Rassismuskritische Bildungsarbeit. Reflexionen zu Theorie und Praxis [1. ed.] 9783734411885, 9783734411892


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German Pages 192 [193] Year 2021

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Rassismuskritische Bildungsarbeit. Reflexionen zu Theorie und Praxis [1. ed.]
 9783734411885, 9783734411892

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Karim Fereidooni, Stefan E. Hößl (Hg.)

Rassismuskritische Bildungsarbeit

Reflexionen zu Theorie und Praxis

© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Karim Fereidooni, Stefan E. Hößl (Hg.)

Rassismuskritische Bildungsarbeit Reflexionen zu Theorie und Praxis

WOCHEN SCHAU VERLAG

© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

©

WOCHENSCHAU Verlag, Dr. Kurt Debus GmbH Frankfurt/M. 2021

www.wochenschau-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Umschlaggestaltung: Ohl Design Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier Gesamtherstellung: Wochenschau Verlag ISBN 978-3-7344-1188-5 (Buch) E-Book ISBN 978-3-7344-1189-2 (PDF) DOI https://doi.org/10.46499/1717

© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

Inhalt

KARIM FEREIDOONI, STEFAN E. HÖßL

Rassismuskritische Bildungsarbeit und die Unmöglichkeit eines pädagogisch-didaktischen ‚Königsweges‘. Eine Hinführung . . . . . . . . . .

7

Teil I Annäherungen an ein komplexes Phänomen Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

5

SHADI KOOROSHY, PAUL MECHERIL, SAPHIRA SHURE

Rassismus in der Migrationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Teil II Fokussierungen auf Theorie und Praxis rassismuskritischer Bildungsarbeit Gadje-Rassismus KARIM FEREIDOONI

Gadje-Rassismus am Beispiel des deutschen Schulwesens . . . . . . . . . . . .

37

AMARO DROM, AMARO FORO

Empowerment und Rassismussensibilisierung bei Amaro Drom e. V.: Politische Selbstorganisation, gegenseitige Vernetzung, historische Bildungsarbeit und intersektionale Arbeitsweisen aus Sicht junger Rom*nja und Sinti*zze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Antimuslimischer Rassismus RIEM SPIELHAUS

Antimuslimischer Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

84

Inhalt

MARIAM PUVOGEL, SINDYAN QASEM

Antimuslimischer Rassismus als Gegenstand der pädagogischen Islamismusprävention – eine kritische Reflexion der eigenen Praxis . . . .

99

SABA-NUR CHEEMA

(K)Eine Glaubensfrage. Bildungsarbeit im Kontext religiöser Pluralität und antimuslimischem Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

Teil III Exotisierung FALLON TIFFANY CABRAL, KERTI PUNI-SPECHT, TRAN THU TRANG, Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

6

NOA K. HA

Kulturproduktion und Selbstorganisierung im Spannungsfeld von Exotisierung und Rassismuskritik: Asiatische Deutsche im Blick . . . . . .

119

Teil IV Exkurs und Widerstand Intersektionalität von Rassismus, gender und sexueller Orientierung aus der Theorie- und Praxisperspektive ZÜLFUKAR ÇETIN

Einführung in die Intersektionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141

ÖZCAN KARADENIZ, ANNA SABEL

Rassismuskritische Bildungsarbeit als Gefühlsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . .

153

Zur Theorie und Praxis von Empowerment ILINDA REBECCA BENDLER, NADINE GOLLY UNTER MITARBEIT VON LAURA DIGOH-ERSOY

Empowerment. Selbstermächtigung. Ein politisches und emanzipatives Konzept zur Schaffung eigener Räume und Narrative . . . . . . . . . . . . . . .

160

Autor*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

7

KARIM FEREIDOONI, STEFAN E. HÖßL

Rassismuskritische Bildungsarbeit und die Unmöglichkeit eines pädagogisch-didaktischen ‚Königsweges‘. Eine Hinführung

Annäherungen

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

Rassismuskritische Bildungsarbeit

Rassismus ist weit mehr als ein bloßes Konglomerat von Vorurteilen oder schlichtweg falscher Annahmen über bestimmte Menschen, die als Mitglieder imaginierter Kollektive wahrgenommen werden. Rassistisches Wissen ist auch keineswegs auf die extreme Rechte beschränkt, sondern wurde vielmehr über Jahrhunderte (re-)produziert und tradiert. Er ist ein Bestandteil des kollektiven Wissens in der bundesrepublikanischen Gesellschaft – und ein machtvolles Element im Kampf um Ressourcen und Zugänge zu gesellschaftlichen Positionen. Für Menschen, die Erfahrungen mit Rassismus machen müssen, stellt er eine latente und oftmals täglich erlebte Belastung und Bedrohung sowie eine zum Teil tödliche Gefahr dar. Rassistische Gewalt und rassistischer Terror sind seit Langem ein Teil der Realität der Bundesrepublik Deutschland. Aber auch weniger extrem wirkende Erscheinungsformen von Rassismus verweisen auf ein immanentes, latent antidemokratisches Potential: Rassismus entindividualisiert und dehumanisiert, er wirkt gewaltlegitimierend und in grundlegender Weise steht er dem Ideal eines respektvollen Miteinanders sowie der Achtung der ‚Würde des Menschen‘ diametral entgegen. Mit Blick auf die Wahrnehmung von Rassismus lassen sich deutliche Diskrepanzen erkennen, je nachdem, wie Menschen positioniert sind. Menschen, die als ‚weiß‘ wahrgenommen werden und aufgrund ihrer gesellschaftlichen Positionierung keine Rassismuserfahrungen machen (können), reflektieren auffallend selten, dass es sich hierbei um ein Privileg handelt, über das Menschen, die als ‚of Color‘ oder ‚Schwarz‘ gelesen werden, nicht verfügen. Allein die Frage, woher man denn komme, die bei der Nennung eines deutschen Städtenamens durch ein „Nein, woher denn wirklich?“ ergänzt wird, mag hierauf ein Verweis sein. Solche Fragen werden zumeist Menschen gestellt, die als nicht-zugehörig, nicht als Teil des ‚Wir‘, nicht als ‚deutsch‘ wahrgenommen und damit zu ‚Ande© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

Karim Fereidooni, Stefan E. Hößl

ren‘ gemacht werden. Was als interessierte Nachfrage gemeint sein mag, offenbart vieles, was Rassismus charakterisiert: Für die meisten Menschen ist er ein selbstverständliches Wissen, ein solches, dessen sie sich nicht bewusst sind. Es läge ihnen fern, sich als Rassist*innen zu verstehen, gleichzeitig verfügen sie über rassismusrelevante Wissensbestände. Auch wenn die Intention bei solch einer Frage Neugier oder freundliches Interesse sein mag, dokumentiert sich darin ein spezifischer Blick auf Gesellschaft: Deutsch-Sein wird nicht über Fragen nach der Staatsbürgerschaft resp. den Pass definiert, sondern über Weißsein. Die HipHop-Gruppe ‚Advanced Chemistry‘ kommt auf solcherlei, keineswegs nur etwa punktuelle Erfahrungen 1992 in ihrem Lied ‚Fremd im eigenen Land‘ zu sprechen. Hier rappt Torch, mit bürgerlichem Namen Frederik Hahn: Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

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„Ey, bist Du Amerikaner oder kommste aus Afrika? Noch ein Kommentar über mein Haar, was ist daran so sonderbar? Ach, Du bist Deutscher, komm, erzähl kein Scheiß! Du willst den Beweis? Hier ist mein Ausweis: Gestatten Sie, mein Name ist Frederik Hahn! Ich wurde hier geboren, doch wahrscheinlich sieht man es mir nicht an. Ich bin kein Ausländer, Aussiedler, Tourist, Immigrant, sondern deutscher Staatsbürger und komme zufällig aus diesem Land“. Dass Heterogenität – und dies in vielfältigster Hinsicht – etwas Konstitutives für die deutsche Migrationsgesellschaft und schlichtweg den Normalfall darstellt, ist längst noch nicht umfassend im Bewusstsein der Bevölkerung angekommen – und insofern machen Menschen wie Frederick Hahn derartige Erlebnisse des Fremdgemachtwerdens.

Mit Bildung gegen Rassismus!? Vor dem Hintergrund der Komplexität des Gegenstandsbereichs sind die Fragen ‚Was tun gegen Rassismus? Und wie?‘ sicherlich nicht einfach zu beantworten. Mit Blick auf den Erhalt und die Förderung von Demokratie kann die Aufgabe, Rassismus zu entgegnen, nicht auf Einzelne oder bestimmte Bereiche der Gesellschaft wie etwa Justiz, Behörden und Gesetzgeber*innen, zivilgesellschaftliche Akteur*innen, pädagogisch Tätige, Politiker*innen oder politische Bildner*innen beschränkt bleiben. Der alleinige Ruf nach Bildung erscheint verkürzt, dennoch kommt Bildung(-sarbeit) eine besondere Relevanz zu, wenn es mit Blick auf Rassismus um Fragen nach Sensibilisierungen, Irritationen von Selbstverständlichkeiten oder auch einen Zuwachs an Fakten- oder handlungsbezoge© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

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Rassismuskritische Bildungsarbeit

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nem Wissen geht. Sicher ist dabei, dass es den Königsweg oder die Best-PracticeMethode nicht geben kann. Im pädagogischen Feld existiert eine Vielzahl von Zugängen, die sich auf das Angeführte beziehen: Ansätze aus dem Bereich der rassismuskritischen Pädagogik, Social-Justice- und Anti-Rassismus-Trainings u. v. m. Der vorliegende Sammelband fokussiert auf rassismuskritische Bildungsarbeit und geht dabei doppelgleisig vor: Der Anspruch, Theorie und Praxis zu verzahnen, war für die Konzeption des Bandes handlungsleitend. Einerseits eröffnet er die Möglichkeit für theoretische Auseinandersetzungen mit verschiedenen Erscheinungsformen des Rassismus sowie mit intersektionalen Zugängen und Formen des Widerstands, andererseits werden immer auch praxisbezogene Erfahrungen zu rassismuskritischer Bildungsarbeit ins Zentrum gerückt. Nach einem Beitrag, der Grundlegendes zu ‚Rassismus(-kritik) in der Migrationsgesellschaft‘ beinhaltet und in den Band einführt, wurden mehrere Schwerpunktbereiche aufgenommen. In jedem dieser Bereiche kommen sowohl Wissenschaftler*innen als auch Praktiker*innen der Bildungsarbeit zu Wort. Einerseits werden so wissenschaftlich-theoretische Erkenntnisse zum jeweiligen Schwerpunkt in einer Weise vermittelt, die einer breiten Leser*innenschaft einen Zugang ermöglichen soll. Andererseits thematisieren Praktiker*innen aus dem Feld der rassismuskritischen Bildungsarbeit ihre Strategien und Konzepte.

Überblick über die Inhalte des Bandes Der Sammelband ist vierteilig aufgebaut. In Teil I mit dem Titel Annäherungen an ein komplexes Phänomen beschäftigen sich Shadi Kooroshy, Paul Mecheril und Saphira Shure in einer grundlegenden Weise mit dem Thema Rassismus in der Migrationsgesellschaft. Im Zentrum des rassistischen Denkens, so verdeutlichen die Verfasser*innen, steht eine binäre Unterscheidung zwischen einem natioethno-kulturell kodierten ‚Wir‘ und ‚Nicht-Wir‘. Rassismus wird als eine Praxis beschrieben, die von einem symbolischen Schema der hierarchisierenden und oppositionellen Unterscheidung getragen wird und mit den Mitteln verknüpft ist, diese Unterscheidungen praktisch wirksam werden zu lassen. Rassismuskritik wird vor diesem Hintergrund als kreative, notwendig reflexive, offene, beständig zu entwickelnde, gleichwohl entschiedene Praxis verstanden, die erkundet, wie es möglich ist, nicht in dieser Weise und nicht in diesem Maß auf rassistische Handlungs-, Erfahrungs- und Denkformen zurückzugreifen. Teil II trägt den Titel Fokussierungen auf Theorie und Praxis rassismuskritischer Bildungsarbeit und ist unterteilt in zwei Bereiche – in einem ersten widmen sich © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

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Karim Fereidooni, Stefan E. Hößl

Karim Fereidooni und Amaro Drom e. V. dem Phänomen Gadje-Rassismus. Im zweiten wenden sich Riem Spielhaus, Mariam Puvogel und Sindyan Qasem sowie Saba-Nur Cheema dem antimuslimischen Rassismus zu. In seinem Theorie-Beitrag mit dem Titel Gadje-Rassismus am Beispiel des deutschen Schulwesens geht Karim Fereidooni zum einen auf den institutionellen und individuellen schulischen Rassismus im Allgemeinen ein, bevor er sich im Speziellen mit dem schulischen Gadje-Rassismus auseinandersetzt. Ferner beleuchtet er, welche Aspekte rassismuskritischen Wissens für die Erweiterung des Professionswissens von (angehenden) Lehrer*innen notwendig sind. Der praxisbezogene Beitrag Empowerment und Rassismussensibilisierung bei Amaro Drom e. V.: Politische Selbstorganisation, gegenseitige Vernetzung, historische Bildungsarbeit und intersektionale Arbeitsweisen aus Sicht junger Rom*nja und Sinti*zze skizziert sodann die Arbeit von Amaro Drom e. V., die eine Jugendselbstorganisation von Rom*nja und Nicht-Rom*nja ist und sich zum Ziel gesetzt hat, Empowerment junger Rom*nja und Sinti*zze zu betreiben sowie Rassismussensibilisierung anzubieten. Die Arbeitsschwerpunkte des Vereins liegen im Bereich der informellen Bildung, der Hilfestellung im Übergang von der Schule in den Beruf und transnationaler Vernetzung. In einem theoretischen Beitrag fokussiert Riem Spielhaus sodann auf antimuslimischen Rassismus. Da in wissenschaftlichen Zusammenhängen kein Konsens besteht, wie islamfeindliche Einstellungen und Strukturen bezeichnet werden sollen, diskutiert sie verschiedene Begrifflichkeiten wie ‚Islam- und Muslim*innenfeindlichkeit‘, ‚Islamophobie‘ und ‚antimuslimischer Rassismus‘ und die mit ihnen jeweils verbundenen Annahmen, Perspektiven und Konzepte und ordnet sie ein. Zum Thema ‚antimuslimischer Rassismus‘ finden sich im Anschluss hieran zwei Beiträge mit Praxisbezug. Mariam Puvogel und Sindyan Qasem stellen in ihrem Beitrag Antimuslimischer Rassismus als Gegenstand der pädagogischen Islamismusprävention – eine kritische Reflexion der eigenen Praxis die Arbeit von Ufuq.de dar. Die Verfasser*innen geben den Leser*innen einen Einblick in die Arbeitsweise dieses bundesweit aktiven und in diversen Islamismuspräventionsprogrammen geförderten Trägers, der u. a. den Leitsatz besitzt: Es kann nicht über Islamismus gesprochen werden, ohne auch Islamfeindlichkeit zu thematisieren. Ufuq.de war eine der ersten Organisationen, die pädagogische Angebote zu Islamfeindlichkeit und antimuslimischen Rassismus entwickelten und durch Fortbildungen und Materialien auch Multiplikator*innen für diese Themen sensibilisierten. In Ihrem Beitrag (K)Eine Glaubensfrage. Bildungsarbeit im Kontext religiöser Pluralität und antimuslimischem Rassismus geht Saba-Nur Cheema vor dem Hin© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

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Rassismuskritische Bildungsarbeit

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tergrund von Erfahrungen und Beispielen aus der Praxis der Bildungsarbeit der Bildungsstätte Anne Frank auf die problematische Wahrnehmung religiöser Konflikte als Konflikte mit ‚den Anderen‘ in pädagogischen Settings ein. Sie diskutiert dabei, wann Religion bzw. die religiöse Zugehörigkeit zum Thema wird – und wann nicht – und stellt dar, dass Konflikte im pädagogischen Miteinander oftmals dann als ‚religiöse‘ wahrgenommen werden, wenn Jugendliche beteiligt sind, die muslimisch sind oder von Pädagog*innen als solche identifiziert werden. Mit Bezug zur Praxis ihrer Bildungsarbeit thematisiert die Verfasserin, wie kulturalisierenden Erklärungsmustern alternative Deutungsmuster und Narrative entgegensetzt werden können, um Reflexionsprozesse anzustoßen. Im Teil III des Bandes, in dem der Fokus auf Exotisierung liegt, widmen sich Fallon Tiffany Cabral, Kerti Puni-Specht, Tran Thu Trang, Noa K. Ha in ihrem Artikel Kulturproduktion und Selbstorganisierung im Spannungsfeld von Exotisierung und Rassismuskritik: Asiatische Deutsche im Blick der Frage, inwiefern asiatisch/e (gelesene) Menschen von Exotisierung und Orientalisierung betroffen sind. Der Artikel bietet nicht nur theoretisch Reflexionen, sondern auch konkrete Antworten für als asiatisch-deutsch markierte/gelesene Menschen in der politischen (rassismuskritischen) Arbeit. Dabei gehen die Verfasser*innen u. a. der Fragestellung nach, wie ein exotisierender Rassismus im Verhältnis zu antimuslimischem und/oder anti-Schwarzem Rassismus steht. Exkurs und Widerstand ist der Titel des Teil IV des Sammelbandes. In ihm sind Beiträge von Zülfukar Çetin, Özcan Karadeniz und Anna Sabel sowie von Ilinda Bendler, Nadine Golly und Laura Digoh-Ersoy versammelt. Dem Thema Intersektionalität von Rassismus, gender und sexueller Orientierung widmet sich Zülfukar Çetin aus der Theorieperspektive. Praxisbezogene Reflexionen steuern sodann Özcan Karadeniz und Anna Sabel bei. Zülfukar Çetin trägt mit seinem Beitrag eine Einführung in die Intersektionalität zum Band bei. Er zeichnet die Entstehung intersektionaler Perspektiven, ausgehend von Interventionen US-amerikanischer queer-feministischer Schwarzer Frauen und Women of Color, nach und geht auf die Verwobenheit mehrdimensionaler, intersektionaler Diskriminierungen ein. Dabei zeigt er auf, wie Diskriminierungen, die Menschen aufgrund unterschiedlicher zugeschriebener und/oder tatsächlicher Merkmale erfahren, mit der Macht gesellschaftlicher Diskurse zusammenhängen. Der Verfasser diskutiert Ansätze zur Intersektionalität in wissenschaftlichen Zusammenhängen und in der Antidiskriminierungsarbeit. Rassismuskritische Bildungsarbeit als Gefühlsarbeit ist im Anschluss das Thema, dem sich Özcan Karadeniz und Anna Sabel widmen. Im Fokus stehen da© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

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Karim Fereidooni, Stefan E. Hößl

bei Interdependenzen zwischen rassistischen und genderbezogenen Konstruktionen sowie damit verbundene Machtverhältnisse. Vor dem Hintergrund ihrer Praxiserfahrungen stellen die Verfasser*innen dar, welche Bedeutung Verunsicherungen und Gefühlen in diesem Themenfeld zukommt und vor welche Herausforderungen sie gestellt sind, wenn sie problematische Gewissheiten zu irritieren versuchen. Der Beitrag Empowerment. Selbstermächtigung. Ein politisches und emanzipatives Konzept zur Schaffung eigener Räume und Narrative schließt den Band ab. In ihm skizzieren Ilinda Bendler und Nadine Golly unter Mitarbeit von Laura Digoh-Ersoy einen Empowerment-Ansatz, der es Menschen mit Rassismusund Diskriminierungserfahrungen in geschützte(re)n Räumen ermöglichen soll, auf Situationen, in denen sie machtlos, wütend und unzufrieden waren, mit neuem Wissen und neuen Handlungsstrategien ausgestattet, in Zukunft anders reagieren zu können. Dabei thematisieren sie, wie über die Vermittlung von Wissen sowie ein Ausdrücken und Teilen von Rassismuserfahrungen Sprachlosigkeit überwunden werden kann. Die Herausgeber danken Irene Allerborn für die Durchsicht der Beiträge und die Arbeit am Layout des Bandes.

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Rassismuskritische Bildungsarbeit

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Teil I Annäherungen an ein komplexes Phänomen

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14 Karim Fereidooni, Stefan E. Hößl

 

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SHADI KOOROSHY, PAUL MECHERIL, SAPHIRA SHURE

Rassismus in der Migrationsgesellschaft1

„[…] I would insist more on the articulation with ‚nation‘. And therefore, the link between racism, xenophobia, and a certain understanding of the national identity as a homogenous category has to do with the fact that you need to take into account the cultural factor in the definition of ‚race‘.“ (Balibar 2018, 253)

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

Rassismus in der Migrationsgesellschaft

Einleitung Wenn wir die zerstörerische Gewalt des Menschen gegen den Menschen, sei diese Gewalt nun strukturell oder interaktiv, körperlich oder symbolisch, als ein Phänomen verstehen, in dem es, um es allgemein zu formulieren, um die Bewahrung, Wiederherstellung, Bestätigung oder Veränderung sozialer Ordnung geht, dann ist rassistische Gewalt nicht nur Ausdruck einer „Rasse-Ordnung“, sondern auch darauf bezogen, diese Ordnung zu festigen. Die Gewalt, die von rassistischen Praktiken ausgeht, beruht in dieser Perspektive auf der Erzeugung von Unterschieden zwischen Menschen sowie auf der Bestätigung dieser Unterschiede. Im Zentrum des rassistischen Denkens steht dabei eine binäre Unterscheidung zwischen einem natio-ethno-kulturell kodierten Wir und Nicht-Wir. Der Ausdruck natio-ethno-kulturell verweist auf das diffuse Zusammenspiel der diffusen und phantasmatischen Ideen von Kultur, Nation und Ethnizität, auf die in der Rede von den ‚Migrant*innen‘, den ‚Muslim*innen‘, den ‚Ausländer*innen‘ oder den ‚Deutschen‘ zurückgegriffen wird. Der Ausdruck natio-ethno-kulturell zeigt an, dass die sozialen Zugehörigkeitsordnungen, für die Phänomene der Migration bedeutsam sind, von einer auf Phantasie basierenden, unbestimmten 1

Dieser Beitrag ist 2018 erschienen in: Hunner-Kreisel, C. & Wetzel, J. (Hg.): Rassismuskritik als Querschnittsaufgabe in der Sozialen Arbeit. Special Issue/Neue Praxis. Einige Passagen des Textes gehen nicht unmaßgeblich zurück auf zwei Aufsätze: Mecheril, P./ Shure, S., 2018: Rassismuskritik in „bewegten Zeiten“, in: Zeitschrift für Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit, 1/2018, S. 66 – 75 und Kooroshy, S./Mecheril, P. 2019: Wir sind das Volk. Zur Verwobenheit von race und state. In: Hafeneger, B./Unkelbach, K./ Widmaier, B. (Hg.): Rassismuskritische Politische Bildung. Frankfurt/M., S. 78 – 91.

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Shadi Kooroshy, Paul Mecheril, Saphira Shure

und mehrwertigen ‚Wir‘-Einheit strukturiert werden. In der Bundesrepublik werden beispielsweise „im Zuge islamrelevanter Diskursereignisse – wie etwa 9/11, Kopftuch- und Karikaturenstreit“ (Akbulut 2017, 174), auf der Grundlage mit Rassekonstruktionen operierender Deutungsmuster über den Islam ‚muslimische Andere‘ als nicht zugehörig zu einem natio-ethno-kulturellen ‚Wir‘ ausgegeben und mit Attributen belegt, die dies glaubhaft machen: sie sind bildungsfern, rückständig und gefährlich (Attia 2017, 189). So attestieren, in der achten der viel gelesenen „10 Thesen für ein weltoffenes Deutschland“, veröffentlicht am 14. Oktober 2017 auf welt.de (2017), Richard Schröder, Eva Quistorp und Gunter Weißgerber den knapp 5 Millionen als Muslim*innen adressierten Menschen in Deutschland ein „Integrationsproblem“, dessen Ursache in dem Wesen dieser Menschen zu finden sei: Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

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„Allgemein wird unterstellt, dass Zuwanderer sich integrieren wollen. Für Zuwanderer aus europäischen Ländern stimmt das auch, übrigens auch für Zuwanderer aus ostasiatischen Ländern. Für Zuwanderer aus islamischen Ländern gilt das nur bedingt. Bei Muslimen treten leider besonders häufig Integrationsprobleme auf. Das hat verschiedene Gründe. Es gibt im Islam keine altehrwürdige Tradition für das Leben in der Diaspora, als Minderheit also, und unter einer nicht islamischen Regierung. Und es gibt in der islamischen Welt zwar Reformbewegungen, die ähnlich wie die Reformation in Europa zum Ursprünglichen zurückkehren wollen, zu den Vorfahren (Salafisten), aber sie stoßen dabei nicht auf die Bergpredigt, sondern auf die Worte eines Staatsgründers und Feldherren“ (ebd.). Die dominanzkulturelle, öffentliche Legitimität von Rassekonstruktionen aufrufender Rede hat in Europa und Deutschland immens zugenommen. Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei wurde am 30.  Oktober 1961 unterzeichnet. Ohne die türkischen Arbeitsmigrant*innen und ihre Ausbeutung hätte es das „deutsche Wirtschaftswunder“ in dieser Weise nicht gegeben (etwa Bauer 2010). Wenn jetzt auf diese Umstände nicht zuletzt von den Kindern und Enkel*innen dieser Arbeitsmigrant*innen, die Intellektuelle, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Politiker*innen, Journalist*innen geworden sind, hingewiesen wird und gesellschaftliche Erinnerungsarbeit gefordert wird (wie etwa im Rahmen von Zusammenschlüssen wie der Gruppe „Gastarbeiters: Daughters and Sons of Gastarbeiters“ http://www.gast arbeiters.de/ oder der Arbeit des Vereins „Dokumentationszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei [DOMiD]“ https://www.deutschland.de/ de/topic/leben/gesellschaft-integration/deutsche-vielfalt-arbeit-am-migrations © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Rassismus in der Migrationsgesellschaft

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museum), dann ist es naheliegend, den in seiner Pauschalität mehr als falschen, nämlich gefährlich zündelnden Hinweis auf die Integrationsprobleme der Muslim*innen, mit denen in der diskursiven Konstruktion implizit ebenfalls die Türk*innen gemeint sind, auch als Versuch gewertet werden, diese Erinnerung durch Diskreditierung der Anderen (und die implizite Selbstaufwertung der Nicht-Anderen) zu verhindern. Rassismus kann als eine Praxis beschrieben werden, die von einem symbolischen Schema der hierarchisierenden oppositionellen Unterscheidung getragen wird und mit den Mitteln verknüpft ist, diese Unterscheidungen praktisch wirksam werden zu lassen. Die Unterscheidung sowie ihr Wirksamwerden ist gegenwärtig im bundesdeutschen bzw. europäischen Kontext unter anderem in der Thematisierung von Fluchtursachen besonders deutlich geworden. So werden unter der Kategorie der so genannten Armutszuwanderung nicht nur die Motive geflüchteter Menschen, häufig Rom*nja aus Ländern wie Serbien oder Mazedonien, sondern die Menschen als solche rassistisch diskreditiert und die Legitimität ihrer Fluchtgründe bestritten, wodurch die rechtlichen und dominanzkulturellen Grundlagen gestärkt wurden, die prekäre Lebenssituation dieser Menschen im Status der Duldung fortzusetzen sowie vielfach auch die erzwungene Ausreise aus Deutschland durchzusetzen (Scherr 2017, 315). Das Fundament des Rassismus ist ein flexibles, historisch und kontextuell variables System von Erklärungen für die Angemessenheit und Rechtschaffenheit von natio-ethno-kulturell kodierten Unterscheidungen zwischen Menschen mit Bezug auf Ansehen und Zugang zu materiellen Ressourcen. Das ideologische (etwa Miles 1991, 93 ff.) oder diskursive (etwa Hall 1994a, 137 ff.) Ensemble der Sinndeutungen und Rechtfertigungen des Rassismus ist in der Lage, die Welt und die Erfahrungen, die Einzelne in ihr machen, zu erklären. Es operiert mit dem Code der „Rassen“, wobei es wichtig ist, „Rassen“ als diskursive Konstruktionen, nicht als gewissermaßen natürliche, vordiskursive Gegebenheiten zu verstehen. „Rassismus ist besonders mächtig und seine Wirkung auf das Alltagsbewusstsein besonders prägend, weil er in solchen ‚Rasse‘-Merkmalen wie Hautfarbe, ethnische Herkunft, geographische Position, etc. etwas entdeckt, was andere Ideologien erst aufbauen müssen: eine offenbar ‚natürliche‘ oder universelle Basis in der Natur selbst“ (Hall 1994b, 135). Die Unterscheidung von „Rassen“ stellt eine soziale Praktik dar, die von insbesondere administrativen und politischen Interessen und Auseinandersetzungen abhängig ist. „Rasse“ ist eine Unterscheidungsdimension, die mit der modernen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Wissenschaft entsteht. Erst diese ermöglicht das „Weltbild des Rassismus“ (Dittrich 1991). Die Kategorie der „Rasse“ fand dafür Verwendung, vermeintliche Erkenntnisse über wesenhafte Unterschiede der in Gruppen eingeteilten und phantasierten Menschen zu gewinnen und gruppenbezogene Überlegenheitsansprüche zu legitimieren. Wulf Hund führt in seinem Buch „Wie die Deutschen weiß wurden. Kleine (Heimat)Geschichte des Rassismus“ (2017) unter Rückgriff auf Sara Eigen und Mark Larrimore aus: „In Deutschland waren sie [die wissenschaftlichen Diskussionen und Kontroversen] derart intensiv, das von einer ‚deutschen Erfindung der Rassen‘ gesprochen worden ist“ (Hund 2017, 91 f.). Diese Erfindung wurden von einem großen Netzwerk an Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen getragen  – etwa Anthropolog*innen, Philosoph*innen, Historiker*innen, Sprachwissenschaftler*innen und Mediziner*innen. Im Rahmen von Veröffentlichungen wurde das „neue Paradigma der Rassen“ weiterentwickelt und verbreitet sowie dadurch gestärkt, dass es an „ältere Formen rassistischer Diskriminierung“ angeschlossen wurde (ebd., 92). Vor diesem Hintergrund ist der Sinn und die Bedeutsamkeit eines Blicks auf die Geschichte, die Mechanismen und die Folgen der Produktion natio-ethno-kulturellen Wissens offenkundig. Weil das Entstehen des rassistischen Denkens ohne die wissenschaftliche Ordnungspraxis nicht möglich gewesen wäre, geht mit Rassismuskritik (erstmalig Mecheril 2004), als einer wissenschaftlichen Kritikform, immer auch ein (selbst-)kritischer Bezug auf die Interessen und Wirkungen wissenschaftlicher Praktiken (etwa im Bereich der Migrationsforschung oder der Pädagogiken der Migrationsgesellschaft) einher. Das Sprechen über natio-ethno-kulturell kodierte Andere ist aus Sicht der rassismuskritischen Perspektive darauf zu untersuchen, wo es Rassekonstruktionen aufruft (ohne dass dieser Wiederholung der Rasseordnung notwendig Absichten zu Grunde liegen müssen). Die Historisierung rassistischer Herrschafts- und Gewaltphänomene sowie das Nachzeichnen ihrer spezifischen Wandlungen2 durch die Zeit und die Kontexte hindurch (etwa vom biologischen Rassismus zum Kulturrassismus oder auch Klassenrassismus) ist ein zentrales Anliegen rassismuskritischer Perspektiven. 2

‚Rasse‘, so Étienne Balibar in einem Interview mit Manuela Bojadžijev anlässlich der Konferenz „Dangerous Conjunctures. Resituating Balibar/Wallerstein’s ‚Race, Nation, Class‘“, „is a very plastic and fluid category. If you look at things from a historical point of view in which you need to include, of course, institutions, representations, semantics, pseudo-scientific discourses, and so on, you realize that ‚race‘ is not a category whose meaning can be fixed“ (Balibar 2018, 248).

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Die Konstruktion des*der inferioren Anderen

Mit der rassismuskritischen Perspektive wird es beispielsweise möglich, die im Anschluss an den ‚Westfälischen Frieden‘ (1648) mit der Geburt des europäischen Staatensystems einhergehende Implementierung und bis heute Wirksamkeit entfaltenden, jedoch zumeist im Verborgenen der Selbstverständlichkeit der geltenden wirkenden Macht- und Herrschaftsstrukturen, in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken.3 Historisch, so unsere Annahme, befinden wir uns in einer Situation, in der die rassismuskritische Aufklärung des Nationalstaates und allgemein natio-ethno-kulturell kodierter Kollektive mit Anspruch auf ein Territorium von besonderer Bedeutung ist, da sich dieser imaginäre Vergesellschaftungsmodus in einer Krise befindet und wir gewissermaßen Zeitzeug*innen nicht nur der Krise, sondern auch der nicht selten mit Getöse den Vorrang eines natio-ethno-kulturellen Wir behauptenden Krisenlösungspraktiken sind. Die Grenzen des ‚westfälischen Staates‘, also das Modell der westlichen Moderne, das auf der Territorialisierung des Raumes beruhend territoriale Integrität mit einheitlicher Gerichtsbarkeit verbindet (Benhabib 2016, 167) und das sich in der Welt nicht zuletzt mit Hilfe des kolonialen Imperialismus durchgesetzt hat, sind, so Benhabib (ebd., 171), durchlässig geworden. Rassismuskritik ist nun auch als ein Einsatz zu verstehen, den empirisch wie ethisch guten Sinn dieser Durchlässigkeit zu verdeutlichen. Folgen wir der Perspektive poststrukturalistischer Theorieansätze, so ist die Konstitution des individuellen oder kollektiven Subjekts ohne Bezug auf eine*n als Anderen erkannte*n, erdachte*n, phantasierte*n Andere*n unmöglich. Der*die Andere ist konstitutiv immer schon Teil des Selbst und das Subjekt mithin grundlegend dezentriert (Lacan 1973). Postkoloniale Theoretiker*innen haben in kritischer Aufnahme der poststrukturalistischen Kritik am Cartesianischen, voluntaristisch und selbstidentisch gedachten Sub3

Postfundamentalistische Sozialtheorien (Marchart 2013) gehen, in Anlehnung und kritischer Weiterentwicklung des Foucaultschen ‚Diskursbegriffs‘, davon aus, dass es keinen außer-diskursiven Referenzpunkt als Fundament des Sozialen gibt. Das, was als das natürlich Gegebene, als selbstverständlich und fraglos gegeben scheint, was als neutraler Null- und Ausgangspunkt gilt, als das von allen Besonderheiten gereinigte Allgemeine oder als das Universelle, ist diesen Theorieansätzen folgend – in Anlehnung an Antonio Gramscis Hegemonietheorie (Gramsci 1991 – 2002 [1929 – 1935]) – das Ergebnis von gesellschaftlichen Kämpfen, die bestimmte Imaginationen als objektiv, wahr, unveränderlich erscheinen lassen bzw. so selbstverständlich werden lassen, dass sie in der Geschichte ihres Entstehens und Gewordenseins, zuweilen nicht einmal als Sachverhalt sichtbar und wahrnehmbar sind, obwohl oder gerade, weil sie in ihrer Selbstverständlichkeit omnipräsent sind.

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jekt der Aufklärung und europäischen Moderne darauf hingewiesen, dass diese*r Andere immer auch ein*e spezifische*r Andere*r ist und nicht allein eine abstrakte, ahistorische und apolitische Figur. Denn Subjektwerdung/-bildung vollzieht sich immer in konkreten Macht- und Herrschaftsverhältnissen und das hat reale Konsequenzen für die jeweiligen konkreten Subjekte. Das europäische Wir etablierte sich maßgeblich aus der fabulierten (Mbembe 2017, 28 ff.) Vorstellung eines*einer nicht europäischen Anderen im Kontext von europäischer Expansion, Kolonialismus und Imperialismus. Said mit Ausführungen zu ‚Orientalismus‘ (1981) und Hall mit der Analyse des konstitutiven Wechselverhältnisses von ‚Der Westen und der Rest‘ (1994a) haben gezeigt, wie die europäische Identität mit Hilfe diskursiver Repräsentationstechniken, die das Andere und die Anderen Europas erzeugen, seit Beginn der Moderne etabliert und reproduziert wird. Die poststrukturalistische These der Bedeutungskonstitution und Subjektbildung durch Differenz aufgreifend, erläutert Stuart Hall (1994a), wie vor allem seit der sogenannten Entdeckung Amerikas ein Repräsentationssystem etabliert wurde, welches auf Rasse-Konstruktionen basiert und das imaginäre Subjekt Europas (westlich/europäisch = zivilisiert, rational, fortschrittlich; siehe auch McCarthy 2015) unter anderem mit Hilfe von wissenschaftlichen Abhandlungen, Romanen, Reiseberichten in Komplementarität und ergänzender Abgrenzung von dem radikal Anderen Nicht-Europas, dem ‚Rest‘ (nicht-europäisch/nicht-westlich = barbarisch, unzivilisiert, unterentwickelt) konstruiert (Hall 2016, 139). Das vernünftige Subjekt der europäischen Aufklärung greift auf die Abgrenzung von seinem unvernünftigen Anderen zurück, um an sich selbst und den eigenen universellen Vorrang glauben zu können. Je intensiver der Vorrang des national kodierten Wir etwa durch die leibliche Präsenz von Menschen aus anderen Weltgebieten, die nicht nur von Not künden, sondern auch die Realität, um eine Formulierung von Joseph Carens (1987; dt. 2012) aufzugreifen, globaler Feudalität anzeigen, in Frage steht und die Bereitschaft, die Legitimität und Angemessenheit des privilegierten Zugang des natio-ethno-kulturell phantasierten Wir zu materiellen und immateriellen Ressourcen in Frage zu stellen, nicht besteht, desto eher greift die Sicherung des Wir-Vorrangs auf Rasse-Kategorien und damit auf die Dämonisierung der Anderen (Castro Varela/Mecheril 2016) zurück. Ein weiteres Moment, auf das hier verwiesen werden soll, ist die Verknüpfung des Wir als Volk mit einem legitimen territorialen Anspruch. Die Assoziation von einem durch Grenzen markierten Staats-Territorium mit einem bestimmten Volk und dem als legitim erachteten Anrecht des Volkes auf das Territorium bedarf der rassismuskritischen Kommentierung, sowohl im Hin© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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blick auf die Genealogie dieses Denkens als auch im Hinblick auf seine Gegenwart. Der moderne Staat produziert seit seiner Geburtsstunde bis in die Gegenwart die Realität von race (Goldberg 2002). Dieser Herstellungsprozess beginnt maßgeblich mit dem Aufkommen der neuzeitlichen europäischen Staatstheorien Mitte des 17. Jahrhunderts. Vor dem historischen Hintergrund des 30-jährigen Krieges und des englischen Bürgerkriegs, den damit einhergehenden Erfahrungen von Instabilität und Umbrüchen und andererseits den hegemonial werdenden Erkenntnissen und Verfahren der sogenannten Naturwissenschaft, der Entdeckung der subjektkonstitutiven Vernunft (‚cogito, ergo sum‘) bei gleichzeitiger Zunahme imperialer Interessen und Aktivitäten der außereuropäischen Eroberung und Vernichtung ist die zunächst literarische Konstituierung des modernen Staates zu verstehen. Das drei Jahre nach dem Westfälischen Frieden im Jahre 1651 erschienene Werk ‚Leviathan‘ von Thomas Hobbes kann als Startpunkt für die Tradition des methodologischen Individualismus und eine auf diesem aufbauende, erste zentrale Legitimierungsschrift für den modernen Staat gelesen werden. Grundlegend für die Entfaltung der Argumentation im ‚Leviathan‘ ist die koloniale Eroberung des amerikanischen Kontinents. Hobbes bezeichnet den Zustand, in dem die Menschen ohne einen Staat leben, als Naturzustand, in dem jede*r gegen jede*n kämpft. In dieser Situation ist der Mensch des Menschen Wolf (Hobbes 1658/1994, 59). Die Möglichkeit für dauerhafte stabile Sicherheit und Ruhe ist nicht gegeben. Im ‚Leviathan‘ stellt der Naturzustand den Zustand dar, in dem der Mensch in absoluter Freiheit lebt, jedoch auch in absoluter Unsicherheit. Die Menschen entscheiden sich nach Hobbes dafür, auf ihre absolute Freiheit zu verzichten, und sich dem Staat zu unterwerfen, um dafür Schutz zu erhalten und ein ruhiges und weitgehend sicheres Leben führen zu können. Es ist der Moment der Unterscheidung zwischen Naturzustand und Staat, in dem race mit der Konzeption des modernen Staates verknüpft und so hervorgebracht wird. Hobbes projiziert den Zustand der Staatslosigkeit bzw. den als einen Kriegszustand, dem „Krieg aller gegen alle“ (Hobbes 1647/1994, 83) definierten Naturzustand auf die Neue Welt, also auf das durch die weißen europäischen Seefahrer*innen ‚entdeckte‘ Amerika: „(D)ie Wilden Völker verschiedener Gebiete Amerikas besitzen überhaupt keine Regierung, ausgenommen die Regierung über kleine Familien, deren Eintracht von der natürlichen Lust abhängt und bis zum heutigen Tag auf jene tierische Weise leben.“ (Hobbes 1651/1966, 97)

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In den Augen Hobbes finden die europäischen Seefahrer* im Naturzustand lebende Menschen vor (ebd.), während die europäische Bevölkerung in Abgrenzung hierzu imaginiert wird als eine, die diesen Zustand entweder verlassen hat, nie in diesem Naturzustand gelebt hat oder allenfalls hypothetisch als in diesem Zustand lebend gedacht werden kann (ebd.). Die im Naturzustand Lebenden werden als Wilde (Hobbes 1966, 72, 97, 256, 508, 522) fabuliert, bezeichnet sowie dargestellt und beschrieben, und bilden so die Kontrastfolie für die Konstruktion des*der zivilisierten, fortschrittlichen Europäer*in  – zu Wissenschaft, Architektur und Kunst in der Lage. Folgerichtig kommt in der Konstruktion Hobbes’ den als primitiv vorgestellten Menschen, die in den europäischen Augen die Neue Welt bewohnen, Amerika, nicht der Status einer souveränen politischen Einheit zu. Stattdessen wird Amerika vor den Europäer*innen als chaotischer, regelloser, anarchischer Ort inszeniert, imaginiert und fabuliert, der auf Grund dieses ontologischen Status den zivilisierten Staaten zur Eroberung zur Verfügung steht und um den die sich auf Augenhöhe begegnenden und dem Grundsatz nach und in dieser Frage respektierenden, modernen europäischen Staaten des westfälischen Systems wetteifern können. Die Neue Welt, Amerika, wird vor den Europäer*innen als das radikal Andere konstruiert, als Natur und Naturzustand, der ein Zustand der Staatenlosigkeit ist. Diese durch Abgrenzung von fabulierten Anderen scheinbar ausgewiesene Überlegenheit der europäischen Staaten ist nun der strategische Zug, der ermöglicht, die Kolonialherrschaft als legitime Herrschaft erscheinen zu lassen. Die Erfindung des Naturzustandes lieferte die epistemische Grundlage für die Legitimation des Kolonialismus und verfestigte und legitimierte so asymmetrische Herrschaftsverhältnisse (die in veränderter Form bis heute fortdauern, vgl. Moloney 2011). Auch John Locke unterscheidet wie Hobbes in „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ (1689/1967) zwischen einem Naturzustand und einem Staat und projiziert dabei den Naturzustand auf die sogenannte Neue Welt. Hierbei baut Locke im Rekurs auf die biblische Schöpfungsgeschichte eine Argumentationsfigur auf, der zufolge der Ursprung des Privateigentums im ‚Fleiß‘ und in der ‚Arbeit‘ liege. Nach Locke ist im Naturzustand auf Grund der göttlichen Vollmacht (Locke 1967, 217) an die Menschheit, sich die Welt zu eigen zu machen, alles zunächst ‚Gemeingut‘, das jedem*jeder zur Verfügung steht. Erst durch die Arbeit des Menschen entsteht aus Gemeingut Eigentum. Das Pflücken eines Apfels ist, Locke folgend, die „Arbeit“, bei welcher der Apfel als „Gemeingut“ (ebd., 218 f.) durch die Tätigkeit des Pflückens („Arbeit“) zum Eigentum der Person wird, die den Apfel gepflückt hat. Nach Locke darf der Mensch freilich nicht unendlich viel Eigentum anhäufen, denn: „[s]o viel, wie jemand zu irgendeinem © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Vorteil seines Lebens gebrauchen kann, bevor es verdirbt, darf er sich durch seine Arbeit zum Eigentum machen“ (ebd., 220). Wenn also der Mensch so viel anhäuft, dass er es verderben lässt, dann ist das nicht im Sinne Gottes, denn der Gebrauch beziehungsweise das Verwenden-Können, sozusagen das Nicht-verderben-Lassen bildet das Maß für die Größe des Eigentums: „So viel Land ein Mensch gepflügt, bepflanzt, bebaut, kultiviert und so viel er von dem Ertrag verwenden kann, so viel ist sein Eigentum“ (ebd., 221). Die Anhäufung von Eigentum ist nach Locke also begrenzt. Durch die Einführung von Geld – so Locke – verändert sich nun dieses Maß, die Begrenzung wird aufgelöst. Nun können die Menschen ihr Eigentum – z. B. ‚Äpfel‘ – in Geld transferieren, wodurch das Eigentum unabhängig von den Eigenschaften und der Vergänglichkeit der sozusagen vorsymbolischen Objekte erhalten bleiben kann. Denn, Geld verdirbt nicht: „So kam der Gebrauch des Geldes auf, einer beständigen Sache, welche die Menschen, ohne daß sie verdarb, aufheben und nach gegenseitiger Übereinkunft gegen die wirklich nützlichen, aber verderblichen Lebensmittel eintauschen konnten“ (ebd., 231). Die Beschränkung des Eigentums auf die Produkte der eigenen Arbeit ist damit überwunden. Das durch Geld legitim angehäufte Eigentum bedarf nach Locke nunmehr des Schutzes durch einen souveränen (Territorial-)Staat, der mithilfe von Gesetzen Eigentumsverhältnisse regelt. Die Dinge und Ressourcen werden damit aus dem Zustand des ‚Gemeinguts‘ in den Zustand des ‚Besitzes‘ eines Staates und dessen Bürger überführt. ‚Arbeit‘ und ‚Gemeingut‘ sind hierbei auch für das Verständnis der Verwobenheit von race und state zentral (Arneil 1996). Denn in der Argumentation von Locke ist der Zugriff der Engländer*innen auf die Ressourcen der konsistenter Weise Neue Welt genannten Welt legitim, da sich diese noch im Naturzustand, im Zustand von Gemeingut, einem Zustand der statelessness (Lentin 2008, 25) befindet. Der Hinweis auf das Fehlen staatlicher Strukturen (Locke 1967, 230) diente Locke somit dazu, die Neue Welt zum ‚Gemeingut‘ zu erklären. Den Bewohner*innen dieser Welt werden Eigentumsrechte auf die Ressourcen der Neuen Welt abgesprochen, die diese vor dem Zugriff durch die Europäer*innen geschützt hätten, wodurch es möglich wird, Ausbeutung und Unterdrückung nunmehr rational begründet und legitimiert stattfinden zu lassen. Gerade weil in den Selbststilisierungen des Nationalstaates als Institution des Friedens und der Gerechtigkeit etliche historische wie systematische Aussparungen vorhanden sind, kann die Etablierung des modernen Staates nicht unabhängig von den Bestrebungen verstanden werden, Kolonialismus, also die Annektierung von Land als Nicht-Territorium, die Anhäufung von Reichtum und die Ausbeutung von Menschen, die als spezifisch Andere adressiert werden, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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zu legitimieren. Die Verknüpfung von einem durch Grenzen markierten StaatsTerritorium mit der Großimagination Volk sowie der Glaube an ein legitimes Anrecht des Wir-Volkes auf das Territorium, ist konstitutiv für den Nationalstaat. Um die Legitimität dieser Konstruktion durchzusetzen und an die Legitimität dieser Phantasie, um also an nationale Identität mit territorialer Referenz auch heute zu glauben, ist insbesondere in Zeiten der Krise der Ordnung die rassistische Kodierung der Anderen ein probates Mittel der Krisenbewältigung. Diese Kodierung wirkt, indem ein Rasse-Unterschied (im Sprachversteck – ein Ausdruck von Rudolf Leiprecht (2001) – der Kultur, der Ethnizität, und seit einiger Zeit erneut: der Religion) eingeführt wird und den Anderen eine Differenz unterstellt wird, die entweder universell (kolonialer, universeller Rassismus) oder kontextrelativ (differentialistischer oder kultureller Rassismus) den Vorrang oder die Superiorität des Wir ausweist. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Race als relevante Analysekategorie der Gegenwart

Auch, wenn die affirmative Verwendung des „Rasse“-Begriffs und das positive Eintreten für den Rassismus zumindest in öffentlichen Zusammenhängen weitgehend diskreditiert sind, so ist dies eher „ein oberflächlicher Effekt“ (Guillaumin 1998, 171), da die Praxis der Unterscheidung von Menschen mit Blick auf ein unterstelltes, natio-ethno-kulturell verstandenes Wesen zur vermeintlichen Erklärung von Differenzen und der Legitimierung von Exklusion und Ungleichbehandlung nicht nur in Alltagsinteraktionen, sondern auch institutionell und strukturell verankert ist. Die auch gegenwärtig aktuelle Bedeutung von race bzw. Rassekonstruktionen als globales gesellschaftliches Strukturprinzip, das die politischen, juridischen, medialen und alltagskulturellen Kontexte durchdringt, wird von Lilia Monzó und Peter McLaren unter der Analysekategorie white supremacy beschrieben: „White supremacy is no longer a term that can be reserved for white men in buzzcuts wearing blue uniforms and carrying guns. We need to move beyond challenging dominant racialized epistemes simply by performing whiteness differently or resignifying or redescribing its various instantiations that have collected like barnacles on the hull of history“ (Monzó/McLaren 2017, xvi). Monzó und McLaren sprechen sich mit dieser Perspektive für eine Auseinandersetzung mit den tief verwurzelten und für viele Menschen unsichtbaren Kontinuitäten des alle Lebensbereiche durchdringenden Rassismus aus, dessen be© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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deutsame Kategorie whiteness (insbesondere im deutschsprachigen Kontext) häufig unmarkiert und unthematisiert bleibt (ebd.). Race bzw. Rassekonstruktion stellt ein analytisches Werkzeug dar, mit dem es möglich wird, Herrschaftsstrukturen zu analysieren, die ohne dieses Analysewerkzeug unsichtbar blieben. Die vorrangige Ambition der Rassismuskritik ist es hierbei nicht, den Rassisten* oder die Rassistin*, den rassistischen Sprechakt oder die rassistische Handlung exakt zu identifizieren, dingfest zu machen und ein Urteil über sie zu sprechen. Rassismuskritik als wissenschaftliche Kritik ist nicht moralisches Urteil (über die bösen anderen), sondern vielmehr eine Praxis, die das Wirken von Dominanz- und Herrschaftsverhältnissen, den Bedingungen ihres Wirksam-Werdens, ihre interaktiven, institutionellen und subjektivierenden Konsequenzen analysiert und auf den Begriff bringt. Rassismuskritik geht es um die Aufklärung der (in Zeiten des programmatischen Post-Rassismus, zumeist hinter den Rücken der Akteur*innen wirkenden) Rassekonstruktionen und um Einsichten in die Bedingungen der Möglichkeit, diese Wirksamkeit zu mindern. Insbesondere mit Blick auf globale Ungleichheitsverhältnisse, die nicht zuletzt ein Resultat neoliberaler Politiken und der „imperialen Lebensweise“ primär in ‚westlichen‘ Gesellschaften darstellen (Brand/Wissen 2017; Acosta/ Brand 2018), wird die materielle Dimension von Zugehörigkeitsverhältnissen (bspw. wer Zugang zu Arbeit, zu Lebensmitteln, zu einem gesicherten Lebensunterhalt hat) augenfällig. Mit Stuart Hall (2000) kann darauf hingewiesen werden, dass rassistische Unterscheidungen auch dazu dienen, den Zugang von bestimmten Menschen und Menschengruppen im Hinblick auf materielle oder auch symbolische Ressourcen zu beschränken und diese Beschränkung zu legitimieren. Die Verwobenheit von Rassismus und Kapitalismus ist hierbei geprägt durch die Geschichte des transatlantischen Sklav*innenhandels und damit durch die rassistischen wie kapitalistischen Gewaltpraktiken der Kolonialmächte. Achille Mbembe analysiert in seinem Buch „Kritik der Schwarzen Vernunft“ die Erzeugung von rassifizierten Subjekten als „Produkt einer sozialen und technischen Maschine, die untrennbar mit dem Kapitalismus, seiner Entstehung und Globalisierung verbunden war“ (2014, 22). Mbembe führt mit Bezug auf Françoise Vergès aus, dass heute von einer „Entstehung bislang unbekannter imperialer Praktiken“ gesprochen werden kann. „Die Praktiken orientieren sich am Vorbild der Sklavenlogiken des Fangens und Erbeutens, ebenso wie an den kolonialen Logiken der Besetzung und Ausbeutung“ (ebd., 18). In diesen Ausführungen wird sowohl die Kontinuität sowie die Aktualität und Ausweitung kolonialrassistischer Logiken beschrieben. Der Blick auf den Kolonialismus ist daher © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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kein Blick zurück, in das Vergangene, sondern er ermöglicht die Beschreibung und Analyse der Verhältnisse und Praktiken, durch welche die Gegenwart in existentieller Weise geformt ist. „Mbembe“, so Manuela Bojadžijev and Katrin Klingan, „speaks of a generalization of racism in the sense of an ongoing subalternization of large segments of the population as a global phenomenon in the course of neo-liberalism, provocatively termed ‚negrification‘“ (Bojadžijev/Klingan 2018, 11). Mit dem Hinweis auf „negrification“ als globales Phänomen wird zugleich der Umstand hervorgehoben und ernstgenommen, dass die Welt zunehmend in engen Verweisungszusammenhängen steht. Auch Monzó und McLaren heben diese transnationalen Konstellationen und die Verbindung von race und globalen kapitalistischen Verhältnissen sowie die Relevanz einer aktiven Auseinandersetzung mit den durch diese Verhältnisse verwirklichten Unterdrückungsformen hervor: „White supremacy“, so die Autor*innen, Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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„is both established through captalism and supports its maintenance as a transnational capitalist class. The negation of white supremacy thus also requires the negation of capitalism. We cannot hope to end whiteness without understanding the relations of exploitation that undergird how people produce their means of subsistence under capitalism. We must go further than challenging the ‚obvious‘ cultural meanings that support racist social relations“ (Monzó/McLaren 2017, xvi). Wenn wir von der Verwobenheit von Kolonialismus, Kapitalismus und der Idee der modernen europäischen Nationalstaaten (etwa Balibar 2018; Goldberg 2002) ausgehen, ist eine Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse ohne Berücksichtigung dieser Verwobenheit unangemessen. Rassistische und an Rassismen anschließende Unterscheidungen zwischen dem natio-ethno-kulturell kodierten Wir und Nicht-Wir, die beispielsweise über mediale Berichterstattung, Handlungsroutinen oder rechtliche Praktiken aufgerufen und angeeignet werden, stehen auf allen gesellschaftlichen Ebenen (individuell, strukturell, institutionell usw.) als potenzielle Deutungs- und Handlungsressourcen zur Verfügung (Scherschel 2006). Diese verfügbaren Schemata der natio-ethno-kulturell kodierten Unterscheidung zwischen Wir und NichtWir, die der Bewahrung und Legitimation der Vorherrschaft des Wir dienen,  beziehen sich nicht allein auf körperliche Merkmale, sondern auch auf kulturelle (etwa religiöse) Symbole und Praktiken. So lassen sich gesellschaftliche Deutungsmuster, Handlungs- und Argumentationsmöglichkeiten sowie verbreitete Affekte in umfassender Weise auf rassistische Unterscheidungen zurückführen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Der Sinn der gegenwärtig intensiv beobachtbaren Affektdarstellungen (Bauman 2016) beispielsweise, in denen auf der einen Seite Bedrohung vor der Gewalt der natio-ethno-kulturell kodierten Anderen empfunden und inszeniert wird und auf der anderen Seite etwa die seit Jahren kontinuierlich steigende Gefahr, Opfer rassistischer Vorkommnisse zu werden (Röpke 2018), affektiv in der Öffentlichkeit weitgehend indifferent bleibt und dethematisiert wird, kann erläutert werden als Teil eines Kampfes um Herrschaft und Privilegien. In diesem Kampf sind Bilder und Imaginationen der Anderen notwendig. Drei idealtypisch voneinander abgrenzbare Momente des Affekts können hierbei unterschieden werden (ausführlicher Mecheril/van der Haagen-Wulff 2016): (a) mit der Angst vor und der Wut auf die Anderen wird es möglich, berechtigte, zumindest unbequeme, nicht notwendig explizit formulierte, aber „im Raum stehende“ Ansprüche Anderer zurückzuweisen; (b) mit der Angst vor und mit der Wut auf die Anderen wird es möglich, die historische, politische, ökonomische Verantwortung Europas für die globalen Verhältnisse, von denen Europäer*innen relativ profitieren und die zu Flucht und Wanderungsbewegungen beitragen, nicht zu thematisieren und zu verschweigen; (c) mit der Angst vor und mit der Wut auf die Anderen wird es möglich, das sakral-positive Selbstimago Europas zu bewahren und zu erneuern. Diese Momente des Affektes, die sich insbesondere in  den öffentlichen Diskursen über Flucht und Asyl analysieren lassen (etwa Friese 2017; Jäger/Wamper 2017), verweisen darauf, dass an Rassismus anschließende Unterscheidungen verfügbar sind und Rassismus ein Gewaltphänomen darstellt, das die Migrationsgesellschaft auch deshalb gegenwärtig wirksam strukturiert, da die rassistische Grundierung migrationsgesellschaftlicher Unterscheidungen auch und gerade in dieser Zeit, in der Rassismus in Konjunktur ist (Demirović/Bojadžijev 2002), kaum, etwa in der erziehungswissenschaftlichen Disziplin, die für das Themenfeld Migration und Bildung zuständig ist, der Interkulturellen Pädagogik, zum Thema wird. Die Thematisierung von race wird gerade unter Bedingungen, in denen sich im bundesdeutschen Kontext die Mehrheitsgesellschaft in Abgrenzung zum rechten Rand als demokratisch und „post-rassistisch“ versteht, problematisch (dazu etwa Espahangizi et al. 2016).

