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German Pages 316 Year 2019
Li-Chun Lee Körper bilden
Image | Band 159
Li-Chun Lee, geb. 1981, promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin und forscht zu medizinischen Körperdarstellungen, Kulturtechniken und Bildtheorie. Er studierte bildende Kunst, Kunst- und Bildgeschichte sowie Kulturwissenschaft in Taiwan und Berlin.
Li-Chun Lee
Körper bilden Körperdarstellungen in der europäischen und chinesischen Medizin
Dissertation an der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Publikation wird ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung des Exzellenzclusters »Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor« sowie der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Vorderseite: Wang Qi: San cai tu hui, shen ti yi juan, 1609, S. 15. © National Central Library, Taiwan (R.O.C.), 309 08059 Rückseite: Vesalius, Andreas: Andreae Vesalii Bruxellensis, scholae medicorum Patavinae professoris, de Humani corporis fabrica Libri septem, Basileae 1543, S. 194. © Universitätsbibliothek Basel, AN I 15 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4801-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4801-4 https://doi.org/10.14361/9783839448014 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung | 7 1
Der Blick in den Körper | 31
1.1 Die Sichtbarkeit des Körperinneren | 31 1.2 Der geöffnete Körper im Bild | 36 1.3 Der Zugang zum Körperinneren | 48 Der Traum von einem ungehemmten Blick in das Körperinnere | 48 Die kulturspezifische Anatomie des Abendlandes | 54 Der Blick des Anatomen | 58 Der anatomische Blick des Künstlers | 62 Die Beobachtung der Färbungen (se 色) | 70 Die Beziehung zwischen Innen und Außen des Körpers | 80 2
Das Medium des Lebendigen: Die Luft und das qi 氣 | 93
2.1 Der Körper als Spannungsfeld voller heterogener qi | 94 2.2 Die Form des Körpers, die von qi hervorgebracht wird | 111 Exkurs: Das Bild, welches das qi in sich behält | 120 3
Das Bild der Eingeweide | 127
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Die anatomisierende Perspektive | 131 Die Besessenheit von der Form | 144 Das Körperbild als Diagramm | 153 Der gerasterte Bildraum | 160 Die Kartografie des Taktilen | 167
4
Das Bild der Gefäße und mai 脈 | 175
4.1 Die Venen, Arterien und Nerven | 186 4.2 Die »Leitbahnen« (mai 脈) | 191 4.3 Die auf den Körper geschriebenen Linien und Punkte | 196
5
Das Bild des Pulses | 205
5.1 Eine angemessene Sprache für den Puls | 210 Die Pulskurve als eine »universale Sprache« | 210 Die Metaphern und Darstellungen der Pulseigenschaften in der chinesischen Medizin | 223 5.2 Das Tasten des Pulses | 232 Das maschinelle Tasten des Sphygmographen | 235 Das Tasten in der chinesischen Pulslehre | 246 5.3 Die Musiknotation als Aufschreibesystem des Pulses | 250 Der fühlbare »Rhythmus« des Pulses | 250 Die Pulsdarstellung und die Musiknotation | 263 Schluss | 269 Literatur | 275 Abbildungsverzeichnis | 303 Danksagung | 313
Einleitung
DAS VERGLEICHEN VON BILDERVERGLEICHEN In der Erstausgabe der Zeitschrift The National Medical Journal of China aus dem Jahr 1915 finden sich zwei einander gegenübergestellte, jeweils in einem Rahmen eingefasste chinesische und westliche Körperdarstellungen (Abb. 1) unter dem Titel The Human Body. Dadurch, dass sie beide eine ähnliche Seitenansicht der menschlichen Figur aufweisen, wird ihre Vergleichbarkeit gefördert, während die unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen umso stärker hervortritt. Der anonyme Autor begründet die Gegenüberstellung der beiden Körperdarstellungen mit folgenden Worten: »The principal cause of the backwardness of Chinese as compared with Western medicine lies in the wrong foundation upon which the former is built. Take for instance the structure of the human body. In Chinese books, the drawings and descriptions are mostly inaccurate, as can be ascertained by dissection. Our modern native physicians continue to rely upon this deceptive knowledge for the treatment of their patients, and do infinite harm to our people. Every branch of knowledge must nowadays be exact, and medicine is one of the most important. We cannot afford to play with it or with the future of our race. In order to show the fallacy of these old ideas, I have taken a photo of a Chinese medical engraving placed side by side with an accurate picture of the human body. The difference is obvious.«1
Für ihn ist die bildliche Differenz evident. Aber wenn das Wort ›evident‹ auf das lateinische Wort ›evidens‹ zurückgeht und das Präfix ›ex-‹, ›aus-‹, ›heraus-‹ und das von dem Verb ›videre‹, ›Sehen‹, abgeleitete Partizip umfasst,
1
Anonym: »Wrong Ideas of the Structure of the Human Body«, in: The National Medical Journal of China 1.1 (1915), S. 51-52.
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Abbildung 1: Gegenüberstellung einer chinesischen und einer westlichen Darstellung des menschlichen Körpers in The National Medical Journal of China, 1915.
so soll diese evidente Differenz keineswegs lediglich auf der Ebene des videre, des Sehens, vorgeführt werden. Vielmehr soll sie über das vergleichende Sehen hinausgehen. Sie soll sich rasch in eine feste Polarität verwandeln, zu einem klaren Urteil verhelfen und schließlich durch die »Ungenauigkeit« der chinesischen Körperdarstellung die »Rückständigkeit« der chinesischen Medizin in völliger Gewissheit offenbaren. Die Rahmen, welche die zwei Körperdarstellungen umgeben, verbinden und trennen sie zugleich. Sie verleihen ihnen jeweils einen eigenen Bildraum, in dem Körper, Legenden, Hinweislinien und Benennungen der einzelnen Organe dargestellt, gezeichnet und eingetragen werden. Während die chinesische Darstellung den Körper durch eine Umrisslinie als abgeschlossenen Raum zeigt, blendet die westliche Darstellung den unteren Teil des Körpers aus. Im Gegensatz zur westlichen Darstellung des Körpers, in der eher die Silhouette des Kopfes als ein Gesicht zu erkennen ist, sind in der chinesischen Darstellung – wenn auch nur durch wenige einfache Pinselstriche angedeutet – Auge, Augenbraue, Nase, Nasolabialfalte, Lippen und Ohr zu sehen. Es fällt auf, dass
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der anonyme Autor seine Urteile ins Bild eingeschrieben hat: Unter dem chinesischen Körperbild ist »Inaccurate (Chinese)«, unter dem westlichen dagegen »Accurate (Western)« zu lesen. Er präzisiert diese Urteile in den auf Chinesisch eingetragenen Legenden weiter: »Die chinesische Körperdarstellung ist mangelhaft und nicht übereinstimmend« und »Die westliche Körperdarstellung ist wahrhaft und zuverlässig«. An dieser Stelle ist jedoch zu fragen: In welchem Sinne ist die chinesische Körperdarstellung »ungenau«? Womit eigentlich stimmt sie nicht überein? Mit dem darzustellenden Körper, mit der ihr gegenübergestellten Körperdarstellung einer anderen Kultur? Oder vielmehr nicht mit dem, was wir von einem Körperbild erwarten? Angesichts der Tatsache, dass diese chinesische Körperdarstellung über Hunderte von Jahren in der chinesischen Medizin verwendet und keineswegs für »ungenau« gehalten wurde, stellt sich die Frage, ob die chinesischen Ärzte eine andere Auffassung von »Genauigkeit« hatten. Verrät uns die bildliche Differenz, die der anonyme Autor als einen evidenten Beweis für die »Ungenauigkeit« des chinesischen Bildes vorführt, nicht vielmehr eine andere Vorstellung vom Körper und eine andere Ordnung der Sichtbarkeit des Körpers? Solange wir der bildlichen Differenz nicht vorschnell mit der Frage nach der »Genauigkeit« des Bildes begegnen, könnte sie sich also verschieben, verlagern, verzweigen und ständig neue Fragen eröffnen. Die durch die Differenz ausgelöste Bewegung ähnelt der »Überschreitung« im Sinne Michel Foucaults, wenn er schreibt: »Die Überschreitung durchbricht eine Linie und setzt unaufhörlich aufs Neue an, eine Linie zu durchbrechen, die sich hinter ihr sogleich wieder in einer Welle verschließt, die kaum eine Erinnerung zulässt und dann von neuem zurückweicht bis an den Horizont des Unüberschreitbaren.«2 Diese »Überschreitung« bedarf jedoch eines bestimmten Umgangs mit der zwischen den Bildern zutage getretenen Differenz. Um sich in eine solche Bewegung zu begeben, muss man wagen, das Evidente immer wieder der Dunkelheit anheimzugeben und sich dem Schwindel der Unbestimmtheit auszusetzen. Diese Gefahr ist der hohe Preis, den es für einen solchen Umgang mit dem Zwischen der Bilder zu zahlen gilt. Aber gerade dadurch erweist sich dieser Umgang, um mit Georges Didi-Huberman zu sprechen, als »eine Mine«,3 die über das
2
Foucault, Michel: »Vorrede zur Überschreitung«, in: ders.: Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits, Bd. I, 1954-1969, Frankfurt a. M. 2001, S. 320-342, hier S. 324.
3
Didi-Huberman, Georges: Atlas oder die unruhige fröhliche Wissenschaft, übersetzt von Markus Sedlaczek, Paderborn 2016, S. 12. Didi-Huberman bezeichnet den Atlas als »eine Mine«, ein »doppeltes, gefährliches, ja explosives Objekt«.
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Potential verfügt, das Kraftfeld in alle möglichen Richtungen auszubreiten und das Offenkundige zu beunruhigen und zu problematisieren – statt es ausschließlich zu analysieren oder ein für alle Mal abzumessen. Man könnte sagen, dass es zwei unterschiedliche Modi des Umgangs mit der bildlichen Differenz gibt. Der eine strebt nach einem endgültigen Urteil und hebt den produktiven Kontrast auf. Er verschließt und stabilisiert den Unterschied. Der andere dagegen ist auf der Suche nach der immer wieder erneut zu ziehenden Grenze, die sich unablässig auflöst, sowie nach der unbekannten Tiefe und der ungedachten Sphäre, die uns die Differenz darbietet. Es liegen in der Tat zahlreiche Forschungen in verschiedenen Disziplinen wie Anthropologie, Ethnologie, Physiognomie, Medizin und Kunstgeschichte vor, in denen das Gegenüberstellen bzw. Vergleichen von Bildern eine bedeutsame Rolle für die Wissenserzeugung spielt. 4 In der Kunstgeschichte beispielsweise wurde »über das rein Illustrative hinaus ein didaktisches Vorgehen«5 erst möglich, nachdem die Bilder seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durch die Einführung der Doppelprojektion nebeneinander gestellt und miteinander verglichen werden konnten.6 In seinem ambitionierten Buch Giotto und die Erfindung der dritten Dimension zog Samuel Y. Edgerton bemerkenswerte Vergleiche zwischen wissenschaftlichen Abbildungen in westlichen und chinesischen Abhandlungen.7 Am Beispiel von Philosophen und Künstlern verfolgte er die These, dass die Entstehung der Linearperspektive sowie des Chiaroscuro in der europäischen Renaissancekunst für die moderne Wissenschaft äußerst förderlich gewesen
4
Vgl. Bader, Lena; Gaier, Martin; Wolf, Falk [Hrsg.]: Vergleichendes Sehen, München [u.a.] 2010; Bruhn, Matthias; Scholtz, Gerhard [Hrsg.]: Der vergleichende Blick: Formanalyse in Natur- und Kulturwissenschaften, Berlin 2017.
5
Haffner, Dorothee: »›Die Kunstgeschichte ist ein technisches Fach‹: Bilder an der Wand, auf dem Schirm und im Netz«, in: Helas, Philine; Polte, Maren; Rückert, Claudia; Uppenkamp, Bettina [Hrsg.]: Bild/Geschichte: Festschrift für Horst Bredekamp, Berlin 2007, S. 119-129, hier S. 121.
6
Siehe ebd. sowie Dilly, Heinrich: »Lichtbildprojektion: Prothese der Kunstbetrachtung«, in: Below, Irene [Hrsg.]: Kunstwissenschaft und Kunst-vermittlung, Gießen 1975, S. 153-172.
7
Edgerton, Samuel Y.: Giotto und die Erfindung der dritten Dimension: Malerei und Geometrie am Vorabend der wissenschaftlichen Revolution, übersetzt von Fritz Böhler, Jürgen Reuß und Rainer Höltschl, München 2003.
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seien. Im vorletzten Kapitel spitzt er seine These mithilfe eines weiteren Vergleichs zu. Er möchte zeigen, dass die chinesischen Künstler nicht imstande gewesen wären, die von Jesuiten im 17. Jahrhundert nach China gebrachten, perspektivisch gezeichneten Bilder richtig zu verstehen und getreu wiederzugeben. Mithilfe dieses »fundamentale[n] Unterschied[s]« 8 glaubt Edgerton, die Frage, die am Anfang des Buches gestellt wurde, beantworten zu können: »Warum war das kapitalistische Europa nach 1500 die erste Zivilisation der Welt, die […] die damals höher entwickelten Kulturen des Ostens rasch überflügelte?« 9 Es ist nicht nötig, Edgerton an dieser Stelle auf eingehendere Weise zu widersprechen, da bereits einige Texte vorliegen, die seine These zu relativieren versuchen. 10 Uns interessiert vielmehr, wie er diesen Vergleich ausführt. Er zeigt dem Leser beispielsweise Marten de Vos’ Geburt Christi aus der Evangelicae historiae imagines (Abb. 2) und vergleicht diese mit einer Kopie eines chinesischen Künstlers (Abb. 3). Sodann erklärt er dem Leser: »Es fällt sofort auf, dass der Kopist die gesamte Komposition dem chinesischen Geschmack angepasst hat. Die Perspektive wurde nach chinesischer Tradition abgeflacht, Landschaftsdetails werden nach einheimischen Mustern dargestellt, und selbst die Hauptfiguren tragen orientalische Gesichtszüge. […] Der wichtigste Unterschied, der zeigt, wie wenig die traditionelle chinesische Bildkunst auf die Verbreitung der ›wissenschaftlichen‹ christlichen Meditationen Nadals vorbereitet war, betraf das Chiaroscuro.«11
8
Ebd., S. 273.
9
Ebd., S. 9.
10 Siehe Lynch, Michael: »The Production of Scientific Images: Vision and Re-Vision in the History, Philosophy, and Sociology of Science«, in: Pauwels, Luc [Hrsg.]: Visual Cultures of Science: Rethinking Representational Practices in Knowledge Building and Science Communication, Hanover [u.a.] 2006, S. 26-40; Bert, S. Hall: »The Didactic and the Elegant: Some Thoughts on Scientific and Technological Illustrations in the Middle Ages and Renaissance«, in: Baigrie, Brian S. [Hrsg.]: Picturing Knowledge: Historical and Philosophical Problems Concerning the Use of Art in Science, Toronto 1996, S. 3-39; Mahoney, Michael S.: »Diagrams and Dynamics: Mathematical Perspectives on Edgerton’s Thesis«, in: Shirley, John William; Hoeniger, F. David [Hrsg.]: Science and the Arts in the Renaissance, Washington [u.a.] 1985, S. 198-220. Vgl. auch Gombrich, Ernst H.: Kunst und Illusion: Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, übersetzt von Lisbeth Gombrich, Berlin 2002. 11 Edgerton: Giotto und die Erfindung der dritten Dimension, S. 250.
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Abbildung 2: Marten de Vos’ Geburt Christi aus der Evangelicae historiae imagines, 1593.
Edgertons Vergleich liegt eine implizite apriorische Asymmetrie zugrunde: einerseits eine zu kopierende Abbildung, die als Vorlage dient, und andererseits eine Kopie, die diese vorliegende Abbildung nachahmen soll, aber ihre Aufgabe offenbar nicht erfüllt hat. Zwar weist Edgerton auf stilistische Anpassungen, Übersetzungen und Transformationen hin, doch in seinen Augen entpuppen sich die Unterschiede letztlich als Unstimmigkeiten und als schlüssige Beweise für die Unfähigkeit des chinesischen Künstlers. Es verwundert daher nicht, dass Edgerton den Verschlingungen, Vermischungen und Widersprüchen, die den Differenzen zwischen Bildern innewohnen, keinen heuristischen Status zuerkannt, sondern sie auf die konkrete historische Situation hin interpretiert hat.12 Statt die »Vorlage« in Frage zu stellen und sich mit den beim Akt des Übersetzens entstandenen Spannungen zu befassen, gründet Edgerton seinen Vergleich auf einer Annahme, die an die Ideenlehre Platons erinnert. Bei Platon wird die Sphäre des wahren Seienden, also der Idee, dem Bereich des Sinnlichen hierarchisch gegenübergestellt. In diesem Modell wird das sinnliche Bild als ein Bild aufgefasst, welches das, was durch das Urbild (eidos) schon vor-bestimmt ist, nach-ahmt und nach-bildet. Das sinnliche Bild
12 Siehe ebd., S. 250-252.
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Abbildung 3: Die von einem chinesischen Künstler angefertigte Kopie von Marten de Vos’ Geburt Christi aus Nian zhu gui cheng, 1620.
kann sich in diesem Zusammenhang nur in der Relation zu dem übergeordneten, vorher bestehenden Vor-bild bestimmen und wird immer durch sein immanentes, als Makel erachtetes Anders-Sein gekennzeichnet. 13 Es ist zu erkennen, dass Edgertons Urteil auf einem zwischen Vor und Nach unterscheidenden Vergleichsmaßstab beruht. Ihm gilt das perspektivisch gestaltete Bild als
13 Zu Platons Bildverständnis siehe Böhme, Gernot: Theorie des Bildes, München 2004, S. 13-25. Dazu vgl. auch Schulz, Martin: Ordnungen der Bilder: Eine Einführung in die Bildwissenschaft, München 2005, S. 56-61; Därmann, Iris: Tod und Bild: Eine phänomenologische Mediengeschichte, München 1995. Gernot Böhme weist auf den Zusammenhang hin zwischen είκών, was im Deutschen mit ›Bild‹ wiedergegeben wird, und εικάζω, was ›vergleichen‹, ›ähnlich machen‹ heißt. Er betont außerdem, dass das Bild in der griechischen Tradition von Anfang an in einer Ähnlichkeitsbeziehung gedacht wird. (Siehe Böhme: Theorie des Bildes, S. 14) In unserem Zusammenhang ist aber der wesentliche Unterschied zwischen ›Vergleichen‹ und ›Vergleichend-ähnlich-machen‹ von Bildern zu betonen, denn während das Vergleichen einen Raum schafft, in dem die Bilder sich gegenseitig beleuchten, einander ähnlich erscheinen und voneinander unterscheiden können, setzt das Vergleichend-ähnlich-machen ein voreingenommenes Machtverhältnis voraus, unter dessen Druck sich ein Bild einem bestimmten anderen anzupassen hat.
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eine »getreue« Wiedergabe der Wahrnehmung und daher als ein Vorbild, das einen Vorrang genießt. Bei allen inhaltlichen Unterschieden unternehmen Edgerton und Platon einen ähnlichen Vergleich zwischen Bildern. Es geht ihnen nicht darum, dass eine Bild mit dem anderen zu vergleichen, um ihrer bildlichen Differenz, also der Vielfalt der Bildlichkeiten gewahr zu werden, sondern vielmehr darum, auf die Relation der Abbildlichkeit als solche hinzuweisen. Edgerton und Platon betrachten die Beziehung, die sie zwischen den Bildern voraussetzen und in der das eine das andere wiederholen soll, als selbstverständlich und sehen keinerlei Anlass, die Transzendenz bzw. Priorität, die sie dem nachzubildenden Bild zuschreiben, in Frage zu stellen. Insofern findet kein wirklicher Dialog zwischen den Bildern statt. Das Bild soll demjenigen Bild, das als wahrhaft, glaubwürdig und übergeordnet gilt, idealerweise einfach gleichen. Erinnern wir uns an die eingangs angesprochenen zwei Modi des Umgangs mit der Differenz zwischen Bildern, dann ist leicht zu erkennen, dass Edgertons Herangehensweise nicht in der Lage ist, die »Mine«, von der Didi-Huberman spricht, zu zünden. Ein entscheidender Grund dafür liegt wohl darin, dass er dem epistemischen Modell Platons folgt. Wie Platon setzt er die Existenz eines absolut »wahren« Bildes voraus. Wenn das eidos in Platons Ideenlehre das einzige wahre, allen sichtbaren Erscheinungen zugrunde liegende Bild ist, so ist das perspektivisch gestaltete Bild für Edgerton das einzige Bild, das die »wirklichen Oberflächenmerkmale der Erscheinungswelt«14 wiedergeben und alleinigen Anspruch auf die Wahrheit erheben kann. Wenn er dieses Bild einem anderen Bild gegenüberstellt, so geht es ihm stets darum, das andere Bild anhand der Unterschiede zurückzuweisen. Es bleibt aber zu fragen, ob die durch die Gegenüberstellung von Bildern zutage geförderten Unterschiede nicht gerade ein eindeutiger Beleg dafür wären, dass es vielfältige Erscheinungsweisen und Darstellungsmöglichkeiten der Wirklichkeit gibt, die sich zugleich als Denkweisen deuten lassen. Zeigen sie uns nicht vielmehr, dass der Glaube an das Vorhandensein eines absolut »wahren« Bildes eher eine Ideologie ist? Wenn wir die Wahrhaftigkeit eines Bildes nicht am anderen zu messen suchen, eröffnen die Unterschiede, die sich zwischen den Bildern zeigen, eine produktive Distanz, die uns nötigt, nicht
14 Edgerton: Giotto und die Erfindung der dritten Dimension, S. 16.
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lediglich über die Unterschiede nachzudenken, sondern auch die Bilder ihrerseits erneut zu thematisieren und zu reflektieren. 15
DAS VERGLEICHEN VON KÖRPERBILDERN In der vorliegenden Arbeit werden Körperbilder in der westlichen und chinesischen Kultur miteinander verglichen. Den Anlass für den Vergleich zwischen diesen Körperbildern aus verschiedenen Kulturen liefert der Umstand, dass Körperdarstellungen in der Medizin allgegenwärtig sind: In der Gegenwart spielen die durch verschiedene bildgebende Verfahren hergestellten Bilder für die Prognose und Diagnose von Krankheiten sowie für die Behandlung des Körpers eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Wie Markus Buschhaus schreibt, werden die Körperbilder »auf der einen Seite zwar als Notwendigkeit aufgefasst, auf der anderen Seite aber gleichzeitig als Zumutung erfahren«. 16 Um diese Autorität der Bilder zu hinterfragen, hat Buschhaus das anatomische Wissen in den Mittelpunkt seiner Studie gestellt und die Anatomie nicht nur medienarchäologisch analysiert, sondern auch die mit ihr einhergehende Ordnung der Sichtbarkeit untersucht.17 Wenn in der vorliegenden Arbeit – im Unterschied zu Buschhaus’ Herangehensweise – Körperbilder aus zwei unterschiedlichen Kulturen einem Vergleich unterzogen werden, so geht es darum, einen Perspektivwechsel von der Analyse des anatomischen Wissens hin zu einer Problematisierung des Körperbildes zu vollziehen. Es wird nicht gefragt, auf welche Weise die Körperbilder einen entscheidenden Anteil an der Wissensproduktion und -organisation haben oder wie sich die Herstellungsweise der Körperbilder im Laufe der Geschichte verändert hat, sondern vielmehr versucht, die scheinbar selbstverständliche Verbindung zwischen »Körper« und »Bild« in Frage zu stellen.
15 In seinem Buch Remontagen der erlittenen Zeit schreibt Didi-Huberman: »Der Vergleich ist nämlich in der Tat keine Übung, die sich in aller Ruhe ausführen ließe: Heißt Vergleichen nicht, den Konflikt zu begreifen, den jedes Bild im Kontakt mit einem anderen Bild zum Ausbruch bringen kann?« (Didi-Huberman, Georges: Remontagen der erlittenen Zeit, übersetzt von Markus Sedlaczek, Paderborn 2014, S. 178-179.) 16 Buschhaus, Markus: Über den Körper im Bilde sein: Eine Medienarchäologie anatomischen Wissens, Bielefeld 2005, S. 8. 17 Siehe ebd.
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Abbildung 4: Jeff Wall: Adrian Walker, artist, drawing from a specimen in a laboratory in the Department of Anatomy at the University of British Columbia, Vancouver, 1992.
Ohne Zweifel scheint eine solche Fragestellung auf den ersten Blick trivial zu sein, denn in allen Kulturen wird der Körper als Bild wahrgenommen, zum Bild gemacht und im Bild dargestellt.18 Aber meine Arbeit zielt darauf, zu zeigen, dass es ebenso naiv wäre, die Sichtbarkeit des Körpers einfach als unproblematische Grundlage für das Im-Bilde-Sein des Körpers anzusehen. Uns soll Jeff Walls Fotografie Adrian Walker, artist, drawing from a specimen in a laboratory in the Department of Anatomy at the University of British Columbia, Vancouver (Abb. 4) als ein gutes Beispiel für diese instabile Beziehung zwischen Körper und Bild dienen. Das Werk zeigt einen Moment, in dem sich der Körper noch als etwas Störrisches erweist und sich hartnäckig weigert, im Bild fixiert zu werden; einen Moment, in dem der Künstler – obwohl sein Blick auf dem Papier verweilt und seine Rechte noch den Stift hält – aufhören muss, den Anblick des vor ihm liegenden Armes auf das Papier zu bannen. Sein Kinn auf die linke Hand stützend, verliert er sich in Gedanken. In diesem Moment verwandelt sich der Künstler, Adrian Walker, in einen Denker und nimmt eine ähnliche Pose ein wie der Engel in Dürers Melencolia
18 Vgl. Belting, Hans: Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2006, insb. S. 87-113.
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I. Man könnte an dieser Stelle sagen, dass der Abgrund zwischen Körper und Bild, in den der Künstler beim Abzeichnen so lange geblickt hat, nun umgekehrt in ihn fragend blickt und ihm seine bisherigen Gewissheiten entzieht. In Bezug auf dieses Werk hat Bruno Latour einmal gefragt: »Was könnte […] geheimnisvoller sein als jene Kluft zwischen einer Kopie und ihrer Vorlage?«19 Können wir nicht in einem ganz ähnlichen Sinne fragen: Was könnte geheimnisvoller sein als jene Kluft zwischen einem »Körper« und seinem »Bild«? Es ist zu betonen, dass Adrian Walker sich in einer relativ günstigen Situation befindet: Der vor ihm liegende Körper ist ein mumifizierter Arm auf einem Stofftuch. Er ist bereits gereinigt, getrocknet, in eine bestimmte Position gebracht, still, unbeweglich und zeigt sich als ein bearbeiteter Gegenstand. Der Künstler muss ihn gar nicht berühren, geschweige denn enthäuten, zerteilen oder Schicht für Schicht analysieren. Er arbeitet von vornherein an einem sauberen Stilleben. Aber es ist zu betonen, dass eine arrangierte Szene wie diese höchst künstlich ist, vor allem wenn es sich dabei, wie der Titel des Kunstwerks deutlich macht, um eine Begegnung mit dem Körper »in a laboratory in the Department of Anatomy« handelt. Wir sollten nicht vergessen, dass eine anatomische Arbeit niemals so sauber ausgeführt werden kann, wie hier dargestellt wird. Der Anatom muss den Körper öffnen, das weiche, blutige, lästige Körperinnere bearbeiten, die materiellen Nuancen verfolgen, das Nebensächliche vom Wesentlichen unterscheiden, die undurchsichtige Masse des Fleisches definierend zerlegen und eine Struktur des Körpers herausarbeiten, um sich schließlich ein Bild von ihm zu machen. Die anatomische Arbeit am Körper ist daher immer eine anspruchsvolle und schmutzige Handarbeit.20 Man könnte sogar sagen, dass dieser Arm, bevor er als eine zu zeichnende Vorlage vor dem Künstler liegt, schon lange als Bild gedacht und zum Bild gemacht worden ist. In Wirklichkeit ist der rohe Körper Chaos. Sofern der Körper nicht aufgeteilt, differenziert und mittels Wort und Bild symbolisch durchgestaltet wor-
19 Latour, Bruno: »Die Ästhetik der Dinge von Belang«, in: Heiden, Anne von der; Zschocke, Nina [Hrsg.]: Autorität des Wissens: Kunst- und Wissenschaftsgeschichte im Dialog, Zürich 2012, S. 27-46, hier S. 28. 20 Vgl. Böhme, Hartmut: Der anatomische Akt: Zur Bildgeschichte und Psychohistorie der frühneuzeitlichen Anatomie, Gießen 2012.
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den ist, bleibt er abstrus und anarchisch, unbezeichenbar und unaussprechlich.21 Er ist, dem »Abjekt« im Sinne Julia Kristevas ähnlich, weder Objekt noch Subjekt, sondern eine Quelle von Horror, Angst und Unruhe.22 Aus dieser Perspektive ist der Körper nicht als ein gegebenes Objekt, das schon vorhanden und jederzeit bereit wäre, aufs Papier übertragen zu werden, sondern vielmehr als ein Ding aufzufassen, das seiner ursprünglichen Etymologie zufolge die Volks- und Gerichtsversammlung oder den Ort bedeutet, wo Leute zusammenkommen, um über bestimmte Angelegenheiten zu sprechen. Dementsprechend ist das Körperbild nicht als ein Double, nicht als ein bloßes Abbild des Körpers zu verstehen. Die »Sichtbarkeit« des Körperbildes darf folglich nicht mit der »Sichtbarkeit« des Körpers gleichgesetzt werden. Vielmehr müssen wir das Bild als eine bedeutsame »Kulturtechnik«23 anerkennen. Das Bild schafft nicht nur einen »Denkraum« im Sinne Aby Warburgs, also eine notwendige Distanz zum Chaos, das aus dem Körper hervorwuchert und uns bedrängt. 24 Erst durch das Bildermachen entstehen Schnitte durch dieses
21 Siehe ebd., S. 49-51. 22 Kristeva, Julia: Powers of Horror: An Essay on Abjection, New York 1982, S. 132. 23 Zum Begriff »Kulturtechnik« siehe Winthrop-Young, Geoffrey: »Cultural Techniques: Preliminary Remarks«, in: Theory, Culture & Society 6 (2013), S. 3-19; Siegert, Bernhard: »Türen: Zur Materialität des Symbolischen«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), S. 151-170; Macho, Thomas: »Tiere zweiter Ordnung: Kulturtechniken der Identität und Identifikation«, in: Baecker, Dirk; Kettner, Matthias; Rustemeyer, Dirk [Hrsg.]: Über Kultur: Theorie und Praxis der Kulturreflexion, Bielefeld 2008, S. 99-117; Krämer, Sybille; Bredekamp, Horst: »Kultur, Technik, Kulturtechnik: Wider die Diskursivierung von Kultur«, in: dies. [Hrsg.]: Bild, Schrift, Zahl, München 2003, S. 11-22 und vor allem Siegert, Bernhard: »Introduction: Cultural Techniques, or, The End of the Intellectual Postwar in German Media Theory«, in: ders.: Cultural Techniques: Grids, Filters, Doors, and Other Articulations of the Real, New York 2015, S. 1-17 und ders.: »Kulturtechnik«, in: Maye, Harun; Scholz, Leander [Hrsg.]: Einführung in die Kulturwissenschaft, München 2011, S. 95-118. 24 Zum Begiff »Denkraum« siehe Warburg, Aby: »Mnemosyne Einleitung [1929]«, in: ders.: Werke in einem Band, Berlin 2010, S. 629; ders.: »Per Monstra ad Sphaeram« Sternglaube und Bilddeutung: Vortrag in Gedenken an Franz Boll und andere Schriften 1923 bis 1925, München 2005, S. 70; ders.: Schlangenritual: Ein Reisebericht, Berlin 2011, S. 75.
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Abbildung 5: Körperdarstellung aus
Abbildung 6: Körperdarstellung aus Lei jing
Andreas Vesalius’ De humani corporis
tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt.
fabrica libri septem, 1543.
Chaos, die eine Orientierung, eine Ordnung oder gar eine Ausrichtung ermöglichen und dadurch einen sichtbaren und lesbaren Körper hervorbringen. Dieser Aspekt des Bildes tritt vor allem dann hervor, wenn wir die Körperbilder aus vergleichender Sicht betrachten. 25 Stellen wir beispielsweise eine Darstellung aus Vesalius’ De corporis humani fabrica libri septem (Abb. 5) einer anderen Darstellung aus der chinesischen Medizin (Abb. 6) gegenüber, so erkennen wir sofort erhebliche Unterschiede: Während in Vesalius’ Bild
25 In seinen Schriften hat der Medizinhistoriker Shigehisa Kuriyama aufschlussreiche Vergleiche von Körperbildern in der europäischen und chinesischen Medizin unternommen. Zwar besteht sein Anliegen in erster Linie darin, die Divergenz zwischen der europäischen und der chinesischen Medizin zu veranschaulichen und die Frage nach den unterschiedlichen Vorstellungen vom Körper zu eröffnen. Doch seine Vergleiche sind auch für die Bildfrage von Interesse und haben der vorliegenden Untersuchung wesentliche Impulse gegeben. Siehe: Kuriyama, Shigehisa: The Expressiveness of the Body and the Divergence of Greek and Chinese Medicine, New York 1999, S. 8-9.
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eine enthäutete männliche Figur dargestellt wird, ist auf dem chinesischen Bild eine bärtige halbnackte Figur zu sehen. Der chinesischen Körperdarstellung fehlt die Muskulatur, die im europäischen Bild detailliert zur Schau gestellt wird. Die europäische Körperdarstellung zeigt dagegen keine punktierte Linie, wie sie auf dem Arm der Figur in der chinesichen Darstellung erscheint. Die Differenzen, die hier durch die Gegenüberstellung plötzlich sichtbar werden, veranschaulichen nicht nur die Vielfalt von Sichtbarkeiten und Lesbarkeiten des Körpers in unterschiedlichen Kulturen, sondern verweisen auf den Operationsraum, in dem verschiedene Kulturen den Körper auf unterschiedliche Weisen erschließen. Die Differenzen machen uns einerseits auf die Kontingenz jedes Körperbildes aufmerksam, aber andererseits auch darauf, dass in diesem Operationsraum unzählige mögliche Formen des Körpers entstehen können. Im Vorwort zu Les Mots et les choses gibt es eine bekannte Stelle, an welcher Foucault einen Text von Jorge Luis Borges über eine »chinesische Enzyklopädie« zitiert und seine kritische Auseinandersetzung mit der »Ordnung der Dinge« auf seine Begegnung mit diesem Text zurückführt. 26 Foucault schreibt über das »Lachen«, das bei der Lektüre dieser Enzyklopädie »alle Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt, des Denkens unserer Zeit und unseres Raumes, das alle geordneten Oberflächen und alle Pläne erschüttert, die für uns die zahlenmäßige Zunahme der Lebewesen klug erscheinen lassen und unsere tausendjährige Handhabung des Gleichen und des Anderen schwanken läßt und in Unruhe versetzt.«27 Er schreibt aber auch über das »Unbehagen«, das mit dem Lachen vermischt ist: »Vielleicht, weil in seiner Folge der Verdacht aufkam, daß es eine schlimmere Unordnung gäbe als die des Unstimmigen und der Annäherung dessen, was nicht zueinander paßt.«28 Wie ein ins Wasser geworfener Stein, der am Anfang nur die Oberfläche des Wassers kräuseln sollte, doch am Ende auf unerwartete Weise einen alles in die Tiefe ziehenden, stürmischen Strudel verursacht, stellt uns die chinesische Enzyklopädie von Borges, obgleich sie nur imaginär ist, sobald sie mit der gewöhnlichen Ordnung, in die wir eingebettet sind, in Kontakt gerät, so unerwartete wie unangenehme Fragen: Fragen, die – wie es bei Foucault geschehen ist – jede Ordnung ihrer Unschuld berauben und alle Begriffe unseres Denkens in Zweifel ziehen. Es handelt sich um eine schlagartige Entlarvung
26 Siehe Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1974, S. 17-20. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 19-20.
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des gewohnten Raumes der Sprache und Dinge als »Utopie«, also als NichtOrt, und auch um die Konfrontation mit der »Heterotopie«: »Die Heterotopien beunruhigen, wahrscheinlich weil sie heimlich die Sprache unterminieren, weil sie verhindern, daß dies und das benannt wird, weil sie die gemeinsamen Namen zerbrechen oder sie verzahnen, weil sie im voraus die ›Syntax‹ zerstören, und nicht nur die, die die Sätze konstruiert, sondern die weniger manifeste, die die Wörter und Sachen (die einen vor und neben den anderen) ›zusammenhalten‹ läßt.«29
Auch wenn Foucault keinen wirklichen Vergleich von Bildern unternommen hat, erzeugt seine Lektüre der chinesischen Enzyklopädie eine Wirkung, die ein derartiger Vergleich auslösen könnte. Foucault führt das Fremde – ganz im Geist Nietzsches30 – nicht auf das Bekannte zurück, sondern lässt das Fremde aufbrechen, hervortreten, wuchern und in einer nervösen Spannung zum Gewohnten stehen, bis dieses sich selbst als problematisch und fremd erweist. Foucault ist zwar bekannt für seine kritische Einstellung zu der dialektischen Sprache der traditionellen Philosophie, die durch die Auffindung und Aufhebung der Gegensätze nach der Synthese sucht. Aber in seiner kritischen und archäologischen Diskurs- und Bildanalyse ist er auf keinen Fall nicht-dialektisch vorgegangen.31 Sein Mittel gegen die Dialektik ist nichts anderes als eine weitere Dialektik, die dialektischer als die Dialektik ist, also eine kritische Dialektik, die sich selbst von Grund auf problematisiert. Wenn Foucaults Lektüre des »Atlas des Unmöglichen«32 für das Vergleichen von Körperbildern eine didaktische Dimension besitzt, dann besteht sie darin, dass uns Foucault auf eine wenn auch latente, doch subversive Kraft, die dem Akt des Vergleichens innewohnt, aufmerksam macht: Das Vergleichen – sofern wir das Fremde, Unmögliche, Heterogene, Lächerliche rechtfertigen wollen und uns nicht davor scheuen, auf die Kehrseite des Vertrauten, Bekannten, Evidenten und Bewiesenen zu blicken – bietet uns eine Möglichkeit, diejenigen Bilder,
29 Ebd., S. 20. 30 Siehe Nietzsche, Friedrich: »Die fröhliche Wissenschaft«, in: ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 3, Berlin [u.a.] 1988, S. 343-651, hier S. 593-594. 31 Denken wir z.B. an die polaren Gegensätze von ›Utopie‹ und ›Heterotopie‹, ›Maler‹ und ›Modell‹, ›Licht‹ und ›Schatten‹, ›Bild‹ und ›Betrachter‹, ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, die Foucault in Die Ordnung der Dinge so inspirierend und einflussreich prägt. 32 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 19.
