bravour und Banalität, hg. mit Bettina BrandlRisi, Clemens Risi und Ulrich Lenz, Henschel Verlag 2015).
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Stauss, Sebastian (Dr.), lehrt und forscht seit 2009 am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2018 ist er Mitarbeiter in der DFG-Forschungsgruppe Krisengefüge der Künste zum Thema Musiktheatervermittlung (Teilprojekt Die dritte Ebene). Er studierte Theaterwissenschaft, Anglistik und Germanistik und promovierte zum ästhetizistischen Künstlerbild im europäischen Theater des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Zwischen Narzissmus und Selbsthass, De Gruyter Verlag 2010). Außerdem arbeitete er als Redakteur für klassische Musik in der Tonträgerbranche, freier Journalist und Autor (neben wissenschaftlichen Aufsätzen mehrfach von Artikeln in deutsch- und englischsprachigen Nachschlagewerken, Programmheft- und Katalogbeiträgen). Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf institutionellen Entwicklungen des Musiktheater- und Orchesterbetriebs (z.B. 2018 zur Geschichte der Münchner Philharmoniker im Nationalsozialismus), Theorie und Aufführungsgeschichte des Musiktheaters seit dem 19. Jahrhundert sowie Ensemblestrukturen und Entwicklungen des europäischen Theaters. Vanackere, Annemie, arbeitete nach ihrem Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft in Leuven und Paris im Leuvener Kunstencentrum STUC und übernahm dort für das renommierte Tanzfestival Klapstuk '91 die Gesamtkoordination. 1993 leitete sie DE ARK, ein internationales Kunst- und Theaterprojekt im Rahmen von Antwerpen 93, Culturele Hoofdstad van Europa (Kulturhauptstadt Europas), bevor sie ab Herbst 1993 die künstlerische Leitung des Nieuwpoorttheater in Gent übernahm. 1995 wurde sie Kuratorin für Tanz und Theater an der Rotterdamse Schouwburg und 2001 Künstlerische Ko-Leiterin. Im selben Jahr übernahm sie die Gesamtleitung des an die Schouwburg angegliederten Productiehuis Rotterdam sowie die künstlerische Leitung von De Internationale Keuze van de Rotterdamse Schouwburg, dem 2001 von ihr mitgegründeten jährlich stattfindenden internationalen Theater-, Tanz- und Performancefestival in Rotterdam. 2012 übernahm Annemie Vanackere mit einem neuen künstlerischen Team die Intendanz und Geschäftsführung des HAU Hebbel am Ufer in Berlin. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Interdisziplinarität ohne Verlust von disziplineigenen Bedingungen, Internationalität im Dialog mit dem eigenen urbanen Kontext, Feminismus (siehe u.a. im HAU-Festival Männlich Weiß Hetero – Ein Festival über Privilegien), Strukturen von Macht und Ohnmacht (u.a. im HAUFestival The Power of Powerlessness), Aufbau eines zeitgenössischen Repertoires (u.a. mit She She Pop) und die nachhaltige Verbesserung von Produktionsbedingungen sowie die Schaffung von Freiräumen für die künstlerische Arbeit – immer auch mit Blick auf Begegnungen mit dem Publikum.
260 | Staging Gender
Wittrock, Eike (Dr.), ist Tanzhistoriker und Kurator, und arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur an der Universität Hildesheim. Seine Forschungen zur Historiografie des europäischen Bühnentanzes und zu queeren und exotistischen Performances präsentiert er sowohl in wissenschaftlichen wie auch in künstlerischen Zusammenhängen. In seinem derzeitigen Forschungsprojekt beschäftigt er sich mit der Geschichte des »Schwulen Theaters« in den 1970er Jahren. Zuvor promovierte er an der Freien Universität Berlin über das Ornamentale des Balletts im 19. Jahrhundert und forschte im DFG-Projekt Bilder von Bewegung zur Tanzfotografie von 1900– 1920. Gemeinsam mit Anna Wagner ist er Initiator des Julius-Hans-SpiegelZentrums, einem künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungsprojekt zu den Exotismen in der Tanzmoderne. Darüber hinaus war er von 2013–2016 KoKurator des Internationalen Sommerfestivals Kampnagel, wo im Sommer 2016 die ebenfalls mit Anna Wagner entwickelte Greatest Show on Earth. Ein Internationaler Performance-Zirkus für das 21. Jahrhundert Premiere hatte. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen Arabesken. Das Ornamentale des Balletts im frühen 19. Jahrhundert (2017), Floriographie. Die Sprachen der Blumen (Hg. 2016), Tanzfotografie. Historiografische Reflexionen der Moderne (Hg. 2015) sowie Bittersweet Memories. Looking for Queer Evidence in the Archives, in: Gurur Ertem/Sandra Noeth (Hg.), Bodies of Evidence. Ethics, Aesthetics, and Politics of Movement, Wien: Passagen Verlag 2018, 247-257.
Gabriele Klein
Pina Bausch und das Tanztheater Die Kunst des Übersetzens September 2019, 408 Seiten, Hardcover, 34,99 €, ISBN 978-3-8376-4928-4, E-Book: 34,99 €
Gabriele Klein präsentiert eine neue und wegweisende Sichtweise auf die Arbeit des Tanztheaters Wuppertal: Die Entwicklung und Aufführung der Stücke, die Weitergabe von choreografischem Material und die Reaktionen der Öffentlichkeit werden als komplexe, voneinander abhängige und wechselseitige Übersetzungsprozesse dargestellt. Das Buch rückt zum ersten Mal die künstlerische Forschung vor allem bei den internationalen Koproduktionen des weltweit bekannten Ensembles in den Fokus und bietet umfangreiches empirisches Material in Form von Interviews mit Tänzer*innen, Mitarbeiter*innen und Publikum sowie ethnografische Studien an den koproduzierenden Orten. Eine Praxeologie des kulturellen und ästhetischen Übersetzens wird als tragfähiges Schlüsselkonzept für die Erforschung von Tanz und Kunst eingeführt.
Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)
Choreografischer Baukasten. Das Buch (2. Aufl.) Februar 2019, 280 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4677-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4677-5
Manfred Brauneck
Die Deutschen und ihr Theater Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« – oder: Ist das Theater überfordert? 2018, 182 S., kart., Klebebindung 24,99 € (DE), 978-3-8376-3854-7 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3854-1 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3854-7
Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)
Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche 2017, 270 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater- und Tanzwissenschaft Adam Czirak, Sophie Nikoleit, Friederike Oberkrome, Verena Straub, Robert Walter-Jochum, Michael Wetzels (Hg.)
Performance zwischen den Zeiten Reenactments und Preenactments in Kunst und Wissenschaft Februar 2019, 296 S., kart., Klebebindung, 31 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4602-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4602-7
Ingrid Hentschel (Hg.)
Die Kunst der Gabe Theater zwischen Autonomie und sozialer Praxis Januar 2019, 310 S., kart., Klebebindung, 6 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4021-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4021-6
Olivia Ebert, Eva Holling, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Schulte, Bernhard Siebert, Gerald Siegmund (Hg.)
Theater als Kritik Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung 2018, 578 S., kart., Klebebindung, 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4452-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4452-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de