4.

Rassismuskritik in der (globalen) Migrationsgesellschaft

Folgen wir den bisherigen Überlegungen und fokussieren sie auf das Professionsfeld der Sozialen Arbeit, so zeigt sich, dass Soziale Arbeit immer in auch natio-ethno-kulturell kodierte Macht- und Herrschaftsverhältnisse verstrickt ist (dazu etwa Melter 2015; Gebrande/Melter/Bliemetsrieder 2017). Sozialarbei© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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ter*innen stehen demzufolge nie außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse. Vielmehr spiegeln, so Claus Melter,

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„Soziale Arbeit und Bildung […] oftmals die Haltung der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf Rassismus wider: Rassismus wird vielfach nicht thematisiert, in seiner Alltäglichkeit und institutionellen Verankerung nicht wahrgenommen, individualisiert, naturalisiert, pathologisiert oder als quasi unumgängliche Folge der allgemeinen wirtschaftlichen Rezession dargestellt“ (2015, 16). wurde mit IP-Adresse 139.018.245.255 aus dem Netz der UB Leipzig am Dezember 18, 2022 um 12:52:58 (UTC) heruntergeladen.

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Mehr noch: Soziale Arbeit bzw. Sozialarbeiter*innen sind immer auch involviert in die (Re-)Produktion von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Pädagogische Konzepte wie „Schule ohne Rassismus“ oder „KITA ohne Rassismus“ erweisen sich daher häufig eher als illusionär und kontraproduktiv, da hier die Imagination genährt wird, dass es ein „außerhalb“ der Verhältnisse geben könnte. Rassismuskritik als Querschnittsaufgabe in der Sozialen Arbeit bedeutet daher in erster Linie das Professionsfeld der Sozialen Arbeit einer grundlegenden (Selbst-)Kritik und Selbst-Hinterfragung zu unterziehen (hierzu insbesondere: Castro Varela 2018; Attia 2013). Begibt sich die Soziale Arbeit auf einen Pfad der kontinuierlichen Selbstreflexion, können produktive Selbstzweifel und tiefergehende Irritationen entstehen, die relevante Fragen hinsichtlich des eigenen Selbstverständnisses aufwerfen: Welche Effekte sind mit den jeweiligen gesellschaftlichen Subjektpositionen der Pädagog*innen/Sozialarbeiter*innen und den sogenannten Klient*innen/Adressat*innen verbunden und welche relativen De-/Privilegierungen gehen mit diesen Subjektpositionen einher (hierzu etwa Marmer 2018)? Inwieweit erweist sich die Soziale Arbeit als Komplizin eines regulierenden Staates, der seit seiner Entstehung bis in die Gegenwart mit race verwoben ist (Goldberg 2002)? Welche Lücke klafft angesichts dieser Verwobenheit zwischen Recht(sstaat) und Gerechtigkeit? Welche Widersprüche und Ambivalenzen kommen zum Vorschein, wenn die kanonischen („Klassiker“-)Texte und Begriffe wie etwa ‚Emanzipation‘, ‚Autonomie‘ und ‚Menschenrechte‘ der prominenten Referenzfiguren der europäischen Aufklärung – einer rassismuskritischen Lektüre unterzogen werden4 und welche Konsequenzen zieht das – hinsichtlich des Anspruchs der Sozialen Arbeit ‚demokratie(be) fördernd‘ sein zu wollen – nach sich? Welche Veränderungsnotwendigkeiten und Herausforderungen ergeben sich aus den Erkenntnissen einer solchen rassismus4

Bzgl. einer rassismuskritischen Lesung von Kant etwa: McCarthy, 2015; Hill/Boxill, 2001; Eze, 1997.

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Rassismus in der Migrationsgesellschaft

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kritischen Lesung für die Gestaltung und Transformation, zum Beispiel, des Kerncurriculums für die Soziale Arbeit? In diesem Zusammenhang wird es auch relevant über einen ‚epistemischen Wandel‘ (vgl. Castro Varela 2016) nachzudenken und die Frage danach zu stellen, welches Wissen von wem (über wen/was) als legitimes Wissen gilt. Es geht jedoch auch um das Nicht-Wissen bzw. das Nicht-Wissen-Wollen. bzw. das Phänomen der ignorance. Nach Shoshana Felman ist ignorance kein passiver ‚Informationsmangel‘, sondern verbunden mit dem Bestreben etwas aktiv aus dem Bewusstsein auszuschließen, somit eine aktive Zurückweisung von Wissen.5 Die Reflexion des Nicht-Wissen-Wollens/ignorance erweist sich insbesondere im Kontext der Thematisierung der Stabilisierung und Sicherung von Privilegien und Dominanz als relevant. Welche Möglichkeiten stehen dem Feld der Sozialen Arbeit zur Thematisierung und Reflexion dieses ‚Nicht-Wissens(-Wollens)‘ bzw. ignorance zur Verfügung? Rassismuskritik kann insgesamt als kreative, notwendig reflexive, offene, beständig zu entwickelnde, gleichwohl entschiedene Praxis verstanden werden, die erkundet, wie es möglich ist, nicht in dieser Weise und nicht in diesem Maß auf rassistische Handlungs-, Erfahrungs- und Denkformen zurückzugreifen. Der Kritikbegriff, der für diese Perspektive bedeutsam ist, geht auf Michel Foucault (1992) und sein Verständnis von Kritik zurück, dass die Praxis der Kritik nicht auf die Notwendigkeit eines ‚richtigen‘ Gegenentwurfs verpflichtet, sondern die Krise des Bestehenden in den Mittelpunkt rückt. Kritik beantwortet zunächst also nicht die Frage danach, was das Richtige oder das Gute ist, sondern ermöglicht eine Haltung, durch die es gelingen kann, sich nicht ohne weiteres in die (unter anderem von rassistischen Unterscheidungen durchzogene) ‚Normalität‘ einfädeln zu lassen – mit Foucault gesprochen: „nicht dermaßen regiert zu werden“ (ebd., 12). Rassismuskritik beinhaltet macht- und selbst-reflexive Betrachtungsperspektiven auf Handlungen, Institutionen, Diskurse und Strukturen. Es geht in diesen Perspektiven darum, nicht in diesem Maße und in dieser Weise 5

„Ignorance is thus no longer simply opposed to knowledge: it is itself a radical condition, an integral part of the very structure of knowledge. […] If ignorance is to be equated with a totality of the unconcious, it can be said to be a kind of forgetting – of forgetfulness: while learning is obviously remembering and memorizing […] ignorance is linked to what is not remembered, what will not be memorized. But what will not be memorized is tied up with repression, with the imperative to forget – the imperative to exclude from conciousness, not to admit to knowledge. Ignorance, in other words, is not a passive state of abscence, a simple lack of information: it is an active dynamic of negation, an active refusal of information“ (Felman 1987, 78 f.).

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auf das Ensemble rassistischer Deutungs- und Handlungsschemata angewiesen zu sein. Die Praxis der Rassismuskritik kann also einen Beitrag dazu leisten, an rassistische Deutungsmuster anknüpfende und diese bestärkende symbolischpraktische Unterscheidungen aufzuzeigen und auf diesem Weg thematisierbar zu machen. In einer rassismuskritischen Einstellung werden Privilegierungen und Deprivilegierungen (lokale wie globale) sowie deren Verwobenheiten zum Thema. Weil rassismuskritische Praxis notwendig eine selbstreflexive Praxis ist (Mecheril 2004), ist sie eine Art von Projekt, ein Projekt der Kritik, das sich in einer fortwährend präzisierenden Revision befindet. Kritik der Rassismuskritik zur Verfeinerung der Rassismuskritik ist Rassismuskritik.

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Bojadžijev, Manuela/Klingan, Katrin (2018): What Constitutes the Specificity of Racism Today? Re-editing Race, Nation, Class – Yesterday and Today. In: Dies. (Hg.): Balibar/Wallerstein’s „Race, Nation, Class“. Rereading a dialogue for our times. Hamburg, S. 9 – 17. Brand, Ulrich/Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Menschen und Natur im globalen Kapitalismus. München. Carens, Joseph (2012): Fremde und Bürger: Weshalb Grenzen offen sein sollten. In: Cassee, Andreas/ Goppel, Anna (Hg.): Migration und Ethik. Münster, S. 23 – 46; engl. Orig.: Carens, Joseph (1987): Aliens and Citizens. The Case for Open Borders. In: The Review of Politics 49 (2), S. 251 – 273. Castro Varela, María do Mar (2018): „Das Leiden der Anderen betrachten“. Flucht, Solidarität und Postkoloniale Soziale Arbeit. In: Bröse, Johanna/Faas, Stefan/Stauber, Barbara (Hg.): Flucht. Herausforderungen für Soziale Arbeit. Wiesbaden, S. 3 – 20. Castro Varela, María do Mar (2016): Von der Notwendigkeit eines epistemischen Wandels. Postkoloniale Betrachtungen auf Bildungsprozesse. In: Geier, Thomas/Zaborowski, Katrin U. (Hg.): Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Rassismus in der Migrationsgesellschaft

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Melter, Claus (2015): Diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit und Bildung im postkolonialen und postnationalsozialistischen Deutschland?! Einleitende Überlegungen. In: Ders. (Hg.): Diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit und Bildung. Praktische Herausforderungen, Rahmungen und Reflexionen. Weinheim/Basel, S. 7 – 19. Miles, Robert (1991): Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs. Hamburg. Monzó, Lilia/McLaren, Peter (2017): Foreword: Unleashed – Whiteness as Predatory Culture. In: Kennedy, Tammie M./Middelton, Joyce I./Ratcliffe, Krista (Hg.): Rhetorics of Whiteness. Postracial hauntings in popular culture, social media, and education. Illinois, S. xiii-xvii. Moloney, Pat (2011): Hobbes, Savagery, and International Anarchy. In: American Political Science Review, Vol. 105, No. 1, S. 189 – 204. Röpke, Andrea (2018): 2018. Jahrbuch rechte Gewalt. Chronik des Hasses. München. Said, Edward (1981): Orientalismus, Frankfurt/M. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Rassismus in der Migrationsgesellschaft

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Teil II Fokussierungen auf Theorie und Praxis rassismuskritischer Bildungsarbeit

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Gadje-Rassismus KARIM FEREIDOONI

Gadje-Rassismus am Beispiel des deutschen Schulwesens

Einführung Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Gadje-Rassismus am Beispiel des deutschen Schulwesens

Gadje-Rassismus1 ist eine in Deutschland seit Jahrhunderten reproduzierte Form des Rassismus, der dazu beiträgt, Rom*nja und Sinti*zze als ‚fremd- und andersartig‘ zu imaginieren und sie infolge des gedanklichen Separierungsprozesses aus wichtigen gesellschaftlichen Teilbereichen wie Arbeits-, Bildungs- und Wohnungsmarkt auszuschließen bzw. zu versuchen, ihre bloße menschliche Existenz zu vernichten. Die Intention dieses Aufsatzes besteht zum einen darin, den institutionellen und individuellen schulischen Rassismus im Allgemeinen (1) zu thematisieren, bevor der schulische Gadje-Rassismus fokussiert wird, dem (deutsche) Rom*nja und Sinti*zze, die in Deutschland leben2, ausgesetzt sind (2). Das deutsche Schulwesen als gesellschaftlich wie individuell wichtige Sozialisationsinstitution wird in diesem Beitrag rassismuskritisch analysiert, indem dargestellt wird, wie darin Gadje-Rassismus virulent ist. 1

2

„Gadje ist eine Rromani-Bezeichnung für nicht Rrom*nja, Sinti*zza, Manusch oder Kale. Gadje-Rassismus ist ein Begriffsvorschlag, der aus unserer Sicht das Netz der Außen-Zuschreibungen, -Verleugnungen, -Verleumdungen und der Gewalt beschreiben könnte, die historisch und zeitgenössisch (…) ausgeübt werden“ (IniRromnja 2015, S. 12). Diese sprachliche Differenzierung möchte dem Umstand Rechnung tragen, dass in der BRD mindestens die folgenden drei „Personengruppen“ leben, wobei nicht nur zwischen, sondern innerhalb dieser „Gruppen“ Unterschiede in Bezug auf ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital existieren: (1) „deutsche Sinti*zze und Rom*nja, die als nationale Minderheit in Deutschland anerkannt sind“; (2) „ausländische Rom*nja mit gesichertem Aufenthaltsstatus“; (3) „Roma mit ungesichertem Aufenthaltsstatus“ (Brüggemann/Hornberg/Jonuz, 106). Bezüglich der Wechselwirkung von Aufenthaltsstatus und Schulerfolg siehe Söhn (2011).

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Außerdem wird in diesem Beitrag darauf eingegangen, welche Aspekte rassismuskritischen Wissens in Bezug auf Gadje-Rassismus für die Erweiterung des Professionswissens von (angehenden) Lehrer*innen notwendig sind (3). Der Beitrag endet mit einem Fazit (4).

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Rassismus in der Schule im Allgemeinen

Rassismus existiert in der Schule als performativer Akt, der – intendiert oder nicht bzw. (in)direkt – durch gesetzliche Vorschriften, der Lehrpraxis, die verwendeten Schulbücher bzw. durch sprachliche oder nicht-sprachliche Interaktionsmuster von Mitschüler*innen und Lehrer*innen erzeugt wird. Nachfolgend werden anhand der zwei qualitativen Studien von Mechtild Gomolla und FrankOlaf Radtke (2009) sowie Wiebke Scharathow (2014) institutionelle und individuelle Rassismuserfahrungen im schulischen Kontext dargestellt. 1.1 Institutioneller Rassismus Vor dem Hintergrund, dass doppelt so viele Kinder of Color bzw. Schwarze deutsche Kinder3 im Gegensatz zu Kindern, die als weiß-deutsch4 wahrgenommen werden, von der Einschulung zurückgestellt werden (vgl. Gomolla/Radtke 2009, 135), untersuchten die Forscher*innen die Ursachen der schulischen Zu3

4

Es existieren keine „Rassen“ im biologischen Sinne, wohl aber sozial konstruierte Rassen infolge von Rassifizierungsprozessen. Der scheinbar „wissenschaftliche“ Rassismus entstand im Zeitalter der Aufklärung in Europa, durch die Einteilung von Menschen in unterschiedliche Gruppen, was als Rassifizierung bezeichnet wird. Wollrad (2005, 14) definiert Rassifizierung wie folgt: „Weiße europäische Philosophen, Anthropologen und Ethnologen haben nicht aus schlichter Ordnungsliebe Kategorien zur Klassifikation der gesamten Menschheit eingeführt, sondern die Ordnung wurde in Form einer Hierarchisierung gestaltet, deren Kern in der Selbstpositionierung der Erfinder an der Spitze der Hierarchie bestand“. „‚Schwarz‘ bezeichnet hier eine politische Kategorie im Sinne einer ‚Identität der Unterdrückungserfahrungen, die alle Gruppen von people of color einschließt‘“ (Piesche 1999, 204) und verweist auf das Widerstandspotential, das in der selbstbewussten Bezeichnung Schwarzer Menschen seinen Ausdruck findet. „[weiß, Anm.d.Verf.] bezeichnet ebenfalls eine politische Kategorie, allerdings im Sinne von Machterfahrungen solcher Menschen, die als [weiß, Anm.d.Verf.] konstruiert sind und denen meist diese Macht gar nicht bewusst ist“ (Wollrad 2005, 20). In Anlehnung an Eggers et al. (2009, 13) wird Schwarz großgeschrieben, während weiß klein und kursiv geschrieben wird, „um den Konstruktionscharakter markieren zu können und diese Kategorie ganz bewusst von der Bedeutungsebene des Schwarzen Widerstandspotenzials, das von Schwarzen und People of Color dieser Kategorie eingeschrieben worden ist, abzugrenzen“.

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Gadje-Rassismus am Beispiel des deutschen Schulwesens

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rückstellung in NRW. Belegt werden konnte, dass von den Lehrkräften die (zugeschriebenen) mangelnden Sprachkenntnisse der erstgenannten Schüler*innen für deren Zurückstellung von der Einschulung herangeführt werden, obwohl dies gemäß dem nordrhein-westfälischen Schulgesetz nicht zulässig ist (vgl. ebd., 162). So dürfen in NRW beispielsweise ausschließlich „schulpflichtige Kinder (…) aus erheblichen gesundheitlichen Gründen für ein Jahr zurückgestellt werden“ (MSW 2005, § 35 Abs. 3). Weiterhin wurden kausale Zusammenhänge zwischen (scheinbaren) mangelnden Sprachkenntnissen, kognitiven Fähigkeiten und/oder einschulungsrelevantem Verhalten konstruiert (vgl. ebd., 182), um die Zurückstellungspraxis zu begründen. Dabei ist festzustellen, dass muttersprachliche Fähigkeiten lediglich in Ausnahmefällen (z.T. abhängig von schulischen Möglichkeiten) wahrgenommen bzw. überprüft werden (vgl. ebd., 191). Die bescheinigte Schulunfähigkeit und die damit verbundene Zurückstellung kann folglich als Beginn einer negativen Schulbiografie gedeutet werden (vgl. Mader et al. 1991), da Lehrkräfte an späteren Entscheidungsstellen, z. B. bei der Diagnose eines Förderbedarfs, diesen Akteneintrag zur Begründung heranziehen und somit eine „diagnostische Reinterpretation“ (Gomolla/Radtke 2009, 222) stattfindet. Zweitens wiesen die Forscher*innen nach, dass Kindern of Color bzw. Schwarzen deutschen Kindern im Vergleich zu Schüler*innen, die als weißdeutsch wahrgenommen werden, deutlich häufiger ein sonderpädagogischer Förderbedarf seitens ihrer Lehrer*innen attestiert wird und sie auf eine entsprechende Förderschule überwiesen werden. Auch wenn mangelnde Sprachkenntnisse schulrechtlich keinen Grund für diese Entscheidungen darstellen dürfen, zeigt sich, dass diese Begründungen oftmals maßgeblich sind für diese (fehlerhafte) Diagnose. So werden Defizite im deutschen Sprachgebrauch, verbunden mit rassismusrelevanten Zuschreibungen, als Legitimation für den förderschulischen Bedarf herangezogen (ebd., 211). Neben zugeschriebenen Verhaltensauffälligkeiten spielen vermutete Unterstützungsdefizite und Ressourcenmängeln der Eltern of Color bzw. Schwarzen deutscher Eltern eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung der Lehrkräfte. Die (rassismusrelevante) Praxis der Ausstellung von Übergangsempfehlungen macht den dritten Teilaspekt der Studie von Gomolla/Radtke aus. Sie konnten nachweisen, dass Kinder of Color bzw. Schwarze deutsche Kinder signifikant häufiger Empfehlungen für die Hauptschule erhalten als diejenigen Kinder, die als weiß-deutsch „gelesen“ werden. Ähnlich wie in Bezug auf die anderen Entscheidungsstellen, werden zudem häufig sprachliche Defizite sowie rassismusrelevante Zuschreibungen herangezogen, um negative Leistungsprognosen abzu© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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geben sowie die fehlenden Ressourcen und die mangelnde Unterstützungsbereitschaft der Eltern zu konstruieren (vgl. ebd., 229 f./261 f.).5

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1.2 Individueller Rassismus Mit ‚Othering‘6 wird eine „Markierungspraxis (…) rassifizierter Machtdifferenz“ (Eggers 2009, 59/62) benannt. Dieser Begriff geht auf Spivak (1985) zurück und bezeichnet folgende soziale Handlung: „Basierend auf „Wir“ – „Ihr“ -Konstruktionen wird das „Ihr“ zum/zur vermeintlich gänzlich Anderen, der/die im Gegensatz zum „Wir“ als weniger emanzipiert, aufgeklärt, tolerant, demokratisch, gebildet etc. gedacht wird. Es werden elementare Differenzen konstruiert, die negativ bewertet und betont werden“ (IDA o. J., o.S.). Othering als „Erfahrung, für andere selbstverständlicher Teil der Gruppe der ‚Ausländer‘ zu sein, aber keineswegs selbstverständlich zur Gruppe der ‚Deutschen‘ zu gehören, machen alle Jugendlichen“, die in der Studie von Scharathow (2014, 224) interviewt wurden. Diese alltägliche schulische Praxis ist latent und subtil, da sie sich nicht in „Anfeindungen, direkte[n] Herabwürdigungen oder offensichtliche Ausgrenzungspraktiken“ äußert, sondern sich in wiederholenden „homogenisierenden, essentialisierenden und stereotypisierenden Zuschreibungen“ manifestiert, indem den Schüler*innen „immer wieder deutlich gemacht [wird, Anm. d. Verf.], dass sie von einer vermeintlich vorhandenen (deutschen) ‚Normalität‘ abweichen“ (ebd., 289). Zudem werden die untersuchten „Jugendliche[n] [von ihren Mitschüler*innen und ihren Lehrer*innen, Anm.d.Verf.] als vermeintliche Repräsentantinnen einer als homogen konstruierten sozialen Gruppe (…)“ (ebd., 287) betrachtet und behandelt. Das Othering, welches als Grenzüberschreitung erlebt wird, führt zu einem Unwohlsein der betreffenden Schüler*innen und beschädigt die Vertrauensbasis zwischen den interviewten Schülerin*innen, ihren Mitschüler*innen und Lehrer*innen.

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Im Gegensatz hierzu weisen Raiser (2007), Tepecik (2010) und El-Mafaalani (2012) in ihren Studien die hohe Bildungsaspiration von Menschen bzw. Eltern „mit Migrationshintergrund“ nach. Ahmed (2009, 281) weist auf den folgenden Umstand hin: „Es gibt keine hundertprozentige Übersetzung von ‚Othering‘. Ver-andern soll darauf hinweisen, dass es sich um einen macht- und häufig auch gewaltvollen Prozess der Differenzmarkierung handelt. Auf der Konstruktion von Rasse basierende Differenzmarkierungen sind zum Beispiel: Hautfarbe, Haare und andere phänotypische Merkmale, denen als Teil eines rassistischen Diskurses eine soziokulturelle Bedeutung eingeschrieben wird“.

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2.

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Gadje-Rassismus in der Schule im Speziellen

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Nachfolgend wird sowohl auf den institutionellen Gadje-Rassismus (2.1) als auch auf den individuellen Gadje-Rassismus (2.2) eingegangen, der in der Institution Schule existiert.

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2.1 Institutioneller Gadje-Rassismus Die Datenlage zur Bildungssituation von (deutschen) Rom*nja und Sinti*zze, die in Deutschland leben, ist von großen Desideraten geprägt (vgl. Brüggemann/ Hornberg/Jonuz 2013, 114; Fürstenau/Redecker 2010, 155), sodass diesbezügliche Forschungsleistungen dringend notwendig sind, um ein differenziertes Bild über die Bildungssituation dieser Gesellschaftsgruppe darstellen zu können. Nachfolgend werden ausgewählte Ergebnisse der nicht-repräsentativen Studie7 vorgestellt, die von Strauß (2011a und b) herausgegeben wurde.8 Die Besonderheit der Studie besteht darin, dass zwar Wissenschaftler*innen an der Forschungsvorbereitung beteiligt waren, aber die Studie von „14 Sinti und Roma, die aus dem Umfeld der Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma stammen“ (Klein et al. 2011, 5), durchgeführt wurde.9 Insgesamt wurden 275 7

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Kritikwürdig an der Studie ist, dass lediglich in den alten Bundesländern lebende Untersuchungsteilnehmer_innen (UT) für die Studie ausgewählt wurden. Eine Ausnahme stellen lediglich zwei Befragte dar, die in Ostberlin sozialisiert worden sind (vgl. Klein 2011, 29). Zudem ist bei den Interviews „nicht immer klar, wer am Gespräch beteiligt oder still anwesend war“, die „Dauer der Gespräche [ist/war] (…) überdurchschnittlich kurz“ (Plato 2011, 12) und nur „die Hälfte der Fragebögen ist vollständig ausgefüllt“ (Klein 2011, 27). Neben der vorgestellten Studie, wird oftmals die Forschungsarbeit von Hundsalz (1982) zitiert, wenn die Bildungssituation (deutscher) Roma und (deutscher) Sinti, die in Deutschland leben, fokussiert wird. Der Grund für ein solches Vorgehen ist das „durch den Nationalsozialismus entstandene bzw. gewachsene Misstrauen [der (deutschen) Rom*nja und Sinti*zze, die in Deutschland leben, durch die; Anm.d.Verf.], (…) ‚deutschen so genannten Wissenschaft(en)‘“ (Klein et al. 2011, 3). Dieses Misstrauen „gegenüber der wissenschaftlichen ‚Erforschung‘ und ‚Beobachtung‘ und (…) [die; Anm.d.Verf.] Sorge vor jeder Form des „Ausspionierens“ [basiert auf, Anm.d.Verf.] (…) der Verfolgung oder gar Ermordung ihrer Verwandten (…) während der ‚nationalsozialistischen Zigeunerpolitik‘ (…)“ (Plato 2011, 9). Zwischen 1933 und 1945 wurden zwischen „225.000 und 500.000 [Rom*nja und Sinti*zze] (…) in Mittel- und vor allem Osteuropa (…) durch die deutschen Armeen und die SS ermordet, um 25.000 allein aus Deutschland und Österreich“ (Klein et al. 2011, 4). Bezüglich der Verwendung Begriffs „Zigeuner[politik]“ in diesem Text ist anzumerken, dass es sich bei diesem Terminus nicht um eine Selbstbezeichnung, sondern um eine rassistisch-konstruierte Fremdbezeichnung handelt (vgl. Randjelovic 2011, 671 f.).

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Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit quantitativ (mithilfe eines Fragebogens) und qualitativ (in Form von Einzelinterviews) untersucht, wobei 14 Fragebögen und Interviews den Qualitätsstandards nicht genügten und deshalb in der Untersuchung nicht berücksichtigt worden sind (vgl. Plato 2011, 8). Letztlich wurden 30 Interviews in die qualitative Auswertung einbezogen (vgl. ebd., 9). In Bezug auf die alters- und geschlechtsspezifische Auswahl der Befragten ist festzustellen, dass zum Erhebungszeitraum von 2007 bis 2010 106 Personen (40,61 %) zwischen 14 und 25 Jahre, 112 Personen (42,91 %) zwischen 26 und 50 Jahre sowie 43 Personen (16,48 %) 51 Jahre und älter waren; wobei 122 Männer (46,74 %) und 139 Frauen (53,26 %) befragt worden sind (vgl. ebd., 28). In Bezug auf die Bildungsteilhabe deutet sich die institutionelle Benachteiligung der o. g. Untersuchungspartner*innen (UT) an, denn 13 % gaben an, nie eine Schule besucht zu haben und 44 % verließen die Schule ohne jeglichen Abschluss. Der Vergleich mit der Gesamtbevölkerung, bei der weniger als 1 % nie eine Schule besuchte und 7,5 % keinen Schulabschluss besitzt, belegt die institutionelle Diskriminierung der UT (vgl. ebd., 32). Allerdings kann eine intergenerationale Verbesserung der Bildungsteilhabe festgestellt werden, denn während 90,6 % der 14 – 25 angeben, die Grundschule besucht zu haben, liegt dieser Wert bei den UT, die 51 Jahre und älter sind, bei 60,5 %. Aber nicht nur in Bezug auf den Schulzugang belegt die Studie institutionelle Diskriminierung, sondern auch bezüglich der Schulformverteilung deutet sich an, dass die Untersuchungsgruppe vornehmlich in nicht-prestigeträchtigen Schulformen (Förderschule und Hauptschule) beschult wurde bzw. wird. So haben 10,7 % der UT angegeben, die Förderschule und 57,9 % die Hauptschule (vgl. Klein 2011, 30 f.) besucht zu haben bzw. zu besuchen.10 In der Grundgesamtheit aller deutschen Schüler*innen beträgt der Anteil von Schüler*innen, die eine Förderschule bzw. Hauptschule 10

Der Schulbesuch der jeweiligen Schulform bedeutet aber nicht, dass an der Schulform auch der Schulabschluss erlangt wurde, sodass es durchaus möglich ist, dass nach dem Ende des Schulbesuchs der entsprechenden Schulform eine andere – prestigeträchtigere – Schulform besucht worden ist und dort der Schulabschluss erworben wurde. Vor dem Hintergrund, dass Schulformwechsel zu 58,4 % von einer prestigeträchtigen Schulform (z. B. Gymnasium) an eine weniger-prestigeträchtige Schulform (z. B. Realschule oder Hauptschule) stattfinden, während der schulformspezifische Aufstieg nur 27,4 % der deutschen Schüler_innen gelingt (vgl. Bellenberg 2012, 10), kann davon ausgegangen werden, dass die meisten UT den Schulabschluss der besuchten Schulform erlangt haben. Hinzu kommt, dass der Abschulungseffekt für Schüler_innen die mit dem Zusatz „mit Migrationshintergrund“ belegt werden, größer ist als für Schüler_innen „ohne Migrationshintergrund“ (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2006, 52 und Fereidooni/Zeoli 2016).

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besuchen 6,2 % bzw. 13,1 % (vgl. Kemper 2015, 96 f.).11 Nur sechs von 261 untersuchten Personen (2,3 %) werden bzw. wurden auf dem Gymnasium beschult (Klein 2011, 32), während der Anteil der Gymnasiast*innen an der Grundgesamtheit aller deutscher Schüler*innen bei 43,1 % liegt (vgl. Kemper 2015, 97). Die Ursachen für die institutionelle Diskriminierung der UT in und durch die Schule sind vielfältig und wirken kumulativ. Beispielsweise belegt die Studie, dass der Generationenstatus eine wichtige Erklärungsvariable für den erfolgten bzw. verhinderten Schulbesuch darstellt. Jüngere UT schneiden in Bezug auf ihre Bildungsteilhabe besser ab, als die älteren UT. Die Ursachen für diesen intergenerationalen Unterschied in Bezug auf den Schulbesuch sind vielfältig: Einige UT, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland gelebt haben, waren  – aufgrund der rassistischen Gesetzgebung  – vom Schulbesuch ausgeschlossen bzw. wurden entschult (vgl. Lupu 2011). Zudem wurde die faktisch geltende Schulpflicht von deutschen Rom*nja und Sinti*zze, die bzw. deren Familien den Porajmos12 überlebt und weiterhin in der BRD gelebt haben bzw. in die BRD zurückgekehrt sind oder nach 1945 in der BRD geboren worden sind – oftmals bis in die 1980er Jahre – durch Kommunen nicht kontrolliert, erschwert oder verweigert (UNESCO 2007, 4f; Lupu 2011, o.S.).13 Diese Praxis der institutionellen Diskriminierung endete erst mit der Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus im Jahr 1982, sodass einige der älteren UT faktisch gar keinen bzw. einen erschwerten Zugang zur Institution Schule hatten. Zu konstatieren ist, dass diese Zahlen keine absoluten Gegensätze darstellen und damit die Vergleichbarkeit nur eingeschränkt möglich ist, weil Rom*nja und Sinti*zze mit deutscher Staatsangehörigkeit sowohl gesondert (vgl. Strauß 2011 et al.) als auch inkludiert erfasst werden (vgl. Kemper 2015). Zudem ist die Studie von Kemper repräsentativ, wohingegen die Studie von Strauß dies nicht ist. Außerdem variieren die untersuchten Zeiträume voneinander. 12 „Porajmos ist eine romanisprachige Bezeichnung für den an Sinte_zza und Rom_nja begangenen Genozid“ (Randjelovic 2015, 89). 13 Beispielsweise haben einige Kommunen den „Versuch [unternommen, Anm.d.Verf.] in den ersten Nachkriegsjahrzehnten eine Ansiedlung der KZ-Überlebenden zu verhindern und sie mit einer Praxis, die sich häufig nicht einmal mehr am Rande der Legalität befand, auf abgelegenen Wohnwagenstellplätzen ohne Strom, Wasser und sonstige Anbindung an das städtische Leben zu isolieren. In der De-facto-Ghettoisierung, die lokale Verwaltungen bis in die siebziger, örtlich auch bis in die achtziger Jahre betrieben, lag eine der Hauptursachen dafür, dass große Teile der Minderheit an der Nachkriegsentwicklung des Wohlstands, der sozialen Sicherheit und des Bildungssystems nur in einem weit unter dem Bevölkerungsdurchschnitt liegenden Maß Teil hatten“ (UNESCO 2007, 4). 11

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Ein anderer Grund für den vergleichsweise hohen Anteil der älteren UT, die niemals die Schule besucht haben, basiert auf dem Umstand, dass nach dem Porajmos, das Vertrauen der Überlebenden in staatliche Institutionen wie der Schule, wenn überhaupt, nur rudimentär ausgeprägt war und Eltern sich deshalb entschieden, ihre Kinder nicht in die Schule zu schicken (vgl. Lupu 2011). Zusätzliche Relevanz erhielt das Misstrauen der Opfer des Porajmos durch die Gesetzgebungen der Bundesländer nach Gründung der BRD, die vergleichbar waren mit der Ausgrenzungspolitik des Kaiserreiches und der Weimarer Republik (vgl. UNESCO 2007, 4). Zu nennen ist beispielsweise die „Landfahrerordnung“ des Freistaates Bayern, die von 1953 bis 1970 galt.14 Die geringe Schulbesuchsquote der älteren Untersuchungspersonen resultiert außerdem daraus, dass nicht wenige von ihnen, aufgrund der gesellschaftlichen Stigmatisierung ihrer Eltern auf dem Arbeitsmarkt und der daraus resultierenden deprivilegierten sozialen Lebenslage ihrer Familien (vgl. UNESCO 2007, 5), bereits frühzeitig ihre Familie finanziell unterstützen mussten, indem sie arbeiteten und somit nicht die Möglichkeit hatten, in die Schule zu gehen (vgl. Rüchel/Schuch 2011, 59). Staatlicherseits wurde dieser Umstand vielfach ignoriert bzw. toleriert, um die Kinder der betreffenden Familien aus den Schulen fernzuhalten, weil ihre Lernfähigkeit und -bereitschaft bezweifelt und Konflikte mit weiß-deutschen Kindern und Eltern befürchtet wurden (vgl. UNESCO 2007, 5). Von den o. g. Ursachen für die vergleichsweise hohe Quote des Nichtbesuchs der Schule durch die älteren UT, die bereits im schulpflichtigen Alter einen gesicherten Aufenthaltsstatus für die BRD bzw. die deutsche Staatsbürger*innenschaft besaßen, unterscheiden sich die Gründe für das Nichtbesuchen der Schule von UT, die als neu zugezogene Menschen aus dem EU-Ausland (z. B. im 14

„1953 wurde in Bayern eine Landfahrerordnung beschlossen, die wesentliche Elemente des 1926 beschlossenen Gesetzes ‚Zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen‘ fortführte. Dazu gehörten besondere Ausweise, regelmäßige Meldepflichten bei den Behörden und die Vorstellung einer generellen Gefahr durch ‚Landfahrer‘. Im bayerischen Landeskriminalamt (LKA) wurde eine Landfahrerzentrale eingerichtet, die ab den 1950ern, genau wie ihre Vorgängerinstitutionen in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, wieder bundesweit zuständig war. In Bayern – wie in anderen LKAs – wurde mit den während des Nationalsozialismus über Roma und Sinti angelegten Akten weitergearbeitet, teilweise bis in die 1980er Jahre. Die Beteiligung der Judikative zeigte sich beispielsweise in dem berüchtigten Urteil des Bundesgerichtshofs von 1956, in dem feststellt wurde, dass Roma und Sinti bis 1943 nicht aus rassistischen Gründen, sondern aufgrund ihrer „Asozialität“ verfolgt worden seien. Dieses Urteil wurde erst 1963 teilweise aufgehoben“ (LAG 2009, o.S.).

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Rahmen der Anwerbung von Arbeitskräften ab 1955) bzw. als geflüchtete Menschen aus Nicht-EU-Staaten im schulpflichtigen Alter in die BRD eingereist sind und erst nach einigen Jahren bzw. Jahrzenten eingebürgert wurden. Beispielsweise wurde die Schulpflicht für ausländische Kinder, die einen gesicherten Aufenthaltsstatus für die BRD besaßen, erst im Jahr 1964 bundesweit eingeführt (vgl. KMK 1998, o.S.) und die gesetzliche Schulpflicht gilt für asylbegehrende Kinder in NRW beispielsweise erst seit 2005 (vgl. Paritätisches Jugendwerk NRW, o. J., o.S.). Diesbezüglich existieren gravierende Unterschiede zwischen den Bundesländern. So sind geflüchtete Kinder in NRW erst schulpflichtig, sobald sie einer Kommune zugewiesen worden sind (vgl. Massumi/ Dewitz et al. 2015, 36 f.). Für die institutionelle Diskriminierung in Bezug auf den Schulbesuch von Rom*nja und Sinti*zze spielt hingegen das „auf Reise gehen“ keine Rolle. Bereits die erste Studie über die soziale Situation von (deutschen) Rom*nja und Sinti*zze in der BRD, die 1982 von Hundsalz publiziert wurde, weist darauf hin, dass bereits „Ende der Siebziger Jahre fast alle deutschen Sinti sesshaft waren“ (UNESCO 2007, 5). 2.2 Individueller Gadje-Rassismus In der Studie, die von Strauß (2011a) herausgegeben wurde, wurden die UT auch zu individuellen schulischen Diskriminierungserfahrungen befragt. Diesbezüglich haben 37,7 % der 14 bis 25jährigen, 44,6 % der 26 bis 50jährigen und 44,2 % der UT ab 51 Jahren angegeben, ebensolchen Erfahrungen in der Schule gemacht zu haben (Klein 2011, 44).15 Beispielsweise schildern die UT die folgenden rassismusrelevanten Erlebnisse, die sie mit ihren Mitschüler*innen gemacht haben:16 In Bezug auf die Schwierigkeit der Identifizierung und Klassifizierung von Erfahrungen als diskriminierend bzw. rassistisch vor dem Hintergrund der Tabuisierung ebensolcher Phänomene in der BRD siehe Fereidooni (2016, 280 f.). Zudem weist Klein (2011, 44) auf das Folgende hin: „Allerdings machen in der ältesten Altersgruppe 30,2 % hierzu keine Angabe (in der mittleren: 10,7 %). Es ist zu vermuten, dass zumindest in der ältesten Altersgruppe, in der zum Teil noch Verfolgung und Völkermord selbst erlebt worden sind, Diskriminierung als so selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass dies gar nicht erst eigens erwähnt werden muss – dann wären ‚keine Angaben‘ der Ja-Kategorie hinzu zu zählen“. Diese Einschätzung korrespondiert mit dem Befund, dass die „Sensibilisierung für Diskriminierung (…) mit den individuellen Ansprüchen auf Gleichberechtigung zu[nehmen]“ (ADS 2012, 22 f.). Demnach sind die Partizipationsansprüche der jüngeren UT im Vergleich zu denen älterer UT stärker ausgeprägt (vgl. Fereidooni 2016, 149). 16 Die nachfolgenden Zitate stammen aus dem Text von Rüchel/Schuch (2011, 67 f.). 15

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„Das ist immer fast dasselbe, dass die Leute dann kommen, wenn sie hören, dass wir Sinti sind, dass sie sagen ‚Du dreckiger Zigeuner‘. Das war ja in jeder Schule und in jeder Klasse so (…)“ (Mann, Sinti, 37 Jahre)

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„Da war man halt (…) nicht so angesehen, wenn das raus kam, dass man ein Sinto war (…) und die haben einen dann gehänselt und auch blöde Sprüche abgegeben, wie zum Beispiel, dass wir keine Häuser haben, dass wir im Dreck schlafen, ja, dass wir halt minderwertig sind“ (Mann, Sinti, Anfang 20). wurde mit IP-Adresse 139.018.245.255 aus dem Netz der UB Leipzig am Dezember 18, 2022 um 12:52:58 (UTC) heruntergeladen.

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In beiden geschilderten Situationen werden die UT von ihren Mitschüler*innen ver-andert. Sie sind somit von der Konstruktion von Fremd- und Andersartigkeit betroffen. Das in diesen Schilderungen vorhandene Topos17 der vorhandenen und fehlenden bzw. imaginierten und zugeschriebenen (Un-)Reinheit ist eines der zentralen diskriminierungs- und rassismusrelevanten Topoi, um das „Eigene“ vom „Fremden“ abzugrenzen. Die Gleichsetzung des „Fremden“ mit Unreinheit und die selbstzugeschriebene Sauberkeit sind ausschlaggebend für die Konstruktion einer diskriminierungs- und rassismusrelevanten Dichotomie.18 Zudem markiert Sauberkeit eines der selbstreferentiell imaginierten „deutschen Tugenden“. Indem die UT als unsauber markiert werden, werden sie von der imaginierten deutschen Gemeinschaft ausgeschlossen. Neben diesen rassismusrelevanten Aussagen ihrer Mitschüler*innen zitieren die UT auch Begebenheiten mit ihren Lehrer*innen19, in denen diese sich unverhohlenen rassistisch äußerten bzw. die UT gewalttätig angriffen: „Bin ich in die sechste Klasse gegangen. Da war ich solange, bis ich mich hab mit dem Lehrer seinen Sohn gehauen. Der hat mich auch dauernd gehänselt, (…). Na, Zigeuner und dreckig und so. Na, dann hab ich dem eine gewatscht. Dann hat der Lehrer mich gewatscht“ (Mann, Sinti, circa 70 Jahre). Nach Shooman (2014, 22 f.) „versteht Wengeler Topoi (…) als Argumentationsmuster, die ’Aufschlüsse über kollektives, gesellschaftliches Wissen [geben, Anm.d.Verf.], welches im Rahmen thematisch bestimmter öffentlicher Diskurse entweder explizit zur Sprache kommt oder in sprachlichen Äußerungen, in Texten als verstehensrelevantes Hintergrundwissen zu Grunde gelegt und evoziert wird“. 18 End (2014, 43) konnte belegen, dass die Imagination des „Eigenen“ als rein und die Konstruktion des „Fremden“ als unrein nicht nur in privaten Kommunikationsformen zwischen Individuen, sondern auch in der medialen Darstellung von (deutschen) Rom*nja und Sinti*zze, die in Deutschland leben, stattfindet. 19 Für rassismusrelevante Äußerungen von Lehrer*innen siehe auch Open Society Institut (2002). 17

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„(…) und daraufhin war die Lehrerin halt so schlecht zu mir geworden, dass sie dann in der Klasse halt auch über Sinti hergezogen hat und gesagt hat ‚die Zigeuner, die stinken und die sind dreckig‘. Und da wollt ich nicht mehr in die Schule gehen, weil es hat mir so wehgetan, dass ich hab dann gesessen und geweint“ (Frau, Sinti, zwischen 30 und 40 Jahre). „Also paar Lehrer sind eigentlich gut damit umgegangen. Die wussten viel Bescheid über die Sinti. Aber wiederum manche, die waren, die hatten eine Abneigung, eine richtige Abneigung. Das hat man auch gemerkt. Die haben das zwar nicht direkt gesagt, aber das hat man halt gemerkt. Der hat andere Schüler bevorzugt. Man hat das halt gemerkt dann“ (Mann, Sinti 21 Jahre).

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In Bezug auf die erlittene rassistische Diskriminierung kann dem Interviewmaterial entnommen werden, dass die älteren UT von unverhohlenem rassistischem Hass betroffen waren, während die jüngeren UT die Rassismuserfahrungen in ihrer subtileren Form erfahren haben. Die älteren UT wurden geschlagen und gedemütigt, weil sie (deutsche) Rom*nja und Sinti*zze sind, während die jüngeren UT die rassistische Abneigung ihrer Lehrer*innen subtil erfahren haben, aber auch von Lehrer*innen berichten, die ihnen zugetan waren. Dies ist u. a. darauf zurückzuführen, dass die älteren UT von Lehrkräften unterrichtet worden sind, die bereits im „Dritten Reich“ in der Schule aktiv waren bzw. die nationalsozialistische Indoktrination als Kinder und Jugendliche selbst erfahren haben, was sich wiederum in ihren rassismusrelevanten Umgangsweisen in Bezug auf die UT geäußert hat. Zudem sind die älteren UT in einer Zeit aufgewachsen, in der körperliche Strafen durch die Lehrer*innen an der Tagesordnung waren.20

3.

Professionswissen: Gadje-Rassismuskritik

Die Studie von Decker et al. (2016, 50) belegt, dass rassismusrelevantes Denken in Bezug auf (deutsche) Rom*nja und Sinti*zze, die in Deutschland leben, in der Mitte der Gesellschaft verankert ist und dort (re)produziert wird, weil 49,6 % der Deutschen der folgenden Aussage zustimmen: „Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden“; 57,8 % der Deutschen die folgende Ansicht bejahen: „Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend 20

Die Prügelstrafe wurde an Schulen in der DDR 1949 und in den allermeisten Bundesländern der BRD 1973 verboten, wobei der Freistaat Bayern erst 1980 die Prügelstrafe durch Lehrkräfte verbot (vgl. Spiegel-Online 2009, o.S.).

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aufhalten“ und 58,5 % der Deutschen folgendem Statement beipflichten: „Sinti und Roma neigen zur Kriminalität“. Die Studie weist außerdem darauf hin, dass sich die Zustimmungsraten zu diesen rassismusrelevanten Aussagen im Verlauf von 2011 bis 2016 erhöht haben. Mithilfe von Gadje-Rassismus lässt sich der individuelle und gesellschaftliche Alltag strukturieren. Hierzu greifen Personen auf Wissen zurück, welches als „rassistisches Wissen“ (Terkessidis 2004, 10) verstanden wird. Dieses stellt Individuen und Gesellschaften „ein Interpretationsangebot zum Verstehen sozialer Vorgänge (…) bereit und bietet ihnen eine Option, soziale Welt mittels rassistisch konstruierter Kategorien zu strukturieren“ (Scherschel 2006, 12). Das rassistische Wissen ist ebenso wie das grammatikalische, pädagogische und wirtschaftliche Wissen eines Menschen, ein erworbenes Wissen. Demnach existiert das rassistische Wissen nicht qua Geburt, sondern qua Sozialisation. Gadje-Rassismus ist nicht irrational oder angeboren, es ist von Menschen gemacht und folgt einer Logik: Es dient als Legitimationsgrundlage, um Ungleichheitsverhältnisse etablieren und aufrechterhalten zu können. Bereits Kleinkinder besitzen rassistisches Wissen und benutzen dieses, um sich selbst und ihr soziales Umfeld zu kategorisieren (vgl. Eggers 2005), sodass konstatiert werden kann, dass Menschen, die in der BRD sozialisiert werden, rassismusrelevante Wissensbestände in Bezug auf (deutsche) Rom*nja und Sinti*zze besitzen, „ohne, dass sie jemals bewusst [eine o. g. Person, Anm.d.Verf.] kennengelernt haben“ (End 2011, o.S.). Das rassistische Wissen gegenüber (deutschen) Rom*nja und Sinti*zze wird beispielsweise mithilfe rassistischer Fremdzuschreibungen (vgl. Randjelovic 2011), Kinder- und Schulbüchern (vgl. Mengersen 2012), Reiseliteratur (vgl. Bogdal 2011) sowie neuer und alter Medien (vgl. Trompeta 2017; End 2014) (re-)produziert. Die Funktionslogik des Gadje-Rassismus wird aufrechterhalten selbst oder gerade, wenn diese nicht explizit ausgesprochen wird. Damit ein Individuum bzw. eine Gesellschaft für das sozialisierte, in Alltags- und Gesellschaftsstrukturen inhärente, rassistische Wissen über (deutsche) Rom*nja und Sinti*zze sensibilisiert werden kann und zudem gesellschaftlich damit begonnen wird, dieses Wissen zu dekonstruieren, ist rassismuskritisches Wissen vonnöten. Das rassismuskritische Wissen gilt es proaktiv zu erwerben wie beispielsweise das Wissen um didaktische Prinzipien, Unterrichtsmethoden oder fachspezifische Wissensbestände. Rassismuskritik sollte, genauso wie die Fähigkeit, diagnostisch tätig zu sein oder individuelle Förderung von Schüler*innen zu betreiben, zum Grundrepertoire der professionellen Selbstkompetenz von (angehenden) Lehrer*innen gehören. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Rassismuskritisches Wissen stellt ein für (angehende) Lehrer*innen notwendiges Profession(alisierung)swissen dar, welches eines aktiven Lernprozesses bedarf. Dieser Prozess beinhaltet beispielsweise das Wissen um die wissenschaftliche Definition, die Entstehungsgeschichte und Formen, die Funktionen und die Gewaltförmigkeit des Gadje-Rassismus.21 Dieser „speist sich aus kulturell vermittelten Bildern, Stereotypen und Sinngehalten, aus ‚Wissen‘ (…), das Jahrhunderte alt ist und in immer neuen Variationen tradiert wird. Mit den realen Menschen [wie (deutschen) Rom*nja und Sinti*zze, Anm.d.Verf.] hat diese Vorurteilsstruktur kaum etwas gemein. Sie führt gewissermaßen ein Eigenleben“ (End 2011, o.S.). Gadje-Rassismus beinhalten Konstruktionen, die die hierarchisierende Rassifizierung eines „unerwünschten Sozialverhaltens“ (Severin 2011, 74) von (deutschen) Rom*nja und Sinti*zze vollziehen, indem diese Menschen als von Natur aus besonders musikalisch oder künstlerisch begabt (vgl. ebd., 69) bzw. als „Wilde, [die aufgrund ihrer, Anm.d.Verf.] rassebedingten Assozialität [als, Anm.d.Verf.] Rasse der Verbrecher“ (Randjelovic 2011, 673 f.) bezeichnet/behandelt werden bzw. worden sind. „Zwischen [Gadje-Rassismus, Anm.d.Verf.] und kolonial geprägtem Rassismus finden sich sowohl auf der Ebene der physischen als auch auf der Ebene sozialer, kultureller und ‚rassischer‘ Zuschreibungen, wie Faulheit und Primitivität, zahlreiche Ähnlichkeiten“ (Severin 2011, 74). Der koloniale bzw. klassische Rassismus, mit seinen Ursprüngen in der Aufklärung, basiert auf der Konstruktion und hierarchischen Unterscheidung zwischen unterschiedlichen ‚Rassen‘. Demnach ist die ‚weiße‘ ‚Rasse‘ der ‚gelben‘, ‚roten‘ und ‚schwarzen Rasse‘ überlegen (vgl. Mosse 2006, 54 f.). Vor diesem Hintergrund werden beim Gadje-Rassismus (deutsche) Rom*nja und Sinti*zze als eine weitere ‚Menschengruppe‘ rassifiziert, die als „Primitive“ hierarchisch unterhalb der ‚weißen Rasse‘ angesiedelt ist. Die imaginierte „Bürde des weißen Mannes“ (vgl. Arndt 2015, o.S.) bestehe hierbei in der „Zivilisierung der Wilden im eigenen Land“ (Randjelovic 2011, 673). Unterschiede zwischen dem Gadje-Rassismus und dem klassischen Rassismus sind die Folgenden: „Während [Zweitgenannter, Anm.d.Verf.] sein ‚Objekt‘ im Bereich des äußeren ‚Fremden‘ verortet, wird im [Erstgenannten, Anm.d.Verf.] primär die Figur des ‚innergesellschaftlichen Fremden‘ bemüht (…) [Ein weiterer Unterschied ist, 21

Für die Beschäftigung mit (der Kritik an) Gadje-Rassismus eignen sich die folgenden Überblickswerke bzw. -artikel: End (2011), Mengersen (2015), Randjelovic (2016. 2015. 2014), Scherr (2017) und Sparing (2011).

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Anm.d.Verf.], dass in kolonialen Kontexten Schwarze Menschen als potentiell beherrschbare und kontrollierbare Arbeitskräfte konstruiert werden, während [(deutsche) Rom*nja und Sinti*zze, Anm.d.Verf.] ein Problem für die bürgerlichen Gesellschaften darstellten, da sie als nicht beherrschbar galten und als potentielle Arbeitskräfte nicht zur ‚Verfügung‘ standen“ (Severin 2011, 74).22

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Der Beginn des Gadje-Rassismus, dessen Ziel darin besteht, „unterschiedliche, als mobil verortete Gruppen zu markieren, zu kriminalisieren und auszugrenzen“ (Randjelovic 2011, 671), kann „im 15./16. Jahrhundert verortet werden; in einer Zeit also, in der die Grundlagen der modernen bürgerlichen Gesellschaft gelegt wurden. Veränderte Normen, die zu Beginn der Entwicklung noch schwach und instabil waren, konnten dadurch gestärkt und durchgesetzt werden, dass vermeintlich Fremden vorgeworfen wurde, sie zu verletzen“ (End 2011, o.S.). Zu diesen Normen gehör(t)en: „Fleiß und Arbeitsdisziplin, (…), feste nationale Identitäten, [und] die Vorherrschaft des Mannes in den Geschlechterbeziehungen (…)“ (ebd.). (Deutsche) Rom*nja und Sinti*zze wurden als diejenigen konstruiert, die „gegen das herrschende Realitätsprinzip das Lustprinzip, gegen die repressive Kultur insgesamt die Natur, gegen die Zwänge des Patriarchats das Matriarchat, gegen den industriellen Komplex das einfache Leben [verkörper(t)en, Anm.d.Verf.]“ (ebd.). Es existieren drei unterschiedliche Formen von Gadje-Rassismus: religiös, politisch und sozial. Der religiöse Gadje-Rassismus ver-andert (deutsche) Rom*nja und Sinti*zze als „Heiden“ und somit als Gegenbild zu Christ*innen, weil sie angeblich „Maria und dem Jesuskind die Herberge verweigert oder die Nägel für die Kreuzigung Jesu hergestellt hätten“ (Randjelovic 2011, 672) bzw. „vom biblischen Brudermörder Kain abstammen“ (End 2011, o.S.). Aus diesen „Gründen“ wurden (deutsche) Rom*nja und Sinti*zze jahrhundertelang ausgegrenzt, verfolgt und ermordet. Der politische Gadje-Rassismus begann im 15. Jahrhundert und zeichnete sich laut Randjelovic (2011, 673) u. a. durch „Landesverweise, Folter und Tötung“ aus, die mitunter damit „begründet“ wurden, dass (deutsche) Rom*nja und Sinti*zze als „innere Unruhestifter“ und „Urspeer der Türken“ bezeichnet worden sind. Die Konstruktion (deutscher) Rom*nja und Sinti*zze als politisch nicht dazugehörige Personen(gruppe), wurde mithilfe von „150 Edikte[n]“ be22

Gleichzeitig jedoch mussten (deutsche) Rom*nja und Sinti*zze unentgeltliche „Zwangsarbeit in Arbeitshäusern und privaten Haushalten“ (Randjelovic 2011, 674) verrichten.

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werkstelligt, die zwischen 1500 und 1800 im deutschsprachigen Raum erlassen wurden. Sie führten u. a. dazu, dass die Mächtigen ihre Macht konsolidierten, indem innere Spannungen der Gesellschaft, angesichts eines gemeinsamen Feindes, verringert werden konnten und dass andererseits die als weiß-deutschchristlich konstruierten Beherrschten sich auf Kosten der (deutschen) Rom*nja und Sinti*zze bereicherten, indem potentiellen Konkurrent*innen der Zugang zu bestehenden Zünften verweigert wurde und sie deshalb in die Nischenökonomie verdrängt wurden (vgl. Engbring-Romang 2006, o.S.).23 Einige der rassismusrelevanten Zuschreibungen, von denen (deutsche) Rom*nja und Sinti*zze bis heute betroffen sind, wie beispielsweise die Vorstellung, dass sie Kinder stehlen, basieren auf dem politischen Edikt „der Entnahme von Kindern aus ihren Familien“ (Randjelovic 2011, 674), das der Zielsetzung folgte, sie „zu braven Untertan*innen zu machen“ (ebd.). Der Widerstand (deutscher) Rom*nja und Sinti*zze gegen diese Praxis durch das Zurückholen staatlicherseits entführter Kinder wurde zum einen kriminalisiert und zum anderen Gegenstand rassismusrelevanter Zuschreibungen, indem die Opfer zu Täter*innen gemacht wurden. Die politischen Verordnungen der Neuzeit, die (deutsche) Rom*nja und Sinti*zze rassistisch diskriminierten, basierten u. a. auf die Etablierung des im Jahr 1899 in Bayern eingerichteten „Zigeunernachrichtendienstes“, der 1906 in Kraft getretenen „Anweisung zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, der ab 1927 in Hessen und Preußen praktizierten Methode des Fingerabdruckverfahrens von Zigeunern“, der „kommunalen Einschränkung der Gewerbefreiheit“ sowie auf den Nürnberger Gesetzen, wonach (deutsche) Rom*nja und Sinti*zze als „Artfremde“ ab 1935 nicht mehr der „deutschen Volksgemeinschaft“ angehörten, sowie mit einem Z markiert worden sind und ab 1943 „nach Ausschwitz verschleppt“ (Engbring-Romang 2006, o.S.) und dort ermordet worden sind. In der BRD basierte der politische und juristische Gadje-Rassismus zum einen auf dem Umstand, dass die Anerkennung der Viktimisierung (deutscher) Rom*nja und Sinti*zze als Opfer des Porajmos im Jahr 1956 durch den Bundesgerichtshof verweigert und erst im Jahr 1982 erfolgte. Dies hatte zur Folge, dass (deutscher) Rom*nja und Sinti*zze jahrzehntelang keine staatlichen Entschädigungszahlungen erhielten. Zum anderen wurde das „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen in weiten Teilen übernommen und lediglich in ‚Landfahrerordnung‘ umbenannt“ (Randjelovic 2015, 92 f.). Fer23

„Diese Gesetzgebung reichte von Vertreibungsvorschriften bis hin zur Gewährung von Straffreiheit bei der Tötung von Roma und Sinti“ (Randjelovic 2016, 267).