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die angeblich unseren Körper wiedergeben, zu hinterfragen und das, was unserem Denken bislang entgangen ist, zu denken. In einem Zeitalter, in dem eine große Anzahl von »ganz normalen Bildern«33 in, an, von und aus unserem Körper produziert wird, wäre das Vergleichen von Körperbildern vor allem von Bedeutung, weil die zwischen den Bildern zutage getretene Distanz den für gewöhnlich vergessenen Bindestrich, der Körper und Bild miteinander verbindet, wieder sichtbar macht. Diese Distanz zerbricht das Körperbild und stellt die Normalität und Natürlichkeit der wissenschaftlichen Bilder in Frage, die unserem Körper eine bestimmte Bildlichkeit zuschreiben. Sie nötigt uns, zu fragen, warum unser eigener Körper auf diese oder jene Weise dargestellt wird. Die Reflexion über die Kontingenz des Körperbildes ist in der Tat nicht neu, denn das wissenschaftliche Körperbild ist längst Gegenstand vieler Untersuchungen.34 Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert und insbesondere seit dem »iconic turn« und »pictorial turn« werden verschiedene wissenschaftliche Körperbilder in vielen interdisziplinär angelegten Untersuchungen und Fallstudien im Hinblick auf ihre technischen Herstellungsweisen und gesellschaftlichen Wahrnehmungsformen analysiert. 35 Viele Forscher heben die mediale
33 Siehe Gugerli, David; Orland, Barbara [Hrsg.]: Ganz normale Bilder: Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit, Zürich 2002. 34 Um nur einige Beispiele zu nennen: Carlino, Andrea: Paper Bodies: A Catalogue of Anatomical Fugitive Sheets, 1538-1687, übersetzt von Noga Arikha, London 1999; Choulant, Ludwig: Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung nach ihrer Beziehung auf anatomische Wissenschaft und bildende Kunst, Wiesbaden 1971; Fichtel, Folker: Die anatomische Illustration in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2006; Vollmuth, Ralf: Das anatomische Zeitalter: Die Anatomie der Renaissance von Leonardo Da Vinci bis Andreas Vesal, München 2004; Wolf-Heidegger, Gerhard; Cetto, Anna Maria: Die anatomische Sektion in bildlicher Darstellung, Basel [u.a.] 1967; Herrlinger, Robert: Geschichte der medizinischen Abbildung 1: Von der Antike bis um 1600, München 1967; Putscher, Marielene: Geschichte der medizinischen Abbildung 2: Von 1600 bis zur Gegenwart, München 1972; Belting, Hans; Kamper, Dietmar; Schulz, Martin [Hrsg.]: Quel corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002. 35 Siehe beispielsweise Cartwright, Lisa: Screening the Body: Tracing Medicine’s Visual Culture. Minneapolis [u.a.] 1995; Dommann, Monika: Durchsicht, Einsicht, Vorsicht: Eine Geschichte der Röntgenstrahlen, 1896-1963, Zürich 2003; Jones,
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Konstruiertheit und Kontingenz des Körperbildes hervor, indem sie beweisen, in welchem Ausmaß die Apparaturen, Handlungsprozesse, Entscheidungen und Interventionen daran beteiligt sind, bis ein Bild als eine getreue Wiedergabe unseres Körpers angesehen wird.36 Andere Forscher greifen auf eine herkömmliche Methode, nämlich die Historisierung, zurück. Sie schreiben eine chronologische Geschichte der anatomischen Abbildung und arbeiten die komplexen Beziehungen zwischen Wissenschaftlern, Medizinern und Künstlern im Laufe der Geschichte heraus.37
Caroline A.; Galison, Peter; Jones, Caroline A. [Hrsg.]: Picturing Science, Producing Art, New York [u.a.] 1998; Heintz, Bettina; Huber, Jörg [Hrsg.]: Mit dem Auge denken: Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich [u.a.] 2001; Lynch, Michael; Woolgar, Steve [Hrsg.]: Representation in Scientific Practice, Cambridge 1990; Müller, Irmgard; Fangerau, Heiner: »Medical Imaging: Pictures ›as if‹ and the Power of Evidence«, in: Medicine Studies 3 (2010), S. 151-160; Rheinberger, Hans-Jörg [Hrsg.]: Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997; Sarasin, Philipp [Hrsg.]: Bakteriologie und Moderne: Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren, 1870-1920, Frankfurt a. M. 2007; Sarasin, Philipp; Tanner, Jakob [Hrsg.]: Physiologie und industrielle Gesellschaft: Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998. 36 Siehe beispielsweise Frank, Robert G. Jr.: »The Telltale Heart: Physiological Instruments, Graphic Methods, and Clinical Hopes, 1854-1914«, in: Coleman, William; Holmes, Frederic L. [Hrsg.]: The Investigative Enterprise: Experimental Physiology in Nineteenth-century Medicine, Berkeley [u.a.] 1988, S. 211-290; Schinzel, Britta: »Wie Erkennbarkeit und visuelle Evidenz für medizintechnische Bildgebung naturwissenschaftliche Objektivität unterminieren«, in: Hüppauf, Bernd; Wulf, Christoph [Hrsg.]: Bild und Einbildungskraft, München 2006, S. 354-370; Scholz, Susanne; Griem, Julika [Hrsg.]: Mediatisierungen des Unsichtbaren um 1900, Paderborn 2010; Schuller, Marianne; Reiche, Claudia; Schmidt, Gunnar [Hrsg.]: BildKörper: Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin, Hamburg 1998. 37 Siehe etwa Cunningham, Andrew: The Anatomical Renaissance: The Resurrection of the Anatomical Projects of the Ancients, Aldershot [u.a.] 1997; Cunningham, Andrew: The Anatomist Anatomis’d: An Experimental Discipline in Enlightenment Europe, Farnham [u.a.] 2010.
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Es gibt noch weitere Forscher, die die beiden genannten Herangehensweisen miteinander bewusst kombinieren und die Historisierung der wissenschaftlichen Bilder nicht auf eine schlichte ikonografische Bildanalyse beschränken. Lorraine Daston und Peter Galison etwa zeigen in ihren einflussreichen Arbeiten am Beispiel der wissenschaftlichen Atlanten, dass nicht nur die Bilder und ihre Darstellungsweisen, sondern auch scheinbar unhintergehbare Konzepte wie die »Objektivität« und die »wissenschaftliche Tatsache« eine Geschichte haben.38 Diese heute hauptsächlich von Wissenschaftshistorikern unternommene Verschiebung des Blickwinkels geht auf Ludwik Fleck zurück, der als Wegbereiter der »historischen Epistemologie« auf die historische Bedingtheit des Wissens hingewiesen hat und die These vertritt, dass jede wissenschaftliche Tatsache ein soziologisches und historisches Produkt eines »Denkkollektivs« ist.39 Flecks Verdienst besteht des Weiteren darin, dass er den aus der Kunstgeschichte stammenden Begriff »Stil« durch die Einführung des Begriffs »Denkstil« erneuert hat. 40 Unter Flecks Einfluss und durch zahlreiche folgende Untersuchungen der jüngeren Generation ist der Begriff »Stil« ein effektives Instrument geworden, das es ermöglicht, die Fakten nicht mehr als etwas Gegebenes, sondern als etwas Gewordenes zu entlarven: also als etwas, das historisch veränderlich, kontingent, trickreich und artifiziell ist.41 Vor die-
38 Daston, Lorraine; Galison, Peter: »Das Bild der Objektivität«, in: Geimer, Peter [Hrsg.]: Ordnungen der Sichtbarkeit: Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002, S. 29-99; Daston, Lorraine; Galison, Peter: Objektivität, Frankfurt a. M. 2007; Daston, Lorraine: Wunder, Beweise und Tatsachen, Frankfurt a. M. 2001. 39 Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 1994; ders.: Erfahrung und Tatsache: Gesammelte Aufsätze, Frankfurt a. M. 1983. Zur »historischen Epistemologie« siehe Rheinberger, Hans-Jörg: Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg 2007. 40 Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. 41 Zur »Stilfrage« siehe Bredekamp, Horst; Werner, Gabriele: »Bildunterschätzung – Bildüberschätzung: Ein Gespräch der ›Bilder des Wissens‹ mit Michael Hagner«, in: Bildwelten des Wissens: Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 1.1 (2003), S. 103-111. Zum Stilbegriff in der Wissenschaftsgeschichte siehe Hacking, Ian: »Ein Stilbegriff für Historiker und Philosophen«, in: Nach Feierabend: Zürcher
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sem Hintergrund ist die Historisierung des Körperbildes nicht nur darauf angelegt, die Wahrhaftigkeit, die das wissenschaftliche Bild für sich beansprucht, zu relativieren, sondern auch darzulegen, inwieweit diese von Brüchen, Transformationen und Diskontinuitäten geprägte Geschichte des »wahren Bildes« tatsächlich eine Reihe von wandelbaren »Stilen« ist.
DIE KULTURSPEZIFITÄT UND DIE ANACHRONISMEN DER KÖRPERBILDER Diese historisierende Herangehensweise wird der Analyse der Körperbilder gerecht, solange sich die Brüche, welche die Geschichte durchziehen, nicht in ein formelles Raster verwandeln, das unsere Auseinandersetzung mit den Bildern in eine starre periodische Struktur einzwängt. In der Tat erweist sie sich als problematisch, wenn man beispielsweise zwei bekannte »Paradigmenwechsel«, nämlich die Wiederbelebung der Anatomie im 16. Jahrhundert und die Entwicklung der »modernen« Lebenswissenschaften im 19. Jahrhundert, aus interkultureller Perspektive betrachtet. Für gewöhnlich wird angenommen, dass diese zwei Trennlinien quer durch den Fluss der Zeit verlaufen, so dass es ein Davor und ein Danach gibt. Während das Danach mit einem neuen Stil, einem neuen Anfang beginnt, wird das Davor überholt. Dieser Konzeption zufolge geht der erstere Paradigmenwechsel mit einem »definitive establishment of a visual anatomical culture«42 in der frühen Neuzeit einher, während der letztere durch die Hinwendung zum Lebendigen und die Entstehung einer neuen Art von Bildkonzepten gekennzeichnet ist. Es ist jedoch zu sehen, dass wir, ausgehend von der »Wiedergeburt« der Anatomie, kaum in der Lage sind, über die spezifische Bedeutung, die der Anatomie allein in der europäischen Kultur zugeschrieben wird, zu reflektieren. Dieser Bruch, der die Geschichte durchzieht, setzt nämlich voraus, dass die Anatomie eine selbstverständliche Praxis gewesen sei, die irgendwann hätte wiederbelebt werden müssen. Aber angesichts der Tatsache, dass in der
Jahrbuch für Wissensgeschichte 1 (2005), S. 139-167; Zittel, Claus: »Ludwik Fleck und der Stilbegriff in den Naturwissenschaften: Stil als wissenschaftshistorische, epistemologische und ästhetische Kategorie«, in: Bredekamp, Horst; Krois, John [Hrsg.]: Sehen und Handeln, Berlin 2011, S. 171-206. In Zittels Aufsatz findet sich eine ausführliche Bibliographie zum Stilbegriff. 42 Carlino: Paper Bodies, S. 13.
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Geschichte der chinesischen Medizin – im Gegensatz zur europäischen – nur wenige anatomische Sektionen dokumentiert sind und dass die Anatomie eher eine geringe Rolle für die Theoriebildung der chinesischen Medizin spielt, müssen wir uns mit ihrer kulturellen Spezifität befassen und fragen, inwiefern dieser kulturspezifische Umgang mit dem Körper im Bild zum Ausdruck kommt, welche spezifische Sichtbarkeit dabei dem Körper verliehen wird und nicht zuletzt welche spezifische Bildlichkeit den Körperbildern in der europäischen und chinesischen Medizin eignet. Auf ähnliche Weise kann die Umorientierung der modernen Physiologie von der Struktur der Leiche hin zu den lebendigen Phänomenen des Körpers zwar erklären, weshalb diverse körperliche Vorgänge seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch selbstregistrierende Apparaturen aufgezeichnet worden sind. Die Forscher, die allein diese Blickwende von den stillen Entitäten zu den ephemeren Funktionen hervorheben, übersehen jedoch leicht die kulturellen Vorbedingungen, welche die Aufzeichnung der Körperphänomene, etwa die des Pulses, ermöglicht haben. Die Körperphänomene offenbarten sich den Augen der Physiologen nämlich keineswegs allein aufgrund des neuen Interesses plötzlich als »Kurve«. Es lässt sich deshalb fragen, ob nicht bestimmte Vorbedingungen der Blickwende, die zum Bau der notwendigen Apparaturen führte, bereits vor ihr vorhanden waren. Angesichts der Tatsache, dass der Puls in der chinesischen Medizin offensichtlich auf eine andere Weise als in der westlichen dargestellt wird, muss man auf die Fragen eingehen, inwiefern die Form einer gekrümmten Linie der europäischen Vorstellung vom Puls entspricht und ob nicht die universelle Verstehbarkeit, die zahlreiche Physiologen des 19. Jahrhunderts von der »graphischen Methode« erwarteten, selbst ein kulturspezifischer Traum des Abendlandes ist. Wer auf die Geschichte der Körperdarstellungen in der chinesischen Medizin zurückblickt, könnte zunächst darüber erstaunen, dass sie eine Geschichte ohne Geschichte zu sein scheint. Sie lässt sich nicht einfach als ein Spiegelbild der Geschichte der chinesischen Kunst auffassen, wie es bei der Geschichte der Körperdarstellungen in der europäischen Medizin der Fall ist. Die Herangehensweise an die Körperbilder ist in der vorliegenden Arbeit daher nicht »historisch«, wenn wir unter »historisch« die Erzählung einer chronologischen Reihenfolge von Ereignissen, Errungenschaften und Stilen verstehen. Sie ist auch keine synchrone Analyse, in der die Körperbilder, die zur selben Zeit in der europäischen und chinesischen Medizin angefertigt werden, miteinander verglichen werden, da sie nicht darauf zielt, eine Geschichte der Körperbilder in einer universell gültigen linearen Zeit zu schreiben.
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Werden in der vorliegenden Arbeit die Bilder aus verschiedenen Kulturen und Zeiten einander gegenübergestellt, so geht es vielmehr darum, durch den Vergleich nach der »Präidee« der medizinischen Körperbilder zu fragen: Parallel zum »Denkstil« hat Fleck das Konzept der »Präidee« bzw. »Uridee« entwickelt, durch die die »Denkstile« in einer paradoxen, aber wesentlichen Weise ergänzt werden.43 Während die »Denkstile« für Fleck die Verschiedenheit der herrschenden Auffassungen, die jeder Epoche eigen sind, veranschaulichen, bezeichnet die »Präidee« die Überreste der Vergangenheit, die trotz der Mutation der Denkstile über einen langen Zeitraum hinweg in der Gegenwart überleben. Dies bedeutet für Fleck nicht, dass jede wissenschaftliche Entdeckung auf eine alte Idee zurückgeht. Mithilfe dieses Begriffs will er vielmehr auf die Zusammenhänge hinweisen, die zwischen alten und modernen Ideen bestehen, beispielsweise zwischen der Atomistik Demokrits und der modernen Atomtheorie.44 Dabei liegt »der Wert der Präidee«, so Fleck, »nicht in ihrem logischen und ›sachlichen‹ Inhalte, sondern einzig in ihrer heuristischen Bedeutung als Entwicklungsanlage.«45 Die Präidee wirkt weiter, nicht weil sie inhaltlich wahr ist, sondern weil sie in einem umgewandelten Kontext immer neu eingesetzt und interpretiert werden kann. Durch die »Präidee« macht uns Fleck auf die in der zeitgenössischen Wissenschaft vorhandene Archaik aufmerksam. Er zeigt uns darüber hinaus das Fortleben des Vergangenen, das die lineare Zeit durcheinanderbringt. Das Vergleichen von Körperbildern aus interkultureller Perspektive, das nach der »Präidee« sucht, ist an dieser Stelle mit dem Akt des »Zerknitterns« eines Taschentuches vergleichbar, von dem Michel Serres in einem Gespräch mit Bruno Latour über die Zeit einmal gesprochen hat: »Wenn Sie ein Taschentuch nehmen und es ausbreiten, um es zu bügeln, können Sie bestimmte Entfernungen und Nachbarschaften auf ihm definieren. […] Nehmen Sie anschließend dasselbe Taschentuch und zerknittern es, indem Sie es in die Tasche stecken: zwei weit entfernte Punkte sind plötzlich nahe beieinander, überlagern sich gar; und wenn Sie darüber hinaus das Taschentuch an manchen Stellen auseinander reißen, können sich zwei sehr nahe Punkte sehr weit voneinander entfernen.«46
43 Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 35-39. 44 Ebd., S. 35-36. 45 Ebd., S. 37-38. 46 Serres, Michel: Aufklärungen: Fünf Gespräche mit Bruno Latour, übersetzt von Gustav Roßler, Berlin 2008, S. 93.
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Das Vergleichen soll die Anachronismen des Körperbildes zutage fördern, indem es zeigt, dass sich das Vergangene und das Gegenwärtige in ein und demselben Bild überlagern. Es soll die auf der linearen Zeitachse weit voneinander entfernten Punkte einander annähern und die inneren Zusammenhänge zwischen den Bildern, die vom Standpunkt innerhalb einer Kultur leicht übersehen werden, zu Bewusstsein bringen. In diesem Sinne bedeutet die »Präidee« eine zeitliche Überdeterminierung, die die absolute Periodisierung der Stilgeschichte suspendiert. Sie ist keine Kontinuität, die durch die Zeit hindurch invariabel bleibt, sondern eine Kontinuität, die nicht trotz, sondern gerade wegen der Veränderungen der Stile hartnäckig in mannigfaltigen Rhythmen und Gesichtern – im wörtlichen Sinne – weiterlebt und »eine mehrfach gefaltete, gefältelte Zeit«47 voraussetzt. Wenn in der vorliegenden Arbeit Körperbilder aus unterschiedlichen Kulturen verglichen werden, so soll dabei der Versuch unternommen werden, Flecks »Präidee« durch eine kulturelle Dimension zu ergänzen und zu zeigen, inwiefern die kulturelle Präidee auf komplexe und mäanderartige Weise in den Bildern weiterlebt. Im ersten Kapitel werden zunächst die Körperdarstellungen in der europäischen und chinesischen Medizin verglichen, um die verschiedenartigen Blicke, die die Ärzte in diesen beiden Kulturen auf den Körper richten, zu analysieren. Es soll gezeigt werden, dass das Körperinnere in den europäischen Körperdarstellungen immer als etwas Entdecktes, Enthülltes bzw. Entblößtes dargestellt wird, als ob man betonen wollte, wie mühsam die »Wahrheit« des Körpers ans Licht gebracht werden muss. In den chinesischen Körperbildern dagegen wird kaum ein »geöffneter« Körper gezeigt. Dieser Unterschied spiegelt nicht nur die unterschiedlichen Blicke der Ärzte, sondern auch einen unterschiedlichen Umgang mit dem Körper wider. Im zweiten Kapitel wird auf das Konzept des qi 氣 und dasjenige der Luft eingegangen. Es wird erforscht, wie das qi und die Luft in der chinesischen und europäischen Medizin aufgefasst werden und wie eine spezifische Vorstellung vom Körper und von der Form durch das qi, ein Medium des Lebendigen, in der chinesischen Medizin entwickelt wird. Im dritten, vierten und fünften Kapitel werden drei unterschiedliche Typen von Körperbildern, nämlich das Bild der Eingeweide, das Bild der Gefäße und mai 脈 sowie das Bild des Pulses, untersucht. Im dritten Kapitel über das »Bild der Eingeweide« wird dafür argumentiert, dass die Zentralperspektive mehr als ein einfaches Darstellungsprinzip ist, insofern sie einen anatomisierenden Blick im Bild realisiert. Darüber hinaus wird Folgendes gezeigt: Während die
47 Ebd., S. 92.
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europäischen Mediziner von der »Form« besessen sind und zahlreiche Techniken entwickelt haben, um die Form des Körperinneren unversehrt im Bild zu speichern, versuchen die chinesischen Mediziner, die inneren, geheimen Beziehungen innerhalb des Körpers durch das Bild zu zeigen. Sie nutzen das Körperbild als ein Diagramm. Im vierten Kapitel, das dem »Bild der Gefäße und mai« gewidmet ist, wird den Fragen nachgegangen, welche »Liniensysteme« jeweils in der europäischen und chinesischen Medizin dem Körper zugeschrieben werden und auf welche Weise sie den Umgang der europäischen und chinesischen Ärzte mit dem Körper prägen. Im fünften Kapitel wird das »Bild des Pulses« thematisiert. Es wird nicht nur analysiert, wie der taktile Puls ins Bild übersetzt wird, sondern auch, auf welche Weise der Puls in der europäischen und chinesischen Medizin vorgestellt wird und welche kulturspezifische Einstellung zur Sprache die europäischen und chinesischen Ärzte bei der Herstellung des Pulsbildes zeigen. Indem sie Darstellungen der Eingeweide, der Gefäße und mai 脈 sowie des taktilen Pulses miteinander vergleicht, wird die vorliegende Arbeit zeigen, wie unterschiedliche Bilder in der europäischen und chinesischen Kultur den Körper bilden.
1
Der Blick in den Körper
1.1 DIE SICHTBARKEIT DES KÖRPERINNEREN »Um zu sehen, muß man wissen, was wesentlich und was unwesentlich ist, muß man den Hintergrund vom Bild unterscheiden können, muß man darüber orientiert sein, zu was für einer Kategorie der Gegenstand gehört. Sonst schauen wir, aber wir sehen nicht, vergebens starren wir auf die allzu zahlreichen Einzelheiten […].« 1
Mit diesen Worten hat Ludwik Fleck in seinem 1947 auf Polnisch erschienenen Aufsatz Schauen, sehen, wissen auf die Bedingtheit des Sehens durch das Vorwissen hingewiesen. Bemerkenswert ist, dass er in diesem Aufsatz nicht nur die vorherrschende Meinung über die Objektivität der wissenschaftlichen Beobachtungen problematisiert, sondern dabei seine Argumente strategisch auf zahlreiche Bilder gestützt hat. Ganz zu Beginn seines Textes zeigt er beispielsweise eine Fotografie (rechts oben in der Abb. 7), die er mit der Frage begleitet: »Wir blicken von nahem auf die erste Abbildung. Was sehen wir?« 2 Erst nachdem er diverse Vermutungen durchgespielt hat, erklärt er, dass es sich um die Fotografie einer Wolke handelt, und fordert den Leser dazu auf, sich die Abbildung ein zweites Mal anzusehen. Durch diese mehrmals ansetzende Deutung derselben Abbildung veranschaulicht er, dass der Umstand, ob man bereits weiß, worum es sich beim Abgebildeten handelt, eine entscheidende Rolle dafür spielt, wie ein Bild gesehen wird und was darauf gesehen
1
Fleck, Ludwik: »Schauen, sehen, wissen«, in: ders.: Erfahrung und Tatsache: Gesammelte Aufsätze, Frankfurt a. M. 1983, S. 147-174, hier S. 147.
2
Ebd., S. 147. Es ist interessant, dass die Legende zur Abbildung keine Quelle oder eine andere Erklärung des Bildes angibt, sondern wiederum nach der Identität des Abgebildeten fragt: »Was ist das? Die Haut einer Kröte unter dem Mikroskop oder eine Kultur des Penizillinpilzes?«
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Abbildung 7: Ludwik Flecks Aufsatz Patrzeć, widzieć, wiedzieć (Schauen, sehen, wissen) in Problemy, 1947.
wird: Nur weil man weiß, dass man eine Wolke sieht, kann man die weißen Flecken von dem dunklen Hintergrund unterscheiden und in der nahezu schwarzen Fläche die Tiefe des Himmels sehen. Nicht indem man die weißen Flecken anhand ihrer Textur oder ihrer morphologischen Aspekte im Detail studiert, erkennt man die sich ausbreitende, veränderliche Wolke, sondern indem man sie aus der Ferne in ihrer Ganzheit erfasst.3 Als Mediziner hat Fleck in demselben Aufsatz nicht vergessen, in seine Überlegungen die Darstellung eines Körpers mit einzubeziehen, um ein Beispiel für das durch den kollektiven Denkstil bestimmte Sehen zu geben (Abb. 8). Das Bild zeigt eine männliche Figur mit geöffnetem Oberkörper, die in Vorderansicht und mit ausgebreiteten Armen dargestellt wird, damit der Betrachter ungehindert in das Körperinnere blicken kann. In der Legende zur Abbildung heißt es: »So sah der Autor des 15. Jahrhunderts das Innere des Menschen.«4 Fleck schreibt: »Das ist eine sehr interessante Angelegenheit, und man kann das Entstehen spezifischer Gestalten genau verfolgen, wenn man z. B. die Abbildungen und Beschreibungen der
3
Ebd., S. 147.
4
Ebd., S. 159.
Der Blick in den Körper | 33
Abbildung 8: Anatomische Figur aus dem 15. Jahrhundert in Ludwik Flecks Patrzeć, widzieć, wiedzieć, 1947.
ersten Anatomen untersucht. Abb. 12 stellt eine anatomische Figur aus dem 15. Jahrhundert vor. Ihr Verfasser konnte die charakteristische Gestalt nicht sehen, die durch die Anordnung der Därme in der Bauchhöhle gebildet wird, eine heute jedem durchschnittlich Gebildeten bekannte Gestalt. Er sah nicht die charakteristischen Verwicklungen, sondern die ›Verwickeltheit allgemein‹, und in den oszillierenden Klecks stellte er die ihm bekannte, sich am stärksten aufdrängende Gestalt hinein: 5 Schnecken. Er sah sie im Bauch sofort mit völliger Gewißheit. Die Rippen, den Brustkorb sah er nicht als die 12 charakteristisch gekrümmten Linien, sondern als ›Geripptheit allgemein‹, und er zeichnete 17 parallele Striche, weil er diese Gestalt ›Geripptheit‹ und nicht 12 Rippen sah.«5
Diesem Körperbild kommt hier eine andere argumentative Funktion zu als der vorhin erwähnten Fotografie. Das Bild soll nicht mehr als Beispiel dafür dienen, wie das Sehen durch das Vorwissen gelenkt wird, sondern als Zeitzeugnis die historische Beschränktheit des Blicks illustrieren. In der Tat hatte Fleck bereits in seinem Werk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache anatomische Abbildungen aus der Vergangenheit herangezogen, um
5
Ebd., S. 159-160. In der deutschen Übersetzung werden die Abbildungen anders als im originalen Text numeriert. Deshalb habe ich die Nummer der Abbildung in dem zitierten Text modifiziert.
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Abbildung 9: Darstellung des Brustkorbes in Carl Heitzmanns Die descriptive und topographische Anatomie des Menschen, 1884.
den »Unterschied zwischen einem dieser fremden Denkstile und dem modernen« 6 zu illustrieren. Er bezeichnet solche Abbildungen als »Sinnbilder«, »Schemen« und »Ideogramme«7 und erklärt, dass diese schematisch und primitiv anmutenden Bilder, anstatt einer naturgetreuen Form, die damalige Auffassung vom Körper wiedergeben. Sie sind »graphische Darstellungen gewisser Ideen, gewissen Sinnes, einer Art des Begreifens, d. h. der Sinn ist in ihnen dargestellt wie eine Eigenschaft des Abgebildeten.«8 Der Rückblick auf solche obsoleten Körperbilder hat Fleck jedoch nicht dazu verleitet, den Unterschied als Fortschritt anzusehen. Ganz im Gegenteil hat er auch an den modernen anatomischen Bildern die Sinn- und Symbolhaftigkeit erkannt.9 Am Beispiel
6
Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 183.
7
Ebd., S. 181 und 183.
8
Ebd., S. 183.
9
Fleck hat in Schauen, sehen, wissen mit klarem Problembewusstsein die ethnologische These seines Zeitgenossen Lucien Lévy-Bruhl kritisiert: »Lévy-Bruhl, ausgehend von Forschungen über das Denken primitiver Völker, behauptet, daß Untersuchungen › der Kollektivvorstellungen dieser Völker und ihrer Verbindungen Licht auf das Entstehen unserer Kategorien und logischen Prinzipien werfen. Auf diesem Wege wird man zu einer positiven Erkenntnistheorie gelangen, die sich auf die vergleichende Methode gründet.‹ Leider glaubt dieser Autor gleichzeitig an die
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Abbildung 10: Die denkende Skelettfigur in Andreas Vesalius’ De humani corporis fabrica libri septem, 1543.
der Abbildungen des Brustkorbes in Carl Heitzmanns Die descriptive und topographische Anatomie des Menschen (Abb. 9) weist er darauf hin, dass selbst die in unseren Augen natürlich erscheinenden Bilder bewusst konstruierte »Sinnbilder« der modernen Anatomie sind: »Man kann ja nicht behaupten, die Korbähnlichkeit sei ›von selbst‹ da, denn sie entsteht erst nach 1. zielstrebender Herauspräparierung der Rippengerten, 2. zielstrebender Zusammenstellung des Geflechtes, 3. zielstrebender Aufstellung des Ganzen, um perspektivisch die Ähnlichkeit zu bewerkstelligen – analog den zielstrebenden Aufstellungen der Sinnbilder alter Anatomie. 4. Durch die eingezeichneten Merklinien, welche Muskelansatzstellen anzeigen, wird die Symbolik eines mechanischen Apparates genauso unterstrichen, wie durch die Sense die Todessymbolik bei Vesal. Diese modernen Figuren sind Sinnbilder – genau wie die Vesalschen. Es gibt kein anderes Sehen als das Sinn-Sehen und keine anderen Abbildungen als die Sinn-Bilder.«10
Für Fleck sind die Abbildungen des Knochensystems in der modernen Anatomie nicht weniger symbolisch als die Skelettfiguren in Andreas Vesalius’ De
objektiven Merkmale der Gegenstände, auf die die Aufmerksamkeit des Beobach ters automatisch gelenkt wird, wenn die mythischen Elemente an Kraft verlieren - er selbst also wird seiner Theorie untreu.« (Fleck: »Schauen, sehen, wissen«, S. 170) 10 Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 186.
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humani corporis fabrica, die in denkender, betender oder klagender Pose mit dem Spaten dargestellt werden und so den Tod symbolisieren (Abb. 10). Denn allen osteologischen Abbildungen der modernen Anatomie liegt eine besondere Auffassung vom Skelett als Stützgerüst des Körpers zugrunde. Es ist aber durchaus möglich, so führt Fleck aus, einen anderen Denkstil anzunehmen, in welchem die »luftigen und feurigen Geisterlein«11 die dem Skelett im modernen wissenschaftlichen Denkstil zugeschriebene Funktion übernähmen. Unter diesen Umständen würde das Skelett nicht als ein zusammenhängendes System, als ein Gestell des Körpers, sondern als auf den Boden gestürzter Knochenhaufen dargestellt.12 Es ist in diesem Zusammenhang wohl kein Zufall, dass die Fotografie eines geöffneten Auges in den Aufsatztitel Patrzeć, widzieć, wiedzieć eingefügt wurde (Siehe Abb. 7 links oben), wodurch ein Montage-Effekt entsteht. Das Bild des Auges teilt waagerecht die drei in fetter und kursiver Schrift gedruckten, übereinanderstehenden Wörter in zwei Gruppen: Indem das »Schauen« (patrzeć) vom »Sehen« (widzieć) und »Wissen« (wiedzieć) abgegrenzt wird, werden die Zusammengehörigkeit von Sehen und Wissen sowie ihre etymologische Verwandtschaft im Polnischen hervorgehoben. Gleichzeitig wird das abgebildete Auge mit zwei unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen, dem orientierungslosen »Schauen« und dem zielgerichteten »Sehen«, konfrontiert. Das geöffnete Auge scheint uns zu fragen: Zu welcher Gruppe gehört es? Schaut es oder sieht es? Falls es doch etwas sieht, was sieht es? Aber auch: Was sehen unsere Augen, die in die dunkle Pupille des abgebildeten Auges blicken? Können unsere Augen das Auge sehen sehen? Was müssen wir wissen, um zu sehen? Was wissen wir, so dass wir nicht sehen können? Dies sind die Fragen, denen Fleck bei seiner Auseinandersetzung mit den anatomischen Abbildungen nachgeht. Sie stellen nicht zuletzt auch eine neue Lesart des Körperbildes dar, mit deren Hilfe er die komplexe Historizität des Blicks auf den Körper und die Verwicklung von Sehen und Wissen offenbart.
1.2 DER GEÖFFNETE KÖRPER IM BILD Vergleichen wir eine chinesische Darstellung der Eingeweide (Abb. 11) mit einer anatomischen Abbildung der westlichen Medizin, die für gewöhnlich als »vor Leonardo und Vesal« und »mittelalterlich« gilt (Abb. 12), so können wir 11 Ebd., S. 186. 12 Siehe ebd., S. 186.
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Abbildung 11: Frontale Darstellung des menschlichen Körpers in San cai tu hui von Wang Qi, Druckplatten im Jahr 1609, Überarbeitung und Abzug Qianlong (1735-1795).
ohne Mühe eine stilistische Ähnlichkeit zwischen ihnen erkennen.13 Der Holzschnitt aus dem von Wang Qi 王圻 1609 herausgegebenen Bildatlas der drei Reiche (San cai tu hui 三才圖會) zeigt eine frontale Ansicht des Körperinneren mit beigeordneten Organbezeichnungen (Abb. 11).14 Wie die Darstellung der Brust- und Baucheingeweide aus dem Antropologium de hominis dignitate, natura et proprietatibus des Leipziger Mediziners Magnus Hundt kommt einem das Bild äußerst schematisch und sinnbildlich vor. 15 An dieser Stelle könnte man Flecks Rekonstruktion des von ihm zitierten, primitiv anmutenden
13 Herrlinger: Geschichte der medizinischen Abbildung, S. 64 und 67. 14 Der Bildatlas der drei Reiche (San cai tu hui 三才圖會) ist eine enzyklopädische Sammlung von Bildern aus verschiedenen Bereichen. Er wurde von Wang Qi 王圻 und seinem Sohn Wang Si-yi 王思義 zusammengestellt, 1607 vollendet und 1609 publiziert. Die drei Reiche verweisen auf die Reiche des Himmels, der Erde und des Menschen und umfassen somit den gesamten Kosmos. 15 Für eine ausführlichere Analyse siehe Roberts, Kenneth B.; Tomlinson, J. D.: The Fabric of the Body: European Traditions of Anatomical Illustration, Oxford 1992, S. 40.
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Abbildung 12: Darstellung der inneren Organe in Magnus Hundts Antropologium de hominis dignitate […], 1501.
Körperbildes paraphrasieren und behaupten, dass der chinesische Mediziner im menschlichen Körper Folgendes sah: nicht die bestimmte Form der Kehle (喉), sondern das Vorhandensein der zwei Röhren; nicht die bestimmte Gestalt der Lunge (肺), sondern die Ähnlichkeit der Lungenlappen mit Blättern; nicht die genaue Lage des Herzens (心), sondern seine zentrale Bedeutung; nicht das bestimmte Aussehen der Darmwindungen (腸), sondern ihre Gewundenheit, Kräuselung und Anhäufung; nicht die bestimmte Form der Harnblase (膀 胱), sondern ihre Verbundenheit mit der Stelle, wo der Urin ausgeschieden wird. Bei aller Ähnlichkeit können wir die Unähnlichkeit zwischen den Bildern jedoch nicht übersehen: Im Gegensatz zur chinesischen Darstellung (Abb. 11), in der die Eingeweide ohne konkreten Grund gezeigt werden, präsentiert die Darstellung von Hundt den Torso samt Kopf mit Gesichtszügen als Sitz der inneren Organe (Abb. 12).16 Durch die Einführung der schattierenden Striche
16 Vgl. Herrlinger: Geschichte der medizinischen Abbildung, S. 65-66. Zu Magnus Hundt siehe Choulant, Ludwig: Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung, S. 23-24.
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Abbildung 13: Darstellung der Eingeweide in Compendiosa Capitis phisici declaratio von Johannes Peyligk, 1516.
wird das Volumen des Körpers und der Organe darüber hinaus hervorgehoben. Gerade aufgrund der Schattierung scheinen die schematisch abgebildeten Organe sich dagegen zu wehren, auf reine Symbole ihrer Eigenschaften reduziert und abgeflacht zu werden. Sie erheben Anspruch auf ihre eigene Räumlichkeit. In der zweiten Auflage von Johannes Peyligks Compendiosa Capitis phisici declaratio von 1516 findet sich eine Darstellung der Eingeweide, die offenbar von derjenigen Hundts abgeleitet ist (Abb. 13).17 Die Figur wird zwar fast unverändert übernommen, es fällt aber auf, dass die mit feinerer Schattierung und entsprechenden Bezeichnungen versehenen Organe nicht mehr auf dem Körper, sondern im Körper dargestellt werden: An die Stelle des Torsos tritt ein geöffneter Körper, und die Organe werden in den Hohlraum des Körpers plaziert. Sie liegen nun – anders als in Hundts Darstellung – nicht mehr einfach vor, sondern werden durch die augenförmige Öffnung allererst ans Licht gebracht. Die zwei parallel laufenden Linien markieren die Ränder der
17 Vgl. Herrlinger: Geschichte der medizinischen Abbildung, S. 65-66.
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Abbildung 14: Seitenansicht des Körperinneren in Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt.
aufgeschnittenen Haut und unterscheiden das Innere vom Äußeren des Körpers, während die Eingeweide aus dem schwarzen Hintergrund der Körperhöhle hervortreten, als ob sie von einer außerhalb des Bildes liegenden Lichtquelle geschickt beleuchtet würden. Wenn man irgendeinen Atlas der westlichen Medizingeschichte überfliegt, kann man in der Tat leicht erkennen, dass die westliche Geschichte der Medizin nur so von Bildern des geöffneten, aufgeschnittenen, enthäuteten, sezierten Körpers wimmelt. Wenn wir uns einen Überblick über diese Bilder verschaffen – von dem sogenannten »Tierkreiszeichenmann«, dem »Aderlassmann« und der Eingeweidefigur des Mittelalters über die anatomischen Darstellungen der Frühen Neuzeit bis hin zu den modernen Schichtfotografien des tiefgefrorenen Kadavers – , so springt uns die unablässige Wiederkehr des geöffneten
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Körpers ins Auge. Zweifellos scheint dies eine triviale Bemerkung zu sein, denn um die im Inneren des Körpers befindlichen Eingeweide darzustellen, muss dieser selbstverständlich geöffnet werden. Wenn wir uns jedoch die Darstellungen der Eingeweide in der chinesischen Medizin ansehen, werden wir mit Erstaunen feststellen, dass diese kaum in einem geöffneten Körper gezeigt werden. In der bereits erwähnten chinesischen Darstellung des Körperinneren im Bildatlas der drei Reiche scheinen die Eingeweide einfach vor uns zu schweben (Abb. 11). Wir sehen keine Grenzlinie, die die Eingeweide in den Körper einschließt. Und selbst wenn eine Grenzlinie zu erkennen ist, wie zum Beispiel auf einer Darstellung in Zhang Jie-bins 張介賓(1563-1640) Illustriertes Supplement zum nach Themen explizierten Klassiker (Lei jing tu yi 類經圖翼) (Abb. 14), kann diese Linie nur bedingt als Kontur einer menschlichen Figur im westlichen Sinne gedeutet werden. Sie zeigt zwar einen relativ deutlich erkennbaren seitlichen Umriss des Kopfes, aber der Verfasser scheint seine Aufmerksamkeit nicht auf den genauen Umriss des Rumpfes gerichtet zu haben. Er versuchte vielmehr, alle Informationen, die er dem Betrachter zeigen wollte, mit einer Linie zu umfassen. Auf diesem Bild erweckt insbesondere die räumliche Darstellung der inneren Organe einen merkwürdigen Eindruck: Während die Wirbelsäule von der Seite gezeigt wird, werden die Lungen in direkter Aufsicht symmetrisch dargestellt. Offenbar folgt die Darstellung der Wirbelsäule und der Lungen keiner einheitlichen räumlichen Logik. Im Bereich des Kopfes erkennt man des Weiteren, dass die inneren Organe, beispielsweise die Luft- und die Speiseröhre sowie das in einem Querschnitt abgebildete Gehirn, collageartig auf derselben Ebene liegen wie das im Profil gezeigte Gesicht. Damit sind das Innere und das Äußere, das hinter der Haut Verborgene und das an der Oberfläche Befindliche sowie die in verschiedenen Schichten des Körpers liegenden, aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachteten Organe gleichzeitig auf derselben Ebene sichtbar. Diese Linie, die den Körper gegen den Hintergrund abgrenzt, markiert weder die Gestalt des Körpers noch sein streng geometrisch angeordnetes Inneres, sondern umreißt einen Bildraum, in dem seine heterogenen Sichtbarkeiten entfaltet, präsentiert und synthetisiert werden. Wenn ich vorhin von der unablässigen Wiederkehr des geöffneten Körpers in der Geschichte der westlichen Medizin gesprochen habe, so deshalb, weil die schwere Zugänglichkeit des Körperinneren in ihren Darstellungen stets durch das Beiwerk der gelüfteten Körperhülle hervorgehoben und ins Bewusstsein gerufen wird. Im Vergleich zu den chinesischen Darstellungen des Körperinneren, die eine scheinbar transparente Ansicht ermöglichen, erweist
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Abbildung 15: Tierkreiszeichenmann
Abbildung 16: Aderlassmann aus dem
im Teutsch Kalender, ca. 1483.