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ner wurden viele Verantwortliche für den Porjamos nach 1945 nicht verfolgt und bestraft, sondern konnten zum Teil sogar unbehelligt im Staatsdienst weiterarbeiten. Der soziale Gadje-Rassismus basiert auf den folgenden Unterstellungen, die von Severin (2011, 69 f.) herausgearbeitet worden sind: (1) „Nichtsesshaftigkeit (…) [und damit, Anm.d.Verf.] die Unfähigkeit bzw. Nichtbereitschaft, (…) an einem Ort ‚verwurzelt‘ zu sein“; (2) „Unfähigkeit/Unwillen zu geregelter (Lohn-) Arbeit (…) [womit, Anm.d.Verf.] eine grundsätzliche Differenz [zu bürgerlichen, Anm.d.Verf.] Arbeitsvorstellungen her[ge]stell[t] [wird, Anm.d.Verf.]“; (3) „Ausbeutung der Mehrheitsgesellschaft [in Form einer, Anm.d.Verf.] besondere[n] Neigung zur Kriminalität (…) [und, Anm.d.Verf.] Bettelei“; (4) „Kulturelle Differenz[setzung, Anm.d.Verf.]“, was sowohl „das Absprechen von Kultur im Allgemeinen“ beinhaltet, sowie die rassismusrelevante Zuschreibung „spezifische[r] Hygienevorstellungen, ein[es] eigenes Gesetz[es], (…) bestimmte[r] Geschlechterverhältnisse oder spezielle[r] Vorstellungen über Religion und Magie“; (5) „Agieren als Kollektiv“, was als „weiterer Marker der Differenz und ‚Fremdheit‘“ dient, „da dieses den Vorstellungen des weißen europäischen, aufgeklärt-bürgerlichen Individuums entgegensteht“ und somit zur „Primitivisierung oder Animalisierung“ von (deutschen) Rom*nja und Sinti*zze beiträgt. In der Realität existieren rassistisches und rassismuskritisches Wissen parallel nebeneinander, worauf Scherschel (2006, 172) hinweist: „Die Verwobenheit von rassistischer Konstruktion und ihrer gleichzeitigen selbstkritischen Problematisierung lässt (…) einen reflektierten Rassismus zu Tage treten, der sich dadurch auszeichnet, dass aufklärerische und rassistische Ideologeme zugleich kommuniziert werden können, mithin Rassismus und Selbstkritik in gleichem Atemzug vorkommen“. Demnach schließt „Nettsein bzw. Intelligentsein“ das Denken bzw. Äußern von rassismusrelevanten Sachverhalten nicht aus. Broek (1993, 93) merkt an, „daß Menschen nicht bewusst rassistisch sein wollen, bedeutet nicht, daß sie es nicht sind“. Gadje-Rassismus beschädigt die Integrität aller Menschen; so auch von Menschen, die scheinbar von Gadje-Rassismus (un-)bewusst profitieren bzw. scheinbar davon nicht betroffen zu sein scheinen.24 Denn neben dem (un-)sichtbaren Nutzen von Gadje-Rassismus, der sich in Privilegien in Bezug auf einen vereinfachten Zugang zum Arbeits- Bildungs- und Wohnungsmarkt äußert so24 Hierbei handelt es sich nicht nur um weiße Deutsche, sondern auch um Deutsche of

Color und Schwarze Deutsche, die nicht von Gadje-Rassismus betroffen sind.

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wie den Luxus beinhaltet, sich den Zeitpunkt und die Form der Beschäftigung mit Gadje-Rassismus aussuchen zu können, existieren die in offener bzw. klandestiner Form auftretenden Kosten des Gadje-Rassismus für alle Menschen, die in rassismusrelevanten Gesellschaftsstrukturen leben. Während der Gadje-Rassismus auf Seiten von (deutschen) Rom*nja und Sinti*zze u. a. zur Gefährdung des physischen Überlebens und zur Deprivilegierung bezüglich des Zugangs zum Arbeits-, Bildung-, Gesundheitsversorgung- und Wohnungsmarkt führen kann, äußern sich die Kosten des Rassismus für Menschen, die nicht von Gadje-Rassismus betroffen sind, in Form von „negativen psychosozialen Konsequenzen, (…) aufgrund der (Re)Produktion von [Gadje-]Rassismus (…). Diese Konsequenzen betreffen die (…) affektive[n] und kognitive[n] Fähigkeiten, sowie Verhaltensmuster (…). Beispiele (…) sind Schuld- und Schamgefühle, irrationale Angst vor [Rom*nja und Sinti*zze, Anm.d.Verf.] (…), Ignoranz und verzerrte Vorstellungen in Bezug auf [Gadje-]Rassismus, Unwissen[heit] (…), [sowie die, Anm.d.Verf.] eingeschränkte bis fehlende Kompetenz, in einer differenzsensiblen Welt zu leben“ (Yeboah 2017, 155). Die Ursache für einen bagatellisierenden Umgang mit Gadje-Rassismus in der Schule liegt unter anderem daran, dass es nach wie vor schwierig ist, Handlungen und Sinnbezüge, die rassismusrelevant sind, zu beschreiben, diese als solche zu benennen und dagegen vorzugehen. Ursächlich hierfür ist laut Scherr (2017, 314 f.) dass, (1) Gadje-Rassismus unzureichend „im Kontext eines Lernens aus der Geschichte, insbesondere aus der NS-Geschichte, thematisiert“ wird; (2) Gadje-Rassimus „vielfach nicht als solche[r] erkannt (…), sondern als vermeintlich zutreffende und zulässige Beschreibung von Roma in der Alltagskommunikation, aber auch in den Medien tradiert w[ird]“; (3) „Roma gewöhnlich nur dann als Roma wahrgenommen werden, wenn sie in auffälliger Weise in Erscheinung treten“; (4) „Roma (…) in Folge massiver (…) Diskriminierung (…) kaum Zugang zu regulärer Arbeit, angemessener Gesundheitsversorgung, und schulischer Bildung finde[n] [und sie deshalb, Anm.d.Verf.] das Bild einer sozial desintegrierten Minderheit bestätigen, der in der Logik gängiger Vorurteile fehlende Leistungsbereitschaft und kriminelle Neigungen unterstellt werden können“. Diese gesellschaftlichen Distanzierungsmuster tragen dazu bei, dass Rassismus in der Schule entweder heruntergespielt oder abgewehrt wird. Demnach „sehen sich [Personen mit Rassismuserfahrungen, Anm. d. Verf.] (…) regelmäßig mit einem Phänomen konfrontiert, für das es zum einen (…) keinen legitimierten Definitions- und Deutungsrahmen gibt und das zum anderen oftmals nur von ihnen als problematisch erfahren wird, für viele Personen ihres Umfel© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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des aber unbekannt bleibt und/oder in seiner Relevanz abgewehrt wird“ (Scharathow, 2014, S. 419). Vor diesem Hintergrund muss zum einen konstatiert werden, dass GadjeRassismuskritik eine lebenslange Aufgabe ist, weil alle Personen in der hiesigen Gesellschaft mit ebenjenen rassismusrelevanten Wissensbeständen sozialisiert worden sind. Zum anderen muss festgestellt werden, dass eine rassismusfreie Gesellschaft bzw. Schule eine Utopie ist. Erreicht werden kann zwar die rassismuskritische Sensibilisierung von Individuen und gesellschaftlicher Strukturen, doch Gadje-Rassismus verschwindet niemals gänzlich aus dem kulturellen Gedächtnis von Personen und Gesellschaften. Der Antrieb, sich in Bezug auf Gadje-Rassismus zu sensibilisieren, sollte ebenso wie die Sensibilisierung in Bezug auf andere Ungleichheitsstrukturen – wie beispielsweise Sexismus – intrinsisch sein und demnach aus eigenem Interesse betrieben werden. Gadje-Rassismuskritik sollte nicht in dem Glauben betrieben werden, etwas Gutes für andere zu tun, sondern in dem Bewusstsein, die eigene Person positiv zu verändern.

4.

Fazit

Gadje-Rassismus ist Teil der Lebenswirklichkeit aller Menschen, die in Deutschland leben, unterrichtet werden und selbst unterrichten, weil jede Person sozialisationsbedingt rassistisches Wissen besitzt. Aus diesem Grund ist eine rassismusfreie Gesellschaft eine bisher unerreichte Utopie, weil „in allem, was wir wissen (…) ein Stück rassistische Wissensgeschichte“ (Arndt 2014, 33) steckt. Deshalb geht es darum, mit rassistischem Wissen sensibel und kritisch umzugehen. So sollte die (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit Rassismus in der Gesellschaft zu einem obligatorischen Bestandteil in der Ausbildung von Lehrer*innen werden. „Es kommt darauf an, dass man lernt, die eigene Praxis unter dem Gesichtspunkt zu beobachten, wo versteckte latente Mechanismen [des Rassismus, Anm.d.Verf.] bisher nicht wahrgenommen werden konnten“ (Gomolla/Radtke 2009, 292). Lehramtsstudierende und (angehende) Lehrer*innen sollten sich fortwährend selbstkritisch fragen: „Was passiert [in der Schule, Anm.d.Verf.] eigentlich Rassismusrelevantes?“ (Rose 2011, 229). Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit schulischer und universitärer Rassismuskritik steckt noch in den Kinderschuhen. Um die zahlreichen Forschungslücken zu schließen, sind grundlegende empirische Studien notwendig. Beispielsweise sollte erforscht werden, wie die Leerstelle zwischen der unzurei© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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chenden rassismuskritischen Ausbildung von Lehramtsstudierenden und der anschließenden Erwartung hinsichtlich eines rassismussensiblen Handelns von Lehrer*innen in der schulischen Praxis beseitigt werden kann. Außerdem sollte die rassismuskritische Schulbuchforschung die Lehrwerke in den Schulen und deren Auswirkungen auf die Schüler*innen kritisch analysieren und eine Neubewertung des Curriculums vornehmen (vgl. Marmer 2017). Weil alltagsrassistisches Wissen in Gesellschaft und Schule (re-)produziert wird, ist die Anerkennung von Rassismuskritik als notwendiges Professionswissen in der Lehrer*innen(-ausbildung) vonnöten, um die fachdidaktischen und unterrichtsspezifischen Sachverhalte rassismuskritisch zu analysieren und vermitteln zu können. Zu diesem Zweck müssen sich Individuen, die bislang (unbewusst) von rassismusrelevanten Strukturen profitiert haben, mit eigenen Distanzierungsmustern in Bezug auf Alltagsrassismus auseinandersetzen. Erst in einem dritten Schritt und nachdem sich (angehende) Lehrer*innen rassismuskritisches Wissen angeeignet haben, kann und sollte damit begonnen werden, dieses Wissen im Unterricht einfließen zu lassen, um unterrichtliche Gegenstände rassismuskritisch zu thematisieren.

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Karim Fereidooni

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Karim Fereidooni

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

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AMARO DROM, AMARO FORO

Empowerment und Rassismussensibilisierung bei Amaro Drom e. V.: Politische Selbstorganisation, gegenseitige Vernetzung, historische Bildungsarbeit und intersektionale Arbeitsweisen aus Sicht junger Rom*nja und Sinti*zze

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

Empowerment und Rassismussensibilisierung bei Amaro Drom e. V.

Einführung Amaro Drom e. V. – Interkulturelle Jugendselbstorganisation von Rom*nja und Nicht-Rom*nja – ist die wichtigste bundesweite Jugendselbstorganisation von Rom*nja1, Sinti*zze und Jugendlichen, die weder Rom*nja noch Sinti*zze sind, die sich zum Ziel gesetzt hat, Empowerment junger Rom*nja und Sinti*zze zu betreiben sowie Rassismussensibilisierung anzubieten. Unsere Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der informellen Bildung, der Hilfestellung im Übergang von der Schule in den Beruf und transnationaler Vernetzung. Hier hat der Verein bereits wertvolle Kompetenzen aufgebaut. Die Mitwirkenden bei Amaro Drom haben sowohl theoretische Kenntnisse als auch vielfältige praktische Erfahrungen in der politischen Bildungsarbeit gesammelt. Seit vielen Jahren setzt sich Amaro Drom dafür ein, die Partizipationsmöglichkeiten jugendlicher Rom*nja und Sinti*zze zu erweitern und ihre gesellschaftliche Teilhabe zu stärken. Dies geschieht vor allem durch ehrenamtliches, aber auch hauptamtliches Engagement. Wir unterstützen lokale Jugendgruppen, veranstalten bundesweite Treffen und bieten Workshops in der Jugendbildungsarbeit an. Zudem sind wir regelmäßig im Bereich der kulturellen Bildung tätig. 1

Wir verwenden in unseren Veröffentlichungen die genderinklusive Schreibweise Rom*nja und Sinti*zze, um nicht-männliche Positionen und Positionen jenseits von Zweigeschlechtlichkeit sichtbar zu machen. Das Wort Rom*nja geht auf die Romanes-Worte Roma (Plural männlich) und Romnja (Plural weiblich) zurück. Das Wort Sinti*zze geht auf die Worte Sinti (Plural männlich) und Sintizze (Plural weiblich) zurück.

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Amaro Drom, Amaro Foro

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Eine unserer Stärken liegt in der transkulturellen Ausrichtung – Rom*nja, Sinti*zze und Menschen, die weder Rom*nja noch Sinti*zze sind, arbeiten bei uns auf allen Ebenen zusammen. Dabei hat der gegenseitige Austausch einen großen Stellenwert. Diesen Anspruch setzt Amaro Drom auf vielfältige Weise um. Die Ziele und Schwerpunkte der Vereinsarbeit fasst der zweite Vorstandsvorsitzende, Silas Kropf, folgendermaßen zusammen:

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

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„Immer mehr jugendliche Sinti und Roma schließen sich in Selbstorganisationen zusammen und erheben gemeinsam ihre Stimme, um für ihre Rechte einzustehen. Aber die Stärkung der Minderheit alleine reicht nicht aus. Insbesondere mit Blick auf den anhaltenden Rechtsruck in Deutschland, braucht es vor allem auch Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit, um die Realität der Minderheit bekannter zu machen, Vorurteile zu bekämpfen und um perspektivisch zu einem positiven Klima des Miteinanders zu gelangen. Das funktioniert nur, indem man im Austausch miteinander steht, indem man nicht übereinander, sondern miteinander spricht. Amaro Drom e. V. trägt dazu aktuell u. a. im Rahmen zweier bundesweiter Projekte bei, in denen junge Rom*nja und Sinti*zze zu Multiplikator*innen ausgebildet werden.“ (Kropf 2017)

Unser Verständnis von Antiziganismus Antiziganismus ist für uns mehr als nur eine Ansammlung von Vorurteilen. Vielmehr verstehen wir den spezifischen Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze in Anlehnung an Rassismus allgemein als historisch gewachsenes, gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis (vgl. Hall 1989). Wie andere Herrschaftsverhältnisse auch, dient der Antiziganismus der Absicherung bestehender Machtstrukturen und der ungleichen Verteilung ökonomischer und ideeller Ressourcen. Antiziganismus ist also ein vielschichtiges Phänomen, das in unserer Gesellschaft tief verankert ist. Es ist historisch gewachsen und beruht auf stereotypen Vorstellungen über Sinti*zze, Rom*nja und andere Gruppen, die durch diesen speziellen Rassismus diskriminiert werden. Rassistische Vorurteile gegen Sinti*zze und Rom*nja sind ein Problem der Mehrheitsbevölkerung. Diese Vorurteile sind meist negativ und homogenisierend. Das heißt, dass in der Vorstellung vieler Personen der Mehrheitsbevölkerung Rom*nja und Sinti*zze nur als Teil eines Kollektivs wahrgenommen werden und nicht als individuelle Persönlichkeiten. Rom*nja und Sinti*zze werden ganz bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Diese stehen im Gegensatz zu den Normen und Werten der Mehrheitsbevölkerung. Dadurch wird indirekt © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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vermittelt, wie Angehörige der Mehrheitsbevölkerung sein sollen. In Abgrenzung zu Rom*nja bzw. Sinti*zze wird die Mehrheitsbevölkerung als gesetzestreu, angepasst an die Zumutungen der neoliberalen Arbeitsgesellschaft, sesshaft sowie sexuell und emotional gezügelt konstruiert. Begründet durch rassistische Vorurteile werden Rom*nja und Sinti*zze im Alltag ausgegrenzt, beleidigt und angegriffen. Außerdem werden sie systematisch diskriminiert, zum Beispiel in den Bereichen Bildung, Arbeit, Wohnen oder Darstellung in den Medien. Daraus ergibt sich eine oft schlechte Lebenssituation für viele Rom*nja und Sinti*zze. Welche Folgen Antiziganismus für die Betroffenen hat, beschreibt Nino Novaković, der u. a. als Mitglied der Lenkungsgruppe des Projekts „Dikhen amen! Seht uns!“ bei Amaro Drom aktiv ist, folgendermaßen:

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Empowerment und Rassismussensibilisierung bei Amaro Drom e. V.

„Viele Jugendliche haben einen Abwehrmechanismus entwickelt, um sich persönlich zu schützen. Ich bin Roma-Aktivist seit 2013, aber auch für mich war das ein langer Prozess der Identitätsfindung. Es ist nicht selten, dass man als Roma oder als PoC (Person of Color) keinen Job bekommt. Da werden dann andere Gründe vorgeschoben. Oder, dass man die Wohnung nicht bekommt oder plötzlich Probleme in der Uni hat. Der Rassismus gegenüber Sinti und Roma ist immer noch sehr, sehr stark. Das fängt schon in der Schule an, wenn beispielsweise Schulbücher vorgegeben werden, die Rassismus gegenüber Sinti und Roma reproduzieren.“ (Novaković 2017) Zudem werden die Wissensbestände und Erfahrungen von Rom*nja und Sinti*zze systematisch ignoriert. Es gibt aber auch viele Rom*nja und Sinti*zze mit erfolgreichen Lebenswegen. Sie sind in der Berichterstattung der Massenmedien jedoch weniger häufig sichtbar oder werden als Ausnahme porträtiert, weil sie nicht in die klischeehaften Vorstellungen über Rom*nja und Sinti*zze passen. Amaro Drom setzt sich aktiv für Respekt und gesellschaftliche Teilhabe von Rom*nja und Sinti*zze ein. Wir kritisieren den Alltagsrassismus, die ausgrenzenden gesellschaftlichen Mechanismen und politischen Entscheidungen. Wir sensibilisieren für Antiziganismus in der Gesellschaft, in der Politik, in der Verwaltung, sowie in den Medien. Wir stärken junge Rom*nja und Sinti*zze, damit sie sich selbstbewusst für ihre Interessen einsetzen können. Und wir sensibilisieren Angehörige der Merheitsbevölkerung für die vielschichtige Diskriminierung von Rom*nja und Sinti*zze. Wir verstehen unsere Vereinsarbeit daher als einen wichtigen Beitrag zu rassismuskritischer Bildung. Auf welche Art und Weise wir rassismuskritische Bil© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

Amaro Drom, Amaro Foro

dung bei Amaro Drom praktizieren, erläutern wir im Folgenden. Dabei berichten wir aus der Arbeit aktueller Projekte bei Amaro Drom und seinem Berliner Landesverband Amaro Foro e. V.

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Das Projekt „Dikhen amen! Seht uns!“ Empowerment und Sensibilisierung für Rassismus aus der Sicht junger Rom*nja und Sinti*zze wurde mit IP-Adresse 139.018.245.255 aus dem Netz der UB Leipzig am Dezember 18, 2022 um 12:52:58 (UTC) heruntergeladen.

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Im April 2015 startete das bundesweite Projekt „Dikhen amen! Seht uns!“. Es wird voraussichtlich bis Ende 2019 durchgeführt und ist ein Modellprojekt, welches im Rahmen des Programms „Demokratie leben!“ vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wird. Wir initiierten das Projekt, um die Jugendarbeit im Verband sowohl auf lokaler, als auch auf bundesweiter Ebene zu stärken. Außerdem wollten wir die rassismuskritische Bildungsarbeit zum Thema Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze2 um die Perspektiven von Rom*nja und Sinti*zze erweitern. Hauptziel des Projektes ist das Empowerment junger Rom*nja und Sinti*zze. Darunter verstehen wir Raum für Selbstbewusstsein, Selbstbehauptung und den Kampf um Anerkennung als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu schaffen. Die Aktivistin Fatima Hartmann leitete 2016 den Romnja-EmpowermentWorkshop auf der Bundesjugendkonferenz von „Dikhen amen!“. Für sie bedeutet Empowerment Folgendes: „Empowerment heißt für mich, sich selber entwickeln, in seinem Denken weiterkommen und neue Projekte angehen. Es bedeutet sich zu fragen: ‚Was können wir, was kann jeder Einzelne von uns verändern, damit es uns als Menschen besser geht?‘“ (Hartmann 2016). Wir verstehen Empowermentarbeit als einen wichtigen Ansatz in der rassismuskritischen Bildung, weil rassistische Stigmata gegen Rom*nja und Sinti*zze auch von Jugendlichen aus den Communities verinnerlicht werden. Dadurch haben die Jugendlichen erschwerte Voraussetzungen, ein selbstbewuss2

Wir verwenden im Rahmen des Projektes „Dikhen amen! Seht uns!“ die Begriffe Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze und antiromani Rassismus. Diese Begriffsverwendung geht auf einen Beschluss der Lenkungsgruppe des Projektes zurück. Der Begriff Antiziganismus ist umstritten. Vgl. dazu etwa Randjelović (2014). Unser Verein Amaro Drom und seine Berliner Untergliederung Amaro Foro e. V. sehen jedoch auch Vorteile in der Verwendung des Begriffs Antiziganismus. Daher verwenden wir den Begriff Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze, wenn es sich um Aussagen zum Projekt „Dikhen amen!“ handelt. Wenn es sich um die Darstellung der allgemeinen Arbeit von Amaro Drom und im Besonderen die Arbeit von Amaro Foro handelt, wird der Begriff Antiziganismus benutzt.

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Empowerment und Rassismussensibilisierung bei Amaro Drom e. V.

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tes Verhältnis zu ihren diversen Identitäten zu entwickeln. Dies kann zur Folge haben, dass sie sich weniger für ihre Interessen und Belange einsetzen. Aus unserer Vereinsarbeit wissen wir, dass viele Jugendliche vermeiden, sich in der Öffentlichkeit als Rom*ni oder Sinte*zza zu erkennen zu geben, um sich vor Rassismus zu schützen. Durch unser Projekt tragen wir dazu bei, diesen Folgen von Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze etwas entgegen zu setzen. Empowerment, Selbstorganisation, gesellschaftliche Teilhabe und das selbstbewusste Einsetzen für die Belange der jungen Menschen wird durch unsere Projektarbeit unterstützt. Ein Beispiel für diese Arbeitsweise ist, dass die Jugendlichen in der Lenkungsgruppe von „Dikhen amen!“ mitentscheiden. Die Lenkungsgruppe tagt zwei Mal im Jahr. An ihr nehmen Jugendliche aus den verschiedenen Untergliederungen von Amaro Drom, der Vereinsvorstand und das Projektteam teil. Auf der Lenkungsgruppe entscheiden die Jugendlichen gemeinsam mit dem Projektteam und dem Amaro Drom-Vorstand, was im Projekt passiert, welche inhaltlichen Schwerpunkte wir setzen oder welche Teamer*innen für Workshops eingeladen werden. Ein weiteres Beispiel für die Stärkung von Empowerment und Selbstorganisation bei „Dikhen amen!“ ist, dass die Jugendlichen die Gelegenheit bekommen, sich mit ihrer eigenen Geschichte und mit Widerstandsstrategien zu beschäftigen. Die Jugendbegegnung „Dikh angle!“ bietet einen Rahmen dafür. Sie findet jedes Jahr anlässlich des Gedenktages am 2. August statt. Der 2. August ist der offizielle Gedenktag an den Genozid an den europäischen Rom*nja und Sinti*zze im Nationalsozialismus. Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass das Lernen über die eigene Geschichte und Widerstandsmöglichkeiten besonders erfolgreich ist, wenn die Jugendlichen im Austausch mit älteren Aktivist*innen aus der Community sind. So luden wir 2017 Anita Awosusi für einen Workshop zur Jugendbegegnung ein. Anita Awosusi ist seit vielen Jahrzenten Aktivistin für die Bürger*innenrechte von Rom*nja und Sinti*zze. Ihr Vater Hermann Weiß überlebte die Verfolgung im Nationalsozialismus. Über ihre Familiengeschichte verfasste Anita Awosusi das Buch „Vater unser – eine Sintifamilie erzählt“ (Awosusi 2016). Gemeinsam mit Anita Awosusi beschäftigten sich die Jugendlichen mit der Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Rom*nja und Sinti*zze. Durch das gemeinsame Gespräch erweiterten sie ihr Wissen von der Verfolgung, des Widerstandes und den Kämpfen der Bürger*innenrechtsarbeit. Eine wichtige Rolle bei dieser Jugendbegegnung spielt der Bezug zu den heutigen Lebensrealitäten der Jugendlichen, insbesondere ihrem persönlichen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

Amaro Drom, Amaro Foro

Umgang mit Rassismus. Welche Effekte der Blick in die Vergangenheit für das heutige Leben der Jugendlichen hat, fasst Melanie Joschla Weiß, ehemalige pädagogische Leiterin von „Dikhen amen!“, wie folgt zusammen:

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„Aus dem Blick in die Vergangenheit können wir lernen, wie mit dem Genozid umgegangen wurde, wie er verarbeitet wurde und welche Stärken daraus entstehen mussten. Es ist wichtig, sich zu erinnern und gleichzeitig den Blick nach vorne zu richten.“ (Weiß 2017a) wurde mit IP-Adresse 139.018.245.255 aus dem Netz der UB Leipzig am Dezember 18, 2022 um 12:52:58 (UTC) heruntergeladen.

Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

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Aber nicht nur das Empowerment junger Rom*nja und Sinti*zze ist das Ziel von „Dikhen amen!“. Das Projekt hat auch die kritische Auseinandersetzung mit Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze bei Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung zum Ziel. Denn Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze ist noch immer weit verbreitet. Auch junge Menschen haben bereits stigmatisierende Bilder verinnerlicht und handeln rassismusrelevant gegenüber Rom*nja beziehungsweise Sinti*zze. Dies wirkt sich negativ auf die Lebenswirklichkeit junger Rom*nja und Sinti*zze aus. Daher ist die Sensibilisierung von Jugendlichen für den spezifischen Rassismus und seine Folgen ein weiterer zentraler Bestandteil von „Dikhen amen!“. Dabei stehen die Erfahrungen und Lebensrealitäten junger Sinti*zze und Rom*nja im Mittelpunkt. Basierend auf dem Erfahrungswissen der Jugendlichen werden Methoden für die Jugendbildungsarbeit entwickelt. Im Laufe des Projektes werden jugendliche Rom*nja und Sinti*zze zu Multiplikator*innen ausgebildet, damit sie selbst Empowerment- und Sensibilisierungs-Workshops durchführen können. Die Workshops richten sich an junge Menschen in Jugendclubs, Jugendselbstorganisationen und Vereinen sowie Bildungseinrichtungen. Dass die Perspektiven von Rom*nja und Sinti*zze im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen, verstehen wir als einen weiteren wichtigen Beitrag zu rassismuskritischer Bildungsarbeit. Denn wie oben beschrieben, ist ein Effekt des Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze, dass ihre Perspektiven in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht beachtet werden. Dies betrifft einerseits historisch gewachsenes Wissen über die Geschichten der eigenen Community und die vielfältige Verfolgung von Rom*nja und Sinti*zze. Es betrifft andererseits ihre Analysen zur aktuellen Situation von Rom*nja und Sinti*zze. Dieser Mechanismus findet sich auch in der Bildungsarbeit zum Thema Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze wieder. Zwar gibt es bereits Materialien zur Sensibilisierung von Jugendlichen und Erwachsenen der Mehrheitsbevölkerung. Die Perspektiven von Rom*nja und Sinti*zze kommen darin jedoch zu kurz. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

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Empowerment und Rassismussensibilisierung bei Amaro Drom e. V.

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Im Projekt „Dikhen amen!“ fließen die Perspektiven der Jugendlichen auf mehreren Ebenen in die praktische und konzeptionelle Arbeit ein; etwa indem Jugendliche gemeinsam mit erfahrenen Teamer*innen Workshops auf der Bundesjugendkonferenz durchführen oder im Organisationsteam der Bundesjugendkonferenz mitarbeiten. So gab es auf der Bundesjugendkonferenz 2016 ein World Café und eine Podiumsdiskussion mit bekannten Persönlichkeiten aus der Community, zu denen auch jugendliche Aktivist*innen zählen. Im darauffolgenden Jahr veranstalteten die Teilnehmer*innen eine lebendige Geschichtswerkstatt, in der die Lebensgeschichten und Lebensziele der Jugendlichen im Mittelpunkt standen. Darüber hinaus tragen die Jugendlichen im Rahmen der Pressearbeit des Projektes ihre Erfahrungen, Wünsche und politischen Forderungen in die Öffentlichkeit. In den Expert*innenteams, welche pädagogische Methoden und Konzepte entwickeln, ist auch jeweils ein*e Jugendliche*r dabei.

Zur Zielgruppe von „Dikhen amen! Seht uns!“ Über die Zielgruppe unseres Projektes zu reflektieren und hierzu passende Formate zu entwickeln und anzuwenden, ist ein weiterer wichtiger Bestandteil der rassismuskritischen Bildungsarbeit bei „Dikhen amen!“. Denn die Zielgruppen unseres Projektes sind genauso vielfältig, wie die Gesellschaft, in der wir leben. Wenn es um Empowerment und die Stärkung des Engagements der Jugendlichen im Verein geht, richten wir uns an jugendliche Rom*nja und Sinti*zze aus ganz Deutschland. Diese Jugendlichen stellen entgegen weit verbreiteter Vorstellungen keinesfalls eine homogene Gruppe dar. Für uns bedeutet rassismuskritische Bildungsarbeit anzuerkennen, dass die Jugendlichen, welche bei uns im Projekt aktiv sind, unterschiedliche Erfahrungen mit Rassismus machen. Violeta Balog, Vorstandsmitglied von Amaro Foro, erklärt dies wie folgt: „Die Communities von Rom*nja und Sinti*zze in Deutschland sind sehr heterogen. Das betrifft nicht nur die jeweilige rechtliche und ökonomische Situation, sondern beispielsweise auch unterschiedliche Grade der Betroffenheit von stereotypen Narrativen der Mehrheitsgesellschaft und unterschiedliche historische Erfahrungen mit Ausgrenzung und Partizipation in den verschiedenen Nationalstaaten. Die deutschen Sinti*zze beispielsweise leben seit Jahrhunderten im deutschsprachigen Raum, haben die deutsche Staatsbürgerschaft und damit einhergehende Bürgerrechte wie etwa das Recht, zu arbeiten oder den Wohnort frei zu wählen. Sie sind als nationale Minderheit anerkannt. Das alles heißt natürlich nicht, dass © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

Amaro Drom, Amaro Foro

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sie keine Diskriminierungserfahrungen machen; der Zentralrat deutscher Sinti und Roma als etablierte Interessenvertretung der deutschen Sinti*zze kämpft seit Jahrzehnten gegen Antiziganismus etwa in Medien oder Polizeibehörden.

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

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Doch die Situation der deutschen Sinti*zze ist vor allem in rechtlicher, aber oft auch ökonomischer Hinsicht eine ganz andere als die von verschiedenen Gruppen nach Deutschland migrierter Rom*nja aus osteuropäischen Ländern: Unter ihnen gibt es jene, die längst eingebürgert sind, darunter etwa diejenigen, die in den 1960ern als sogenannte Gastarbeiter*innen nach Deutschland kamen und eher als Jugoslaw*innen denn als Rom*nja gelesen wurden. Dann gibt es diejenigen, die entweder Anfang der 1990er oder Ende der 1990er vor dem Krieg in Jugoslawien bzw. im Kosovo geflohen sind. Manche dieser Menschen, die bereits relativ lange in Deutschland sind, haben einen sicheren Aufenthaltsstatus, andere nicht. Menschen, die in den letzten Jahren aus den Westbalkanstaaten hergekommen sind, befinden sich dagegen hier teils noch im Asylverfahren, teils sind sie illegalisiert bzw. von Abschiebung bedroht. Die letzte Gruppe von in Deutschland lebenden Rom*nja bzw. Sinti*zze sind EU-Bürger*innen mit unterschiedlicher (EU-)Staatsbürgerschaft, die ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch nehmen. Als EU-Bürger haben sie einen guten rechtlichen Status, in ökonomischer Hinsicht ist ihre Situation dagegen oft prekär. Ihre Diskriminierungserfahrungen unterscheiden sich von denen deutscher Sinti*zze, weil sie zum Teil von anderen Diskursen geprägt werden.“ (Balog 2017; vgl. Randjelović 2015) Auch bei den Jugendlichen in unserem Projekt findet sich die Bandbreite dieser unterschiedlichen Positionierungen wieder. Um der Vielfältigkeit der Lebensrealitäten und Diskriminierungserfahrungen junger Rom*nja und Sinti*zze gerecht zu werden, bemühen wir uns, diese in der thematischen Ausrichtung der „Dikhen amen!“-Veranstaltungen zu berücksichtigen. Auch achten wir darauf, dass sich die Vielschichtigkeit von Erfahrungen, die Rom*nja bzw. Sinti*zze in Deutschland machen, in der Zusammensetzung der Teamer*innen von Workshops widerspiegelt. Zudem organisieren wir Übersetzungen, wenn diese benötigt werden und versuchen verschiedene gesellschaftliche Kontexte in geschichtliche und biografische Betrachtungen einzubeziehen. Darüber hinaus entwickeln wir Methoden, welche die Diversität junger Rom*nja und Sinti*zze thematisieren. In jeder Jugendgruppe gibt es Menschen unterschiedlicher Hintergründe, Erfahrungen und Interessen. Es gibt aber auch © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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viele Gemeinsamkeiten. Diese Eigenschaften haben Einfluss auf die Alltagsrealität, aber auch das Verhalten der Jugendlichen. Daher ist es wichtig, über diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu reflektieren und einen respektvollen Umgang untereinander zu finden, der Diversität wertschätzt. Ein Beispiel, wie dieser Anspruch bei „Dikhen amen!“ umgesetzt wird, ist die Methode „Wir sind alle anders, wir sind alle gleich“. Diese wurde von Éva Ádám, der pädagogischen Leiterin des Projekts, entwickelt. Die Methode zielt darauf ab, die Jugendlichen darin zu schulen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit anderen wahrzunehmen und ihnen mit Offenheit, Respekt und Empathie zu begegnen. Darüber hinaus wird das Verständnis der Jugendlichen von Diskriminierung, Stereotypen und Vorurteilen geschärft. Grundlage dieser Auseinandersetzung ist das Reflektieren über die eigene Identität. Ziel ist es, ein Bewusstsein für die Unterschiede zwischen Menschen und die Anerkennung der besonderen Vorteile ihrer Vielfalt zu entwickeln. Neben der Diversität von Rassismuserfahrungen gibt es also auch Gemeinsamkeiten, die von den jugendlichen Rom*nja und Sinti*zze als verbindend wahrgenommen werden. Dies betrifft nicht nur die bei „Dikhen amen!“ involvierten Jugendlichen, sondern ist Teil kollektiver Erfahrungen in Rom*nja-Communities. Hierzu führt Violeta Balog aus: „Wenn es trotz aller Heterogenität etwas Gemeinsames gibt, das alle europäischen Rom*nja – wenn auch in unterschiedlicher Intensität und unterschiedlichen Formen und Kontexten – teilen, dann sind es die historische Erfahrung von Vertreibung und Genozid und die Auseinandersetzung mit rassistischer Ausgrenzung – strukturell und individuell – in der Gegenwart – im Alltag und in den Familien. Eine Roma-Identität muss auch heute noch oft gegen Widerstände aufgebaut und erkämpft werden. In diesem Prozess spielen Wissensbestände und Überlebensstrategien der verschiedenen marginalisierten Gruppen eine Rolle. Letztendlich geht es darum, dominanten gesellschaftlichen Narrativen über das ‚Roma-Sein‘ eine eigene Definition und Erzählung entgegenzusetzen, die Rom*nja als autonome Subjekte sichtbar macht.„(Balog 2017; vgl. Randjelović 2015) Diese verbindenden Elemente finden sich bei „Dikhen amen!“ u. a. in Form der Zweisprachigkeit einiger Projektveröffentlichungen und Veranstaltungstitel wieder. Der Projektflyer richtet sich beispielsweise auf Deutsch und Romanes an junge Rom*nja und Sinti*zze, wobei wir einen Romanes-Dialekt verwendet haben, der von vielen Jugendlichen im Verein verstanden wird. Viele der im Projekt engagierten Jugendlichen sprechen die Sprache Romanes. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Amaro Drom, Amaro Foro

So gut wie alle Jugendlichen haben Erfahrungen mit dem spezifischen Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze gemacht. Da dieser im Alltag nicht immer reflektiert wird, bietet „Dikhen amen!“ einen Raum, sich darüber auszutauschen und gegenseitig zu unterstützen. Viele Jugendliche haben zudem Migrationsgeschichte und teilen die zermürbenden Erfahrungen mit strukturellem und institutionellem Rassismus in Deutschland. Durch den Austausch über diese Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit Freundschaften. In diesem Raum, den wir durch unser Projekt den Jugendlichen bieten, ist der Erfahrungsaustausch zentral. Er ermöglicht es, von- und miteinander zu lernen, sich gemeinsam bewusst zu werden, was romani Identität für jede*n individuell bedeutet und gemeinsam Strategien gegen Alltagsrassismus zu entwickeln. Dafür ist es auch wichtig, dass sich jüngere und ältere Jugendliche austauschen, sowie dass ehemalige Projektteilnehmende als Multiplikator*innen in leitende Positionen bei „Dikhen amen!“ kommen. Diese Vorbildfunktion ist neben dem Erfahrungsaustausch zentral für die Bestärkung der eigenen Identität. Die Verfolgungsgeschichte und Rassismuserfahrungen als verbindende Elemente für die Jugendlichen sind wichtige Themen in unserer Bildungsarbeit. Weil Wissensbestände von Rom*nja systematisch ausgelöscht wurden, wissen viele Jugendliche wenig über die eigene Geschichte. Die Möglichkeit, darüber zu lernen, ist für viele neu und wichtig. Den verschiedenen Rassismuserfahrungen der Jugendlichen gerecht zu werden, heißt für uns auch, in konkreten Fällen Unterstützung anzubieten, z. B. durch Vermittlung zu anderen Organisationen vor Ort oder zu Anwält*innen. In einem akuten Fall, als zwei Jugendliche samt Familie abgeschoben wurden, unterstützte der Verein die Bemühungen der Familie nach Deutschland zurückzukehren. Dies geschah z. B. über die Finanzierung der Kosten ihrer Anwält*in durch Spenden. Rassismuskritische Arbeit heißt für uns also nicht nur die Unterstützung von Empowerment durch inhaltliche Arbeit und gegenseitigen Austausch. Rassismuskritisch zu wirken heißt für uns auch, den Jugendlichen in konkreten rassistischen Situationen durch praktische Hilfe zur Seite zu stehen. Wir widmen uns in der Projektarbeit also auch politischen Kämpfen, die einen Teil der Jugendlichen betreffen. Die Tatsache, dass die Zielgruppe von „Dikhen amen!“ äußerst vielfältig ist, gilt nicht nur für Rom*nja und Sinti*zze. Auch bezüglich der angestrebten Sensibilisierungsarbeit von Jugendlichen, die weder Rom*nja noch Sinti*zze sind, ist unsere Zielgruppe äußerst divers. Auch hier gibt es unterschiedliche Erfahrungen mit Rassismus, was in der rassismuskritischen Bildung oft vergessen wird. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Nicht selten wird das „wir“, welches durch rassismuskritische Bildungsarbeit angesprochen wird, normativ als weiß und ohne Migrationsgeschichte assoziiert. Dies produziert vielfältige Ausschlüsse, da in den Klassenzimmern, Jugendclubs etc. auch Schwarze Jugendliche, Jugendliche of Colour, junge Jüd*innen sowie Rom*nja und Sinti*zze anwesend sind. Einige haben Migrationserfahrung, andere nicht. Die einen haben einen deutschen Pass, die anderen wiederum nicht. Neben Rassismus erfahren Jugendliche natürlich auch andere gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse. Dies gilt sowohl für jugendliche Rom*nja und Sinti*zze, als auch für andere Jugendliche. Sexismus, Homo- und Transfeindlichkeit, Klassismus und Behindertenfeindlichkeit sind weitere Aspekte, die auf das Leben von Jugendlichen wirken. Oft sind diese Herrschaftsverhältnisse miteinander verwoben. Viele Jugendliche erfahren mehrdimensionale Diskriminierung. Rassismuskritische Arbeit heißt für uns auch, die Intersektionalität von Herrschaftsverhältnissen zu erkennen, zu reflektieren und in die praktische Arbeit einfließen zu lassen.

Zu unserem methodischen Vorgehen Der Diversität unserer Zielgruppe versuchen wir auf mehreren Ebenen gerecht zu werden. Zum einen arbeiten wir mit intersektionalen Methoden. So versuchen wir beim Teamen der Workshops Diversität kontinuierlich mitzudenken und als etwas Wertvolles zu vermitteln; zum Beispiel indem wir nachfragen, wo die Jugendlichen Parallelen oder Unterschiede zwischen verschiedenen Diskriminierungserfahrungen sehen. Bewährte Methoden wie das Forumtheater nach Augusto Boal zeigen den Jugendlichen außerdem Möglichkeiten auf, solidarisch auf diskriminierende Situationen zu reagieren. Unserem methodischen Vorgehen bezüglich Rassismus gegen Rom*nja liegt ein Verständnis zugrunde, das den Rassismus nicht als losgelöstes Phänomen sieht. Vielmehr wird der spezifische Rassismus mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Verbindung gebracht, die ihn hervorbringen. Das heißt: Die Methoden beinhalten auch eine allgemeine Gesellschaftskritik und machen Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze als einen Mechanismus sichtbar, der Menschen zueinander in Konkurrenz setzt und sie auf gesellschaftliche Normen einstimmt. Deutlich wird dies am Beispiel des Amaro Drom-Spiels, welches von der Projektleitung Anna Friedrich und Georgi Ivanov, dem Koordinator der Anlaufstelle für Bulgar*innen und Rumän*innen von Amaro Foro in Berlin, entwickelt wurde. Das Amaro-Drom-Spiel ist ein Brettspiel über Rom*nja-Geschichte. Sowohl positive als auch negative Ereignisse werden vermittelt und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Amaro Drom, Amaro Foro

verschiedene historische Perspektiven auf die Geschichte verschiedener Länder aufgezeigt. Anhand historischer Ereignisse werden Mechanismen von Rassismus, seine Folgen für die Betroffenen und Widerstandsformen gegen Rassismus erklärt. Unsere bisherige Projekterfahrung zeigt, dass sich nicht nur kognitive, sondern auch künstlerische Ansätze für die Vermittlung von Wissen über die Geschichte und die aktuelle Situation von Rom*nja und Sinti*zze eignen. Dabei sind besonders theaterpädagogische Ansätze hervorzuheben. Ein Beispiel hierfür ist die Methode „Superheroes aus der Vergangenheit“, welche von Joschla Weiß im Rahmen der Jugendbegegnung „Dikh angle! Nach vorne schauen!“ 2017 entwickelt wurde. Bei einem Rundgang am ehemaligen Zwangslager Berlin-Marzahn recherchierten die Jugendlichen die dort ausgestellten Biografien und verarbeiteten ihr Wissen in einer Theaterperformance, welche sie den anderen Teilnehmenden der Jugendbegegnungen am Ende präsentierten. So konnten die Jugendlichen im Rahmen des Ausstellungsbesuchs Wissen zunächst kognitiv aufnehmen und ihre Eindrücke emotional durch Theaterimprovisation verarbeiten und ihr neu erworbenes Wissen mit anderen teilen. Joschla Weiß, ehemalige pädagogische Leiterin erklärt dazu: „Unser Projekt gründet auch auf der Annahme, dass ein Konglomerat bestehend aus Gewalt, Flucht und Ausgrenzungserfahrung traumatische Erlebnisse in den Familien hinterlassen hat. Insbesondere vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Verfolgungs- und Vernichtungspolitik, die sich auf ganz Europa ausweitete, liegt die Vermutung nahe, dass gegenwärtige Ressentiments gegen die Minderheit bis hin zu permanenten Abschiebungen der Roma-Familien aus Deutschland eine Re-Traumatisierung unterstützen. Traumata werden, so Dr. Jane Schuch, individuell und intergenerationell weitergegeben. (vgl. Jane Schuch 2015, Dossier Sinti und Roma, Heinrich Böll Stiftung). Postmemory ist ein Konzept, welches beschreibt, dass die Erinnerungen und die Erfahrungen von traumatischen Erlebnissen in die Körper der nachfolgenden Generationen eingeschrieben werden. Dieses Konzept beruht auf der Arbeit von Marianne Hirschfeld. Dieser Argumentation folgend werden Geflüchtete der heutigen Zeit zu neuen Zeitzeug*innen. Jugendliche, die zu unseren Workshops kommen, möchten wir ent-traumatisieren, indem wir ihnen einerseits einen Schutzraum geben. Andererseits können sie auf sinnliche Weise die Verfolgungsgeschichte ihrer Ahnen in eine Widerstandsgeschich© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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te in Form von kleinen Theaterszenen umschreiben. Innerhalb dieses Prozesses ermächtigen sich die Jugendlichen selbst über die Verfolgungsgeschichte ihrer Communities. Die Theaterübung „Superhero“ versetzt die Spieler*innen in die Lage (durch den Einsatz von Körper, ihrer Sprache und einem Perspektivwechsel in den Fragestellungen) sich selbst zu empowern. In der Rolle eines Superheros befragen sie ehemalige Zeitzeug*innen nicht, was so schrecklich war, sondern wie sie damit umgegangen sind; was ihnen z. B. Kraft gegeben hat und welche Möglichkeiten des Widerstandes und Aufbegehrens sie fanden, um zu überleben.

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Empowerment und Rassismussensibilisierung bei Amaro Drom e. V.

So können die meisten Jugendlichen die Workshops mit positiven Inputs verlassen und wissen, dass sich hinter Problemen auch eine Lösung finden lässt.“ (Weiß 2017b). Die Förderung des Selbstbewusstseins und des Bewusstseins über die Stärken der Communities ist zentraler Bestandteil unserer methodischen Arbeit. Mit Methoden basierend auf dem Konzept des Community Cultural Wealth, welches von Tara J. Yosso (2005) entwickelt wurde, vermitteln wir die Wertschätzung für die vielfältigen Ressourcen, welche bei Rom*nja und Sinti*zze vorhanden sind. Dazu zählen Aspekte wie Mehrsprachigkeit, die Tradierung der eigenen Geschichten, starke soziale Netzwerke oder Strategien im Umgang mit Rassismus. Ein weiteres methodisches Vorgehen zur Stärkung der Jugendlichen ist die ressourcenorientierte Biografiearbeit, welche mit theaterpädagogischen Methoden umgesetzt wird. Biografisches Theater unterstützt die Entwicklung des Selbstbewusstseins in einer hochkomplexen Welt. Sich seiner*ihrer selbst in der Welt bewusst zu werden, führt zu selbstbestimmtem Handeln. Gerade die Biografiearbeit eignet sich auch, um die Verwobenheit von Herrschaftsverhältnissen deutlich zu machen. Indem die Jugendlichen ihren persönlichen Erfahrungen mit Diskriminierungen nachspüren, können mehrdimensionale Diskriminierungserfahrungen aufgedeckt und gemeinsam reflektiert werden. Außerdem beziehen wir uns bei „Dikhen amen!“ auf Methoden, die sich bereits in der politischen Bildungsarbeit bewährt haben. Dies betrifft die Vermittlung bzw. Stärkung konkreter Fähigkeiten (Rhetorik, Workshopplanung etc.) und die Etablierung einer klaren persönlichen Haltung zu Rassismus und weiteren diskriminierenden Einstellungen. Wir binden die jungen Multiplikator*innen zudem gezielt in die inhaltliche und organisatorische Arbeit ein. Sie erleben sich so als Expert*innen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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„Unser Ziel ist, dass die Jugendlichen von Anfang an lernen wie die Jugendverbandsarbeit funktioniert, von der Organisation bis zum Teilnehmen an einem Workshop, um später irgendwann selber Workshops zu geben. Das Wichtigste dabei ist, dass die Themen, die auf der Bundesjugendkonferenz vorkommen, von den Jugendlichen selber bestimmt werden“, erklärte dazu Ismeta Stojković. Sie ist die Co-Vorstandsvorsitzende des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen (Terno Drom) und organisierte u. a. gemeinsam mit dem Projektteam die Bundesjugendkonferenz 2016 (vgl. Stojković 2016). wurde mit IP-Adresse 139.018.245.255 aus dem Netz der UB Leipzig am Dezember 18, 2022 um 12:52:58 (UTC) heruntergeladen.

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Die Vernetzung der Jugendlichen untereinander ist ein weiterer zentraler Bestandteil unserer methodischen Vorgehensweise. Durch die Vernetzung und das Empowerment junger Rom*nja und Sinti*zze im Rahmen von „Dikhen amen!“ gewinnen die Jugendlichen ein gutes Gefühl dazu, Sint*izza oder Rom*nja zu sein. So sagte eine Jugendliche nach ihrer ersten Teilnahme an der jährlich stattfindenden Bundesjugendkonferenz: „Ich war noch nie auf einer Veranstaltung, wo nur unsere Leute sind und ich freu mich sehr hier sein zu können. Das ist eine sehr schöne Erfahrung für mich.“ Die Homogenisierung und Essenzialisierung von Rom*nja und Sinti*zze in öffentlichen Darstellungen stellt eine Herausforderung für die Jugendlichen und für die Projektarbeit dar. Daher arbeiten wir auch mit medienpädagogischen Ansätzen, die wir wiederum mit der Öffentlichkeitsarbeit des Projektes verknüpfen. Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit versuchen wir der Homogenisierung und Essenzialisierung entgegenzuwirken, indem wir die Jugendlichen dabei unterstützen, pauschalisierenden Fragen von Medienschaffenden kritisch zu begegnen und ihre vielfältigen Perspektiven in die Öffentlichkeit zu tragen.

Zur Multiplikator*innenausbildung Neben der Empowerment- und Sensibilisierungsarbeit ist die Ausbildung von jugendlichen Rom*nja und Sinti*zze das Hauptziel von „Dikhen amen!“. Bis Ende 2019 werden wir 20 Jugendliche aus dem gesamten Bundesgebiet dazu ausbilden, dass sie selbst Empowerment- und Sensibilisierungsworkshops anbieten können. Dadurch erweitern wir das Angebot der Bildungsarbeit im Bereich Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja. Die jahrzehntelange Erfahrung der politischen Bildungsarbeit hat gezeigt, dass Sensibilisierung ein erster Schritt ist, um stigmatisierende Einstellungen zu überwinden und diskriminierendes Verhalten abzubauen. Neu an der Multiplikator*innenausbildung bei „Dikhen amen!“ ist, dass jugendliche Rom*nja und Sinti*zze die Sensibilisierungsarbeit leisten. Denn © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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bisher wurden diese Aktivitäten vor allem von Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung umgesetzt. Im Rahmen der Ausbildung werden die Jugendlichen also selbst zu Expert*innen ihrer eigenen Situation. In der Multiplikator*innenausbildung greifen wir auf den Peer-to-Peer-Ansatz zurück. Jugendliche Rom*nja und Sinti*zze kommen im Rahmen von Workshops oder Vorträgen mit anderen Jugendlichen ins Gespräch und sensibilisieren für die spezifischen rassistischen Diskriminierungserfahrungen vieler Rom*nja und Sinti*zze. Hierzu werden die Methoden eingesetzt, welche bei „Dikhen amen!“ von Expert*innenteams aus der Community entwickelt wurden. So trägt die Arbeit der Multiplikator*innen dazu bei, Wissensbestände der Rom*nja-Communities in die Öffentlichkeit zu tragen. Genauso wichtig ist, dass die jungen Multiplikator*innen in die eigenen Communities hineinwirken. Wir bauen eine Learning-Community auf, in der alle voneinander lernen können. Das geteilte Wissen und die Erfahrung der Vereinsarbeit sind auch eine Hilfe beim Übergang von der Schule in den Beruf – z. B. dadurch, dass durch die Projektmaßnahmen pädagogische Berufe für die Jugendlichen interessant werden. Die Projektinhalte und -ziele von „Dikhen amen!“ führen auch dazu, dass neue Role-Models geschaffen werden. Durch ihr souveränes Auftreten in der Öffentlichkeit werden die am Projekt beteiligten Personen zu Vorbildern für andere Jugendliche. Durch unsere Projektarbeit fördern wir zudem den Nachwuchs von aktiven Jugendlichen bei Amaro Drom und das politische Engagement junger Rom*nja und Sinti*zze. Die Multiplikator*innenausbildung und bundesweite Veranstaltungen wie die Bundes-jugendkonferenz stärken die Jugendlichen hinsichtlich ihrer Identität als Rom*nja oder Sinti*zze. Daraus resultiert nicht nur ein gesteigertes Selbstbewusstsein. Ein weiteres Ergebnis ist, dass sich die Jugendlichen für ihre persönlichen und politischen Belange selbst aktiv in die Gesellschaft einbringen. „Dikhen amen!“ ist nicht das einzige Projekt von Amaro Drom, welches sich dem Empowerment von Rom*nja-Jugendlichen und der Ausbildung von Multiplikator*innen widmet. Unser Projekt „Romane Krla – die Rom*nja Stimmen“ widmet sich diesen Vorhaben mit spezifischem Fokus auf den Genozid an Rom*nja und Sinti*zze im Nationalsozialismus.