Manuskript 18.2 Aug. 40 der HerzogAugust-Bibliothek Wolfenbüttel.
sich das Körperinnere in den westlichen Darstellungen als ein unter der opaken Haut liegender und im dunkelsten Inneren verborgener Kern. Um zu ihm zu gelangen, muss man die Barriere durchbrechen, die Hindernisse und Widerstände mit großer Mühe überwinden und mit den Augen ins Dunkle vordringen. In den westlichen Darstellungen der Eingeweide wird der geöffnete Körper auf eine Weise inszeniert, die den Betrachter stets daran erinnern soll, in welchem Ausmaß das Körperinnere erst durch den vorausgehenden Akt der Ent-deckung seine Sichtbarkeit erlangt. In der Darstellung des Tierkreiszeichen- und Aderlassmannes (Abb. 15 und 16) werden die inneren Organe durch die Entfernung des Bauchfells sichtbar gemacht.18 Ein Manuskript in der Königlichen Bibliothek zu Stockholm
18 Vgl. Herrlinger: Geschichte der medizinischen Abbildung, S. 62 und 33 sowie Roberts: The Fabric of the Body, S. 34-37. Zum Tierkreiszeichenmann siehe Castelberg, Marcus: Wissen und Weisheit: Untersuchungen zur spätmittelalterlichen »Süddeutschen Tafelsammlung«, Berlin [u.a.] 2013, S. 24-27; Hübner, Wolfgang: Körper und Kosmos: Untersuchungen zur Ikonographie der zodiakalen Melothesie, Wiesbaden 2013, S. 41-128; Kurdziałek, Marian: »Der Mensch als Abbild des Kosmos«, in: Zimmermann, Albert [Hrsg.]: Der Begriff der Repraesentatio im Mittelalter: Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild, Berlin [u.a.] 1971, S. 35-75. Zum Aderlassmann siehe Castelberg: Wissen und Weisheit, S. 33-37.
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Abbildung 17: Aufgeschnittener Leichnam
Abbildung 18: Darstellung der
aus dem Ms. X 118 der Kungliga biblioteket
Fortpflanzungsorgane in Berengario da
Stockholm, ca. 1412.
Carpis Commentaria […], 1521.
zeigt eine in der Mitte längs aufgeschnittene Figur, die sich selbst auf grausame Weise wie ein Buch mit den eigenen Händen aufschlägt und dem Betrachter einen Einblick in den Inhalt ihres Körpers gibt (Abb. 17).19 Nach der Infragestellung der alten Autoritäten im Namen der Autopsie und der Empirie sowie nach der Entwicklung der Linearperspektive und der Helldunkelmalerei verschwindet das Bildmotiv der Öffnung, Entdeckung, Enthüllung, Entblößung und Entschleierung keineswegs. Das neue epistemische und darstellungstechnische Streben nach einem empirisch fundierten Körperwissen und einer genauen Wiedergabe des Gesehenen trägt im Gegenteil dazu bei, dass dieses Motiv in noch spektakuläreren und theatral wirkungsvolleren Szenen zur Darstellung kommt. Berengario da Carpis im Jahr 1521 erschienene Commentaria cum amplissimis additionibus super anatomiam Mundini zeigt beispielsweise eine stehende Frau mit antikisierter Frisur, deren Unterleib geöffnet worden ist (Abb. 18).20 Die an Venus erinnernde Frau zeigt mit ihrem rechten Zeigefinger auf einen Hautlappen, der auf einem Sockel liegt, während ihr
19 Vgl. Herrlinger: Geschichte der medizinischen Abbildung, S. 49 und Roberts: The Fabric of the Body, S. 28. 20 Vgl. die Bildbeschreibung im Ausstellungskatalog: Zeuch, Ulrike; Herzog August Bibliothek [Hrsg.]: Haut: Verborgen im Buch, verborgen im Körper, zwischen
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Abbildung 19: Darstellung eines zugleich sezierenden und sezierten Anatomen in Juan Valverde de Amuscos Anatomia del corpo humano, 1560.
linker Arm einen in der Brise wehenden Schleier über ihren Kopf hält. Dabei handelt es sich um eine doppelte Öffnung – zum einen die Enthüllung der Fortpflanzungsorgane der Frau, zum anderen die Selbstentblößung der Schönen. Auf der metaphorischen Ebene handelt es sich, so könnte man sagen, um eine säkularisierende Entlarvung der schaumgeborenen Göttin als einer fleischgewordenen Gebärmutter. Noch sensationeller wirkt eine Tafel aus Juan Valverde de Amuscos Anatomia del corpo humano (Abb. 19).21 Hier wird der Körper des Anatomen, der eine Leiche öffnet, selbst als geöffnet dargestellt. Anstatt auf sein Studienobjekt zu blicken, wendet er seinen Kopf schräg nach oben und präsentiert dem Betrachter somit sein eigenes Körperinneres, während seine Hände immer noch die bereits geöffnete Leiche berühren. Durch diese irreal anmutende Pose wird zwar angedeutet, dass die durch die Öffnung der Leiche gewonnene Einsicht ins Körperinnere auf jeden Körper, ob tot oder lebendig, übertragen werden kann, doch steht diese Darstellung zugleich in der Tradition des VanitasMotivs und verkündet die Sterblichkeit des Anatomen. Nicht zuletzt wird zum
1500 und 1800, Wiesbaden 2003, S. 106. Zu Berengario da Carpis siehe Choulant: Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung, S. 28-31. 21 Vgl. die Bildbeschreibung in: Zeuch: Haut, S. 114-115. Zu Juan Valverde de Amuscos siehe Choulant: Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung, S. 63-65.
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Abbildung 20-22: Anatomische Klapptafeln von Heinrich Vogtherr, 1539.
Ausdruck gebracht, dass der entdeckende Akteur selbst ein zu untersuchender Gegenstand ist. Hier ist die Gültigkeit des Wissens um das Jenseits eng mit der Austauschbarkeit des Toten mit dem Lebenden, des Sezierten mit dem Sezierenden verbunden. In der abendländischen Geschichte wird das Motiv der Öffnung nicht nur in den Abbildungen anatomischer Traktate, sondern auch in anderen Bildmedien eingesetzt. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür sind die sogenannten anatomischen Klapptafeln, die sich auseinanderfalten lassen, so dass man den Körper im wahrsten Sinne des Wortes öffnen und ihm Schicht für Schicht auf den Grund gehen kann.22 Eine von ihnen ist die Anathomia oder abconterfettung eynes Mans leib wie er inwendig gestaltet ist (Abb. 20-22), die von Heinrich Vogtherr 1539 in Straßburg gedruckt wurde und sich heute in der Staatsbibliothek zu Berlin befindet. Sie zeigt einen bärtigen Mann in sitzender Haltung und enthält fünf ausklappbare Elemente. Der Betrachter kann den Deckel auf Höhe des Rumpfes aufschlagen und die einzelnen Organe allmählich herausklappen, bis er auf den weißen Grund des Papiers stößt, auf dem die Wirbelsäule und hinteren Rippen gezeichnet sind. Eine ähnliche Funktion wie die
22 Zu diesen anatomischen Klapptafeln siehe Carlino, Andrea: Paper Bodies; Herrlin ger: Geschichte der medizinischen Abbildung, S. 165-166. Zur performativen Wahrnehmung der Klappbilder in der Frühen Neuzeit siehe Münkner, Jörn: Eingreifen und Begreifen: Handhabungen und Visualisierungen in Flugblättern der Frühen Neuzeit, Berlin 2008, S. 88-137.
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Klapptafeln hatten die lebensgroßen Wachsmodelle, die im ausgehenden 18. Jahrhundert in Florenz und Wien gefertigt wurden. 23 Im Unterschied zu den papierenen Klapptafeln verleihen sie dem Akt der Öffnung eine kaum zu überbietende sinnliche Realität. Anstatt den Körper nur auszuklappen, kann man nun die Finger in den Schlitz am Rand des Rumpfes stecken, die plastische Hauthülle mit den Händen freilegen und die gefärbten Muskeln, Fleischmassen und Eingeweide nicht nur Schicht für Schicht, sondern auch Stück für Stück auseinandernehmen und auf dem Tisch ausbreiten. Hier erkundet man nicht mehr die auf dem Papier gedruckte Form, sondern eine voluminöse Form aus Wachs, einem Material, das »seine Formbarkeit dem ›Leben‹ verdankt, das die Wärme unserer Hände ihm mitteilt«.24 In Venus öffnen stellt Georges Didi-Huberman in Bezug auf die Venere de’ Medici in La Specola (Abb. 23)
23 Zu den anatomischen Wachsmodellen liegen zahlreiche Untersuchungen vor. Siehe beispielsweise: Greinke, Susanne: »Die Venus des Wiener Josephinums: Ein Körperbild am Ende des 18. Jahrhunderts«, in: Helm, Jürgen; Stukenbrock, Karin [Hrsg.]: Anatomie: Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 83-98; Maerker, Anna: »Handwerker, Wissenschaftler und die Produktion anatomischer Modelle in Florenz, 1775-1790«, in: Schirrmeister, Albert [Hrsg.]: Zergliederungen: Anatomie und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2005, S. 291-306; Kleindienst, Heike: »Die Geburt der ›Pester Venus‹ oder die umwegreiche Reise einer anatomischen Wachsplastik«, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 8 (1990), S. 245-254; Wieczorkiewicz, Anna: »Wachsmodelle: Modelle des Wissens, Modelle der Erfahrung«, in: Schramm, Helmar; Schwarte, Ludger; Lazardzig, Jan [Hrsg.]: Spuren der Avantgarde: Theatrum anatomicum: Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich, Berlin [u.a.] 2011, S. 266-284; Wagner, Corinna: »Replicating Venus: Art, Anatomy, Wax Models, and Automata«, in: 19: Interdisciplinary Studies in the Long Nineteenth Century 24 (2017), verfügbar unter: https://doi.org/10.16995/ntn.783 (30.06.2019); Maerker, Anna: »The Anatomical Models of La Specola: Production, Uses, and Reception«, in: Nuncius 21 (2006), S. 295–321; Ballestriero, Roberta: »Anatomical Models and Wax Venuses: Art Masterpieces or Scientific Craft Works?«, in: Journal of Anatomy 216 (2010), S. 223-234. 24 Didi-Huberman, Georges: »Heuristik der Ähnlichkeit: Der Fall der Votivbilder«, in: Gerchow, Jan [Hrsg.]: Ebenbilder: Kopien von Körpern – Modelle des Menschen, Stuttgart 2002, S. 65-72, hier S. 67.
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Abbildung 23: Die anatomische Venus in La Specola, ca. 1780.
wohl mit Recht die Frage: »Was könnte man hier von einem Venusbild mehr verlangen?«25 Und er fährt fort: »Arme Wahrheit also? Fürwahr. In diesem Falle begnügt sich die Wahrheit nicht damit, mit dem Finger auf abstrakte Höhen zu verweisen. Vielmehr legt sie in der wächsernen Nacktheit dieser Venus die Bahnung der Grausamkeit, die am Geschlecht beginnt, der Leistenbeuge folgt und sich bis unter die Achselhöhle fortsetzt. Wir entdecken, daß das Perlenhalsband, als Beiwerk der Verführung, auch dazu dient, den Einschnitt zu verdecken. Die Wahrheit triumphiert somit in kalter Manier. Sie schafft es, uns davon zu überzeugen, daß ein Körper, wie ›venusgleich‹ er auch sein mag, nichts anderes als ein komplexes Behältnis ist, ein Behälter, in dem die Organe auf bemerkenswerte Weise ineinander gesteckt sind. Nachdem er uns erstaunt und womöglich Übelkeit verursacht hat, löst der Aspekt von Montage-Demontage, der dieser anatomischen Statue anhaftet, schließlich so etwas wie ein topologisches Staunen vor dem Lebendigen aus.«26
Was könnte man von einem Körperbild noch verlangen? – so ließe sich Didi-Hubermans Frage umformulieren. Vergegenwärtigen wir uns die chinesischen Darstellungen des Körperinneren, tauchen jedoch andere Fragen auf: Warum verspürt man in der chinesischen Medizin kein Bedürfnis, das Geöffnet-Werden des Körpers darzustellen? Weshalb begnügt sich die Wahrheit des 25 Didi-Huberman, Georges: Venus öffnen: Nacktheit, Traum, Grausamkeit, übersetzt von Mona Belkhodja und Marcus Coelen, Zürich; Berlin 2006, S. 119. 26 Ebd., S. 119-121.
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Körperinneren mit einem Bild, das nicht zeigt, wie mühsam sie entborgen, enthüllt und ans Licht gebracht worden ist? Wieso muss sie uns nicht in die Knie zwingen oder in Staunen versetzen, wieso nicht Ekel und Schauder in uns erregen, wie es bei zahlreichen westlichen Darstellungen der Fall ist? Warum reicht es ihr, sich einfach im Bild zu zeigen? Mit anderen Worten: Warum verlangt das chinesische Bild des Körperinneren von uns so wenig, nämlich kaum mehr, als gesehen zu werden? Um diese Fragen zu beantworten, bedürfen wir weiterer Untersuchungen. Zunächst lässt sich jedoch feststellen, dass der Grund für das Nicht-Zeigen keineswegs in einem Desinteresse am Körperinneren in der chinesischen Medizin liegt. Sicherlich rührt die Abwesenheit des geöffneten Körpers in den chinesischen medizinischen Darstellungen auch nicht davon her, dass er niemals unter Einsatz von Gewalt gefoltert, enthäutet, aufgeschnitten oder geöffnet worden wäre. Es liegt deshalb nahe, dass das Rätsel des Nicht-Zeigens, vor dem wir stehen, nicht einfach durch den Verweis auf einen Mangel an tatsächlichen Öffnungen des Körpers gelöst werden kann. Wir müssen vielmehr den kulturell bedingten Blick auf den Körper und die aus ihm resultierenden Vorstellungen von der Beziehung zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Körpers hinterfragen.
1.3 DER ZUGANG ZUM KÖRPERINNEREN Der Traum von einem ungehemmten Blick in das Körperinnere In der Vorrede zum dritten Buch seiner Architectura zitierte der römische Architekt und Baumeister Vitruv einen Ausspruch von Sokrates: »[D]ie Brust der Menschen müßte mit Fenstern versehen und offen sein, damit [die Menschen] nicht Gedanken hätten, die verborgen sind, sondern zur Betrachtung offen daliegen.« 27 Nicht ohne Aufregung sah Vitruv in der Äußerung von Sokrates eine mögliche Lösung für das Problem, warum manche Maler und Bildhauer, die keine geringere Begabung als viele berühmte Künstler besaßen und nicht weniger meisterhafte Werke als diese geschaffen haben, in Vergessenheit geraten sind. Wenn der menschliche Körper – ganz ähnlich wie ein
27 Vitruvius Pollio, Marcus: Vitruvii de architectura libri decem, übersetzt von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1991, S. 133.
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Gebäude – durch eine Öffnung einsehbar wäre und derart die in ihm verborgenen »Gesinnungen und Gedanken und das durch Unterricht vermehrte Fachwissen deutlich und klar sichtbar wären«,28 so würden auch die Künstler richtig beurteilt. Vitruv träumte also von einem ungehemmten Blick in das Innere des Menschen, damit nichts der Inspektion der Augen entginge. Auch zahlreiche westliche Mediziner träumten von einem solchen Blick ins Innere des Körpers. Im ausgehenden 18. Jahrhundert würdigte der deutsche Mediziner Samuel Thomas Soemmerring sein Zeitalter, welches »das eiserne Joch des unbarmherzigen Aberglaubens« 29 von sich geworfen habe und in dem die kühnen Anatomen »nicht blos auf dem Aeussern des Körpers stehen bleiben, sondern so tief nur unsere Sinnen zu kommen erlauben, das künstliche Gebäude desselben durchsuchen und zerlegen«.30 Für Soemmerring soll ein Anatom »bey Betrachtung der menschlichen Form unter die Oberfläche des Körpers« dringen, »um zu erfahren was es ist, was theils durch die Oberfläche durchschimmert, theils die Oberfläche selbst so mannigfaltig verändert.« 31 Dort, wo der Einblick ins Innere versperrt sei, müsse der über ihm liegende Schleier durch die Öffnung des Körpers gehoben werden. Die menschliche Haut sei nämlich keine Sackgasse, die das Ende der Sichtbarkeit markiert, sondern ganz im Gegenteil ein Sack, in dem das sichtbar zu machende Körperinnere aufbewahrt ist, oder ein Vorhang, hinter dem sich »das innerste Wesen der Dinge«32 befindet.
28 Ebd., S. 135. 29 Zitiert nach Enke, Ulrike: »Soemmerrings erste Professur am Collegium Carolinum zu Kassel«, in: Wenzel, Manfred [Hrsg.]: Samuel Thomas Soemmerring in Kassel (1779-1784): Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Goethezeit, Stuttgart [u.a.] 1994, S. 75-141, hier S. 79. 30 Zitiert nach ebd. 31 Soemmerring, Samuel Thomas: Abbildungen des menschlichen Auges, Frankfurt a. M. 1801, S. 2-3. 32 Haller, Albrecht von: »Über den Reiz der Anatomie, 1742«, in: Ebel, Wilhelm [Hrsg.]: Göttinger Universitätsreden aus zwei Jahrhunderten, Göttingen 1978, S. 16-19, hier S. 18.
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Dieses abendländische »Phantasma der vollendeten Durchdringung des Inneren«33 kommt zweifellos in der Anatomie, deren Geschichte auf die griechische Antike zurückgeht, am deutlichsten zum Ausdruck. Der geläufigen Erzählung der Medizingeschichte zufolge bildete sich die anatomische Sektion am Menschen – in Weiterverfolgung der von den Naturphilosophen praktizierten morphologischen Forschungsarbeit am Tier – im 3. Jahrhundert v. Chr. heraus. 34 Das Interesse der Naturphilosophen, Mediziner und bildenden Künstler am inneren Bau des menschlichen Körpers trug in der Antike zur Etablierung der Anatomie als Wissenschaft bei. 35 Zwar ging die Anatomie nach dem Verschwinden des antiken Griechentums unter, doch wurde sie seit dem 13. Jahrhundert wieder praktiziert und erlebte im frühen 16. Jahrhundert durch die Entwicklung neuer epistemischer und ikonografischer Operationen sowie durch die Entstehung neuer Institutionen und Netzwerke des Wissens eine »Renaissance«. 36
33 Böhme, Hartmut: »Der Körper als Bühne: Zur Protogeschichte der Anatomie«, in: Schramm, Helmar; Schwarte, Ludger; Lazardzig, Jan [Hrsg.]: Spuren der Avantgarde: Theatrum anatomicum: Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich, Berlin [u.a.] 2011, S. 28-53, hier S. 29. 34 Siehe Wolf-Heidegger, Gerhard: »Zur Geschichte der anatomischen Zergliederung des menschlichen Körpers«, in: ders.; Cetto, Anna Maria: Die anatomische Sektion in bildlicher Darstellung, Basel [u.a.] 1967, S. 6-7. Ludwig Edelstein hat sich in seinen Schriften mit der Frage befasst, warum die anatomische Sektion seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. nicht nur am Tier, sondern auch am menschlichen Körper durchgeführt wurde. Er vertritt die These, dass die Angst vor dem Tod und der Leiche, die dem Volksglauben zufolge immer noch wahrnehmen konnte, durch die Trennung zwischen der ewigen Seele und dem unwesentlichen Körper des Menschen überwunden wurde. Ein anderer Grund besteht darin, dass die Analogiebildung zwischen Tieren und Menschen allmählich in Frage gestellt wurde. (Siehe Edelstein, Ludwig: »The Development of Greek Anatomy«, in: Bulletin of the Institute of the History of Medicine 4 (1935), S. 235-248). Vgl. dazu Staden, Heinrich von: »The Discovery of the Body: Human Dissection and its Cultural Contexts in Ancient Greece«, in: The Yale Journal of Biology and Medicine 65 (1992), S. 223241. 35 Siehe Wolf-Heidegger: Zur Geschichte der anatomischen Zergliederung des menschlichen Körpers, S. 6 ff. 36 Cunningham: The Anatomical Renaissance, S. 3-8. Siehe auch Böhme: Der anatomische Akt, S. 25.
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In der Medizingeschichte gilt Andreas Vesalius oft als eine Heldenfigur, die die verstaubte, sich lediglich auf Texte stützende und auf Autoritäten vertrauende Anatomie überwunden und mit Erfolg einen modernen, auf den eigenen Blick und die empirische Erfahrung gestützten Ansatz etabliert habe.37 Es ist deshalb kein Zufall, dass viele Forscher das Frontispiz von Vesalius’ De humani corporis fabrica mit Darstellungen des Unterrichts der überkommenen Kathederanatomie, wie ihn etwa ein Holzschnitt im Anatomie-Kompendium Fasciculo di Medicina von Johannes de Ketham zeigt, verglichen haben, um die Durchsetzung des Autopsieprinzips und die Umstrukturierung der anatomischen »Wissensproduktion und -organisation«38 bildrhetorisch zu veranschaulichen:39 In der Darstellung der anatomischen Vorlesung aus Fasciculo di Medicina (Abb. 24) sehen wir oben hinter dem Katheder einen Lektor, der für gewöhnlich aus den Schriften des Claudius Galen dozierte. Weit unter ihm liegt eine Leiche auf einem Tisch, um den herum sich diverse Personen mit der Sektion beschäftigen. Während sich ein Prosektor über die Leiche beugt und sein Messer zum Schnitt ansetzt, veranschaulicht ein Demonstrator neben ihm das Vorgetragene mit Hilfe eines Stabes. Hinter dem Prosektor steht ein Mann in einem Talar, der die linke Hand auf den Rücken des Prosektors legt, über seine Schulter auf das Geschehen blickt und seine Bewegungen zu überwachen oder ihn zu ermutigen scheint, mit der Öffnung zu beginnen. In dieser
37 Dies wird vor allem ersichtlich, wenn in der Geschichtsschreibung der Anatomie so häufig von der ›Zeit vor Vesalius‹ und ›Zeit nach Vesalius‹ die Rede ist. Siehe beispielsweise Lind, Levi R.: Studies in Pre-Vesalian Anatomy: Biography, Translations, Documents, Philadelphia 1975. Buschhaus weist darauf hin, dass diese Un terscheidung von ›vorvesalisch‹ und ›nachvesalisch‹ bereits Mitte des 19. Jahrhunderts bei Johann Ludwig Choulant auftaucht. Vgl. Buschhaus: Über den Körper im Bilde sein, S. 39. 38 Ebd., S. 61. 39 Um nur einige Beispiele zu nennen: Laqueur, Thomas Walter: Auf den Leib geschrieben: Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a. M. [u.a.] 1992, S. 88-90; Buschhaus: Über den Körper im Bilde sein, S. 69-74; Böhme: Der anatomische Akt, S. 54-60; Kemp, Martin; Wallace, Marina: Spectacular Bodies: The Art and Science of the Human Body from Leonardo to Now, Ausstellungskatalog Hayward Gallery, London 2000, S. 23; Kusukawa, Sachiko: Picturing the Book of Nature: Image, Text, and Argument in Sixteenth-century Human Anatomy and Medical Botany, Chicago [u.a.] 2012, S. 200-203; Carlino: Paper Bodies, S. 7-9.
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Abbildung 24: Anatomische Demonstrationsszene aus Johannes de Kethams Fasiculo de medicina, 1494.
Szene herrscht eine strenge Rollenverteilung. Der Prosektor ist die einzige Person, die die Leiche berührt. Die anderen Anwesenden, die dem akademischen Stand angehören, begegnen der Leiche mit einem gewissen Abstand. 40 Wie Hartmut Böhme schreibt, unterliegt die Praxis hier der Herrschaft der Theorie: »Die Schrift beherrscht die Empirie. Es soll am anatomisierten Körper nichts anderes erscheinen als das, was die Schrift schon enthält.«41 Die Sichtbarkeit der Leiche ist reine Illustration des Vorgelesenen und Vorgeschriebenen. Demgegenüber verkörpert der Auftritt des Vesalius auf dem Frontispiz von De humani corporis fabrica (Abb. 25) einen Abschied von der tradierten Praxis der Wissensvermittlung zugunsten einer sich neu definierenden Wissenschaft. Anders als der Lektor, der von einer erhöhten Position die Sektion übersieht, steht Vesalius wie ein Schausteller in einem anatomischen Theater unmittelbar neben dem Seziertisch, auf dem eine Frauenleiche und die Instrumente für die Sektion und Präparation liegen. Er hat sich am Zergliederungsprozess beteiligt und demonstriert nun den geöffneten Bauchraum, indem er
40 Vgl. Böhme: Der anatomische Akt, S. 54-55 und Buschhaus: Über den Körper im Bilde sein, S. 68-70. 41 Böhme: Der anatomische Akt, S. 55.
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Abbildung 25: Das Frontispiz von Vesalius’ De corporis humani fabrica, 1543.
mit der rechten Hand auf das Innere weist und seinen Blick auf den außerhalb des Bildes befindlichen Betrachter richtet. Vesalius ist Lektor, Demonstrator und Prosektor in einer Person und bricht derart mit der klassischen Rollenverteilung der Kathederanatomie. Er stellt darüber hinaus die antike Schriftautorität in Frage, da er für ein Wissen plädiert, das nicht auf bereits vorhandenen Aussagen beruht, sondern direkt am Körper – im Zuge seiner Öffnung – empirisch hervorgebracht wird. In dieser Hinsicht wird die Leiche nicht nur zur Schau gestellt, sondern auf die Stufe eines Wissensgegenstandes erhoben, der seine eigenen Evidenzen produziert. Diesem Überschuss an Sinnlichkeit bzw. Sichtbarkeit müssen Sprache und Schrift nachfolgen. 42
42 Zur ausführlichen Beschreibung und Interpretation des Frontispizes von De humani corporis fabrica siehe Buschhaus: Über den Körper im Bilde sein, S. 63-74; Böhme: Der anatomische Akt, S. 55-60; Carlino, Andrea: Books of the Body: Anatomical Ritual and Renaissance Learning, übersetzt von John Tedeschi und Anne C. Tedeschi, Chicago [u.a.] 1999, S. 39-53; Cunningham: The Anatomical Renaissance, S. 124-128; Holl, Susanne: »Ob oculos: Andreas Vesals ›De humani corporis fabrica‹ und der Buchdruck«, in: Kaleidoskopien 3 (2000), S. 334-351; Klestinec, Cynthia:
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Die kulturspezifische Anatomie des Abendlandes Was ich bisher skizziert habe, ist die traditionelle Erzählung der Erfolgsgeschichte der Anatomie, eine Geschichte, die nicht ohne Genese, Entwicklung, Stagnation, Verfall, Wiedergeburt und ihre Heldenfigur auskommt. Sie folgt dem Zeitmodell einer idealen Historiografie im Sinne von Johann Joachim Winckelmann, dem zufolge die Geschichte »den Ursprung, das Wachstum, die Veränderung und den Fall […] lehren« soll.43 Wenn wir uns aber die Frage nach der Differenz zwischen den westlichen und chinesischen Bildern des Körperinneren vergegenwärtigen, so müssen wir feststellen, dass die Besinnung auf eine solche Geschichte nicht ausreicht, um das Bestehen dieser kulturellen Differenz zu erklären. Die Geschichte der Anatomie nur im Hinblick auf ihre Entwicklung und Brüche zu erzählen, hieße zu riskieren, den anatomischen Akt als die einzige unhintergehbare und unvermeidliche Art und Weise anzusehen, den Körper zu erkunden. In der Tat sind die immer wieder unternommenen Versuche der Historiker, die Abwesenheit der anatomischen Sektion am menschlichen Körper in bestimmten Zeitaltern mit ethisch-religiösen Motiven zu erklären, symptomatisch dafür, welche Selbstverständlichkeit die Anatomie mittlerweile erlangt hat. Derartige Versuchen setzen implizit voraus, dass sich die Anatomie kontinuierlich hätte entwickeln können, wären nur alle Hemmungen bewältigt und alle Störfaktoren beseitigt worden. In Wirklichkeit führt die ungehemmte Zergliederung des menschlichen Körpers jedoch keineswegs automatisch zur Anatomie. Wie uns der Medizinhistoriker Shigehisa Kuriyama lehrt, ist die Anatomie, aus einer interkulturellen Perspektive betrachtet, sogar eine »Anomalie«. 44 Obwohl viele alte Völker regelmäßig menschliche und tierische Körper öffneten und Autopsien bzw. Operationen durchführten, begründeten sie keine Anatomie. Die alten Ägypter beispielsweise hatten bei der Entnahme der Eingeweide aus den einzubalsamierenden Leichen zwar unzählige günstige Gelegenheiten zu anatomischen Studien, doch kamen sie niemals auf die Idee, den
Theaters of Anatomy: Students, Teachers, and Traditions of Dissection in Renaissance Venice, Baltimore 2011, S. 32-35. 43 Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums, Bd. 1, Dresden 1764, S. X. Siehe Didi-Huberman, Georges: Das Nachleben der Bilder: Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, übersetzt von Michael Bischoff, Berlin 2010, S. 17-23. 44 Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 118.
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inneren Bau des menschlichen Leibes gründlich zu erforschen. 45 Henry Ernest Sigerist bemerkt, dass es außerhalb der abendländischen Kultur kein Interesse daran gab, den inneren Bau des Organismus zu studieren: »Ein Volk, das die feinsten Bewegungen des Tieres vollendet darzustellen vermochte, das die allerkleinsten Varietäten der Tierleber zu beobachten gewohnt war, wie die Babylonier und Assyrer, hätte auch die Geheimnisse des Organismus bis zu einem gewis sen Grad zu entschleiern vermocht – wenn es das Bedürfnis danach gehabt hätte. Auch die religiösen Hemmungen wären gesprengt worden, wenn der anatomische Trieb dagewesen wäre.«46
Es muss deshalb gefragt werden, warum die anatomische Erforschung des menschlichen Körpers ausschließlich in der westlichen Kultur zu einer Praktik wurde, deren Anfänge bis ins 3. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen, während andere Kulturen dieses Bedürfnis nicht verspürten. Wolf-Heidegger zufolge ermöglichte »die Synthese des hellenistischen Aufgeklärtseins mit dem alten griechischen Forschergeist und der traditionellen ägyptischen Erfahrung, Leichen zur Einbalsamierung auszuweiden«, die früheste anatomische Sektion am menschlichen Leichnam in Alexandria.47 Ähnlich wie Wolf-Heidegger betont Ackerknecht die entscheidende Rolle, die »der wissenschaftliche Geist« für die Verwandlung der bloßen Öffnung des Körpers in eine Praktik wissenschaftlicher Forschung spielt: »It becomes evident that the mere technique means nothing for scientific progress as long as it is not pervaded by the scientific spirit. With this spirit the opening of bodies is an inexhaustible source of anatomical knowledge. Without it, in the atmosphere of magic, it is a gesture of no importance for knowledge because the essential element for the formation of scientific knowledge is missing. Only in the context of a culture pattern oriented towards a kind of ›science‹ do dissections furnish anatomical knowledge.«48
45 Siehe Wolf-Heidegger: Zur Geschichte der anatomischen Zergliederung des menschlichen Körpers, S. 16. 46 Sigerist, Henry Ernst: »Die Geburt der abendländischen Medizin«, in: ders.; Singer, Charles [Hrsg.]: Essays on the History of Medicine: Presented to Karl Sudhoff on the Occasion of His 70th Birthday Nov. 26th 1923, Freeport 1968, S. 185-205, hier S. 195. 47 Wolf-Heidegger: Zur Geschichte der anatomischen Zergliederung, S. 17. 48 Ackerknecht, Erwin Heinz: »Primitive Autopsies and the History of Anatomy«, in: Bulletin of the History of Medicine 13 (1943), S. 334-339, hier S. 338.
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Die Anatomie ist ohne den wissenschaftlichen Geist undenkbar, denn es genügt nicht, den Körper – im ursprünglichen Sinne des Wortes – aufzuschneiden, zu zergliedern und zu sezieren. Der wissenschaftliche Geist trägt zur Verwissenschaftlichung der Anatomie bei, insofern er weitere Operationen wie Beobachten, Beschreiben, Untersuchen, Sammeln, Sortieren, In-BeziehungSetzen, Systematisieren usw. mit dem Akt des Zergliederns kombiniert. Allerdings lässt sich die Entstehung der Anatomie nicht allein durch das Aufkommen einer wissenschaftlichen Mentalität erklären. Tatsächlich gibt es unzählige andere Herangehensweisen, um den menschlichen Körper zu erforschen und gegen Leiden, Schmerz und Tod zu kämpfen.49 Man kann zum Beispiel die verschiedenen Einflüsse der Jahreszeiten, der Örtlichkeiten und der aus verschiedenen Richtungen kommenden Winde auf den Körper beobachten. Man kann auch unterschiedliche Reaktionen des Körpers, die von bestimmten Lebensmitteln oder Behandlungen hervorgerufen werden, entweder direkt am Körper oder indirekt anhand seiner Absonderungen erforschen.50 Alle diese Herangehensweisen, ja auch diejenigen, welche heute als spekulativ oder obsolet gelten, setzen ohne Ausnahme einen »wissenschaftlichen Geist« voraus, da sie alle von der Beobachtung des Körpers ausgehen, Erfahrungen sammeln, auf den ersten Blick nicht erkennbaren Beziehungen erschließen und das derart gewonnene Wissen für die Zukunft aufbewahren. In der Tat übersieht der von Ackerknecht in seiner Geschichtsschreibung unternommene Versuch, die Wissenschaftlichkeit einer vermeintlich primitiven Heilkunde an der Entwicklung der Anatomie zu messen, nicht nur die der Anatomie innewohnende Kulturspezifität, sondern auch die bereits in der Antike unter griechischen Medizinern aufgekommene Kontroverse über die Notwendigkeit anatomischer Studien. Die Empiriker, so können wir bei Celsus lesen, standen der anatomischen Sektion am menschlichen Leib skeptisch gegenüber: »For when the body had been laid open, colour, smoothness, softness, hardness and all similars would not be such as they were when the body was untouched; […] it is much more likely that the more internal parts, which are far softer, and to which the very light is something novel, should under the most severe of woundings, in fact mangling, undergo changes. Nor is anything more foolish […] than to suppose that whatever th e
49 Vgl. Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 118 50 Vgl. ebd.
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condition of the part of a man’s body in life, it will also be the same when he is dying, nay, when he is already dead.«51
Den Empirikern erscheint die Anatomie absurd, weil der tote Körper in der Sektion irrtümlicherweise als Repräsentant des lebendigen angesehen wird. Ein anderer Grund für ihre entschlossene Ablehnung der Anatomie lag darin, dass die anatomische Kenntnis der Eingeweide in ihren Augen gar nicht dazu beitrug, das eigentliche Ziel der Medizin, nämlich die Heilung des kranken Menschen, zu fördern.52 Selbst der berühmte Mediziner und Anatom Galen, dessen Schriften, wie bereits erwähnt, lange Zeit ex cathedra vorgetragen wurden, beschwerte sich in De anatomicis administrationibus darüber, dass sich die Anatomen seiner Zeit auf etwas konzentrierten, was ohne Nutzen für die Mediziner sei.53 Es ist zu betonen, dass die Anatomie tatsächlich erst nach dem von Foucault beschriebenen Paradigmenwechsel von der Humoralpathologie zu einer anatomisch fundierten Pathologie im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert ihre praktische Bedeutung gewann.54 Bis ins 19. Jahrhundert hinein
51 Celsus: De medicina in Three Volumes. 1. [Books 1-4], übersetzt von W. G. Spencer, Cambridge, Mass. [u.a.] 1971, S. 23. 52 Siehe Deichgräber, Karl: Die griechische Empirikerschule: Sammlung der Fragmente und Darstellung der Lehre, Berlin 1930, S. 286. Vgl. auch Rocca, Julius: »Anatomy«, in: Hankinson, Robert J. [Hrsg.]: The Cambridge Companion to Galen, Cambridge [u.a.] 2008, S. 242-262, hier S. 246 und Staden: »The Discovery of the Body«, S. 235-236. 53 Vgl. Galen: On Anatomical Procedures (= De anatomicis administrationibus), übersetzt von Charles Singer, London [u.a.] 1956, S. 34. Für Galen ist es beispielsweise von größerem Nutzen zu wissen, »what muscles extend and flex the upper and lower arm and wrist, or thigh, leg and foot, or what muscles turn each of these laterally, or how many tendons there are in each, from where they take their rise and how they are placed, or where a vein or a great artery and where a small underlie them«, als zu wissen, »how many valves there are at each orifice of the heart, or how many vessels minister to it, or how or whence they come, or how the paired cranial nerves reach the brain«. (Ebd., S. 34-35.) 54 Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt a. M. [u.a.] 1976, S. 19. Zur Genese der anatomischen Pathologie siehe Konert, Jürgen; Dietrich, Holger G.: »Giovanni Battista Morgagni und der Beginn der Pathologischen Anatomie«, in: Helm, Jürgen;
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war die Symptomatologie, das heißt die Erschließung der Krankheiten anhand äußerer Symptome, immer noch das gängige Untersuchungsverfahren. Bevor die chirurgische Behandlung durch die Erfindung der Narkose und Asepsis Verbreitung fand, blieben Aderlass und Diät die hauptsächlich angewandten Heilbehandlungen. In dieser Hinsicht war die Kenntnis vom inneren Bau des Körpers von eher geringer Notwendigkeit. Wie Martin Kemp und Marina Wallace bemerkt haben, ging das Bildwissen um das Körperinnere, das in der Anatomie erlangt und in den anatomischen Abbildungen vorgeführt wurde, lange Zeit weit über das von den Ärzten tatsächlich benötigte Wissen hinaus: »Indeed, much of the detailed anatomy was of no use to the physician, or even the surgeon, because […] medical practice simply did not have the means to intervene with the levels of refinement that the representations delivered.« 55
Der Blick des Anatomen Die Anatomie stellt einen kulturspezifischen Umgang mit dem Körper in der europäischen Kultur dar. Das Bedürfnis, den Bau des menschlichen Körpers zu studieren, ist de facto nur vor dem Hintergrund der in der westlichen Kultur verbreiteten teleologischen Auffassung der Welt verständlich. In einer berühmten Stelle von Über die Teile der Lebewesen gibt Aristoteles zu, dass man die Bestandteile des menschlichen Körpers, also das Blut, das Fleisch, die Knochen und die Adern, »nicht ohne großen Widerwillen«56 ansehen könne. Allerdings betont er, dass man sich vor der Zergliederung nicht scheuen solle, denn in allem Natürlichen sei das, »was ›nicht zufällig‹ ist, sondern ›zu einem Zweck‹ existiert«,57 vorhanden. Um das zu erkennen, bedürfe man, so Aristoteles, nur einer besonderen Einstellung gegenüber den als ekelhaft empfundenen Teilen:
Stukenbrock, Karin [Hrsg.]: Anatomie: Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 127-138. 55 Kemp: Spectacular Bodies, S. 11. 56 Aristoteles: Über die Teile der Lebewesen, 645a. Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf Wolfgang Kullmanns Übersetzung: Aristoteles: Über die Teile der Lebewesen, übersetzt und erläutert von Wolfgang Kullmann, Berlin 2007, S. 30. 57 Ebd.
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»Man muß […] davon ausgehen, daß jemand, der sich über einen [Bestand-]Teil oder Ausrüstungsgegenstand von irgendetwas unterhält, nicht dessen Material im Sinn hat und nicht um seinetwillen spricht, sondern wegen dessen ganzer Gestalt, zum Beispiel wegen des Hauses, aber nicht wegen der Ziegel, des Lehms und des Holzes; ebenso muß man davon ausgehen, daß der Naturforscher von der Zusammensetzung und dem Gesamtwesen spricht, aber nicht von denjenigen Dingen, die niemals von ihrer Substanz abgetrennt vorkommen.« 58
Aristoteles zufolge, der sowohl den tierischen als auch den menschlichen Körper seziert hat, kann man den Ekel »umlernen«,59 indem man sich anstrengt, den zerteilten Körper auf eine andere Weise zu sehen. Es handelt sich dabei um ein Sehen, das nicht lediglich die ganze Gestalt der Teile umfassend hervortreten lässt, sondern gleichzeitig imstande ist, von der schmutzigen Substanz abzusehen und diese in ihrer Funktion für das Ganze zu betrachten. Wenn dies gelingt, verlieren die isolierten Bestandteile ihren abstoßenden Charakter und erscheinen vielmehr als etwas Schönes und Wunderbares. Durch dieses Übersehen wird der Ekel zum Verschwinden gebracht, ja sogar transzendiert und sublimiert. Bei der Lektüre von Galens De usu partium könnte man leicht den Eindruck haben, dass es sich dabei weniger um eine Schilderung der Nützlichkeit der Teile handelt als vielmehr um ein Preislied auf den Schöpfer. Unaufhörlich staunt Galen über die verschiedenen Bestandteile und die perfekte Komposition des menschlichen Körpers. Immer wieder erinnert er seinen Leser daran, dass nichts an ihm überflüssig oder zwecklos sei und dass die Weisheit des Schöpfers in jedem Detail bewiesen werden könne. Ähnlich wie Aristoteles betont Galen jedoch, dass ein bestimmter Blick erforderlich sei, um die wahre Schönheit zu erkennen: »You should rather estimate the art of the creator of all things just as you judge the art of Phidias. Now perhaps you are struck with admiration of the decoration covering the image of Zeus at Olympia, its gleaming ivory, its massy gold, and the great size of the whole statue, and if you saw such a statue made of clay, you would perhaps turn away in contempt. Not so, however, the man who is an artist and able to recognize the art
58 Ebd. 59 Ich verwende den Aufruf Nietzsches »Wir lernen den Ekel um!«, ohne mich auf seine Philosophie zu beziehen. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 9, München [u.a.] 1988, S. 460. Vgl. Böhme, Hartmut: Der anatomische Akt, S. 29.
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employed in the work; no, he commends Phidias equally, even if he sees him working in cheap wood, common stone, wax, or clay. For the uncultivated man sees beauty in material, whereas it is the art itself that seems beautiful to the artist. Come, then, let us make you skillful in Nature’s art so that we may call you no longer an uncultivated person, but a natural philosopher instead. Disregard differences of material and look only at the naked art itself, keeping in mind when you inspect the structure of the eye and the foot that the one is an instrument of vision and the other of locomotion.« 60
Mittels einer Analogiebildung zwischen der Betrachtung von Naturdingen und Kunstwerken plädiert Galen für einen Blick, der sich nicht auf das hochwertige Material, also die schmückende Hülle des Bildes, sondern auf »die bloße Kunst« richtet, die der Schöpfer und Künstler auf sein Werk angewendet hat. In seinem Text ermahnt uns Galen weiter, nicht eifersüchtig auf andere Naturdinge oder Kunstwerke zu schielen, weil sie aus vermeintlich kostbareren Stoffen bestünden, sondern sich mit demjenigen Material, aus dem wir gemacht sind, zufriedenzugeben; denn »they are divine and celestial and we are mere figures of clay, but in both cases the art of the Creator is equally great.« 61 Unter der bloßen Kunst versteht Galen offenbar, wie Aristoteles, die Form bzw. Gestalt, die ein Künstler in verschiedenen Materialien hervorbringen kann. 62 Es gilt dennoch zu betonen, dass die »bloße Kunst«, die Galen im Körperinneren zu erkennen versucht, mehr bedeutet als eine rein individuelle Form oder ein bloß konkretes Aussehen. Denn für ihn sind jede bestimmte Form, die ein Teil des Körpers aufweist, und jede bestimmte Ordnung, in welche die Elemente des Körpers gebracht worden sind, Ursachen der Erzeugung und durchaus mit bestimmten Funktionen verbunden. Genau aus diesem Grund fordert uns Galen auf, beim Betrachten der Struktur des Auges und des Fußes an das Sehen und die Fortbewegung zu denken. Den Aufbau des menschlichen Körpers zu studieren, heißt in diesem Sinne, nicht nur das vollendete Werk Gottes zu analysieren und seine Form und Ordnung zu erkennen, sondern auch die Gerechtigkeit und Funktionalität jeder exakt durchdachten Form und Ordnung zu begreifen.
60 Galen: On the Usefulness of the Parts of the Body (= De usu partium), übersetzt von Margaret Tallmadge May, Ithaca, N.Y. 1968, S. 189-190. 61 Ebd., S. 190. 62 Siehe Aristoteles: Metaphysik, 1034a-b. Aristoteles: Metaphysik, übersetzt von Hermann Bonitz, München 1966, S. 155-156.
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Auch wenn die anatomische Sektion am menschlichen Körper, wie die Geschichte zeigt, durch Ekel, Berührungstabu und moralische Vorurteile gehemmt werden kann, so wirkt der in der westlichen Kultur tief verwurzelte Glaube, dass jeder Bestandteil des menschlichen Körpers durch seine Form und seine Ordnung einen bestimmten, vom absoluten Schöpfergott für ihn vorgesehenen Zweck offenbare, wie ein latenter Appell, den Körper zu öffnen, und zugleich wie ein potenzielles Gegenmittel gegen die Aversion. Dieser Glaube trägt dazu bei, dass der Körper als geheimnisvolles (da er von der Haut verhüllt wird) und faszinierendes (da das Wesen so hautnah bei uns zu finden ist) Werk des höchsten Baumeisters empfunden wird. Wie bereits ausgeführt, ist der in den Körper dringende Blick, den der von diesem Glauben beseelte Anatom ins Körperinnere richtet, kein beliebiger. Es handelt sich vielmehr um einen äußerst geschulten Blick, der etwas Bestimmtes übersieht, um nach etwas anderem zu suchen. Wenn der Anatom die Leiche enthäutet, um das von der Haut verborgene Innere zu entblößen, offenbart der anatomische Blick die Form, die von der Materie verkörpert und zugleich verdunkelt wird, um die Prinzipien, nach denen Gott den Menschen erschaffen hat, sowie den Bauplan des menschlichen Körpers ans Licht zu bringen. 63 Diese teleologische Auffassung des menschlichen Körpers bildet den Ausgangspunkt für die anatomische Sektion in der Antike. Bis ins 18. Jahrhundert hinein wird sich die Anatomie stets als eine Lesart der Schöpfungsgeschichte verstehen.64 Noch im Jahr 1742 betrachtet Albrecht von Haller, Professor an der Universität Göttingen, die Anatomie als eine Untersuchung des göttlichen Werkes in seiner Rede »Über den Reiz der Anatomie«:
63 Ich rede hier zwar vom anatomischen Blick im Singular, dies soll aber nicht bedeuten, dass die Blicke, die sich in einer anatomischen Sektion auf den geöffneten Körper richten, auf einen homogenen Blick reduziert werden könnten. Das Frontispiz von De humani corporis fabrica z. B. veranschaulicht, wie heterogen und unrein die Blicke sind, die sich im anatomischen Theater überkreuzen. Vgl. Rößler, Hole: »Der anatomische Blick und das Licht im theatrum: Über Empirie und Schaulust«, in: Schramm, Helmar; Schwarte, Ludger; Lazardzig, Jan [Hrsg.]: Spuren der Avantgarde: Theatrum anatomicum, S. 97-128. Ich verstehe unter dem anatomischen Blick vielmehr einen idealisierten Blick, nach welchem die Anatomie strebt. 64 Vgl. Buschhaus, Markus: Über den Körper im Bilde sein, S. 51 und 274-275.
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»Schon lange hat Galen erkannt, was für ein Entzücken einem Manne, der die wahre Schönheit kennt, aus der Anatomie erwächst. Wir untersuchen von Gottes Hand erschaffene Maschinen, an denen man nichts finden kann, was nicht genau für seine Bestimmung, was nicht mathematisch vollkommen gemacht ist. Wie reizvoll aber diese Betrachtung ist, haben jene Männer eingesehen, die einen großen Teil der ewigen Seligkeit darin sehen, daß die seligen Seelen GOTTES Ratschlüsse und Gesetze lernen, mit denen er die Welt schuf, sowie das innerste Wesen der Dinge erkennen. […] der Anatom durchforscht den Aufbau des Körpers nicht nur mit fruchtloser Neugier, er tut Dinge, die die Augen abstoßen und bestimmt oft anatomisch haargenau, was jedes Teilchen sich und dem Gemeinwohl für Nutzen bringt. […] Gerade diese Aufgabe, die Spuren des ›Geometrie praktizierenden Gottes‹ aus der Nähe zu verfolgen, steht keiner anderen an Reiz oder Adel nach.«65
Der anatomische Blick des Künstlers In der Tat spiegelt sich diese spezifische Auffassung des menschlichen Körpers auch in den europäischen Körperdarstellungen wider. Zwar geht es den Künstlern – im Gegensatz zu den Anatomen, die den Körper zergliedern – hauptsächlich darum, bei der Darstellung einer Figur die Teile des Körpers in eine Komposition zu bringen, in der die einzelnen Glieder, wie Alberti schreibt, »bezüglich ihrer Größe, ihres Dienstes und ihres Aussehens, bezüglich der Farben und allfälliger sonstiger Eigenschaften dieser Art einander entsprechen und dadurch Liebreiz und Schönheit bewirken.«66 Doch begnügt sich die klassische Ästhetik, die sich seit der italienischen Renaissance entwickelt, nicht mehr damit, die Schönheit des Körpers lediglich von außen zu studieren. Sie fängt an, die Oberfläche zu durchdringen, den Körper zu stratifizieren und mit dem anatomischen Blick zu analysieren, um die Schönheit des Körpers nicht mehr dem Äußeren nach darzustellen, sondern von innen her zu konstruieren. In Vasaris Einführung in die Künste des disegno finden wir eine Passage, wo diese neue Ansicht über die Darstellung von Figuren klar zum Ausdruck kommt. Gleich nachdem Vasari betont hat, dass es niemals verfehlt sein könne, die »natürlichen Vorbilder« zu zeichnen und die »Malereien hervorragender
65 Haller, Albrecht von: »Über den Reiz der Anatomie«, S. 18. 66 Alberti, Leon Battista: De Pictura (= Die Malkunst), in: ders.: De Statua. De Pictura. Elementa Picturae (= Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei), herausgegeben, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Oskar Bätschmann und Christoph Schäublin, Darmstadt 2000, S. 259. Dazu vgl. auch ebd., S. 253.
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Meister und rundplastischen Statuen der Antike« zu studieren, begegnet er der von ihm soeben aufgestellten Behauptung mit einem Vorbehalt. 67 »Am allerbesten aber«, so fügt er hinzu: »sind Studien der nackten Körper von Männern und Frauen, dank derer man sich durch die ständige Übung die Muskeln des Oberkörpers, des Rückens, der Beine, Arme und Knie sowie die darunterliegenden Knochen ins Gedächtnis einprägt. Dadurch gewinnt man infolge langer Übung eine solche Sicherheit, daß man, ohne die natürlichen Vor bilder vor Augen zu haben, aus der Phantasie heraus eigenständig alle möglichen Haltungen nachbilden kann. Gleiches gilt für die Notwendigkeit, Menschen mit abgezogener Haut gesehen zu haben, um ein Wissen davon zu entwickeln, wie die Knochen darunter liegen und die Muskeln und Sehnen verlaufen mit allen Regeln und Bestandteilen der Anatomie. Dadurch wird man die menschlichen Glieder und Muskeln an den Figuren mit größerer Sicherheit und exakter plazieren können. Jene, die über dieses Wissen verfügen, werden die Konturen der Figuren notwendigerweise in vollkommener Weise angeben und diese mit ihren exakt ausgeführten Umrissen gut verstandene Anmut und schönen Stil zeigen«. 68
Damit will Vasari wohl zum Ausdruck bringen, dass das bloße Nachzeichnen von natürlichen Vorbildern und das Studieren von Kunstwerken für eine wirkliche Nachahmung des Körpers noch nicht genügen. Was fehlt, ist nichts anderes als das anatomische Wissen, ein Wissen, das in seinen Augen zwar von großer Bedeutung für die Darstellung der Figuren ist, doch nur schwer auf herkömmliche Weise erworben werden kann. Vasaris Lösung für das Problem ist ziemlich einfach. Er fordert die Künstler auf, die »nackten Körper« und »Menschen mit abgezogener Haut« zu studieren, um, wie er selbst schreibt, »ein Wissen davon zu entwickeln, wie die Knochen darunter liegen und die Muskeln und Sehnen verlaufen mit allen Regeln und Bestandteilen der Anatomie.«69 Das »Wissen«, das dabei von Vasari akzentuiert wird und durch die ständige Betrachtung und lange Übung entwickelt werden soll, erinnert uns an seine berühmte Kunsttheorie, die um den Begriff »disegno«, also einen Begriff,
67 Siehe Vasari, Giorgio: Einführung in die Künste des disegno, übersetzt von Victoria Lorini, herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von Matteo Burioni, Berlin 2006, S. 102. 68 Ebd. 69 Ebd.
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der sich als ›Zeichnung‹, ›Umschreibung‹ oder ›Kontur‹ übersetzen ließe, kreist.70 Es ist bekannt, dass Vasari den disegno nicht als eine einfache handwerkliche Arbeit, sondern als einen Vorgang begreift, in dem eine Idee durch Geist und Hand in der Zeichnung, also in ausgeführten Konturen und Umrissen, als eine sichtbare Form materialisiert wird. In diesem Sinne wird der disegno von Vasari nicht nur zu einem Vermögen erhoben, zu einer geistigen Tätigkeit eines Künstlers also, die sein »Wissen« um die »Form oder Idee aller Dinge der Natur«71 beweist, sondern von ihm sogar in die Nähe der göttlichen Schöpfung gerückt.72 Doch genau vor diesem Hintergrund sollten wir die Objekte, deren Studium Vasari zum Erkenntnisgewinn für notwendig hält, nicht außer Acht lassen: den nackten Körper auf der einen und den gehäuteten auf der anderen Seite. Wenngleich Vasari dabei für den letzteren die scheinbar harmlose Formulierung »Menschen mit abgezogener Haut« wohl nicht ohne Absicht gewählt hat, verdeckt diese Formulierung keineswegs den wesentlichen Unterschied zwischen den beiden zu studierenden Objekten sowie die Grausamkeit der Aufgabe, zu der er die Künstler verpflichten will. Um die Konturen der menschlichen Gestalt in vollkommener Weise zu umreißen, soll der Körper nicht nur entblößt, sondern geöffnet, gehäutet und zergliedert werden. Wenn Vasari im ersten Teil der zitierten Passage deutlich macht, dass man »dank der Studien der nackten Körper« die Muskeln und Knochen erforschen und ein allgemeines Urteil daraus ableiten kann, worin, so muss man fragen, besteht dann die Notwendigkeit, »Menschen mit abgezogener Haut«, die in Wirklichkeit nichts anderes als Leichen ohne Haut sind, zu betrachten? Worin besteht diese Notwendigkeit, die Schwelle – wenn man die Haut als eine Schwelle begreifen kann – zu überschreiten? Und darüber hinaus: Beschädigt man nicht
70 Vgl. den Glossar-Eintrag »disegno« in: Vasari, Giorgio: Kunstgeschichte und Kunsttheorie: Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler, übersetzt von Victoria Lorini, herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Matteo Burioni und Sabine Feser, Berlin 2004, S. 213-217. 71 Vasari: Einführung in die drei Künste des disegno, S. 98. 72 Vgl. Kemp, Wolfgang: »Disegno: Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607«, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 19 (1974), S. 219240; Weigel, Sigrid: Grammatologie der Bilder, Berlin 2015, S. 59-60 und Kurbjuhn, Charlotte: Kontur: Geschichte einer ästhetischen Denkfigur, Berlin [u.a.] 2014, S. 76-82.
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gerade die Konturen der menschlichen Gestalt, indem man den Körper öffnet?73 Hat dieser Eingriff nicht gerade eine Auflösung der Form, die Vasari so sehr am Herzen liegt, zur Folge? Und zerstört er nicht die Idee, die in der menschlichen Gestalt ihre Verkörperung findet? Auf einer phänomenologischen Ebene sollten wir uns zudem fragen, ob ein Körper »mit abgezogener Haut« nicht bloß eine klumpige, formlose Fleisch- und Fettmasse ist. Wie sonst könnte man einen Körper, der nun anhand eines gehäuteten Körpers nachgebildet werden soll, auffassen? Oder anders gefragt: Was für einen bestimmten Körper also will Vasari in einer Darstellung des Körpers sehen? Es lohnt sich hier, Albertis vielzitierte Passage in De Pictura, in der er dem Maler zum Studium der Anatomie des menschlichen Körpers rät, noch einmal zu lesen, denn er unterrichtet uns dort genau darüber, wie sich ein zu malender Körper aus einer anschaulichen Gestaltung herauskristallisieren soll: »Man stelle sich – sollen Lebewesen gemalt werden – zuerst die unter der Oberfläche liegenden Knochen vor und weise ihnen ihre Lage zu (da die Knochen sich nämlich überhaupt nicht biegen lassen, besetzen sie immer einen ganz bestimmten Platz). In der Folge kommt es darauf an, dass die Nerven und die Muskeln genau an den Orten sitzen, wo sie hingehören, und am Ende wird man dafür sorgen, dass Knochen und Muskeln (ossa et musculos) mit Fleisch und Haut (carne et cute) umkleidet sind. An dieser Stelle […] werden wohl gewisse Leute auftreten und mir entgegenhalten, was ich doch selbst oben ausgeführt habe: dass den Maler die Dinge nichts angingen, die nicht gesehen würden. Damit haben sie zwar recht, doch ist es eben so: wie wir bei der Wiedergabe von Kleidern zuerst denjenigen nackt darunter skizzieren müssen, den wir nachher mit Kleidern umgeben und einhüllen, ebenso müssen wir, wenn wir einen Nackten malen, zuerst die Knochen und die Muskeln anordnen und sie dann Maßgerecht mit Fleisch und Haut so zudecken, dass man ohne Schwierigkeit erkennt, an welcher Stelle sich die Muskeln befinden.«74
Alberti beschreibt den Vorgang des Malens als einen additiven Prozess: Ein Maler soll in seiner Vorstellung zunächst die maßgebenden Knochen in eine bestimmte Stellung bringen, dann die Nerven und Muskeln anhand der Position der Knochen ausrichten und schließlich all dies mit Fleisch und Haut umhüllen. Auffällig ist vor allem die Analogie, die Alberti zwischen »Kleidern« und »Fleisch und Haut« herstellt: Wenn »Fleisch und Haut« in eine Art Be-
73 Vgl. Didi-Huberman: Venus öffnen, S. 50. 74 Alberti: De Pictura, S. 259.
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kleidung der »Knochen und Muskeln« umgedeutet werden, so entsteht unterhalb der Hülle des nackten Körpers ein weiterer, umso nackterer Körper. Um einen Körper zu entblößen, muss man demgemäß nicht nur die Bekleidung, sondern auch die Haut und das Fleisch abziehen. Albertis Unterscheidung zwischen maßgebenden »Knochen und Muskeln« und umkleidendem »Fleisch und Haut« begründet eine neue Darstellungsweise des Körpers. Obwohl die Darstellung einer Figur immer noch in erster Linie die Zeichnung der Kontur betrifft, die zwischen der Haut und der Außenwelt verläuft, und die makellose Haut in der bildenden Kunst nach wie vor als Ideal gilt, wird die Form, solange sie lediglich anhand der Erscheinung des Körpers gezeichnet wird, für Alberti fragwürdig. Sie ist in seinen Augen lediglich eine geminderte oder indirekte Form. Denn das Wesen der Form wohnt nun nicht mehr der Sichtbarkeit der realen Haut inne, sondern wird in die Tiefen des Körpers verlegt. Die Gestalt soll nicht länger ausgehend von der Haut, sondern mittels der unter ihr verborgenen Topologien, Strukturen und Anordnungen der Knochen und Muskeln, anhand jenes Körpers also innerhalb des Körpers, aufgebaut werden. In diesem Zusammenhang wird die reale Haut einerseits als ein Medium, das die Form und das Maß des inneren Körpers zur Erscheinung bringt, andererseits aber auch als eine Hülle betrachtet, die das form- und maßgebende Innere zugleich verbirgt und offenbart. Insofern ist es wohl kein Zufall, dass Alberti einen geometrischen Körper als das, was »von einer Fläche bedeckt« ist, und die Fläche als »die äußerste Haut des Körpers« bzw. als »Gewebe« bezeichnet, wobei er auf den Begriff »limbus« (Besatzstreifen, Bordüre, Gürtel bzw. Saum) zurückgreift, um »den äußersten Umfang jeder Fläche« zu benennen. 75 Wie der unter der Haut verborgene, nackte Körper des Menschen seine Form und sein Maß auf die sichtbare Haut überträgt, so spannt der geometrische Körper, Alberti zufolge, ebenfalls die ihn verdeckende Fläche von innen nach außen. Er ist eine Grenzfläche bzw. ein sichtbares Feld, das durch den Saum, also die Trennlinie, zugleich umgrenzt und gehalten wird.76 In beiden Fällen wird die Oberfläche als das
75 Alberti, Leon Battista: Elementa Picturae (= Grundlagen der Malerei), in: ders.: De Statua. De Pictura. Elementa Picturae (= Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei), herausgegeben, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Oskar Bätschmann und Christoph Schäublin, Darmstadt 2000, S. 339. Vgl. auch Alberti: De Pictura, S. 197. 76 Siehe Alberti: Elementa Picturae, S. 339-341. Vgl. Einleitung von Oskar Bätschmann und Christoph Schäublin in: Ebd., S. 62.
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angesehen, was den Körper sichtbar macht, jedoch zugleich zwischen uns und dem Körper steht und den unmittelbaren Kontakt zu seinem Inneren verhindert. An dieser Stelle wird nachvollziehbar, weshalb Vasari und Alberti dem Künstler zur Aneignung anatomischer Kenntnisse raten. In ihren Augen liegt die Wahrheit des Körpers weniger im sichtbaren Äußeren als vielmehr in der Kenntnis seines unsichtbaren Inneren. Eine Kontur der menschlichen Gestalt zu zeichnen, ohne auf das Wissen um den inneren Aufbau des Körpers zu rekurrieren, wäre aus ihrer Sicht ganz und gar oberflächlich. Es ist bekannt, dass sich Albertis Umwertung des Inneren zu dem, was dem Äußeren zu Grunde liegt, im 16. Jahrhundert rasch durchgesetzt hat. Die Anatomie wurde kurz nach Michelangelo, der, Vasari zufolge, zahlreiche anatomische Sektionen an Leichen durchführte und so seinen disegno zur Vollendung brachte,77 parallel zur Perspektive an der Kunstakademie gelehrt und zum verbindlichen Teil der künstlerischen Ausbildung. Das Skelett und der gehäutete Leichnam, also der ganz nackte Körper, wurden in der Akademie aufgehängt, damit die angehenden Künstler sie nicht nur als enthülltes Geheimnis mit bloßem Auge studieren, sondern ihrem Gedächtnis einprägen konnten.78 Das Écorché schimmerte seitdem wie das »Gespenst eines Gehäuteten«79 durch nahezu alle dargestellten Figuren hindurch. Dabei lässt sich feststellen, dass das Écorché bereits in der Renaissance nicht mehr unter der Oberfläche der Figuren blieb, sondern die Erscheinung der schönen Körperhülle allmählich verdrängte. Wie Kenneth Clark beobachtet hat, legten manche Künstler in der Renaissance so viel Wert auf die Zurschaustellung ihres anatomischen Wissens, dass anatomischen
77 Siehe Vasari, Giorgio: Das Leben des Michelangelo, übersetzt von Victoria Lorini, herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von Caroline Gabbert, Berlin 2009, S. 43 und 194-195. Im Übrigen ist es bemerkenswert, dass Vasari an einer Stelle behauptet, das nicht zustande gekommene Projekt eines von Realdo Colombo verfassten und mit Illustrationen von Michelangelo versehenen, anatomischen Traktats hätte Vesalius’ De humani corporis fabrica mit Sicherheit in den Schatten gestellt (Siehe Fußnoten 370 und 461 in: Ebd.). 78 Dies zeigen uns Johannes Stradanus’ Akademie der bildenden Künste oder Pietro Francesco Albertis Kupferstich Academia d’ Pitori auf anschauliche Weise. Vgl. Wolf-Heidegger: Die anatomische Sektion in bildlicher Darstellung, S. 171 und 431; Schulze Altcappenberg, Hein-Th.; Thimann, Michael [Hrsg.]: Disegno: Der Zeichner im Bild der Frühen Neuzeit, Ausstellungskatalog Staatliche Museen zu Berlin, München [u.a.] 2007, S. 120-123. 79 Didi-Huberman: Venus öffnen, S. 49.
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Akte in zahlreichen Werken sogar »ohne die geringste thematische Rechtfertigung« auftauchen und vielmehr als reine »Bescheinigungen für berufliche Tüchtigkeit« fungieren. 80 Diderot ist sich dieses Problems bewusst, wenn er 1765 schreibt: »Das Studium des Muskelmanns hat ohne Zweifel seine Vorteile; aber sollte nicht zu befürchten sein, daß dieser Geschundne beständig in der Einbildungskraft bleiben, daß der Künstler auf der Eitelkeit beharren werde, sich immer gelehrt zu zeigen, daß sein verwöhntes Auge nicht mehr auf der Oberfläche verweilen könne, daß er, trotz der Haut und des Fettes, immer nur den Muskel sehe, seinen Ursprung, seine Befestigung, sein Einschmiegen? Wird er nicht alles zu stark ausdrücken? wird er nicht hart und trocken arbeiten? werde ich nicht den verwünschten Geschundnen auch in den Weiberfiguren wiederfinden? Weil ich denn doch einmal nur das Äußere zu zeigen habe, so wünschte ich, man lehrte mich das Äußere nur recht gut sehen und erließe mir eine gefährliche Kenntnis, die ich vergessen soll.« 81
Wir sollten nicht dem Irrtum verfallen, dass Diderot mit diesen Worten gegen die Anatomie opponieren würde. Seine Schriften zeugen vielmehr von einer großen Begeisterung für die anatomische Sektion. Er plädiert sogar für die gesetzlich genehmigte Ausführung der Vivisektion an zum Tode verurteilten Verbrechern und erachtet die Anatomie, wie andere französische Aufklärer, als »eine der führenden Wissenschaften der Zukunft«. 82 Der Grund seiner Befürchtung liegt vielmehr darin, dass die Einsicht in das unsichtbare Innere das sichtbare Äußere verblassen lässt und dass das geschulte, oder genauer gesagt, das von den unter der Haut befindlichen Knochen und Muskeln besessene Auge des Künstlers die unmittelbar vor ihm liegenden Dinge nicht mehr zu
80 Clark, Kenneth: Das Nackte in der Kunst, übersetzt von Hanna Kiel, Köln 1958, S. 352. 81 Diderot, Denis: »Versuch über die Malerei«, in: ders.: Ästhetische Schriften, Bd. I, übersetzt von Friedrich Bassenge und Theodor Lücke, Berlin 1984, S. 635-694, hier S. 637-638. 82 Božovič, Miran: »Anatomie, Sektion und Philosophie: Diderot und Bentham«, in: Schramm, Helmar; Schwarte, Ludger; Lazardzig, Jan [Hrsg.]: Spuren der Avantgarde: Theatrum anatomicum: Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich, Berlin [u.a.] 2011, S. 221-241, hier S. 227. Ausführliche Darstellung der Einstellung Diderots zur Anatomie siehe ebd., S. 221-241.
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sehen vermag. Für Diderot wirkt sich diese ambivalente Verwicklung zwischen der Sichtbarmachung des Unsichtbaren und der Unsichtbarmachung des Sichtbaren am deutlichsten auf die Darstellung der weiblichen Figuren aus: Sie erscheinen ihm als Gehäutete! Diderot will seine Leser daher auf die Kehrseite der Sichtbarmachung hinweisen, auf die Blindheit, die stets mit der Einsicht einhergeht. In seinem Text kommentiert Diderot die Künstler-Anatomie wie folgt: »Man studiert die Muskeln am Leichnam nur deshalb, sagt man, damit man lerne, wie man die Natur ansehen soll; aber die Erfahrung lehrt, daß man nach diesem Studio gar viel Mühe hat, die Natur nicht anders zu sehen, als sie ist.« 83
Aber wie uns die Geschichte des Abendlandes zeigt, fühlen sich sowohl Anatomen als auch Künstler – wenn auch mit unterschiedlichem Interesse – genötigt, die Hülle des Körpers zu durchdringen und sich auf der Suche nach der wahren Natur in jene »Labyrinthe des organischen Baues«84 zu begeben, von denen Goethe in seinem Kommentar zu Diderots Kritik der Künstler-Anatomie spricht. Auf erstaunliche Weise wird die Dichotomie von Innen und Außen, von Verhüllung und Enthüllung, nach der sich Diderot sehnt, von Goethes dialektischer Auffassung des Körpers suspendiert. In dem fiktiven Dialog, den er mit Diderot führt, schreibt Goethe: »Nein, werter Diderot! drücke dich, da dir die Sprache so zu Gewalt steht, bestimmter aus. Ja, das Äußere soll der Künstler darstellen! Aber was ist das Äußere einer organischen Natur anders, als die ewig veränderte Erscheinung des Innern. Dieses Äußere, diese Oberfläche ist einem mannigfaltigen, verwickelten, zarten, innern Bau so genau angepaßt, daß sie dadurch selbst ein Inneres wird, indem beide Bestimmungen, die äußere und die innere, im ruhigsten Dasein, so wie in der stärksten Bewegung stets im unmittelbarsten Verhältnisse stehen.«85
Goethe weist darauf hin, dass die Oberfläche dem inneren Organismus »so genau angepaßt [ist], daß sie dadurch selbst ein Inneres wird«. Auf diese Weise
83 Diderot: »Versuch über die Malerei«, S. 638. 84 Goethe, Johann Wolfgang: »Diderots Versuch über die Malerei«, in: ders.: Sämt liche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 7, München [u.a.] 1991, S. 517565, hier S. 523. 85 Ebd., S. 533.
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will er Diderot an die Unverzichtbarkeit der Anatomie für die Darstellung des Äußeren erinnern. 86 Doch lassen sich Goethes einleuchtende Worte genauso gut als eine Antithese gegen sich selbst lesen: Wenn der innere Organismus »unmittelbarst« in der äußeren Oberfläche erscheint und das Äußere nicht anders als das Innere ist, so könnte man genau darin ein Argument dafür sehen, die Oberfläche des Körpers nicht länger als eine zu überwindende Decke zu betrachten. Goethes Verteidigung der Künstler-Anatomie ist in diesem Sinne ambivalent. Trotzdem deutet sie eine andere mögliche Perspektive an, in der die Oberfläche des Körpers nicht als bedeckende Hülle erscheint. Im Folgenden wollen wir analysieren, wie der Blick auf den Körper und die Herangehensweise an das Körperinnere in der chinesischen Medizin kultiviert werden. Die Beobachtung der Färbungen (se 色) Wie in der westlichen Kultur scheint es auf den ersten Blick auch in der chinesischen Medizin den Traum von einem ungehinderten Blick ins Körperinnere zu geben, denn laut einer Legende verfügte der bekannteste und gelegentlich vergöttlichte Mediziner Bian Que 扁鵲 über Wunderkräfte des »Hindurchsehens«. In den Aufzeichnungen des Historiografen (Shi ji 史記) des Sima Qian 司馬遷 aus dem Jahr 90 v. Chr. wird erzählt, dass Bian Que am Anfang nicht als Arzt ausgebildet worden sei, sondern eine Pension geführt habe. Eines Tages gibt ihm ein Pensionsgast namens Chang Sang Jun 長桑君 ein Elixier und mahnt ihn, dieses mit frischem Tau vermischt dreißig Tage lang zu trinken. Diese Anweisung befolgend, kann Bian Que bald die Personen hinter der Mauer sehen. Wendet er diese außergewöhnliche Fähigkeit des Auges zur Diagnose auf seine Patienten an, so kann er die gestauten Organe im Inneren ihres Körpers erblicken.87 Vor diesem Hintergrund könnte man annehmen, dass die Bewunderung, die dem das Körperinnere durchdringenden Blick entgegengebracht wurde, in
86 Dazu vgl. auch Siegel, Steffen: »Einblicke: Das Innere des menschlichen Körpers als Bildproblem in der Frühen Neuzeit«, in: Reichle, Ingeborg; Siegel, Steffen; Spelten, Achim [Hrsg.]: Verwandte Bilder: Die Fragen der Bildwissenschaft, Berlin 2007, S. 33-55. 87 Siehe Sima Qian 司馬遷: Shi ji 史記, Peking 1959, S. 2785. Wenngleich die von Sima Qian verfasste Biografie von Bian Que stark legendär gefärbt ist, so gehört sie doch zu den am frühesten in China geschriebenen, uns überlieferten Berichten über das Leben eines Arztes.
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der chinesischen Medizin eine gewisse Etablierung der Anatomie zur Folge gehabt haben müsste, zumal sich eine Stelle im Klassiker des Gelben Kaisers (Huang di nei jing 黃帝內經), dem ältesten überlieferten Werk der chinesischen Medizin, anführen ließe, in der es heißt, dass eine Person nach ihrem Tod aufgeschnitten werden könne, um das Innere freizulegen. 88 Dennoch müssen wir feststellen, dass die anatomische Sektion des menschlichen Körpers in der gesamten Geschichte der chinesischen Medizin nur selten durchgeführt wurde. Der Untersuchung des inneren Baues des menschlichen Körpers wurde also keine besondere Bedeutung zugeschrieben. Daher stellt sich die folgende Frage: Was sollte ein chinesischer Mediziner sehen und wie verschaffte er sich Zugang zum Inneren des Körpers?
88 Siehe Huang di nei jing, Ling shu 12. Klassiker des Gelben Kaisers (Huang di nei jing 黃帝內經) ist ein umfangreiches Ausgangswerk der chinesischen Medizin, das aus den Teilen Wirkkräftiger Angelpunkt (Ling shu 靈樞) und Elementare Fragen (Su wen 素問) besteht. Es wurde aus Textstücken verschiedener Autoren und Zeiten zusammengestellt. Nach den jüngsten Forschungen stammt der älteste Teil des Klassikers des Gelben Kaisers aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. Andere Textstücke wurden in den darauffolgenden Jahrhunderten hinzugefügt. Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf die kommentierte Ausgabe von Guo Ai-chun 郭靄春, auf Paul Unschulds deutsche Übersetzung und die englische Übersetzung des Su wen von Unschuld und Hermann Tessenow. Guo, Ai-chun 郭靄春: Huang di nei jing ling shu jiao zhu yu yi 黃帝內經靈樞校注語譯, Tianjin 1989; Guo, Ai-chun 郭靄 春: Huang di nei jing su wen xiao zhu yu yi 黃帝內經素問校注語譯, Tianjin 1980; Unschuld, Paul U.: Huang di nei jing ling shu, in: ders.: Antike Klassiker der Chinesischen Medizin: Ling shu / Zhen jing, Berlin 2015; Unschuld, Paul U.: Huang di nei jing su wen, in: ders.: Antike Klassiker der Chinesischen Medizin: Huang di nei jing su wen / Nan jing, Berlin 2013; Unschuld, Paul U.; Tessenow, Hermann: Huang di nei jing su wen: An Annotated Translation of Huang Di’s Inner Classic – Basic Questions, Bd. I und II, Berkeley 2011. Zum Klassiker des Gelben Kaisers vgl. Unschuld, Paul U.: Huang di nei jing su wen: Nature, Knowledge, Imagery in an Ancient Chinese Medical Text, with an Appendix: The Doctrine of the Five Periods and Six Qi in the Huang di nei jing su wen, Berkeley 2003; Unschuld, Paul U.: Huichun. Rückkehr in den Frühling: Chinesische Heilkunde in historischen Objekten und Bildern, München [u.a.] 1995, S. 30-31; Sivin, Nathan: »Huang ti nei ching 黃帝內經«, in: Loewe, Michael [Hrsg.]: Early Chinese Texts: A Bibliographical Guide, Berkeley, Calif. 1993, S. 196-215.
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In der chinesischen Medizin gehört das Sehen (wang 望) neben dem Hören (wen 聞), Fragen (wen 問) und Abtasten (qie 切) zu jenen vier Hauptverfahren der Diagnose, die bereits im alten China bekannt waren. Das, was gesehen werden soll, ist aber nicht die genuine Form, Gestalt oder Struktur des Körpers, die ein Anatom der westlichen Medizin zu sehen bestrebt wäre. Es sind vielmehr die Farben im Gesicht, die aus fünf elementaren Farben: grün, gelb, schwarz, rot und weiß bestehen. Diese hohe Wertschätzung genießende Methode heißt im Chinesischen wang se 望色, die »Beobachtung der Farben«. Im Klassiker des Gelben Kaisers lesen wir: »Wenn eine Färbung zwischen den Augenbrauen erscheint, blass und ohne Glanz, dann befindet sich die Krankheit in der Haut. Wenn die Lippen eine grünliche, gelbe, rote, weiße oder schwarze Färbung annehmen, dann befindet sich die Krankheit im Fleisch. […] Wenn die Farbe der Augen grünlich, gelb, rot, weiß oder schwarz ist, dann befindet sich die Krankheit in den Sehnen. Wenn die Ohren ausgetrocknet sind und Staub und Schmutz annehmen, dann befindet sich die Krankheit in den Knochen.« 89
Und an einer anderen Stelle: »Haben die Augen eine rote Färbung, dann ist die Krankheit im Herzen. Bei weißer in der Lunge; bei grüner in der Leber, bei gelber in der Milz, bei schwarzer in den Nieren. Bei gelber Färbung, die aber nicht deutlich zu bezeichnen ist, befindet sich die Krankheit in der Brust.«90
Es liegt auf der Hand, dass die hier zu beobachtenden Farben nicht mit der immanenten Farbe der Haut verwechselt werden dürfen. Diese Farben sind vielmehr als Färbungen, die an bzw. in der Haut sichtbar sind, zu verstehen. Die Frage, welche Färbung die Haut zeigt und in welchem Bereich des Gesichts sie sich befindet, spielt eine große Rolle für die Diagnose. Sie liefert einen Hinweis darauf, wie tief im Körperinneren bzw. in welchem Organ die Krankheit liegt. Wenn man sich weiter in die Literatur vertieft, bemerkt man, dass es dabei nicht einfach um die Identifizierung einer Farbe an einer bestimmten Stelle des Gesichts geht, sondern um einen viel komplexeren Prozess des Beobachtens, Vergleichens, Bewertens und Erkennens: Der Mediziner soll
89 Ling shu 59. Unschuld: Ling shu, S. 603-604. Unschulds Übersetzung wird von mir geringfügig modifiziert. 90 Ebd. 74. Unschuld: Ling shu, S. 762.
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die Färbungen an verschiedenen Stellen miteinander vergleichen, zum Beispiel die Färbung des Gesichts mit der des Auges, um anhand des Zusammentreffens zweier bestimmter Farben festzustellen, ob der Patient in Lebensgefahr schwebt.91 Bei der Bestimmung der Farbe muss der Mediziner zudem in der Lage sein, feine und genaue Unterschiede zwischen den Farbtönen wahrzunehmen, denn ein und dieselbe Farbe kann durchaus zwei unterschiedliche gegensätzliche Bedeutungen haben: »Ist die Färbung grünlich wie geschwärzte Gräser, stirbt er; gelb wie Hovenia-Früchte, stirbt er; schwarz wie Ruß, stirbt er; rot wie geronnenes Blut, stirbt er; weiß wie ausgetrocknete Knochen, stirbt er. […] Ist sie grünlich wie die Federn des Eisvogels, überlebt er; rot wie ein Hahnenkamm, überlebt er; gelb wie ein Krebsbauch, überlebt er; weiß wie Schweineschmalz, überlebt er; schwarz wie Krähenfedern, überlebt er.« 92
Der Mediziner soll darüber hinaus der Frage nachgehen, ob sich eine Färbung an der Oberfläche oder in der Tiefe befindet, ob sie feuchtglänzend oder fahl ist, ob sie sich wie Wolken zerstreut oder sammelt und ob sie sich nach unten oder nach oben erstreckt.93 Ferner soll die Färbung in Zusammenhang mit den vier Jahreszeiten sowie mit den aus acht verschiedenen Richtungen kommenden Winden bewertet und ihre Zuordnung nach der Fünf-Elemente-Lehre vorgenommen werden, der zufolge alle Dinge auf der Welt einschließlich der Farben, Töne, Eingeweide, Geschmacksrichtungen usw. in fünf Grundelemente aufgeteilt werden können. Diese Elemente, die in einer bestimmten, zeugenden und verzehrenden Beziehung zueinanderstehen, sind einem ständigen Wandel unterworfen.94 An dieser Stelle gilt es zu erwähnen, dass die Beobachtung der Farben auch in der westlichen Medizin praktiziert wird. 95 Die Zuordnung der vier
91 Su wen 10. 92 Ebd. 10. Vgl. Unschuld: Ling shu, S. 63. 93 Ling shu 49. Vgl. Unschuld: Ling shu, S. 546-547. 94 Su wen 13. 95 Zur Farbe in der antiken Physiognomie siehe die von Andreas Degkwitz übersetzten pseudo-aristotelischen »Physiognomonica« Traktat A und seinen Kommentar in: Campe, Rüdiger; Schneider, Manfred [Hrsg.]: Geschichten der Physiognomik: Text, Bild, Wissen, Freiburg im Breisgau 1996, S. 13-44 und Evans, C. Elizabeth: »Physiognomics in the Ancient World«, in: Transactions of the American Philosophical Society 5 (1969), S. 1-101, hier S. 7-10 und 12-15.