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Das Projekt „Romane Krla – Die Rom*nja Stimmen“

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Das Projekt, das im Juni 2017 begann und im Dezember 2018 enden wird, bietet eine einzigartige Gelegenheit für junge Rom*nja-Aktivist*innen. Aufbauend auf ihren bisherigen Erfahrungen erweitern sie ihre bisherigen Fähigkeiten, um Multiplikator*innen für die Geschichte und Erinnerungskultur von Rom*nja zu werden. Das Projekt zielt darauf ab, acht bis zehn junge Rom*nja zu Multiplikator*innen in den Themenbereichen Erinnerungskultur und Menschenrechtsbildung auszubilden. „Romane Krla – Die Rom*nja Stimmen“ ist ein Projekt von Amaro Drom in Kooperation mit „Studentim – Jüdische Studierendeninitiative Berlin e. V.“, das von der Stiftung EVZ finanziert wird. Die Teilnehmer*innen bekommen in Workshops didaktische und pädagogische Fähigkeiten für ihre zukünftigen Tätigkeiten vermittelt. Sie erlangen Wissen und praktische Fertigkeiten, um pädagogische und informative Aktivitäten umzusetzen, die Bewusstsein für die Ermordung von Rom*nja, Jüd*innen und anderen Minderheiten während des Zweiten Weltkrieges sowie vergangene und aktuelle Mechanismen von Rassismus schaffen. Durch fünf verschiedene Wochenend-Workshops mit Fachleuten zum Thema werden wir die Verfolgung und Ermordung von Rom*nja, Jüd*innen und anderen Minderheiten während des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges untersuchen, um u. a. allgemeine Mechanismen von Rassismus zu verstehen. Mit Hilfe des historischen Lernansatzes und der Menschenrechtsbildung werden die Teilnehmer*innen didaktische Kompetenzen erwerben, um als Multiplikator*innen Themen wie Rassismus, Antiziganismus, Antisemitismus oder Erinnerungskultur bearbeiten und dafür sensibilisieren zu können. Nach dem Training haben die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, lokale Aktivitäten, mit der Unterstützung von Amaro Drom, zu organisieren, basierend auf dem Wissen das während der Workshops erworben wurde. Die Teilnehmer*innen, die das gesamte Training absolvieren, erhalten ein Zertifikat und werden Teil des Amaro Drom-Referent*innen-Pools, über den sie zukünftig für weitere Workshops zu den Themen Erinnerungskultur und Menschenrechtsbildung angefragt werden können. Die Trainings finden alle zwei Monate in Berlin statt und haben jeweils ein anderes Thema. Der erste Workshop wurde von Hajdi Barz geleitet und es wurde eine allgemeine Einführung in die Fragen der Erinnerung und die Rolle der Geschichte in unserer Gemeinschaft gegeben, die wir während des Projekts bearbeiten werden und die die Grundlage für die nachfolgenden Ereignisse bilden

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werden. Beim zweiten Wochenende ging es mit Hristo Kyuchukov um weitere Aspekte von Rom*nja-Geschichte und ein tieferes Verständnis des Antiziganismus und der Geschichte der Verfolgung von Rom*nja. Der Schwerpunkt lag dabei auf dem Genozid an den Rom*nja durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Verbündeten. Die Gruppe besichtigte die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen und nahm an einer Führung über in diesem Lager internierte Rom*nja teil. Der dritte Workshop konzentrierte sich auf Antisemitismus und die Shoah. Es fand eine Führung durch das jüdische Viertel in Berlin Mitte statt. Unsere Partnerorganisation „Studentim“ organisierte eine Sitzung über jüdische Geschichte, die historische Feindseligkeit gegenüber Jüd*innen sowie deren Verfolgung und die Shoah. Weitere Themen waren die jüdische Erinnerungskultur und der Austausch über didaktisches Material gegen Antisemitismus. In dem nachfolgenden Workshop erhielten die Teilnehmenden Dank des engagierten Beitrags von Peggy Piesche die Möglichkeit, die Analyse und das Verständnis von Rassismus und Kolonialismus zu vertiefen. Im Abschlussmodul erlernen die Jugendlichen den Einsatz unterschiedlicher pädagogischer Methoden und Didaktiken zur politischen Bildung. Dieses Projekt zielt darauf ab, Jugendlichen ein tieferes Wissen über die NS-Verfolgungsgeschichte zu vermitteln, mit dem sie in Zukunft als Multiplikator*innen arbeiten können. Durch die Workshops sehen sich die Jugendlichen außerdem regelmäßig und können in einen tieferen Austausch miteinander treten. Auch der Peer-to-Peer Ansatz ist sehr stark in diesem Projekt. Die Beschäftigung mit anderen Formen von Rassismus und historischen Ereignissen bietet zudem eine erweiterte Perspektive auf Rassismus. Ähnlich wie bei „Dikhen amen!“ bietet das Projekt „Romane Krla“ eine Plattform, bei der eine Gruppe junger Rom*nja und Sinti*zze zusammenkommen kann, um über die eigene Geschichte zu diskutieren und die eigenen Erzählungen in Räume zu bringen, in denen sie normalerweise nicht gehört werden (z. B. Schulen, politische Institutionen, Universitäten etc.). Romane Krla trägt außerdem dazu bei, falsche Darstellungen zu überwinden, die in Workshops und anderen Aktivitäten über Rom*nja und Sinti*zze reproduziert werden und unter denen die Communities leiden. Da die spezifische Auseinandersetzung mit dem Genozid an den europäischen Rom*nja und Sinti*zze immer noch viel zu wenig im öffentlichen Bewusstsein präsent ist, gibt es ein weiteres Projekt im Verein, welches sich diesem Thema widmet. Das Comic-Projekt „The Night of the Violins“ von unserem Berliner Landesverband Amaro Foro setzt sich mit dem Genozid auf kreative Weise auseinander. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

Amaro Drom, Amaro Foro

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Das Comic-Projekt „The Night of the Violins“ von Amaro Foro

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Im Rahmen der Jugendarbeit im Berliner Landesverband Amaro Foro entstand das Comic-Projekt „Keine Zukunft ohne Erinnerung“. Das Ergebnis des Projektes, das Comic „The Night of the Violins“, erzählt die Geschichte eines Widerstandsaktes von drei Roma-Brüdern, die im Konzentrationslager AuschwitzBirkenau inhaftiert waren. Das Comic-Projekt wurde von der Jugendgruppe von Amaro Foro umgesetzt. Es verbindet historische Recherche, kollektive konzeptionelle Arbeit und Phantasie. Die ursprüngliche Idee entstand bei einem Besuch im KZ Ravensbrück im Jahr 2016, bei dem die Jugendlichen mit den kleinen Geschichten der Häftlinge in Berührung kamen, von denen viele wenig oder gar nicht bekannt sind. Sofort begann die Gruppe mit der Konzeption einer Geschichte, in der ein Akt der Würde und des Widerstands gezeigt werden sollte. Im Rahmen eines Comic-Workshops mit jungen Rom*nja aus verschiedenen europäischen Ländern auf der Jugendbegegnung „Herderlezi 2016“ von Amaro Foro wurde mit der Umsetzung begonnen. Die Zeichnungen des Comics wurden von Emanuel Barica angefertigt. Er ist bildender Künstler und seit 2014 bei Amaro Foro als Künstler und Multiplikator aktiv. Eine erste provisorische Version des Comics wurde auf einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg Stiftung und auf dem „Jugendforum denk! mal. 2017 – Darüber spricht man nicht?“ im Abgeordnetenhaus Berlin präsentiert. Ende 2017 stellte die Gruppe die Geschichte fertig und veröffentlichte den Comic. Im Mai 2018 wurde die gedruckte Ausgabe des Comics mit einer Lesung und einem Storytelling-Workshop im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung vorgestellt. Die Entwicklung des Comics wie auch der Druck wurden von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt.

Das Projekt zur „Dokumentation von antiziganistisch motivierten Vorfällen und Stärkung der Opfer von Diskriminierung“ von Amaro Foro Mit der strukturellen Diskriminierung von Rom*nja heutzutage beschäftigt sich das Projekt zur „Dokumentation von antiziganistisch motivierten Vorfällen und Stärkung der Opfer von Diskriminierung“ von Amaro Foro Wie der Titel des Projektes schon verrät, steht hier nicht die Bildungsarbeit oder die kreative Arbeit im Vordergrund. Vielmehr konzentriert sich das Projekt auf die Dokumentation antiziganistisch motivierter Vorfälle. Da es ein Projekt des Berliner Landesverbandes von Amaro Drom ist, widmet sich die Arbeit konkreten Diskriminierungsvorfällen aus Berlin.

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Seit 2014 setzt Amaro Foro das Projekt „Dokumentation von antiziganistisch motivierten Vorfällen und Stärkung der Opfer von Diskriminierung“ um, welches von der LADS – Landesstelle für Gleichbehandlung und gegen Diskriminierung gefördert wird. Das bundesweit einzigartige Projekt erstellt eine jährliche systematische Dokumentation von gemeldeten antiziganistisch motivierten und diskriminierenden Vorfällen. Die Meldungen werden acht verschiedenen Lebensbereichen wie etwa „Kontakt zu Leistungsbehörden“, „Zugang zu Bildung“ sowie „Alltag und öffentlicher Raum“ zugeordnet. Die Bandbreite reicht von strukturellen Diskriminierungen etwa im Sozialrecht über individuellen Rassismus sowohl von Repräsentant*innen des Staates als auch etwa von Vertreter*innen der Privatwirtschaft bis hin zu Übergriffen im öffentlichen Raum. 2016 wurden 146 Vorfälle direkt gemeldet, mit Abstand die meisten Vorfälle gab es in den Bereichen „Kontakt zu Leistungsbehörden“ und „Alltag und öffentlicher Raum“. Seit 2016 wird außerdem versucht, das Projekt gezielt in den Communities von Rom*nja aus den Westbalkanstaaten bekannt zu machen, um auch deren Diskriminierungserfahrungen abbilden zu können. Dabei werten wir bereits die Erklärung der Westbalkanstaaten zu „sicheren Herkunftsstaaten“ (in den Jahren 2014 und 2015) als strukturelle Diskriminierung, weil sie den massiven strukturellen Antiziganismus in den Herkunftsländern unsichtbar macht. Darüber hinaus hat diese Deklarierung zu einer verschärften Abschiebepraxis bei bereits hier lebenden Menschen geführt. Betroffen sind oft Kinder, die hier geboren sind und noch nie in ihrem angeblichen Herkunftsland waren. Sie sind im Gegensatz zu ihren Altersgenoss*innen mit deutscher Staatsbürgerschaft einer sehr unsicheren und prekären Situation ausgesetzt, die sich auf ihre Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe und ihre Chancen der individuellen Entwicklung massiv auswirkt. Auch darin erkennen wir im Ergebnis eine strukturelle Diskriminierung. Nicht zuletzt haben die Asylrechtsverschärfungen dazu geführt, dass Menschen aus sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“ über die gesamte Dauer des Asylverfahrens in der Erstaufnahmeeinrichtung bleiben, in denen ihr Zugang zu Rechtsschutz eingeschränkt ist und es statt des vollen Asylbewerberleistungssatzes lediglich Vollverpflegung plus Taschengeld gibt. Bereits diese gesetzliche Regelung stellt in der Praxis oft eine Segregation dar. Dieser Trend wird noch verschärft durch die Tendenz, langfristig separate Unterkünfte für Menschen aus angeblich „sicheren Herkunftsstaaten“ zu schaffen. Die zweite große Zielgruppe des Projekts sind EU-Bürger*innen, die als Arbeitsmigrant*innen nach Deutschland kommen und hier beispielsweise sozialrechtlichen Ausschlüssen unterliegen, einen erschwerten Zugang zu Leistun© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Amaro Drom, Amaro Foro

gen der Familienkasse und Schwierigkeiten bei der Aufnahme in deutsche Krankenkassen haben. Viele dieser Hürden sind sukzessive in den letzten Jahren aufgebaut worden, nachdem es in den Jahren 2012 und 2013 eine politische und mediale Debatte über angebliche „Armutseinwanderung“ gab, die stark von antiziganistischen Stereotypen geprägt war. Abgerundet wird das Projekt durch ein systematisches quantitatives und qualitatives Medienmonitoring. Ausgewertet werden Berichte in Berliner Zeitungen ebenso wie Äußerungen in sozialen Medien. Auffallend ist dabei die Tendenz, eine – tatsächliche oder unterstellte – Rom*nja-Zugehörigkeit immer dann zu erwähnen, wenn es um Themen wie Kriminalität oder Obdachlosigkeit geht. Durch die proaktive Pressearbeit und durch die öffentliche Präsentation des Monitorings versucht das Projekt, mit Medienvertreter*innen in Kontakt zu treten und einen Sensibilisierungsprozess anzustoßen. Außerdem bietet das Projekt Betroffenen Unterstützung bei einer Intervention gegen Diskriminierung an. Sie werden über ihre Möglichkeiten aufgeklärt und ggf. an andere Beratungsstellen oder Fachanwält*innen vermittelt. In diesem Rahmen wird Empowermentarbeit geleistet, indem Betroffene ermutigt werden, für ihre Rechte zu kämpfen, wenn sie es möchten. Sie lernen, Mechanismen der Ausgrenzung kritisch zu hinterfragen und nicht mehr als selbstverständlich anzusehen. Eine große Hürde stellt hier leider das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) dar, das beispielsweise kein Verbandsklagerecht enthält und in vielen Bereichen nicht anwendbar ist. Deswegen ist die politische Intervention eine weitere wichtige Aufgabe des Projekts: Gemeinsam mit Bündnispartner*innen werden in den verschiedenen Bereichen politische Forderungen entwickelt, um langfristig den Rechtsschutz gegen Diskriminierungen zu verbessern. Die Veröffentlichung der Auswertung in einer Pressekonferenz sowie die weitere Öffentlichkeitsarbeit tragen dazu bei, die Öffentlichkeit für die strukturellen und individuellen Benachteiligungsformen zu sensibilisieren und sowohl Behörden als auch zivilgesellschaftlichen Akteur*innen einen Überblick über Erscheinungsformen von Antiziganismus ebenso wie Möglichkeiten zu seiner Bekämpfung zu geben. Dadurch, dass antiziganistische Vorfälle und Benachteiligungen in ihrer ganzen Bandbreite sichtbar gemacht werden, ist es oft möglich, einen Reflexionsprozess beispielsweise bei Politiker*innen und Mitarbeiter*innen der Verwaltung (aber auch bei Lehrer*innen, Journalist*innen, Privatpersonen und anderen) anzustoßen. Dadurch, dass durch das Dokumentationsprojekt diese spezifische Zielgruppe angesprochen wird, stellt es eine wichtige Ergänzung zu der Arbeit der oben beschriebenen Projekte dar. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Fazit

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Empowerment und Rassismussensibilisierung bei Amaro Drom e. V.

In unserem Text haben wir aufgezeigt, dass Empowerment von jugendlichen Rom*nja und Sinti*zze ein wichtiger Beitrag zu rassismuskritischer Bildung ist. Vor allem die Projekte „Romane Krla“ und „Dikhen amen!“ schaffen den Raum, junge Erwachsene aus den Communities von Rom*nja und Sinti*zze in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken, ihnen Wissen über Rassismus und weitere Diskriminierungsformen zu vermitteln, sie mit anderen Rom*nja und Sinti*zze zu vernetzen und gegenseitige Stärkung zu ermöglichen. Dabei sollte vor allem die gegenseitige Vernetzung der Jugendlichen und der Austausch mit Rom*nja und Sinti*zze aus älteren Generationen nicht unterschätzt werden. Sie haben zur Folge, dass sich immer mehr junge Erwachsene miteinander verbinden und voneinander lernen. So können sie sich gegenseitig auch in schwierigen Situationen unterstützen und sich motivieren, im Leben nicht aufzugeben, auch wenn der Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze viele Hürden bereitstellt. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Empowermentarbeit bei Amaro Drom ist es, Wissen zu vermitteln, wie sich die jungen Erwachsenen vor diskriminierenden Handlungen schützen können und wie sie sich selbstbewusst für ihre politischen Belange einsetzen können. Dieses Vorhaben wird vor allem im Projekt „Dikhen amen!“ umgesetzt. Außerdem erachten wir das Freilegen von verschüttetem Wissen innerhalb und außerhalb der Communities von Rom*nja und Sinti*zze als wichtiges Element der rassismuskritischen Bildung. Hierfür ist die Sichtbarmachung der individuellen und kollektiven Erfahrungen von Rom*nja und Sinti*zze unabdingbar. Ein Beispiel hierfür ist die historische Bildungsarbeit, wie sie bei Amaro Drom umgesetzt wird. Vor allem im Projekt „Romane Krla“ lernen die teilnehmenden Jugendlichen die Geschichte(n) von Rom*nja und Sinti*zze besser kennen. Sie fokussieren hierbei vor allem auf Erinnerungskultur und Menschenrechte in Bezug auf die Verfolgung und Ermordung der Sinti*zze und Rom*nja durch die Nationalsozialist*innen und ihre Verbündeten. Das Wertschätzen von Diversität ist ein weiterer wichtiger Bestandteil der rassismuskritischen Bildung bei Amaro Drom. Dies bezieht sich sowohl auf jugendliche Rom*nja und Sinti*zze, als auch auf andere Jugendliche. Es gibt keine homogenen Communities. Rassismus und andere Diskriminierungsformen haben verschiedene Ausprägungen, je nach historischem und politischem Kontext. Außerdem sind die unterschiedlichen Diskriminierungsformen auf komplexe Art und Weise miteinander verschränkt. Rassismus ist kein isoliertes Phänomen.

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Amaro Drom, Amaro Foro

Auch andere gesellschaftliche Diskriminierungsverhältnisse ernst zu nehmen, ist uns daher ein wichtiges Anliegen. Genauso wichtig, wie es ist, innerhalb der Communities zu wirken, ist es, die Perspektiven von Rom*nja und Sinti*zze nach außen zu tragen und Menschen für den spezifischen Rassismus zu sensibilisieren. Hierfür bilden wir jugendliche Rom*nja und Sinti*zze zu Multiplikator*innen aus. Diese sind nach der Ausbildung in der Lage, vor allem Jugendlichen, die weder Rom*nja noch Sinti*zze sind, Themen aus den Communities näher zu bringen und den allgegenwärtigen Rassismus zu hinterfragen. Gerade in Zeiten, in denen rassistische, menschenverachtende und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland und Europa erstarken, ist es uns wichtig, dass wir uns für die Überwindung rassistischer Einstellungen, die Anerkennung von Diversität und gleiche Entfaltungsmöglichkeiten für alle Menschen einsetzen. Eine wichtige Ergänzung zur Sensibilisierung für den Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze leistet das Dokumentationsprojekt von Amaro Foro. Es sammelt antiziganistisch motivierte Diskriminierungen in Berlin systematisch, wertet diese aus und leitet politische Forderungen daraus ab. Mit seiner Arbeit erreicht das Dokumentationsprojekt auch politische Entscheidungsträger*innen, welche auf den strukturellen Rassismus einwirken können. Nicht nur deshalb verstehen wir diese Arbeit als einen weiteren wichtigen Beitrag zu rassismuskritischer Bildung. Wie in allen Initiativen und Organisationen, die sich der rassismuskritischen Bildung widmen, ist unsere Arbeit von hohem haupt- und ehrenamtlichem Engagement geprägt. Leider findet diese Arbeit immer wieder unter prekären Bedingungen statt. Dies liegt daran, dass sie an (oft knapp bemessene) Projektgelder gebunden ist, die nach ein paar Monaten oder Jahren wieder auslaufen. Eine große Entlastung für unsere rassismuskritische Arbeit wäre daher die Verstetigung der finanziellen Förderungen zum Thema. Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze ist ein sehr verbreitetes, aber immer noch wenig beachtetes Phänomen. Durch unsere praktische Arbeit bei Amaro Drom und seinen Untergliederungen bemerken wir aber, dass erste Erfolge der Sensibilisierungsarbeit zum Thema zu verzeichnen sind. Die Nachfrage für unsere Arbeit und die ähnlicher Initiativen steigt. Wir freuen uns, wenn dieser Text Anregungen zur rassismuskritischen Bildungsarbeit rund um Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze bietet und sind gern bereit zu gegenseitigem Austausch.

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Kontakt: [email protected] www.amarodrom.de

Literatur Awosusi, Anita (2016): Vater unser: Eine Sintifamilie erzählt. Verlag regionalkultur. Balog, Violeta (2017): während des Workshops „Unter Generalverdacht“ – Lebensrealitäten von Rom*nja in Berlin. Der Workshop fand am 4.12.2017 in Berlin auf der Fachtagung „Wie sicher ist der Westbalkan?“ statt, welche von Amaro Foro e. V. organisiert wurde. Das Zitat beruht auf einer unveröffentlichten Audioaufnahme des Workshops. Hall, Stuart (1989): Rassismus als ideologischer Diskurs. In: Das Argument, Nr. 178. Hartmann, Fatima (2016): Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Kurzfilm Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Empowerment und Rassismussensibilisierung bei Amaro Drom e. V.

„Demokratie leben!  – Amaro Drom e. V. Online abrufbar unter: https://www.youtube.com/ watch?v=aCMlDn4raKo&t=7s, Minute 1:59 (letzter Zugriff 19.4.2018)

Kropf, Silas (2017): Wir müssen gemeinsam unsere Stimme erheben. In: Hanauer Anzeiger vom 18.02.2017, http://www.hanauer.de/ha_2053_111273628-29-_Gastbeitrag-Wir-muumlssen -gemeinsam-unsere-Stimme-erheben.html (letzter Zugriff: 06.03.2018). Novaković, Nino (2017): Die NS-Zeit zu verharmlosen, ist ein Verbrechen. In: Neues Deutschland vom 30.09.17, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1065412.die-ns-zeit-zu-verharmlo sen-ist-ein-verbrechen.html (letzter Zugriff: 06.03.2018). Randjelović, Isidora (2015): „Das Homogene sind die Leute, die über Rom_nja reden“. Zülfukar Çetin im Gespräch mit Isidora Randjelović. In: Çetin, Zülfukar/Taş, Savaş (Hg.): Gespräche über Rassismus. Perspektiven & Widerstände. Yilmaz-Günay, S. 31 – 44.

Randjelović, Isidora (2014): Ein Blick über die Ränder der Begriffsverhandlungen um „Antiziganismus“. In: Heinrich-Böll-Stiftung/Randjelović, Idisora/Schuch, Jane (Hg.): Perspektiven und Analysen von Sinti und Roma in Deutschland, S. 19 – 38. Abrufbar unter: http://heimatkunde. boell.de/dossier-sinti-und-roma (letzter Zugriff: 06.03.2018). Stojković, Ismeta (2016): Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Kurzfilm „Demokratie leben! – Amaro Drom e. V. Abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v= aCMlDn4raKo, Minute 4:35 – 4:56, (letzter Zugriff: 14.5.2018). Weiß, Melanie Joschla (2017a): „Dikh angle – Nach vorne schauen“. In: Berliner Bildungszeitschrift bbz der GEW, Oktober 2017, S. 33. Weiß, Melanie Joschla (2017b) im Gespräch über die Methode „Superheroes aus der Vergangenheit“ während eines Arbeitstreffen zur Entwicklung von Sensibilisierungsmethoden für das Projekt „Dikhen amen!“ am 30.10.2017. Das Zitat ist aus dem unveröffentlichten Protokoll des Arbeitstreffens entnommen. Yosso, Tara J. (2005): Whose culture has capital? A critical race theory discussion of community cultural wealth. In: Race Ethnicity and Education, Volume 8, Issue 1, S. 69 – 91.

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Riem Spielhaus

Antimuslimischer Rassismus RIEM SPIELHAUS

Antimuslimischer Rassismus

Einführung

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In den 1990ern thematisierten Forschende und Aktivist*innen eine Reihe von Formen von Feindseligkeiten gegen Islam und Muslim*innen, darunter stereotype Darstellungen, abwertende Bilder aber auch Gewalttaten und offene Diskriminierung aufgrund der Religionszugehörigkeit unter dem Begriff Islamophobie. Allerdings wurde der Begriff sehr schnell kritisch reflektiert (vgl. Shooman/Spielhaus 2010). Maussen (2006) benannte als ein wesentliches Defizit des Begriffs, dass er sehr unterschiedliche Formen des Diskurses und Gewalttaten zusammenfasste und damit unterstellte, dass sie alle einem gemeinsamen ideologischen Kern entsprängen, der auf Angst oder Phobie vor dem Islam zurückzuführen sei. Die damit einhergehende pathologisierende Sichtweise wurde ebenso beanstandet wie die Bühl (2010, 287 – 295) zufolge unbeabsichtigte Verkehrung der Perspektive, die dem Fokus des Islamophobiebegriffs zugrunde liege. Hier stehe nicht das Opfer ausgrenzender Handlungen als bedroht im Blickpunkt, sondern der als therapiebedürftig eingestufte Täter mit seinen Ängsten. Die Bandbreite der unter Islamophobie gefassten Einstellungen und Handlungsweisen und die Konnotation als Angst wurde seitdem immer wieder als problematisch charakterisiert (vgl. Kahlweiß/Salzborn 2013). Ein weiteres Argument gegen den Begriff ist, Islamophobie stigmatisiere Religionskritik am Islam (vgl. Decker/Brähler 2018, 67). Andere Begriffe wie antimuslimischer Rassismus, Islamfeindlichkeit (vgl. Schneiders 2009), antiislamischer Ethnizismus (vgl. Çakir2014), Muslimfeindlichkeit (Spielhaus 2018; Decker/Brähler 2018, 67; Zick u. a. 2018), Generalverdacht, Moral Panic oder gestresste Gesellschaft (vgl. Schiffauer u. a. 2015) versuchen die vielfältigen Ausdrucksformen islambezogener Ressentiments von strukturellen oder staatlichen Maßnahmen wie der Rasterfahndung, über keineswegs böswillig intendierte Zuschreibungen muslimischer Identität aufgrund © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Antimuslimischer Rassismus

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von Namen, Aussehen oder Akzent, bis hin zu Straftaten wie Moscheeanschlägen, verbalen Beleidigungen, Körperverletzungen oder Morden sprachlich zu fassen und deren jeweilige Muster, Strukturen, Ursachen, Akteur*innen und Effekte konkreter zu adressieren. Auch wenn diese Begriffe mithin synonym verwendet werden und miteinander in Beziehung stehende Phänomene beschreiben, „stehen sie jedoch auch für unterschiedliche theoretische und methodische Zugänge, Analyseschwerpunkte und Umgangsweisen mit dem Phänomen und seinen unterschiedlichen Ausprägungen“ (Schönfeld 2018, 5), wie einige Forschende zu dem Themenfeld betonen (vgl. auch Karakaşogˇlu/Wojciechowicz 2017). Schönfeld sieht Unterschiede vor allem im Hinblick darauf, in welcher Art und Weise sich die Begrifflichkeiten auf die Aspekte Religion, zugeschriebene oder beanspruchte ethnische Zugehörigkeit und Migration beziehen und welche Bedeutung sie diesen einzelnen Aspekten bei der Definition und Erfassung des Phänomens jeweils geben (vgl. Schönfeld 2018, 18). In der Begriffswahl drücke sich bereits eine Einordnung des zu beschreibenden Phänomens aus: Handelt es sich um eine religionsbezogene oder rassistische Einstellung bzw. Diskriminierung? Islamfeindlichkeit – genauso wie andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – stellt nicht nur die Lebensweise oder gar Existenz der angegriffenen Personen oder Religionsgemeinschaften in Frage, sie wendet sich gegen die grundlegenden Prinzipien der demokratischen Gesellschaft, gegen Religionsfreiheit und in ihren extremsten Formen gegen die körperliche Unversehrtheit von Menschen. Europaweit gewinnt ein Populismus Zulauf, der neben Elitekritik gerade explizite, ideologisch untermauerte Islamfeindlichkeit beinhaltet. Den in den vergangenen Jahrzehnten vielerorts erfolgreich tabuisierten biologistischen Rassismus, der sich in „Ausländer raus“-Parolen niederschlug, löste eine Modernisierungsstrategie ab, die Religionszugehörigkeit in den Mittelpunkt stereotypisierender, abwertender und ausgrenzender Narrative stellt. Die Strategie scheint aktuell nahezu europaweit und darüber hinaus aufzugehen. Vielerorts in Europa, in Australien, in Indien und nicht zuletzt den USA setzt die politische Rechte auf die Anschlussfähigkeit des Feindbilds Islam in der breiten Bevölkerung. Der – nicht nur im rechtspopulistischen und rechtsextremen Spektrum festzustellende – (neue) Fokus auf Religionszugehörigkeit in Diskussionen um Islam, Integration und Zugehörigkeit wird in der Forschungsliteratur als Resultat einer Wahrnehmungsverschiebung im Kontext der Debatten um Migration, Integration, Islam und Muslim*innen beschrieben. Bevölkerungsgruppen, die vormals © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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als Gastarbeiter*innen, Flüchtlinge oder Ausländer*innen wahrgenommen wurden, geraten so vornehmlich als Muslim*innen in den Blick (vgl. Shooman 2015; Spielhaus 2011, 2018). Im akademischen Kontext wird die diskursive Formation seit über einem Jahrzehnt als „Muslimisierung“ von Migrant*innen (vgl. Karakaşoğlu 2009, 186; Yurdakul 2009; Eickhof 2010), als „Islamisierung von Debatten und Gesellschaftsmitgliedern muslimischen Hintergrunds“ (Tiesler 2007, 27; vgl. auch Ramm 2010) und damit als Reaktion auf die Bewusstwerdung der Permanenz islamischen Lebens in Europa (vgl. Spielhaus 2011; siehe auch Tezcan 2011; 2012 beschrieben. Mit dieser Wahrnehmungsverschiebung weitete sich der Fokus auf eine bestimmte, im Hinblick auf die Religion (und nicht mehr den aufenthaltsrechtlichen Status) charakterisierte Teilgruppe ehemaliger Ausländer*innen, die auch nun Konvertierte beinhaltet und damit – womöglich unbemerkt – Muslim*innen ohne ebenso wie mit Migrationshintergrund. Ähnliches ließ sich in den vergangenen zwei Dekaden in der akademischen Wissensproduktion, in politischen Debatten und im Bildungskontext beobachten: Muslim*innen wurden zu den Migrant*innen, über die am meisten geredet, geschrieben und geforscht wird – häufig mit Bezug zum Thema ‚Integration‘1. Dabei dominiert ein Fokus auf den Islam als die Religion der Zugewanderten, auch wenn Muslim*innen ohne Migrationshintergrund diese Denkfigur irritieren (vgl. Spielhaus 2018). Eine Reihe von Autor*innen benennt die hier beschriebenen, in der Konsequenz nicht selten ausgrenzenden Diskursfiguren als antimuslimischen Rassismus (vgl. Attia u. a. 2014; Müller-Uri 2014; Attia/Keskinkılıç 2016; Attia/Popal 2018; Uçar/Kassis 2019), der die Religionszugehörigkeit Zugewanderter und deren Nachfahren nicht nur ethnisiert (vgl. Roy 2004, 124), sondern zudem auf der Vorstellung von Muslim*innen als homogene Gruppe mit bestimmten (vorwiegend negativen) Kollektiveigenschaften basiert (vgl. Shooman 2015). Allein die bloße physische Anwesenheit von muslimisch markierten Migrant*innen sowie Konvertit*innen und ihren Nachkommen wird als drohende Islamisierung skandalisiert. Von der Ausgrenzung betroffen sind daher nicht nur praktizierende Muslim*innen, sondern auch Menschen, die aufgrund ihres Aussehens, ihrer 1

Ausführlich problematisierte Tezcan (2011, 2012) diese Diskursformation im politischen Kontext. Eine Reihe von Autor*innen widmete sich den Effekten dieser Diskursmuster auf die akademische Wissensproduktion, bspw. in der Zusammenschau quantitativer Erhebungen unter Muslim*innen in Westeuropa (vgl. Amir-Moazami 2018; Johansen/Spielhaus 2018).

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Herkunft oder ihres Namens als Muslim*innen wahrgenommen werden, unabhängig davon, ob sie sich selbst so definieren (vgl. ebd.). Çetin und Attia beschreiben die Konstruktion des Anderen auch im antimuslimischen Rassismus als im Mittelpunkt stehend. Sie forme in Machtverhältnissen die Beziehung zwischen Menschen entlang der Trennlinie religiöser Markierung. Es geht um ein Phänomen, „das zwar auf der einen Seite Bezüge zu historischen Formen wie Orientalismus, auch Exotismus, aufweist, sich aber gleichzeitig auch auf andere Formen von Konstruktionen und Hierarchisierung im Zusammenhang mit Antisemitismus und Kolonialismus bezieht“ (Çetin und Attia 2015, 19). (Vermeintliche) Religionszugehörigkeit werde dabei als Begründung für unterschiedliche gesellschaftliche Phänomene und Entwicklungen herangezogen und grundiere eine Unterscheidung zwischen „denen“ und „uns“, wobei die (vermeintliche) Religion der Anderen zentral für Narrative der Abgrenzung wurde (vgl. ebd., 19 f.). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Antimuslimischer Rassismus

‚Rassismus ohne Rasse‘ Der begrifflichen Erfassung islamfeindlicher Einstellungen und Narrative als antimuslimischer Rassismus wird mithin mit dem Einwand widersprochen, Religion sei schließlich keine ‚Rasse‘, sondern eine kulturprägende Religion. Zum einen verweist dieser Einwand auf ein Verständnis von biologistischem Rassismus als basierend auf der Faktizität nachweisbarer ‚Rassen‘ und verortet sich damit in rassistischem Denken, während das Konstrukt ‚Rasse‘ längst als sozial konstruiertes Konzept offengelegt wurde. Zum anderen zeigte die Rassismusforschung auf, dass Rassismus sich nicht mehr nur auf biologische Unterschiede oder genetische Merkmale beruft, sondern kulturelle bzw. religiöse Prägung als Quasirasse verstanden wird, die nicht abgelegt werden könne. Muslim*innen und andere als solche Markierte seien also durch ihre Religion oder den „islamischen Kulturkreis“ geprägt und in dieser Prägung gefangen. Derartige Narrative beruhen häufig auf der Annahme, die Abstammung aus einer muslimischen Familie oder einer mehrheitlich muslimischen Region bestimme über religiöse Zugehörigkeit oder führe zumindest zu einer religiösen Prägung, aus der sich Menschen muslimischen Hintergrunds gar nicht oder wenn doch nur beschwerlich lösen könnten. Ähnlich wie beim biologistischen Rassismus werden aus der angenommenen Prägung verschiedene Eigenschaften und Prädispositionen abgeleitet. In Narrativen des Islamkontexts figurieren hier immer wieder dann als von der Mehrheit der Bevölkerung Deutschland abweichend deklarierte Wertvorstellungen wie Antisemitismus, Homophobie, Misogynie oder Demokratiefeindlichkeit (vgl. Eickhof 2010; Müller-Uri 2014). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Der antimuslimische Rassismus kommt – wie andere aktuelle Formen des Rassismus  – ohne die Vorstellung oder das Narrativ der Rasse aus. Shooman (2014, 40 f.) zeigte auf empirischer Basis anhand einer Analyse von Leser*innenbriefen und anderen Quellen allerdings auf, dass islamfeindliche Narrative immer wieder in koloniale Legitimationspraktiken eingebundene Rassismusdiskurse aufscheinen lassen und durch einen Rückgriff auf historische Topoi gekennzeichnet sind. In ihrer Analyse von Islamfeindlichkeit im wiedervereinigten Deutschland hebt Lewicki (2018) mit Bezug auf Sayyid (2010) sowie Demirović und Bojadžijev (2002) die adaptive Eigenschaft von Rassismus hervor, die ermöglichte, dass in dessen Geschichte sehr unterschiedliche Kategorisierungen zur Markierung dadurch veranderter Menschen herangezogen wurden. Die Grundlage für Rassifizierung waren nie ausschließlich visuelle Marker und gerade religiöse und territoriale Bezüge wurden immer wieder genutzt um die (nicht-)Zugehörigkeit zu Europa oder nationalen Entitäten sozial zu konstruieren (vgl. Lewicki 2018, 499). Der Begriff ‚antimuslimischer Rassismus‘ kann Çetin und Attia (2015, 20) zufolge Erfahrungsebene und Konstruktionscharakter des Phänomens zum Ausdruck bringen: In antimuslimischen Narrativen geht es nicht in erster Linie um Religion und theologische Fragen, sondern darum, Menschen, die als Muslim*innen gesehen werden, kulturell, sozial, gesellschaftlich und psychisch zu Anderen zu erklären. Die Zuschreibungen in Bezug auf Bildung, Kriminalität, Integration, Geschlechterverhältnisse, Sexualität usw. gehen weit über Religionszugehörigkeit, Religionspraxis oder Gläubigkeit hinaus, werden aber von diesen abgeleitet. So schlussfolgern die beiden: „[Der Verweis auf ] Religion ist also ein Platzhalter, um Dinge sagen zu können, die sonst als reaktionär eingeordnet worden wären oder sich zumindest den Vorwurf hätten gefallen lassen müssen“ (ebd., 21). Diese Diskurspraxis als Rassismus zu bezeichnen, verweist demnach auf die historische Dimension aktueller Diskurse, er bringt aber auch Probleme mit sich, denn er ist schwergewichtig, moralisch bewertend und läuft Gefahr, die Engführungen, die im Hinblick auf Rassismus immer wieder gemacht werden, zu wiederholen. Denn der Rassismusbegriff bringt immer das Paradox mit sich, auf eine vermeintliche Rasse zu fokussieren und gleichzeitig zu behaupten, diese gäbe es gar nicht. Dennoch könne man, so argumentieren Attia und Çetin (2015, 21), auf den Rassismusbegriff nicht verzichten. So könne dieser die historische Einbettung islamfeindlicher Argumentationen aufzeigen, die andere Begrifflichkeiten außer Acht ließen. Sie sprechen aber noch ein größeres Problem im Umgang © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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mit Ausgrenzungsphänomenen an: Mit der Benennung von antimuslimischem Rassismus mit dem Ziel zu analysieren, zu skandalisieren und Handlungsmöglichkeiten dagegen zu entwickeln, gehe das Risiko einher, dass dies als Bestätigung der Thematisierung der (vermeintlichen) Religionszugehörigkeit von als Muslim*innen Veranderten gewertet werde (vgl. ebd.). Schließlich bleibt anzumerken, dass antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit bisher vorwiegend in ihren Auswirkungen auf muslimische Bevölkerungsgruppen untersucht wurden. Allerdings gibt es starke Anzeichen dafür, dass auch Angehörige anderer Religionsgemeinschaften – z. B. Sikhs – und Migrantisierte sowie nichtmuslimische Ausländer*innen aus mehrheitlich muslimischen Ländern und anderswo, ebenfalls von islamfeindlichen Diskursen und Praktiken wie der Verschärfung von Zuwanderungsgesetzen und der Versicherheitlichung von Migrationsdebatten betroffen sein können (vgl. Nijhawan 2006). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Antimuslimischer Rassismus

Quantifizierung islamfeindlicher Einstellungen In der letzten Dekade untersuchten zahlreiche Erhebungen Einstellungen der Bevölkerung zu Islam und Muslim*innen. Auch einzelne Versuche, Diskriminierungserfahrungen von als muslimisch wahrgenommenen Personen zu erfassen, wurden unternommen. Dass Islamstereotype kein Randthema sind, haben in den vergangenen Jahren eine Reihe von Umfragen gezeigt: rund 60 % der Deutschen stimmen beispielsweise der Äußerung zu, der Islam passe nicht in die westliche Welt (vgl. Hafez/Schmidt 2015) und 38 % finden, wer ein Kopftuch trägt, könne nicht deutsch sein (vgl. Foroutan u. a. 2014, 26.). In verschiedenen Umfragen gaben zwischen 30 und 55 % der Befragten in Deutschland an, sich aufgrund von Muslim*innen fremd „im eigenen Land“ (vgl. Zick 2018, 67, 70 – 72, 83; Decker/Brähler 2018, 102, 112) zu fühlen. Einer Studie von 2019 zufolge geben 52 % der Befragten an, den Islam als bedrohlich zu empfinden (vgl. Pickel 2019, 13). Erhebungen zu Ressentiments und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit machen zudem deutlich, dass negative Einstellungen wie Antisemitismus, Antiziganismus und Muslimfeindlichkeit häufig gemeinsam auftreten, dass also Menschen Ressentiments gegenüber mehreren dieser Gruppen pflegen (vgl. Zick u. a. 2018; Decker/Brähler 2018). Die hier referierten Ressentiments belegen nicht nur den signifikanten Anteil negativer Einstellungen zu Islam und Muslim*innen in der deutschen Gesellschaft, sie stellen darüber hinaus die mögliche Zugehörigkeit von Angehörigen des Islams zu derselben in Frage.

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Erfassung islamfeindlicher Straftaten

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Bis Ende 2016 wurden gegen Muslim*innen oder islamische Einrichtungen gerichtete Straftaten wie Anschläge auf Moscheen statistisch unter der Kategorie „Hasskriminalität“ subsumiert. Auf Vorschlag der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Kriminalpolizeilicher Meldedienst politisch motivierte Kriminalität“ (BLAG KPMD-PMK) erweiterte die Innenministerkonferenz im Juni 2016 die Kategorie „Hasskriminalität“ um die drei Unterthemen „islamfeindlich“, „christenfeindlich“ und „antiziganistisch“. Seitdem können als „islamfeindlich“ zu erkennende Straftaten als solche separat erfasst werden. Lange Zeit lagen deshalb keine gesicherten Erkenntnisse über die genaue Anzahl von Angriffen auf Moscheen vor. Aus den Angaben der Bundesregierung in Antworten auf mehrere parlamentarische Anfragen zu als Moscheeangriffen registrierten Straftaten lässt sich ein starker Anstieg der Zahl der Anschläge seit 2001 erkennen2. Zwischen 2001 und 2011 wurden bundesweit etwa 22 Übergriffe im Jahr gezählt, 2012 bereits 35 und 2013 36. Etwa doppelt so hoch war die Zahl der gemeldeten Angriffe 2015 mit 75 registrierten Straftaten, die in zwei Dritteln der Fälle von den Behörden als politisch motivierte Kriminalität (PMK) im „Phänomenbereich rechts“ eingestuft wurden (vgl. Mediendienst Integration 2019). In 16 der 75 Fälle konnten Verdächtige ermittelt werden, die große Mehrzahl der Fälle blieb allerdings ungeahndet. Eine Befragung der Vertreter*innen islamischer Gemeinden in Berlin lässt auf eine geringe Meldebereitschaft schließen, da sie davon ausgehen, dass es zu keiner Aufklärung der Straftaten kommen wird oder weil sie den Täter*innen keine weitere Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen wollen (vgl. Mühe 2018).

Effekte des antimuslimischen Rassismus Die Effekte des zunehmend polarisierten Diskurses auf die Entwicklungen islamischer Gemeinschaften und auf die Beteiligung (vermeintlicher) Muslim*innen am gesellschaftlichen Leben sind bisher für verschiedene Gesellschaftsbereiche sehr unterschiedlich erforscht und bilden insgesamt eher ein Desiderat. Thema2

Siehe bspw.: Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland (30.5.2017): Islamfeindlichkeit und antimuslimische Straftaten im ersten Quartal 2017. Dies. 18/12535 (16.8.2017); Islamfeindlichkeit und antimuslimische Straftaten im zweiten Quartal 2017. Dies. 18/13330; Islamfeindlichkeit und antimuslimische Straftaten im vierten Quartal 2017. Dies. 19/987 (28.2.2018). Islamfeindlichkeit und antimuslimische Straftaten im Jahr 2017. Dies. 19/1421.

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Antimuslimischer Rassismus

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tisiert werden Auswirkungen von Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen allerdings immer wieder im Kontext von Radikalisierungsprozessen. Dabei ergibt sich mittlerweile in der Tat eine schwierige Gemengelage aus der Gleichzeitigkeit von antidemokratischen Auslegungen des Islams und antidemokratischen Formen des Sprechens über den Islam, die Biskamp in seiner Dissertationsschrift aufgreift. So sei kaum zu unterscheiden, wo die Grenze zwischen einer aus demokratischer Perspektive legitimen oder gar notwendigen Kritik bestimmter Auslegungen des Islams und einer ressentimentgeladenen Marginalisierung von Islam und Muslim*innen verläuft (vgl. Biskamp 2016, 20). Insbesondere aber nicht nur durch ihr Kopftuch als Musliminnen erkennbare Frauen berichten, immer wieder – und nach Terroranschlägen oder besonders islamkritischen Fernsehdebatten akut zunehmend –, Angriffen, Beleidigungen und Befragungen auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in der Schule oder am Arbeitsplatz ausgesetzt zu sein. Derartige Angriffe haben Auswirkungen auf das Leben muslimischer Personen als auch auf solche, die für Muslim*innen gehalten werden, ohne dies zu sein (vgl. Nijhawan 2006). Einzelne Analysen geben Anzeichen dafür, dass islamfeindliche Ressentiments und Narrative eine Benachteiligung von Muslim*innen und solchen, die dafür gehalten werden, auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt nach sich ziehen können (vgl. Frings 2010; Peucker 2010). So untersuchte eine TestingStudie, ob gleichlautende Bewerbungen von Frauen mit türkischem Namen (‚Meryem Öztürk‘) mit und ohne Kopftuch ähnlich erfolgreich sind wie jene von gleich qualifizierten Bewerberinnen ohne Kopftuch und mit dem Namen ‚Sandra Bauer‘. Den Ergebnissen zufolge müssten sich Kopftuch tragende Musliminnen viermal so oft bewerben wie eine ‚Sandra Bauer‘ ohne Kopftuch, um für ein Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden, bei höher qualifizierten Ausschreibungen noch häufiger (vgl. Weichselbaumer 2016, 17). Eine sehr viel komplexere Studie des Wissenschaftszentrums Berlin kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass muslimische Bewerber*innen weit weniger positive Rückmeldungen auf ihre Bewerbungen um einen Arbeitsplatz als Bewerber*innen mit einem Migrationshintergrund in West- und Südeuropa oder Ostasien und Bewerber*innen ohne Migrationshintergrund erhielten (vgl. Koopmans u. a. 2018, 23). Der zweiten Erhebung der Europäischen Union zu Minderheiten und Diskriminierung zufolge gaben 2017 vier von zehn muslimischen Befragte (39 %) aus insgesamt 15 Mitgliedsländern an, sich aufgrund ihrer faktischen oder zugeschriebenen Herkunft bzw. ihres Migrationshintergrunds in einem oder mehreren Bereichen ihres täglichen Lebens diskriminiert zu fühlen. Jede*r Vierte (25 %) der insgesamt 10.527 muslimischen Befragten hat diese Erfahrung in den © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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zwölf Monaten vor der Erhebung gemacht (vgl. European Union Fundamental Rights Agency, FRA, 27). Fast jede*r dritte muslimische Befragte gab an, bei der Suche nach einem Arbeitsplatz diskriminiert worden zu sein und mehr als ein Viertel (27 %) wurde in den zwölf Monaten vor der Erhebung belästigt. Weitere 2 % waren im gleichen Zeitraum körperlichen Übergriffen ausgesetzt. Jede*r zehnte muslimische Befragte zeigte den jüngsten Vorfall einer hassmotivierten Belästigung entweder bei der Polizei oder einer anderen Organisation bzw. Stelle an. Nur vier von 100 muslimischen Befragten, die angaben, diskriminiert worden zu sein, meldeten dies einer Gleichbehandlungsstelle, einer Menschenrechtsinstitution oder einer Ombudseinrichtung (vgl. ebd., 11). Im Durchschnitt weiß jede*r dritte muslimische Befragte nicht über das einklagbare gesetzliche Recht auf Nichtdiskriminierung Bescheid. Darüber hinaus ist den meisten Befragten (72 %) nicht bekannt, dass es Organisationen gibt, die Unterstützung oder Beratung für Opfer von Diskriminierung anbieten. Die meisten Befragten (65 %) kannten keine der Gleichbehandlungsstellen in ihrem Land (vgl. ebd., 27). Mit Ausnahme von Viktimisierungsnarrativen und extremistischer Mobilisierung mit Verweis auf islamfeindliche Tendenzen und Ereignisse (vgl. Fielitz u. a. 2018, Günther u. a. 2017), wurden die Strategien, die Muslim*innen anwenden, um Ungleichbehandlungen und Anfeindungen auszuweichen oder zu begegnen, bisher kaum untersucht. Allerdings weisen qualitative Befragungen und Beobachtungen darauf hin, dass manch eine Kopftuch tragende muslimische Frau es vermeidet, allein aus dem Haus zu gehen oder sich bei Arbeitgeber*innen zu bewerben, die keine explizite Offenheit für sichtbare religiöse Diversität signalisieren und einige Vorstände von Moscheegemeinden diskutieren, ob sie auf ein Schild über dem Eingang verzichten sollen, um sich nicht zum Anschlagsziel zu machen (vgl. Ast/Spielhaus 2012, Spielhaus/Mühe 2018). Islamfeindliche Polarisierungen können aber auch dazu führen, dass für religiöse Pluralität einstehende Menschen und Gemeinden zusammenrücken (vgl. Keskinkılıç/ Langer 2018).

Antimuslimischer Rassismus im Kontext von Bildungsarbeit Islambezogene Stereotype, die Ethnisierung von Menschen mit einem Hintergrund in mehrheitlich muslimischen Ländern und Muslim*innen abwertende und ausgrenzende Narrative und Praktiken sind nicht nur im rechten politischen Spektrum zu finden, sondern in vielen Gesellschaftsbereichen wirksam. Davon ist auch der Bildungsbereich nicht ausgenommen, wie empirische Arbeiten der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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vergangenen Jahre zeigten. In Form von ethnisierenden Anrufungen als Religionsandere und Abwertungen wirkt der dominante Islamdiskurs auch im Alltagshandeln in Klassen- und Lehrerzimmern (vgl. Spielhaus 2014; Fereidooni 2016) oder in der Ausbildung von Lehrkräften (vgl. Karakaşogˇlu/Wojciechowicz 2017) und ist in Lehrpläne und Schulbücher eingeschrieben (vgl. Kröhnert-Othmann u. a. 2011). In ihrer Reflexion zu einem ethnologischen Aktionsforschungsprojekt im schulischen Kontext beschreiben Schiffauer u. a. (2015, 15 – 24) einen allgemeinen „Misstrauensdiskurs, der den Umgang mit den muslimischen Einwanderer*innen belastet und anstrengend macht. Er ist kostspielig. Er verhindert Kooperationen. Er fordert eine Politik der Wachsamkeit – und damit der Grenzziehung, der Abgrenzung, der Kontrolle der Grenzen. Er produziert ein Klima der Vorsicht, der Abwehr, der Skepsis und beim Gegenüber genau das, wovor er warnt – Distanz zur Gesellschaft und eine Tendenz zum Rückzug“. Der in der Auseinandersetzung mit muslimischen Akteur*innen herrschende Misstrauensdiskurs bringe eine „gestresste Gesellschaft“ hervor. Schiffauers Analysen gehen der Funktionsweise und nicht den Strukturen und historischen Ursprüngen aktueller Muster der Islamdebatten nach. Indem er nachvollzieht, wie es dazu kommt, dass Lehrpersonal und Schulleitung die Zusammenarbeit mit Moscheegemeinden und in ihnen engagierten muslimischen Eltern als besonders schwierig und riskant empfinden, legt er die Grundlagen für eine Reflexion über Handlungs- und Sprechweisen gegenüber muslimischen Schüler*innen und ihren Eltern.

Fazit Wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen, besteht unter Wissenschaftler*innen keineswegs einmütige Übereinstimmung darüber, wie islamfeindliche Einstellungen und Strukturen bezeichnet werden sollten. Die unterschiedlichen Begriffspraktiken spiegeln verschiedene Erklärungsmuster und ordnen die nicht einheitlich weit gefassten Phänomene unterschiedlich ein. Islamfeindlichkeit und Islamophobie heben auf die Bedeutung des Islam ab, während antimuslimischer Rassismus und Muslimfeindlichkeit Zuschreibungsprozesse und Ethnisierung von Menschen mit Migrationshintergrund in mehrheitlich muslimischen Ländern und Regionen unabhängig von deren Glauben oder Religionszugehörigkeit und -praxis in den Fokus rücken. Unabhängig von der Begriffswahl bezieht sich die Forschung hierbei auf jene Stränge der Islamdebatten, die eine Kategorisierung von Muslim*innen als homogene mit negativen Stereotypen assoziierte Gruppe © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Riem Spielhaus

vornehmen. Mit der Einordnung dieser Debatten und daraus abgeleiteter ausgrenzender Praktiken als Rassismus werden aktuelle Formen der Diskriminierung gegenüber als muslimisch Markierter (und so Veranderten) in der Tradition kolonialer Legitimationsmuster gedeutet. Islam- oder muslimfeindliche Narrative folgen rassistischen Mustern, mit denen die Eroberung und Ausbeutung von Kolonien sowie die Herabsetzung deren Bevölkerung legitimiert wurden, wenn sie Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern vorwiegend und unabänderlich durch den Islam geprägt und Muslim*innen im Hinblick auf ihre Wertvorstellungen und Lebenspraxis als rückständig und unveränderlich bewerten. Als für rassistische Narrative charakteristisch wird in der Forschungsliteratur zudem beschrieben, wenn mit Hilfe eines als rückständigen, archaischen, gewaltvollen, frauenfeindlich portraitierten Islams und der (vermeintlich) durch diesen geprägten Menschen ein positives Gegenbild des (immer schon) fortschrittlichen, freiheitlichen, von der Gleichberechtigung der Geschlechter und sexuellen Lebensformen geprägten Selbst konstruiert wird und diese Gegensätzlichkeit zur Begründung von Ungleichbehandlung herangezogen wird. Kritik an sich auf den Islam berufenden Organisationen, Bewegungen und Denkrichtungen ist von antimuslimischem Rassismus und Islamfeindlichkeit grundsätzlich zu unterscheiden, ist legitim und dies muss auch so bleiben. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass berechtigte Kritik in rassistischen Logiken folgende antimuslimische Narrative eingebunden sein oder für diese genutzt werden kann (vgl. Chbib 2010; Schneiders 2012). Das macht Debatten über Islam und Muslim*innen gegenwärtig so brisant wie schwierig und fordert Akteur*innen in diesem Feld zu klarer Positionierung und zur Reflektion eigener Handlungs- und Sprechweisen heraus. Insbesondere im Kontext der Jugendarbeit werden Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus häufig im Zusammenhang mit Radikalisierung muslimischer Jugendlicher thematisiert. Die Radikalisierung als mögliche Reaktion auf Diskriminierung und Ausgrenzung ist einerseits die ausschlaggebende Motivation für Politik und Behörden, sich mit dem Phänomen auseinanderzusetzen. Andererseits scheinen Diskriminierung und Ausgrenzung oftmals allein zu wenig relevant dafür zu sein, sie ohne die Rahmung im Hinblick auf mögliche radikalisierende Effekte zu bearbeiten. Der Bildungsbereich ist in besonderer Weise herausgefordert, da aufgrund (vermeintlicher) Zugehörigkeit zum Islam oder dem ‚islamischen Kulturkreis‘ ausgrenzende Narrative und Praktiken den Rekrutierungsraum für religiös begründeten Extremismus erweitern können und der Verweis auf diese eine wirksame Legitimationsstrategie in Radikalisierungsprozessen zu sein scheint. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Gleichzeitig gehört die Anerkennung religiöser und kultureller Herkunft und Zugehörigkeit zur Bildungsarbeit. Lehrkräfte stehen also vor dem Dilemma, von Kindern und Jugendlichen im Bildungskontext vorgebrachte Identifikation positiv aufzugreifen und dabei dennoch keine Zuschreibungen vorzunehmen.

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Antimuslimischer Rassismus

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Antimuslimischer Rassismus

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Riem Spielhaus

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Tiesler, Nina Clara (2007): Europäisierung des Islam und Islamisierung der Debatten. In: APuZ, 26 – 27 2007, S. 24 – 32. Uçar, Bülent/Kassis, Wassilis (Hg.) (2019): Antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit. Göttingen. Weichselbaumer, Doris (2016): Discrimination against Female Migrants wearing Headscarves. IZA Discussion Paper 10217. Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit. Bonn. Yurdakul, Gökçe (2009): From Guest Workers into Muslims. The Transformation of Turkish Immigrant Associations in Germany. Newcastle. Zick, Andreas/Küpper, Beate/Berghan, Wilhelm (2018): Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19. Berlin.

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MARIAM PUVOGEL, SINDYAN QASEM

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Antimuslimischer Rassismus als Gegenstand der pädagogischen Islamismusprävention – eine kritische Reflexion der eigenen Praxis wurde mit IP-Adresse 139.018.245.255 aus dem Netz der UB Leipzig am Dezember 18, 2022 um 12:52:58 (UTC) heruntergeladen.

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Antimuslimischer Rassismus

Der Anspruch der seit 2007 in der außerschulischen Bildung aktiven Organisation ‚ufuq.de‘1 ist es, Alternativen zu den teilweise aufgeregten und undifferenzierten Diskursen rund um Islam in Deutschland aufzuzeigen und Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten abseits ideologischer Klischees anzubieten. Der mittlerweile bundesweit aktive und in diversen Islamismuspräventionsprogrammen geförderte Träger entwickelte dabei angesichts weit verbreiteter antimuslimischer Rassismen (vgl. Attia 2009, Decker u. a. 2016) den Leitsatz, dass über Islamismus nicht gesprochen werden könne, ohne auch Islamfeindlichkeit zu thematisieren. Ufuq.de war dementsprechend eine der ersten Organisationen, die pädagogische Angebote zu Islamfeindlichkeit und antimuslimischen Rassismus entwickelten und durch Fortbildungen und Materialien auch Multiplikator*innen für diese Themen sensibilisierten. Der Bedarf für derartige Ansätze ist immer noch groß. Denn viele sich als muslimisch identifizierende Jugendliche erleben, wie ihre Religion in öffentlichen Diskursen nicht selten ausschließlich zum Gegenstand von Debatten um Sicherheit, Integration und Fremdzuschreibungen wird. In der Präventionsarbeit gegen gewaltorientierten Islamismus wird oft davon ausgegangen, dass eine, sowohl von muslimischer als auch nicht-muslimischer Seite postulierte, (scheinbare) Inkompatibilität von ‚Muslimisch-‘ und ‚DeutschSein‘ Loyalitätskonflikte junger Menschen produziert2. Verschiedene wissenschaftliche Zugänge zu sogenannten Radikalisierungsprozessen3 stellen fest, dass 1 2

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„Ufuq“ ist ein aus dem Arabischen übernommener Begriff und bedeutet „Horizont“. Zur Erläuterung der Postulierung der o. g. Inkompatibilität siehe Achour (2013). Zur Erläuterung von Loyalitätskonflikten und dem so genannten „Akkulturationsstress“ am Beispiel junger türkeistämmiger Menschen in Deutschland siehe Uslucan (2015). Der Verwendung des Begriffs „Radikalisierung“ liegt ein oft lineares Verständnis von Hinwendungsprozessen Jugendlicher zu politisch motivierter Kriminalität und/oder Terrorismus zugrunde. In vielen wissenschaftlichen Radikalisierungsmodellen werden auch die bloße Veränderung von Einstellungen und Orientierungen als erste Anzeichen für eine

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Mariam Puvogel, Sindyan Qasem

der durch derartige Marginalisierungen entstehende Unmut für viele Jugendliche ein Klima schafft, in dem die absoluten Antworten islamistischer Akteur*innen interessant werden könnten (vgl. Landeskoordinierungsstelle Demokratiezentrum Baden-Württemberg 2016 und Fahim 2013). Eine Präventionsarbeit, die der Hinwendung junger, sich als muslimisch verstehender oder als muslimisch markierter Menschen zu islamistischen Deutungsangeboten vorbeugen will, sei demzufolge nur dann nachhaltig, wenn sie auch die gesamtgesellschaftliche Anerkennung von als muslimisch gelesenen oder sich identifizierenden Jugendlichen fördert und sie ermächtigt, die Deutungshoheit über ihre tatsächliche oder zugeschriebene Religiosität zurückzugewinnen. Welche Konsequenzen dies im Kontext rassismuskritischer Pädagogik mit sich bringt, erläutern wir im Folgenden anhand eines detaillierten Einblicks in die Praxis von ufuq.de. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Erfahrungen aus der Praxis I: Workshops mit Jugendlichen Ein zentrales Ziel der von ufuq.de in Zusammenarbeit mit verschiedenen Kommunen und Ländern bundesweit durchgeführten Workshops ist die Schaffung von Räumen, in denen Jugendliche unter der Leitfrage „Wie wollen wir leben?“ eigene Interessen, Wünsche und Orientierungen formulieren und sich mit denen anderer auseinandersetzen können. Die dadurch erreichte Sensibilisierung für demokratie- und freiheitsfeindliche Einstellungen und das Wissen um Alternativen dazu, schützen Jugendliche vor einfachen Welt- und Feindbildern und öffnen ihnen Wege, aktiv an Gesellschaft teilzuhaben. Damit wendet sich der Verein an alle Jugendlichen, unabhängig davon ob und wie Religion in ihrem Leben eine Rolle spielt, und fordert ein, die Normalität vielfältiger Lebenswelten in Deutschland anzuerkennen. Die Workshops funktionieren in der Regel nach ähnlichen didaktischen Mustern: Geschulte Teamer*innen, überwiegend junge Erwachsene mit eigener Migrationsgeschichte und überwiegend muslimischem Hintergrund, moderieren Gespräche in den Jahrgangsstufen sieben bis zwölf. Die in der Regel aus drei Workshopteilen à 90 Minuten bestehenden Module finden entweder an einem Projekttag oder eingebettet in verschiedene Unterrichtsfächer an drei verschiedenen Tagen, häufig im Wochenabstand, statt und werden bis auf wenige AusRadikalisierung genannt und so in unmittelbarem Zusammenhang mit potentieller Gefahr gesetzt. Die Vagheit des Begriffs erlaubt dementsprechend auch die Kriminalisierung von nicht-konformen Einstellungen per se. Zur Verwendung des Begriffs Radikalisierung siehe weiterhin zum Beispiel Frindte et al. (2016).

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Antimuslimischer Rassismus

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nahmen von Lehrer*innen oder Sozialarbeiter*innen initiiert. Mit Kurzfilmen, die von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und ufuq.de produziert wurden, bieten die Teamenden Hintergrundwissen und Deutungsangebote und können so in Aushandlungsprozesse einsteigen. Da in diesen Zusammenhängen sowohl über Selbst- und Fremdwahrnehmungen von Muslim*innen in Deutschland als auch über Grundlagen des Zusammenlebens gesprochen wird, äußern sich Jugendliche oft zu Themen rund um Diskriminierung, Rassismus und globale Ungerechtigkeiten. Dies ist in der pädagogischen Konzeption der Workshops auch explizit so vorgesehen – gleichzeitig sind die Teamenden jedoch auch angehalten, etwaige sogenannte „Selbstviktimisierungen“ und Instrumentalisierungen von Rassismuserfahrungen durch Islamist*innen zu entgegnen und positive migrantische und/oder muslimische Rollenbilder in Deutschland hervorzuheben. Derartige Gegenbotschaften – sogenannte counter narratives – mit explizitem Bezug zu islamistischen Narrativen erzielen jedoch oft keine oder sogar gegenteilige Wirkungen, da Jugendliche auf (zum Teil staatlich initiierte) Persuasion überwiegend mit Distanznahme und Misstrauen reagieren (vgl. Frischlich u. a. 2017; siehe zur staatlichen Einflussnahme auf die Schaffung von Gegenbotschaften in Großbritannien Hayes et al. 2016). Im Anschluss an diese Erkenntnisse entwickelte ufuq.de vermehrt Ansätze, die mit sogenannten alternative narratives arbeiten, also Erzählungen, die alternative Sichtweisen und Lebensrealitäten aufzeigen, die weder in gesellschaftlich hegemonialen Diskursen, noch in den schwarz-weiß Logiken von gewaltorientiertem Islamismus sichtbar werden. Dieser Wandel spiegelt sich auch in der Materialiengestaltung wieder. Frühere Filme setzen stärker auf die Normsetzung eines spezifischen Islamverständnisses und Wertevermittlung im klassischen Sinne. In Unterrichtsfilmen legten Theolog*innen wie Lamya Kaddor, Hamideh Mohagheghi und Mouhanad Khorchide ‚liberale‘ Lesarten von Koran und Sunna dar und zeigten so u. a. auf, wie sich im Islam Anschlüsse für feministische und humanistische Haltungen finden lassen – und dekonstruierten so nicht zuletzt Diskurse, in denen der Islam generell als rückständig gebrandmarkt wird. Im Kontrast dazu stehen die neueren Kurzvideos, in denen People of Colour (nachfolgend POC genannt. Zum Konzept siehe Ha 2007), mit überwiegend muslimischem Hintergrund ihre Geschichten teilen. Abseits von den Erwartungen einer weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft4 positionieren sie sich selbstbewusst und kritisch zu The4

Zum mittlerweile gängigen und vielfach verwendeten Konzept des Weißsein s. Arndt et al. (2013).

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men rund um postmigrantische und hybride Identitäten, Religion und Politik. Die Protagonist*innen erzählen von ihren Erfahrungen mit Rassismus und den Strategien, die sie entwickeln, um diesem zu begegnen.5 Darüber hinaus werden soziale Realitäten aufgezeigt, die den common sense über POC und Muslim*innen irritieren. So werden beispielsweise in einem der neuen Video-Module Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte porträtiert, die sich heute solidarisch für Geflüchtete einsetzen. Teilweise spielen dabei religiöse Motive eine Rolle, teilweise die eigenen Ausgrenzungserfahrungen, die für das Ankommen in Deutschland prägend waren. Dadurch schaffen es die Filme, die für die Berichterstattung über freiwillige Helfer*innen charakteristische Dichotomie von weißen Helfer*innen auf der einen und Geflüchteten auf der anderen Seite zu dekonstruieren. Diese Sichtbarmachung von Menschen mit Migrationsbiographien als aktiver und unverzichtbarer Teil gesellschaftlichen Engagements ist für junge POC ermächtigend und bildet ein Korrektiv zum eigenen Erleben medialer Diskurse, in denen sie überwiegend als  Problemgruppe adressiert werden. In diesem Sinne erfahren Jugendliche ‚Deutsch-Sein‘ als eine ganz selbstverständlich auch von nicht-weißen Menschen ausfüllbare Identitätskonstruktion, ohne den unmittelbaren Rekurs auf religiöse Identitäten. Der Rhetorik islamistischer Akteur*innen, welche wirkungsvoll Diskriminierungserfahrungen instrumentalisiert und in ein ‚der Westen gegen uns Muslime‘-Schema zuspitzt, wird dabei nicht widersprochen, indem Ausgrenzungsmechanismen relativiert werden. Vielmehr werden Möglichkeiten aufgezeigt, selbst Teil von widerständigen Bewegungen zu sein. Widerstand wird dementsprechend nicht mittels Hyperreligiosität oder Dichotomisierung definiert, sondern durch die aktive Mitgestaltung von rassismuskritischen Transformationsprozessen.

Erfahrungen aus der Praxis II: Fortbildungen mit Multiplikator*innen Neben der Arbeit mit jungen Erwachsenen in den Workshops bietet ufuq.de auch Beratungen und Fortbildungen für erwachsene Multiplikator*innen innerund außerhalb des Raumes Schule an. Im Mittelpunkt der Angebote steht dabei, Akzeptanz und Repräsentation von muslimischen Biographien und Lebenswelten im pädagogischen und politischen Alltag zu fördern und gleichzeitig Möglichkeiten aufzuzeigen, der Hinwendung Jugendlicher zu islamistischen 5

Einsehbar sind die Filmmodule unter http://www.ufuq.de/verein/filmprojekt/ (Abgerufen am 7. November 2017).

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Szenen vorzubeugen. Weiße Erwachsene und insbesondere weiße Lehrende als größte Zielgruppe werden gleichzeitig auch für ihre eigenen, oft unbewussten, Zuschreibungen sensibilisiert, um so einen empathischen Zugang zu den Lebensrealitäten nicht-weißer Jugendlicher zu ermöglichen. Eine erste Herausforderung besteht so bereits darin, dass Multiplikator*innen, die sich zum Thema Islamismusprävention fortbilden lassen möchten, oft bereits fixe Vorstellungen über Probleme muslimischer oder von ihnen als muslimisch markierter Jugendlicher haben. Multiplikator*innen erhoffen sich durch die Fortbildungen – nachvollziehbarerweise – Hilfestellung zum Umgang mit von ihnen oft als ‚problematisch‘ empfundenen Aussagen oder Verhaltensweisen von Jugendlichen. Besonders Lehrende finden sich nicht selten in Situationen wieder, in denen sie, gemäß des immanenten Normierungsdrucks der Präventionslogik und der teilweise herrschenden Hysterie angesichts terroristischer Gewalt sogar entscheiden müssen, welches Verhalten Jugendlicher als ‚extremistisch‘ gedeutet werden sollte. Eine Auseinandersetzung mit den eigenen Stereotypen und Rassismen ist gerade deshalb eine unabdingbare Voraussetzung für eine nicht stigmatisierende pädagogische Arbeit. Mit Aspekten wie Privilegien, der eigenen Positionierung und Weißsein konfrontiert zu werden ist allerdings nicht immer einfach – umso mehr, wenn im Vorfeld die Erwartung besteht, sich vor allem mit der Identität der ‚Anderen‘ zu beschäftigen. In Fortbildungen mit Multiplikator*innen greift ufuq.de immer wieder auf Musikvideos zurück, um jugendliche Lebenswelten und -krisen zu veranschaulichen. Anhand der Entscheidung, welche Videos dann abgespielt werden, lassen sich weitere Herausforderungen einer rassismuskritischen pädagogischen Islamismusprävention veranschaulichen. So läuft beispielsweise der Rapper Alpa Gun im bereits 2007 erschienenen und von ufuq.de oft benutzten Musikvideo zum Track ‚Ausländer‘ durch die Sozialbauten von Berlin-Schöneberg. Alpa Gun erzählt von Erfahrungen, die er als POC in einem Land macht, in dem er zwar geboren und aufgewachsen ist, jedoch vom nationalen Kollektiv ausgeschlossen bleibt. Die Rassismuskritik des Rappers korrespondiert mit der Erlebniswelt vieler Jugendlicher. Bei der Verwendung des Videos in Fortbildungen ergeben sich jedoch zugleich mehrere Problematiken. So werden im Video visuell nur junge Männer abgebildet und auch in seinem Text erwähnt Alpa Gun nur die Ausgrenzungserfahrungen männlicher POC. Deren Antwort auf die alltäglichen Ausgrenzungen wird ebenfalls in einem Muster protestierender, marginalisierter Männlichkeit erzählt (siehe Connell 2007 zur Konstruktion von hegemonialen, protestierenden und marginalisierten Männlichkeiten). Die ‚Ghettojungs‘, die eigentlich einfach gerne Teil dieser Gesellschaft werden würden –ohne dass ihnen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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diese Zugehörigkeit wiederkehrend aberkannt wird, antworten mit hypermaskuliner, aggressiver und körperlich dominanter Performance. Dass dies teilweise einen tatsächlich existierenden Teil von Realitäten migrantischer MännlichkeitsPerformance abbildet, ist unbestritten, schließlich sind gender performances wirksames Strukturprinzip sozialen Handelns. Doch gleichzeitig funktioniert so auch der Anschluss für die Zielgruppe der Pädagog*innen vor allem mittels eines voyeuristischen und viktimisierenden Blicks auf Alpa Gun. Indem so in Fortbildungen Alpa Gun stellvertretend für junge men of colour erklärt, dass die hypermaskuline Attitude eigentlich nur ein stiller Schrei nach Anerkennung ist, soll den zuhörenden weißen Erwachsenen der Blick für die Verletzungen (und die Verletzlichkeit) von nicht-weißen Jugendlichen geöffnet werden. Eine Perspektive, in der (post-)migrantische Subjekte ihre Lebensrealitäten fernab von Ghettoromantik und dem obligatorischen BMW als Mythos des Erfolgs erklären und somit den Weg für einen Dialog auf Augenhöhe ebnen würden, ist darin jedoch noch nicht enthalten. Die Wahl, welches Video in Fortbildungen eingesetzt werden soll, fällt aus diesen Gründen mittlerweile eher auf ein Stück, in denen junge POC ihre oft durch Hybridität geprägten Identitäten souverän selbst inszenieren. So wird von Motrip und Chefket im Musikvideo zu „Entscheide du!“ exemplarisch die Eigenmacht von POC und die Freiheit, sich auch jenseits von scheinbar feststehenden Kategorisierungen zu verorten, auf den Punkt gebracht: „Woher komm ich, woher kommst du? / Ursprung, Herkunft und Kultur / Wir haben es uns nicht ausgesucht / Wohl aber was wir tun / Entscheide du, was du sein willst / Entscheide du!“

Rassismuskritische Bildung als radikale Bildung Das strukturelle Dilemma einer Islamismusprävention, die rassismuskritische Ansätze zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit macht, ist, dass antimuslimischer Rassismus gemäß der Präventionslogik zwar als Radikalisierungsursache, jedoch nicht als durch kontinuierliche rassismuskritische Arbeit zu bekämpfender gesellschaftlicher Missstand im weiteren Sinne adressiert wird. Denn in der Prävention erhalten Rassismuserfahrungen in der Arbeit mit jugendlichen POC vor allem dann Raum, wenn anschließend gegen eine sogenannte ‚Opferideologie‘ und die Instrumentalisierung von Rassismuserfahrung durch Islamist*innen argumentiert wird. In einer Gesellschaft, in der sowohl Ausgrenzung und rassistische Hetze als auch die Verschleierung von strukturellem Rassismus, wie exemplarisch im NSU-Komplex beobachtbar ist, das Alltagserleben vieler nicht© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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weißer Jugendlicher prägen, verstärken derartige Strategien eher noch die Distanzierung von der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Singh 2016 und Kundnani 2014). Prävention als normierender Mechanismus markiert Positionen, die systemische Fragen stellen, schnell als ‚radikal‘ und damit als unerwünscht. Jedoch sollte rassismuskritischen Positionierungen gerade angesichts eines bedenklichen gesellschaftlichen Rechtsrucks eingeräumt werden, ‚radikale‘ Forderungen zu formulieren. In diesem Sinne muss Platz eingeräumt werden für eine nicht-systemkonforme Rassismuskritik – ohne, dass die selbe als ‚extremistisch‘ eingeordnet wird. Es lässt sich leicht schlussfolgern, dass rassismuskritische Pädagogik dementsprechend eher außerhalb der beschriebenen Präventionslogik stattfinden sollte. Jugendliche selbst kritisieren in den Workshops von ufuq.de mitunter ganz offen, dass in der Verhandlung von muslimischen Identitäten oftmals ein problemzentrierter Blick normalisiert wird. Eben diese Jugendlichen sind es leid, ihre (Nicht-) Religiosität und ihre Loyalitäten immer wieder rechtfertigen und erklären zu müssen. Trotz solcher Wirkungen und Aussagen ist gegenwärtig gewissermaßen eine Präventionisierung von politischer Bildung und sozialer Arbeit mit Jugendlichen mit Migrations- und Fluchtgeschichte zu beobachten. Migrantische Jugendliche werden dadurch, dass sie zur Hauptzielgruppe von Islamismusprävention werden, als latent gefährdet und damit potentiell gefährlich markiert. Pädagogische Ansprachen an diese Jugendlichen und deren Reaktionen werden so im Kontext von wahrgenommenen terroristischen Bedrohungen zu sicherheitspolitisch relevanten Äußerungen, in denen kein Platz mehr für Nonkonformität gewährt wird. Womöglich sind derlei Ansprachen sogar kontraproduktiv: Denn die Thematisierung von Rassismus durch Islamist*innen entfaltet ihr großes Attraktivitätspotential gerade auf Grund der Verdrängung nicht-systemkonformer Rassismuskritik aus öffentlichen Räumen.6 Die Arbeit von selbstorgansierten Projektträgern außerhalb der staatlich geförderten Präventionslandschaft ist von unverzichtbarem Wert. Diese Träger bleiben glaubwürdige Ansprechpartner für Jugendliche in Orientierungsprozessen und hinterfragen weiterhin kritisch bestehende gesellschaftliche Realitäten. Das Wirken des Theater X aus Berlin-Moabit veranschaulicht dabei, wie es jungen POC auch ohne übergestülpte Präventionslogik möglich sein kann, sich explizit politisch mit der Situation Geflüchteter auseinander zu setzen, postkoloniale Kontinuitäten der Außenpolitik europäischer Staaten zu thematisieren, 6

Zur Attraktivität scheinbar rassismuskritischer deutschsprachiger Angebote von islamistischen Akteur*innen siehe Qasem (2015).

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über Marginalisierung im Alltag zu sprechen und Visionen einer solidarischen Gesellschaft, in der Menschen Community-übergreifend für soziale Gerechtigkeit streiten, zu entwerfen. Auch die Mobilisierungen islamistischer Akteur*innen war bereits mehrmals zentrales Thema der Stücke des Jugendtheaters. Westliche Militärinterventionen in Irak und Afghanistan, Folter in Abu Ghraib und Guantanamo im Namen des ‚War on Terror‘, die fehlenden Einsichten aus dem rechten Terror des NSU, ein Integrationsdiskurs, welcher individualisierte Anpassungsleistung zum Maßstab macht, all das prägt beispielsweise das Erleben der Hauptfigur in ‚Meen Erhabi?‘ – ‚Wer ist der Terrorist?‘. Im Stück entscheidet sich die Figur für eine Strategie, die weder darin besteht, die Widersprüche westlicher Politiken zu negieren, noch in gewaltorientierten Islamismus zu verfallen. Als bessere Lösung wird die Teilhabe an sozialen Bewegungen, die für eine Gesellschaft ohne Krieg und Rassismus kämpfen, dargestellt. Anstatt ‚Radikalität‘ also unkritisch zum buzz word und somit zum zu verhindernden Objekt der Islamismusprävention zu machen, erscheint es weitaus sinnvoller, Radikalität, im Sinne eines konsequenten Hinterfragens bestehender rassistischer Realitäten und des Eintretens für das Recht auf Selbstbestimmung migrantischer Identitäten, im positiven Sinne zu fördern. Das impliziert auch das Aufgeben von Kontrollansprüchen darüber, was Jugendliche in der Folge von pädagogischen Maßnahmen für Gesellschaftsvisionen entwickeln. Das Beispiel vom Theater X illustriert, dass die glaubwürdigste Alternative gegen gewaltorientierten Islamismus ohnehin meist von jungen Menschen selbst kommt, da diese die Gründe für die Attraktivität nur zu gut kennen und trotzdem selbstbestimmt andere Antworten finden. In einem Klima, in dem rassistische Zuschreibungen wieder an Legitimität gewinnen und die Normalisierung der Kriminalisierung von Muslim*innen schleichend fortschreitet, ist eine kritische politische Bildung, die antimuslimischen Rassismus thematisiert, wichtiger denn je (vgl. Eis et al. 2015). Auch ufuq.de als Träger der Präventionsarbeit befindet sich innerhalb dieses Spannungsverhältnisses und muss die jeder bildnerischen Arbeit immanenten Herrschaftsverhältnisse, kontinuierlich reflektieren um dem eigenen Anspruch einer rassismuskritischen Pädagogik gerecht zu werden. Jugendlichen steht der Wille zur Veränderung dieser Verhältnisse selbstverständlich und bedingungslos zu. Gerade deshalb sollten die Perspektiven derer Jugendlichen, die oft nur als Zielgruppe von Prävention vorkommen, zum Ausgangs- und Bezugspunkt von nachhaltig wirkenden Bildungsprojekten werden.

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Literatur Achour, Sabine (2013): Bürger muslimischen Glaubens. Politische Bildung im Kontext von Migration, Integration und Islam. Schwalbach. Arndt, Susan/Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/Piesche, Peggy (Hg.) (2013): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster. Attia, Iman (2009): Die „westliche Kultur“ und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Bielefeld. Connell, Rawyen (2006): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Wiesbaden, 3. Auflage. Decker, Oliver/Johannes Kiess/Elmar Brähler (2016): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Leipzig.

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Antimuslimischer Rassismus

Eggers, Maureen Maisha (2013): Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der kritischen Weißseinsforschung in Deutschland. Zur Aktualität und Normativität diskursiver Vermittlungen von hierarchisch aufeinander bezogenen rassifizierten Konstruktionen. In: Arndt, Susan/Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/Piesche, Peggy (Hg.) (2013): Mythen, Masken und Subjekte: Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Eis, Andreas et al. (2015): Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung. Abrufbar unter https://www.uni-oldenburg.de/fileadmin/user_upload/sowi/ag/politi sche_bildung/Frankfurter_Erklaerung_aktualisiert27.07.15.pdf (letzter Zugriff: 07.11.2017). Fahim, Amir Alexander (2013): Migrationshintergrund und biografische Belastungen als Analysekriterien von Radikalisierungsprozessen junger Muslime in Deutschland. In: Herding, Maruta (Hg.): Radikaler Islam im Jugendalter. Erscheinungsformen, Ursachen und Kontexte. Halle (Saale), S. 22 – 40. Frindte, Wolfgang/Slama, Brahim Ben/Dietrich, Nico/Pisoiu, Daniela/Uhlmann, Milena/Kausch, Melanie (2016): Wege in die Gewalt. Motivationen und Karrieren salafistischer Jihadisten. In: HSFK-Report Nr. 3/2016, abrufbar unter https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publi kationen/report_032016.pdf (letzter Zugriff: 06.12.2017). Frischlich, Lena/Rieger, Diana/Morten, Anna/Bente, Bente (Hg.) (2017): Videos gegen Extremismus? Counter-Narrative auf dem Prüfstand. Hamm. Ha, Kien Ngh (2007): People of Color  – Koloniale Ambivalenzen und historische Kämpfe. In: Ha, Kien Nghi et al. (Hg.): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Münster. Hayes, Ben/Qureshi, Asim (2016): „We are completely independent“: The Home Office, Breakthrough Media and PREVENT Counter Narrative Industry. Abrufbar unter https://cage.ngo/ wp-content/uploads/2016/05/CAGE_WACI.pdf (letzter Zugriff: 06.12.2017). Kundnani, Arun (2014): The Muslims are coming. Islamophobia, Extremism and the War on Terror. New York City.

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Mariam Puvogel, Sindyan Qasem

Qasem, Sindyan (2015): Neue Haltungen gegen Unmut. Forderungen an eine gesamtgesellschaftliche Präventionsarbeit. In: Molthagen, Dietmar (Hg.): Handlungsempfehlungen zur Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus und Islamfeindlichkeit, S. 201 – 209. Singh, Amrit (2016): Eroding Trust. The UK’s Prevent Counter-Extremism Strategy in Health and Education. Abrufbar unter https://www.opensocietyfoundations.org/sites/default/files/ero ding-trust-20161017_0.pdf (letzter Zugriff: 06.12.2017). Uslucan, Haci-Halil (2015): Uneindeutigkeit und der Umgang mit Ambiguität. Orientierungen junger Heranwachsender mit und ohne Zuwanderungsgeschichte. In: ufuq.de, http://www.ufuq. de/identitaetund-moral-orientierungen-junger-heranwachsender-mitund-ohne-zuwande rungsgeschicht/ (letzter Zugriff: 06.12.2017).

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SABA-NUR CHEEMA

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(K)Eine Glaubensfrage. Bildungsarbeit im Kontext religiöser Pluralität und antimuslimischem Rassismus wurde mit IP-Adresse 139.018.245.255 aus dem Netz der UB Leipzig am Dezember 18, 2022 um 12:52:58 (UTC) heruntergeladen.

Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

(K)Eine Glaubensfrage

„Religion und religiöse Konflikte haben an der Schule nichts verloren“, haben Pädagog*innen in unseren Seminaren in der Bildungsstätte Anne Frank (BAF) zum Thema Diskriminierung und religiöse Vielfalt erklärt, wenn es zu sogenannten religiösen Konflikten an der Schule und anderen pädagogischen Räumen gekommen ist. Seit vielen Jahren erreichen uns Bildungsreferent*innen in der BAF Anrufe und Anfragen von Lehrer*innen sowie Pädagog*innen aus der außerschulischen Arbeit, in denen sie um Unterstützung in Konflikten rund um die Themen Religion und Kultur – oder, anders formuliert: in Konflikten mit den Anderen bitten. In einer der ersten Beratungsanfragen, die als „religiöser Konflikt“ an uns herangetragen wurde, ging es um eine angespannte Diskussion innerhalb des Lehrkollegiums einer Gesamtschule: Im Rahmen eines geplanten Sommerfestes, kurz vor Schuljahresende, sollte der abgehende Jahrgang 10 verabschiedet werden. Ein Konflikt entstand, als eine Lehrerin zwei Grillstationen vorschlug: „Für viele unserer muslimischen Schüler ist es aufgrund religiöser Vorschriften nicht zulässig, dass sie ihr Rindersteak auf demselben Gitter grillen wie die Bratwurst. Daher wären zwei Grillstationen besser.“ Auf den Vorschlag reagierte ein Teil des Lehrkollegiums mit Empörung. „Anpassung“, „Keine Sonderbehandlung“ und „Verlust der deutschen Kultur“ sind nur einige der Worte, die im Gespräch fielen. Letztlich verlief das Sommerfest an der Gesamtschule gut und harmonisch, laut des Kollegiums und den Schüler*innen – und zwar ohne Grill. Nichtsdestotrotz blieben Fragen unbeantwortet und Diskussionen unabgeschlossen und ein Teil des Kollegiums wandte sich an uns, um den Konflikt nachträglich zu bearbeiten. Eine wesentliche Frage, die sich die beteiligten Lehrkräfte stellten, war: „Wie kann ich mit religiöser Vielfalt und religiösen Bedürfnissen umgehen?“ Diese und ähnliche Anfragen von Lehrkräften zeigten uns die Notwendigkeit neuer Bildungskonzepte und -projekte, die insbesondere das Thema Religion behandeln. In diesem Kontext kam es zum Projekt „Kaum zu glauben – Religionen im Gespräch“ mit drei zivilgesellschaftlichen Akteur*innen aus der Frankfurter Stadtgesellschaft. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Saba-Nur Cheema

Das Ziel des Bildungsprojektes war nicht, einen interreligiösen Dialog zu initiieren oder Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Religionen zu diskutieren. Gleichwenn diese Themen freilich interessant, spannend und wichtig sind, so sprengt der Anspruch, als Pädagog*in darüber Bescheid zu wissen, den Rahmen – und verfehlt aus unserer Sicht das eigentliche Ziel. Zu den notwendigen Kompetenzen, die Pädagog*innen in die Lage versetzen, mit religiöser Vielfalt konstruktiv umzugehen, zählen andere Fähigkeiten: Was in einem demokratisch geregelten Miteinander von Lehrer*innen erwartet werden kann und muss, ist nämlich, dass sie das Grund- und Menschenrecht der positiven und negativen Religionsfreiheit als ein Selbstbestimmungsrecht der Jugendlichen respektieren. Wir haben festgestellt, dass es im pädagogischen Miteinander nicht unbedingt um Religionen als Glaubenssysteme oder die Frage nach Religiosität geht. Vielmehr erreichen uns Anliegen, die zwar als ‚religiöse Konflikte‘ betitelt werden, aber grundsätzliche Themen über die Gestaltung eines Miteinanders ansprechen. Dabei erscheint eine als wachsend wahrgenommene religiöse Pluralität als Herausforderung. Interessant ist dabei, wann Religion bzw. die religiöse Zugehörigkeit zum Thema wird – und wann nicht. Oft gelten die Konflikte als „religiös“, wenn Jugendliche beteiligt sind, die muslimisch (markiert) sind. Daher haben wir uns im Projektkonzept folgende Fragen aufgegriffen: Wem wird welche Religionszugehörigkeit zugeschrieben? Wer wird (unabhängig von der Selbstwahrnehmung) als religiös wahrgenommen und wer nicht? Wann und bei wem wird Religion zu einem wichtigen oder wesentlichen Identitätsmerkmal und bei wem nicht? Tatsächlich kann religiöse Zugehörigkeit einer Fremdzuschreibung entsprechen, aber ein „arabisch klingender Name“ muss beispielsweise nicht zwangsläufig etwas über die eigene religiöse, atheistische oder weltanschauliche Sicht aussagen. In diesem Kontext geht es in unserer antisemitismus-, rassismus- und diskriminierungskritischen Bildungsarbeit im Themenfeld ‚Religion‘ um Herausforderungen religiöser Pluralität in der Migrationsgesellschaft sowie um Themen, die heutzutage mit Religion verknüpft werden: Kultur, Migration und Radikalisierung.

Religionsbilder und antimuslimischer Rassismus Religiöse Pluralität ist eine Tatsache in der deutschen Migrationsgesellschaft. Und ziemlich unterschiedlich sind die Narrative und Wahrnehmungen in der Gesellschaft über die verschiedenen Religionen und Religionsgemeinschaften. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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(K)Eine Glaubensfrage

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Kai Hafez und Sabine Schmidt (2015, 18) haben im Rahmen einer Studie erfragt, wie bereichernd bzw. bedrohlich die „großen Weltreligionen“ und der Atheismus gesehen werden. In der Studie schneidet der Islam besonders schlecht ab, denn für 51 Prozent der Befragten wirkt der Islam eher bzw. sehr bedrohlich. Während der Atheismus mit 32  Prozent und das Judentum mit 19  Prozent ebenfalls hohe Werte für bedrohliche Assoziationen aufzeigen, sind die Bilder der weiteren erfragten Religionen Christentum, Buddhismus und Hinduismus mehrheitlich positiv. Nun, woher kommt die mehrheitlich negative Assoziation mit dem Islam? Zweifelsohne sind historische als auch aktuelle Zustände und Ereignisse auf globaler Ebene ein wesentlicher Grund dafür. Und aktuell bekommen ‚der Islam‘ und ‚die Muslime‘ eine hohe Aufmerksamkeit, wenn es um Themen wie Migration, Integration, Geflüchtete und Sicherheit geht. Der Kommunikationswissenschaftler Kai Hafez (2009; Hafez/Schmidt 2015) analysiert das Islambild in öffentlichen Diskursen und stellt fest, dass der Islam seit mehreren Jahrzehnten mehrheitlich negativ dargestellt wird. Aktuelle Formen der medialen Berichterstattungen führen oftmals ein Negativimage fort, indem unter anderem das Narrativ des konstruierten OrientOkzidents-Gegensatzes reproduziert wird (vgl. Karis 2013, Hafez 2009, Schiffer 2005). Dabei sei „das Verhältnis des Fortlebens zentraler alter Klischees des Islams bei gleichzeitiger Differenzierungen des Islambildes in einigen wenigen Randbereichen das eigentliche Signum der Medienberichterstattung“ (Hafez 2009, 100). Trotz einzelner Beiträge die sich um eine differenzierte Berichterstattung über den Islam, über Muslim*innen und die islamische Welt bemühen, gehe es mehrheitlich um Bedrohungsszenarien und gewaltvolle Themen. Das Negativimage des Islams ist auch auf reale Ereignisse und Lebensrealitäten zurückzuführen. Gewalt, Terror und Unterdrückung gibt es tatsächlich in Lebensrealitäten von Muslim*innen. Auch gibt es Menschen, die sich auf eine Form des Islams berufen um andere Muslim*innen sowie Nicht-Muslim*innen zu bedrohen. Trotz all dieser Probleme ist die Kritik an der diskursiven Praxis in Teilen der medialen Berichterstattung eine andere: das Ausblenden anderer Lebensformen und Realitäten, die ebenfalls im Kontext des Islam und in Lebensrealitäten von Muslim*innen existieren. Die mehrheitlich negative, gewaltorientierte Darstellung des Islams und der Muslim*innen fördert die Nichterwähnung des Normalen, des Alltäglichen und des Positiven im Islam und von Muslim*innen und führt zu einer verzerrten Wahrnehmung und zu konflikthaften Umgangsformen. Wenn heutige Empfänger*innen und Konsument*innen derartiger medialer Inhalte den Islam insbe© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Saba-Nur Cheema

sondere in negativen Erscheinungsformen präsentiert bekommen, kann dies einen Einfluss auf das Miteinander zwischen Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen haben. Zwar haben Naika Foroutan et. al (2014, 41) in der Studie „Deutschland postmigrantisch“ festgestellt, „dass es nur einen kleinen ‚harten Kern‘ gibt, der tatsächlich ein geschlossenes antimuslimisches Weltbild hat“ aber „die Zahl der Menschen, die zumindest einzelne negative Stereotype von Musliminnen und Muslime hat, [ist] noch deutlich größer“. Ein wesentlicher Baustein in unserer Bildungsarbeit zu religiöser Pluralität ist es, die verschiedenen Narrative zu diskutieren und kritisch zu beleuchten. Hierfür arbeiten wir u. a. mit ausgewählten und über Jahre gesammelten Nachrichten und Bildern aus medialen Berichterstattungen um die Narrative gemeinsam herauszuarbeiten. Mit den durchaus plakativen und provokativen Bildern wird es möglich, dass die Teilnehmenden (ob Jugendliche oder Erwachsene) ihre Assoziationen und Eindrücke teilen und mal über Religionsinhalte, das Verhältnis von Säkularität und Religion oder um die Auswirkungen solcher Narrative auf das Miteinander diskutieren. Die Auseinandersetzung mit Narrativen und Deutungen der verschiedenen Religionsbilder ermöglicht einen Raum für Selbstreflexion: Welche Bilder über Religionen habe ich im Kopf ? Woran denke ich, wenn ich bspw. an den Islam denke? Woher kommen diese Assoziationen? Die Eigenwahrnehmung wird von Bildern, Diskursen und Ereignissen beeinflusst und es ist hilfreich sowie ein wesentliches Element pädagogischer Professionalität, dies zu reflektieren sowie das eigene Handeln und Sprechen zu überprüfen.

Kulturalisierung und Rassifizierung Häufig analysieren wir mit Lehrkräften, Pädagog*innen und anderen Verantwortlichen Situationen aus der pädagogischen Praxis oder aus dem alltäglichen Miteinander, die als ‚religiöse‘ oder ‚interkulturelle‘ Konflikte identifiziert werden. Dabei stellen wir fest, wie kulturalisierende Erklärungsmuster angewendet werden, um ein ‚Anderssein‘ faktischer oder zugeschriebener Muslim*innen zu konstruieren, wenn beispielsweise die Verweigerung des Küchendienstes eines Schülers auf der Klassenfahrt mit seiner ‚muslimischen Kultur‘ erklärt wird; oder wenn die Entscheidung einer Schülerin, nach dem Abitur eine Pause zu machen und erst mal nicht zu studieren, auf eine ‚muslimische Tradition, schnell zu heiraten‘ zurückgeführt wird. Mit den genannten Situationen arbeiten wir beispielhaft wie folgt: Die Situationen werden in einer Version mit einem arabischen Namen der Schüler*innen analysiert und in einer weiteren ohne Namen. Während die Ver© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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(K)Eine Glaubensfrage

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weigerung des Schülers ohne Namen oft mit typischen Jungenverhalten, Provokation sowie peer-group-Dynamiken diskutiert wird, wird die Erklärung kulturalisierend, sobald der Name sich ändert: „Muslimische Jungs werden als Paschas erzogen“ oder „Im Islam haben Frauen die Rolle der Haushälterin“ sind nur zwei Beispiele der kulturalisierenden Erklärungen. Ähnlich sind die Begründungen und Analyseebenen bei der namenlosen Schülerin, der entweder ein work & travel Jahr in Australien zugemutet wird, oder im Fall des Mädchens mit einem arabischen Namen, dem eher die anstehende Heirat mit baldigem Nachwuchs prognostiziert wird. In beiden Situationsanalysen wird (1) ein arabischer Name mit muslimischer Religionszugehörigkeit verknüpft (2) mithilfe von Klischees und Stereotype über Muslim*innen die Situation zu verstehen versucht und (3) die vermeintliche religiöse Zugehörigkeit essenzialisiert, das heißt die (zugeschriebene) Religion wird als Hauptursache für die Entscheidungen der Schüler*innen erklärt. Dabei spielt es keine Rolle, wie religiös die Schüler*innen tatsächlich sind, falls sie überhaupt muslimisch sind und nicht nur aufgrund ihres Namens als solche wahrgenommen werden (vgl. Shooman 2014, 2017; Spielhaus 2006, 2013). Auch spielen hier Bilder, über ‚die Muslime‘ und ‚den Islam‘ eine wesentliche Rolle hinsichtlich spezifischer Erklärungsmuster. Beispielhaft ist auch der eingangs beschriebene Fall beim Sommerfest. Ein zusätzlicher Grill für die muslimischen Schüler*innen war weniger – als man vielleicht vermuten könnte  – eine Kosten- oder Organisationsfrage, sondern avancierte zu einer Frage von Toleranz, Akzeptanz und Kultur. Am wenigsten ging es während der Diskussion im Kollegium um den Grill, sondern viel mehr um die (Nicht-)Anerkennung religiöser Bedürfnisse und die Imagination einer ‚Überfremdung durch ausländische Kulturen‘. Aus einer gesellschaftlichen Dominanzposition heraus (das Lehrkollegium) wird das Bedürfnis einer gesellschaftlich marginalisierten Gruppe (die muslimischen Schüler*innen) als Bedrohung konstruiert. Auch hier wird religiöse Zugehörigkeit kulturalisiert und ‚die Muslime‘ werden dabei als Kollektiv imaginiert. Das Bedürfnis einer Gruppe von Schüler*innen wurde auf die grundsätzliche Frage des Umgangs mit Migrant*innen und Integration in deutscher Gesellschaft übertragen und die in Deutschland lebenden Muslim*innen wurden homogenisiert, die synonymartig als ‚Muslim*innen‘, ‚Ausländer*innen‘ oder ‚Migrant*innen‘ bezeichnet wurden (vgl. Spielhaus 2006, Shooman 2017). Während ein konstruktiver Umgang mit religiöser Vielfalt beispielsweise mit der Bereitstellung eines zweiten Grills hätte gewählt werden können, wurde die mögliche Bereitstellung als Schwäche der eigenen Position und als Verlust eigener Prinzipien gesehen. Rassistische Deutungsmuster waren hierbei, wie sich zeigte, anschlussfähig. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Sichtbarkeit von Alternativen

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Für die Durchführung von Fall- und Situationsanalysen, die von Lehrkräften als ‚religiöse‘ oder auch als ‚interkulturelle‘ Fälle charakterisiert werden, ist ein multiperspektivischer Analyserahmen wesentlich. In unserer Bildungsarbeit laden wir Pädagog*innen dazu ein, alternative Deutungsmuster und Narrative kennenzulernen und zu diskutieren. Wir arbeiten mit demokratischen Gegennarrativen um beispielsweise Muslimsein mal anders zu diskutieren: Als etwas Alltägliches, Normales oder Positives. Für Pädagog*innen erachten wir daher als essenziell, eigene Denk- und Deutungsmuster zu reflektieren, die eigene gesellschaftliche Positionierung bewusst zu machen und Selbstreflexion als Element pädagogischer Professionalität zu verstehen. Dies meint auch, eigene Verstrickungen in religionsfeindliche, antisemitische und rassistische Diskurse sowie die persönliche Haltung zu religiöser Pluralität in der Migrationsgesellschaft zu reflektieren. Ein wesentliches Element unseres multiperspektivischen Ansatzes ist zudem die Erweiterung der eigenen Perspektive über den Einbezug von Perspektiven von Menschen, die von Rassismus und Zuschreibungen negativ betroffen sind (vgl. Cheema 2017, 89). Mithilfe der Perspektiven von Betroffenen als Expert*innen für ihre Erfahrungen entstehen alternative Erklärungs- und Deutungsmuster zu Situationen, bei denen ansonsten die Gefahr besteht, dass sie aus einer gesellschaftlichen Dominanzposition gedeutet werden. Hierbei ist es wichtig, (1) nicht die Perspektive von Betroffenen und Rassismuserfahrenen zu imaginieren und keiner Homogenisierung zu verfallen; (2) die Perspektiven von Betroffenen nicht zu instrumentalisieren oder lediglich pro forma einzubringen, während sie selbst von bestimmten Positionen und Möglichkeiten ausgeschlossen werden, beispielsweise aufgrund von rassistischer und diskriminierender Benachteiligungen am Arbeitsmarkt bzw. -platz; und (3) es ist notwendig, dass Menschen mit Rassismuserfahrungen, also auch muslimische Personen als verantwortliche Akteur*innen in Bildungsräumen auftreten, um den Kreis pädagogischer Professionalität zu erweitern. Pädagog*innen, die selbst von Rassismus und Diskriminierung betroffen sind, bringen dementsprechend neue und notwendige Expertisen und Wissen in ihren professionellen Kontexten mit ein.

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Literatur Cheema, Saba-Nur (2017): (K)Eine Glaubensfrage. Religiöse Vielfalt im pädagogischen Miteinander. Bildungsstätte Anne Frank. Frankfurt. Foroutan, Naika et al. (2014): Deutschland postmigrantisch I. Gesellschaft, Religion, Identität. Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Forschungsprojekt „Junge Islambezogene Themen in Deutschland“. Berlin. Hafez, Kai/Schmidt, Sabine (2015): Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland. Religionsmonitor. Bertelsmann Stiftung. Gütersloh, 2. Auflage. Hafez, Kai (2009): Mediengesellschaft – Wissensgesellschaft? Gesellschaftliche Entstehungsbedingungen des Islambildes deutscher Medien. In: Schneiders, Thorsten Gerald (Hg.): Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. Wiesbaden, S. 99 – 117. Karis, Tim (2013): Mediendiskurs Islam. Narrative in der Berichterstattung der Tagesthemen 1979 – 2010. Wiesbaden. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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(K)Eine Glaubensfrage

Shooman, Yasemin (2017): Was ist antimuslimischer Rassismus? In: Cheema, Saba-Nur (Hg.): (K)Eine Glaubensfrage. Religiöse Vielfalt im pädagogischen Miteinander. Bildungsstätte Anne Frank. Frankfurt. Shooman, Yasemin (2014). „… weil ihre Kultur so ist“: Narrative des antimuslimischen Rassismus. Bielefeld. Spielhaus, Riem (2013): Wer ist Muslim und wenn ja wie viele? Ein Gutachten im Auftrag des Mediendienstes Integration. Berlin. Spielhaus, Riem (2006): Religion und Identität – Vom deutschen Versuch, „Ausländer“ zu „Muslimen“ zu machen. In: Internationale Politik 3, 2006, S. 28 – 36. Schiffer, Sabine (2005): Die Darstellung des Islam in den Medien. Sprache, Bilder, Suggestionen. Eine Auswahl von Techniken und Beispielen. Würzburg.

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(K)Eine Glaubensfrage

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Teil III Exotisierung

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Kulturproduktion und Selbstorganisierung im Spannungsfeld von Exotisierung und Rassismuskritik: Asiatische Deutsche im Blick

Einführung

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Kulturproduktion und Selbstorganisierung

Exotik, Exotisierung, Orientalisierung – so viele verschiedene Begriffe. Nur, was haben sie mit Rassismus auf der einen und mit asiatisch/en (gelesenen) Menschen auf der anderen Seite zu tun? Im Folgenden werden wir – eine Gruppe von asiatisch-deutschen Frauen – dieses Verhältnis nicht nur theoretisch reflektieren, sondern auch konkrete Antworten für uns als asiatisch-deutsche (markierte/gelesene) Menschen in unserer politischen (rassismuskritischen) Arbeit formulieren. Wie werden wir adressiert? Was wird uns zugeschrieben? Wie erfahren wir Rassismus? Inwiefern positionieren wir uns gegen Rassismus, mit wem fühlen wir uns solidarisch? Und mit wem nicht? Was bedeutet diese Erfahrung in Zeiten der Pandemie? In einer Zeit, in der das Wort ‚Corona-Rassismus‘ eine Konjunktur von rassistischen Äußerungen und rassistischer Gewalt gegen ost-asiatisch gelesene Menschen, unter der scheinbaren Legitimation eine Virus-Gefährdung darzustellen, meint. Was sind erfolgreiche Strategien der Skandalisierung? Aber auch Strategien der Solidarität, wenn andere marginalisierte Gruppen von neuen rassistischen Gefährdungen in Zeiten der Pandemie betroffen sind? Inwiefern werden unterschiedliche Formen rassifizierender Erfahrungen in der antirassistischen Arbeit wirksam? Und wie steht ein exotisierender Rassismus im Verhältnis zu anti-muslimischem und/oder anti-Schwarzem Rassismus? Historisch spiegeln sich in diesen Fragen (post-)koloniale und (post-)imperiale Verhältnisse, weil gesellschaftliche Verhältnisse in verschiedenen geographischen Kontexten entlang rassischer Kriterien strukturiert wurden. Dies vollzog sich nicht nur in einer binären Gegenüberstellung von Schwarz und weiß, sondern auch entlang anderer ‚rassischer‘ Kategorien von ‚Braunen‘, ‚Gelben‘, und ‚Roten‘ Menschen, die zueinander differenziert und hierarchisiert wurden. Um diese Logik wirksam zu machen, wurden der einen Gruppe Privilegien zuteil, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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während diese der anderen Gruppe abgesprochen wurden. Aspirationsoptionen mussten angeboten werden, die nicht nur mit Weißsein einhergingen, sondern auch mit der Aspiration eine_s/eine_r nationalstaatlichen Bürgers/Bürger_in. Hierfür finden sich vielfältige Beispiele, wie in unterschiedlichen (post-)kolonialen bzw. (post-)imperialen Kontexten verschiedene rassifizierte Gruppen in ein hierarchisches Verhältnis gestellt wurden. So ließen sich im Westen des niederländischen Kolonialimperiums Menschen aus Indien in Surinam nieder, da sie nach der Abolition aus den britischen Kolonien kamen und von den niederländischen Kolonisator_innen als Vertragsarbeiter_innen die Arbeit der vormals versklavten Menschen übernehmen sollten. Zu nennen ist überdies die Geschichte der ‚Coolie‘-Ökonomie in den USA, die nach der Abolition der Versklavung etabliert wurde und in der die Vertragsarbeiter_innen aus China (sog. ‚Coolies‘) die Arbeit der vormals versklavten Menschen ersetzen sollten (vgl. Jung 2006). Das US-amerikanische Wirtschaftssystem stellte insofern eine Transformationsökonomie dar, die sich von einer Plantagenwirtschaft (inklusive versklavter Menschen) hin zu einer industrialisierten Wirtschaft entwickelte, die nicht mehr auf der Ausbeutung versklavter Menschen basierte, sondern auf andere rassifizierte Gruppen zur Ausbeutung ihrer Arbeitskräfte angewiesen war. Bei genauerem Hinsehen wird an diesem Beispiel die ambivalente Verbundenheit Schwarzer und chinesisch diasporischer Gruppen erkennbar, die vor allem aus einer weiß-hegemonialen Logik entstanden ist (vgl. Prashad 2002). Als ein anderes Beispiel für rassifizierte soziale Verhältnisse und Hierarchien sind die sog. ‚Indos‘ in Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien zu nennen, die als rassifizierte Andere im niederländischen Imperium zwischen den weißen Kolonisator_innen und der kolonisierten indigenen bzw. Schwarzen Bevölkerung positioniert wurden. Eine Position, die bis heute in der niederländischen Gesellschaft wirksam ist. Indos werden beispielsweise im Vergleich zur rassistischen Stigmatisierung der Schwarzen Niederländer_innen im kolonialen Imperium als ‚exotische‘, aber nicht ‚gefährliche‘ Gruppe stigmatisiert (vgl. Pattynama 2000; Captain 2014). Aus einer globalen Perspektive können weitere Beispiele anhand der Analyse von Edward Said (1978) erschlossen werden – so nämlich die Orientalisierung des Nahen, Mittleren und Fernen Ostens. Saids Studie, eine grundlegende Arbeit postkolonialer Theorie, analysiert die Literaturproduktion und die Kanonisierung von Wissen. Einer Konstruktion der Anderen – insbesondere des ‚Orients‘ – folgt die Selbstimagination als eine überlegene, weiße sowie europäische Macht. Im Gegensatz zur Dehumanisierung im ‚Terra nullius‘-Kolonialismus mit seiner fälschlichen Annahme von leeren und unbewohnten Gebieten auf dem afrikanischen Kontinent und seiner Ig© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Kulturproduktion und Selbstorganisierung

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noranz gegenüber den schon dort lebenden indigenen Menschen, die als ‚Wilde‘ und ‚Primitive‘ dehumanisiert und enteignet wurden (vgl. Fitzmaurice 2007), zielt die Orientalisierung der Anderen auf die Reduzierung und Vereinfachung komplexer Kulturen und einer Abgrenzung des ‚Orients‘ vom ‚Okzident‘ ab: Die orientalisierten Anderen wurden jedoch nicht als kulturlos betrachtet. In der Konstruktion und Hierarchisierung menschlicher ‚Rassen‘, im Zuge des europäischen Kolonialismus, wurden Annahmen über die ‚Entwicklungsfähigkeit‘ von Menschengruppen mit rassistischen Theorien unterlegt (vgl. Kothari 2006). Diese Hierarchisierung ist bis heute wirksam, weil Rassismus auf vielfältige Weise Menschen in verschiedene Gruppen kategorisiert, essentialisiert und beschädigt. Da aber nicht alle rassifizierten Menschengruppen auf die gleiche, sondern auf sehr komplexe und vielschichtige Weise kategorisiert werden, stellen wir fest, dass sich im Zusammenhang zwischen einer heutigen antirassistischen Auseinandersetzung und der Aushandlung identitätspolitischer Zugehörigkeiten Widersprüche formieren. Es ist diese selbstkritische Auseinandersetzung, die wir in unserer Arbeit miteinander diskutiert haben und für diesen Beitrag zusammentragen. Wir sind verschiedene Frauen*, mit unterschiedlichen sexuellen, geschlechtlichen und asiatischen Identitäten, die uns mal ähnlicher und mal verschiedener machen. Wir wissen um die Konstruktion dieser Identitäten, die uns zusammenführen, weil wir über einen gemeinsamen Erfahrungsraum verfügen. Ein Erfahrungsraum, den wir miteinander teilen wollen, zu dem wir persönliche, theoretische, historische und geographische Zugänge haben und in dem wir unterschiedliche Strategien der Abwehr, des Widerstands und der Auseinandersetzung entwickelt haben. Wir wissen um die Konstruktion von Asien und der Orientalisierung Asiens. Wir fragen uns, ob Asien zum Orient gehört oder nicht. Wir fragen uns, wie stehen wir zu ‚den Oriental_innen‘ oder zu den ‚Südostasiat_innen‘ oder zu den ‚Ostasiat_innen‘? Inwiefern bilden geteilte Migrationsgeschichten, kulturelle Referenzen und historische Kontexte gemeinsame Bezüge – und inwiefern trennen sie uns voneinander? Und was ist der gesellschaftliche Kontext, wenn wir mit einem schablonenhaften ‚Ni-Hao‘/‚Sayonara‘/‚Namaste‘Asien im Alltag, in den Medien, in Film und Theater, in Kindergeschichten und in Schulbüchern konfrontiert und rassifiziert werden? All diese Fragen bilden die verschiedenen Ausgangspunkte für unsere Überlegungen zum Verhältnis von Exotisierung und Rassismus, die im Folgenden aus verschiedenen Perspektiven betrachten werden. Hierbei haben wir unsere eigenen Erfahrungen und Expertisen für die o. g. Fragen diskutiert und unsere Antworten insbesondere für den kultur- und bildungspolitischen Kontext formuliert. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Die Ambivalenz von Rassismus und Exotisierung

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„Gaze place means ‚Other‘ when people stare at me. Every time I am thus placed as ‚Other‘ I am experiencing racism, for I am not ‚Other‘. I am self“ (Kilomba 2013, 43).

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Exotisierung ist von einer Ambivalenz geprägt, die weitreichender ist, als es zunächst scheint. Sie artikuliert sich oft über das Ergötzen, den Blick und die Vereinnahmung exotisierter Körper. Grada Kilomba (2013) beschreibt in dem obigen Zitat den Blick als einen Akt, der die Ressentiments im Kontext der Begegnung mit dem exotischen ‚Anderen‘ reproduziert. Im Prozess der Exotisierung werden dem ‚Anderen‘ Eigenschaften zugeschrieben, denen mit Faszination, Begierde und Überheblichkeit begegnet wird. Die Unterscheidung zwischen Rassismus und Exotisierung betont bei letzterem eine positive Zuwendung – hierdurch wird die Benennung von Exotisierung als diffamierender Fremdzuschreibung erschwert. Weiterhin maskiert die Unterscheidung zwischen Rassismus und Exotisierung das zugrundeliegende komplexe gesellschaftliche Machtsystem, das Menschen hierarchisiert und rassifiziert. In diesem Prozess wird Weißsein als Norm gesetzt, indem den exotisierten Menschen idealisierte Eigenschaften, die oftmals kolonialrassistische Bilder reproduzieren, zugeschrieben werden. Es wirken übersexualisierte, orientalisierte, vergeschlechtlichte und rassialisierte Fantasien in diese Imaginationen ein. Es ist ein Rassismus, der den ‚Anderen‘ nicht vollkommen dehumanisiert. Kilombas Aussage ermöglicht diese Grenze, die zwischen Rassismus und Exotisierung gezogen wird, aufzubrechen. Weil unsere Körper, unsere Geschichte und unser Wissen nicht exotisch sind, sondern weil wir zu exotischen Anderen produziert werden. In der ersten Vorstellungsrunde bei einer Veranstaltung zum Thema Alltagsrassismus im Frühjahr 2017, organisiert von einer Initiative für Deutsch-Inder_ innen der zweiten Generation, war es Konsens, dass man selbst keinen Rassismus erlebe. Die Stimmung war locker. Schüler_innen, Studierende und Berufstätige trafen aufeinander. Im Verlauf der Veranstaltung wurde deutlich, dass jede_r Erfahrung mit rassifizierenden Vorurteilen gemacht hatte. In einer spielerischen Gesprächsrunde sollten die im Raum versammelten Personen sich entlang einer gedachten Linie positionieren und so ihre persönliche Einschätzung zu gemachten Rassismuserfahrungen einstufen. Der Großteil der Gruppe ordnete sich im unteren Bereich der Skala ein, d. h. sie gingen davon aus, dass sie wenig bis keinen Rassismus in ihrem Alltag erlebten. Der Reihe nach berichteten die Teilnehmer_innen von ihren Erfahrungen und begründeten ihre Entschei© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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dung. Je mehr Personen ihre Begründungen für ihre Einschätzungen schilderten, desto deutlicher wurde, dass man schon mehr Erfahrung mit Rassismus gemacht hat, als manch einer_e sich zugesteht. Nach und nach wurde allen im Raum bewusst, dass sie trotz unterschiedlicher Lebensrealitäten ähnliche Rassismuserfahrungen beim Heranwachsen und im Alltag in Deutschland gemacht hatten. Die Erfahrungen reichten von der Frage „Wo kommst du ursprünglich her?“ bis hin zu körperlicher Gewalt. Mit dem Austausch über die Erfahrungen wurde eine Tatsache präsent: Noch nie zuvor wurde in einem ähnlichen Rahmen über Rassismuserfahrungen mit Personen aus der eigenen Community gesprochen. Das war eine der ersten Veranstaltungen dieser Art, die keiner kulturalisierten Thematik folgte, sondern Lebensrealitäten von Menschen der zweiten Generation in Deutschland aufgriff und Alltagsrassismus thematisierte. Wieso wurde das nicht schon eher thematisiert? Sind solche Veranstaltungen über Lebensrealitäten und Rassismuserfahrungen für die Community irrelevant? Keineswegs. Dass über Rassismus und Exotisierung, die wir erleben, kaum gesprochen wird, ist zum einen der positiven Konnotation von Exotisierung geschuldet und zum anderen mit der einhergehenden Normalisierung der eigenen rassismusrelevanten Erfahrung als alltägliche zu erklären. Es wird gemeinhin angenommen, dass die als ‚Model Minority‘ imaginierte Gruppe nur positive Diskriminierung erlebt, weil ihr besondere und v. a. positive Eigenschaften zugeschrieben werden. Sie werden als fleißige, arbeitstüchtige und gut assimilierte Migrant_innen imaginiert. Die Schriftstellerin Yasmin Abdel-Magied (2017) schreibt in ihrem Artikel „I Tried to Fight Racism by Being a ‚Model Minority‘ – and Then It Backfired“ über ihren Versuch das Stereotyp der perfekt integrierten Migrantin zu erfüllen, um damit der rassistischen Wahrnehmung von Personen wie ihr in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Sie beschreibt genau jene Ambivalenz, die darin besteht, dass sie sich als exotisch markierte Person zwar mit ‚positiven‘ Vorurteilen konfrontiert sieht und nicht in ihrer Persönlichkeit oder mit ihren spezifischen Fähigkeiten wahrgenommen wird – sondern nur im Lichte kulturalisierender, ethnisierender und rassifizierender Vorurteile. Denn es handelt sich nicht um ein abwertendes Ressentiment, gegen das man eine klare Abwehrhaltung formulieren kann, sondern um eine Form des subtilen Rassismus, der den Diskurs in der Gesellschaft sowie innerhalb der Community nicht strukturell thematisiert, sondern ihn auf eine persönliche Ebene verschiebt. Diese Individualisierung wirkt sich auf den Umgang mit eigenen Erfahrungen aus, wie Abdel-Magied illustriert. Durch die Internalisierung einer neoliberalen Leistungsideologie besteht die Hoffnung via Assimilation und Selbstverleugnung einer Stereotypisierung entgegenwirken zu können und keinen Rassismus zu er© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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leben – eine Hoffnung, die sich jedoch nicht einlöst – wie Nivedita Prasad im Gespräch mit Urmila Goel (2012, 186) im Sammelband InderKinder: Über das Aufwachsen und Leben in Deutschland herausstellt: „Politisch fände ich es wichtig, wenn deutlich werden würde, dass auch diese Gruppe Rassismus erlebt und zwar obwohl sie mit allen Ressourcen ausgestattet ist. Um deutlich zu machen, dass Rassismus nichts mit der Integrationsstufe zu tun hat, sondern dass es ein Problem der Mehrheitsgesellschaft ist. Ich fände das politisch wichtig, dass alle People of Color, die diese Erfahrung machen sie in diesem Kontext thematisieren“.