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Hauptfarben: schwarz, weiß, rot, gelb zu den einzelnen Körpersäften in der galenschen Humorallehre scheint der Aufteilung der Farben in der chinesischen Medizin vergleichbar zu sein, vor allem wenn in diesem breitgefächerten Viererschema die Primärqualitäten, Jahreszeiten, Kardinalorgane, Geschmacksqualitäten, psychischen Zustände, Lebensstufen und das Geschlecht mit den Körpersäften in Verbindung gebracht werden. 96 Vor diesem Hintergrund werden die sichtbaren Farben der Haut bereits seit der Antike in der Physiognomie und später in der medizinischen Semiotik als ausschlaggebende äußere Hinweise auf das Temperament, Seelenleben und innere Geschehen des Organismus gedeutet.97 Die Haut des Gesichts wird somit zu einer Leinwand, auf welche die seelischen Erregungen und Veränderungen der Körpersäfte ihre Farben auftragen.98 Trotz dieser Ähnlichkeiten unterscheidet sich die Beobachtung der Gesichtsfarbe in der chinesischen Medizin jedoch von derjenigen in der westlichen Medizin nicht nur durch die beträchtliche Tragweite, die sie den Färbungen einräumt. Sie stützt sich zugleich auf eine topografische Aufteilung des Gesichts, die sich nicht auf Augen, Nase, Lippen, Stirn, Wangen und Ohren beschränkt. Anhand dieser Sinnesorgane, die dem Arzt zur Orientierung dienen, wird die Oberfläche des Gesichts vielmehr in kleinere Zonen unterteilt,
96 Siehe Siegel, Rudolph Erich: Galen’s System of Physiology and Medicine: An Analysis of the Doctrines and Observations on Bloodflow, Respiration, Humors and Internal Diseases, Basel [u.a.] 1968, S. 196-359; Schöner, Erich: Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie (Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Beihefte 4), Wiesbaden 1964; Böhme, Gernot; Böhme, Hartmut: Feuer, Wasser, Erde, Luft: Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996, S. 164-171. 97 Zur medizinischen Semiotik siehe Schäffner, Wolfgang: »Die Zeichen des Unsichtbaren: Der ärztliche Blick und die Semiotik im 18. und frühen 19. Jahrhundert«, in: ders., Baxmann, Inge; Franz, Michael [Hrsg.]: Das Laokoon-Paradigma: Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 480-510; Frey, Christiane: »Zeichen – Krisis – Wahnsinn: Fallgeschichten medizinischer und poetischer Semiotik (Philippe Pinel, Jean Paul)«, in: Heinen, Sandra; Nehr, Harald [Hrsg.]: Krisen des Verstehens um 1800, Würzburg 2004, S. 111-132 und Bölts, Stephanie: Krankheiten und Textgattungen: Gattungsspezifisches Wissen in Literatur und Medizin um 1800, Berlin [u.a.] 2016. 98 Siehe beispielsweise Nicolai, Ernst Anton [Hrsg.]: Samuel Schaarschmidts Semiotic, oder Lehre von den Kennzeichen des innerlichen Zustandes des menschlichen Körpers, Berlin 1756, S. 480-484.
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Abbildung 26: Darstellung eines topografisch eingeteilten Gesichts in Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt.
die wiederum in eine feste Beziehung zu diversen inneren Organen gebracht werden. Im Illustrierten Supplement zum nach Themen explizierten Klassiker (Lei jing tu yi 類經圖翼) von Zhang Jie-bin 張介賓 findet sich ein Holzschnitt (Abb. 26), der eine solche topografische Aufteilung des Gesichts präsentiert. Es handelt sich hierbei um eine schematische Darstellung des männlichen Gesichts, das an den entsprechenden Stellen mit Schriftzeichen bedeckt ist. Entlang der Mittelachse des Gesichts, von der Stirn bis zur Nasenspitze – hier häufen sich die Schriftzeichen wohl am dichtesten –, werden von oben nach unten Kehle, Lunge, Herz, Leber und Gallenblase sowie Milz und Magen markiert. Andere innere Organe wie Dickdarm, Dünndarm und Nieren werden auf den Wangen angegeben. In dieser Darstellung wird das Sichtbare vom Symbolischen, das Äußere vom Inneren überlagert. Die Oberfläche des Gesichts ist hier keine Tabula rasa, sie gleicht vielmehr einer Karte, auf welcher die einzelnen Eingeweide als gedruckte Schriftzeichen an bestimmten Orten eingetragen werden. Zugleich ist sie jedoch keine Karte im gewöhnlichen Sinne, da die Zeichen, die sie durchziehen, nicht auf das Gesicht selbst, sondern auf ganz andere Körperzonen verweisen, die sich in Wirklichkeit außerhalb des
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Gesichtsfeldes befinden. Das Gesicht wird zu einem gemeinsamen Grund, auf dem die Eingeweide trotz ihrer realen räumlichen Entfernung zusammentreffen und in eine neue topografische Relation gebracht werden. Die einzelnen Eingeweide, so liest man im Klassiker des Gelben Kaisers, »haben alle Bereiche [im Gesicht], die ihnen unzweifelhaft entsprechen. Wenn man in diesen Bereichen die fünf Färbungen anschaut, dann stehen Gelb und Rot für Hitze, Weiß für Kälte, Grün und Schwarz für Schmerz.«99 Die Aufteilung des Gesichts in verschiedene, streng voneinander abgegrenzte Bereiche verleiht dem stummen Antlitz eine besondere Lesbarkeit. Sie verwandelt die Oberfläche des Gesichts in eine Erscheinungsfläche, auf der die Zustände des Organismus zum Ausdruck kommen. Doch beziehen sich die im Gesicht erscheinenden Färbungen nicht auf ein geheimnisvolles, undefinierbares Inneres, sondern werden von Anfang an nach ihrer Lage im Gesicht gegliedert und eng mit bestimmten Organen verbunden. Die topografische Aufteilung des Gesichts bietet dem ärztlichen Blick also eine gewisse Orientierung, indem sie einen sinnstiftenden, intelligiblen Raum eröffnet, innerhalb dessen die Färbungen gelesen werden können. Andererseits lässt sich erkennen, dass das Beobachten der Farbe nicht einfach darin besteht, die flüchtigen Färbungen im Gesicht sorgfältig zu verfolgen, sondern dieses gleichzeitig als ein Feld zu betrachten, auf dem die einzelnen Organe ihre eigenen Territorien besitzen. Das Gesicht zu betrachten, bedeutet in diesem Sinne nichts anderes, als in andere Organe zu blicken. Und nicht zufällig wird der chinesische Mediziner aufgefordert, der »Halle der Erleuchtung« (ming tang 明堂), dem Bereich der Nase, besondere Aufmerksamkeit zu schenken, denn gerade in diesem Bereich finden sich zentrale innere Organe lokalisiert.100 In der chinesischen Medizin entsteht die Beobachtung der Farbe während der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.). In der folgenden Zeit bildet sie eine grundlegende Struktur für die Weiterentwicklung der Beobachtung als Diagnoseverfahren. Bei einem genaueren Blick auf die Geschichte der chinesischen Medizin fällt jedoch auf, dass die Annahme, die Zustände der inneren Organe könnten durch die Beobachtung des Gesichts erkundet werden, über Jahrhunderte hinweg kaum in Frage gestellt wurde. »Was äußerlich deutlich [erkennbar] ist«, so schreibt Wang Hong 汪宏 1875 in seiner Abhandlung, »beruht auf dem Inneren; was dort zu sehen ist, geht darauf zurück.« 101. Für ihn bedarf die inhärente Verknüpfung zwischen Außen und Innen, Hier und
99 Su wen 39. Vgl. Unschuld: Su wen, S. 234. 100 Vgl. Su wen 13 und 73. 101 Wang Hong 汪宏: Wang zhen zun jing 望診遵經, Peking 2011 (1875), S. 12.
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Dort, Sichtbarem und Unsichtbarem keiner weiteren Begründung. Als Jiang Shi-ji 蔣示吉 im 17. Jahrhundert auf die Frage eingeht, warum es möglich sei, vom Äußeren auf das Innere zu schließen, scheint ihm eine in der chinesischen Kultur verbreitete Analogie als Antwort völlig zu genügen. Die Oberfläche des Körpers, so erklärt er, verhalte sich zu den Eingeweiden wie die Blätter einer Pflanze zu deren Wurzel: »Wie bei der Pflanze, wenn man ihre Blätter beobachtet, kann man ihre Wurzel erkennen. Wenn man ihre Blüte beobachtet, kann man ihr Wesen erkennen.«102 Wenn wir uns nun wieder der abendländischen Medizin zuwenden, werden wir auf einen völlig anderen Verlauf der Geschichte stoßen. Die westlichen Mediziner bezogen sich, wie Wolfgang Schäffner darlegt, zwar immer wieder auf Hippokrates als Begründer der medizinischen Erfahrung und betrachteten die gesamte Geschichte als Bürge für die Unwiderlegbarkeit des tradierten Wissens, doch konnte all dies nicht über eine tiefe »Verunsicherung« im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert hinwegtäuschen.103 Zu dieser Zeit geriet die medizinische Beobachtung in eine »semiotische Krise«. 104 Mit wachsender Skepsis fragte man sich, ob die an der Oberfläche des Körpers sichtbaren Symptome tatsächlich über das unsichtbare Innere Aufschluss geben würden und ob sie als rein zufällige Erscheinungen nicht sogar den ärztlichen Blick täuschen könnten.105 Wenn sich eine große Zahl von Abhandlungen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermehrt mit den »Zeichen« auseinandersetzte und derart eine blühende Literatur über die »Zeichenlehre« und »medizinische Semiotik« hervorbrachte, so war diese Entwicklung wohl damit verbunden, dass die damals ins Wanken geratene Bezeichnungsrelation zwischen signum und signatum, Schein und Sein, sichtbaren Symptomen an der Oberfläche des Körpers und unsichtbaren Zuständen in seinem Inneren erneut ausgehandelt und stabilisiert werden musste. Diese Reflexion über die Zeichen war allerdings nur ein Intermezzo in der Geschichte der westlichen Medizin: Nach der Einführung der anatomischen Pathologie als eines neuen Prinzips zur Bestimmung der Krankheit vor allem
102 Jiang Shi-ji 蔣示吉: »Wang se qi wei 望色啟微«, in: Zheng Jin-sheng 鄭金生 [Hrsg.]: Hai wai hui gui zhong yi shan ben gu ji cong shu 海外回歸中醫善本古 籍叢書, Bd. 1, Peking 2004, S. 451. 103 Schäffner: »Die Zeichen des Unsichtbaren«, S. 487. 104 Siehe Frey: »Zeichen – Krisis – Wahnsinn«, S. 111. 105 Siehe Schäffner: »Die Zeichen des Unsichtbaren«, S. 487-500 und Frey: »Zeichen – Krisis – Wahnsinn«, S. 111-112.
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durch den französischen Anatomen Xavier Bichat (1771-1802) wurde die Beziehung zwischen der Oberfläche und dem Innenraum des Körpers von Grund auf umstrukturiert.106 Die Lokalisierung der entzündeten Gewebe im Körperinneren tritt nun an die Stelle der Interpretation der mannigfaltigen Zeichen an der Oberfläche des Körpers. Die Krankheit wird nicht mehr anhand der Symptome bestimmt, sondern unmittelbar im Gewebe des affizierten inneren Organs verortet. Ein Zeichen am Körper kann zwar noch auf das mögliche Vorhandensein einer Krankheit, aber niemals auf deren Ursache oder Wesenheit hindeuten. Die anatomische Pathologie kehrt nicht zuletzt auch die Ordnung der Sichtbarkeit um. Wenn die Haut zuvor der privilegierte Ort war, wo die Zustände der Innerlichkeit in Erscheinung traten, so wird ihre Sichtbarkeit nun außer Kraft gesetzt. Durch die Öffnung der Leichen werden die unsichtbaren Organe ans Licht gebracht, so dass das Innere für sich selbst sprechen kann. Insofern verdrängt das sichtbar Gemachte nicht nur das Sichtbare, denn auch der lebendige Körper kann erst innerhalb der Struktur, die die Sichtbarkeit des toten Körpers vorgegeben hat, seine Wahrnehmbarkeit und Lesbarkeit gewinnen.107 Diese Erzeugung der Evidenzen bzw. Sichtbarmachung des Unsichtbaren bedeutet unweigerlich zugleich ein Absehen von den an der Oberfläche des lebendigen Körpers sichtbaren, bunten und wechselhaften Phänomenen. Dieser Vorgang gleicht einer Verbannung des Körpers ins Reich des Toten. Im Prozess der Fäulnis und Verwesung beginnt sich eine neue, völlig verschiedenartige Sichtbarkeit des Körpers zu entfalten. Ganz analog zu den heftigen Kontroversen, die in der westlichen Medizin über die Zeichenhaftigkeit der an der Hautoberfläche wahrnehmbaren Symptome ausbrechen, sehen sich auch die chinesischen Mediziner mit der Ungewissheit der zu beobachtenden Färbungen konfrontiert. Dieser Sachverhalt lässt sich am chinesischen verbalen Zeichen ›wang 望‹ erkennen, einem Begriff, der je nach Kontext für ›Sehen‹, ›Beobachten‹, ›Betrachten‹, ›in die Ferne Schauen‹, ›Sehnen‹ usw. stehen kann. In der Orakel-Schrift wird das Zeichen ›wang 望‹ als eine Person dargestellt, deren Kopf durch ein weit geöffnetes Auge ersetzt wird: . Sie steht auf der Erde und neigt den Oberkörper nach vorne, als strebte sie danach, etwas in der Ferne Liegendes, aber nicht
106 Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 137-185 und Schäffner: »Die Zeichen des Unsichtbaren«, S. 493-494. 107 Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 178-179. Zu Foucaults Denken der Beziehung zwischen Innen und Außen siehe den von Ann-Cathrin Drews und Katharina D. Martin herausgegebenen Sammelband: Innen – Außen – Anders: Körper im Werk von Gilles Deleuze und Michel Foucault, Bielefeld 2017.
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deutlich Erkennbares zu erschauen. Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass das Verb ›wang 望‹ in der chinesischen Medizin verwendet wird, um den Akt der Beobachtung der Färbung zu bezeichnen, insofern sie sich als etwas Subtiles, Undurchsichtiges, Vages und Unbestimmtes erweist. Aber gerade, weil sie sich einer eindeutigen Erkennbarkeit entzieht, gilt die Färbung im Hinblick auf die Krankheit als ein zwar schwer lesbares, doch besonders aufschlussreiches Symptom. »Wenn Leere-Übel den Körper treffen«, so liest man in Klassiker des Gelben Kaisers: »dann lässt das einen zittern und seufzen und bewegt die körperliche Form (xing 形). Wenn reguläre Übel den Menschen treffen, dann sieht man das zuerst ein wenig in der Färbung (se 色). Am Körper bemerkt man noch nichts. Es hat den Anschein, dass etwas da ist oder auch, dass nichts da ist; dass etwas verloren gegangen oder noch zugegen ist. Es mag sich in der körperlichen Form (xing 形) zeigen, oder auch nicht. Die Eigenart [dieser Schädigung] ist niemandem erkennbar.«108
Der Patient zittert und seufzt, wenn ihn schwere Krankheiten heimsuchen. Dabei sind die pathologischen Veränderungen der körperlichen Erscheinung offenkundig. Die oben zitierte Passage macht uns aber ebenfalls darauf aufmerksam, dass es andere »reguläre« Krankheiten gibt, die in der frühesten Phase kaum eine Gestalt annehmen. Sie lassen sich zuerst lediglich an der Farbe erkennen. In solchen Fällen unterscheidet sich die Färbung (se 色) von der Form (xing 形) sowohl in ihrem Grad an Klarheit als auch in ihrer prognostischen Natur.109 Die unmerkliche Veränderung der Färbung weist bereits auf die entstehende Krankheit hin, bevor das Übel seine Eigentümlichkeit in der Form des Körpers erkennen lässt. Während die Färbung darauf hindeutet, dass eine Krankheit im Entstehen begriffen ist, ohne sich bereits voll herausgebildet zu haben, stellt sich die Form als etwas Entstandenes, Befallenes und Durchdrungenes in voller Klarheit dar. Die Färbung des Gesichts zu beobachten, bedeutet daher nichts anderes, als die Krankheit am Rand ihrer Sichtbarkeit ahnend zu ersehen und das, was noch nicht geformt wird, vorherzusagen. Dieser Aspekt des Beobachtens der Färbung verleiht der Diagnose zwar etwas Unbestimmtes und rückt sie in die Nähe der Wahrsagekunst. Doch gerade aufgrund dieses
108 Ling su 4. Vgl. Unschuld: Ling su, S. 68-69. 109 Vgl. Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 180.
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Umstandes wird das Beobachten der Farbe in der chinesischen Medizin geschätzt und nimmt anderen Diagnosemethoden gegenüber den höchsten Rang ein, da das Übel frühzeitig erkannt und geheilt werden kann. Ein Mediziner, der das Formlose zu sehen vermag, wird für »erleuchtet« (ming 明),110 »grandios« (shen 神)111 bzw. »hervorragend« (shang 上)112 gehalten; dagegen wird ein Arzt als »nachrangig« (xia 下)113 eingestuft, der erst rettend eingreift, nachdem das Übel zur Reife gelangt ist und sich bereits in klarer Form offenbart hat. Auf diese Weise wird nicht nur zwischen der undeutlichen Färbung und der deutlichen Form, sondern auch zwischen zwei Modi des Sehens wertend unterschieden. Gefordert wird hier ein Sehen, das nicht auf das Evidente wartet, sondern im Vollzug des Sehens übers Sehen hinausgeht und versucht, das noch Unsichtbare im Sichtbaren zu sehen. Im Unterschied zu den westlichen Medizinern, für die alle an der Oberfläche sichtbaren Symptome und Zufälle am Ende nur undeutlich auf die als solche unsichtbaren Zustände des Inneren verweisen, glauben die chinesischen Mediziner unerschütterlich an eine Manifestation des Inneren an der Oberfläche des Körpers. Die Kluft zwischen Innen und Außen scheint in der chinesischen Medizin kein Problem darzustellen. Subtilen Färbungen im Gesicht eines Patienten geben dem Arzt die Gesundheit der Eingeweide zu erkennen. Wie wird aber dieses Verhältnis zwischen Innen und Außen in der chinesischen Medizin aufgefasst? Und warum vermag das unsichtbare Körperinnere in der Färbung des Gesichts sichtbar zu werden? Die Beziehung zwischen Innen und Außen des Körpers Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die Vorstellung vom Körper sowie die Beziehung zwischen dem Inneren des Körpers und seiner Oberfläche in der chinesischen Medizin genauer betrachten. Es lohnt sich jedoch, zunächst bei dem Begriff des ›se 色‹, der bisher mit ›Farbe‹ bzw. ›Färbung‹ übersetzt wurde, zu verweilen. Dies nicht nur, weil das se im Chinesischen noch
110 Ling su 4. Unschuld: Ling su, S. 69. 111 Nan jing 61. Dazu vgl. Unschuld, Paul U.: Nan-ching: The Classic of Difficult Issues, with Commentaries by Chinese and Japanese Authors from the 3. through the 20. Century, Berkeley [u.a.] 1986, S. 539 und ders.: Nan Jing, in: ders.: Antike Klassiker der Chinesischen Medizin: Huang Di Nei Jing Su Wen / Nan Jing, Berlin 2013, S. 725. 112 Su wen 26. Unschuld: Su wen, S. 162. 113 Ebd.
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andere Bedeutungen hat, sondern auch, weil aus ihm ersichtlich wird, dass die Annahme, das Innere zeige sich im Äußeren, auch im chinesischen philosophischen Denken vorzufinden ist. In Zhuang zi 莊子 ereignen sich viele Dialoge gerade in dem Moment, in dem eine Person ein ungewöhnliches oder verändertes se einer anderen Person beobachtet und diese darauf hinweist. »Als Yan Yuan sich gen Osten nach Qi aufmachte«, heißt es zum Beispiel an einer Stelle, »hatte Konfutse ein sorgenvolles se (you se 憂色). Zi Gong stand von seiner Matte auf und wandte sich mit folgender Frage an ihn: ›Ihr ergebener Schüler erlaubt sich zu fragen, warum Sie nun, da Yan Yuan ostwärts nach Qi geht, ein so besorgtes se haben?‹«114
Zi Gong hat am se die latente Besorgnis seines Lehrers abgelesen, noch bevor Konfutse ein einziges Wort sagt. Dieses se lässt sich als Miene auffassen. An einer anderen Stelle in Zhuang zi lesen wir, dass derselbe Zi Gong, nachdem er von einem zufällig getroffenen Weisen verspottet worden ist, »vor Beschämung sein se verliert (shi se 失色)«: »Verstört und außer Fassung geraten, wanderte er weiter und kam erst nach dreißig Li wieder zu sich. ›Was war das vorhin für ein Mensch?‹ fragten seine Schüler. ›Und wa rum, Meister, haben Sie Ihr Gesicht derart verändert und se (色) so verloren, dass Sie erst nach einem ganzen Tag wieder Sie selbst geworden sind?‹« 115
So wie Zi Gong kurz zuvor die Gemütsbewegung Konfutses in dessen Gesicht abgelesen hat, lesen auch die Schüler Zi Gongs in seinem eigenen Gesicht, dass er eine Zeitlang seine Beherrschung verloren hat. Seinen Verlust des se können wir als einen verlegenen Gesichtsausdruck deuten. Zugleich ist damit gemeint, dass alle Farbe aus dem Gesicht entwichen ist, dass Zi Gong also
114 Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf die Fassung, die von Chen Gu-ying 陳鼓應 neu kommentiert und übersetzt wird: Zhuang zi jin zhu jin yi 莊子今註 今譯, Peking 2009. Die deutsche Übersetzung findet sich in: Zhuangzi: Zhuangzi: Das klassische Buch daoistischer Weisheit, erstmals in vollständiger Übersetzung, herausgegeben und kommentiert von Victor H. Mair, übersetzt von Stephan Schuhmacher, Frankfurt a. M. 1998. Chen Gu-ying: Zhuang zi, S. 490. Vgl. Schuhmacher: Zhuangzi, S. 255. 115 Chen Gu-ying: Zhuang zi, S. 345. Vgl. Schuhmacher: Zhuangzi, S. 187. ›Li 里‹ ist ein traditionelles chinesisches Längenmaß.
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erblasst. Insofern schließen der Gesichtsausdruck und die Farbe als Bedeutungen des se einander nicht aus, sondern überlagern sich. Den beiden Zitaten ist zu entnehmen, dass das äußerlich sichtbare se die inneren Gefühlsregungen und Stimmungen zu erkennen gibt. Es fällt jedenfalls auf, dass das se in der chinesischen Frühzeit nicht nur aufgrund dieser Ausdruckskraft eine beträchtliche Beachtung bei großen Denkern gefunden hat. Die entscheidende Bedeutung, die dem se zugeschrieben wird, verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, dass es als eine Art vom Menschen ausstrahlende Atmosphäre gilt, in der sich seine moralischen Eigenschaften unmittelbar manifestieren. Als Konfuzius’ Schüler Zi Xia seinen Meister nach dem Wesen der kindlichen Pietät (xiao 孝) fragt, antwortet dieser, so lesen wir in den Analekten des Konfuzius (Lun yu 論語), mit folgenden Worten: Se ist schwierig [zustande zu bringen]. Wenn Arbeit da ist, nimmt die Jugend Mühen auf sich; wenn Essen und Trinken da ist, lässt sie den Älteren den Vortritt. Kann man denn das schon für die kindliche Pietät halten?« 116
Für Konfuzius reicht das regelrechte Handeln bei Weitem nicht aus, um ehrerbietig zu sein. Die eigentliche Schwierigkeit liegt darin, das anständige se zu erhalten. Worin besteht aber der Unterschied zwischen Handeln und se? Man kann zwar bewusst handeln, sich auf bestimmte Weise benehmen, doch wie uns Zi Gongs plötzlicher Verlust des se deutlich zeigt, lässt sich das se nur schwer unter Kontrolle bringen oder durch bewusste Anstrengung erzwingen. Das se unterscheidet sich vom Handeln darin, dass es in der Regel etwas Unwillkürliches und Unbewusstes verrät. Es verweist auf etwas, das zwar flüchtig, doch vielsagend ist. Konfuzius ist sich dieser charakteristischen Unbestimmtheit des se bewusst. Offensichtlich ist er sich auch darüber im Klaren, dass das se nicht selten im Widerspruch zum bewussten Handeln stehen kann: Während man sich in Worten und Handlungen gesittet zeigt, kann ihnen das se, welches sie begleitet, zuwiderlaufen, indem es etwa eine innerliche Unbeteiligtheit anzeigt und dadurch die vermeintlichen Absichten, die man durch das sein Sagen und Tun zum Ausdruck bringen möchte, untergräbt. Konfuzius’ Rede von der Schwierigkeit, das se zustande zu bringen, verweist auf nichts anderes als auf die Schwierigkeit, sich von Herzen tugendhaft zu verhalten. Zugleich gibt er zu verstehen, dass die wahre, von innen kommende Tugend weniger in den willentlichen Handlungen als im se liegt.
116 Liu Bao-nan 劉寶楠: Lun yu zheng yi 論語正義, Beijing 1990, S. 51.
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Auch wenn Konfuzius ebenfalls vor der »schmeichlerischen Miene« (ling se 令色)117 und der Verstellung warnt, so möchte er damit nicht die Aussagekraft des se in Frage stellen, sondern betonen, wie wichtig eine genaue Beobachtungsgabe ist.118 Ebenso wie viele andere chinesische Philosophen denkt Konfuzius die Tugend in keiner Weise als eine hinter den Erscheinungen liegende Innerlichkeit oder im Inneren verborgene Wahrheit eines Menschen. Ganz im Gegenteil: Die innere Qualität zeigt sich ihnen an der Oberfläche. Der Besitz wahrer Tugend lässt sich stets am se erkennen. Meng Zi 孟子, der Nachfolger des Konfuzius, beschreibt die auf diese Weise aufgefasste Tugend in deutlichen Worten: »Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Sitten und Weisheit wurzeln im Herzen. Sie erzeugen se (sheng se 生色), [so dass] sie klar und glänzend im Gesicht zum Vorschein kommen, sich reichlich und umfassend im Rücken entfalten und den vier Gliedern verliehen werden. Die vier Glieder drücken sie aus, ohne ein Wort zu sagen.« 119
Die Tugenden, so erklärt Meng Zi, beruhen zwar auf dem inneren Herzen, aber indem sie das se erzeugen, lassen sie den Körper erstrahlen. Die Tugenden werden insofern nicht als etwas Abstraktes oder Unsichtbares, sondern als etwas am Körper Sichtbares, durch den Körper Hindurchschimmerndes, von ihm Ausstrahlendes aufgefasst. Wenn einer wirklich tugendhaft ist, so bringen, Meng Zi zufolge, nicht nur seine Worte oder Taten, sondern alle beliebigen Bewegungen des Gesichts und der Glieder seine spirituelle Qualität auf natürliche Weise zum Ausdruck, und das sogar, wenn er einfach nur schweigt oder nichts tut. Der Körper eines Tugendhaften ist in diesem Sinne durchaus von dem moralischen Inneren durchdrungen und sendet seine Tugendhaftigkeit
117 Ebd., S. 9. 118 Siehe Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 177. 119 Jiao Xun 焦循: Meng zi zheng yi 孟子正義, Beijing 1987, S. 906. In diesem Zitat habe ich den Begriff ›xin 心‹ schlicht mit ›Herz‹ übersetzt. Es muss dennoch betont werden, dass dieses Herz nicht mit dem Organ, das die Medizin untersucht, zu verwechseln ist. Gudula Linck hat in ihrer Antrittsvorlesung die vielschichtigen Bedeutungen des Begriffs ›Herz‹ in der chinesischen Kultur thematisiert: Linck, Gudula: »Das Zeichen für Herz/Xin: Gedanken zu einem chinesischen Begriff«, in: Berkemer, Georg; Rappe, Guido [Hrsg.]: Das Herz im Kulturvergleich, Berlin 1996, S. 71-82.
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stets wie ein Signal aus. Ähnlich wie Konfuzius richtet Meng Zi sein Augenmerk nicht auf bestimmte moralische Verhaltensnormen, sondern auf das Erscheinende, auf das se. An dieser Stelle bleibt eine Frage offen: Wenn Meng Zi davon spricht, dass die Tugenden se erzeugen können, so lässt sich das se hier offenbar nur bedingt mit ›Farbe‹ oder ›Miene‹ umschreiben. Aber was sollen wir unter dem Begriff des se verstehen, wenn nicht ›Farbe‹ oder ›Miene‹? Wie lässt sich das se hier deuten? Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs des se gibt uns einen Hinweis. In Erläuterung der Schrift und Analyse der Zeichen (Shuo wen jie zi 說文解 字), dem frühesten Wörterbuch der chinesischen Schrift, wird der Begriff des se als »die auf der Stirn erscheinende Lebenskraft« (顏氣 yan qi) definiert. 120 Diese knappe Definition erläutert Duan Yu-cai 段玉裁 (1735-1815) in seinem Kommentar näher: »Yan (顏) bezeichnet den Bereich zwischen den Augenbrauen. [Der Zustand des] Her zens erscheint in der Lebenskraft (qi 氣); die Lebenskraft gelangt auf die Stirn. Das ist, was mit dem se 色 gemeint ist.«121
Inspirierend für uns sind auch die Elemente, 人 und 卪, aus denen das Zeichen ›se 色‹ besteht. 人 bezeichnet im Chinesischen ›Mensch‹. 卪 ist das alte Zeichen für 節; es bezeichnet einen Gegenstand, der im antiken China als Nachweis für die vom Kaiser erteilte Vollmacht dient.122 In der Regel handelt es sich um handliche Objekte aus Jade, Horn, Metall, Bambus oder Holz, die in verschiedenen Formen, etwa in Gestalt eines Tigers, eines Drachens oder der
120 Xu Shen 許慎; Duan Yu-cai 段玉裁 [Kommentator]: Shuo wen jie zi zhu 說文解 字注, Shanghai 1981, S. 431. 121 Ebd. 122 Im Englischen wird › jie 節‹ meistens mit ›tally‹ übersetzt. Um die Verwechslung von ›jie 節‹ und ›Kerbholz‹ bzw. ›Strichliste‹, die nicht nur innerhalb eines anderen kulturellen Kontext entstanden, sondern auch eine andere Funktion hatten, zu vermeiden, werde ich im Folgenden auf die direkte Übersetzung verzichten und den chinesischen Begriff des ›jie 節‹ durchgehend verwenden. Die Ähnlichkeit zwischen ›jie 節‹, ›tally‹ und ›Kerbholz‹, vor allem im Hinblick auf ihre Funktionsweise und Operationalität, ist jedoch nicht zu bestreiten.
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menschlichen Figur, gefertigt und mit verschiedenen Inschriften bzw. Ornamenten versehen wurden.123 Vergleichbar mit dem sogenannten Kerbholz im europäischen Kulturraum, das man zerschnitt und zwischen Schuldnern und Gläubigern aufteilte, wurde jie in zwei Teile gespalten. Eine Hälfte blieb beim Kaiser, die andere ging an den Administrator einer entlegenen Provinz. Wollte der Kaiser eine militärische Aktion starten und seine Truppen in Marsch setzen, so sandte er seinen Befehl mitsamt der Hälfte, die bei ihm in der Hauptstadt aufbewahrt worden war, an den Administrator, der die beiden Hälften aneinanderfügte. War ihre Zusammengehörigkeit erwiesen, wurde der Befehl weitergeleitet und in die Tat umgesetzt. 124 Der Gebrauch von jie basiert auf einem ziemlich einfachen Konzept. Einem trivialen, mag man sagen. Doch wenn man die ganze Reihe von konkreten Operationen, die mit jie verbunden sind, und die Beziehung, die jie erzeugt, in Betracht zieht, so muss man die Herstellung und den Gebrauch von jie als komplexe kulturelle Praktiken ansehen: In der Herstellung des jie geht der Akt der Teilung weit über die Teilung eines Objekts hinaus. Einerseits bedeutet die Teilung hier unweigerlich, das Objekt zu zerteilen und seine Integrität zu beschädigen, andererseits impliziert sie aber auch eine Verdopplung dessen, was geteilt wird. Die Teilung produziert eine Grenzlinie, einen Spalt, eine Öffnung, einen Zwischenraum, zugleich aber auch eine Verbindung, einen Zusammenhang. Sie erzeugt ein Paar, einen pluralen Singular, das heißt zwei Dinge, die zwar weit voneinander entfernt an unterschiedliche Orte verbracht werden können, jedoch weiterhin zusammengehören, einander entsprechen und die Singularität und Authentizität des einen Objekts miteinander teilen. Auf symbolischer Ebene wird die Macht durch den Gebrauch von jie repräsentiert, reproduziert und über ein größeres Gebiet hin verbreitet. Die Übertragung der Autorität und die Erteilung der Vollmacht stützen sich jedoch nicht allein auf den Akt der Symbolisierung. Sie verdanken sich einer gerade
123 Siehe Falkenhausen, Lothar von: »The E Jun Qi Metal Tallies: Inscribed Texts and Ritual Contexts«, in: Kern, Martin [Hrsg.]: Text and Ritual in Early China, Seattle 2005, S. 79-123. 124 Siehe ebd. Zu »Kerbholz« siehe Stone, Williard E.: »The Tally: An Ancient Accounting Instrument«, in: Abacus 1 (1975), S. 49-57; Menninger, Karl: Zahlwort und Ziffer: Eine Kulturgeschichte der Zahl, Bd. II: Zahlschrift und Rechnen, Göttingen 1958, S. 26-64 und Wedell, Moritz: Zählen: Semantische und praxeologische Studien zum numerischen Wissen im Mittelalter, Göttingen 2011, S. 183304.
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durch die Zweiteilung hervorgebrachten, im wahrsten Sinne des Wortes dinglichen Beziehung, genauer gesagt, einer im Material festgehaltenen Beziehung, in der die beiden Teile trotz ihrer räumlichen Getrenntheit immer aufeinander bezogen bleiben. Diese Beziehung ermöglicht zum einen die Duplikation und Verteilung der singulären Autorität. Zum anderen gewährleistet sie, dass jede Botschaft mittels einer einfachen Operation auf ihre Autorisierung hin geprüft werden kann. Derart bleibt die kaiserliche Macht trotz ihrer Zerstreuung weiterhin zentriert. Es ist wohl kein Zufall, dass das Zeichen für jie in der Siegelschrift, , die Hälfte eines gespaltenen Dinges darstellt. Es fällt insbesondere auf, dass jie im Hinblick auf die ihm innewohnende, sympathetische Beziehung zwischen zwei separaten Dingen schon sehr früh zum Ausdruck für etwas Übereinstimmendes, Entsprechendes, Einheitliches, Kohärentes geworden ist. Bereits in Meng zi werden zwei Herrscher, Kaiser Shun und König Wen, mit »zwei übereinstimmenden jie« verglichen. Obwohl sie aus zwei weit voneinander entfernten Orten stammen und durch tausend Jahre voneinander getrennt sind, gleichen sie sich doch im Hinblick auf ihre vorbildlichen Regierungsmethoden.125 In der Tat greift auch Duan Yu-cai in seinem Kommentar auf dasselbe Merkmal des jie zurück, um zu erklären, warum das Zeichen des ›se‹ aus den Elementen ›Mensch‹ und ›jie‹ besteht: »Die auf der Stirn erscheinende Lebenskraft und das Herz stimmen miteinander überein«, so schreibt er, »wie zwei übereinstimmende jie«.126 Nachdem er zahlreiche Beispiele für se aus verschiedenen Textquellen gesammelt und aufgelistet hat, kommt er nicht nur zu dem Schluss, dass se im übertragenen Sinne alles bezeichnet, was gesehen werden kann, sondern weist erstaunlicherweise außerdem darauf hin, dass nicht das Element ›Mensch‹, sondern das Element ›jie‹ den eigentlichen Sinn des Begriffs ausmacht.127 Selbst wenn der Ursprung des Begriffs des se in der heutigen Fachwelt umstritten bleibt, ist Duan Yu-cais Betonung des Elements ›jie‹ für uns fruchtbar, denn er verschiebt unsere Aufmerksamkeit von den verschiedenen Bedeutungen, die das Wort ›se‹ hat, auf die ihm inhärente Beziehung. So wie das jie stets zwei getrennte Elemente voraussetzt, die miteinander übereinstimmen, aber einander nicht direkt wiedergeben, sondern über die räumliche Distanz hinweg aufeinander verweisen, so bezeichnet auch das se nicht bloß das an der Oberfläche des Körpers Sichtbare. Mit ihm ist zugleich alles verbunden,
125 Jiao Xu: Meng zi zheng yi, S. 537-540. 126 Xu Shen: Shuo wen jie zi zhu, S. 431. 127 Siehe ebd., S. 431 f.
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was die Regungen des Herzens, ohne ein unmittelbares Abbildungsverhältnis zu begründen, jenseits aller Differenzen von Innen und Außen, Hier und Dort, Sichtbarem und Unsichtbarem zum Ausdruck bringt. Das Element ›jie‹ findet sich von vornherein in das Zeichen ›se‹ eingeschrieben. Sehr früh, so lässt sich anhand dieser Tatsache feststellen, haben die Chinesen am äußeren se eine sympathetische Beziehung zum inneren Herzen erkannt. Diese Beziehung, die auf dialektische Weise das Hier, das Äußere und das Sichtbare mit dem Dort, dem Inneren und dem Unsichtbaren zusammenbringt, verlangt von uns, das se nicht als ein isoliertes, für sich bestehendes Phänomen aufzufassen. Es ist außerdem zu berücksichtigen, dass diese dem se zugeschriebene Beziehung nicht bloß eine Übereinstimmung zwischen Innen und Außen bedeutet, sondern auch eine bestimmte Richtung in sich enthält. Wie wir bei Duan Yu-cai gelesen haben, erscheint das Herz zunächst in der Lebenskraft (qi); wenn sich die Lebenskraft auf der Stirn abzeichnet, kommt das se zustande. Auch Meng Zi weist uns darauf hin, dass die Tugenden einerseits im Herzen gründen und andererseits das strahlende se des Körpers produzieren. Das se wird somit nicht als eine unmittelbare Erscheinung, die auf irgendeine Weise mit dem Inneren verbunden wäre, betrachtet, sondern ganz und gar als etwas vom Herzen Erzeugtes, Hergeleitetes, als Manifestation des Inneren. Vor diesem Hintergrund scheint die in der chinesischen Sprache zu beobachtende Ambiguität des Begriffs ›se‹ kein Zufall zu sein. Denn wenn es vorwiegend darum geht, die Phänomene, die das Herz erzeugt, auf einen Nenner zu bringen, so steht der Begriff ›se‹ doch zugleich für verschiedene, wenn nicht heterogene Arten von Erscheinungen wie Farbe oder Mimik. Wir stoßen hier auf eine paradoxe Einstellung zu der Beziehung zwischen körperlichem Innen und Außen, die dem se zugrunde liegt: Das se gründet in einer Dialektik, einer Trennung, einer Differenz von Innen und Außen. Diese Differenz ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass man überhaupt von einem »äußeren« se und einem »inneren« Herzen sprechen kann. Sie bestimmt die Struktur, in deren Rahmen der Körper begriffen wird. Doch wenn sich das äußere se, wie oben dargestellt, nicht bloß als eine sichtbare Erscheinung der Körperoberfläche, sondern als Manifestation des Herzens, also als veräußerlichte Innerlichkeit verstehen lässt, dann unterläuft das se gerade diese vermeintlich so einfache Differenz. Darin liegt die widersprüchliche, aber entscheidende und produktive Eigenschaft des se: Einerseits beruht es auf einer Vorstellung vom Körper, nach der das Innere und das Äußere, die Tiefe und die Oberfläche grundsätzlich voneinander getrennt und unterschieden sind. Andererseits setzt das se jedoch
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voraus, dass das Innere und das Äußere niemals vollständig voneinander abgegrenzt sind. Ganz im Gegenteil: Es gibt keine Dialektik ohne eine Relation, keine Trennung ohne eine Verbindung und keine Differenz ohne eine Affinität. Die Idee des se geht davon aus, dass zwischen den zwei entgegengesetzten Polen des Körpers immer eine Übereinstimmung, eine Kontinuität besteht. Die Tatsache, dass das Herz unter der Haut im Körperinneren verborgen ist, widerspricht keineswegs der Annahme, es könne äußerlich aus dem se erschlossen werden. Bezüglich der Vorstellung, die in der chinesischen Medizin über das Innere und Äußere des Körpers entwickelt wurde, hat uns Kuriyama einen weiteren inspirierenden Hinweis geliefert, indem er unsere Aufmerksamkeit auf die botanische Metaphorik lenkte, die in der medizinischen Literatur ständig vorkommt, aber gerade wegen ihrer selbstverständlichen Allgegenwärtigkeit von den Interpreten vernachlässigt oder gar ausgeblendet wurde. 128 Es geht dabei auch um die Definition des ›se‹. Bekanntlich wird das se im Klassiker des Gelben Kaisers als »qi zhi hua 氣之華« definiert.129 Während das Wort ›hua 華‹ normalerweise, wie zum Beispiel bei Paul Unschuld, durch »die äußere Erscheinung«130 übersetzt wird, greift Kuriyama auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes zurück und versteht das Wort nicht schlicht als ›Erscheinung‹, sondern als »Blume« (flower).131 Die Definition des se wird deshalb von Kuriyama als »die Blume (oder das Blühen)« der Lebenskraft (qi) übersetzt.132 Kuriyama macht darüber hinaus auf zwei andere Stellen im Klassiker des Gelben Kaisers aufmerksam, wo die Blumenmetaphern im Zusammenhang mit der äußeren Erscheinung auftauchen: »Das Herz ist dasjenige Organ, in dem sich die Essenzen der fünf Organe konzentrieren. […] Das blühende se (hua se 華色) ist seine Blütenpracht (rong 榮).«133
128 Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 186. 129 Su wen 17. 130 Unschuld: Huang di nei jing su wen, S. 91. 131 Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 186. 132 In seinem Text wird das Wort ›qi‹ von Kuriyama als »Seele« (spirit) übersetzt. Um Verwirrungen zu vermeiden und auch um eine gewisse Einheitlichkeit der Übersetzung zu wahren, verzichte ich darauf, Kuriyamas vollständige Überset zung zu zitieren, und übersetze das Wort ›qi‹ – wie bisher – als ›Lebenskraft‹. Ich werde aber auf diesen Begriff noch zurückkommen. 133 Su wen 81.