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Die Rassifizierung, die der Exotisierung inhärent ist, und die Wirkung dieser auf unsere Lebensrealitäten, wird in den Debatten über Rassismus kaum beachtet und analysiert. Diese Auslassung wird besonders am Fall der Sikh-Community deutlich. Nach dem 11. September 2001 formierte sich ein neuer anti-muslimischer Rassismus und die Hassverbrechen gegen als Muslim_innen gelesene Menschen nahmen zu. Weil vorwiegend männliche Sikhs eine Kopfbedeckung – Dastar – und einen Bart tragen, werden sie aufgrund anti-muslimischer Vereinfachungen verwechselt und vermehrt zur Zielscheibe jenes anti-muslimischen Rassismus sowohl in Nordamerika wie auch in Europa. Jedoch werden Sikhs als Model Minority in den Rassismus-Debatten außen vorgelassen. Die ausschließlich positive Konnotation exotisierender Zuschreibungen hat zur Folge, dass Exotisierung als politisches Phänomen neutralisiert und kulturalisiert wird, so dass eine konsequente Reflektion und kritische Auseinandersetzung darüber verhindert wird (vgl. Bendix/Danielzik 2013). Kilomba illustriert anhand des Vielfaltsdiskurses, wie die positive Zuschreibung von Differenz eine rassismuskritische Analyse delegitimiert und als solche entpolitisiert: „The use of such ‚multi-kulti‘ arguments – ‚everybody is different and that’s what makes the world great‘[…] Here differences among people are being explained in aesthetic terms, and not in political terms. The little girl learns that racial ‚Others‘ become different because they look different, not because they are treated differently. The enunciation of difference is constructed in a way that assumes that racialized groups are a pre-existing occurrence rather than consequence of racism.“ (2013, 106). Die Andersbehandlung wird nicht als strukturelles Problem verhandelt, sondern über die Naturalisierung der Differenz legitimiert, die wiederum sozial konstru© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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iert ist und aus einem hegemonialen kolonialrassistischen Diskurs erwuchs. Dadurch dass das strukturelle Problem verkannt und als persönliche Befindlichkeit verharmlost wird, wird die Thematisierung unserer Rassismuserfahrungen unmöglich gemacht. Reflexartige Reaktionen wie ‚Es war gar nicht so gemeint!‘ sowie ‚Das darf man doch noch sagen!‘, oder ‚Es ist doch ein Kompliment!‘ versetzen uns regelmäßig in die Situation, als Einzelfall abgetan oder als überempfindlich hingestellt zu werden. Die Sorge, belästigt, missverstanden und diskriminiert zu werden, hat zur Folge das wir lieber nichts sagen. Sie lässt uns mit unseren Erfahrungen verstummen, was als Silencing zu werten ist. Thematisieren wir jedoch unsere Erfahrungen, ist die Gefahr groß, dass sie in paternalisierender und relativierender Weise als Einzelfälle banalisiert werden. Die Unmöglichkeit Rassismus als solchen zu benennen, Rassismus den wir selbst erleben, macht unsere Erfahrungen unsichtbar. Wie diesbezüglich Audre Lorde in Sister Outsider (1984, 44) formulierte: „For we have been socialized to respect fear more than our own needs for language and definition, and while we wait in silence for that final luxury of fearlessness, the weight of that silence will choke us.“ Eine kritische Auseinandersetzung ist längst überfällig, um den normalisierenden Exotisierungs-Diskurs zu entlarven. Ein Ausbau der politischen Vernetzung und Sichtbarkeit von rassifizierten Anderen in Deutschland wäre daher der erste Schritt um das Silencing durch die Ambivalenz der Exotisierung zu unterbrechen und zu reflektieren. Dies ermöglicht es uns eigene, machtkritische und solidarische Perspektiven zu entwickeln und diese einer uns rassifizierenden Gesellschaft aktiv entgegenzustellen.

(Post-)koloniale Blickregime und ihre Folgen für Asiatisch-Deutsche (Selbst-) Positionierungen Wenn es um die Vorstellung von ‚Asien‘ und ‚Asiatisch-Sein‘ geht, zeigt sich der Mainstream der deutschen Medien- und Wissenschaftsöffentlichkeit von einem weißen, dominanzkulturellen Diskurs geprägt (vgl. Rommelspacher 1995). Diese kulturalisierende Praxis produziert exotisierende Bilder, was analog zum Konzept des ‚doing race‘ als ‚doing Asia‘ bezeichnet werden könnte (vgl. Said 1978). Es zeigt sich, dass ‚Asien‘ als soziale Konstruktion vornehmlich mit ‚Ostasien‘ und ‚ostasiatischen‘ Körpern assoziiert wird (vgl. Goel 2008). Urmila Goel stellt in einer Studie (2008) fest, dass Menschen, die Bezüge zu Indien oder Südasien, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Zentral- und Westasien (z. B. Türkei, Afghanistan) haben, vom weißen Mainstream nicht als ‚Asiat_innen‘ wahrgenommen werden. Im Vergleich zu den USA arbeitet Goel heraus, dass sich die von ihr interviewten deutschen (muslimischen) Südasiat_innen selbst nicht als ‚Asiat_innen‘ beschreiben würden (vgl. ebd.). Ein anderes Beispiel verdeutlicht, dass sich einige Personen der goanesisch-christlichen Diaspora in Kanada selbst nicht oder nie als ‚Inder_innen‘ bezeichnen würden (vgl. Rajiva/D’Sylva 2014). Diese Beispiele verweisen auf die komplexe Vielfalt asiatischer Erfahrungen in der westlichen Welt. Homogenisierende, rassistische Konstruktionen haben reale Folgen, wenn wir Rassismus als gesellschaftliches Machtverhältnis und nicht als individuelles Vorurteil betrachten (vgl. Attia 2012). Es wird auch für uns eine Herausforderung bleiben, stereotype Vorstellungen von ‚Asiatisch-Sein‘ nicht zu reproduzieren, vor allem, weil auch wir mit eben diesen vereinfachenden und dominanten Bildern sozialisiert wurden und uns im Alltag dazu ins Verhältnis setzen müssen. Unser Anliegen in diesem Artikel ist daher, dazu beizutragen die essentialisierenden Konstruktionen von Asiatisch-/Südasiatisch-/Ostasiatisch-/Südostasiatisch-/Indisch-Sein zu dekonstruieren. Wir begreifen den Prozess der Exotisierung nicht als einen, der nur auf ‚Asiatische Deutsche‘, verstanden als politischer Bündnisbegriff und Selbstbezeichnung (vgl. Ha 2012a), zu beschränken ist, sondern in der Wechselwirkung von Exotisierung und Reduzierung auch auf Erfahrungen von anderen Black/ PoC Communities zutrifft (vgl. Hall 2004). Wir wollen uns mit unserem Text gegen ein gängiges Vorurteil wenden – dass Exotisierungserfahrungen ja ‚nicht so schlimm‘ seien und eher eine Form des ‚positiven Rassismus‘ darstellen. Wir wenden uns gegen jede Form des Rassismus und sehen unsere Erfahrungen in solidarischer Differenz zu anderen Rassismen in Deutschland. Der dominante Blick: die longue durée kolonialer Bilder und das dominante Vergessen „Für Migrationsgesellschaften unserer Zeit ist es kennzeichnend, dass eine Vielzahl von Bildern, Beschreibungen, Symbolen, Darstellungen und Zeichen im Umlauf sind, in denen nicht nur über (natio-ethno-kulturelle) Identität und Differenz Auskunft gegeben wird, sondern Identität und Differenz auch beständig produziert und reproduziert werden“ (Broden/Mecheril 2007, 9). Asiatisch markierte Körper werden, wenn sie in deutschsprachigen oder anderen westlichen medialen und kulturellen Repräsentationen vorkommen, als „höfliche Musterschüler_innen der Integration“ (bzgl. 2. Generation Vietnames_innen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Kulturproduktion und Selbstorganisierung

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vgl. Heinrich-Böll-Stiftung 2014), „nerdy“ (vgl. Prosieben.de 2018: Big-BangTheory-Serienfigur Dr. Rajesh Koothrappali), strebsame, bildungserfolgreiche, Mathe- und Musikbegabte, apolitische, assimilierte oder primitive, kulturell nicht integrierbare, passive, stille, zurückhaltende Personen imaginiert (vgl. Goel 2008; Heinrich-Böll-Stiftung 2014; freitext Heft  21 2013; Kondabolu 2017; Ramanathan 2017). Wenn es um die (mediale) Imagination von weiblichen ‚asiatischen‘ Figuren geht, dann handelt es sich oft um sexualisierte Nebenrollen als orientalisch konstruierte Schönheiten oder als unterdrückte Frauen (vgl. Goel 2008). Muslimisch-südasiatisch Markierte und/oder Asiatisch-Deutsche Männlichkeiten dagegen, werden gesellschaftlich eher kriminalisiert und als bedrohliche religiöse Fundamentalist_innen und/oder gleichzeitig ‚feminin‘, ‚unmännlich‘, sprich defizitär repräsentiert (vgl. ebd.). Es scheint im weißen westlichen Mainstream eine genaue Vorstellung über süd-/ostasiatische Körperkonstitutionen, Akzente und Sprechweisen zu geben und alles was davon abweicht, muss kommentiert und im Fall von akzentfreiem Sprechen beglückwünscht werden (‚Sie sprechen aber gut deutsch‘). Gleichzeitig gibt es eine essentialisierende Tendenz kulturelle Praktiken (Kochen, Yoga, Kampfkünste) über authentische asiatische Körper zu validieren (… Frage: Woher kommt Dein_e Trainer_in? Antwort: Weiß ich nicht. Sieht der/die wie ein_e [Person aus einem Land in ‚Asien‘ benennend] aus? Wie Du weißt das nicht!?) (vgl. US-Kontext: Gandbhir/Stephenson 2016; korientation e. V. 2017). Astride Velho (2016, 144) zufolge, dienten westliche Repräsentations- und Blickregime im Kolonialismus und Nationalsozialismus, sowie heute in ihren postkolonialen und postnationalsozialistischen Kontinuitäten der Begründung rassistischer Normalität: die Legitimation und Fortsetzung rassistischer Praktiken kann „unterschiedliche produktive Wirkungen auf Prozesse der Subjektbildung hinterlassen, seien sie involvierend, komplizenhaft, exotisierend, sexualisierend, definierend, abwertend, ausgrenzend oder Kritik und Widerstandsfähigkeit anregend“. Anne Broden und Paul Mecheril (2007, 8) schreiben, dass diese Repräsentationsverhältnisse sich auf das Thema Zugehörigkeit in der Migrationsgesellschaft auswirken und „ein wichtiger Bestandteil der Stärkung und Problematisierung von Zugehörigkeitsgrenzen“ seien. So erleben sich Kinder of Color, Schwarze Kinder, asiatisch-deutsche Kinder und migrantische Kinder im Schulund Bildungskontext als die „nicht selbstverständlich Zugehörigen“ (ebd.), obwohl „Migrant_innen und Deutsche mit asiatischen Hintergründen in diesem Land eine lange, weit über das 20. Jahrhundert hinausreichende Geschichte aufweisen“ (Ha 2014, 8). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Für den exotisierenden, kolonialen Blick auf indisch/südasiatisch markierte Menschen können historische Bezüge zu den sogenannten ‚Indien-Schauen‘ hergestellt werden. Hierbei wurden Indien und ‚Ceylon‘ in den Jahren 1898, 1905 und 1925 in verschiedenen deutschen Städten als „Märchenländer inszeniert“ (Velho 2016, 142). Eine dieser sogenannten ‚Völkerschauen‘ trug den Titel „Indien in München“ und wurde 1925 auf dem Oktoberfest abgehalten (ebd.). So lässt sich die Darstellung „(ost)asiatischer Menschen als hinterhältige Unmenschen“ sowie „der Mythos der ‚Schlitzaugen‘ als typisch ostasiatische Attribute“ (Ha Kien Nghi zit. nach Dapp 2014, 1) auf jahrhundertealte kolonialrassistische Tradierungen zurückverfolgen. Genauso wie der symbolische Kampf gegen ‚die gelbe Gefahr‘, welcher um die Jahrhundertwende in Europa unter Beteiligung der publizistischen Kultur in Deutschland „biologistische Feindbilder“ propagierte (Migazin 2014, 1). Im nationalen kollektiven Gedächtnis gibt es kaum Verweise auf diese kolonialen Kontinuitäten, wenn es um Gewalt gegen Asiatische Deutsche geht. Ohne dieses historische Wissen ist es nicht möglich die anhaltende ‚epistemische Gewalt‘ (Spivak zit. nach Velho 2016, 63) zwischen aktuellen kulturellen und medialen Repräsentationen von süd-/ostasiatisch markierten Menschen in Ost- und West-Deutschland zu begreifen.1 Repräsentationen und gelebte Erfahrungen „Images play a crucial role in defining and controlling the political and social power to which both individuals and marginalized groups have access. The deeply ideological nature of imagery determines not only how other people think about us but how we think about ourselves“ (Parmar zit. nach hooks 1992, 2).

1

Gegenwärtige Beispiele für solche Repräsentationen sind Beiträge in der Auslandsberichterstattung (hier gerne als Negativ-Schlagzeilen bzgl. Terrorismus, Diktaturen, Umweltkatastrophen etc.) oder in den Wirtschaftsnachrichten über die sogenannten ‚Tiger Staaten‘. Man findet süd-/ostasiatisch markierte Körper in der (Spenden-)Werbung (vgl. Philipp/Kiesel 2011) und Narrationen über ‚ihre Kultur‘ in Reiseliteratur und historischen Reiseberichten (vgl. bspw. KulturSchock-Reihe: Krack 2016; Heyder 2014; Bock-Luna 2003). Ferner in folkloristischen Bildbänden, Diavorträgen, Natur- und Sozial-Dokumentationen, sowie in weißen, eurozentrischen Kulturproduktionen oder kulturellen Veranstaltungen, wie dem Berliner ‚Karneval der Kulturen‘ (vgl. KdK 2018), oder in bunten Kochbüchern, interkulturellen Trainings oder Business-Ratgebern (vgl. Vermeer 2015).

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Die Flut an Bild- und Wissensproduktionen über als süd-/ostasiatisch markierte Subjekte vermitteln und aktualisieren die oben genannten Zugehörigkeitsgrenzen und manifestieren sich in Alltagserfahrungen und -begegnungen von Asiatischen Deutschen. Wie bereits angeführt, können sich diese Erfahrungen in Form vermeintlich positiver Botschaften als Komplimente und Privilegierungen vermitteln; aber auch als herabsetzende Rassismus- und Otheringerfahrungen erlebt werden, die sich vor allem in Zeiten des Rechtsrucks überall in Deutschland ereignen können: in der (Hoch-)Schule, in der Kita, am Flughafen, im Supermarkt, in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf der Straße, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt und in der Arztpraxis. Die Folgen können „in Form einer Verinnerlichung von Wahrnehmungsmustern, der Übernahme von Zuschreibungen sowie dem Streben nach Assimilation zu einem widersprüchlichen und paradoxen Zustand führen“ (Mecheril 2012, 194). Neben dieser Verinnerlichung von Zuschreibungen ist weiterhin bemerkenswert, dass über die vielfältigen, uneinheitlichen (Vertrags-/Gast-/Arbeits-/ Bildungs-/Familien-/Flucht-/Migrations-)Geschichten von Asiatischen Deutschen und/oder ihre Rassismuserfahrungen beispielsweise im Zuge des antivietnamesischen Pogroms 1992 in Rostock-Lichtenhagen gesellschaftlich kaum etwas gewusst und wenig kollektiv erinnert (Ha Kien Nghi zit. nach Bax 2012, o. S.). Aus einer rassismuskritischen Perspektive wirkt es so, als wären Geschichten von Asiatischen Deutschen nicht relevant. Ha Kien Nghi (2012, o. S.) kritisiert die deutsche Erinnerungspraxis zur Gewalt in Rostock-Lichtenhagen wie folgt: „Die Logik der politischen und medialen Ökonomie bringt es mit sich, dass Rostock-Lichtenhagen alle zehn Jahre aus der kollektiven Versenkung der deutschen Geschichte auftaucht, um nach dieser Pflichtübung für die nächsten Jahre wieder in die Vergessenheit abzutauchen. Kurz vor dem 20. Jahrestag des rassistischen Pogroms gegen Roma-Flüchtlinge und vietnamesischen Vertragsarbeiter_innen in Rostock-Lichtenhagen setzte in vielen deutschen Medien pflichtschuldig die Berichterstattung über die damaligen Ereignisse ein“. Nach diesem historischen Abriss zu den Quellen und Ursprüngen, sowie kolonialen Kontinuitäten einiger stereotyper, rassistischer Vorstellungen und Imaginationen von Asiatischen (Deutschen) Körpern die derzeit kursieren, soll es im Folgenden um widerständige Strategien des Berlin Asian Film Nets (BAFNET) im Umgang mit rassistischen Repräsentationen im (deutschen) Film gehen.

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Kulturproduktion als Empowerment- Strategie: Berlin Asian Film Network (BAFNET)

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Im Jahr 2011 stellten sich zwei junge Frauen namens Anna Xian und Thuy Trang folgende Frage: „Wo können wir hingehen, um Filme anderer asiatischer Filmschaffender zu schauen und zu besprechen?“ Beide arbeiteten an diversen Filmprojekten und realisierten nach einiger Zeit, dass sie mit ihren als asiatisch markierten Körpern eine Minderheit im Filmgeschäft darstellten. Vor und hinter der Kamera waren kaum asiatisch-deutsche Personen vertreten. Auf diese Feststellung folgte alsbald eine pragmatische Reaktion. Anna Xian und Thuy Trang luden Freund*innen, Bekannte und Kolleg*innen ein und organisierten eigene Filmscreenings in kleiner Runde. Sie gaben sich als Gruppe den Namen „Berlin Asian Film Network“ (fortan BAFNET). Knapp sechs Jahre später vermerkte BAFNET einen starken Anstieg des Publikums, zugleich kam dieses auch regelmäßig wieder. Dies mag zunächst als Indikator für die Popularität dieser Screenings gedeutet werden. Doch viel entscheidender scheint die Verschiebung von den BAFNET Veranstaltungen, die auf der Logik der symbolischen Repräsentation asiatisch-deutscher Identitäten basierten, hin zu einer Praxis, die hier als ‚Doing Asian Diaspora‘ bezeichnet wird. Das ‚doing‘ verweist auf die Arbeit, welche hinter der Herstellung von Imaginations- und Handlungsräumen steht, in denen sich unterschiedliche Körper aber auch politische wie theoretische Positionen unter dem Label ‚Asian Diaspora‘ versammelten und miteinander in Austausch traten. Dabei entwickelten sich spannende Wechselwirkungen zwischen unserem Handeln und theoretischen Reflexionen, welche wiederum die Variation bestehender Praktiken zur Folge hatten. Zudem möchten wir2 anmerken, dass durch den Begriff ‚Doing Asian Diaspora‘ den Strategien und Erfahrungen des BAFNET lediglich eine Bezeichnung gegeben wird, um sie operationalisierbar zu machen. Die Begrifflichkeit bietet sich keineswegs als sozialoder kulturwissenschaftliches Analysetool an. Daher werden im Folgenden jene Reflexionen und Erkenntnisse herausgearbeitet, die für bereits bestehende wie auch künftige diskriminierungskritische Formationen in der kulturellen Bildung und Produktion von Nutzen sein könnten. Zunächst wird auf die Wahl und Fortführung der Bezeichnung ‚Berlin Asian Film Network‘ eingegangen und beschrieben, weshalb sich das ‚Asian‘ in 2

Seit 2013 ist Tran Thu Trang bei BAFNET aktiv und hat die Entwicklung der Initiative sowohl mitverfolgen, als auch mitgestalten können. Das „wir“ verweist an dieser Stelle auf die kollektive Autor*innenposition.

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dem Gruppentitel trotz einiger Auseinandersetzungen all die Jahre bewährt hat. Insbesondere die Spannung zwischen Sichtbarmachung und Ausschluss marginalisierter Subjektivitäten durch Identitätsbezeichnungen soll anhand der internen BAFNET-Debatte illustriert werden. Daran anknüpfend wird das Potenzial des Mediums Film in der kollektiven Erarbeitung eines „oppositionellen Blicks“ nach bell hooks (2015, 122) erörtert. Die regelmäßigen Screenings werden von BAFNET nicht als bloße Unterhaltungsveranstaltungen, sondern vielmehr als moderierte Räume gemeinsamer kritischer Reflexion begriffen. wurde mit IP-Adresse 139.018.245.255 aus dem Netz der UB Leipzig am Dezember 18, 2022 um 12:52:58 (UTC) heruntergeladen.

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Kulturproduktion und Selbstorganisierung

Asiatische Deutsche – ein Prozess der Selbstverortung Der Begriff der ‚Asiatischen Deutschen‘ begegnete BAFNET erstmals in der Lektüre des im Jahre 2012 von Ha Kien Nghi herausgegebenen Sammelbands „Asiatische Deutsche  – Vietnamesische Diaspora and beyond“. Darin wurde ‚Asiatische Deutsche‘ als mögliche Identitätsformation erstmals im deutschsprachigen Raum ausgetestet und bot für uns die bislang einzige diskursive Referenz, um die Funktion und Bedeutung von ‚Asian‘ im Namen des Berlin Asian Film Network zu hinterfragen. Tatsächlich wurde das BAFNET-Team selbst mit der berechtigten Kritik konfrontiert, den Identitätsmarker ‚asiatisch‘ auch essentialisierend zu verwenden. In den ersten beiden Jahren bestand die Haupttätigkeit des BAFNET darin, Filme von Nachwuchsfilmschaffenden zu zeigen und anschließend sogenannte ‚Q&A Sessions‘, Diskussionen mit den Filmemacher*innen, zu moderieren. Dabei ging es anfänglich meist um die Entstehungsbedingungen der Filme sowie technische oder erzählerische Aspekte. Die Gesprächspartner*innen hatten häufig biographische Verbindungen zu Ostasien und deshalb ließen erste kritische Bemerkungen diesbezüglich nicht lange auf sich warten. Wir würden mit der Wahl der Filme und Gäste bestehende Festschreibungen asiatischer Körper mit bestimmten phänotypischen Merkmalen reproduzieren. Die Kritik wurde entweder während der Diskussionen angebracht oder etwa über unsere Plattformen in den Sozialen Medien. Die Organisationsgruppe sah sich angesichts der genannten kritischen Reaktionen aus dem Publikum damit konfrontiert, eine anfänglich gar nicht stark politisch ausgerichtete Veranstaltungsreihe differenzierter zu positionieren. Zeitgleich erschienen Werke wie etwa der eingangs erwähnte Sammelband, oder das Dossier der Heinrich Böll Stiftung zu Asian Germany – Asiatische Diaspora in Deutschland (2014) und die Ausgabe Auftauchen des Kultur- und Gesellschaftsmagazins Freitext (2013), die theoretische Inputs zu Prozessen der kulturellen Essentialisierung sowie der strategischen Selbstbenennung gaben. Hier zeichnete sich eine Überlappung zweier Entwicklungen ab: Einerseits sprachen sich die Veranstaltungen des © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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BAFNET herum und zogen vermehrt ein Publikum an, das sich teilweise bereits politisch oder kulturell als ‚asiatisch‘ oder ‚People of color‘ positionierte und dementsprechend ein ähnlich reflektiertes Angebot von BAFNET erwartete. Auf der anderen Seite entwickelte sich durch eine Anzahl aktivistischer und akademischer Veröffentlichungen ein Diskurs um die Identitätskategorie ‚AsiatischDeutsch‘ und ‚pan-asiatisch‘. Nun standen die Mitglieder von BAFNET vor der Herausforderung, sich diesen Gegebenheiten anzunehmen, denn auch sie fühlten sich von den Diskussionen sowohl betroffen als auch in bestärkender Art und Weise angesprochen. Was änderte sich also konkret? Es folgten lange Diskussionen, diverse Anläufe der Selbstdefinitionen, eine Diversifizierung unserer Film- und Gastauswahl sowie die verstärkte Suche nach einer kulturellen und politischen Szene, mit der wir in Austausch treten konnten. Dem ‚asiatischen‘ Community-Building ging im Fall von BAFNET die Existenz kritischer und aktivistischer Communities von Schwarzen Deutschen, People of Color und LGBTIQ-Aktivist*innen voraus. Dies anzuerkennen, daran solidarisch anzuknüpfen und zu lernen waren wichtige Schritte, um Überlegungen zur Herstellung eines ‚asiatisch diasporischen Raumes‘ anzustellen. ‚Doing Asian Diaspora‘ beschrieb fortan kollektive Bemühungen die sozialen Grenzziehungen, die mit der Idee ‚Asien‘ verbunden sind, ins Bewusstsein zu rufen und sich auf kreative Art und Weise der Opazität des Begriffs ‚asiatisch‘ zu bedienen. Zudem strebte BAFNET weiterhin an, durch die konkrete Benennung asiatisch diasporischer Subjekte während der eigenen Veranstaltungen, sprachlich die Möglichkeit zu bieten, Erfahrungen mit Rassismus in Film und Fernsehen in Gestalt visueller Gegenerzählungen asiatisch diasporischer Filmemacher*innen etwas entgegenzusetzen; kurzum: im städtischen Raum Berlin die Fiktion Asien selbst zu erzählen und immer wieder neu zu erfinden. Oppositional Gaze, oder: Wie wir zum kritischen Publikum wurden Das gemeinsame Schauen von Eigenproduktionen junger Nachwuchsfilmemacher*innen war für lange Zeit der Fokus der Veranstaltungen von BAFNET. Dies lag zum einen an den eigenen zeitlichen und finanziellen Ressourcen, waren doch alle Aktiven noch Studierende oder frische Absolvent*innen (und sind es teilweise immer noch). Das BAFNET bietet ein gutes Beispiel dafür, inwiefern diese Graswurzelarbeit die engagierten Personen sukzessive mit inhaltlichen sowie organisatorischen Kompetenzen ausstattete, die Veränderungen der eigenen Handlungsweise nach sich zogen. Allmählich entstand ein reguläres Publikum, welches nicht nur die Veranstaltungen besuchte, sondern diese auch tatkräftig in der Organisation und Durchführung unterstützte. Innerhalb der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Gruppe wurde diskutiert, ob und inwiefern rassismuskritische Diskussionen bestärkt werden sollten und welches Format sich dafür eignen könnte. Fast schon beiläufig kam die Idee auf, einen Spielfilm, der im Privatfernsehen ausgestrahlt wurde, gemeinsam zu schauen und zu kommentieren. Der Film hieß „Nachbarn süß sauer“ und wurde vom asiatisch-deutschen Verein korientation e. V. rezensiert. Die Handlung entspricht dem Genre der ‚Culture Clash Komödie‘, in diesem Fall wird eine weiß deutsche mittelständische Familie mit neuen, chinesischen Nachbar*innen konfrontiert. Dabei wurden sämtliche rassistischen Klischees des ‚Yellow Peril‘, also der ‚gelben Gefahr‘ bedient. Auf die rassistischen Stereotype muss hier nicht weiter eingegangen werden, jedoch war die Erfahrung des gemeinsamen Schauens überraschenderweise sehr empowernd. Ähnlich wie es bell hooks (2015) in ihrem Aufsatz „The Oppositional Gaze“ beschrieb, verging kaum eine Szene, ohne vom Publikum zeitnah kommentiert zu werden. Schnell wurden alle Teilnehmer*innen des Filmabends zur eigenen Urteilsfindung angeregt. Welche rassistischen Motive wurden hier wieder bedient? Warum wurden die asiatischen Protagonist*innen so einfältig dargestellt? Wieso fiel es uns so schwer, uns mit ihnen zu identifizieren? Laut bell hooks entstehen durch das gemeinsame kritische Schauen „looking relations“ (ebd., 117), welche die eigene Position als rassifiziertes Subjekt in einem System weißer hegemonialer Repräsentationen erst sichtbar machen. Als nicht-weiße Person wird es einem selbst fast unmöglich, sich mit den Charakteren im Film zu identifizieren, es sei denn, man behauptet sich selbst als weiße Zuschauer*in. Im Falle des Films „Nachbarn süß sauer“ verkamen die ‚asiatischen‘ Körper auf der Leinwand allesamt zu Karikaturen einer weißen deutschen Imagination des ‚fernen Ostens‘. Durch die Strategie des gemeinsamen Kommentierens und der Unterbrechung der Filmhandlung anhand bewusst gesetzter Pausen, konnten wir jedoch gemeinsam eine kritische Distanz zum Film gewinnen und besprechen, wie rassistische Bilder im Alltag zirkulieren und reproduziert werden. Initiativen wie etwa das BAFNET haben sich aufgrund kontinuierlicher Versuche, Verwerfungen und Gespräche innerhalb der lokalen Communities eine sehr pragmatische Expertise erarbeiten können, welche bislang selten von institutioneller Seite aus in Prozesse der interkulturellen Öffnung eingebunden worden ist. Des Weiteren werden solche Projekte nur selten dokumentiert oder theoretisch reflektiert. Dies hat zum einen mit den begrenzten Kapazitäten und Ressourcen der Organisator*innen solcher Initiativen und Projekte zu tun, andererseits aber auch mit deren flüchtigen Charakter. Sofern diese nicht die Möglichkeit erhalten, sich langfristig in selbsterhaltende Strukturen zu entwickeln, ist deren Fortleben abhängig von den einzelnen Personen, die sie initiierten. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Fazit

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Aus einer asiatisch-deutschen Perspektive haben wir nicht nur unsere eigenen Erfahrungen mit exotisierendem Rassismus zentral gestellt, sondern diese auch im Kontext unseres diasporischen, kulturellen und historischen Wissens reflektiert. Denn aus dieser Konstruktion nehmen wir die alltägliche und epistemische Gewalt wahr, der wir bis heute immer wieder begegnen, von der wir ‚unschuldig‘ angegriffen und vor allem reduziert, stigmatisiert und bewertet werden. Gleichzeitig gibt uns die Auseinandersetzung mit den theoretischen postkolonialen und rassismuskritischen Analysen und den jeweiligen historischen Voraussetzungen eine Vielfalt an Möglichkeiten uns selbst zu begreifen, zu erfinden und zu widerständigen Subjekten zu werden. So haben wir lange in unserer Gruppe darüber diskutiert, dass wir als Betroffene zu Exotisierung und Rassismus angefragt worden sind, einen Beitrag hierzu zu verfassen – wohlwissend um die widersprüchlichen Grenzen von Identität – aber auch wissend um unsere Politisierungserfahrung aufgrund uns zugeschriebener Identitäten. Vor diesem Hintergrund sind es zwei Felder, die wir aus Perspektive der Selbstorganisation für relevant halten  – Kulturpolitik und bildungspolitische Arbeit. Denn Kulturarbeit kann als Feld des Empowerments für marginalisierte, stigmatisierte und rassifizierte Gruppen wirken und neue Erzählungen, andere Perspektiven auf gewohnte Geschichten und neue gemeinsame Erzählungen produzieren. In diese Kulturarbeit kann historisches globales Lernen einfließen, sowie es auch in das rassismuskritische schulische Lehren und Lernen einfließen kann. Gerade in den Schulen treffen vielfältige Identitäten aufeinander und bilden eigene und gemeinsame Identitäten heraus. Der respektvolle und kritische Prozess von Identitätsaushandlung als diasporische Subjekte gehört unserer Ansicht nach in die Schulen, um sich nicht nur als gegenseitig Andere zu identifizieren, sondern den pluralen Perspektivenwechsel einzuüben und darin das Gemeinsame zu erleben. Schulen sollten Orte werden, die Möglichkeiten zur Selbstbestimmung eröffnen, die quer zu den Migrations- und Herkunftsgeschichten liegen und nicht schablonenhafte nationale Identitäten auf die Schüler*innenschaft überstülpen. Gerade jungen Menschen, die hier in Deutschland leben, sollten Chancen und Möglichkeiten in Schulen gegeben werden, sich selbst auszuprobieren und eigene Geschichten und Identitäten zu entwickeln, die über die Position des ‚zwischen den Stühlen‘-Sitzens hinausgehen. Schule sollte junge Menschen als demokratische Bürger_innen begreifen und selbst-bewusst bilden.

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Hierfür ist es nötig, Konzepte und Formen der rassismuskritischen Bildungsarbeit in die Lehrpläne und Ausbildung der Lehrer_innen zu erarbeiten und umzusetzen. Diskriminierungssensibilität sowie politisches und historisches Wissen sind nötig, um die Komplexität und Verwicklung historisch-globaler Situationen in ihrer Relevanz für heutige europäische Gesellschaften zu begreifen. In verschiedenen Formaten könnte dieser Ansatz umgesetzt werden, wie Geschichtswerkstätten in Schulen zur Verwobenheit von diasporischen Geschichten und marginalisierten Subjekten, oder intersektionale Projektwochen zu asiatisch (weit gedacht!) deutscher Geschichte, oder die medienpädagogische Erarbeitung zu kulturalisierenden Bildern und Narrativen in Fernsehserien, Filmen und popkulturellen Formaten im Ethikunterricht. Für Praktiker_innen in Bildungskontexten ist es daher wichtig eigene Bilder und Narrative zu reflektieren: sowohl in den Materialien und Medien, die sie in ihrer politischen Bildungspraxis einsetzen, als auch die Bilder, die sie selbst im Kopf haben. Daher wäre es sinnvoll, gemeinsam mit den Adressat*innen von Bildungsangeboten niedrigschwellige medien- und repräsentationskritische (postkoloniale) Analysebrillen zu erarbeiten und zu entwickeln. Das ist auch mit jüngeren Personen möglich, wenn man die Arbeit alters- und zielgruppengerecht vorbereitet. So können zum Beispiel Filme und Werbeplakate gemeinsam angeschaut und zu Gegenständen weiterführender Diskussionen gemacht werden; anhand von Reflexions- und Beobachtungsaufgaben kann dabei rassismuskritisches Denken eingeübt werden. Dafür ist das Verstehen und Kennenlernen historisch gewachsener Bild-/Erzähltraditionen relevant, damit Adressat_innen ihre Beobachtungen und Erfahrungen in einen sozialen, politischen und lebensweltlichen Kontext setzen können. Zugleich wäre es sinnvoll, Räume der Selbstorganisation für diejenigen bereit zu stellen, die von rassifizierender/ethnisierender Stigmatisierung und Diskriminierung betroffen sind, um sich auszutauschen und zu stärken. Gerade in Zeiten der gesellschaftlichen Krisen, wie unter den Bedingungen der Pandemie, zeigt sich, dass rassistische Wissensbestände schnell abrufbar und mobilisierbar sind – und aus einer unterschwelligen Gefährdungslage nun eine offensichtliche machen. Daher plädieren wir vor allem dafür, diesen im Kontext rassismuskritischer Analysen zu verstehen und fordern daher eine aktive positive Entwicklung hin zu einer pluralen Schule, in der die Realität und Vielfältigkeit der betroffenen Kinder und Jugendlicher anerkannt wird und zugleich die Routinen der rassistischen Diskriminierung, ethnisierender Stigmatisierung und kulturalisierender Veränderung unterbrochen werden.

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Fallon Tiffany Cabral, Kerti Puni-Specht, Tran Thu Trang, Noa K. Ha

Literatur Abdel-Magied, Yasmin (2017): I Tried to Fight Racism by Being a „Model Minority“ – and Then It Backfired. I’m no longer interested in centering those who refuse to see my humanity. In: Teen Vogue, https://www.teenvogue.com/story/fight-racism-model-minority-yassmin-abdel -magied (letzter Zugriff: 16.01.2018). Attia, Iman (2012): Konstruktionen mit realen Folgen. Rassismus ist kein Vorurteil, sondern ein gesellschaftliches Machtverhältnis. In: Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag e. V. (Hg.): Wer andern einen Brunnen gräbt … Rassismuskritik/Empowerment/Globaler Kontext. Berlin, S. 12 – 13. Bax, Daniel (2012): „Rostock ist ein Trauma“. Interview mit Kien Nghi Ha. In: taz vom 20.08.2012, http://www.taz.de/!5086216/ (letzter Zugriff: 28.01.2018). Bendix, Daniel/Danielzik, Chandra-Milena (2013): Barcardi-Feeling und Entwicklungsauftrag. Zum Zusammenhang von Exotismus und Entwicklungszusammenarbeit. In: Berliner EntDas Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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wicklungspolitischer Ratschlag e. V. (Hg.): Develop-mental Turn. Neue Beiträge zu einer rassismuskritischen entwicklungspolitischen Bildungs- und Projektarbeit. Berlin, S. 36 – 38.

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Kulturproduktion und Selbstorganisierung

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Teil IV Exkurs und Widerstand

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Intersektionalität von Rassismus, gender und sexueller Orientierung aus der Theorie- und Praxisperspektive ZÜLFUKAR ÇETIN

Einführung in die Intersektionalität

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Einführung in die Intersektionalität

Kimberlé Crenshaw, US-amerikanische Schwarz-feministische Juristin und Theoretikerin, die den Begriff der Intersektionalität in die wissenschaftliche Debatte einbrachte, nimmt den Buchtitel „Alle Frauen sind weiß, alle Schwarzen sind Männer, einige von uns aber sind mutig“ (Hull et al. 1982) zum Ausgangspunkt, um einen Schwarzen Feminismus (weiter) zu entwickeln und die Eindimensionalität von Antidiskriminierungsrecht und -politik in den USA zu kritisieren. Ein Hauptargument ihrer Kritik ist, dass ‚Geschlecht‘ und ‚Race/Ethnizität‘ in den antidiskriminierungspolitischen Bereichen als zwei Kategorien betrachtet werden, die sich gegenseitig ausschließen würden. Um ihre Kritik zu veranschaulichen, analysiert Crenshaw sowohl feministische Theorien, als auch antirassistische Theorien und Praktiken (vgl. Crenshaw 2013). Dabei stellt sie fest, dass in jedem der beiden Bereiche jeweils bestimmte Subjekte entweder vergessen oder ausgeblendet werden. Zum Beispiel wurden/werden in der feministischen Theorie meist die Diskriminierungserfahrungen von weißen Frauen thematisiert. In der rassismuskritischen Theorie hingegen ging/geht es in erster Linie um die Rassismuserfahrungen Schwarzer Männer. Beide Bereiche fokussieren also auf Subjekte, die in ihrer Gesellschaftlichkeit Privilegien besitzen: weiße Frauen aufgrund ihres Weißseins, Schwarze Männer aufgrund ihres männlichen Geschlechts. Ausgeblendet werden dabei Schwarze Frauen, die weder in der feministischen noch in der antirassistischen Arbeit berücksichtigt wurden – so die Ergebnisse von Crenshaws juristischen Auseinandersetzungen (vgl. ebd.). Als Beispiel dafür nennt Crenshaw einen Gerichtsfall, in dem fünf Schwarze Frauen im Jahr 1964 aufgrund „betriebsbedingter Entlassungen“ gegen General Motors klagten und die Firma weder für rassistische noch für sexistische Diskriminierung verurteilt wurde. Das Gericht wies die Klage der Schwarzen Arbeiterinnen wegen Sexismus mit dem Argument zurück, dass in der Firma © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Zülfukar Çetin

kein Sexismus nachgewiesen werden kann, weil dort weiterhin [weiße] Frauen beschäftigt werden, die nicht von Kündigungen betroffen sind. Das Gericht lehnte auch die Klage wegen rassistischer Diskriminierung ab, weil General Motors nachweisen konnte, dass sie im Betrieb auch Schwarze Männer beschäftigten, die nicht von Kündigungen betroffen waren (vgl. ebd.). Dieser Gerichtsprozess zeigt auf, dass Schwarze Frauen mindestens auf zwei Ebenen diskriminiert werden: Auf der einen Ebene werden sie nicht als Repräsentant_innen eines Geschlechts – also als Frau – an/erkannt. Auf der zweiten Ebene wird ihnen der Repräsentationsanspruch als Schwarze abgesprochen. Weder ihre Erfahrungen mit Sexismus noch mit Rassismus werden vom Gericht anerkannt, weil in der Firma sowohl weiße Frauen, als auch Schwarze Männer weiterbeschäftigt worden sind und damit argumentiert werden konnte, dass General Motor gegen die Schwarze Frauen weder rassistisch noch sexistisch agiert hätte (vgl. ebd.). Die Entscheidungen des Gerichts in diesem Fall basierten auf dem Civil Rights Act von 1964, dem damaligen Bürgerrechtsgesetz, das rassistische Diskriminierung im öffentlichen Raum bekämpfen sollte, jedoch keinen Schutz vor kombinierten, mehrdimensionalen bzw. intersektionalen Diskriminierungen bot. Auch wenn der Begriff der Intersektionalität erstmalig von Crenshaw formuliert wurde, setzten sich lange Zeit vor ihr queer-feministische Schwarze Frauen und Women of Color in den USA mit mehrdimensionalen bzw. intersektionalen Diskriminierungen auseinander. Angela Davis (1982) beispielsweise beschäftigte sich bereits Ende der 1970er und Anfang 1980er Jahre in ihrer Arbeit Rassismus, Sexismus, und Klassenkampf in den USA ausführlich mit den Erfahrungen, die Schwarze Frauen mit Rassismus, Sexismus und klassenbedingten Ausschlusspraxen in einer sich als zivilisiert verstehenden US-amerikanischen Gesellschaft machten. In dem o. g. Buch zeichnet Davis zum einen die Geschichte der Schwarzen Frauenbewegung nach, zum anderen kontextualisiert sie diese Schwarz-feministische Bewegungsgeschichte mit der Sklaverei, in der die Schwarze Frau aufgrund ihres Status als Frau, Schwarz und Sklavin rassistischer, kolonial-kapitalistischer und sexistischer Ausbeutung ausgeliefert war. Auch zeigt Davis, dass Schwarze Frauen wegen des Rassismus und der Klassenverhältnisse andere Diskriminierungserfahrungen machen als weiße Frauen. Mehrdimensionalen Diskriminierungsmechanismen begegnet man heute auch in Deutschland. Am Beispiel von Frauen und Queers1 mit Rassismuserfahrun1

Mit dem Begriff „Queer“ meine ich nicht die Sammelbezeichnung bzw. Akronym LSBTI*Q*, sondern ein Konzept der mehrdimensionalen Diskriminierung, die sich in

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gen, die in der weißen Dominanzgesellschaft kaum repräsentiert sind, lässt sich das Phänomen der mehrdimensionalen bzw. intersektionalen Diskriminierung erklären.

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Mehrdimensional und/oder intersektional?

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Einführung in die Intersektionalität

Kimberlé Crenshaw, Angela Davis, Maisha Auma, Peggy Pische und viele andere Schwarz-feministische Theoretiker_innen und Forscher_innen of Color betonen in ihren praxis- und communitybasierten Forschungen, dass Menschen nicht einfach als Repräsentant_innen einer spezifischen Gruppe betrachtet werden können. Ihnen zufolge besitzt jeder Mensch • ein (soziales) Geschlecht, • eine sexuelle Orientierung; auch die Heterosexualität muss als solche betrachtet werden, • einen sozialen Hintergrund oder Status, • einen Körper, der in den Mehrheitsgesellschaften als konform oder nonkonform eingestuft wird, • eine körperliche oder psychische Verfassung, die wiederum als nützlich (gesund) oder als nicht nützlich (nicht-gesund) usw. eingeordnet wird, • ein Alter, das für den Zugang zu Bildung, zum Gesundheitswesen, zur Arbeit usw. entscheidend ist (vgl. Çetin 2014). Zudem gibt es Menschen, die aufgrund ihrer (vorhandenen oder zugeschriebenen) Religionszugehörigkeit, ihrer (nicht privilegierten) Staatsangehörigkeit, ihres (unsicheren) Aufenthaltsstatus, ihrer Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit von mehrdimensionalen Diskriminierungen betroffen sind. Das Beispiel der Schwarzen Frauen, die vergeblich gegen General Motors klagten, lässt sich auf die bundesrepublikanische Gesellschaft übertragen: Immer wieder erfahren Queers of Color nicht nur wegen ihrer sexuellen Orientierung, sondern auch aufgrund ihrer imaginierten oder faktischen Herkunft, ihres Namens, ihrer (zugeschriebenen) Religionszugehörigkeit, ihres sozialen und aufenthaltsrechtlichen Status und ihrer Staatsbürgerschaft Ausschluss. Die jeweiligen Diskriminierungsformen, -gründe und -orte sind so ineinander verwoben, dass man zwangsläufig von unterschiedlichen Diskriminierungsdimensionen im gesellschaftlichen System sprechen muss.

Verwobenheit von Rassismus, Sexismus, klassenspezifischen Machverhältnissen, körperbezogenen Diskriminierung sowie Homo- und Transfeindlichkeit manifestiert.

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Zülfukar Çetin

Das folgende von Crenshaw (vgl. 2013) entwickelte Modell einer ‚Kreuzung‘ als Metapher für intersektionale Diskriminierung versinnbildlicht die Lebensrealitäten von Menschen, die dieser mehrdimensionalen/intersektionalen Diskriminierung ausgesetzt sind. Demnach kann von Diskriminierung – metaphorisch dargestellt als Unfall auf einer Kreuzung von vier Straßen  – jede/r aus jeder Richtung betroffen sein: • eine Straße symbolisiert die Homophobie, • eine andere Straße den Rassismus, • eine weitere Straße den sozialen Status und • die letzte Straße den Sexismus. Vor diesem historischen und theoretischen Hintergrund kann Intersektionalität als Überschneidung definiert werden – eine Metapher, die die Wechselwirkungen und das Zusammenwirken zwischen zwei oder mehreren unterschiedlichen Kategorien symbolisieren soll. In den Sozialwissenschaften sind mit diesen Kategorien in erster Linie verschiedenen Machtdimensionen wie heteronormative, ökonomische und rassistische Machtverhältnisse gemeint, die in der Gesellschaft strukturierend wirken: rassistische und religiöse Dominanz, Heterosexismus und Heteronormativität, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, Alten und Kindern. Des Weiteren sind Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Regionen relevant, wie die zwischen Stadt und Land, zwischen verschiedenen Nationalitäten oder auch globalen Regionen etc. (vgl. Rommelspacher 2009). Durch die Kombination von verschiedenen Zugehörigkeiten sind Menschen häufig von mehreren Diskriminierungen betroffen. Sie befinden sich immer an verschiedenen Schnittstellen von Identitäten und Diskriminierungen (vgl. LesMigras 2010). Der Antidiskriminierungsverband Deutschland (advd), ein bundesweiter Zusammenschluss von mehreren Beratungsstellen, die Betroffene rassistischer, rechter, antisemitischer, sexistischer, homo- und transphober sowie behindertenfeindlicher Diskriminierungen unterstützen, konstatiert, dass „Menschen aufgrund ihrer rassifizierten Herkunft, ihrer Nationalität, ihrer Sprache, ihres Aufenthaltsstatus, ihrer Hautfarbe2 oder äußeren Erscheinung, ihres Geschlechts, ihrer Religion und Weltanschauung, ihres sozialen Status, ihres Familienstandes, ihrer Behinderung, ihres Alters oder ihrer sexuellen Identität Diskriminierungen erfahren (können). Auch können Menschen von Diskriminierung betroffen sein, weil sich mehrere dieser Merkmale in ein und derselben Person verbinden“ (advd 2

Vgl. differenziert Arndt 2017.

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Einführung in die Intersektionalität

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2009, 5). Menschen erfahren also aufgrund unterschiedlicher zugeschriebener und/oder tatsächlicher Merkmale Diskriminierungen, die vor allem mit der Macht des Diskurses zusammenhängen. Im hegemonialen heteronormativen und rassistischen Diskurs geht es offensichtlich häufig darum, rassifizierte Zugehörigkeiten, Geschlechter und Körper zu konstruieren. All diese Konstruktionen führen zur intersektionalen Diskriminierung der „unerwünschten“ Menschen, die als Gegensatz zu einer (homogenen) (Dominanz-)Gesellschaft gedacht werden. Durch die intersektionalen Diskriminierungen werden Menschen auf verschiedene Art und Weise sowohl strukturell als auch institutionell ausgegrenzt, benachteiligt und herabgewürdigt. Diese Diskriminierungen entstehen oft vor dem Hintergrund gesellschaftlicher, historischer, politischer und kultureller Zusammenhänge, wie Rassismus und Kolonialismus, die auch andere Formen der Diskriminierung, wie Sexismus und Heteronormativität, beinhalten. Angelehnt an Crenshaw kann das Konzept der Intersektionalität wie folgt zusammengefasst werden: Der Begriff Intersektionalität (intersectionalty) meint metaphorisch eine „Kreuzung“, in der sich mehrere Machtverhältnisse, die diverse Formen der Diskriminierung erzeugen, überschneiden. Nach diesem Konzept bedingen, beeinflussen und verstärken sich Machtbeziehungen gegenseitig und verursachen mehrdimensionale Diskriminierungen. Beispielsweise können einer Person aus mehreren Gründen bestimmte negative Merkmale zugeschrieben werden, wodurch diese Person gesellschaftliche Ausschlüsse erfährt. Eine Person, der eine muslimische Zugehörigkeit (Kulturalisierung), die Angehörigkeit einer vermeintlichen „Rasse“ (Rassifizierung/Naturalisierung), Leistungsunfähigkeit aufgrund körperlicher Konstitution (Ableism), ein Geschlecht (Sexismus) oder eine sexuelle Orientierung (Heteronormativität) zugeschrieben wird, erfährt Diskriminierung. Diese Diskriminierungen finden auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Weisen statt: Zu den Ebenen der Diskriminierungen zählen vor allem die strukturellen, institutionellen und alltäglichen Diskriminierungen. Sie können direkt/indirekt, offen/subtil, bewusst/unbewusst vollzogen werden. Bei allen diesen Formen und Ebenen der Diskriminierung können sich unterschiedliche Machtverhältnisse überschneiden bzw. sich gegenseitig beeinflussen. Der Grund dafür ist, dass in Gesellschaften, die möglichst homogen bleiben wollen bzw. sollen (christlich-westlich, weiß und mittelständig), immer ‚die Unerwünschten‘ reproduziert und dadurch auch ihre Ausschlüsse legitimiert werden. Das Beispiel der Debatte um eine so genannte deutsche Leitkultur zeigt die Unterscheidung zwischen Erwünschten und Unerwünschten bzw. Zugehörigen und Nicht-Zugehörigen plastisch auf. Eine solche Diskussion dient zum einen zur Durchsetzung der Idee einer homogenen Dominanzgesell© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Zülfukar Çetin

schaft, zum anderen erschwert sie, dass sich eine heterogene bzw. plurale Gesellschaftsvorstellung etabliert. Durch die (mehrdimensionalen) Diskriminierungen der unerwünschten Anderen werden die Privilegien der Angehörigen der weißen Dominanzgesellschaft gesichert, um die sich beispielsweise die AfDWähler*innen und PEGIDA-Sympathisant*innen sorgen. Auch am Beispiel des Racial Profiling bzw. der so genannten „verdachtsunabhängigen“ Polizeikontrollen in urbanen Räumen lassen sich die Intersektionen von unterschiedlichen Machtverhältnissen beobachten. Betroffene sind oft junge Schwarze oder Männer of Color, denen muslimische Zugehörigkeit, Gewaltbereitschaft, Kriminalität und Terrorismus zugeschrieben wird. Hier überlappen sich Kategorien wie Alter (jung), Konstruktion von Fremd- und Andersartigkeit (Schwarz oder Person of Color), zugeschriebene Religionszugehörigkeit (Moslem), Geschlecht (Männlich) und sexuelle Orientierung (heterosexuelle Männlichkeit). Dieses Beispiel zeigt, dass intersektionale Diskriminierungen nicht nur Frauen und Queers of Color betreffen, sondern auch diejenigen, die nicht einer konstruierten deutschen Leitkultur, die sich als westlich, christlich, heteronormativ, mittelständig und/oder wohlhabend und weiß versteht, entsprechen. Wichtig ist in solchen Fällen, dass die diskriminierenden Personen oder Stellen sich zunächst darüber bewusst werden oder dass es ihnen bewusst gemacht wird, dass sie für die Diskriminierung verantwortlich sind und sich zu ihren Diskriminierungshandlungen bekennen bzw. verhalten müssen, was oft nicht leicht fällt (vgl. Çetin 2014). An diesem Punkt, so Crenshaw und viele andere Schwarz-feministische Theoretiker_innen und Forscher_innen of Color, mobilisieren die mehrdimensional Diskriminierten ihre Kräfte aktivistisch, wissenschaftlich, juristisch, um die Diskriminierungen sichtbar zu machen und andere zu ermutigen, sich dagegen zu wehren, so wie es der zweite Teil des einleitenden Satzes: „… aber einige von uns sind mutig“ zum Ausdruck bringt.

Ansätze zur Intersektionalität Auf der wissenschaftlichen Ebene ist der Ansatz der Intersektionalität als Analysemethode zu betrachten, die die Überschneidung, Überlappung, Zusammenund Wechselwirkung unterschiedlicher Dominanzverhältnisse berücksichtigt. Sozialwissenschaftler*innen, die sich mit den spezifischen Formen von Diskriminierungen auseinandersetzen, sollen sich Theorien und Berichte über Praktiken gesamtgesellschaftlicher Machtverhältnisse aus unterschiedlichen Perspektiven aneignen. Die Analyse intersektionaler Diskriminierung verlangt darüber  hinaus nicht nur die theoretische Beschäftigung mit Intersektionalität, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Macht(-beziehungen), Rassismus, Heteronormativität etc. Zusätzlich sollen qualitative Forschungsprojekte durchgeführt werden, die partizipatorisch konzipiert sind und in denen die Betroffenen unterschiedlicher Formen intersektionaler Diskriminierungen zu Wort kommen. Damit können direkte/indirekte, offene/subtile, bewusste/unbewusste intersektionale Diskriminierungen auf den strukturellen, institutionellen und alltäglichen Ebenen aus der Perspektive der Betroffenen und der kritisch Forschenden analysiert und sichtbar gemacht werden. Auf der Ebene der Gesellschaftskritik kann der Ansatz der Intersektionalität als eine Sichtbarkeitspolitik betrachtet werden, die die (ignorierten oder nicht gesehenen) Ausschlusspraxen sichtbar macht und die verfestigten Dominanzverhältnisse destabilisiert.

Intersektionalität als Forschungsansatz Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Einführung in die Intersektionalität

Der Grundgedanke intersektionaler Diskriminierung erfordert die Einsicht in die intersektionelle Identität aller Menschen. In der Sozialforschung wird oft von der Triade Rassismus, Heteronormativiät und klassenbedingter Diskriminierung und deren kontext- und situationsabhängigen Verwobenheit ausgegangen (vgl. Rommelspacher 2009). Anstelle von eindimensionalen und additiven Perspektiven sollen die Zusammen- und Wechselverhältnisse von unterschiedlichen Machtbeziehungen untersucht werden. Das Forschungsfeld bzw. der Gegenstand von Intersektionalität sind deshalb ausschließlich Macht-, Herrschafts- und Normierungsverhältnisse, die soziale Strukturen, Praktiken und Identitäten reproduzieren und dabei asymmetrische Beziehungen in der Gesellschaft zementieren (ebd.). Leslie McCall zufolge gibt es in diesem Zusammenhang drei Forschungsansätze bzw. -zugänge zur intersektionalen Diskriminierung (vgl. Walgenbach 2012): 1. Der intrakategoriale Ansatz zielt auf die Analyse der Differenzen innerhalb einer Kategorie. Mit diesem Ansatz werden Fragen von Differenz und Ungleichheit innerhalb einer Kategorie untersucht. Für eine gendergerechte Antidiskriminierungsarbeit heißt das, in der Kategorie Gender interne Differenzen wahrzunehmen und diese zu berücksichtigen (ebd.). Am Beispiel des weißen Feminismus zeigt sich, dass die Kategorie ‚Frau‘, die in einem westlich-christlichen Kontext entweder zusätzlich als muslimisch oder als Migrantin markiert wird, mit unterschiedlichen Zuschreibungen gewertet und in einer weißen Dominanzgesellschaft als unterdrückt und unemanzipiert pauschal dis-/klassifiziert wird. Es handelt sich nicht um Einzelfälle, wenn Frauen of Color zum Gegenstand von staatlich geförderten Kampag© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Zülfukar Çetin

nen, Projekten und Forschungen gemacht werden, die oft aus der Perspektive von weißen Feministinnen zum Zweck der Lobbyarbeit oder der Projektakquise durchgeführt werden. Die weiße Frau, die sich als emanzipiert, aufgeklärt und feministisch betrachtet, sieht die nicht-weiße Frau als Gegensatz/Gegenpart zu sich selbst. Folgen solcher Kampagnen und Projekte sind strukturelle und institutionelle Diskriminierungen bei den Behörden, auf dem Arbeitsmarkt und in anderen öffentlichen Räumen der Gesellschaft, von denen Frauen of Color bzw. als muslimisch markierte Frauen am meisten betroffen sind. An diesem Beispiel aus dem intrakategorialen Ansatz ist relevant, dass es aufzeigt, dass Teile der weißen Feministinnen die Kategorie „Frau of Color“ gewollt oder ungewollt als der weißen Frau unterlegen konstruieren und dadurch in kulturalistischer Manier eine „andere Frau“ erfinden. 2. Der interkategoriale Ansatz betrachtet die Zusammen- und Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Kategorien als Forschungsgegenstand. Mit diesem Ansatz lassen sich beispielsweise die Ungleichheitsverhältnisse zwischen Geschlechtern (Frauen, Männern und Transpersonen), zwischen sexuellen Orientierungen (Homo- und Heterosexuellen), zwischen Weißen und Nicht-weißen (BPOC  – Black and People of Color) und zwischen Wohlhabenden und Geringverdienenden systematisch untersuchen und dadurch unterschiedliche Gruppen bilden, die von mehrdimensionalen Diskriminierungen betroffen sind. Es gibt jedoch in der Ungleichheitsforschung bisher keinen Konsens darüber, was mit dem interkategorialen Ansatz genau gemeint ist. Zum Beispiel wird er kritisiert, weil er Menschen oder Menschengruppen auf ein Merkmal zu reduzieren versucht, was auf den ersten Blick reduktionistisch wirkt (vgl. Rommelspacher 2009). Beim genaueren Betrachten zeigt dieser Ansatz aber dahingehend ein besonderes Potential, dass er im Stande ist, die Strukturen der Ungleichheit am Beispiel dualer und noch komplexer Konstruktionen der Differenzkategorien und deren Verwobenheit aufzuzeigen. Mit diesem Analyseansatz können die Diskriminierungserfahrungen von Menschen, die gesellschaftlich unterschiedlich positioniert sind (beispielsweise Frauen of Color im Vergleich zu Männern of Color), verglichen werden. Für einen analytischen Vergleich fordern deshalb Intersektionalitätstheoretiker*innen eine (neue) Gesellschaftstheorie der komplexen Ungleichheitsverhältnisse (vgl. Walgenbach 2012). Eine weitere Kritik an diesem Ansatz betrifft die Ungenauigkeit dessen Intersektionen bzw. die Frage danach, wie die Differenzkategorien genau miteinander verwoben sind und wie die Verschränkung der Diskriminierungskategorien © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Einführung in die Intersektionalität

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durch diesen Analyseansatz untersucht, argumentiert, in Beziehung gesetzt und damit sichtbar gemacht werden kann. Moniert wird, dass mehrdimensionale Diskriminierungen nicht in ihren komplexen Dimensionen und Ebenen einer Analyse unterzogen werden. Die Ungenauigkeit der Intersektionen in diesem Ansatz begünstigt die Reproduktion der Machtverhältnisse, die durch den intersektionalen Ansatz eigentlich destabilisiert werden sollen. 3. Der antikategoriale Ansatz hinterfragt die Konstruktion der sozialen Kategorien, wobei er auf die Wirkmächtigkeit der konstruierten Kategorien im gesellschaftlichen Leben aufmerksam macht. Der antikategoriale Ansatz kann auch als dekonstruktivistischer Ansatz verstanden werden, weil er die sozialen Kategorien bzw. Identitäten als Effekt von Macht-Wissens-Komplexen, die Ausschlüsse produzieren und Subjektivitäten normieren, zurückweist (vgl. Walgenbach 2012). Im antikategorialen Ansatz ist es wichtig, zu betonen, dass einerseits alle Menschen gleich sind, es dennoch Ungleichheiten durch die historisch und politisch hergestellten globalen Kategorien und post-kolonialen Dominanzverhältnisse zwischen Ost und West, Süd und Nord sowie ‚Orient und Okzident‘ gibt. Ein Gedicht von Pat Parker (1978) bringt den antikategorialen Ansatz treffend zum Ausdruck: „für die Weiße, die wissen möchte, wie sie meine Freundin sein kann. Erstens: Vergiss, dass ich schwarz bin. Zweitens: Vergiss nie, dass ich schwarz bin“.

Intersektionalität als politischer Ansatz in der Antidiskriminierungsarbeit Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das im August 2006 verabschiedet wurde, schützt Menschen in den zivil- und arbeitsrechtlichen Bereichen vor Diskriminierung. Es verbietet die Ungleichbehandlung „aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“. Diskriminierungsschutz aufgrund anderer Merkmale wie Armut, Kinderreichtum oder Familienstand sind im Gesetz noch nicht vorgesehen. Das Gesetz sieht zwar den Schutz vor mehrfach- bzw. mehrdimensionalen Diskriminierungen vor, dessen juristische Umsetzung ist allerdings noch problematisch (vgl. Egenberger 2017). So werden Fälle mehrdimensionaler Diskriminierung durch Jurist*innen unterschiedlich ausgelegt und ein konsequenter juristischer Schutz existiert nicht (vgl. ADS 2010 und Bartel/Liebscher/Remus 2017). Neben diesem fehlenden juristischen Verständnis für mehrdimensionale bzw. intersektionale Diskriminierung lässt sich in Deutschland eine eindimensi© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Zülfukar Çetin

onale (merkmalbezogene) Antidiskriminierungsarbeit in der Praxis beobachten. Beispielsweise handelt es sich in der deutschen Anti-Homophobie-Politik vor allem um die Sichtbarmachung von Diskriminierungserfahrungen und um die Durchsetzung der Rechte weiß-deutscher Schwuler. Die Gleichzeitigkeit bei der Betrachtung, Queer und Person of Color zu sein, ist darüber hinaus bisher noch keine Selbstverständlichkeit (vgl. Çetin/Voß 2016). Dies lässt sich auch aus der zivilgesellschaftlichen und staatlichen Antidiskriminierungspolitik, die immer noch keinen mehrdimensionalen Antidiskriminierungsansatz etabliert hat, erklären (vgl. Saadat-Lendle/Çetin 2014). Denn Antidiskriminierungsarbeit in Deutschland ist heute immer noch eindimensional nach dem Entweder-OderPrinzip konzipiert, und so wird sie auch praktiziert. Entsprechend werden sexuelle Orientierung und migrationsbezogene Merkmale als zwei Kategorien betrachtet, die sich entweder gegenseitig ausschließen oder gar im Gegensatz zueinander stehen würden. Auch die staatlich geförderten bzw. finanzierten Beratungsstellen arbeiten nach bestimmten Aufträgen des Staates, der nur für bestimmte diskriminierte Gruppen Handlungsbedarfe und einen Diskriminierungsschutz vorsieht. Der von Wilhelm Heitmeyer entworfene Begriff „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (vgl. Küpper/Zick 2015) repräsentiert diesen eindimensionalen Ansatz. Demnach seien Menschen ausschließlich von einem Diskriminierungsmerkmal betroffen; sie sollen entweder muslimisch (Islamophobie), oder jüdisch (Antisemitismus), homosexuell (Homophobie), Frau (Sexismus) etc. sein, damit ihre Erfahrung mit der jeweiligen Form der Diskriminierung an-/erkannt werden kann. Eine Verflechtung von unterschiedlichen Diskriminierungen – etwa, dass eine Frau jüdisch und gleichzeitig lesbisch sein kann und deshalb mehrdimensionale Diskriminierungen erfahren könnte – wird unzureichend berücksichtigt. So wird die eine oder die andere Diskriminierungsform, der die lesbische, jüdische Frau ausgesetzt ist, außer Acht gelassen. Nicht nur der gesellschaftliche Mainstream und die Gesetzgebung verfolgen einen solchen eindimensionalen Ansatz, sondern auch die Zivilgesellschaft, die sowohl mit dem Staat als auch mit der universitär etablierten Wissenschaft eng zusammenarbeitet. Beispielsweise wurden in einer in den vergangenen Jahren durch den Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) durchgeführten Online-Studie zum Thema „Diskriminierungserfahrungen von Lesben und Schwulen mit Migrationsgeschichte“ die Befragten als Opfer ihrer „migrantischen“ Familien dargestellt (vgl. Saadat-Lendle/Çetin 2014). Darüber hinaus werden sie ermutigt, mehr über ihre Homophobie-Erfahrungen zu sprechen, anstatt die rassistischen Diskriminierungen zu thematisieren (vgl. ebd.). Neben den möglichen Migrationszusammenhängen vieler queerer Personen wird im Main© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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stream auch deren Religionszugehörigkeit oft als Widerspruch zu ihrer sexuellen Orientierung gesehen. Dass es Muslim_innen gibt, die gleichzeitig Queer sind und ihren Glauben mit ihrer sexuellen Orientierung vereinbaren, ist oft kein Thema. Auch in diesem Fall stoßen wir auf die Probleme der eindimensionalen Perspektive. Bei den muslimischen Queers geht es nicht nur um sexuelle Orientierung und konstruierte Ethnizität, sondern auch um die Zugehörigkeit zu einer Religion, deren Angehörige in Deutschland zum Feindbild des „Abendlandes“ gemacht werden. Mit dem intersektionalen Ansatz als gesellschaftspolitischem Instrument kann die Mehrdimensionalität der Diskriminierungen, denen Personen, die sich mit mehr als einem Zugehörigkeitsmerkmal identifizieren, sichtbar gemacht werden. Es ist das Ziel des intersektionalen Ansatz, die Diskriminierung nicht vereinfacht zu thematisieren; vielmehr will er die komplexen Dimensionen der Dominanz- und Machtverhältnisse als Ursachen der vorherrschenden Diskriminierungen problematisieren und sie damit erkenntlich machen.

Literatur ADS (Antidiskriminierungsstelle des Bundes) (2010): Dokumentation des Expert_innen-Workshops vom 16. April 2010, erstellt von Kerstin Kühn, S. 30 – 34, abrufbar unter http://www.an tidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Expertisen/Experti se_Mehrdimensionale_Diskriminierung_jur_Analyse.pdf ?__blob=publicationFile (letzter Zugriff:08.10.2017). ADVD (Antidiskriminierungsverband Deutschland) (Hg.) (2009): Standards für eine qualifizierte Antidiskriminierungsberatung. Abrufbar unter http://www.antidiskriminierung.org/files/ad vd_Eckpunktepapier_Okto-ber%202009_0.pdf (letzter Zugriff: 08.10.2017). AGG (2006): Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897), das zuletzt durch Artikel 8 des Gesetzes vom 3. April 2013 (BGBl. I S. 610) geändert worden ist. Arndt, Susan (2017): Rassismus. Eine viel zu lange Geschichte. In: Fereidooni,Karim/El, Meral (Hg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen. Wiesbaden, S. 29 – 46. Bartel, Daniel/Liebscher, Doris/Remus, Juana (2017): Rassismus vor Gericht: weiße Norm und Schwarzes Wissen im deutschen Recht. In: Fereidooni, Karim/El, Meral (Hg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen. Wiesbaden, S. 361 – 383. Çetin, Zülfukar (2014): Alle Frauen sind weiß, alle Schwarzen sind Männer, einige von uns aber sind mutig. Bericht über den Kongress: ‚Respekt statt Ressentiment. Strategien gegen die neue Welle von Homo– und Transphobie‘. Abrufbar unter https://www.lsvd.de/fileadmin/pics/Bilder/ Veranstaltungen/Kongress/PDF_Dateien/LSVD_2015_Beitrag_von_Dr._Zuelfuekar_Cetin. pdf (letzter Zugriff: 08.10.2017).

© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

Zülfukar Çetin

Çetin, Zülfukar/Voß, Heinz-Jürgen (2016): Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität. Kritische Perspektiven. Gießen. Crenshaw, Kimberlé W. (2013): Die Intersektion von „Rasse“ und Geschlecht demarginalisieren: Eine Schwarze feministische Kritik am Antidiskriminierungsrecht, der feministischen Theorie und der antirassistischen Politik. In: Lutz, Heima/Vivar, Maria Teresa Herrera Vivar/Supik, Linda (Hg.): Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verordnungen eines vielschichtigen Konzeptes. Wiesbaden. Davis, Angela (1982): Rassismus und Sexismus. Schwarze Frauen und Klassenkampf in den USA. Berlin. Egenberger, Vera (2017): Stärkung des Diskriminierungsschutzes in Deutschland am Beispiel des AGG. In: Fereidooni, Karim/El, Meral (Hg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen. Wiesbaden, S. 463 – 475. Hull, Gloria/Bell Scott, Patricia/Barbara Smith (Hg.) (1982): All the Women Are White, All the Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Blacks Are Men, but Some of Us Are Brave. New York.

Küpper, Beate/Zick, Andreas (2015): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Abrufbar unter http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/214192/gruppenbezogene-men schenfeindlichkeit (letzter Zugriff: 08.10.2017). LesMigras (2010): Was ist Mehrfachdiskriminierung? Abrufbar unter http://www.lesmigras.de/tl_ files/lesmigras/kampagne/LesMigraS_Mehrfachdiskriminierung.pdf (letzter Zugriff: 08.10. 2017). Rommelspacher, Birgit (2009): Intersektionalität – über die Wechselwirkung von Machtverhältnissen. In: Kurz-Scherf, Ingrid/Lepperhoff, Julia/Scheele, Alexandra (Hg.): Feminismus. Kritik und Intervention. Münster. Abrufbar unter http://www.birgit-rommelspacher.de/pdfs/ Intersektionalit__t.pdf (letzter Zugriff: 08.10.2017). Parker, Pat (1978): Movement in Black. The Collected Poetry of Pat Parker, 1961 – 1978. Diana Press. Saadat-Lendle, Saideh/Çetin, Zülfukar (2014): Forschung und Soziale Arbeit zu Queer mit Rassismuserfahrungen. In: Forschung im Queerformat. Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung. Bielefeld. Walgenbach, Katharina (2012): Intersektionalität – eine Einführung. Abrufbar unter http://www. portal-intersektionalität.de (letzter Zugriff: 08.10.2017).

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ÖZCAN KARADENIZ, ANNA SABEL

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Rassismuskritische Bildungsarbeit als Gefühlsarbeit

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

Rassismuskritische Bildungsarbeit als Gefühlsarbeit

Rassismus trennt uns. Mich von ihm. Sie von mir. Es ist gar nicht einfach einen gemeinsamen Ton zu finden. Nicht in einem Artikel, in dem es um Gefühle geht, während Rassismus so unterschiedliche Gefühle bei uns auslöst. Den Antrag für unser Projekt1 haben wir 2014 geschrieben. Projekte, die sich mit antimuslimischem Rassismus und Männlichkeiten auseinandergesetzt haben, gab es zu diesem Zeitpunkt beinahe nicht. Das Bild vom ‚muslimischen Mann‘, das lange vorherrschte, war das vom ‚türkischen Patriarchen‘, dem ‚Gastarbeiter‘, der streng über seine Familie regiert. Aber der war alt geworden und sein klappriger Körper hatte an Bedrohlichkeit eingebüßt. Der ‚muslimische Mann‘ in den Köpfen vieler glich mittlerweile den Terroristen von Madrid, London und Moskau. Und während der Terrorismus auch weiß und weiblich auf der Anklagebank des NSU-Prozesses saß, wurde unser Projekt – zu Verflechtungen von Rassismus und Geschlechterbildern – regelmäßig als Islamismuspräventionsprojekt zu buchen versucht. Aus dem Beratungskontext und den Vätergruppen unserer Leipziger Geschäftsstelle wussten wir um die Erfahrungen mit Zuschreibungen, denen viele ‚muslimische‘ und als ‚muslimisch‘ gelesene Männer alltäglich begegneten. Sie erzählten von den ängstlichen Blicken, dem klammernden Griff um Handtaschen in ihrer Nähe und den leeren Plätzen in den Straßenbahnen neben ihnen. Väter berichteten davon, dass ihnen der Umgang mit ihren Kindern erschwert, ihnen Kindeswohlgefährdung vorgeworfen wurde und Entführungsabsichten unterstellt wurden. Wiederkehrend war auch der Vorwurf, sie hätten kein Interesse an ihren Kindern und würden mit rigider Strenge über sie wachen. Die Wahrneh1

Das Projekt „Vaterzeit im Ramadan?!“ wurde als Modellprojekt im Schwerpunkt Islamfeindlichkeit des Bundesprogramms Demokratie leben! vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und durch das Landesprogramm Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz des Freistaates Sachsen gefördert. Das Nachfolgeprojekt „(Un)Sichtbarkeiten in der Migrationsgesellschaft“ setzt sich mit antimuslimischem Rassismus in Medien- und Kulturproduktionen auseinander. Weitere Informationen unter: www.binational-leipzig.de sowie www.vaterzeit.info.

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Özcan Karadeniz, Anna Sabel

mung vieler Fachkräfte, mit denen wir zu tun hatten, war jedoch eine andere. Sie meinten kein spezifisches Bild von ‚muslimischen Männern‘ zu haben.

Gefühle von Bedrohung

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Das änderte sich 2015 mit dem Zuzug einer Vielzahl Geflüchteter.2 Ein Gefühl der Bedrohung griff um sich, noch diffus. Geklärt war nicht einmal, was da bedroht war. Der Wohlstand? Die Ordnung? wurde mit IP-Adresse 139.018.245.255 aus dem Netz der UB Leipzig am Dezember 18, 2022 um 12:52:58 (UTC) heruntergeladen.

Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

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„[Die ständig neu eintreffenden Immigranten] verkörpern den Zusammenbruch der Ordnung (was immer wir unter ‚Ordnung‘ verstehen mögen: einen Zustand, in dem die Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen stabil, also verständlich und vorhersagbar sind, so dass diejenigen, die darin leben, wissen, wie sie sich zu verhalten haben).“ (Bauman 2016, 20) Bedroht war auch das Bild von der eigenen moralischen Überlegenheit. Der hiesige Wohlstand entsteht unweigerlich auch durch globale Ungerechtigkeiten und somit auf Kosten anderer. In ‚unserer‘ Selbstverortung spielt das kaum eine Rolle. Die plötzliche Präsenz von geflüchteten Menschen und ihr Leid forderte das eigene Selbstbild heraus. In der Wohlfühloase des Reichtums und der Privilegien dämmerte einigen, dass ‚ihr‘ Kommen auch was mit ‚uns‘ zu tun haben könnte. Dann (beinah will man sagen: endlich) kam ‚Köln‘. Das Gefühl von Souveränitätsverlust fand seinen legitimen Anlass, um einen Aufschrei zu generieren. Endlich durfte das Gefühl der Bedrohung offen ausgesprochen werden, denn bedroht waren, so ließ sich jetzt behaupten, ‚unsere Frauen‘. Fortan diente ‚Köln‘ als Referenzpunkt schlechthin. Allenthalben wurde die Sorge artikuliert, dass ‚unsere‘ Werte bedroht sind. Dabei richtete sich der Fokus auf junge männliche ‚Muslime‘ und ihre vermeintlich barbarische und unzivilisierte Sexualität. „Die überdimensionierte Diskursexplosion, die den sogenannten „Sex-Mob“ in Köln begleitete, erklärt sich aus der Tatsache, dass mit dem „muslimischen übergriffigen Geflüchteten“ eine Figuration gefunden worden ist, gegen die sich ein diffuses Unbehagen mobilisieren kann. Dieses „Finden“ ist nur möglich, weil das Er2

Im Jahr 2015 wurden zunächst knapp 1,1 Mio. Geflüchtete in Deutschland registriert. Da es bei der Erfassung zu Fehl- und Doppelerfassungen kam, wurde die Zahl Ende September 2016 auf 890.000 korrigiert. Weiterreisende o. ä. wurden dabei nicht erfasst. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurden im Jahr 2015 476.649 formelle Asylanträge gestellt, davon etwa 442.000 als Erstanträge. Vgl. hierzu die Jahresbilanz 2015 in der Asylgeschäftsstatistik des BAMF.

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eignis auf eine „Interpretative Community“ (Fish 1980) getroffen ist, die auf das Verständnis einer sexualpolitischen Abwehrfigur geeicht ist. […] Das Ereignis Köln hätte also keine Wirkungsmacht und keinen exemplarischen Wahrheitscharakter gehabt, wenn es nicht durch die schon vorhandene Wissensordnung einer sexualpolitischen Islamkritik gefiltert worden wäre.“ (Dietze 2017, 283)

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

Rassismuskritische Bildungsarbeit als Gefühlsarbeit

Die Nachfrage nach unserem Angebot wuchs ebenso wie die Enttäuschung darüber, dass wir nicht durch ‚kultursensible‘ Workshops mit neu zugezogenen ‚muslimischen‘ Männern zu deren ‚Integration‘ beitrugen. Zugleich begegneten wir vielen Personen, die nun erstmals vermehrt mit Menschen arbeiteten, die sie als ‚anders‘ entschlüsselten, und doch sensibel genug waren zu spüren „da passiert was in mir“. In unseren Weiterbildungen suchten viele nach Raum sich selbst zu reflektieren und andere lediglich nach Verhaltensregeln im Umgang mit ‚dem muslimischen Mann‘.

Erschütterung von Gewissheiten Spüren wir in die dahinterliegende Verunsicherung. Damit lässt sich arbeiten. Mit der Erschütterung von Gewissheiten. Ärgerlich selbstverständlich, dass sich die Verunsicherung nicht nur in höheren Teilnehmenden unserer Workshops äußerte. Lauter waren Pegida und Legida. Gerade erst hat die AfD bei den Bundestagswahlen 27 % der Stimmen in Sachsen erhalten und ist damit stärkste Partei geworden. In einer solchen Atmosphäre zu arbeiten macht was mit uns. Es lässt uns herausfallen aus der durch Lektüre rassismuskritischer Wissenschaftler*innen wie Mecheril gewonnenen Überzeugung, dass es nicht Ziel unserer Arbeit ist, das interkulturelle Paradigma zu bedienen und „zu mehr Toleranz, zu mehr Freundlichkeit und Achtsamkeit im Umgang mit dem Fremden und Anderen bei[zu]tragen“ (Mecheril 2015, 9). Manchmal, montags in Leipzig scheint Freundlichkeit eben doch sehr viel zu sein.3 Rassismuskritische Bildungsarbeit kann frustrierend sein. Und doch, in Sachsen tut sich was. Vielleicht sogar mehr als anderswo. Und vielleicht auf eine Art, die grundlegender ist. Durch die Brü3

Ab Mitte der 1980er Jahre fanden in Leipzig montags die Friedensgebete statt, die sich mit der Zeit zu systemkritischen politischen Veranstaltungen entwickelten und das Ende der DDR einläuteten. Die rassistische Pegida-Bewegung versuchte sich durch Anleihen an die DDR-Bürgerrechtsbewegung zu legitimieren. Ihre Aufmärsche fanden ebenfalls montags statt, u. a. griffen sie auch den Schlachtruf „Wir sind das Volk!“ auf. Viele Menschen in Dresden und Leipzig gingen aus Angst vor rassistischen Übergriffen montags nicht aus dem Haus oder mieden zumindest die Innenstadt.

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Özcan Karadeniz, Anna Sabel

che in den historischen Erzählungen, in dem identitätsstiftenden Überbau, sind die dominanten Kulturmuster fragil und bieten damit Anknüpfungspunkte und Hebel zur rassismuskritischen Reflexion von tradierten Selbst- und Fremdbildern. In den alten Bundesländern kommen die Entwürfe des kollektiven Selbst hingegen aufgeklärter, legitimer, bisweilen freundlicher und achtsamer daher und sind damit schwerer zu erschüttern. Viele Menschen mit DDR-Hintergrund haben ein Verständnis für die alltägliche und subtile Wirkungsweise ungleicher Machtverhältnisse und Diskurse. Frauen umso mehr. Viele als Frauen in Gesellschaft verortete Menschen sind durch ihr tägliches Erleben für geschlechtsspezifische Ungleichheitsverhältnisse sensibilisiert. Rassismus zu verstehen, ist auf Basis einer solchen Sensibilität für Macht und Ungleichheit, so könnte man meinen, gar nicht mehr so schwer. Gerade an dieser Stelle aber, an der Geschlechterhierarchien zum Thema werden, wird es emotional und damit kompliziert. „Hier hört Toleranz auf“, sagen immer wieder Menschen in unseren Weiterbildungen und stemmen ihre Hände in die Hüften. Da ist es an uns dieses ‚hier‘ oder auch den verwendeten Toleranzbegriff zu beleuchten. Schon lange wird die Bedrohung der weißen Frau durch den ‚anderen‘ Mann inszeniert, um rassistische Narrative abzusichern.4 Bilder weißer Frauen in Missbrauchsszenen finden sich im Propagandamaterial gegen die Rheinbesetzung durch französische Kolonialsoldaten nach dem 1. Weltkrieg ebenso wie in der nationalsozialistischen Hetze. Zeitungsbilder aus dem Jahr 2016 zeigen bedrohte nackte Frauenkörper in weiß und bedrohende Hände in schwarz.5 In einem unserer Workshopmodule erarbeiten die Teilnehmenden an diesen Beispielen mit Leichtigkeit die Sexualisierung des weiblichen Körpers, die Inszenierung der Frau als wehrloses Opfer und die Projektion sexueller Gewalttätigkeit auf den ‚anderen‘ Mann mit Rückgriff auf alte rassistische Bilder. „In letzter Zeit werden ungerechte oder gewalttätige Verhältnisse zwischen den Geschlechtern kaum noch hinsichtlich der weißen – nach wie vor über Abstammung definierten – deutschen Gesellschaft diskutiert, sondern in erster Linie auf die muslimische Minderheit projiziert.“ (Messerschmidt 2016, 163)

4 5

Das heißt nicht, dass es keine sexuelle Gewalt von muslimischen Männern ohne deutsche Staatsbürgerschaft gegenüber Frauen mit deutscher Staatsbürgerschaft gegeben hat. Siehe u. a. Titelbild der Focus Ausgabe vom 08.01.2016.

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#Metoo hat sexuellen Machtmissbrauch im beruflichen Kontext öffentlich gemacht. Wenig thematisiert bleiben weiterhin bspw. ungleiche Bezahlungen von Frauen und Männern, die sexistische Vermarktung der Leistungen von Frauen (wie z. B. die sexualisierten Kleidervorschriften für Spitzensportlerinnen), die dem männlichen Blick genügen soll, oder die tägliche häusliche Gewalt weißer Männer gegen ‚ihre‘ weißen Frauen. Köln hingegen war in aller Munde, so dass der Name einer westdeutschen Stadt mittlerweile als Chiffre für die sexuelle Gefahr durch den kulturell fremden Mann benutzt werden kann, die weit über tatsächliche Gewalttaten am Silvesterabend 2015/2016 hinausgeht.

Legitimation von Ängsten

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„Das vordergründige Interesse Weißer Männer für feministische Anliegen wie sexualisierte Gewalt oder Frauenbefreiung dient […] der Legitimation rassistischer und kolonialer Herrschaft“ (Walgenbach 2005, 40). Die Instrumentalisierung der Ereignisse in Köln für eine rassistische Debatte ist leicht durchschaubar, wenn sich männliche CSU-Politiker zu Wort melden und sich auf einmal feministisch geben. Aber die sitzen ja nicht in unseren Workshops. Stattdessen sitzen dort immer wieder Frauen, die über ihre Ängste sprechen. Sie verstehen, dass es offensichtlich eine Ignoranz großer Teile der weißen deutschen Gesellschaft gegenüber vertrauten Sexismen gibt und dass das Focus-Cover sich in eine Historie rassistisch-sexistischer Bilder einreiht. Aber sie fühlen ungleich schwerer, dass sich ihre Emotionen in eine weiße, alles andere als unschuldige Gefühlsgeschichte einreihen. Die Gefühle sind nicht nur ihre, ganz persönlichen. Sie kommen von irgendwo her. Sind möglicherweise Teil ihrer Vergeschlechtlichung und Rassifizierung. Dies sind die Momente in Workshops, in denen bei einigen die Kruste aufbricht und es nicht mehr um ein Gegeneinanderstellen von zu den Diskursen gehörenden Argumenten und Bildern geht. Unser Methodenkoffer hilft uns in diesem Stadium eines Workshops nicht mehr, stattdessen vertrauen wir darauf, dass bis zu diesem Zeitpunkt Gruppenprozesse vollzogen wurden, die es ermöglichen, dass Schmerzen und Scham gefühlt werden können. Das sind Momente in denen Räume entstehen, in denen die Workshopteilnehmenden und wir üben können nicht auf altbewährte rassistische Reflexe zurückzugreifen und stattdessen den Schmerz auszuhalten, der mit Vergeschlechtlichung, Hierarchien und sexueller Gewalt in Gesellschaft und im eigenen Leben einhergeht. Es sind aber auch die Momente, in denen einem eine Weiterbildung um die Ohren fliegen kann. Erst recht wenn, was selten der Fall ist, tatsächliche Übergriffserfahrungen durch Zugezogene von Teilneh© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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merinnen benannt werden. In einem solchen Fall möchten wir ihr ganz persönliches Erleben würdigen. Es stellt für uns kein singuläres Ereignis dar und wir wollen es auch nicht als solches profaniert wissen. Vielmehr bemühen wir uns, es in seiner machtvollen strukturellen Einbettung zu sehen, ohne dabei an eine kultur-rassistische Argumentation anzuschließen. „Die Alternative zu rassisierenden beziehungsweise kulturalisierenden Deutungen von Sexismus kann […] nur die fortwährende Analyse dessen sein, wie sich die Strukturkonstanten und Reproduktionsmechanismen männlicher Herrschaft mit kulturellen, religiösen und sozialen Strukturen und Dynamiken verknüpfen und so zur Konstanz männlicher Herrschaft beitragen.“ (Hark/Villa 2017, 43)

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Apropos Kultur, den nahegelegenen Burgenlandkreis haben wir nie besucht und auch den Elberadweg kennen wir nicht. Dabei soll’s da ja schön sein. In unseren Weiterbildungen sitzen immer wieder Frauen, die sich mittlerweile davor fürchten, sich ohne männliche Begleitung im öffentlichen Raum zu bewegen. In unserem Freundeskreis hatten wir schon immer Menschen, die sich im öffentlichen Raum fürchten mussten. Alle Ängste sind gleich, aber manche sind gleicher. In unseren Workshops bewegen wir uns in einem Spannungsverhältnis. Einerseits wollen wir die Teilnehmenden mit ihren Privilegien konfrontieren, mit dem Privileg beispielsweise mit den eigenen Ängsten Gehör zu finden. Privilegien, die die Angehörigen der NSU-Opfer lange nicht hatten. Andererseits geht es uns darum die Workshop-Teilnehmenden als handelnde Akteure nicht geschwächt zurückzulassen. Wir wünschen uns Prozesse der Verunsicherung, in denen einfache Wahrheiten nicht mehr greifen, in denen nicht ‚die Anderen‘ mehr zur Stützung eines ‚Wir-Gefühls‘ dienen, in denen Ambiguität ausgehalten werden muss und ‚wir‘ nicht mehr die ‚Reinen‘, ‚Guten‘, ‚Wahren‘ sind. Bei all der Verunsicherung ist es uns wichtig, dass die Workshop-Teilnehmenden die Sicherheit gewinnen und die Kraft aufbringen, sich für eine solidarische Gesellschaft einzusetzen, erst recht in Sachsen. Also geht es doch um Toleranz, Achtsamkeit und Freundlichkeit, nur eben nicht dem imaginierten muslimischen Mann, sondern den eigenen Schwächen, der eigenen Verunsicherung und den eigenen rassistischen Reflexen gegenüber.

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Literatur Bauman, Zygmunt (2016): Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache. Berlin. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2015): Migrationsbericht. Abrufbar unter http://www. bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbericht -2015.pdf (letzter Zugriff: 27.12.2017). Castro Varela, Maria do Mar/Mecheril, Paul (Hg.) (2016): Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart. Bielefeld. Dietze, Gabriele (2017): Sexualpolitik. Verflechtungen von Race und Gender. Frankfurt/M. Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (2017): Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. Bielefeld.

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

Rassismuskritische Bildungsarbeit als Gefühlsarbeit

Mecheril, Paul (2015): Kulturell-ästhetische Bildung. Migrationspädagogische Anmerkungen. In: Mission Kulturagenten – Onlinepublikation des Modellprogramms „Kulturagenten für kreative Schulen 2011 – 2015“. Berlin. Abrufbar unter http://publikation.kulturagenten-programm. de/detailansicht.html?document=148 (letzter Zugriff: 27.12.2017). Messerschmidt, Astrid (2016): ‚Nach Köln‘. Zusammenhänge von Sexismus und Rassismus thematisieren. In: Castro Varela, Maria do Mar/Mecheril, Paul (Hg.): Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart. Bielefeld, S. 159 – 172. Walgenbach, Katharina (2005): „Die weiße Frau als Träger deutscher Kultur“. Koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich. Frankfurt/M.

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Ilinda Rebecca Bendler, Nadine Golly

Zur Theorie und Praxis von Empowerment ILINDA REBECCA BENDLER, NADINE GOLLY UNTER MITARBEIT VON LAURA DIGOH-ERSOY

Empowerment. Selbstermächtigung. Ein politisches und emanzipatives Konzept zur Schaffung eigener Räume und Narrative

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

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„Selbstermächtigung ist, die eigene Stimme, den Herzschlag, die Hüften und die Füße […] wieder zu spüren und zu benutzen.“ Tsepo Bollwinkel

Einleitung Wir sind drei in Deutschland lebende und arbeitende Schwarze Frauen, die mit unserem Bildungskollektiv KARFI1 rassismuskritische und dekolonisierende Sensibilisierungs- und Empowermenträume anbieten und darin arbeiten. Neben der Bildungs- und Empowermentarbeit verstehen wir uns auch als Wissenschaftlerinnen, in verschiedenen Disziplinen verortet und an verschiedenste Bildungslandschaften anknüpfend. Wir sind Autorinnen verschiedenster Formate, inspiriert von Schwarzen Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen, die vor uns und mit uns an unterschiedlichen Orten dieser Welt gedacht und gewirkt haben. Diese Verortung voran zu stellen ist wichtig, um zu verstehen, dass wir aus einer Position, eingebettet in praktische Bildungsarbeit, politischen Aktivismus und akademische aber auch nicht-akademische Wissensproduktion, schreiben. Uns ist es ein besonderes Anliegen, Bildungsarbeit, politischen Aktivismus und Wissenschaft nicht als drei voneinander getrennte Arbeitsfelder zu betrachten, denn Wissen mit einem widerständigen und emanzipativen Anspruch wird nicht 1

Mehr zu KARFI siehe unser Beitrag in: Spiegelblicke. Perspektiven Schwarzer Bewegung in Deutschland. Münster 2015, S. 244 f.

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Rassismuskritische Bildungsarbeit, 9783734411885, 2021

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Empowerment. Selbstermächtigung.

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nur in akademisch markierten Räumen und Köpfen produziert und zur Kenntnis genommen, sondern von auch im oftmals als ‚Draußen‘ markierten Feld. Das Wissen und die Erfahrungen, die wir uns als Mehrfachzugehörige erarbeitet haben, haben uns die Stimme gegeben, die wir auch beim Schreiben dieses Beitrages einsetzen. So greifen wir auf theoretische Auseinandersetzungen zurück, die wichtig sind, um sich eine Sprache und eine Diskussionsgrundlage zu erarbeiten. Für diesen Artikel konzentrieren wir uns, wenn es nicht anders benannt wird, auf den deutschen Kontext, auch wenn sich unsere Wissenstraditionen deutlich als global beschreiben lassen. Wir sehen uns als Teil der jüngeren Schwarzen Bewegung in Deutschland (vgl. Wiedenroth-Coulibaly 2017, Oguntoye 2015, DigohErsoy/Thompson 2016) und diese Perspektiven fließen in unser Schreiben ein, ebenso wie sie Ausdruck dafür sind, dass wir in diesem Beitrag auch Kolleg*innen zu Wort kommen lassen, die Empowerment in Deutschland betreiben und in ganz unterschiedlichen Feldern daran arbeiten, Schwarze Menschen und Personen of Color zu stärken. Sie eröffnen die Möglichkeit, Räume einzunehmen, diese gemeinsam zu definieren und schaffen dadurch Orte für Wissen, Austausch, Strategieentwicklungen und Mut. All das bedeutet für uns Empowerment. „Empowerment bedeutet als People of Color auf unsere eigenen Bedürfnisse in rassistischen Alltagssituationen zu achten. Empowerment bedeutet, ohne Kategorisierung existieren zu können. Empowerment bedeutet, ich kann ich sein – egal, was du von mir denkst. Empowerment bedeutet Befreiung.“ (Nassir-Shahnian 2013, 24) Wir haben unsere Kolleg*innen gefragt (wenn nicht anders angegeben) was für sie in verschiedenen Kontexten Empowerment bedeutet. Wir danken den Kolleg*innen nicht nur für die Antworten, sondern dass sie da sind, dass sie nicht aufgeben und uns mit ihrem Wissen und ihrem Mut Inspiration und Empowerment zugleich sind. Empowerment ist als Begriff mittlerweile überall zu finden2, egal ob in der Werbung, an der Universität, in der sozialen Arbeit, überall gefolgt von Begrif2

Laut Oduro-Sarpong (2012) wurde der Begriff erstmals Mitte des 17. Jahrhunderts im juristischen Kontext genutzt und bedeutet ‚bevollmächtigen‘ bzw. ‚autorisieren‘ im Sinne von ‚ermöglichen‘ und ‚erlauben‘. Seine aktuelle Bedeutung geht auf die Schwarze Civil Rights Bewegung in den USA der 1960er Jahre zurück und wurde dann in den 1980er Jahren von der Psychologie und der Sozialen Arbeit und der weißen und Schwarzen feministischen Bewegung in Deutschland aufgegriffen.

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fen wie Effizienz und Potential und obschon der Begriff überall fällt, und scheinbar plötzlich von jeder*jedem unterrichtet, manches Mal sogar trainiert werden kann, müssen wir sehr oft den Veranstalter*innen dieser Angebote erklären, worum es sich bei dem von uns vertretenen Empowerment-Ansatz handelt und was die Voraussetzungen sind, um das angefragte Angebot umsetzen zu können. Wir teilen dann immer ein ganzes Set an vorhandener Literatur und es passiert nicht selten, dass die Anfragen zurückgezogen werden, wenn die Organisator*innen sich ein wenig eingelesen haben. Empowermenträume lassen sich grundsätzlich an allen möglichen Orten schaffen und werden grundsätzlich überall gebraucht. Wir kreieren diese Empowerment-Räume für Junge und für Alte, in akademischen und nicht-akademischen Räumen, für Lehrende und Lernende, für Menschen, die einen gemeinsamen Studier-, Arbeits- oder einen gemeinsamen Wohnkontext bilden oder beispielsweise ihre Kinder in derselben Kindertagesstätte oder Schule haben. Was allen Teilnehmer*innen dieser Empowermenträume gemein ist, ist dass sie in Deutschland Rassismuserfahrungen machen und bereit sind, sich mit der eigenen Biographie auseinanderzusetzen, die Geschichte*n der eigenen Community/Communities sichtbar zu machen und die Errungenschaften der Communities der Teilnehmenden wertzuschätzen. Uns geht es darum, in diesen geschützte(re)n Räumen neues Wissen zu erschließen und zu teilen und anhand dieses Wissens gesellschaftliche Verhältnisse zu beschreiben, zu analysieren und einen Umgang damit zu finden. Wissen ist die Voraussetzung dafür, Verhältnissen und Vorkommnissen eine Sprache zu geben, sie zu benennen und damit den ersten Schritt aus der Sprachlosigkeit zu tätigen. Das Ausdrücken und Teilen von Diskriminierungserfahrungen sind demnach wichtige Strategien für den Empowerment-Prozess.

Empowerment Empowerment ist ein englischer Terminus und bedeutet Selbststärkung, Selbstermächtigung, Selbstbefähigung. Wenn wir im Folgenden von Empowerment sprechen, dann orientieren wir uns an der folgenden Definition: „Empowerment bedeutet Kraft und Stärke, es verkörpert Selbstbestimmung, Eigenmacht und Autonomie. Durch Empowerment können wir uns gegen Diskriminierung wehren und auf diese Art langfristig mehr Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen erlangen: zu Wohnraum, zu einem guten Einkommen, zu Bildung, aber auch zu Privilegien. […] Für mich ist Empowerment kein Zustand, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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sondern ein Prozess, vor allem ein konflikthafter Prozess, der niemals aufhört. Wir werden nie den Zustand erreichen, zeitlos ‚empowert‘ zu sein.“ (Bello 2012, 30)

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Empowerment. Selbstermächtigung.

Der Empowerment-Ansatz wird oft in der Sozialen Arbeit verortet und ist dort weitestgehend etabliert (vgl. Herriger 2010). Wir hingegen verstehen Empowerment als politisches Konzept, welches mehr beinhaltet als lediglich die Ressourcen und Potentiale jedes einzelnen Menschen freizulegen und diese als Ausgangspunkt für individuelle und gesellschaftliche Veränderungen zu nehmen. Die gesellschaftlich bedingten Handlungszwänge aufgrund von sozialen Kategorien wollen wir unterlaufen. Wir wollen ihnen Beachtung schenken und keinesfalls ignorieren, denn uns ist bewusst, dass sie existieren und unser Leben tagtäglich beeinflussen. Der Empowerment-Ansatz, wie wir ihn skizzieren, soll Menschen mit Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen in Deutschland in sogenannten geschützte(re)n Räumen ermöglichen, auf Situationen in denen man machtlos, wütend oder unzufrieden war, mit neuem Wissen und neuen Handlungsstrategien ausgestattet, in Zukunft anders reagieren zu können. Ziel ist dabei, vorgegebene Grenzen einzureißen und eigene Grenzen zu setzen; es geht um Einfühlsamkeit und Aufbau von Vertrauen. Empowerment-Räume helfen außerdem Handlungsfähigkeit (zurück) zu gewinnen. „EmpowermentRäume sind vor allem Orte der Begegnung, des Erfahrungs- und Wissensaustauschs. Es sind Orte der Solidarität, der schöpferischen und positiven Energie, der Inspiration.“ (Bello 2012, 32)

Geschützte(re) Räume Damit diese Räume der Solidarität, der Inspiration aber auch der Aufarbeitung von Diskriminierungserfahrungen entstehen können, müssen sichere Rahmenbedingungen geschaffen werden. Eine dieser ist, dass der Raum nur Menschen mit Rassismuserfahrungen in Deutschland vorbehalten ist, wenn er als solcher definiert ist. Es gibt auch andere geschützte(re) Räume, die jeweils Menschen miteinander verbinden, die eine bestimmte gesellschaftliche Positionierung miteinander teilen. Es geht darum, in einem möglichst geschützte(re)n Raum sein zu können, der in sich heterogen und daher auch nur bedingt sicher bzw. ein geschützte(re)r Raum ist, denn in allen Räumen existieren soziale Hierarchien, unterschiedliche Rassismuserfahrungen, unterschiedliche Sexismuserfahrungen und/oder andere Diskriminierungserfahrungen, die manchmal reproduziert werden. So formuliert z. B. die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD 2013) für ihre Treffen in ihrem Code of Conduct: © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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„Es soll hier also ein Raum sein für Schwarze Menschen, der frei ist von Diskriminierungen wie: • Ableism (für Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen) • Adultismus (Diskriminierung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen) • Ageism (für Diskriminierung von älteren Menschen) • Biphobie (Diskriminierung von Bisexuellen/Menschen die gleich- und gegengeschlechtlich lieben) • Bodyism (für Diskriminierung von Menschen, deren Körperbild nicht den in der westlichen Welt propagierten Körperidealen von schlanken Körpern ohne Behinderung entspricht. Hier überschneiden sich Ableism und Bodyism) • Diskriminierung aufgrund der Religion oder Weltanschauung • Diskriminierung von Menschen mit psychischen Krankheiten (z. B. Depressionen) oder Veranlagungen, die allgemein als Krankheiten definiert und pathologisiert werden (AD(H)S, Autismus, …) • Homophobie (Ablehnung von gleichgeschlechtlich Liebenden) • Klassismus (Diskriminierung aufgrund der sozialen Klassenzugehörigkeit) • Lookism (Diskriminierung aufgrund des Aussehens, der Kleidung etc.) • Rassismus • Sexismus (Diskriminierende oder sexualisierte Übergriffe, Sprüche oder andere Handlungen) • Shadeism (Hierarchisierung und sich daraus ergebende Diskriminierung von ‚Hautfarben‘) • Transphobie (Diskriminierung von Menschen, die jenseits der dominanten Geschlechtsnormen (Frau/Mann) und/oder ihres biologischen Geburtsgeschlechtes leben) • Xenophobie (Angst vor dem Fremden/Unbekannten)“. Dass es nicht immer gelingt, gänzlich diskriminierungsfreie Räume zu schaffen, liegt auf der Hand und trotzdem ist der Anspruch und das aktive Einbringen dieses Wissens in die eigene Community ein wichtiges Zeichen, welches in vielen anderen Bereichen, egal ob es sich um akademische Bereiche, andere Arbeitsbereiche oder beispielsweise Schulen handelt, zu selten gesetzt wird. Deswegen sprechen wir von geschützte(re)n Räumen, um auf das Bemühen aufmerksam zu machen, einen möglichst diskriminierungsfreien Raum zu gestalten und anzubieten. Einen Raum der es ermöglicht Wissen, Erfahrungen, Positionierungen, Interessen, Visionen, Forderungen zu formulieren, ohne bestimmte Dinge immer wieder oder grundlegend erklären zu müssen, weil alle Menschen in diesem Raum ein bestimmtes Erfahrungswissen mitbringen. Da© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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zu muss erwähnt werden, dass das Hinterfragen und Absprechen von Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen ebenfalls eine gewaltvolle Erfahrung ist. Ob jemand diskriminiert wurde oder nicht kann am besten die betroffene Person beurteilen bzw. die Menschen, die zu der Gruppe der Betroffenen gehören. Eine Diskriminierung darf auch ausschließlich von ihnen bestritten werden. „Vor allem wir PoC müssen die Notwendigkeit dieser Räume erkennen und verinnerlichen. […] Räume sind unser Grundrecht. […] Wenn wir darauf verzichten, können wir nur verlieren, denn diese Räume sind eine Grundvoraussetzung für unsere Heilung“ (Oduro-Sarpong 2012, 28). Für weiße Menschen ist es manchmal nur schwer nachvollzuziehen, dass ausgerechnet sie – oftmals machen sie diese Erfahrung zum ersten Mal in ihrem Leben – keinen Zugang zu einem Raum haben; dass sie nicht wissen, was in diesen Räumen passiert. Gleichzeitig stellt Oduro-Sarpong (2012, 29) fest: „Wer sich uneigennützig für unsere Anliegen einsetzt, versteht von allein, dass wir diese geschützten Räume brauchen, setzt sich dafür ein, dass wir diese auch bekommen und freut sich darüber, wenn sie entstehen.“ Er macht deutlich, dass es wichtig ist, diese Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig ist es wichtig, das Recht auf Zutritt zu den Räumen oder die Kontrolle über deren Inhalte nicht von außen bestimmen zu wollen. In unserer Arbeit machen wir immer wieder die Erfahrung, dass uns ausgerechnet für Empowerment-Workshops das Recht auf Selbstgestaltung abgesprochen wird und wir fertige Skripte der Veranstaltung vorab liefern sollen. Zum Teil wird auch gefordert, dass Beobachter*innen im Raum anwesend sein müssen. Geschützte(re) Räume oder auch Safer Spaces sollten als Selbstverständlichkeit angeboten werden, auf Konferenzen, bei Veranstaltungsreihen, in Schulen, an Universitäten, in Arbeitskontexten, überall (vgl. KARFI 2016, 66 – 69).

Selbstbezeichnungen Es zählt zu den wesentlichen Errungenschaften emanzipativer Bewegungen, eigene Bezeichnungen für die eigene Gruppe zu schaffen und Fremdbezeichnungen entschieden zurückzuweisen. In Deutschland prägten die Autorinnen des Werks „Farbe bekennen. Schwarze Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ (Oguntoye/Ayim/Schultz 1986) den Begriff ‚afro-deutsch‘ neben dem Begriff ‚Schwarze Deutsche‘ als ihre Selbstbezeichnung. Das war vor über 30 Jahren. Nachfolgende Generationen konnten an diese Vorarbeiten anknüpfen und weitere Selbstbezeichnungen aufgreifen, entwickeln, denken und politische Kämpfe ausfechten. Sich mit Sprache und damit einhergehend auch mit Selbstbe© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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zeichnungen auseinanderzusetzen ist elementar, denn durch Sprache vermitteln wir Wissen  – auch Wissen über andere und: Sprache kann verletzen. Durch Sprache werden Machtverhältnisse ausgedrückt, denn der Anspruch, andere bezeichnen und benennen zu dürfen, ohne auf deren Meinungen Rücksicht zu nehmen, ist ein Machtanspruch. Es hat also eine historische Bedeutsamkeit, Selbstbezeichnungen zu kennen und diese in die eigene Sprache zu integrieren. Wichtig ist uns festzuhalten, dass es in diesem Zusammenhang auch Veränderungs- und Entwicklungsprozesse gibt und dass folgende Begriffe nicht für immer festgeschriebene Bezeichnungen sind.

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Schwarz Schwarz ist eine Selbstbezeichnung, eine gesellschaftspolitische Positionierung für Menschen afrikanischer und afro-diasporischer Herkunft. Für uns ist ein politisches Verständnis von „Schwarzsein“ grundlegend, welches über körperliche Merkmale hinausgeht. Um dies deutlich zu machen, schreiben wir „Schwarz“ als Adjektiv groß. Wir beziehen uns dabei zunächst auf „bestimmte gemeinsame Erfahrungshorizonte und […] Lebensrealitäten in einer weiß-dominierten Gesellschaft“ (Sow 2011, 608), z. B. Rassismuserfahrungen. Des Weiteren schließt „Schwarzsein“ für uns historische Bezüge, z. B. auf die Maafa, die „große Tragödie“ der 500-jährigen weißen Gewalt im Zuge von Kolonialismus, Versklavung und Vernichtung afrikanischer Gesellschaften mit ein (vgl. Ofuatey-Alazard 2011). Vor diesem Hintergrund haben Schwarze Menschen auch vielfältige geographische Wurzeln, die sowohl auf dem afrikanischen Kontinent als auch weltweit in der afrikanischen Diaspora zu finden sind. Wichtig ist auch, dass Schwarz eine Referenz auf gemeinsame Widerstandstraditionen ermöglicht. „So eröffneten explizite Bezugnahmen auf afrikanische und afrodiasporische Wissens-, Theorie- und Praxisarchive vor allem im ersten Jahrzehnt Schwarzer deutscher Selbstorganisation einen von Beginn an transnationalen Raum für Empowerment und Inspiration, für Austausch und Einschreibung, für Dissens und Kritik“ (Lauré al-Samarai 2011, 612).3 PoC Wir verwenden den Begriff Personen oder Person of Color (PoC) für Menschen, die Rassismuserfahrungen in Deutschland machen. 3

Zur weiteren Vertiefung vgl. Bergold-Caldwell/Digoh/Haruna-Oelker/Nkwendja/Ridha/ Wiedenroth-Coulibaly (Hg.) 2015, Oguntoye/Ayim/Schultze 1986/1995 ISD (Hg.) (2006/2012).

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Er hat seinen Ursprung im 18. Jahrhundert in der Bezeichnung „gens de couleur libres“ (Saint-Domingue). Damit waren damals Schwarze Menschen gemeint, die nicht versklavt waren. In der haitianischen Befreiungsbewegung und der erfolgreichen Revolution 1791 spielten diese Menschen eine wesentliche Rolle. Der Begriff ist eng verbunden mit der Entstehung des ersten Staates, der von befreiten Schwarzen Menschen gegründet wurde. In den 1960er Jahren wurde „PoC“ als globaler Bündnisbegriff gewählt. Dies ging aus von der antirassistischen Befreiungsbewegung in den USA und umfasste Schwarze, First Nation Americans, Chican*as, Asiat*innen u. a. Der Aspekt des „Bündnisses“ ist hier von besonderer Wichtigkeit.4 Unter der Selbstbezeichnung „People of Color“ können Bündnisse zwischen all jenen geschlossen werden, die durch weiße Dominanzkultur marginalisiert und durch koloniale Gewalt kollektiv unterdrückt und abgewertet werden (vgl. Ha 2007, 37). Der Begriff „PoC – Person/People of Color“ verbindet all diejenigen, die geteilte Erlebnisse und Erfahrungen mit Rassismus machen. Die Selbstbezeichnung überwindet – von Weißen erschaffene – auf Rassekonstruktionen basierende Hierarchisierungen unter Communities of Color. Den bewusst eingeführten Hierarchisierungen liegt das „Teile-und-Herrsche-Prinzip“ zugrunde, das vorsieht, dass Communities of Color vermittelt wird, sie hätten widerstrebende Interessen. Dadurch soll erreicht werden, dass die Communities sich gegeneinander wenden, statt sich vereint gegen den gemeinsam erlebten Rassismus zu stellen. Durch den Zusammenschluss als PoC wird das „Teile-und-HerrschePrinzip“ durchbrochen. PoC stellt auch eine positive Bezeichnung für alle Menschen dar, die nicht als weiß angesehen werden und ersetzte damit die z. B. in den USA im Zuge der Segregation und in Südafrika zu Zeiten der Apartheid verbreiteten Bezeichnungen „colored“ und „non-white“. Letztere Bezeichnungen sind gleichzusetzen mit dem rassistischen Terminus „farbig“ der in Deutschland immer noch häufig verwendet wird. Der Terminus „BPoC“ ist die Abkürzung für Black and People of Colo(u)r – also auch eine Selbstbezeichnung von Menschen, die Rassismuserfahrungen machen und den Bündnischarakter noch einmal mehr betonen, ebenso wie BIPoC, der für Black_Indigenous_and_People_of_Color steht. Das indigen wurde aufgenommen, da Schwarze und Indigene Menschen einen geschichtlichen, sozia4

Zu Bündnissen vgl. unseren Artikel „Wechselnde Allianzen – rassismuskritische Bildungsarbeit in einem Schwarzen Bündnis“ (KARFI 2019).

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len, sozioökonomischen Hintergrund in Bezug auf Rassismus, Kolonialismus und Versklavung haben. Weiße Menschen, die die Nachfahren von Kolonialist*innen sind und in nicht-europäischen Ländern leben sind keine BIPoC, auch wenn sie seit Generationen dort leben, ebenso wenig wie weiße Menschen, die in ein mehrheitlich nicht-weißes Land in den Urlaub fahren und dort vorübergehend einen Minderheitenstatus innehaben. Es reicht nicht, sich in Kürze mit Begriffen auseinanderzusetzen, vielmehr muss man die Entstehung, die damit einhergehenden Geschichte*n, die Machtverhältnisse und Bedeutsamkeiten kennen, um in Gänze die Bedeutsamkeit von Selbstbezeichnungen zu erfassen, aber auch um zu wissen, in welcher Situation welche Bezeichnungen angebracht sind und um zu verstehen, dass mit der Anwendung auch Strukturänderungen einhergehen und ein bloßer Austausch von Begrifflichkeiten nicht ausreicht. Das Wichtigste ist aber, dass diese Begriffe denjenigen zur Verfügung stehen, die sie als Selbstbezeichnungen geschaffen haben, die darin aufgehen, die damit arbeiten, die damit Widerstand leisten. Pia Thattamanil, Kulturwissenschaftlerin und Antidiskriminierungstrainerin hat uns diesbezüglich folgendes gesagt: „Welche Dinge plötzlich sagbar sind, wenn man andere als die Mainstream-Begriffe zur Hand hat. PoC, Schwarze Deutsche. Die Begriffe zu verwenden ist wie ein Eintauchen in eine andere Welt, in der alles schon ein bisschen besser aussieht. Wenn sich eine Person als PoC positioniert, dann ist das ein cooler Moment, weil dadurch deutlich wird, dass es sich um eine Person handelt, die sich damit auseinandergesetzt hat. Mensch erkennt sich gewissermaßen. Ich erhalte das Signal, dass ich diese Identität nun auch ‚rauslassen‘ kann.“ 5

Sprachfähig werden Wir denken, dass es mehrere Aspekte gibt, die wir als KARFI für grundlegend in der Empowerment-Arbeit erachten: Wirkweisen von Rassismus kennen, Safer Spaces/Geschützte(re) Räume schaffen, Geschichten teilen, Strategien austauschen, Visionen entwickeln. Bevor wir Visionen entwickeln und Utopien entwerfen können, müssen wir dafür sorgen, dass die erlebten Unterdrückungserfahrungen und die damit einhergehende Wut nicht in Sprachlosigkeit münden. „Je schmerzhafter die The5

Zur weiteren Vertiefung: Ha/Lauré al Samarai/Mysorekar (Hg.) 2016; Dean 2011, S. 597 – 607; http://moveonup.blogsport.de/glossar/

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men sind, um die es geht, desto größer ist unsere Sprachlosigkeit“ (hooks 1994, 10). Da unsere Lebenserfahrungen in dominanten Diskursen häufig nicht anerkannt und benannt, sondern im Gegensatz dazu eher abgewehrt und verneint werden („Jetzt stell dich mal nicht so an“ oder „Übertreib mal nicht“), ist das Ausdrücken und Teilen von Diskriminierungserfahrungen eine wichtige Strategie für den Empowerment-Prozess. Wenn die Sprachlosigkeit überwunden ist, können weitere Handlungen zur Befreiung folgen. Patricia Hill Collins beschreibt diesen Prozess als Weg von der Stille zur Sprache zur Handlung (HillCollins 1991, 112). Wir haben mit Pia Thattamanil gesprochen, die uns folgendes mit auf den Weg gab:

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Empowerment. Selbstermächtigung.