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Und: »Das Herz […] entfaltet seine Üppigkeit (rong 榮) im se.«134
Warum sieht sich Kuriyama dazu genötigt, diese Blumenmetaphern dem Leser zu vergegenwärtigen? Weil sie in seinen Augen keineswegs nur als ein rhetorisches Stilmittel fungieren, sondern gerade die Art und Weise aufzeigen, wie ein chinesischer Mediziner das Gesicht seines Patienten betrachtet hat: »[T]he botanical vision of the body was a vision in the literal, as well as figurative sense. Physicians didn't merely speak of se as flower, but saw it as such. They scrutinized the face in much the same way that a gardener eyes the flourishing or decline of his plants.«135
Indem die Pflanzenmetaphern einen – und sei es auch nur indirekten – Vergleich zwischen pflanzlichem und menschlichem Organismus stiften, erlauben sie es, den Körper innerhalb einer spezifischen Logik des Organischen zu sehen, zu lesen und zu erfassen. Die chinesische Vorstellung vom Inneren und Äußeren des Körpers wird von dieser botanischen Metaphorik in einem erheblichen Maße geprägt: Sie orientiert sich an der Beziehung, in der die Wurzeln zu den Stengeln und Blättern stehen.136 Die auf diese Weise aufgefasste Beziehung zwischen dem Inneren des Körpers und seinem Äußeren erklärt nicht nur, warum die Erscheinungen des kranken Körpers in den Texten der chinesischen Medizin vorwiegend am Beispiel der Blätter und Stengel der kranken Pflanze beschrieben werden. 137 Sie liefert auch den Grund dafür, warum die in diesen Texten vorherrschende Annahme, dass das Innere sich stets äußerlich zeige, durch die ganze Geschichte hindurch kaum angezweifelt wurde: Die Schädigung der Wurzel zeigt sich in den verwelkten Blättern, im verkümmerten Stengel der Pflanze. Im Klassiker des Gelben Kaisers lesen wir:
134 Su wen 10. Das Wort ›rong 榮‹ wird hier als Verb verwendet und lässt sich außer ›die Üppigkeit entfalten‹ auch mit ›florieren‹, ›blühen‹ übersetzen. Im Chinesischen kann das Wort zudem als Substantiv gebraucht werden. Es steht dann für ›Blume‹, ›Blütenpracht‹, ›Üppigkeit‹, ›Glanz‹ oder ›Reichtum‹. 135 Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 187. 136 Siehe ebd., S. 186-187. 137 Siehe ebd., S. 187.
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»Im Falle von Lungen-Hitze ist die Färbung (se 色) weiß und die Körperhaare verfaulen (bai 敗). Im Falle von Herz-Hitze ist die Färbung rot und die Blutgefäße sehen überspringend aus. Im Falle von Leber-Hitze ist die Färbung grünlich und die Nägel vertrocknen (ku 枯). Im Falle von Milz-Hitze ist die Färbung gelb und das Fleisch weich. Im Falle von Nieren-Hitze ist die Färbung schwarz und die Zähne verkümmern (gao 槁).«138
Die äußeren Körperteile sind auch der Ort, an dem sich die Krankheiten bestimmter innerer Organe manifestieren, an dem – ganz in Analogie zu den Blättern, Stengeln und besonders zu den Blüten – die Eingeweide ihre »Üppigkeit« zu erkennen geben: »Das Herz […] entfaltet seine Üppigkeit in der Färbung des Gesichts (se 色) […]. Die Lungen […] entfalten ihre Üppigkeit in der Körperbehaarung […]. Die Leber […] entfaltet ihre Üppigkeit in den Nägeln […]. Die Milz […] entfaltet ihre Üppigkeit in den Lippen […]. Die Nieren […] entfalten ihre Üppigkeit im Kopfhaar […].«139
Dass die Beobachtung der Färbung in der chinesischen Medizin als höchste und subtilste Diagnosemethode gilt, hängt wohl auch mit dieser Sichtweise des Körpers zusammen: Wie die Pflanze ihre innere Erkrankung zunächst nur durch die schwer erkennbare Veränderung ihrer Färbung oder durch den Glanz ihrer Blätter zeigt, so lassen sich die Veränderungen an der Oberfläche des Gesichts als die frühesten Signal einer latenten Erkrankung deuten, wozu jedoch nur ein »hervorragender« Arzt imstande ist. Die Beziehung, welche die inneren Organe mit den äußeren Körperteilen verbindet, stützt sich offensichtlich auf keine mimetische Ähnlichkeit. Sie ergibt sich vielmehr aus der Tatsache, dass die inneren Organe und äußeren Teile des Körpers eine lebendige organische Einheit bilden. So erlaubt sie es dem chinesischen Mediziner, die dem ständigen Wandel unterworfenen, mannigfaltigen Phänomene, die sich an den äußeren Körperteilen zeigen, als Zustände der im tiefen Körperinneren befindlichen Eingeweide zu deuten. Sie lädt ihn aber auch dazu ein, – und das ist hier von entscheidender Bedeutung
138 Su wen 44. 139 Su wen 10.
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– das, was sich äußerlich am Körper manifestiert, nicht als etwas bloß Oberflächliches zu betrachten, sondern es zugleich mit der Kraft, die stets im äußerlich Sichtbaren am Werk ist, zusammenzudenken. Derart erkennt er das Manifeste ganz und gar als Manifestation der inneren Essenz und Lebendigkeit eines Organismus.
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Das Medium des Lebendigen: Die Luft und das qi 氣
Im vorhergehenden Kapitel habe ich die Beobachtung des se 色 in der chinesischen Medizin erörtert und darauf aufmerksam gemacht, dass das an der Oberfläche des Körpers zur Erscheinung kommende se 色 in der chinesischen Kultur als »Blume der Lebenskraft« (qi zhi hua 氣之華) definiert wird. In diesem Kapitel werde ich auf das Konzept des »qi 氣«, also auf jenes Wort, das bisher mit »Lebenskraft« übersetzt wurde, eingehen. Denn das Konzept des »qi 氣« ist nicht nur eng mit der chinesischen Vorstellung von Körper und Form verbunden, sondern nimmt auch eine beträchtliche Rolle in der chinesischen Kunsttheorie ein. Ebenso wie der Mediziner, der die äußere Erscheinungsweise der »Lebenskraft« (qi 氣) zu deuten vermag, erfährt auch der Künstler, der das qi in seinen Bildern wiedergibt, eine besondere Wertschätzung. In seiner Vorrede zum Älteren Verzeichnis der Rangordnung in der Malerei (Gu hua pin lu 古畫品錄), also dem ersten Werk in China, das sich mit der Theorie der Malerei auseinandersetzt, formuliert Xie He 謝赫 gegen 500 n. Chr. sechs Gesetze (liu fa 六法), die ein Maler bei der Figurendarstellung zu berücksichtigen und zu beherrschen habe. 1 Das Gesetz, dem er den höchsten Rang zuspricht, betrifft jedoch weder die Wiedergabe der äußeren Gestalt
1
Siehe Xie He 謝赫: »Gu hua pin lu 古畫品錄«, in: Yu Jian-hua 俞劍華 [Hrsg.]: Zhong guo hua lun lei bian 中國畫論類編, Shanghai 1986, S. 355-367. Mathias Obert hat in seiner Habilitation den gesamten Text von Xie He ins Deutsche über setzt und ausführlich kommentiert: Welt als Bild: Die theoretische Grundlegung der chinesischen Berg-Wasser-Malerei zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert, Freiburg [u.a.] 2007, S. 448-464.
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noch die Anordnung der einzelnen Elemente auf der Bildfläche, noch den Auftrag der Farbe, sondern überraschenderweise die Hervorbringung der Lebenskraft, des Atems, nämlich des »qi 氣«. Dieses erste Gesetz lautet: »[Schaffe] die lebendige Bewegung durch die nachhallende Lebenskraft« (qi yun sheng dong 氣韻生動).2 Damit fordert Xie He die Maler auf, ihre Aufmerksamkeit auf das dem lebendigen Menschen innewohnende qi zu richten. Sie sollen das qi als anschauliche Qualität im Bild zur Entfaltung bringen, so dass die spezifische personale Qualität, die den zu Porträtierenden charakterisiert, eine »Resonanz« (yun 韻) im Betrachter erzeugt. Für Xie He gibt es nur wenige Maler, die diese Wirkung mit ihren Figurendarstellungen erreichen können. Ihm geht es daher in erster Linie darum, die hervorragenden Meister vorzustellen und sie in eine Rangordnung zu bringen. In der Geschichte der chinesischen Ästhetik ist diese Forderung seit Xie Hes Vorrede allmählich zum wichtigsten Leitsatz geworden. In der nachfolgenden Zeit galt seine Forderung, das qi wiederzugeben, nicht nur für die Darstellung des Menschen, sondern auch für diejenige von Tieren und Pflanzen, ebenso wie für die Berg-Wasser-Malerei (shan shui hua 山水畫). Sowohl in der Medizin als auch in der Kunsttheorie erweist sich das qi 氣 als ein flüchtiges Element, das sich nur schwer am Körper erkennen und in seiner Darstellung wiedergeben lässt. Gerade darum gilt ihm der größte Eifer, es zu sehen und darzustellen. Was aber ist das qi 氣?
2.1 DER KÖRPER ALS SPANNUNGSFELD VOLLER HETEROGENER QI In der Erläuterung der Schrift und Analyse der Zeichen wird qi 氣 als »Wolken-Hauch« (jun qi 雲氣) definiert.3 Das qi 氣 wird in der alten Siegelschrift durch drei gekrümmte Linien gezeichnet, so dass sein Bild an die Spuren, die die vom Wind verwehten Wolken am Himmel hinterlassen, erinnert: . Später wird das Schriftzeichen durch das Element 米, den Reis, ergänzt und verweist damit auf den Dampf von kochendem Reis.4 Es liegt nahe, dass die Entstehung
2
Xie He: »Gu hua pin lu«, S. 355.
3
Xu Shen: Shuo wen jie zi zhu, S. 333.
4
Vgl. Hsu, Elisabeth: »The Experience of Wind in Early and Medieval Chinese Medicine«, in: The Journal of the Royal Anthropological Institute 13 (2007),
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des Begriffs »qi 氣« eng mit der meteorologischen Beobachtung des Windes, der Wolken, des Dampfs bzw. der Luft verbunden war. Darüber hinaus kann man feststellen, dass sich solche Beobachtungen der Naturerscheinungen meistens mit Weissagepraktiken überschneiden.5 In Guo yu 國語, einem klassischen Werk über die Geschichte Chinas, findet sich die älteste überlieferte Erwähnung des Wortes qi: Gegen Ende des 9. Jahrhunderts v. Chr. versuchte der Herzog von Guo, den Zhou-König Xuan zu überreden, die Tradition des rituellen Pflügens beizubehalten. Dem Herzog zufolge wurde dieser Ritus in der alten Zeit für gewöhnlich vom Herrscher vollzogen, nachdem ein für die Beobachtung des Erdbodens zuständiger Offizier festgestellt hatte, dass das qi in der Erde in so großer Menge vorhanden sei, dass es durch eine Entladung der in ihm angestauten Spannung zu dampfen und zu schwingen beginne. Außerdem preist der Herzog von Guo den Nutzen des rituellen Pflügens, durch welches das qi in der Erde rechtzeitig reguliert werde. Derart, so fährt er fort, könne es zum Wohlstand des Königreichs beitragen.6 An einer anderen Stelle in Guo yu wird berichtet, dass es im Jahr 780 v. Chr. an mehreren Orten des Königreichs Erdbeben gegeben habe. Diese Erdbeben werden darauf zurückgeführt, dass »das qi von Himmel und Erde« (tian di zhi qi 天地之氣) in Unordnung geraten sei. Dabei wird die Annahme formuliert, es gebe zwei unterschiedliche, zueinander in Polarität stehende qi, die in der Erde fließen, nämlich das sonnig-helle yang qi 陽氣 und das schattigdunkle yin qi 陰氣. Wenn das yang qi vom yin qi nach unten gedrückt werde
Sonderausgabe »Wind, Life, Health: Anthropological and Historical Perspectives«, S. 117-134, hier S. 117. 5
Eine in der Qin- und Han-Dynastie (221 v. Chr. - 220) verbreitete Weissagepraktik heißt ›wang qi 望氣‹. Durch die Beobachtung feinster Veränderungen in der Form und Färbung der Wolken sollen das Wetter, das Schicksal des Kaisers oder der Ausgang des Krieges vorausgesagt werden. Zu wang qi siehe Kao Shang-Wen 高 上雯: »Qin han shi qi de ›wang qi‹ xian xiang 秦漢時期的「望氣」現象«, in: Dan jiang shi xue 淡江史學 28 (2016), S. 39-62. Bemerkenswerterweise wird dasselbe Verb ›wang 望‹, ›Beobachten‹, ›in die Ferne Schauen‹, verwendet, um die ›Beobachtung der Färbung‹ (wang se 望色) als medizinische Praktik und die ›Beobachtung der Wolken‹ (wang qi 望氣) in der Wahrsagekunst zu bezeichnen.
6
Xu Yuan-gao 徐原誥: Guo yu ji jie 國語集解, Beijing 2002, S. 15-17.
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und nicht mehr auf natürliche Weise nach oben verdampfen könne, komme es zu einer Erschütterung der Erde. 7 Das Wort ›qi 氣‹ avancierte in den kosmologischen, anthropologischen und medizinischen Diskursen rasch zu einem festen Begriff, der verschiedenste Bedeutungen umfasst. Bereits im chinesischen Altertum galt das Konzept als fundamentale Grundlage des menschlichen Lebens.8 In Zhuang zi heißt es beispielsweise: »Das Leben des Menschen ist eine Verdichtung des qi (氣). Wenn [das qi] sich verdichtet, kommt es zum Leben; wenn [das qi] sich zerstreut, kommt es zum Tod.«9 Das qi wird hier offenbar nicht mehr als das, was bloß im Kosmos fließt, sondern als etwas, das Leben erzeugen kann, aufgefasst: Durch seine Verdichtung bringt das qi das Leben eines Menschen hervor und hält es in Schwung. Aber wie diesem Zitat auch zu entnehmen ist, schließt das qi nicht nur das Leben, sondern von Anfang an auch den Tod in sich ein. Leben und Tod werden insofern weniger als die Relate eines reinen Gegensatzes denn als unterschiedliche, vorübergehende Konfigurationen des qi begriffen. Wenn das qi in der Frühzeit des chinesischen Denkens mit dem menschlichen Leben in Verbindung gebracht wurde, so ist zu betonen, dass diese Erweiterung des Sinnes des qi nicht nur von dem sich neu herausbildenden naturphilosophischen Interesse an der Frage nach der Genese des Lebens, sondern auch von einer grundlegenden Selbstwahrnehmung des Körpers geprägt war. Der Vorgang des Ein- und Ausatmens wird als eine unmittelbare Manifestation der »Lebendigkeit« am eigenen Leib erfahren und trägt zu der Weiterentwicklung des Begriffs »qi« bei. 10 Es mag kein Zufall sein, dass eine »Atemtechnik«, die auf die Sammlung des qi und die Förderung seiner Zirkulation im Körper zielt, bereits im Altertum als Kunst der »Nährung des Lebens« (jang sheng 養生) entwickelt wurde und dass die ideale Weise, wie zu
7
Ebd., S. 26.
8
Vgl. Porkert, Manfred: »Untersuchungen einiger philosophisch-wissenschaftlicher Grundbegriffe und Beziehungen im Chinesischen«, in: Zeitschrift der deutschen Morgenländischen Gesellschaft 110 (1961), S. 422-452, hier S. 426-428; ders: »Die energetische Terminologie in den chinesischen Medizinklassikern«, in: Sinologica: Zeitschrift für chinesische Kultur und Wissenschaft 4 (1965), S. 184-210, hier S. 185-187.
9
Chen Gu-ying: Zhuang zi, S. 597. Vgl. Schuhmacher: Zhuangzi, S. 300.
10 Vgl. Obert: Welt als Bild, S. 143-148.
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atmen sei, in der philosophischen Literatur erörtert wird.11 Sofern sich das Atmen an der Schnittstelle zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Körpers ereignet und sich als eine Interaktion zwischen Mensch und Welt, also als eine Vertauschung des Innen mit dem Außen, des Außen mit dem Innen, beschreiben ließe, ist es nicht erstaunlich, dass die frühen Reflexionen über das qi auch dem Bezug des Menschen zur Außenwelt galten. Dies kommt zum Beispiel bei Ge Hong 葛洪 (283-343?) deutlich zum Vorschein, wenn er schreibt: »Der Mensch befindet sich inmitten des qi und das qi befindet sich im Inneren des Menschen. Von Himmel und Erde bis hin zu den unzähligen Dingen gibt es nichts, was nicht des qi bedürfte, um geboren zu werden und zu leben. Wer das qi [in seinem Körper] geschickt in Bewegung zu setzen weiß, kann innerlich seinen Körper nähren und sich äußerlich gegen das Übel wehren. Die Laien ernähren sich andauernd davon, wissen es aber nicht.«12
Mit diesen Worten weist Ge Hong auf die Allgegenwärtigkeit des qi hin. Das qi ist allumfassend und alldurchdringend. Und das qi ist auch das, was die Dinge entstehen lässt und ihnen zu leben ermöglicht. Ge Hong geht übrigens auf die Wechselbeziehung zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Körpers ein, indem er verdeutlicht, dass man durch die Förderung der Bewegung des inneren qi eine von außen kommende Attacke abwehren kann. Doch gerade in diesem kurzen Passus, in dem das Wort ›qi‹ mehrmals auftaucht, zeigt sich die große Schwierigkeit, die das qi den meisten Historikern, Sinologen und Philosophen bereitet: Was ist mit dem qi eigentlich gemeint? Wie lässt sich das Wort ›qi‹ angemessen übersetzen? Mathias Obert schreibt bezüglich dieser Worte von Ge Hong, dass es problematisch sei, das qi einfach mit der stofflichen »Luft« wiederzugeben, denn »wie bedürfte ihrer gerade die Erde?«13 Für ihn ist es jedoch nicht weniger problematisch, das qi bloß als »eine treibende Kraft« zu begreifen, denn »wie
11 In Zhuang zi heißt es von denjenigen Leuten, die nach langem Leben streben: »Sie stoßen altes [qi] aus und saugen frisches [qi] ein, stellen sich wie ein Bär auf und strecken sich wie ein Vogel aus.« (Chen Gu-ying: Zhuang zi, S. 423. Vgl. Schuhmacher: Zhuangzi, S. 227.) 12 Wang Ming 王明: Bao pu zi nei pian xiao shi 抱朴子內篇校釋, Peking 1996, S. 114. Vgl. Obert: Welt als Bild, S. 145. 13 Obert: Welt als Bild, S. 146.
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sollte der Mensch inmitten derselben sein?« 14 In dieses Dilemma sind die westlichen Forscher bei der Wiedergabe des Wortes ›qi‹ immer wieder geraten: Einerseits scheint das qi ganz einfach für stoffliche Luft zu stehen, doch scheint es andererseits in manchen Textquellen etwas rein Ideelles, Immaterielles oder Treibendes zu bezeichnen, ohne sich auf eine bestimmte Materie zu beziehen. Es kommt sogar nicht selten vor, dass das Wort ›qi‹ in ein und demselben Text heterogene oder gar widersprüchliche Bedeutungen aufweist. 15 Unter diesen Umständen wird das Wort ›qi‹ zwar von den Forschern mit Ausdrücken wie ›Luft‹, ›Atem‹, ›Hauch‹, ›Fluidum‹, ›Stoff‹, ›Lebenskraft‹, ›Lebensenergie‹, ›Effekt‹, ›Potenz‹, ›Seele‹, ›Pneuma‹ usw. übersetzt, doch müssen sie in der Regel zugeben, dass es »in den modernen westlichen Sprachen überhaupt keine eindeutige Entsprechung«16 für das Wort ›qi‹ gebe. Es nimmt daher kein Wunder, dass zahlreiche Forscher es schließlich vorzogen, das Wort ›qi‹ schlicht unübersetzt zu lassen und es in einem Glossar zu behandeln. Das Nicht-Übersetzen scheint eine logische Konsequenz zu sein, insofern es die Vollkommenheit und Ambiguität des fremden Wortes respektiert. Es lässt sich jedoch fragen, ob das Nicht-Übersetzen nicht zugleich einen Einschluss des Fremden in seine Fremdheit zur Folge hat. Im exotischen Gewand der Aussprache und des Schriftbildes erscheint es nunmehr als ein absolutes Rätsel oder zumindest als ein unhintergehbarer Sachverhalt, während die immanente Mehrdeutigkeit des Wortes dunkel bleibt. Der Sinologe Jean François Billeter hat daran erinnert, dass uns keine andere Methode oder intellektuelle Disziplin »so rigoros und vollkommen« wie die Übersetzungsarbeit dazu zwingt, »auf alle Eigenschaften eines Textes zu achten, unter Einbeziehung von Gliederung, Rhythmus und Ton – Eigenheiten, die ihm gemeinsam seinen Sinn verleihen«.17 Er meint deshalb, dass man einen Text aus einer fremden Kultur erst durch die Übersetzungsarbeit wirklich verstehen kann.18 Am Beispiel des qi lässt sich hinzufügen, dass uns die Übersetzungsarbeit darüber hinaus zwingt, das Gleiche in seiner ständigen Wiederkehr nicht einfach als solches hinzunehmen, sondern auf die latenten Verschiebungen, Vertiefungen und Veränderungen, denen es stets ausgesetzt ist, zu achten. Anders
14 Ebd., S. 146. 15 Vgl. Porkert: »Untersuchungen einiger philosophisch-wissenschaftlicher Grundbegriffe«, S. 422-423. 16 Ebd., S. 423. 17 Billeter, Jean François: Das Wirken in den Dingen: Vier Vorlesungen über das Zhuangzi, übersetzt von Thomas Fritz, Berlin 2015, S. 11. 18 Siehe ebd., S. 11.
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ausgedrückt: Die Übersetzungsarbeit zwingt uns, die einem Wort immanente raue Widersprüchlichkeit zu spüren. Sie lässt uns einzusehen, dass die widersprüchlichen Bedeutungen eines Wortes keineswegs seine Sinnhaftigkeit zerbrechen oder außer Kraft setzen, sondern sie allererst hervorbringen. Nicht zuletzt zeigen sie uns auch, wie sich der Sinn eines Wortes entwickelt, ausdehnt und sogar auf drastische Weise mutieren kann. Diese produktive Widersprüchlichkeit verlangt ihrerseits von uns mehr als eine einfache Übersetzungsarbeit. Sie fordert uns dazu auf, das Wort zu öffnen. Das heißt, wir sollten nicht danach streben, den einzigen Ausdruck in einer anderen Sprache, der das Wort ein für alle Mal wiedergibt, zu finden, sondern den Mut haben, die scheinbar nicht zusammenhängenden, disparaten Bedeutungen des einen Wortes, so weit es geht, zutage zu fördern. Eine Übersetzungsarbeit solcher Art ist zweifellos eine Herausforderung. Die Sprache selbst verfügt jedoch über das Potenzial, sich in jenen »Tisch«, den Foucault in Les Mots et les choses beschrieben hat, zu verwandeln: Auf ihm treffen die scheinbar nicht zusammenpassenden Dinge auf unerwartete Weise aufeinander.19 Indem der Übersetzungsakt die verschiedenen Bedeutungen eines Wortes in einer anderen Sprache offenlegt und sichtbar macht, wird diese andere Sprache zu einem Ort, wo die heterogenen Dinge, die zuvor hinter einem Wort verborgen waren, plötzlich zusammentreffen und uns dazu veranlassen, ihre einstige semantische Zusammengehörigkeit zu hinterfragen. Gerade weil das Wort nicht mehr in seiner Singularität bzw. Fremdheit verschlossen bleibt, sondern in einzelne, teilweise leichter zu erfassende Ausdrücke aufgefächert wird, bieten uns die Übersetzung eine Möglichkeit, die mit diesem Wort verbundenen Vorstellungen und ihre Genealogien anhand konkreter Dinge zu verfolgen. Nehmen wir den ersten Satz der bereits zitierten Passage von Ge Hong als Beispiel: »Der Mensch befindet sich inmitten des qi und das qi befindet sich im Inneren des Menschen.«20 Wer diesen Satz liest, erkennt sofort, dass das Wort ›qi‹ hier mit einem ganz gewöhnlichen Ding, nämlich der »Luft«, übersetzt werden kann. Doch wenn wir aus einer anthropologischen Perspektive weiter hinterfragen, wie man sich überhaupt der Existenz der »Luft« bewusst werden kann, so erkennen wir, dass die Vorstellung von »Luft« als etwas, das uns umgibt und in uns vorhanden ist, ihre Genese weniger der Luft an sich, sondern vielmehr ihrer Bewegtheit verdankt. Um sein »In-der-Luft-Sein« zu
19 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 19. 20 Wang Ming: Bao pu zi nei pian xiao shi, S. 114.
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erkennen, braucht man kaum zu wissen, was die Luft ist oder woraus sie besteht, es ist nur nötig, dass man die Bewegungen der Luft in seiner Umgebung bewusst zur Kenntnis nimmt: Die Brise, die man an seiner Haut fühlt, der Luftzug, der die Kerze flackern lässt, der Wind, der die Wolken im Himmel bewegt, der Luftwirbel, der die Blätter flattern und umherfliegen lässt, die laut tosende Sturmböe, alle diese unterschiedlichen Bewegungen der Luft weisen uns auf ihre Existenz hin. Dementsprechend erlaubt uns die beim Atmen, Niesen, Husten oder Seufzen eingesaugte und ausströmende Luft, ihr Vorhandensein in unserem Körper wahrzunehmen. Hierbei handelt es sich wiederum nicht um die Luft an sich, sondern um die Bewegungen der Luft, an denen unser Leib unmittelbar Anteil hat. Auf einer grundlegenden, ja anthropologischen Ebene könnte man sagen, dass die Luft zuerst von den Menschen in ihren verschiedenen Zuständen, als Wind, Hauch, Atem usw. wahrgenommen wurde.21 Es ist ersichtlich, dass der auf diese Weise erkannten Luft von vornherein eine essenzielle Unreinheit und Unbestimmbarkeit innewohnt: Die Luft bewegt sich, kann aber auch bewegt werden. Sie führt Veränderungen herbei und löst Ereignisse aus, dennoch lässt sie sich selbst verändern und erzeugen. Sie ist sowohl drinnen als auch draußen. Sie streift die Oberfläche der Dinge, dennoch scheint sie zugleich imstande zu sein, jede vermeintliche Grenze zwischen Innen und Außen zu überschreiten. Einerseits ist sie konkret erlebbar, doch andererseits äußerst schwer zu fassen. In vielen Kulturen wird die Luft genau wegen dieser unreinen und unbestimmbaren Eigenschaften mit Leben, Antriebskraft, heiliger Macht, Seele, Geist usw. assoziiert und zur Erklärung verschiedenster Phänomene herangezogen.22
21 Es mag kein Zufall sein, dass das Wort ›feng 風‹ (Wind) im Chinesischen früher als das Wort ›qi‹ entstanden ist. Siehe Kuriyama, Shigehisa: »The Imagination of Winds and the Development of the Chinese Conception of the Body«, in: Zito, An gela; Barlow, Tani E. S. [Hrsg.]: Body, Subject and Power in China, Chicago 1994, S. 23-41, hier S. 34. 22 Obgleich sie sich nicht direkt mit der »Luft«, sondern mit dem »Wind« befasst, bietet die Sonderausgabe »Wind, Life, Health: Anthropological and Historical Per spectives« (2007) von The Journal of the Royal Anthropological Institute auch hinsichtlich der »Luft« aufschlussreiche Einsichten. Für einen Überblick siehe Low, Chris; Hsu, Elisabeth: »Introduction«, in: The Journal of the Royal Anthropological Institute 13 (2007), S. 1-17.
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Wie bereits erwähnt, sind sich viele Forscher darüber einig, dass es in den europäischen Sprachen keine Entsprechung für das Wort ›qi‹ gibt. Doch wenn wir das qi aus der oben beschriebenen Perspektive heraus betrachten und es zunächst als die in der Umgebung und an unserem eigenen Leib erfahrbare »Luft« auffassen, entdecken wir eine gewisse Ähnlichkeit in der Auffassung der »Luft« im alten China und der griechischen Antike. Erinnern wir uns an Ge Hongs Worte: Gleich nachdem er geschrieben hat, dass sich der Mensch inmitten der Luft (qi) befinde und die Luft (qi) auch im Inneren des Menschen vorhanden sei, weist er der Luft (qi) eine Zeugungsfähigkeit zu und betont, dass alle Dinge die Luft (qi) benötigen, um zu entstehen und zu leben. Auch der griechische Philosoph Anaximenes (um 585-525 v. Chr.) sah die Luft als Urstoff an und führte die Entstehung aller Dinge auf die Verdichtung und Verdünnung der Luft zurück. 23 Als allumfassender Urstoff ist die Luft für ihn nicht zuletzt die Seele des Menschen und des Kosmos: »Wie unsere Seele, die Luft (aer) ist, uns durch ihre Kraft zusammenhält, so umfasst auch den ganzen Kosmos Hauch (pneuma) und Luft (aer).«24 Obwohl die Luft in der später entstandenen Vier-Elemente-Lehre zu den vier Grundelementen gezählt wird und ihre Leitfunktion erst in Beziehung zu den Modifikationen durch die anderen Elemente entfalten kann, gilt sie nach wie vor als das seelenartige Element, das windförmig in allen Lebewesen wirkt und die Kraft des Lebens repräsentiert.25 Die Luft wird derart sowohl in der chinesischen als auch in der griechischen Antike als etwas, das das Leben erzeugt und allen Dingen entströmt, aufgefasst. Bemerkenswert ist, dass der Luft darüber hinaus in beiden Kulturen ein großer Einfluss auf die Physis und die Veranlagungen eines Menschen zugesprochen wird. In Huai nan zi 淮南子 aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr. zum Beispiel ist zu lesen, dass die Leute, die in der Luft (qi) des steinigen Geländes lebten, normalerweise stark und kraftvoll seien und diejenigen, die in der Luft (qi) des Gebirges mit vielen steilen Pässen lebten, oft einen Kropf hätten. Während die Leute, die in der Luft (qi) der Tiefländer lebten, meistens großzügig seien, seien diejenigen, die in der Luft (qi) einer hügeligen Gegend
23 Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 236. 24 Diels, Hermann; Kranz, Walther [Hrsg.]: Die Fragmente der Vorsokratiker: Griechisch und Deutsch, Zürich 1966, 13 B 2. Vgl. Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 170. 25 Vgl. ebd., S. 53.
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wohnten, gierig.26 In Han Shu 漢書 (gegen 82) heißt es, dass das Temperament eines Volkes durchaus von der »Wind-Luft« (feng qi 風氣) der Region, in der es beheimatet sei, abhänge: »Zwar sind in der Natur des Menschen fünf konstante [Qualitäten] enthalten. Doch sind die einen unnachgiebiger, die anderen anpassungsfähiger. Die einen sind nachsichtiger, die anderen dagegen ungeduldiger. Ihre Stimmen unterscheiden sich in ihrem Ton. Alle diese Charakterzüge sind mit der Wind-Luft (feng qi 風氣) der Region verbunden.«27
Auch in der hippokratischen Tradition der westlichen Medizin herrscht die Annahme, die Luft übe einen großen Einfluss auf die körperliche Beschaffenheit und die angeborenen Neigungen des Menschen aus. In der Abhandlung Über Lüfte, Gewässer und Örtlichkeiten (auch bekannt unter dem Titel Die Umwelt) erklärt Hippokrates beispielsweise, dass die Leute am Phasis im Vergleich zu den übrigen Menschen merkwürdige Gestalten hätten: »An Wuchs sind sie groß, an Leibesumfang übermäßig dick, so dass man kein Gelenk und keine Ader an ihnen sehen kann. Ihre Farbe ist ziemlich gelb, als ob sie von Gelbsucht ergriffen wären, und sie haben eine tiefere Stimme […].«28 Für den Verfasser dieser Schrift liegt der Grund dafür offensichtlich in der klimatischen Situation: Das dortige Klima zeigt keine großen Veränderungen. Und weil der Regen das ganze Jahr über reichlich und stark fällt und die Winde meistens feucht und warm sind, ist es dort immer sehr schwül. Die Leute atmen »keine klare, sondern diesige und finstere Luft« ein. 29 Für den hippokratischen Arzt haben diese Wetterbedingungen außerdem eine typische und naturbedingte »Faulheit« des Volkes zur Folge.30 Wenn die räumlichen und zeitlichen Faktoren in den hippokratischen Traktaten sorgfältig berücksichtigt und verhandelt werden, so geht es dabei tatsächlich nicht nur um ein holistisches Studium der Umwelt, in der die Krankheit entsteht, sondern auch um eine Erklärung der Unterschiede zwi-
26 Siehe Liu An 劉安; Xu Kuang-yi 許匡一 [Übers.]: Huai nan zi quan yi 淮南子全 譯, Guizhou 1995, S. 239. 27 Ban Gu 班固; An Ping-qiu 安平秋 [Hrsg.]: Han shu 漢書, Bd. II, Shanghai 2004, S. 741. 28 Hippokrates: »Die Umwelt«, in: ders.: Ausgewählte Schriften, übersetzt von Hans Diller, Stuttgart 1994, S. 123-160, hier S. 148-149. 29 Ebd., S. 149. 30 Siehe ebd., S. 149.
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schen den Menschen hinsichtlich ihrer körperlichen Gestalt, ihrer Lebensweisen, Mentalitäten und Bräuche. In diesem Zusammenhang wird die Luft nicht mehr bloß als etwas, das beim Atmen rhythmisch in und aus dem Körper strömt und das Leben hervorbringt, verstanden, sondern auch in geo- und klimatologischer Hinsicht als ein Element, das unterschiedliche Qualitäten aufweist und die Eigenschaften bestimmter Menschengruppen prägt. Die Luft umfasst die Menschen einer Gegend, schließt sie in eine bestimmte Atmosphäre ein, durchdringt sie und wirkt mit ihrer spezifischen Qualität auf sie ein. Sie lässt sie einander ähneln und als Einheit, Kollektiv oder Ethnie erscheinen. Wir sollten jedoch die spezifischen Qualitäten, die der Luft jeweils in der chinesischen und europäischen Kultur zukommen, nicht übersehen: Im Vergleich zu der chinesischen Medizin richtet die hippokratische Medizin ihre Aufmerksamkeit unter dem Einfluss der Vier-Elemente-Lehre vor allem auf die polaren Qualitäten der Luft: trocken oder feucht, warm oder kalt. Sie beschäftigt sich mit der Wirkung, die feuchte oder warme Luft auf den körperlichen und seelischen Habitus ausübt.31 Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass die chinesischen und westlichen Auffassungen der Luft gewisse Gemeinsamkeiten teilen. Um die von vielen Forschern konstatierte Unübersetzbarkeit des Wortes ›qi‹ zu verstehen, müssen wir im Folgenden untersuchen, welche Vorstellung von der »Luft«, die der Körper einatmet, jeweils in der chinesischen und der westlichen Medizin entwickelt wurde. Der bekannte hippokratische Traktat Die heilige Krankheit schildert, wie die Luft durch den Mund und die Nase ins Körperinnere gelangt: Sie ströme »zuerst ins Gehirn, dann aber zum größten Teil in den Bauch, teils aber auch in die Lunge und teils in die Adern.«32 Dabei wird die Ansicht vertreten, dass die eingeatmete Luft, indem sie in ihrem reinsten Zustand ins Gehirn gelangt, das Bewusstsein erzeugt. Indem sich die Luft vom Gehirn aus über die Adern im restlichen Körper ausbreitet, verleiht sie aber nicht nur den Gliedern ihre Beweglichkeit, sondern bewirkt zugleich, dass der ganze Körper den Absichten des Gehirns gehorcht: »Die Augen, die Ohren, die Zunge, die Hände und die Füße führen das aus, was das Gehirn für richtig hält. Denn dem ganzen Körper wird so viel Denkfähigkeit zuteil, wie er an der Luft teil hat.«33 Für den Verfasser dieser Schrift ist die Luft der Träger der kognitiven und motorischen Informationen. Sie solle nicht angehalten oder abgeschnitten werden, sondern
31 Siehe ebd. 32 Hippokrates: »Die heilige Krankheit«, in: ders.: Ausgewählte Schriften, übersetzt von Hans Diller, Stuttgart 1994, S. 161-184, hier S. 173. 33 Ebd., S. 182.