„Eine Sprache zu haben, ist wichtig um sich empowern zu können, um die Dinge zu überwinden, die einem die Sprache verschlagen. Ich stelle in meiner Arbeit als Trainerin immer wieder den Erfahrungsgraben zwischen rassismuserfahrenen und rassismusunerfahrenen Menschen fest und bei den Rassismusunerfahrenen die damit einhergehenden Widerstände dagegen, diese Unerfahrenheit und ihre Weigerung in diesem Feld ihre Nicht-Kompetenz anzuerkennen. Als Trainerin habe ich die Erfahrung gemacht, dass diese Diskussionen sehr schnell abqualifizierend wirken, jedoch abqualifizierend in meine Richtung und die der Rassismuserfahrenen im Raum. Wissenschaft und Worte, die schlaue Menschen geprägt haben, geben mir „Standfestigkeit“. Als Seminarleitung helfen mir wissenschaftliche Konzepte, sprachfähig zu sein und zu bleiben. Trotzdem habe ich eine Alltagssprache, mit der ich den Wissenschaftssprech ‚runterbrechen‘ kann. Wenn ich Rassismuserfahrungen in einen Workshop einbringe, dann beziehe ich mich auf Berichte/Stimmen von PoC. Sie können aber leicht abgetan werden als ‚ach die Armen‘. Dazu nehme ich aber immer auch Zitate von Wissenschaftler*innen of Color, die in einem wissenschaftlichen Duktus bestimmte Konzepte erklären. An der Stelle tauche ich dann als Mittlerin auf, die ‚übersetzt‘ bzw. ‚runterbricht‘ und das akademische Wissen zugänglich macht. Das permanente Reduziertwerden auf eine bestimmte Eigenschaft (z. B. Kultur oder rassifizierter Körper) verschlägt auch die Sprache. Die Leute hören gar nicht richtig zu. Es müssen viel mehr Identitäten sichtbar gemacht werden. Das ist eine Form von Empowerment, die eigene Vielseitigkeit neu zu entdecken. Es gibt so viel mehr als die eigene Diskriminierungserfahrung. […] Ich habe mal einen Vortrag zur Frage ‚Woher kommst du?‘ gehalten. Das Publikum war mehrheitlich of Color. Ich habe viel Anerkennung dafür bekommen. Die Zuhörer*innen kamen im Anschluss zu mir, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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und haben sich bedankt. Es war so gut, dass du den Vortrag gehalten hast, weil du weißt, wovon du sprichst. Scheinbar hat ihnen meine Analyse geholfen, ein wenig sprachfähiger in Bezug auf Rassismus zu werden. Das war ein wechselseitiger Moment des Empowerments.“

Jüngere Schwarze Bewegung. Vernetzung, Heraustreten aus der Vereinzelung Über die jüngere Schwarze Bewegung haben wir mit Eleonore WiedenrothCoulibaly gesprochen. Sie ist Übersetzerin, Dozentin, Autorin, Aktivistin und Mitbegründerin der ISD sowie eine Wegbereiterin für die Vernetzung Schwarzer Menschen in Deutschland und der Schaffung von Empowerment-Räumen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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„Vernetzung und das Heraustreten aus der Vereinzelung war lange Zeit der erste Punkt unter ‚was wir wollen‘ bei der Vorstellung der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland in ihren Anfängen. Wir wollten Räume schaffen, in denen ein Austausch ermöglicht wird, in denen wir miteinander reden konnten und nicht mehr versuchten, einzeln etwas zu verarbeiten, was allein nicht verarbeitet werden kann. Räume, in denen wir uns im anderen spiegeln konnten, in denen wir etwas aussprechen konnten, was nicht gleich die Resonanz nach sich zieht, dass weiße Menschen abwehren, abwiegeln, in Frage stellen. Bei unseren Zusammenkünften war eine Erleichterung spürbar: Endlich war ein Raum geschaffen, wo wir wirklich reden konnten und uns erkennen konnten. Im Gespräch mit Jüngeren stellte ich fest, dass es auch heute noch Vereinzelung von Schwarzen Menschen gibt. Auch nach 30 Jahren Schwarzer Bewegung sind Schwarze Menschen in Deutschland vereinzelt. Es gibt viele Menschen, die organisiert sind. Es gibt einige, die in Schwarzen, politisierten Zusammenhängen aufwachsen. Aber es gibt noch sehr viele Schwarze Menschen, die vereinzelt aufwachsen und sich nicht verankern können. Altgediente sagen ‚das haben wir hinter uns‘. Nein, haben wir nicht: Diese Menschen gibt es. Jedes Jahr kommen zum Bundestreffen der ISD Menschen, die neu auf dem Bundestreffen sind und die zum ersten Mal einen Zugang zu Community haben und die vorher noch keine Anknüpfungen hatten. Der Vorteil, den Orte wie das Bundestreffen oder andere Community-Räume bieten, ist, dass Menschen die den Weg gefunden haben, Strukturen vorfinden, in de© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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nen sie sich schneller orientieren können. Sie müssen nicht alles neu erfinden. Sie kommen in Strukturen, die zumindest die Absicht haben, sie zu tragen. Durch das Bewusstsein von Diversität innerhalb der Community wird auch immer mehr möglich, mehr Menschen in die Community aufzunehmen. Zu Anfang haben wir manche Aspekte nicht mitgedacht, waren nicht inklusiv. Wir kommen alle mit unseren Befindlichkeiten, die nicht unbedingt von Reflexion geprägt sind. Nicht alle schaffen es, sich in den Strukturen auch tatsächlich zu politisieren und auch etwas mit zu entwickeln. Aber solch ein Raum der als Empowerment-Raum aufgemacht ist, solch einen Empowermentprozess sollten selbstverständlich alle mitdenken!

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Empowerment. Selbstermächtigung.

Zugleich ist das die große Chance: ‚sich entwickeln dürfen‘ – vor Beginn der Bewegung hatte ich das Gefühl, dass mir die Chance genommen wird, mich entwickeln zu dürfen. Es wurde alles gekappt. Das kann Community leisten: Entwicklungspotentiale auszuschöpfen. Dafür müssen wir immer offen genug sein, dass sich Strukturen weiterentwickeln dürfen. Deutschland ist noch immer nicht der Ort, an dem Schwarze Menschen das Gefühl haben sich zu entfalten und zufrieden sein zu dürfen, sich angenommen zu fühlen und mit sich im Frieden sein. Am Anfang der Bewegung hatten wir Empowerment nicht als Wort! Es wurde uns erst später zugetragen. Mein Anliegen war ganz lange „Ermächtigung“. Damit werden so viele gesellschaftliche Fragen aufgeworfen. Es geht um Macht, um Teilhabe an Macht und Verantwortung. Das kommt bei ‚Empowerment‘ gar nicht so raus. Wenn ich aber wirklich über den Machtbegriff nachdenke, dann wird das ein schillernder Begriff. Damit verbunden sind natürlich die Fragen ‚In welchem System wollen wir leben?‘ Wir wollen innerhalb des Systems empowert werden, gleichzeitig stellen wir es nicht in Frage, sind nicht radikal genug. Vordenkende werden dadurch schnell als realitätsfremd angesehen, nicht als Menschen, die Akzente setzen, Richtungen einschlagen, Ich frage mich: Richten wir uns in der Mitte ein? Ich bin gestartet mit Systemkritik. Ich wäre bereit gewesen, auszusteigen oder aber das System umzukrempeln. Mit der Zeit zeigte sich: Das kann ich nicht allein und mit den anderen geht es nicht in diese Richtung. Später kam mir der Gedanke: Es geht gar nicht mit dem Ausstieg. Das System durchdringt alles. Es gibt keine wahrhaftigen Rückzugsgebiete. Wir können also nur gucken, dass wir innerhalb des Systems etwas verändern. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Das ist eine bittere Erkenntnis. Hat das etwas zu tun mit der Aufgabe von Idealen? Damit verliert mensch vielleicht auch den Drive, Dinge anzugehen. Ich habe meinen Teil getan, dass [die] Bewegung wieder angeschoben wurde. Sobald du eine bewegte ‚Masse‘ hast, kommen Prozesse in Gang, die eine einzelne Person selbst auch nicht mehr beeinflussen kann. Wir müssen gucken, wie wir miteinander kommunizieren. Nicht nur das gemeinsame Ziel muss stimmen, sondern auf dem Weg dahin müssen wir das bereits umsetzen.

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Was brauchen wir, damit unsere Kommunikation so ist, dass sie tragfähig ist? Dafür müssen wir auch neue Umgangsformen einüben und nicht bei denen verbleiben die wir in unserem Aufwachsen an die Hand bekommen. Und dann stelle ich mir noch eine Frage: Wie wollen wir denn die Macht füllen? Was machen wir mit der Macht, wenn wir sie dann haben?“ Um letztere wegweisende Frage zu beantworten, dürfen wir nicht den stärkenden Moment aus dem Blick verlieren, den wir erleben, wenn wir an unseren Visionen arbeiten und nicht nur im Reagieren und der Analyse von bestehenden Zuständen verbleiben. Ein Umfeld in dem wir die Freiräume, die Mitdenker*innen, die Sicherheiten dazu haben, nennen wir Community.

Community Community fängt bereits für uns dort an, wenn wir Schwarze Menschen und Menschen of Color auf der Straße grüßen und wir einander sehen und uns gegenseitig signalisieren, dass wir da sind. „People exchange greetings without knowing each other. The moment of salutation seems to be a collective ritual meant to repair the historical experience of rupture and fragmentation. In other words, the moment of greeting appears to be a process of reparation by which the individual recreates a link that has been broken.“ (Kilomba 2008, 127) Aber Community ist so viel mehr! Es ist sich in Strukturen wiederzufinden, auf Wissen von Wegbereiter*innen zurückgreifen zu können, es ist Verantwortung zu tragen, es ist Verantwortung abgeben zu können, es ist Ausdruck kulturellen, sozialen und politischen Widerstands, es ist Stärkung, es ist gemeinsam Kinder

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groß zu ziehen, es ist gemeinsam traurig zu sein, gemeinsam lustig zu sein, Theater zu spielen, Theaterstücke zu schreiben, Theaterstücke anzusehen, Filme zu produzieren und anzusehen, spazieren zu gehen, Konzerte zu besuchen, Konzerte zu spielen, sich gegenseitig über Stellenausschreibungen zu informieren, Politik zu machen, für Straßenumbenennungen zu kämpfen, gemeinsame Visionen und Utopien zu entwickeln und so vieles mehr. Community ist das Leben in der Diaspora gestalten und sich mit den Lebensumständen in Deutschland und anderen Bezugspunkten auseinanderzusetzen und diese mit für sich relevanten Themen zu besetzen.

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Empowerment. Selbstermächtigung.

„Die ‚Schwarze Community‘ in Deutschland lässt sich am treffendsten als artikulatorischer Verdichtungspunkt thematischer Auseinandersetzungen Schwarzer AktivistInnen erfassen. Ihre Identitätskonstruktionen schlagen sich in genderspezifischen, bildungspolitischen, künstlerisch-literarischen sowie akademischen Arbeiten nieder. Eine Vielfalt von Themen zu Schwarzsein und zur afrikanischen Diaspora ist kennzeichnend für diese Auseinandersetzungen. Um diese Vielstimmigkeit herum hat sich eine ‚Community‘ gebildet. Spezifische Fragestellungen und Interessen führten zu unterschiedlich geprägten bundesweiten sowie regionalen und lokalen Zusammenschlüssen.“ (Eggers o. J.)

Räume und Strukturen schaffen, sich organisieren Zur Bedeutung von machtkritischen Räumen und Strukturen, zu den Handlungsspielräumen von Institutionen, aber auch zu den Widersprüchen in nicht selbst organisierten Räumen und Lebenskontexten haben wir mit der Aktivistin, Prozessberaterin und Bildungsarbeiterin JaMila Adler gesprochen: „Es ist wichtig, sich immer wieder zu befragen, wie Angebote geschaffen werden können, die nicht paternalistisch, sondern befähigend sind. Angebote, die von den Bedarfen der Betroffenen ausgehend denken und den Menschen tatsächlich gerecht werden. Wenn wir über Empowerment in Organisationen sprechen, müssen wir auch die Strukturen anschauen, in denen dies stattfinden soll. Insbesondere wenn weiße Vereine und Institutionen die Infrastruktur für Empowerment zur Verfügung stellen möchten, muss bedacht werden, dass diese natürlich in Machtverhältnisse eingewoben sind und somit den gesamten Rahmen beeinflussen. Ist ein Bewusstsein darüber vorhanden, können Institutionen zu echten Verbündeten werden und erste Grundsteine für Powersharing werden gelegt.

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Das heißt, dass Ressourcen zwar geteilt werden, die inhaltliche Ausgestaltung aber bei den Betroffenen selbst bleibt. Meiner Erfahrung nach wird der zentrale ressourcen- und machtkritische Aspekt von Empowerment im Bereich Arbeitsmarkt und Migration häufig ausgeblendet. Ich denke, ein Grund dafür ist, dass hier meist mit verkürzten Konzepten der Interkulturellen Öffnung gearbeitet wird. Empowerment wird, wenn überhaupt, eher als Schlagwort verwendet. Darüber hinaus liegt eine bewusste Abwehr des Ansatzes nahe, da sich dadurch natürlich auch das Machtgefüge innerhalb dieser Organisationen verändern würde. Für eine Anwendung im ursprünglichen Sinne bräuchten die Organisationen mehr Wissen über die Zusammenhänge und Entstehungsgeschichten der unterschiedlichen Ansätze, um einen erfolgreichen partizipativen Öffnungsprozess zu starten. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Doch bei aller Kritik an der Umsetzung: Vor 20 – 30 Jahren waren interkulturelle Feste eine Plattform für Begegnung über die Anerkennung möglich wurde. Und Rassismus wurde auch damals schon von Betroffenen thematisiert. Im Zuge dessen sind einige Migrant*innenselbstorganisationen mit ganz unterschiedlichen Ausrichtungen entstanden, die mittlerweile Teil der etablierten Trägerlandschaft sind. Dies zeigt, dass diese Konzepte in erster Linie immer nur einen Rahmen geben, in dem bestimmte Themen überhaupt erst neu verhandelt werden können. Für eine Anwendung jenseits weißer Normvorstellungen ist es jedoch notwendig, die machtkritischen Aspekte in Konzepten in den Fokus zu stellen. Als Mitarbeiterin im Rahmen von Projekten im Bereich Arbeit und Migration wurde mir immer wieder ein grundlegendes Dilemma vor Augen geführt: So steht auf der einen Seite der Anspruch Empowerment Räume zu schaffen, die Selbstermächtigung ermöglichen und auf der anderen Seite der institutionelle Rassismus in Behörden der Grundsicherung, Arbeit und Bildung. Angesichts dieses Spannungsverhältnisses verwundert es nicht, dass für die meisten Teilnehmenden der Wunsch in Lohn und Brot zu kommen an erster Stelle steht. An welchem Punkt sollen da weiße Normen dekonstruiert werden? Für viele ist es zentral erstmal der Abhängigkeit der Behörden zu entkommen und das Gefühl von Autonomie zurück zu erlangen. Natürlich kann sich dort auch mit Ursachen der Unterdrückungen auseinandergesetzt werden, dennoch finde ich es wichtig, die unterschiedlichen Ausgangslagen und Ebenen von Empowermentarbeit zu berücksichtigen. Empowerment hat in diesen Kontexten nicht denselben Stellenwert und eine andere Zielrichtung als zum Beispiel für Personen, die während ihres Studiums be-

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ginnen, sich auf theoretischer Ebene damit auseinander zu setzen, um zu verstehen wie sich Rassismus auf sie auswirkt. Sie wünschen sich dann häufig Empowerment-Workshops, in denen sie auf der Erfahrungsebene Strategien im Umgang mit Rassismus entwickeln können, bei denen das Bedürfnis nach Heilung im Zentrum steht. Dies können sich Menschen nicht in allen Lebenssituationen ‚leisten‘. Da ein Bewusstwerdungsprozess meistens auch mit Schmerz verbunden ist, kann dieser teilweise stark verunsichernd wirken. Wenn ich darin nicht auf genügend Ressourcen zurückgreifen kann, werde ich unter Umständen gehemmt oder sogar handlungsunfähig. Es ist also sinnvoll, sich zu fragen, ob es gerade um Existenzsicherung, wie zum Beispiel finanzielle Absicherung, Bleiberechtsperspektive, Familienzusammenführung und/oder die Einbindung in den Arbeitsmarkt geht oder um die Aufarbeitung biografischer (Rassismus-) Erfahrungen? Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Mir ist wichtig, gemeinsam mit den Teilnehmenden in Projekten zu schauen, was sie eigentlich als erstes brauchen, um dann die Inhalte der Angebote entsprechend anzupassen.“ Es ist in jedem Falle wichtig im Blick zu haben, dass Empowermenträume nie dieselben sein können, da es höchstrelevant ist, wer sich in diesem Raum befindet und welche Bedarfe in diesem Raum als essentiell formuliert und eingebracht werden. Aber zugleich ist das auch der Anspruch an ermächtigende Räume, mit Differenzen zusammenzukommen. „Empowerment bedeutet für mich Community, Kraft und Verbindung von unterschiedlichen Standorten“, beschreibt Verena Meyer (2016, 3).

(Antidiskriminierungs-)Beratung Ein wichtiger Bestandteil von Empowerment ist in unserer Wahrnehmung die Beratung für Betroffene von rassistischer Gewalt und Diskriminierung. Der ressourcenorientierte und machtkritische Ansatz des EmpowermentKonzepts kann es schaffen, die Betroffenen in den Mittelpunkt des Beratungsprozesses zu stellen. Diese erfahren in der bzw. durch die Beratung eine Aktivierung und Stärkung ihrer Wahrnehmung und Handlungsfähigkeit sowie ihrer Handlungssicherheit, um erlebte Gewalt und Diskriminierung zu verarbeiten und dagegen vorzugehen. Ebenso können diese institutionalisierten Beratungsstellen die Anliegen und Perspektiven sowie die Durchsetzung der Bedürfnisse von Betroffenen unterstützen und sich solidarisch für die Rechte und Forderungen von Betroffenen einsetzen.

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Wenn es also in Empowermentprozessen unter anderem auch darum geht, Diskriminierungserfahrungen an- und auszusprechen, muss laut Verena Meyer aus traumapädagogischer Perspektive

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„(…) mit diesem ‚Sprechen über Rassismus‘ sehr behutsam umgegangen werden, da Rassismus für Menschen of Color mit schmerzhaften Erfahrungen verbunden ist. […] Rassismus ist eine traumatisierende Erfahrung. Nicht für jede*n ist es hilfreich, Erlebtes durch das Erzählen noch einmal durchleben zu müssen. Im Gegenteil: Es kann immer sein, dass Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen die Beratung oder Empowermenttrainings aufsuchen. Deshalb ist es wichtig, alle Übungen auf potentielle Trigger-Inhalte zu überprüfen und dementsprechend traumasensibel zu gestalten. Ob traumatische Erlebnisse zu einer Traumatisierung führen, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Deshalb ist es mir wichtig zu betonen, dass natürlich nicht alle Menschen of Color davon betroffen sind. Doch ich denke Rassismus immer als eine Erfahrung mit – in den Methoden, Materialien und in den Worten, die ich verwende.“ (Meyer 2016, 19) Immer mehr Schwarze Personen und Personen of Color werden in der institutionalisierten Beratung tätig, um ihre Erfahrungen und ihr Wissen einzubringen. Gleichzeitig sind die Arbeitskontexte selbst oft weit davon entfernt, stärkende Räume zu sein, nicht nur aufgrund der Beratungsinhalte, sondern auch aufgrund von strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen. Zur gegenseitigen Stärkung hat sich auch ein Netzwerk von Berater*innen of Color, die in der Antidiskriminierungs- und Antigewaltberatung tätig sind, gegründet. Hier wurde ein Empowerment-Raum zur kollegialen Beratung geschaffen.

Benennung von Rassismuserfahrungen Die Benennung von Rassismuserfahrungen ist ein wichtiges Tool zur eigenen Stärkung, um aus dem eigenen Schmerz einen geteilten Schmerz zu machen. Mazyar Rahmani sagt dazu: „Erst wenn ich Rassismus benenne, bleibt es nicht alleine bei mir und macht mit mir was es möchte. Die verursachten Schmerzen und die Erfahrungen sind noch in mir spürbar aber der Tumor ist erstmal weg und ich mache den Weg frei geheilt zu werden.

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Rassismus trennt mich von vielen, aber es verbindet mich auch mit vielen. Das zweite passiert durch Benennung. Was mich immer empowert ist die Überzeugung, dass alles, was ich erfahre, zu einer kollektiven Erfahrung von allen BPoCs gehört.

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Empowerment ist, wenn ich die Forderung der Dominanzgesellschaft minderwertig zu sein, entsprechend zu agieren und zur Verfügung für ihre Projektionen zu sein, enttäusche.“ wurde mit IP-Adresse 139.018.245.255 aus dem Netz der UB Leipzig am Dezember 18, 2022 um 12:52:58 (UTC) heruntergeladen.

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Empowerment. Selbstermächtigung.

Zu stärken erfordert verschiedene Schritte zu gehen, vor allem aber selbst aktiv zu werden, um aus einem Kreislauf der Unterdrückung ausbrechen zu können. Dazu gehört es, aus der Vereinzelung, in der sich viele Schwarze Menschen und Menschen of Color befinden, herauszutreten und sich zu verbünden. Teil einer Community zu sein ist ein stärkendes Element in einer diskriminierenden Gesellschaft. In der Vernetzung mit anderen Menschen, die ebenfalls unterschiedliche rassistische Diskriminierungserfahrungen machen, wird ein Raum geschaffen, in der der eigene Schmerz mitgeteilt werden kann und nicht in Frage gestellt wird. In einer gemeinsamen Bearbeitung können (Aus-)Wege aufgezeigt werden, die zu einer gestärkten Position der*des Einzelnen führen können. Verletzungen können benannt und einsortiert werden. Erfahrungen werden nicht abgesprochen sondern anerkannt. Die erfahrenen Diskriminierungen können so als Teil eines rassistischen Systems identifiziert statt als individuelle Schicksale verstanden werden. Daraus können gemeinsame Strategien zum Umgang mit Rassismus entwickelt werden. Dies macht die einzelnen Erfahrungen mit Rassismus nicht weniger schlimm aber das Teilen der Erfahrungen kann als Werkzeug dienen, einen stärkenden Prozess anzuschieben. Es ist nicht nur das Teilen von Rassismuserfahrungen, welches die Vernetzung und das Heraustreten aus einer Vereinzelung als Schritt zu mehr Stärke beschreibt; Empowerment bedeutet darüber hinaus auch das Aufbrechen der weißen Dominanz. „In einer vornehmlich von weißen Bildern und Geschichten dominierten Umwelt ist jede Möglichkeit der Identifikation mit anderen aktiv handelnden Schwarzen Menschen und People of Color stärkend und anregend“, sagt der Künstler und Bildungsreferent Stephen Lawson. Teil einer Schwarzen und/oder of Color Community zu sein bedeutet auch Zugang zu Wissen zu erhalten. Wissen um die eigene Geschichte aber auch Wissen über Bilder und Geschichten, die nicht aus einer dominanten Perspektive erzählt werden, sondern aus der Perspektive von Menschen of Color und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Schwarzen Menschen. Wissen über Vorbilder beispielsweise, über Schwarze Menschen die sich für gleiche Rechte eingesetzt haben, die gekämpft haben, die überlebt haben, die sich gesellschaftlich einbringen. Diese Angebote machen Identifikation möglich. Gleichzeitig sind diese Angebote in der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft kaum bis gar nicht vorhanden. Ohne die Arbeit aktiver Schwarzer Menschen und Menschen of Color hätte es hier keine Veränderungen gegeben. Durch die Community wird das erarbeitete Wissen multipliziert und zugänglich gemacht. Dazu braucht es Möglichkeiten der Vernetzung und der Informationsweitergabe. Empowerment Workshops und das Bereitstellen von geschützte(re)n Räumen sind in diesem Zusammenhang an Bedeutung nicht zu übertreffen.

Wissen um eigene Geschichte*n, Vorbilder Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Wissen ist Macht. Wissen ist ein Werkzeug, das uns hilft, gesellschaftliche Verhältnisse zu beschreiben und zu analysieren. Das ermöglicht uns, Situationen, in denen wir Rassismus erfahren, als solche einzuordnen und in ihrem strukturellen Kontext zu begreifen. Alternatives Wissen, d. h. die Kenntnis um die „eigene Geschichte“, Geschichte(n) von Befreiungsbewegungen, Wissen um das selbstbewusste Handeln anderer Menschen of Color ist notwendig, um ein starkes Selbstverständnis zu entwickeln. Ein wichtiges Projekt, welches das Wissen und das Erarbeiten dieses Wissens der eigenen Geschichte aufgreift, ist das Empowerment-Projekt „Interkulturelle Geschichtswerkstatt“ des Gleichbehandlungsbüros Aachen des Pädagogischen Zentrums Aachen e. V. und das Buch „Legenden die uns verborgen blieben. Schwarzes Europa. Schwarze Jugendliche auf den Spuren ihrer Geschichte“, in der zwölf junge Autor*innen in Form von Gedichten, Rap-Songs, biographischen Texten, Briefen und Zeichnungen verschiedener Akteur*innen6 Schwarzer Geschichte in Europa recherchieren und widergeben. Auch die Ausstellung „Homestory Deutschland. Schwarze Biographien in Geschichte und Gegenwart“ ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Sie versucht seit 2006 anhand von 27 Biographien Schwarzer Menschen aus Deutschland aus ganz verschiedenen Jahrhunderten exemplarisch darzustellen, in welcher Weise sich gesellschaftliche und damit systemische Rahmenbedingungen in einzelne Le6

Schwarze Persönlichkeiten aus 13 europäischen Ländern aus verschiedensten Zeitepochen.

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Empowerment. Selbstermächtigung.

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bensgeschichten einschreiben und diese formen und prägen. Gleichzeitig macht sie auch deutlich, wie individuelle Verhandlungen und Entscheidungsfähigkeiten und ein aktiver und bewusster Gestaltungswille bis hin zu Empowerment für andere Schwarze Menschen in Deutschland aussehen können. Die Vorbilder in der Ausstellung verstehen wir nicht nur als das Erinnern an wichtige Persönlichkeiten und das Sichtbarmachen von Schwarzer deutscher Geschichte, sondern die Biographien ermutigen zur weiteren Recherche und Offenlegung von BPoCBiographien. Verena Meyer, Jugendarbeiterin und Empowerment-Trainerin, beschreibt, dass sie es versucht, Zugänge zu Musik, Filmen und Literatur, die People of Color und Schwarze Menschen geschaffen haben und die Anknüpfungspunkte und Inspirationen bieten, zu eröffnen. Deshalb bedeutet Empowerment für sie „einen respektvollen Blick zu haben – auf die, die vor mir gekämpft haben, die neben mir aktiv sind und die es nach mir sein werden. Ich sehe es als meine Pflicht an, das bestehende Wissen aus Schwarzen und of Color-Communities für meine Arbeit zu nutzen, mitzugestalten und an andere weiterzugeben, um so zugeschriebenen Opferkonstruktionen emanzipatorisch Paroli bieten zu können“ (Verena Meyer 2016, 20 f.).

Wellness, Genuss „What’s the point of revolution if we can’t dance“, so paraphrasiert Jane Barry den bekannten Satz von Emma Goldmann. Für uns ist das gerade in der Empowermentarbeit Programm. „Selbstermächtigung ist, die eigene Stimme, den Herzschlag, die Hüften und die Füße, den Magen und die Nieren – und ja – auch die Fäuste wieder zu spüren und zu benutzen.“ (Tsepo Bollwinkel, Trainer und Referent in den Feldern Schwarze Identität, Anti-Rassismus, SOGI (sexuelle Orientierung/geschlechtliche Identität), Empowerment.) „Welche Räume, Kontakte, Kontexte tun mir gut und welche nicht? Wo fühle ich mich wohl und verstanden? In welche Situationen gehe ich schon mit einem unguten Gefühl rein? Wie kann ich dem begegnen? Muss ich mich dem wirklich aussetzen?“ Das sind Fragen, die wir uns animieren sollten zu stellen, auch in einer gewissen Regelmäßigkeit und einem gewissen sich-selbst-zuhören, denn dass es uns gut tut und dass es uns gut geht, ist die Voraussetzung dafür, dass wir weiterkämpfen können. „Wellness“ meint in diesem Sinne kein neoliberales Lebenskonzept, sondern eine widerständige Lebenshaltung, die beinhaltet, sich in einer Unterdrückungs© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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struktur für das eigene Wohlbefinden zu entscheiden und aktiv einzusetzen. Im weißen Herrschaftssystem ist „Wellness“ ein Privileg für Weiße. Für BPoC ist es hingegen nicht vorgesehen, dass es uns „gut geht“. Daher ist die aktive Entscheidung, auf die eigene „Wellness“ zu achten, als widerständige Intervention in dieser weißen Umgebung zu sehen: „To choose against that culture, to choose wellness“ (hooks 1993, 29). Sich bewusst für das sich-gut-gehen-lassen (Wellness) entscheiden, spiegelt sich in den unterschiedlichsten Aktivitäten und Dingen wieder. Im Folgenden wird ein Aspekt als Beispiel von Wellness, von genussvollen Momenten und Strategien, benannt. Wir haben mit dem Koch Franck Nyonato gesprochen. Er sagt:

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„Essen ist die großartigste Kombination um alle Sinne anzusprechen. Es geht um Geschmack, um das Visuelle, man atmet das Essen quasi ein, man kann es berühren, Du sprichst über das Essen und selbst wenn Du fertig mit essen bist und es gut war, sprichst Du noch darüber und Du denkst daran. Es wirkt nach. Wenn ich koche, dann denke ich daran, dass ich meinen Leuten etwas Gutes tue, und dass es der Anlass für ein entspannendes Gespräch sein könnte. Das ist für mich Empowerment.“ Empowerment spiegelt sich auch im Kunst- und Kulturbereich wider. Ein Bespiel aus dem Bereich „Performance“ von Simone Ayiyi unterstreicht die Bedeutung von Sichtbarmachung und der Einnahme von Raum: „Schwarze weibliche Role Models waren nie rar – nur unterrepräsentiert. Und schon früh zog es sie ins All: Lieutenant Uhura auf der Enterprise und fast 30 Jahre später Mae C. Jemison auf der Raumfähre Endeavour. Eine fiktionale und eine reale Person, deren Errungenschaften eng miteinander verbunden sind, denn wir werden immer nur die Zukunft bekommen, von der wir uns trauen zu träumen. ‚First Black Woman in Space‘ ist ein feministisches, afrofuturistisches Projekt, das afrikanischer und afrodiasporischer Geschichte sowie der gegenwärtigen Situation von Schwarzen Frauen und Frauen of Color gewidmet ist. Wir erzählen Geschichten von Befreiungskämpfen und Empowerment.“ So schwer erträglich die uns unterdrückenden dominaten Machtverhältnisse auch sind, umso wichtiger ist es, auch die schönen und lustigen Momente des Lebens zu feiern. Einen besonders schönen Aspekt von Empowerment erklärt hier Jeff Hollweg, Sozialpädagoge und Aktivist: © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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„Lapidar formuliert brauchen wir Menschen im Leben einfach Humor und Lachen. Lachen ist pure emotionale und kraftvolle Energie, die den Körper und die Seele durchströmt, alles durchschüttelt, durchdringt, auflockert und Verkrampfungen löst. Für mich persönlich hat (gemeinsames) Lachen eine befreiende und heilende Wirkung. Lachen verbindet Menschen. In der Empowerment-Arbeit erachte ich es für grundlegend adäquat und wichtig gemeinsam zu Lachen und diese positiven Erfahrungen des Lachens zu teilen.“ **

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Empowerment. Selbstermächtigung.

In diesem Sinne wollen wir zum Abschluss noch einmal hervorheben, wie sehr wir uns über die Beiträge unserer Kolleg*innen in diesem Beitrag freuen. Sie zaubern ein Lächeln auf unser Gesicht und geben Kraft, stärker zu werden, wieder aufzustehen, wenn nötig, uns gegenseitig zu sehen und zu unterstützen und auch aufeinander aufzupassen. Damit wir unser Lachen behalten, uns immer wieder neu entdecken und ermächtigt unsere Zukunft, basierend auf unseren Träumen, unseren Wünschen und unseren Visionen, selbst gestalten.

Literatur Amadeo Antonio Stiftung (Hg.) (2016): „Einen Gleichwertigkeitszauber wirken lassen …!“ Empowerment in der offenen Kinder- und Jugendarbeit verstehen. Arndt, Susan/Oufatey-Alazard, Nadja (Hg.) (2011): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster. Bergold-Caldwell, Denise/Digoh, Laura/Haruna-Oelker, Hadija/Nkwendja-Ngnoubamdjum, Christelle/Ridha, Camilla/Wiedenroth-Coulibaly, Eleonore (Hg.) (2015): Spiegelblicke. Perspektiven Schwarzer Bewegung in Deutschland. Berlin. Beleo, Elizabeth/Muríel, Lucía (2016): Wir haben uns eine Stimme gegeben. moveGLOBAL als Plattform für die Zukunft. In: Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag (BER) (Hg.): Bon voyage! Rasssismuskritische Wege in der entwicklungspolitischen Bildungs- und Projektarbeit. Berlin, S. 16 – 19. Bello, Bettina (2012): „Ihr grenzt euch doch selbst aus!“ Empowerment-Räume als Orte der Selbstbestimmung. In: Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag (BER) (Hg.): Wer andern einen Brunnen gräbt … Berlin, S. 30 – 33. Can, Halil (2013): Empowerment aus der People of Color Perspektive. Reflexionen und Empfehlungen zur Durchführung von Empowerment- Workshops gegen Rassismus. Berlin.

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Can, Halil (2011): Empowerment – Selbstbemächtigung in People of Color-Räumen. In: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster, S. 587 – 590. Dean, Jasmin (2011): People of Color(ur). In: Arndt, Susan/Oufatey-Alazard, Nadja (Hg.) (2011): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster, S. 597 – 607. Digoh-Ersoy, Laura/Thompson, Vanessa Eileen (2016): Schwarze Geschichte, Rassismuskritik und (Selbst) Organisierung in Deutschland. In: Detzner, Milena/Drücker, Ansgar/Seng, Sebastian (Hg.): Rassismuskritik. Versuch einer Bilanz über Fehlschläge, Weiterentwicklungen, Erfolge und Hoffnungen. i.A. des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit e. V. (IDA). Düsseldorf, S. 58 – 64.

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Digoh Laura/Bendler, Ilinda/Golly, Nadine (2015): KARFI – Schwarzes Kollektiv für rassismuskritische Bildung und Empowerment. In: Bergold-Caldwell, Denise et al. (Hg.): Spiegelblicke. Perspektiven Schwarzer Bewegung in Deutschland. Berlin, S. 244 – 245. Eggers, Maureen Marsha (o. J.): Positive Eigenbilder, die Diaspora als zentrale Referenz, Identitätsspektren und Zusammenschlüsse. In: Heinrich-Böll-Stiftung: Dossier Schwarze Community in Deutschland, abrufbar unter https://heimatkunde.boell.de/dossier-schwarze-community -deutschland (letzer Zugriff: 05.05.2018). Ha, Kien Nghi/Lauré al Samarai, Nicola/Mysorekar, Sheila (2016): revisionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Münster, 2. unveränderte Auflage. Hamaz, Sofia/Ergün-Hamaz, Mutlu (2013): Empowerment. Ein Dossier der Heinrich-Böll-Stiftung. Berlin. Herriger, Norbert (2010): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Stuttgart. ISD (2013): Code of Conduct (Umgang mit Diskriminierung). Abrufbar unter http://isd-bundes treffen.blogspot.de/p/code-of-conduct.html (letzter Zugriff: 05.05.2018). KARFI (2016): Safer Spaces. Zur strategischen Gestaltung von empowernden Arbeitskontexten für Bildungsarbeitende of Color. In: BER (Hg.): Bon voyage! Rasssismuskritische Wege in der entwicklungspolitischen Bildungs- und Projektarbeit. Berlin. KARFI (2019): Wechselnde Allianzen  – rassismuskritische Bildungsarbeit in einem Schwarzen Bündnis. In: Bönkost, Jule: Unteilbar Bündnisse gegen Rassismus. Münster. Kilomba, Grada (2008): Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism. Münster. Lauré al Samarai, Nicola (2011): Schwarze Deutsche. In: Arndt, Susan/Oufatey-Alazard, Nadja (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster, S. 611 – 613. Nassir-Shahnian, Natascha (2013): Dekolonisierung und Empowerment. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Dossier: Empowerment. Berlin, S. 16 – 25.

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Oduro-Sarpong, Lawrence (2012): „Empowerment – die heilende Kraft von innen. In: BER (Hg.): Wer andern einen Brunnen gräbt … Berlin, S. 26 – 29. Ofuatey-Alazard, Nadja (2011): Maafa. In: Arndt, Susan/Oufatey-Alazard, Nadja (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster, S. 594 – 597. Oguntoye, Katharina (2015): Vorwort. In: Kelly, Natasha A. (Hg.): Sisters and Souls. Inspirationen durch May Ayim. Berlin, S. 23 – 33. Oguntoye, Katharina/Ayim, May/Schultz, Dagmar (Hg.) (1995): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin, Neuauflage. Pädagogisches Zentrum Aachen e. V. (PÄZ) (2017): Legenden die uns verborgen blieben. Schwarzes Europa. Schwarze Jugendliche auf den Spuren ihrer Geschichte. Münster.

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Empowerment. Selbstermächtigung.

Sow, Noah (2011): Schwarz. Ein kurzer vergleichender Begriffsratgeber für Weiße. In: Arndt, Susan/Oufatey-Alazard, Nadja (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster, S. 608 – 610. SVK (Hg.) (2017): Wir sind Heldinnen! Berlin. Wiedenroth-Coulibaly, Eleonore (2017): Die multiplen Anfänge der ISD. In: Bergold-Caldwell, Denise/Digoh, Laura/Haruna-Oelker, Hadija/Nkwendja-Ngnoubamdjum, Christelle/Ridha, Camilla/Wiedenroth-Coulibaly, Eleonore (Hg.): Spiegelblicke. Perspektiven Schwarzer Bewegung in Deutschland. Berlin, S. 28 – 32. YiĞit, Nuran/Can, Halil (2006): Die Überwindung der Ohn-Macht. Politische Bildungs- und Empowerment-Arbeit gegen Rassismus in People of Color-Räumen – das Beispiel der Projektinitiative HAKRA. In: Elverich, Gabi/Kalpaka, Anita/Reindlmeier, Karin (Hg.): Spurensicherung. Frankfurt/M., S. 167 – 193.

© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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184 Ilinda Rebecca Bendler, Nadine Golly

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Autor*innen

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AMARO DROM E.V. (‚Unser Weg‘) ist eine interkulturelle Jugendselbstorganisa-

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Autor*innen

tion von Rom*nja und Nicht-Rom*nja mit dem Ziel, jungen Menschen durch Empowerment, Mobilisierung und Selbstorganisation Raum zu schaffen für politische und gesellschaftliche Beteiligung. Amaro Drom versteht sich als basisdemokratische Struktur, welche jungen Menschen Möglichkeiten zur Vernetzung, des gemeinsamen Lernens und Erlebens bietet, um gemeinsam Verantwortung zu übernehmen für Achtung und gegenseitigen Respekt. Als Bundesverband bietet Amaro Drom ein Netz des Austausches und der gegenseitigen Unterstützung der Landesverbände sowie der Zusammenarbeit mit anderen Jugendverbänden. ILINDA REBECCA  BENDLER, Sozialwissenschaftlerin M.A. (Soziologie, Ge-

schichte und Geschlechterforschung), ist freiberuflich tätig bei KARFI und aktives Mitglied in der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD). Als hauptamtliche, kommunale Gleichstellungsbeauftragte gibt sie Impulse für Veränderungsprozesse mit dem Ziel, Diskriminierungen entgegenzuwirken. Sie veröffentlichte u. a.: Bendler, Ilinda/Golly, Nadine (2018): Eine intersektionale und rassismuskritische Analyse der Methode ‚Privilegientest‘. URL: www.portal-in tersektionalität.de. Die zuletzt veröffentlichte Publikation von KARFI ist: KARFI (2019): Wechselnde Allianzen – rassismuskritische Bildungsarbeit in einem Schwarzen Bündnis, in: Bönkost, Jule (Hg.): Unteilbar: Bündnisse gegen Rassismus. Münster: Unrast. FALLON TIFFANY CABRAL, Dipl. Pol., promoviert an der Pädagogischen Hoch-

schule in Freiburg und an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Ihr Dissertationsprojekt befindet sich an der Schnittstelle von Rassismus- und Familien*forschung und untersucht in Anlehnung an queere, postkoloniale und phänomenologische Ansätze, wie race, Rassismen und andere gesellschaftliche Gewaltverhältnisse in Familien* von Black und PoC in Deutschland verhandelt werden. Zuletzt sprach sie auf der ‚3rd Annual Black Feminism, Womanism and the Politics of Women of Colour in Europe‘-Konferenz in Berlin zum Thema ‚food und belonging‘. Derzeit arbeitet sie an der Veröffentlichung ihres Vortrags ‚Chillies as Protest? Autoethnographic musings on my mom’s (unintended deco© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

Autor*innen

lonial) cooking practices‘. Sie ist seit mehreren Jahren als freiberufliche Dozentin und Trainerin der politischen Bildungsarbeit mit den Schwerpunkten Empowerment, Intersektionalität und Rassismuskritik tätig. ZÜLFUKAR ÇETIN ist Professor für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hoch-

schule Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Migrationspolitik, Antidiskriminierungspolitik, (antimuslimischer) Rassismus, (Post-)Kolonialismus, Queer Theorie und Politik, Heteronormativität und Homonationalismus sowie Intersektionalität. Im Jahr 2019 veröffentlichte er gemeinsam mit PeterPaul Bänziger das Buch: Aids und HIV in der Türkei. Geschichten und Perspektiven einer emanzipatorischen Gesundheitspolitik beim Psychosozialverlag. SABA-NUR CHEEMA, Dipl. Pol., ist pädagogische Leiterin der Bildungsstätte

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Anne Frank – Zentrum für politische Bildung und Beratung in Frankfurt/M. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen antisemitismus- und rassismuskritische Bildungsarbeit und religiöse Pluralität. Aktuelle Publikationen: Cheema, Saba-Nur (2019): Verdächtig sind die Anderen – Umgang mit islamistischem Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus in der Bildungsarbeit, in: Foitzik, Andreas/Hezel, Lukas (Hg.): Diskriminierungskritische Schule. Einführung in theoretische Grundlagen. Weinheim: Beltz. Berendsen, Eva/ Cheema, Saba-Nur/Mendel, Meron (Hg.) (2019): Trigger Warnung. Identitätspolitik zwischen Abwehr, Allianzen und Abschottung. Berlin: Verbrecher. LAURA DIGOH-ERSOY, Politologin M.A. und Dipl.-Pädagogin, ist freiberuflich

tätig bei KARFI, dem Schwarzen Bildungskollektiv, und aktiv in der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD). Sie begleitet als pädagogische Mitarbeiterin eines Wohlfahrtsverbandes Menschen unterschiedlichen Alters und in verschiedensten Lebenslagen durch ihren Freiwilligendienst. Sie ist u. a. Mitherausgeberin des 2017 in 2. Auflage erschienen Bandes ‚Spiegelblicke. Perspektiven Schwarzer Bewegung in Deutschland‘. Die zuletzt veröffentlichte Publikation von KARFI ist: KARFI (2019): Wechselnde Allianzen – rassismuskritische Bildungsarbeit in einem Schwarzen Bündnis, in: Bönkost, Jule (Hg.): Unteilbar: Bündnisse gegen Rassismus. Münster: Unrast. KARIM FEREIDOONI, Prof. Dr., ist Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissen-

schaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen, Schulforschung und Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft sowie Di© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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versity Studies für den Lehrer*innenberuf. Aktuelle Publikationen: Fereidooni, Karim/Hein, Kerstin/Kraus, Katharina (2018): Theorie und Praxis im Spannungsverhältnis. Beiträge für die Unterrichtsentwicklung. Band 2 der Buchreihe ‚Gemeinsam Schule gestalten‘, herausgegeben von Martin Drahmann und Jonas Scharfenberg. Münster/New York: Waxmann. Fereidooni, Karim/El, Meral (2017): Rassismuskritik und Widerstandsformen. Wiesbaden: Springer VS.

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NADINE GOLLY, Sozialwissenschaftlerin und Psychosoziale Beraterin, ist freibe-

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Autor*innen

ruflich tätig bei KARFI, dem Schwarzen Bildungskollektiv für Empowerment und rassismuskritische Bildung. Sie ist aktiv in der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und arbeitet in der Programmleitung Bildung bei einer Stiftung. Autorin verschiedener Beiträge im Bereich Bildung und Empowerment, u. a. Golly, Nadine/Digoh, Laura/Bendler, Ilinda (2016): Safer Spaces. Zur strategischen Gestaltung von empowernden Arbeitskontexten für Bildungsarbeitende of Color, in: BER (Hg.): Bon voyage! Rassismuskritische Wege in der entwicklungspolitischen Bildungs- und Projektarbeit, Berlin. S. 66 – 67. Die zuletzt veröffentlichte Publikation von KARFI ist: KARFI (2019): Wechselnde Allianzen – rassismuskritische Bildungsarbeit in einem Schwarzen Bündnis, in: Bönkost, Jule (Hg.): Unteilbar: Bündnisse gegen Rassismus. Münster: Unrast. NOA K. HA, Dr., ist seit Juli 2020 kommissarische wissenschaftliche Geschäfts-

führerin am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, DeZIM. Davor leitete sie geschäftsführend das Zentrum für Integrationsstudien an der TU Dresden. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind postkoloniale Stadtforschung, migrantisch-diasporische Erinnerungspolitik, kritische Integrationsforschung und Rassismuskritik. Zuletzt veröffentlichte sie „Vietdeutschland und die Realität der Migration im vereinten Deutschland“ in der APuZ 28 – 29/2020 sowie ‚From An Invisible Package of Unearned Assets: On White Privilege to A Visible Package of Exploited Assets: Cities in Europe‘ in: POW & UP – on Post-Otherness-Wedding, Galerie Wedding, Berlin, Ausstellungskatalog (2019) und den Sammelband ‚Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt – Gespräche Aushandlungen Perspektiven‘ (2017) und darin den Artikel ‚Zur Kolonialität des Städtischen‘ (S. 75 – 87). STEFAN E. HÖßL, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des NS-Dokumentati-

onszentrums der Stadt Köln, Fachstelle [m2] miteinander mittendrin. Für Demokratie – Gegen Antisemitismus und Rassismus. Im Feld der Forschung bildet die qualitativ-rekonstruktive Auseinandersetzung mit antidemokratischen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

Autor*innen

Phänomenen im Jugendalter einen zentralen Schwerpunkt für ihn. Hiermit verbundene Phänomene wie u. a. Antisemitismus und Rassismus, daneben aber auch die Beschäftigung mit Heterogenität und Differenz in der bundesrepublikanischen Migrationsgesellschaft stehen im Zentrum diverser seiner pädagogischen Tätigkeiten. Aktuelle Publikationen: Hößl, Stefan E. (2019): Antisemitismus unter ‚muslimischen Jugendlichen‘. Empirische Perspektiven auf Antisemitismus im Zusammenhang mit Religiösem im Denken und Wahrnehmen Jugendlicher. Wiesbaden: Springer VS Verlag. Broden, Anne/Hößl, Stefan E./ Meier, Marcus (Hg.) (2017): Antisemitismus, Rassismus und das Lernen aus Geschichte(n). Weinheim und Basel: Beltz Juventa. ÖZCAN KARADENIZ, M.A. Politikwissenschaften, ist Geschäftsführer der Ge-

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schäfts- und Beratungsstelle Leipzig des Verbands binationaler Familien und Partnerschaften. Er ist im Bereich der politischen Bildungsarbeit im Kontext von Migration, Diskriminierung, Diversity und Empowerment tätig. Aktuelle Publikationen: ‚Väter auf dem Weg. Erfahrungen und Herausforderungen in der interkulturellen Väterarbeit‘, in: Groß, Torsten/Huth, Susanne/Jagusch, Birgit/ Klein, Ansgar/Naumann, Siglinde (Hg.) (2017): Engagierte Migranten: Teilhabe in der Bürgergesellschaft. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. ‚Gesellschaftliche Perspektiven auf migrantische Väter und Herausforderungen der interkulturellen Väterarbeit‘, in: Kompetenzzentrum geschlechtergerechte Kinderund Jugendhilfe Sachsen-Anhalt e. V./Katholische Erwachsenenhilfe im Land Sachsen-Anhalt e. V. (Hg.) (2016): Fachreader: Genderblick auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. SHADI KOOROSHY, Dipl. Päd., ist Stipendiatin im Promotionskolleg ‚Migrati-

onsgesellschaftliche Grenzformationen‘ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. In ihrer laufenden Dissertation beschäftigt sie sich mit einer rassismuskritischen Re-Lektüre ausgewählter Texte Kants in Hinblick auf ihre Spuren in der Gegenwart – am Beispiel der Politischen Bildung. Aktuelle Publikation: Kooroshy, Shadi/Mecheril, Paul (2019). Wir sind das Volk. Zur Verwobenheit von race und state., in: Hafeneger, Benno/Unkelbach, Katharina/Widmaier, Benedikt (Hg.): Rassismuskritische Politische Bildung. Frankfurt/M.: Wochenschau Verlag, S. 78 – 91. PAUL MECHERIL, Prof. Dr., ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem

Schwerpunkt Migration an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. Zuvor war er als Universitätsprofessor an der Carl von Ossietzky © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Universität Oldenburg (2011 – 2019) sowie der Universität Innsbruck (2008 – 2011) tätig. Promotion in Psychologie mit einer Arbeit über das sprachliche Geschehen in Psychotherapiegesprächen an der Universität Münster (1991), Habilitation in Erziehungswissenschaft mit einer Arbeit zu (Mehrfach-)Zugehörigkeiten in der Migrationsgesellschaft (2001). Paul Mecheril beschäftigt sich unter anderem mit dem Verhältnis von Zugehörigkeitsordnungen, Macht und Bildung. Letzte Buchveröffentlichungen: Mecheril, Paul/Karakaşoğlu, Yasemin/ Goddar, Jeannette (2019): Pädagogik neu denken! Die Migrationsgesellschaft und ihre Lehrer_innen. Weinheim: Beltz. Dirim, İnci/Mecheril, Paul u. a. (2018). Heterogenität, Sprache(n), Bildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt/UTB. Gottuck, Susanne/Mecheril, Paul/Grünheid, Irina/Wolter, Jan (Hg.) (2018). Sehen lernen und verlernen. Perspektiven pädagogischer Professionalisierung. Wiesbaden: Springer VS. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Autor*innen

KERTI PUNI-SPECHT studiert Soziokulturelle Studien (MA) mit dem Schwer-

punkt auf Urban Studies und Kritische Migrationsforschung an der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt (Oder). Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Postkoloniale Theorien, Modernität/Kolonialität, Erinnerungspolitiken und politische Bildung. Sie ist studentische Mitarbeiterin bei Theater  X, einem jungem Community Theater in Berlin-Moabit, und Teach First Deutschland. MARIAM PUVOGEL ist Büroleiterin bei medico international in Palästina und Is-

rael. Von 2017 bis 2018 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin für den Verein ufuq.de zu Themen der postmigrantischen Gesellschaft, darunter Rassismus, Postkolonialismus und Islamismusprävention im Kontext der Produktion weißen Herrschaftswissens. ANNA SABEL, Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin, leitet das Bun-

desmodellprojekt „(Un)Sichtbarkeiten in der Migrationsgesellschaft. Storytelling angesichts von antimuslimischem Rassismus“ beim Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e. V. in Leipzig. Sie ist außerdem Produzentin bei Wunschkindfilm. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich antimuslimischer Rassismus und Gender. Zuletzt kuratierte sie die Sonderausstellung „Re:Orient. Die Erfindung des muslimischen Anderen“ (GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig) und die Wanderausstellung „Ein muslimischer Mann – kein muslimischer Mann“ und führte Regie beim Dokumentarfilm „Spendier mir einen Çay und ich erzähl dir alles“. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

Autor*innen

RIEM SPIELHAUS, Prof. Dr., ist Leiterin der Abteilung Wissen im Umbruch am

Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für Internationale Schulbuchforschung sowie Professorin für Islamwissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildung und Wissenskulturen an der Georg-August-Universität Göttingen. Sie forscht zur Institutionalisierung und Anerkennungsdiskursen des Islams in Deutschland und Repräsentationen des Islams in Schulbüchern und der Wissensproduktion über Muslim*innen in Europa. Zuletzt veröffentlichte sie den Sammelband Stimac, Zrinka/Spielhaus, Riem (2018): Schulbuch und religiöse Vielfalt. Göttingen: V&R unipress. Foroutan, Naika/Karakayali, Juliane/Spielhaus, Riem (2018): Postmigrantische Perspektiven: Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Frankfurt/M.: Campus Verlag. TRAN THU TRANG, B.A. Sozial-und Kulturanthropologie, ist Vorstandsmitglied

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des Migrationsrat Berlin e. V. und Mitglied des Berlin Asian Film Network. Ihre Schwerpunkte liegen in der (post-)migrationspolitischen und kulturpolitischen Arbeit. Sie ist Autorin von: Rauschenberger, Pia/Tran, Thi Thu Trang (2019): Die unangenehme Wahrheit sozialer Ungerechtigkeit [Radiosendung], in: Zeitfragen. Berlin, Deutschland: Deutschlandfunk Kultur. Tran, Thi Thu Trang (2013): Eigentlich stellte ich mir alles einfacher vor, in: korientation e. V. und Ha, Kien Nghi (Hrgs.): Freitext. Kultur – und Gesellschaftsmagazin, Jahrgang 11, Heft 21, S. 14 – 16. SINDYAN QASEM ist Sprachwissenschaftler und beforscht seit 2017 an der West-

fälischen Wilhelms-Universität Münster diskursive Formationen zu Islam in Deutschland. Er überträgt fortlaufend eigene wissenschaftliche Erkenntnisse in die praktischen Kontexte einer rassismus- und herrschaftskritischen politischen Bildung. Von 2014 bis 2017 arbeitete Qasem als wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Verein ufuq.de. SAPHIRA SHURE ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Erzie-

hungswissenschaft der Universität Bielefeld. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Themenbereichen ‚Bildung in der Migrationsgesellschaft‘, ‚Professionalisierung von Lehrer*innen‘ und ‚Kritische erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung‘ sowie in diskurstheoretischen Perspektiven und interpretativer Forschung. Aktuelle Publikationen: Steinbach, Anja/Shure, Saphira/Mecheril, Paul (2020): ‚The racial school‘. Die nationale Schule und ihre Rassekonstruktionen, in Karakayalı, Juliane (Hg.): Unterscheiden und Trennen. Die Herstellung von natio-ethno-kultureller Differenz und Segregation in der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Schule. Weinheim/Basel: Beltz. Mecheril, Paul/Shure, Saphira (2018): Schule als institutionell und interaktiv hervorgebrachter Raum, in: Dirim, İnci/Mecheril, Paul u. a.: Heterogenität, Sprache(n), Bildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt/UTB, S. 63 – 89.

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WOCHEN Autor*in nen SCHAU VERLAG

Antisemitismus

... ein Begriff für politische Bildung

Hans-Peter Killguss, Marcus Meier, Sebastian Werner (Hg.)

Bildungsarbeit gegen Antisemitismus Grundlagen, Methoden & Übungen

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Antisemitismus ist Teil der deutschen Geschichte, aber auch der deutschen Gegenwart. Insbesondere in Schulen kommt es immer wieder zu antisemitischen Beschimpfungen oder gar Übergriffen. Lehrkräfte, aber auch alle anderen, die mit Jugendlichen arbeiten, sehen sich daher mit der Frage konfrontiert, wie sie mit dem Thema umgehen sollen. Das Handbuch hilft nicht nur dabei, verschiedene antisemitische Phänomene zu erkennen und einzuordnen, es bietet neben einführenden Texten auch zahlreiche Methoden für den Einsatz in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit.

ISBN 978-3-7344-0894-6, 244 S., € 24,90 E-Book ISBN 978-3-7344-0895-3 (PDF), € 19,99

Die Herausgeber Hans-Peter Killguss ist Diplom-Pädagoge und seit 2008 Leiter der Info- und Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln. Marcus Meier ist Geschäftsführer der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und Lehrbeauftragter der Universität zu Köln. Sebastian Werner ist Politikwissenschaftler. Er leitet das Projekt „Jederzeit wieder! Gemeinsam gegen Antisemitismus!“ der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.

www.wochenschau-verlag.de

www.facebook.com/ wochenschau.verlag

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@ wochenschau-ver

Rassismus ist weit mehr als ein bloßes Konglomerat von Vorurteilen und schlichtweg falschen Annahmen über bestimmte Menschen, die als Mitglieder imaginierter Kollektive wahrgenommen werden. Rassistisches Wissen ist auch keineswegs auf die extreme Rechte beschränkt, sondern ein Bestandteil des kollektiven Wissens in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Überdies ist Rassismus ein machtvolles Element im Kampf um Ressourcen und Zugänge zu gesellschaftlichen Positionen. Dieses Buch wendet sich der Theorie und Praxis rassismuskritischer Bildung zu und ermöglicht Orientierungen in diesem komplexen Feld. Dabei kommen sowohl Wissenschaftler*innen als auch Praktiker*innen einer solchen Bildungsarbeit zu Wort. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

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Inhalt

Die Herausgeber Karim Fereidooni ist Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen, Schulforschung und Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft sowie Diversity Studies für den Lehrer*innenberuf. Stefan E. Hößl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, Fachstelle „ [m²] miteinander mittendrin. Für Demokratie – Gegen Antisemitismus und Rassismus“. Die qualitativ-rekonstruktive Auseinandersetzung mit antidemokratischen Phänomenen im Jugendalter ist zentraler Schwerpunkt seiner Arbeit.

ISBN 978-3-7344-1188-5

9 783734 411885

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