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sich ungehindert durch die als Atmungsorgane aufgefassten Adern bewegen. Die Argumentation dieser Schrift zielt gegen die im damaligen Volksglauben gängige Vorstellung, dass die sogenannte heilige Krankheit, die Epilepsie, von den Göttern gesandt werde. Auslöser der Epilepsie sei vielmehr eine Verstopfung der Adern, also eine Behinderung der Luftzufuhr. Mit großer Sorgfalt hat auch Galen die verschiedenen Umwandlungen der eingeatmeten Luft im Körperinneren beschrieben. 34 Er bezieht sich dabei immer wieder auf die Luft bzw. auf das Luftartige, um die unterschiedlichen Lebensfunktionen, die er dem Gehirn und dem Herzen zuschreibt, zu erörtern und entwickelt schließlich eine hoch komplizierte Pneumalehre.35 Obwohl die Ärzte des Corpus Hippocraticum und Galen verschiedene Antworten auf die Frage geben, wie die Seele erzeugt wird und wie sie auf den Körper wirkt, setzen sie sich alle mit der Luft auseinander und schreiben ihr eine Schlüsselrolle im Leben des Organismus zu. Sie beschreiben die Bewegungen der Luft im Körper entsprechend der anatomischen Kenntnisse ihrer Zeit. Ihr besonderes Interesse an der Luft ergab sich dabei aus der Frage nach dem Verhältnis zwischen Körper und Seele: Wodurch kommuniziert das Zentralorgan des geistigen Lebens – wobei es hier nicht entscheidend ist, welches
34 Galen schreibt zum Beispiel: »Air (pneuma) drawn from the outside through the trachea is submitted to its first transformation in the tissue of the lungs [where it becomes vital pneuma]. It appears reasonable that the external air (aer) does not serve instantly and immediately as nourishment for the air which is enclosed in the body […] The body acquires this pneuma after it has undergone small changes, like the food, by receiving the proper qualities under the influence of the indwelling air (pneuma) […] The principal instrument of this change is the tissue of the lungs.« (Zitiert nach Siegel: Galen’s System of Physiology and Medicine, S. 191.) 35 Zu Galens Pneumalehre siehe Siegel: Galen’s System of Physiology and Medicine, S. 183-190; Lloyd, Geoffrey: »Pneuma between Body and Soul«, in: The Journal of the Royal Anthropological Institute 13 (2007), Sonderausgabe »Wind, Life, Health: Anthropological and Historical Perspectives«, S. 135-146, hier S. 142-143; Staden, Heinrich von: »Body, Soul, and Nerves: Epicurus, Herophilus, Erasistratus, the Stoics, and Galen«, in: Wright, John P.; Potter, Paul [Hrsg.]: Psyche and Soma: Physicians and Metaphysicians on the Mind-body Problem from Antiquity to Enlightenment, New York 2000, S. 79-116, hier S. 105-116.
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Organ für den Sitz der Seele gehalten wird36 – mit dem übrigen Körper? Im Kontext dieses Problems scheint die Luft eine besondere Bedeutung erlangt zu haben. Beim Eintritt ins Körperinnere wird die Luft wie eine Substanz wahrgenommen, kommt einem aber zugleich so fein und flüchtig vor, als könnte sie durch den ganzen Körper wandern. Die enge Verbindung der Luft mit dem Leben hat zudem sicherlich von Anfang an dazu beigetragen, dass sie als erregende Kraft und nicht bloß als passive Substanz aufgefasst wurde. Tatsächlich können wir am griechischen Begriff ›Pneuma‹, der ursprünglich ›Luft‹, ›Atem‹, ›Hauch‹ und ›Wind‹ bedeutet, deutlich erkennen, wie dieser Begriff während der griechischen Antike in so viele unterschiedliche Lehrgebäude integriert und auf so viele verschiedene Theorien übertragen wurde, dass man schließlich nicht mehr kurz und bündig sagen kann, was mit dem ›Pneuma‹ eigentlich gemeint ist.37 Bei jedem Versuch zu beantworten, was das Pneuma sei, muss man, wie Geoffrey Lloyd bemerkt, stets zugleich die gegebene Definition relativieren und erklären, von welchem Autor man spricht.38 Geoffrey Lloyd liefert uns auch eine Erklärung für die unterschiedlichen Auffassungen von »Pneuma« und »qi« in der griechischen und der chinesischen Kultur. Seiner Ansicht nach besteht der Unterschied in der Idee der Polemik, die insbesondere die griechische Antike geprägt hat: Während die Griechen ständig darüber streiten, was die Seele ist und wie sie auf den Körper wirkt, und die von anderen gegebenen Definitionen vom Pneuma immer wieder in Frage stellen, zweifeln die chinesischen Philosophen und Mediziner die
36 Ein kurzer Überblick über die verschiedenen Meinungen der Griechen findet sich in: Eijk, Philip J. van der: »Body, Soul and Life in Ancient Medicine«, in: Kornmeier, Uta [Hrsg.]: The Soul is an Octopus: Ancient Ideas of Life and the Body, Berlin 2016, S. 16-23, hier S. 21; Lewis, Orly: »Localising the Soul in the Body«, in: Kornmeier [Hrsg.]: The Soul is an Octopus, S. 30-35; sowie ders.: »Brain and Heart as Organs of the Souls«, in: Kornmeier [Hrsg.]: The Soul is an Octopus, S. 37-43. Vgl. auch Eijk, Philip J. van der: Medicine and Philosophy in Classical An tiquity: Doctors and Philosophers on Nature, Soul, Health and Disease, Cambridge [u.a.] 2005, S. 119-135. 37 Zur Geschichte des »Pneuma« im Abendland siehe Putscher, Marielene: Pneuma, Spiritus, Geist: Vorstellungen vom Lebensantrieb in ihren geschichtlichen Wandlungen, Wiesbaden 1973; Lewis, Orly: Praxagoras of Cos on Arteries, Pulse and Pneuma: Sources and Interpretation, Leiden [u.a.] 2017, S. 252-254. 38 Siehe Lloyd: »Pneuma between Body and Soul«, S. 136.
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überlieferten Definitionen von qi und die Wichtigkeit des qi kaum an, wenngleich der Begriff des »qi« im Laufe der Geschichte ohne Frage gewisse Verschiebungen und Entwicklungen erfahren hat.39 Lloyds Feststellung ist nicht zu bestreiten. Bis zu einem gewissen Grad können wir diese von ihm beschriebenen unterschiedlichen Einstellungen zum Begriff »Pneuma« bzw. »qi« sogar als zwei kulturspezifische »Denkstile« im Sinne Ludwig Flecks betrachten, die jeweils in der griechischen und chinesischen Wissenschaftskultur herrschen. Doch sollten wir daraus nicht vorschnell schließen, dass sich im alten China eine ähnliche Vorstellung vom »Pneuma« entwickelt hätte, wäre dort eine ähnliche Kultur der Polemik aufgekommen. Denn wenn die chinesischen Philosophen und Mediziner ihre Aufmerksamkeit auf die »Luft«, also das »qi«, richten, möchten sie andere Fragen beantworten als die Griechen. Mit dem Begriff des qi versuchten die Chinesen sicherlich nicht, das Leib-Seele-Problem zu lösen. Es bleibt sogar zweifelhaft, ob die chinesische Medizin oder Philosophie im Laufe ihrer Geschichte überhaupt mit dem westlichen Leib-Seele-Problem konfrontiert gewesen ist. Aber woran denkt der chinesische Arzt bzw. Philosoph, wenn er vom »qi« spricht? Was suchen die Chinesen durch das »qi« zu zeigen oder zu beschreiben? In einer bekannten Passage in Su wen lesen wir: »Die drei Monate des Frühlings stehen für die Entfaltung und Erneuerung. In Himmel und Erde beginnt alles zu entstehen. Unzählige Dinge gedeihen.«40 Der chinesische Arzt fordert seine Leser auf, während dieser Zeit spät ins Bett zu gehen und früh aufzustehen. Er rät ihnen darüber hinaus, mit langen Schritten im Hof zu schlendern und sich mit gelöstem Haar aufzulockern. Man solle das Entstehende fördern, statt es zu behindern. Der Autor spricht von einem »Ansprechen auf das qi des Frühlings (chun qi 春氣)«41. Wie wir weiter in diesem Text lesen können, werden die drei übrigen Jahreszeiten auf ähnliche Weise behandelt, wobei erklärt wird, wie man sich verhalten solle, um dem jeweiligen qi einer Jahreszeit zu entsprechen. Es liegt auf der Hand, dass die Bedeutung des qi hier weit über die einfache Luft hinausgeht. Das qi lässt sich vielmehr als die Tendenz, die natürliche Neigung, die eine Jahreszeit aufweist, begreifen. Offenbar ging der Verfasser des Textes davon aus, dass man seine Lebensweise an die jeweiligen Jahreszeiten anpassen soll. Er ermahnt seine Leser
39 Siehe ebd., S. 143-144. 40 Su wen 2. 41 Ebd.
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deshalb immer wieder, die jeweilige Tendenz einer Jahreszeit zu beachten, und warnt vor den verheerenden Folgen eines falschen Verhaltens. Es fällt auf, dass das Wort ›qi‹ in der soeben zitierten Passage auch in anderen Zusammenhängen auftaucht. Im Abschnitt über den Sommer wird beispielsweise vom »qi des Himmels und der Erde« (tian di qi 天地氣) gesprochen.42 Dort wird erzählt, dass das »qi des Himmels« und das »qi der Erde« im Sommer aufeinander wirken, so dass die Pflanzen und Bäume zu blühen und Früchte zu tragen beginnen. 43 An einer anderen Stelle derselben Passage lesen wir, dass der Tau sich nicht mehr herausbildet und herabfällt, wenn das »qi des Himmels« blockiert wird und das »qi der Erde« nicht mehr das »qi des Himmels« erwidern kann.44 Das »qi« lässt sich hier schwerlich als reine Luft verstehen. Zudem kann man das »qi« nur bedingt mit dem »qi« in »qi des Frühlings« gleichsetzen. Doch wenn wir bedenken, welches Problem der Autor mit Hilfe von »qi« zu lösen bestrebt ist, können wir eine implizite Gemeinsamkeit in den Verwendungen dieses Begriffs erkennen: Der Begriff des »qi« wird in all diesen Fällen herangezogen, um die Umwandlungen zu erfassen. Die vier qi der Jahreszeiten werden als sich im Laufe der Zeit entfaltende, immerfort differenzierende Tendenzen erachtet, die den klimatischen Wandel eines ganzen Jahres umfassen und gliedern. Das qi des Himmels und das qi der Erde werden auf der anderen Seite als zwei entgegengesetzte, einander beeinflussende und zusammenwirkende Faktoren gedacht, die die Welt in Bewegung halten, die Dinge erzeugen und sie verändern. All diese qi benennen die ständigen Umwandlungen der Welt und dienen ihrer Ergründung. Wenn sich das altchinesische Wort »qi« als der elementarste und zugleich am schwersten zu fassende Begriff erweist, so zeigt sich darin ein in der chinesischen Kultur tiefgreifendes Bedürfnis, die Umwandlungen der Welt zu begreifen: ein unablässiges Nachdenken über das Veränderliche und das sich Ereignende. Es mag in diesem Zusammenhang kein Zufall sein, dass das in der chinesischen Medizin als innerhalb des Körpers beschriebene qi zwar gelegentlich auch als in die Lunge eingeatmete Luft gedeutet werden kann, aber viel häufiger gebraucht wird, um die Veränderungen und Aktivitäten des Körpers zu beschreiben und zu erörtern. Das sogenannte »cang qi 藏氣«, das qi der inneren Organe, ist dafür ein besonderes Beispiel. Der chinesische Mediziner spricht von dem qi der Leber, des Herzens, der Milz, der Lunge und der Niere. Damit ist jedoch weder gemeint, dass die Luft in all diesen inneren Organen
42 Ebd. 43 Siehe ebd. 44 Siehe Su wen 2.
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gespeichert wird, noch dass diese inneren Organe eine luftartige Substanz produzieren. Anders als die Griechen, haben die chinesischen Mediziner offenbar keine Notwendigkeit verspürt, auf die Fragen einzugehen, in welche Substanz die Luft innerhalb des Körpers umgewandelt wird, um ihn zu beseelen, oder wie die eingeatmete Luft von der Lunge durch die den Körper durchziehenden Adern oder Nerven in die inneren Organe gelangt. Wenn die chinesische Medizin vom qi der inneren Organe spricht, geht es ihr vielmehr darum, die Veränderungen des Körpers aus der Beziehung der inneren Organe zu begreifen. Sie vertritt die Annahme, dass die qi der inneren Organe – die sich angemessener als jeweils von verschiedenen inneren Organen manifestierte Lebenskräfte auffassen lassen – , ähnlich wie die bereits erwähnten qi des Himmels und der Erde, in ein spannungsgeladenes Verhältnis von Gegensatz und Wechselbeziehung eintreten. Indem sie einander aktivieren und in Bewegung setzen, wird nicht nur das Funktionieren des Körpers aufrechterhalten, sondern auch das Wahrnehmungsvermögen zur Entfaltung gebracht.45 Auf diese Weise wird der lebendige Körper als ein unaufhörliches Wechselspiel der verschiedenen, einander entgegengesetzten, zusammenwirkenden Kräfte (qi) der inneren Organe vorgestellt. Dadurch wird zudem ersichtlich, weshalb wir im Klassiker des Gelben Kaisers eine beträchtliche Menge von Texten finden, die den Mediziner darüber belehren, wie der anormale Zustand einer bestimmten Kraft (qi) mittels verschiedener Arten von Symptomen,46 von den Eigenschaften des Pulses47 über den Funktionsverlust eines Körperteils48 bis hin zum Inhalt eines Traumes,49 erkannt werden könne. Denn bevor der Mediziner ins Spiel der Kräfte (qi) eingreift, muss er wissen, welche Kraft (qi) überhaupt den normalen Ablauf des Organismus stört. Es muss an dieser Stelle jedoch betont werden, dass die qi der inneren Organe in Wirklichkeit nur einen kleinen Teil der verschiedenen qi, von denen
45 Siehe Ling su 17. 46 Siehe etwa Ling su 8. 47 Siehe Su wen 48. 48 Siehe Su wen 44. 49 Siehe Su wen 17, 80 und Ling su 43. In Su wen lesen wir zum Beispiel: Wenn die Kraft (qi) der Lunge geschwächt wird, sieht man in den Träumen weiße Dinge und brutale Hinrichtungen. Wenn die Kraft (qi) der Nieren geschwächt wird, sieht man Schiffbruch und Ertrinkende. Wenn die Kraft (qi) der Leber geschwächt wird, sieht man frische Käuter. (Siehe Su wen 80)
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in der chinesischen Medizin die Rede ist, ausmachen. In Bezug auf das Körperinnere werden beispielsweise zwei entgegengesetzte und komplementäre, zueinander in Polarität stehende Kräfte, nämlich die sonnig-helle Kraft (陽氣 yang qi) und die schattig-dunkle Kraft (陰氣 yin qi), postuliert. Mittels dieser Kräfte (qi) werden der obere und untere Teil sowie der äußere und der innere Bereich des Körpers jeweils in eine spannungsgeladene Beziehung versetzt. 50 Das Verhältnis zwischen sonnig-heller und schattig-dunkler Kraft wird auch zur Beschreibung der polaren Kräfte herangezogen, die innerhalb einer bereits bestehenden Kraft (qi) wirken. Auf diese Weise soll die gegebene Kraft nicht nur als ein Faktor, der zusammen mit anderen Faktoren ein Spannungsfeld konstituiert, sondern an sich selbst bereits als ein Ereignis, das aus einer polaren Spannung erwächst und in dieser Spannung seinen Aufschwung und seine Wirksamkeit erlangt, betrachtet werden. 51 Des Weiteren bedient sich der chinesische Mediziner des Konzept des qi, wenn er auf die Schädlichkeit starker seelischer Erregung hinweisen will. Das qi wird dann als eine Art »Fluss der Kraft« verstanden, der bei starken Erregungen aufsteigt, sich zerstreut, absinkt, sich zusammenballt oder in Unordnung gerät. Alle diese seelisch verursachten, hektischen Bewegungen des qi üben eine überwältigende Wirkung auf die normale Zirkulation der Lebenskräfte (qi) aus und lassen die gewöhnlichen Abläufe des Körpers aus den Fugen geraten.52 Es lässt sich in diesem Sinne ganz allgemein sagen, dass es in der Vorstellung der chinesischen Medizin kaum eine Kraft (qi) gibt, die sich nicht in ein Netz aus spannungsgeladenen Gegensätzen und Wechselbeziehungen verwickeln würde. Und es gibt auch kaum eine im Körper stattfindende Veränderung, die nicht anderen manifesten wie latenten Veränderungen ausgesetzt wäre. Zwar wird in der chinesischen Medizin auch von der »Essenz-Energie« (jing qi 精氣) oder von »wei qi 衛氣«, also einer Kraft, die den Körper schützen kann, gesprochen. Doch lassen sich die Eigenschaften dieser zwei Kräfte (qi) bei genauerer Betrachtung keineswegs ontologisch auffassen. Wenn sie als »essenziell« oder »schützend« angesehen werden können, so deshalb, weil sie unter Wirkung von anderen Kräften (qi) als solche zur Geltung kommen. 53
50 Zur Beziehung zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Körpers siehe Su wen 3. Zur Beziehung zwischen dem oberen und dem unteren Teil des Körpers siehe Su wen 5 und 48. 51 Siehe Su wen 80. 52 Siehe Su wen 39. 53 Siehe Su wen 2, 14 und 61.
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In den Augen des chinesischen Mediziners erscheint der lebendige Körper als ein äußerst komplexes Geflecht, in dem sich zahlreiche unterschiedliche Spannungsfelder gleichzeitig überlagern und überschneiden. Der Begriff des »qi« dient ihm nicht nur dazu, solche Spannungsfelder zu erkennen, sondern auch dazu, sie zu entwirren, damit er die subtilen Veränderungen des Körpers auf den verschiedenen Ebenen der Beziehungen beobachten, verfolgen, schildern und nicht zuletzt auch prognostizieren kann. Sowohl die griechischen als auch die chinesischen Mediziner zeigen von Anfang an ein großes Interesse für die Luft und charakterisieren sie durch eine gewisse Ambiguität. Ihre theoretischen Perspektiven unterscheiden sich jedoch. Während die griechischen Mediziner in der Luft ein Erklärungsprinzip für das Verhältnis von Körper und Seele erblicken, gehen die chinesischen Mediziner vielmehr vom Vermögen der Luft aus, Veränderungen auszulösen. Im Unterschied zu den griechischen Medizinern zeigen sie kein Interesse an einer anatomischen Untersuchung der Luftzufuhr, sondern betrachten die Luft als ein Mittel, um geheimen Beziehungen zwischen unterschiedlichen Organen bzw. Partien des Körpers zu begreifen und ihn – dem Universum vergleichbar – als ein vielschichtiges Spannungsfeld voller heterogener Kräfte (qi) zu lesen. Dass viele zeitgenössische Forscher den Begriff des ›qi‹ für unübersetzbar halten, hängt wohl mit der Tatsache zusammen, dass sich selbst die chinesischen Mediziner kaum um begriffliche Abgrenzungen gekümmert haben. So bleibt oft unklar, ob dieses qi mit jenem qi identisch ist, ob also etwa das ›qi‹ in »qi der inneren Organe« dem ›qi‹ in »qi des Himmels und der Erde« entspricht. Sie fragen auch nicht, was für eine »Substanz« das qi ist. Anders als Galen oder die Ärzte der griechischen Antike, die sich dazu genötigt fühlten, zu betonen, dass die Luft in ihrem »reinsten« Zustand durch die Adern oder Nerven strömt, geben die chinesischen Mediziner keinen Hinweis darauf, ob die stoffliche Beschaffenheit eines qi geändert werden muss, um mit einem anderen qi in Beziehung zu treten. Nicht, was das qi eigentlich ist, sondern wie die Veränderungen des Körpers durch das qi verstanden und erklärt werden können, bleibt die zentrale Frage, die die chinesischen Mediziner zu beantworten suchen.
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2.2 DIE FORM DES KÖRPERS, DIE VON QI HERVORGEBRACHT WIRD Es fällt auf, dass der chinesische Mediziner, wenn er auf die Frage nach der körperlichen Form eingeht, ebenfalls auf den Begriff des »qi« zurückgreift: »Wenn das qi seinen Anfang nimmt«, so heißt es in Su wen, »kommt es zu Erzeugung und Umformung. Wenn das qi sich bewegt, kommt die Form (xing 形) zustande. Wenn das qi sich verbreitet, kommt es zu Üppigkeit und Gebären. Wenn das qi zum Ende gelangt, dann verändert sich die Erscheinung (xiang 象). All dies rührt von dem einen [qi] her.«54
Und an einer anderen Stelle: »Die qi verbinden sich und nehmen die Form (xing 形) an. Man verfolgt ihre Veränderungen, um sie zu benennen.«55 Die Form wird dabei als etwas, das soeben in der Bewegung des qi zustande kommt, doch immer noch einem fortlaufenden Prozess der Umwandlung unterliegt, beschrieben. Sie gilt als etwas Vorübergehendes, Ephemeres. Die derart aufgefasste »Form« (xing 形) unterscheidet sich offenbar von derjenigen »Form«, die das griechische Denken prägt. Es ist bekannt, dass die Form (eidos) eine große Rolle in der Philosophie Platons spielt. Indem Platon das Vorhandensein einer »Ideenwelt« neben der sinnlich wahrnehmbaren Welt annimmt, geht er nicht nur davon aus, dass es rein ideelle, niemals wandelbare, allgemein und ewig gültige Formen (eidos) gibt, sondern auch davon, dass jede in der sichtbaren Welt wahrnehmbare Form nur ein Schattenbild (eidolon) dieser wahren Form sein kann. Für Platon ist die wahre Form nur auf geistige Weise zugänglich. Sie besteht als »Urbild« außerhalb der sinnlich vergänglichen Welt. Anders als Platon hält Aristoteles die Form (eidolon) nicht mehr für selbständig, sondern für »den sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen innewohnend«. 56 Für ihn kann die Form erst nach
54 Su wen 70. Vgl. Unschuld: Huang di nei jing su wen: An Annotated Translation of Huang Di’s Inner Classic, Vol. II, S. 345-346. 55 Su wen 9. 56 Siehe Aristoteles: Metaphysik, 1034 a-b. Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf die Übersetzung von Hermann Bonitz: Aristoteles: Metaphysik, übersetzt von Hermann Bonitz, Reinbek 1966.
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der »Vereinigung« (synholos) mit der Materie (hyle) die Wirklichkeit konstruieren.57 Nehmen wir seine bekannte »eherne Kugel« als Beispiel: Das Erz ist die Materie und die Kugel ist die Form. Für Aristoteles ist die Kugel an sich noch kein Etwas. Die Kugel bedarf des Erzes, damit die eherne Kugel hervorgehen kann. Mit anderen Worten: Die Form muss erst in der Materie hervorgebracht werden, damit ein »so beschaffenes Etwas« entstehen kann.58 Auf diese Weise will Aristoteles betonen, dass »es nicht nötig ist, eine Form als Urbild (paradeigma) aufzustellen«. 59 Wie uns die weitere Geschichte der Philosophie lehrt, hat die von Aristoteles postulierte Verbindung der Form mit der Materie keineswegs die Transzendenz, die Platon der Form zugeschrieben hat, zum Verschwinden gebracht, noch hat sie den Glauben an ihre reine Idealität verhindert. Ganz im Gegenteil: Nachdem Plotin Aristoteles’ Theorie wieder auf Platons Ideenlehre zurückgeführt hatte, trug sie zu einer hierarchischen Auffassung der Wirklichkeit gemäß der Beziehung zwischen Form und Materie bei:60 Jedes Ding wird folglich als eine Kombination einerseits der höheren, leuchtenden, ewigen Form, die sich zugleich als das Gute und das Schöne versteht, und andererseits der niedrigen, dunklen, widerspenstigen und stets unbewältigten Materie gedacht. Insofern wird die Teilhabe der Materie an jedem Ding zwar anerkannt, aber die Materie bleibt der Form stets untergeordnet. 61 Denn es ist die Form, nicht die Materie, durch die ein Ding sein »Wesen« und seine »Washeit« erhält. Es ist die Form, nicht die Materie, an der das Sein, also die Wahrheit, hängt. Die Ontologie, die sich seit der griechischen Antike allmählich durchgesetzt und die europäische Vorstellung von der Wirklichkeit tiefgreifend bestimmt hat, stützt sich gerade auf diese die Grenzen der Erfahrung und der sinnlich erkennbaren Welt überschreitende Form, also auf eine ideale und apriorische Form, die mehr dem Jenseits als dem Diesseits angehört. Worin besteht der Unterschied zwischen der europäischen und der chinesischen Auffassung von der Form? Eine knappe Antwort wäre: Die eine ist
57 Siehe Aristoteles: Metaphysik, 1033 b. 58 Aristoteles: Metaphysik, 1034 a. 59 Ebd. 60 Vgl. Jullien, François: Vom Wesen des Nackten, übersetzt von Gernot Kamecke, München 2003, S. 92-94. 61 Siehe Plotin: »Die geistige Schönheit«, in: Plotins Schriften, Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen, übersetzt von Richard Harder, Band 3a, Hamburg 1964, S. 34-69, hier S. 35.
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unveränderlich, während die andere vergänglich ist. Dieser Unterschied tangiert darüber hinaus einen fundamentalen Unterschied bezüglich der Herangehensweise an die Wirklichkeit der Dinge: Wenn die Form (eidos) in der griechischen Philosophie als eine invariante gedacht wird, so deshalb, weil die Griechen bestrebt sind, die Realität auf die reine Identität zu reduzieren. Sie versuchen, das Eigentliche der Dinge, das Wesen der Wirklichkeit, nicht nur zu ergründen, sondern auch festzuhalten. Für sie bilden Ewigkeit und Unveränderlichkeit die Garantie für die Wahrhaftigkeit der Erkenntnis. Diese Vorstellung von der wahren Erkenntnis kommt in Platons Philebus deutlich zum Ausdruck, wenn er zwischen zwei Arten von Wissen scharf unterscheidet: »[…] bei den Arten von Wissen gab es Unterschiede, weil die eine auf das schaut, was entsteht und vergeht, die andere dagegen auf das, was weder entsteht noch vergeht, sondern immer ist, gleichbleibend und unverändert. Von dieser meinten wir, sie sei wahrer als die andere, als wir sie auf ihre Wahrheit hin überprüften.« 62
Wenn die Form (xing 形) in der chinesischen Medizin dagegen als etwas, das aus der Bewegung des qi hervorgeht und dem ständigen Wandel unterworfen ist, beschrieben wird, dann ist ersichtlich, dass es sich hierbei bemerkenswerterweise genau um das handelt, was Platon auf eine niedrigere Stufe der Wahrheit stellt: Sie entsteht und vergeht, verfügt über keine Konsistenz. Diese Form erweist sich vielmehr als eine vorübergehend gültige, sichtbare Konkretisierung, die sich in der Bewegung der Kraft (qi) entfaltet und realisiert. Im Unterschied zu den griechischen Philosophen, die sich dem Sein der Dinge zuwenden und auf die Erschließung der reinen Formen, also des höchsten Prinzips der gesamten Wirklichkeit, abzielen, richten die chinesischen Mediziner ihr Augenmerk vielmehr auf die unablässige Aktualisierung der Form (xing). Sie verfolgen ihre Veränderungen und benennen sie je nach ihren sich im Prozess der Entwicklung auffächernden, herausbildenden individuellen Figurationen. Es liegt auf der Hand, dass die Form (xing), die in der chinesischen Medizin gedacht wird, vor diesem Hintergrund keinen ontologischen Status genießt. Sie geht dem Ding nicht voraus. Anders gesagt: Diese Form ist nicht, sondern wird erzeugt. Sie existiert also überhaupt nicht, bevor sie sich nicht als solche
62 Platon: Philebus 61 d-e. Ich übernehme die Übersetzung von Dorothea Frede: Platon: Philebus, übersetzt und kommentiert von Dorothea Frede (= Platon Werke, Bd. III 2), Göttingen 1997, S. 80.
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herausstellt. Sie bleibt nie in sich selbst vollendet und kann daher niemals als etwas Ideelles – wie bei Plotin – die Materie »bezwingen«63 oder als etwas Gleichbleibendes – wie bei Aristoteles – in die Materie »hineingebracht« 64 werden. Die kontinuierliche Bewegung und Zusammenwirkung des qi mit anderen Kräften (qi) ermöglicht das In-Erscheinung-Treten der Form. In Zhuang zi findet sich eine Passage, in der Konfutse davon erzählt, wie er einmal zufällig ein paar Ferkel sah, die an den Zitzen ihrer soeben gestorbenen Mutter zu saugen versuchten. 65 Nach kurzer Zeit wandten sie sich plötzlich von ihrer Mutter ab und rannten voller Panik davon. Konfutse erklärt seinem Begleiter daraufhin, dass sich die Ferkel so verhalten hätten, »weil sie sich selbst nicht mehr in ihrer Mutter wiedererkennen und diese als etwas ihnen Ähnliches empfinden konnten.«66 »Was sie an ihrer Mutter lieben«, so sagt Konfutse weiter, »ist nicht deren [körperliche] Form (xing), sondern das, was diese Form hervorbringt«. 67 Konfutses Worte zeigen, dass die Form in der chinesischen Philosophie wie in der Medizin als etwas Hervorgebrachtes, Vergängliches gedacht wird. 68 Sofern der Form das, was sie entstehen lässt, nämlich die Lebenskraft (qi), fehlt, wird sie nicht mehr dieselbe sein. Die Lebenskraft (qi) bringt aber nicht nur die körperliche Form zur Entfaltung. Sie fließt durch den ganzen Körper und gleicht einer ergreifenden Ausstrahlung, die andere Wesen anspricht. Derart erkennen sich die Ferkel selbst in ihrer Mutter als ihre Kinder wieder, als Leben, das eins mit ihrem Leben ist. Voller Entsetzen wenden sie sich von der toten Mutter ab, nachdem sie sich der Abwesenheit ihrer Lebenskraft (qi) bewusst geworden sind.
63 Plotin: »Die geistige Schönheit«, S. 35. 64 Siehe Aristoteles: Metaphysik, 1033 b. 65 Siehe Chen Gu-ying: Zhuang zi, S. 172. Vgl. Schuhmacher: Zhuangzi, S. 113. 66 Vgl. ebd. 67 Ebd. 68 An einer anderen Stelle in Zhuang zi findet sich eine interessante Beschreibung der Genese der »Form«: Sie existierte am Anfang noch nicht. Das, was noch keine Form aufwies, wurde »differenziert« (fen 分), aber nicht »getrennt« (jian 間). Die Dinge sind durch ein vorübergehendes Anhalten der Bewegung entstanden. Und weil die entstandenen Dinge verschiedene »Figurationen« (li 理) aufweisen, werden sie als »Formen« (xing 形) bezeichnet. (Siehe Chen Gu-ying: Zhuang zi, S. 335-338. Vgl. Schuhmacher: Zhuangzi, S. 182-183.) Zum Begriff des »li 理« siehe Obert: Welt als Bild, S. 112-113 (Fußnote 66).
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Erinnern wir uns an das zu Beginn dieses Kapitels erwähnte erste Gesetz, das Xie He 謝赫 für die Figurendarstellung aufgestellt hat: »[Schaffe] die lebendige Bewegung durch die nachhallende Lebenskraft«69. Es ist in diesem Zusammenhang kein Zufall, dass er die Verwirklichung der »nachhallenden Lebenskraft« (qi yun 氣韻) der Wiedergabe der Form (xing) vorgezogen hat. Xie He neigt sogar zu der Ansicht, dass die Qualität eines gemalten Bildes, zu der die »Lebenskraft« (qi) beigetragen hat, keineswegs durch die unvollkommene Wiedergabe der Form beeinträchtigt werde: Als er die Kunst des Wei Xie 衛協 bewertet, weist er darauf hin, dass die körperliche Form bei Wei Xie nicht immer in wunderbarer Vollendung ausgeführt sei. Doch sei es dem Künstler gelungen, so Xie He, die »erhabene Lebenskraft« (zhuang qi 壯氣) in einem so beachtlichen Maße einzufangen, dass er alle vorangehenden Meister übertroffen habe und dass seine Kunst lange Zeit unerreicht geblieben sei. 70 Xie He stellt daher fest, dass die »rudimentäre« Malerei des Altertums erst mit Wei Xie ihre eigentliche Verfeinerung erfahren habe.71 Wie bereits ausgeführt, hat Xie Hes Aufwertung der »nachhallenden Lebenskraft« (qi yun) einen tiefgreifenden Einfluss auf die chinesische Ästhetik ausgeübt. Ein Blick in die kunstkritischen und ästhetischen Schriften würde schnell zeigen, dass die essenzielle Bedeutung der »Lebenskraft« beinahe von allen späteren Gelehrten anerkannt und immer wieder hervorgehoben wurde. In seinen bekannten Aufzeichnungen zu berühmten Malern aus allen Epochen (Li dai ming hua ji 歷代名晝記), also dem ersten historiografischen Werk über die Malerei in China, gibt Zhang Yan-yuan 張彥遠 (Mitte des 9. Jahrhunderts) beispielsweise die von Xie He aufgestellten Gesetze genau wieder. 72 Das Erstaunliche bei Zhang Yan-yuan ist, dass er die Bedeutung der Wiedergabe der »Lebenskraft« nicht nur bekräftigt, sondern auch das Verhältnis der »nachhallenden Lebenskraft« (qi yun 氣韻) zur »Ähnlichkeit der [körperlichen] Form« (xing si 形似) behandelt. Er kritisiert an den Malern seiner Zeit, dass sie zwar mehr oder weniger die »Ähnlichkeit der Form« zu erlangen vermöchten, dass es ihren Darstellungen jedoch an der »nachhallenden Lebenskraft« mangele. Diese Maler, so beklagt Zhang Yan-yuan, seien nicht mit dem folgenden Grundsatz vertraut: »Wenn man mittels der ›nachhallenden Lebenskraft‹ nach
69 Xie He: »Gu hua pin lu«, S. 355. 70 Ebd. Vgl. Obert: Welt als Bild, S. 455. 71 Ebd. 72 Zhang Yan-yuan 張彥遠: Li dai ming hua ji 歷代名晝記, Zhejiang 2016, S. 16.
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der Darstellung strebt, dann ist die ›Ähnlichkeit der Form‹ bereits darin [zu finden].«73 Die Meinung, dass die »nachhallende Lebenskraft« Vorrang gegenüber der »Ähnlichkeit der Form« genieße, vertritt auch Chen Zao 陳造 (1133-1203), wenn er ausführt, dass eine in all ihren äußeren Details nachgeahmte Figur nicht weit entfernt von einer »hölzernen Puppe« sei.74 Chen Zao liefert seinen Lesern darüber hinaus ganz konkrete Richtlinien, wie man eine Figur darzustellen habe: Der Maler solle die zu porträtierende Person, die elegant gekleidet – mit ernstem Gesicht und angehaltenem Atem – vor ihm sitzt, nicht einfach bloß abmalen. Vielmehr solle der Maler sein Augenmerk darauf richten, wie die Person auf eine dringliche Situation oder ein deprimierendes Erlebnis reagiert, wie sie mit Leuten umgeht, wie sie ihr Gesicht in Falten legt oder sich in freudiger Stimmung entspannt. Des Weiteren solle er die flüchtigen Momente erhaschen, in denen die zu malende Person gelassen oder aufgeregt, selbstherrlich oder behutsam sei.75 Auf diese Weise werde dem Maler, so Chen Zao, ein »guter Gedanke« (jia si 佳思), also eine Eingebung, kommen.76 Ja, er werde den Pinsel so rasch und geschickt führen, »wie ein Hase in die Höhe springt und ein Sperber herabschießt« – und den höchsten künstlerischen Ausdruck der »Lebenskraft« (qi) in seinem Bild erreichen. 77 Es liegt auf der Hand, dass die Malerei für Chen Zao nicht in der bloßen Nachahmung des Äußeren besteht. Dennoch gilt zu berücksichtigen, dass die Verwirklichung der »Lebenskraft« (qi) für ihn auch nicht einfach bedeutet, einer gemalten Figur eine gewisse »Lebendigkeit« zu verleihen. Chen Zao rät dem Maler erstaunlicherweise dazu, über die vor ihm posierende Person hinwegzusehen und stattdessen ihre Handlungen und seelischen Erregungen in verschiedenen Situationen – lange bevor er überhaupt den Pinsel zur Hand nimmt und zu malen anfängt – genau zu studieren. Seiner Ansicht nach zielt die Porträtmalerei gar nicht auf die Darstellung der körperlichen Gestalt einer Person. Vielmehr geht es darum – und dies ist eben auch das Endziel der Verwirklichung der »Lebenskraft« (qi) –, die wahre Innerlichkeit, die durch alle Taten und Gemütsbewegungen des zu Porträtierenden hindurchscheint, im
73 Ebd. 74 Chen Zao 陳造: »Jiang hu chang weng ji lun xie shen 江湖長翁集論寫神«, in: Yu Jian-hua 俞劍華 [Hrsg.]: Zhong guo hua lun lei bian 中國畫論類編, Shanghai 1986, S. 471. Vgl. Obert: Welt als Bild, S. 169. 75 Chen Zao: »Jiang hu chang weng ji«, S. 471. 76 Ebd. 77 Ebd.
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Bild auf anschauliche und lebendige Weise zum Vorschein zu bringen. Chen Zao ist sich darüber im Klaren, dass diese Innerlichkeit nicht in der Selbstinszenierung des zu Porträtierenden zu suchen ist, sondern in den Augenblicken des realen, flüchtigen und instabilen Lebens. Damit stellt sich jedoch die Frage, wie diese Innerlichkeit überhaupt im Bild wiedergegeben werden kann. Su Shi 蘇軾 (1037-1101), ein namhafter Politiker, Gelehrter, Künstler und Ästhet der Song-Dynastie (960-1279), hat sich in seinem Text Aufzeichnungen zur Weitergabe des Geistes (Chuan shen ji 傳神記) mit dieser malerischen Frage befasst.78 Er erzählt, dass er einmal einen Maler namens Wei Zhen 惟真 einen Herzog malen gesehen habe: Zu Beginn sei das Bild dem Herzog nicht sehr ähnlich gewesen, doch nachdem ihn der Maler eines Tages besucht habe und daraufhin in sein Atelier zurückgekehrt sei, habe er voller Freude gesagt: »Ich habe es bekommen.«79 Er fügte dem Porträt über den Augenbrauen »drei verschwommen sichtbare Striche« hinzu, so dass beim Betrachter der Eindruck entstand, das Gesicht würde nach unten schauen, während sich der Blick mit gehobenen Augenbrauen nach oben richtet.80 Danach sei das Bild, so schreibt Su Shi, dem Herzog »sehr ähnlich« gewesen.81 Die Ähnlichkeit zwischen dem zu Malenden und dem Gemalten hängt in diesem Beispiel nicht von der exakten Wiedergabe der körperlichen Gestalt ab. Es sind vielmehr drei über den Augenbrauen nachträglich hinzugefügte, kaum bemerkbare Striche, die den wesentlichen Beitrag zur Ähnlichkeit des Bildes leisten und die vollendete Wiedergabe der gemalten Person garantieren. In seinem Text bezieht sich Su Shi auf Gu Kai-zhi 顧愷之 (346-407), einen berühmten Maler aus der Chin-Dynastie (265-420), und bemerkt, dass die Wiedergabe der Innerlichkeit einer Person auch durch das Setzen von »Pupillen« erlangt werden könne.82 Über Gu Kai-zhi ist eine Anekdote überliefert, die Su Shi gewiss kannte: Wenn Gu Kai-zhi eine Person malte, konnte es bisweilen passieren, dass er die Pupillen in Form zweier Punkte jahrelang nicht in die Augen der gemalten Figur setzte. 83 Auf die Frage, warum er so lange
78 Su Shi 蘇軾: »Chuan shen ji 傳神記«, in: Yu Jian-hua 俞劍華 [Hrsg.]: Zhong guo hua lun lei bian 中國畫論類編, Shanghai 1986, S. 454-455, hier S. 454. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Siehe ebd. 83 Yang Yong 楊勇: Shi shuo xin yu xiao jian 世說新語校箋, Taipeh 2000, S. 646.
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zögere, antwortete Gu Kai-zhi: »Die Anmut oder Hässlichkeit der vier Glieder hat im Grunde nichts mit diesen subtilen Stellen zu tun, aber die Weitergabe des Geistes und die Darstellung [der Person] ist gerade in dem da gelegen.« 84 Die Pupillen, diese zwei winzigen Punkte, offenbaren im fertigen Porträt – unabhängig von der körperlichen Form – die Innerlichkeit einer Person. Im Hinblick auf Gu Kai-zhis langes Zögern erklärt Su Shi, dass die Augen einer Figur am schwierigsten zu malen sind. Aus diesen Beispielen folgert Su Shi, dass die Innerlichkeit bei verschiedenen Personen jeweils an verschiedenen Stellen des Gesichts, von den Augen und Augenbrauen über die Nase bis hin zur Wange, auf pointierte Weise zum Ausdruck kommt.85 Die Aufgabe des Malers bestehe gerade darin, diese entscheidende Stelle zu entdecken und die Innerlichkeit im Bild wirksam wiederzugeben. Su Shi vergleicht das Malen einer Person auch mit der Imitation des Verhaltens eines längst verstorbenen Würdenträgers: Wenn die gelungene Nachahmung den Eindruck erweckt, als ob der Tote wiederauferstanden wäre, so liegt dies nicht daran, weil uns sein »ganzer Körper« als solcher wieder in Erscheinung treten würde, sondern weil, wie Su Shi schreibt, »diejenige Stelle, an der sich seine innere Haltung (yi si 意思) befindet, erlangt« worden sei. 86 Su Shi stellt klar, dass nicht die äußere Gestalt die Identität der gemalten Figur ausmacht, sondern jene eine Stelle, die zwar lediglich in einem kleinen Teil oder einem unscheinbaren Detail des dargestellten Körpers besteht, aber so durchschlagend ist, dass sie sich über sich selbst hinaus zu entfalten, zu zerstreuen und auf die gesamte Darstellung auszuwirken vermag. Gerade an dieser Stelle zeigt sich die Innerlichkeit einer Person und kehrt sich gleichsam nach außen. Diese eine Stelle beseelt das gesamte Bild und verleiht der gemalten Figur ihre eigentümliche Lebendigkeit. Auch die chinesischen Kunsttheoretiker fordern zwar den Maler gelegentlich auf, das Skelett zu beachten und darüber hinaus zu berücksichtigen, ob die Körperform der zu malenden Person »knochig« oder eher »fleischig« sei. Doch geht es ihnen vor allem darum, dass die jeder Person individuell zugehörige Innerlichkeit im gemalten Bild möglichst anschaulich zum Vorschein kommt. Diese tiefe Besorgnis zeigt sich zum Beispiel ganz deutlich bei Chen
84 Ebd. Vgl. dazu Obert: Welt als Bild, S. 132; Jullien: Vom Wesen des Nackten, S. 123. 85 Siehe Su Shi: »Chuan shen ji«, S. 454. 86 Ebd.
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Yu 陳郁, wenn er gegen 1230 schreibt, das, was wirklich schwierig darzustellen sei, sei nicht die körperliche »Form« (xing 形), sondern die »innere Gesinnung« (xin 心).87 Er nennt eine Reihe von historischen Beispielen für sowohl edle als auch gemeine Menschen, die dieselben physischen Merkmale aufgewiesen hätten, und fragt sich daraufhin, wie sich die Edlen von den Gemeinen unterscheiden ließen, wenn ein Maler nur die körperliche Erscheinung der Personen wiedergäbe, ohne ihren »Geist« (shen 神) und ihre »innere Gesinnung« (xin 心) darzustellen: »Was nützt uns die [wiedergegebene] körperliche Form, auch wenn sie [der Person] ähnlich ist?«88 Für die westlichen Theoretiker des klassischen Zeitalters wie Alberti oder Vasari muss sich der Maler auf seine anatomischen Kenntnisse des Inneren stützen, das die äußere Gestalt von innen her morphologisch bestimmt: Es geht also darum »einen Körper so […] zu malen, dass alles, was man gemalt sieht, plastisch und dem gegebenen Körper vollkommen ähnlich erscheint.«89 Dagegen wird das Malen einer Figur in der chinesischen Kunsttheorie als ein Akt verstanden, in dem nicht der vorhandene Körper im Bild eingefangen wird, sondern das Innere, welches diese sich vorübergehend konkretisierende Form spirituell durchdringt und über sie hinausweist. Die chinesische Porträtmalerei strebt in diesem Sinne nicht danach, die Form des Körpers als solche im Bild zu verdoppeln. Die Ähnlichkeit ist hier von zweitrangiger Bedeutung. Das Bild soll dem Betrachter das Innere der zu malenden Person so zeigen, als würde er ihr im wirklichen Leben begegnen.90 Wenn in der chinesischen Kunsttheorie die Weitergabe dieses Inneren durch das Bild immer wieder hervorgehoben wird, so spiegelt dies in der Tat auch eine spezifische Erwartung bzw. Auffassung vom Bild wider. Zum Abschluss des vorliegenden Kapitels werde ich diese mit dem Konzept des qi eng verbundene Auffassung der Wirksamkeit des Bildes in groben Umrissen nachzeichnen.
87 Chen Yu 陳郁: »Cang yi hua yu 藏一畫腴«, in: Yu Jian-hua 俞劍華 [Hrsg.]: Zhong guo hua lun lei bian 中國畫論類編, Shanghai 1986, S. 473-474, hier S. 473. 88 Ebd. 89 Alberti: De Pictura, S. 293. 90 Vgl. dazu Obert: Welt als Bild, S. 133-135.
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Exkurs: Das Bild, welches das qi in sich behält Vergegenwärtigen wir uns noch einmal das erste Gesetz, das Xie He 謝赫 dem Maler vorgeschrieben hat: »[Schaffe] die lebendige Bewegung durch die nachhallende Lebenskraft (qi yun sheng dong 氣韻生動)«91 Es fällt auf, dass Xie He dabei das Wort ›yun 韻‹ verwendet, also ein Wort, das ursprünglich den Wortreim, den Gleichklang der Töne bezeichnet und daher vielmehr von der Dichtung als von der Malerei abstammt. Mit dem ›yun 韻‹ wird gemeint, dass die einzelnen Töne von Wörtern oder Silben gleich bzw. ähnlich klingen, so dass die Töne – um Liu Xie 劉勰, einen Zeitgenossen von Xie He, zu zitieren – »aufeinander ansprechen« (ying 應).92 Auf diese Weise dient das »yun« in der Dichtung dazu, eine besondere »Resonanz« zu produzieren. Die Vorsilbe ›re-‹ der ›Resonanz‹ ist dabei bezeichnend, denn sie deutet die Eigentümlichkeit dieser Wirkung an: Wenn ein gleich klingender Ton im Fortlauf des Gedichts in einem gewissen Takt ständig auftaucht, so erscheint und verschwindet dieser Ton nicht einfach. Er wird auch nicht durch die folgenden Töne verdrängt oder zergeht in den an ihm vorbeirauschenden Wogen der anderen Töne. Im Gegenteil: Durch die ständige Wiederkehr des Gleichen, also die erinnernde Wiederholung, verwandelt das »jun 韻« ein Gedicht in einen akustischen Zeit-Raum der Resonanz. Warum hat Xie He das Akustische auf das Bildliche übertragen? Oder anders gefragt: Warum kann ein Bild an das akustische Phänomen der »Resonanz« erinnern? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir auf das Konzept der »korrespondierenden Zugehörigkeit« (lei 類),93 das im chinesischen Denken eine große Rolle spielt, eingehen. In den Erläuterungen zum ersten Hexagramm »qian 乾« im Buch der Wandlungen (Yi jing 易經), einem der ältesten chinesischen Texte, der 64 Hexagramme und ausführlich kommentierte Orakelsprüche enthält und seit jeher als Orakel befragt wurde,94 findet sich eine bekannte Stelle, die das Konzept des » lei 類« behandelt:
91 Xie He: »Gu hua pin lu«, S. 355. 92 Liu Xie 劉勰; Fan Wen-lan 范文瀾 [Hrsg.]: Wen xin diao long zhu 文心雕龍注, Peking 1962, S. 553. 93 Ich übernehme Oberts deutsche Übersetzung des Wortes ›lei 類‹. Siehe Obert: Welt als Bild, S. 150. 94 Zum Buch der Wandlungen (Yi jing 易經) siehe Schilling, Dennis [Hrsg. u. Übers.]: Yijing: Das Buch der Wandlungen, Frankfurt a. M. [u.a.] 2009, S. 253-364.
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»Gleiche Klänge sprechen aufeinander an. Gleiche Atem-Kräfte (qi 氣) suchen sich gegenseitig auf. Wasser fließt zum Feuchten. Feuer geht zum Trockenen hin. Wolken folgen dem Drachen nach. Wind folgt dem Tiger nach. Wird der Berufene tätig, sehen alle Lebewesen hin. Was seinen Ursprung im Himmel hat, neigt sich dem Hohen zu. Was seinen Ursprung in der Erde hat, neigt sich dem Niedrigen zu. So folgt alles dem ihm ›korrespondierend Zugehörigen‹ (lei 類).«95
In den Annalen des Herrn Lü (Lü shi chun qiu 呂氏春秋) aus dem dritten Jahrhundert v. Chr. finden wir eine Passage, in der das Konzept des »lei« ebenfalls beschrieben wird: »Sind [die Dinge] der ›korrespondierenden Zugehörigkeit‹ (lei 類) nach in Gemeinschaft, dann rufen sie einander herbei. Gleichen sich die Atem-Kräfte (qi 氣), dann vereinigen sie sich. Stehen die Klänge einander nahe, dann sprechen sie aufeinander an. Wenn man den Ton gong 宮 anschlägt, so schwingen alle auf den Ton gong 宮 [gestimmten Instrumente] mit. Wenn man den Ton jue 角 anschlägt, so schwingen alle auf den Ton jue 角 [gestimmten Instrumente] mit. Wenn man Wasser auf ebener Erde ausgießt, so fließt das Wasser den feuchten [Stellen] zu. Wenn man [in der Mitte] des gleichmäßig ausgebreiteten Reisigs ein Feuer anlegt, so ergreift das Feuer das trockene. Die Bergwolken [haben Ähnlichkeit mit] Gräsern und Halmen, die Wasserwolken [haben Ähnlichkeit mit] Fischschuppen, die Dürrewolken [haben Ähnlichkeit mit] Rauch und Flammen, die Regenwolken [haben Ähnlichkeit mit] Wasserwogen. Sie alle ähneln (lei 類) dem, woraus sie hervorgegangen sind, um es den Menschen anzuzeigen. So führt man den Regen mit dem Drachen herbei und vertreibt den Schatten über den Körper.«96
In der modernen chinesischen Sprache wird das Wort ›lei 類‹ als ›Kategorie‹, ›Klasse‹, ›Art‹ verstanden. Wird das Wort in dem Ausdruck ›fen lei 分類‹ als Verb gebraucht, bezeichnet es den Akt, bestimmte verstreute Dinge und Eigenschaften einer Kategorie zuzuordnen. Wie jedoch die oben zitierten Texte zeigen, geht es beim »lei« um weit mehr als eine Anordnung der Dinge gemäß
95 Gao Heng 高亨 [Hrsg.]: Zhou yi da chuan jin zhu 周易大傳今注, Shandong 1979, S. 65-66. Vgl. die deutsche Übersetzung in: Obert: Welt als Bild, S. 150 und Schilling: Yijing, S. 15. 96 Lü Bu-wei 呂不韋; Chen Qi-you 陳奇猷 [Hrsg.]: Lü shi chun qiu xin xiao shi 呂 氏春秋新校釋, Shanghai 2002, S. 683. Vgl. die englische Übersetzung in: Lü, Buwei: The Annals of Lü Buwei: A Complete Translation and Study by John Knob lock and Jeffrey Riegel, Stanford, Calif. 2000, S. 283-284.
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ihrer Ähnlichkeit oder ihrer Analogien. Alle Dinge, die unter eine gleiche Kategorie fallen, folgen einander nach, sprechen aufeinander an, suchen sich gegenseitig auf, neigen sich einander zu, nähern sich einander an und vereinigen sich. Mehr noch: Sie sind imstande, einander herbei- und hervorzurufen. Die auf diese Weise aufgefasste »Kategorie«, die »korrespondierende Zugehörigkeit« (lei 類), beruht weniger auf den Eigenschaften der Dinge, als vielmehr auf den wirksamen Wechselwirkungen zwischen ihnen. Die Dinge werden nicht als einander zugehörig angesehen, weil sie ähnlich erscheinen, sondern weil sie miteinander agierend und aufeinander reagierend in eine inter-aktive, korrespondierende Beziehung treten. 97 Aus kulturgeschichtlicher Perspektive lässt sich annehmen, dass eine solche Vorstellung von der »korrespondierenden Zusammengehörigkeit« (lei) der Dinge auf das akustische Phänomen der »sympathetischen Resonanz« zurückzuführen ist: In China war früh bekannt, dass ein in Vibration versetztes Objekt imstande ist, einem anderen, scheinbar beziehungslosen Objekt, das in derselben Tonhöhe erklingt, über die räumliche Entfernung hinweg spontan zu antworten.98 In Zhuang Zi lesen wir beispielsweise: »Die Dinge, die zu derselben Kategorie (lei 類) gehören, folgen einander. Die gleichen Klänge sprechen aufeinander an (ying 應). Das ist in der Tat die Große Ordnung des Himmels.«99 An einer anderen Stelle erzählt Zhuang Zi, dass ein Mann eine Zither in der Eingangshalle und eine andere in den inneren Gemächern eines Hauses aufstellte. Wenn er nun einen bestimmten Ton auf der einen Zither anschlug, so schwang dieser Ton auf der anderen mit.100 Dieses Prinzip der »sympathetischen Resonanz« wurde, worauf Joseph Needham hinweist, im vormodernen China schon früh bei der Stimmung von Musikinstrumenten verwendet: Instrumente wurden auf ihre Tonhöhe geprüft, indem man ein bereits gestimmtes Instrument anschlug und beobachtete, ob sie von selbst mitklangen.101 Auch
97 Zu dem Begriff »lei 類« siehe auch Munakata, Kiyohiko: »Concepts of ›Lei‹ and ›Kan-lei‹ in Early Chinese Art Theory«, in: Bush, Susan; Murck, Christin [Hrsg.]: Theories of the Arts in China, Princeton, NJ 1983, S. 105-131; Yu, Pauline: The Reading of Imagery in the Chinese Poetic Tradition, Princeton, NJ 1987, S. 41-43. 98 Vgl. auch DeWoskin, Kenneth: »Early Chinese Music and the Origins of Aesthetic Terminology«, in: Bush, Susan; Murck, Christin [Hrsg.]: Theories of the Arts in China, S. 199-200. 99 Chen Gu-ying: Zhuang zi, S. 937. Vgl. Schuhmacher: Zhuangzi, S. 430. 100 Siehe Chen Gu-ying: Zhuang zi, S. 736. Vgl. Schuhmacher: Zhuangzi, S. 339. 101 Needham, Joseph: Science and Civilization in China, Vol. 4: Physics and Physical Terminology, Part I: Physics, Cambridge 2004, S. 185-186.
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die ästhetische Wirkung, die die Musik auf den Hörer ausübt, wird im chinesischen Denken gemäß diesem Prinzip der »sympathetischen Resonanz« vorgestellt. Im Buch der Riten (Li ji 禮記) heißt es etwa: »Jedes Mal, wenn ungezügelte Klänge den Menschen anrühren (kan 感), spricht die Atem-Kraft (qi 氣) in gegenläufiger [Richtung von innen her] auf sie an (ying 應). Sofern sich diese Atem-Kraft (qi) in gegenläufiger [Richtung] zur Erscheinung ausbildet, ergibt sich daraus dekadente Musik. Wenn aufrechte Klänge den Menschen anrühren (kan), spricht die Atem-Kraft (qi) in naturgemäßer [Richtung von innen her] auf sie an (ying). Sofern sich diese Atem-Kraft in naturgemäßer [Richtung] zur Erscheinung ausbildet, ergibt sich daraus stimmige Musik. Die ertönenden [Klänge] und erwidernde [Atem-Kraft] sprechen aufeinander an. Ob trotzig oder aufrecht, gehören sie alle zu ihrer jeweiligen Kategorie. Und es ist eben die Ordnung aller Dinge, dass sie anhand ihrer jeweiligen ›korrespondierenden Zugehörigkeit‹ (lei) aufeinander einwirken.«102
Diese Passage macht klar: Die Musik wird nicht nur vernommen, sondern sie rührt den Menschen an. Und sobald die Musik den Menschen anrührt, beginnt das innere qi des Hörers, die Töne und Schwingungen unmittelbar zu erwidern, indem er sich nach ihrer »Art« (lei) bewegt. Vermittels des inneren qi 氣 bringt die Musik im Hörenden eine Resonanz des Gleichartigen hervor, so wie eine angeschlagene Saite ein anderes Instrument mitklingen lässt. Kommen wir noch einmal auf die Porträtmalerei zurück. Ihr liegt eine ähnliche Vorstellung zugrunde. Das innere qi des Betrachters soll durch den Anblick des Bildes in Schwingung versetzt werden. Wang Chong 王充 (27-97), ein Gelehrter aus der Han-Dynastie, liefert uns in seiner Abwägung der Argumente (Lun heng 論衡) ein frühes Beispiel für das chinesische Bilddenken: Bei der Erläuterung der Gründe dafür, warum ein Sohn vor dem Bildnis seiner verstorbenen Mutter Tränen vergießt, betont er, dass ihn nicht die wirkliche Person, sondern deren Bild dazu veranlasst.103 Seine Atem-Energie (qi 氣) werde in dem Moment, in dem er die Erscheinung erblickt, von der Kraft (qi 氣) des Bildes angerührt (kan 感). Dass das Bild keine tatsächliche Anwesenheit der Mutter realisiert, ist in Wang Chongs Augen kein Mangel, denn allein über das qi 氣 vermag das Bild den Sohn zu bewegen.
102 Zheng Xuan 鄭玄; Kong Ying-da 孔穎達: Li ji zheng yi 禮記正義, Beijing 1999, S. 1108-1109. 103 Huang Hui 黃暉: Lun heng xiao shi 論衡校釋, Beijing 1990, S. 701.
124 | Körper bilden
Als ein Gelehrter, der berühmt für seine kritische Einstellung gegenüber allen Formen des Aberglaubens ist, hat sich Wang Chong in seinem Werk jedoch nicht nur mit dem Porträt befasst, sondern erstaunlicherweise auch mit anderen »zweifelhaften« magischen Bildern: mit Drachendarstellungen, die Regen herbeiführen sollen, 104 Traumbildern, die angeblich Glück oder Unheil verkünden,105 und auch mit hölzernen Skulpturen, die dem Volksglauben zufolge vor Unheil schützen.106 Er weist darauf hin, dass diese Bilder an sich keine dinghafte Wirklichkeit sind und daher als »unecht« (wei 偽) bezeichnet werden müssen. Doch wirken diese Bilder, so Wang Chong, von Anfang an auch nicht durch ihre reale Dinglichkeit (shi 實), sondern durch ihre Erscheinung (xiang 像). Zwischen den angeblich magischen Bildern und dem oben erwähnten mütterlichen Porträt erblickt Wang Chong hinsichtlich ihrer Funktionsweise keinen grundsätzlichen Unterschied. Das Bild eines Drachens, das den Regen herbeiführen soll, ist für ihn durchaus vergleichbar mit einem Porträt, das eine leibliche Reaktion beim Betrachter auslöst. Der Grund dafür liegt darin, dass allen diesen Bildern das qi innewohnt. Über das qi, das den bildhaften Qualitäten immanent ist, hat das Bild an der Wirklichkeit teil. Das qi ermöglicht dem Bild darüber hinaus, nicht nur mit seinem Betrachter, sondern auch mit anderen Dingen, die ihrerseits von dem qi durchdrungen sind, in eine lebendige Beziehung zu treten. Die Wirkung, die das Bild erzeugt, wird somit als ein Ereignis verstanden, bei dem das den Dingen bzw. Lebewesen innewohnende qi durch das qi des Bildes »angerührt und in Bewegung versetzt« (gan dong 感動) wird.107 Was bedeutet es jedoch eigentlich, die Bildwirkung als »Anrührung des qi« zu begreifen? Stellen wir zunächst fest, dass das Bild nicht einfach als Stellvertreter dessen, was es darstellt, betrachtet wird. Mit anderen Worten: Das Bild ist kein Abbild oder Double. Es dient nicht als imaginäre Projektionsfläche, auf der die äußere Realität bildlich wiedergegeben wird.108 Das Bild wirkt auch nicht, indem es dem Betrachter die Gegenwart des Abwesenden
104 Siehe ebd. S. 695-696; 698-699. 105 Siehe ebd. S. 699. 106 Siehe ebd. 107 Siehe ebd. S. 693-706. 108 Vgl. Boehm, Gottfried: »Die Wiederkehr der Bilder«, in: ders. [Hrsg.]: Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11-38, hier S. 18; ders.: »Repräsentation – Präsentation – Präsenz: Auf den Spuren des homo pictor«, in: ders. [Hrsg.]: Homo Pictor, München [u.a.] 2001, S. 3-13, hier S. 4-10.
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vortäuscht. Das Bild wird vielmehr als etwas aufgefasst, das etwas darbietet, hervorbringt, in Gang setzt, zutage fördert, offenbart. Dies ist seine Wirk-lichkeit. Anstatt etwas Gegebenes möglichst getreu oder gar ununterscheidbar zu wiederholen, kommt ihm also die Aufgabe zu, sich möglichst wirksam in die Welt einzufügen. Vor diesem Hintergrund wird die »nachhallende Lebenskraft« (qi jun), von der Xie He 謝赫 spricht, verständlich. Er denkt dabei wohl auch an das Potenzial des Bildes, eine reale Wirkung auszuüben und im Betrachter affektive Resonanzen zu erzeugen. Dabei müssen wir Folgendes berücksichtigen: Für Xie He wie für viele andere Gelehrte nach ihm soll ein Maler die »Lebenskraft« (qi) nicht nur intensivieren, sondern ihr eine angemessene Art verleihen. Dies betrifft vor allem die Darstellung der Figuren. Es wurde nämlich angenommen, dass die verschiedenen Arten der »Lebenskraft« (qi), die in der Figurenmalerei zur Geltung kommen, den Betrachter auf verschiedene Arten beeinflussen, ja sogar »erziehen« können.109 Vor diesem Hintergrund ist das Bild trotz seiner genuinen Scheinhaftigkeit nicht nur ein Mittel, welches das Dargestellte vermittelt, sondern ein aktiver Agent, der sich produktiv in die Lebenswelt verwickelt.
109 Diese Ansicht findet sich beispielsweise bei Zhang Yan-yuan. In seinen Aufzeichnungen zu berühmten Malern aus allen Epochen werden die verschiedenen positiven Einflüsse, die durch unterschiedliche Arten der Figurendarstellung ausgelöst werden, ausführlich erörtert. (Siehe Zhang Yan-yuan: Li dai ming hua ji, S. 2-3.)
3
Das Bild der Eingeweide
Während der Regierungszeit des Kaisers Hui-zong 徽宗 (1100 bis 1126) der Song-Dynastie wurde der Hofarzt Yang Jie 楊介 (ca. 12. Jahrhundert) vom Gouverneur Li Yi-sing 李夷行 beauftragt, sich zu einer Hinrichtungsstätte zu begeben und mithilfe eines Hofmalers eine Serie von Bildern anzufertigen, die das Innere des menschlichen Körpers richtig darstellen sollten.1 Es ist historisch evident, dass diese von Yang Jie produzierten Bilder, die auch »die Wahrheit bewahrenden Bilder« (Cun zhen tu 存真圖) heißen, seitdem einen beträchtlichen Einfluss auf die Darstellung des Körperinneren in der chinesischen Medizin ausgeübt haben. Trotz aller Modifikationen, die an Yang Jies Bildern immer wieder vorgenommen wurden, blieben sie auch in der Mingund Qing-Dynastie, also über einen Zeitraum von mehr als siebenhundert Jahren, das stilistische und ikonografische Vorbild für alle Darstellungen des Körperinneren.2 Die Entstehung dieser Serie gilt daher als ein besonderer Moment in der Geschichte der chinesischen Medizin. Sie wird von den Historikern für gewöhnlich als ein Meilenstein gefeiert. Yang Jie habe nicht nur erstmals in
1
Siehe Needham, Joseph: Science and Civilisation in China. Vol. 5, Chemistry and Chemical Technology. Part 5, Spagyrical Discovery and Invention: Physiological Alchemy, Cambridge 1983, S. 111-113; Jin Shi-ying 靳士英; Jin Pu 靳樸: »›Cun zhen tu‹ yu ›Cun zhen huan zhong tu‹ kao ›存真圖‹ 與 ›存真環中圖‹ 考«, in: Zi ran ke xue shi yan jiu 自然科學史研究[Studies in the History of Natural Sciences] 15.3 (1996), S. 272-284; Jin Shi-ying 靳士英: »Wu zang tu kao 五臟圖考«, in: Zhong hua yi shi za zhi 中華醫史雜誌 [Chinese Journal of Medical History] 24.2 (1994), S. 69-73.
2
Siehe Jin Shi-ying: »›Cun zhen tu‹ yu ›Cun zhen huan zhong tu‹ kao«, S. 280. Vgl. dazu die von Huang Long-xiang 黃龍祥 zusammengestellten Bilder des Körperinneren in: Zhong guo zhen jiu shi tu jian 中國針灸史圖鑑 [An Illustrated Book on the Historical Development of Chinese Acupuncture], Qingdao 2003, S. 6-9.
128 | Körper bilden
Abbildung 27-28: Vorder- und Rückansicht der Eingeweide von Yan-luo-zi, 1445.
medizinisch-wissenschaftlicher Absicht Bilder des Körperinneren produziert, sondern auch einige lange tradierte Irrtümer behoben.3 Bei einem genaueren Blick gibt uns die Herstellungsweise dieser Bilder allerdings einige Rätsel auf: Obwohl auf dem Hinrichtungsgrund sicherlich viele Leichen zu finden gewesen wären, die dem Hofmaler als Modell hätten dienen können, ließ Yang Jie den Maler keine Darstellungen nach der Natur anfertigen. Stattdessen hat Yang Jie die Bilder von Yan-luo-zi 烟蘿子 (Abb. 27-28), einem Daoisten aus dem 10. Jahrhundert, als Ausgangspunkt verwendet.4 Dabei hat er lediglich die Fehler, auf die er anhand seiner eigenen Untersuchungen stieß, etwa die falsche Plazierung von Leber und Milz,5 in den bereits vorliegenden Bildern korrigieren lassen.
3
Siehe Jin Shi-ying: »›Cun zhen tu‹ yu ›Cun zhen huan zhong tu‹ kao«, S. 280.
4
Zu Yan-luo-zi 烟蘿子 und seinen Abbildungen siehe Zhu Ya-ping 祝亞平: »Zhong guo zui zao de ren ti jie pou tu: yan luo zi ›nei jing tu‹中國最早的人體解剖圖: 煙 蘿子›內境圖‹«, in: Zi ran ke xue shi yan jiu 自然科學史研究[Studies in the History of Natural Sciences] 13.2 (1992), S. 61-65.
5
Vgl. Huang, Shih-shan Susan: Picturing the True Form: Daoist Visual Culture in Traditional China, Cambridge 2012, S. 74.
Das Bild der Eingeweide | 129
Abbildung 29-30: Kopie der Bilder von Yang Jie in Xuan men mai jue nei zhao tu, Yuan Dynastie.
Wer sich heute Yang Jies Bilder (Abb. 29-30)6 ansieht – Bilder also, von denen es hieß, dass sie die »Wahrheit« des Körpers enthüllen würden –, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie wenn nicht unterentwickelt, so doch äußerst rudimentär und skizzenhaft sind. Wenn wir jedoch die Malereien betrachten, die zur Zeit des Hui-zong am kaiserlichen Hof entstanden sind, so erkennen wir, dass der Hofmaler, der Yang Jie zur Hinrichtungsstätte begleitete, keineswegs unfähig war, feine Darstellungen, geschweige denn neue Bilder herzustellen. Es liegt auf der Hand, dass der Grund für Yang Jies Entscheidung, Yan-luo-zis Bilder zu verwenden, nicht in einer künstlerischen Unfähigkeit liegt. Es stellt sich daher die Frage: Warum konnte sich Yang Jie mit solchen Bildern zufriedengeben? Und warum haben die chinesischen Mediziner den Stil dieser Darstellungen über einen so langen Zeitraum hinweg kaum in Zweifel gezogen? Weil sie – im Sinne von Ludwik Fleck – darauf beharrten, das Körperinnere so zu sehen? Verkörpert also der kaum veränderte Stil dieser
6
Die originalen Abbildungen von Yang Jie sind nicht überliefert. Sie wurden jedoch in Xuan men mai jue nei zhao tu 玄門脉訣內照圖 (1273) reproduziert. Siehe Jin Shi-ying: »›Cun zhen tu‹ yu ›Cun zhen huan zhong tu‹ kao«, S. 274.
130 | Körper bilden
Körperbilder einen kollektiv gepflegten, hartnäckig auf seinem Vorwissen beharrenden Blick der chinesischen Mediziner auf den Körper? Wie Kuriyama bemerkt, sind solche Fragen mit einem schwer überwindbaren Hindernis konfrontiert: Weil wir in der Gegenwart leben, sind wir nicht in der Lage, mit den Augen der damaligen chinesischen Mediziner zu sehen. Yang Jie wäre es womöglich niemals eingefallen, sich solche Fragen überhaupt zu stellen. Und was uns betrifft, so können wir uns nur schwer der Versuchung entziehen, diese uns grob anmutenden Körperbilder unwillkürlich mit den uns längst bekannten anatomischen Abbildungen, die wir nicht nur für präziser, sondern auch für wahrer und glaubwürdiger halten, zu vergleichen und nach ihren Maßstäben zu bewerten. 7 Ein weiteres, nicht leichter zu überwindendes Hindernis lässt sich hinzufügen: Wir neigen unbewusst dazu, das allzu geläufige, der Kunstgeschichte zugrunde liegende Zeitmodell, das sich anscheinend ohne Schwierigkeiten auf die Geschichte der anatomischen Abbildungen in der europäischen Medizin anwenden lässt, auf die Geschichte der Körperdarstellungen in der chinesischen Medizin zu übertragen. Nach diesem Zeitmodell wird die Geschichte als eine Reihe von Stilen verstanden, wobei die Verschiebung von einem Stil zum anderen als eine unvermeidliche und gleichsam organisierte Erneuerung des Bildhaften gedeutet wird. Doch besteht das Erstaunliche der Geschichte der Körperdarstellungen in der chinesischen Medizin gerade darin, dass sie eine Geschichte ohne Geschichte zu sein scheint. Sie lässt sich nicht einfach als ein Spiegelbild der Geschichte der chinesischen Kunst auffassen. Die Geschichte der Körperbilder in der chinesischen Medizin fordert uns dazu heraus, die Geschichtlichkeit der Körperbilder neu zu denken. Ausgehend von diesen Bemerkungen gilt es im Folgenden, die europäischen Abbildungen des Körperinneren mit denjenigen der chinesischen Medizin zu vergleichen, um die Programmatiken, in die sie jeweils eingebettet sind, genauer zu analysieren.
7
Kuriyama, Shigehisa: »The Imagination of the Body and the History of Embodied Experience: Chinese Views of the Viscera«, in: ders. [Hrsg.]: The Imagination of the Body and the History of Bodily Experience, Kyoto 2001, S. 17-29, hier S. 18.
Das Bild der Eingeweide | 131
3.1 DIE ANATOMISIERENDE PERSPEKTIVE Vergleichen wir etwa die Vorderansicht des Körperinneren aus dem Illustrierten Klassiker des Mensch-Spiegels. Über die Diagnosestellung und Behandlung der inneren Organe (Zang fu zheng zhi tu shuo ren jing jing 臟腑證治圖 說人鏡經) (Abb. 31) und die Darstellung des Abdomens in Vesalius’ De humani corporis fabrica (Abb. 32) miteinander. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Bildern liegen auf der Hand: Während das chinesische Bild offenbar unter dem Einfluss von Yang Jies Darstellung (Abb. 29) steht und schematisch wirkt, hat sich der europäische Künstler der Linearperspektive und Schraffurtechnik bedient, um einen raffinierten Effekt von Plastizität zu erzeugen. Der Künstler lässt das Licht von rechts auf das dargestellte Objekt fallen und hat den geöffneten Bauch und den steinernen Torso zudem geschickt zu einem harmonischen Ganzen verbunden.8 Die nach außen geklappte Haut, die rings um den geöffneten Bauch zu sehen ist, springt sogleich ins Auge. Sie markiert nicht nur die Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Körpers, sondern erweist sich als eine Falte, an deren Rand sich die fragmentierte Statue pygmalionhaft in einen echten Körper aus Fleisch und Blut verwandelt. Die aufgedeckte Haut bildet dabei einen elliptischen Rahmen, der einen Einblick in das Innere gestattet und innerhalb dessen, wie Vesalius selbst in der Legende schreibt, »the liver, stomach and intestines in their true positions« dargestellt werden.9 Wir sehen hier zugleich, dass der europäische Künstler die Topografie der Eingeweide und die leicht nach außen gewölbte Oberfläche des gesamten inneren Körpers mit größter Sorgfalt durch den Hell-Dunkel-Kontrast wiedergegeben hat. Im Vergleich zu der Abbildung in der Fabrica wirkt die chinesische Darstellung der Vorderansicht des Körperinneren äußerst flach. In diesem Bild ist der Querschnitt des Halses zwar deutlich sichtbar, aus den übrigen Details des 8
Zur Darstellung der sezierten antiken Statuen in der Fabrica siehe Burioni, Matteo: »Corpus quod est ipsa ruina docet: Sebastiano Serlios vitruvianisches Architekturtraktat in seinen Strukturäquivalenzen zum Anatomietraktat des Andreas Vesalius«, in: Schirrmeister, Albert [Hrsg.]: Zergliederungen: Anatomie und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2005, S. 50-77. In Burionis Aufsatz findet sich eine ausführliche Bibliografie zu diesem Thema.
9
Zitiert nach Saunders, John B.; O’Malley, Charles D.: The Illustrations from the Works of Andreas Vesalius of Brussels: With Annotations and Translations, a Discussion of the Plates and their Background, Authorship and Influence, and a Biographical Sketch of Vesalius, New York 1973, S. 160.
132 | Körper bilden
Abbildung 31: Vorderansicht des Körperinneren in Zang fu zheng zhi tu shuo ren jing jing, 1608.
Bildes kann man jedoch nicht schließen, dass der chinesische Künstler – so wie der Künstler der Abbildung in der Fabrica – den Körper von einem einzigen, festen Standpunkt aus gezeichnet hat. Vielmehr scheint es so, als hätte der Künstler den Querschnitt des Halses zeigen wollen, wobei er bei der Darstellung des Halses seinen Standpunkt vorübergehend leicht nach oben verschoben hat, um diesen zu veranschaulichen. An dieser Stelle mag man einwenden, der chinesische Künstler sei schlicht nicht in der Lage gewesen, die Dinge perspektivisch zu zeichnen, woraus der allgemeine Schematismus der chinesischen Darstellungen resultiere. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass sich die chinesischen Maler – anders als die europäischen Maler in der Frühen Neuzeit – niemals genötigt fühlten, die Gesetze der Perspektive für eine getreue Wiedergabe der Realität auf methodische Weise festzulegen. Wir dürfen von ihnen also nicht verlangen, was sie uns niemals versprochen haben. Die Frage lautet dennoch, wie sich die Unterschiede zwischen den oben gezeigten Bildern erklären lassen. Um sie zu beantworten, müssen wir diese Bilder einer genaueren Betrachtung unterziehen. Die Abbildung aus Vesalius’ Werk befindet sich im fünften Buch der Fabrica und trägt den Titel »SEXTA QUINTI LIBRI FIGURA«. Nicht zufällig wird diese Abbildung durch eine Nummer betitelt, die ihren Platz in einer Reihe festlegt. Sie steht nämlich nicht für sich allein, sondern bildet den Teil
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Abbildung 32: Darstellung der Bauchhöhle in Andreas Vesalius’ De humani corporis fabrica libri septem, 1543.
einer Serie. Das macht Vesalius selbst klar, wenn er in der direkt unter der Abbildung angebrachten Legende schreibt: »The sixth figure of the fifth book follows the third in the sequence of dissection […].«10 Diese Abbildung versteht sich daher nicht nur als eine Darstellung, die die Lage der Eingeweide möglichst exakt wiedergibt, sondern auch als eine Momentaufnahme, die darauf angelegt ist, zusammen mit den anderen Abbildungen den Ablauf der anatomischen Sektion nachvollziehbar zu machen und ihn auf dem Papier zu demonstrieren. Gehen wir die Abbildungen von der ersten bis zur zweiundzwanzigsten der Reihenfolge nach im fünften Buch der Fabrica durch, so werden wir den Eindruck haben, einer Sektion beizuwohnen. Dieses Schauspiel beginnt mit einer Szene, die einen Torso mit dem die Bauchhöhle umhüllenden Bauchfell zeigt, und endet mit einer Szene, in der das Bauchfell nahezu gänzlich entfernt worden ist (es ist nun nur noch als nach außen geklappter Rand
10 Zitiert nach ebd. In der vierten und fünften Figur des fünften Buches wird die Ansicht des präparierten Omentum gezeigt.
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sichtbar) und uns den Blick freigibt auf die in der tiefsten Bauchhöhle befindlichen Nieren und das komplexe Netzwerk von Venen und Arterien.11 Die Abbildungen zwischen diesen beiden Szenen stellen die Zergliederung wie ein Film dar.12 In ihnen erlebt der Betrachter, wie das Bauchfell nacheinander eingeschnitten, aufgestülpt und schließlich vom Körper abgetrennt wird, wobei die inneren Organe schrittweise von dem sie bedeckenden Gewebe befreit, zutage gefördert, dem dunklen Bauchraum entnommen, betrachtet und wieder zum Verschwinden gebracht werden. Diese Abbildungen leiten den Blick des Betrachters und verwandeln ihn in einen mit dem anatomischen Akt einhergehenden Sektionsblick, der nach und nach in die Tiefe des Körpers dringt und die Details der einzelnen inneren Organe studiert. Ohne die Einführung der Perspektivtechnik in die Bildproduktion wäre dieser in der Fabrica durch die Abfolge der Abbildungen strategisch konstruierte, filmische Einblick in die Tiefe des Körpers wohl nicht denkbar. Diesbezüglich hat Buschhaus die These vertreten, dass der Einsatz der Perspektive als Darstellungsprinzip in der Fabrica eng mit der Autopsia, also dem von Vesalius neu formulierten Modus der Wissensproduktion, verbunden sei.13 Er merkt an, dass die mittelalterlichen schematischen Zeichnungen zwar bis ins 16. Jahrhundert hinein in der Anatomie weit verbreitet gewesen seien, dass sich solche Bilder jedoch seit dem 16. Jahrhundert allmählich als problematisch herausgestellt hätten, da sie in den Augen einiger Anatomen »nur wenig autoptisch produziertes anatomisches Wissen demonstrieren« konnten. 14 Buschhaus weist übrigens darauf hin, dass »es seitens der professionellen Anatomie plötzlich ein Bedürfnis gibt, spezifisch anatomisches Körperwissen und anatomisch spezifiziertes Bildwissen miteinander kurzzuschließen, anatomisches Wissen mithin auf eine Logik des Bildes zu verpflichten, welche weit über schematische Körperdarstellungen hinausgeht.«15 Und diese »Logik des Bildes«, so Buschhaus, ist nichts anderes als die Perspektive, also ein Konzept des Bildes, das vor allem von Alberti geprägt worden ist. Dazu schreibt Buschhaus:
11 Vgl. dazu ebd., S. 156-168. 12 Vgl. die Bilderfolge im Buch Herrlingers: Geschichte der medizinischen Abbildung, S. 113. 13 Buschhaus: Über den Körper im Bilde sein, S. 104-123. 14 Ebd., S. 106. 15 Ebd., S. 107.
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»Während nämlich Alberti in seiner Bildtheorie darum bemüht ist, Optik und Bildkonstruktion auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, ist es ein zentrales Anliegen frühneuzeitlicher Anatomen wie Canano, Vesal oder Estienne, die am Seziertisch praktizierte Autopsia bildmedial zu rekonstruieren und sie sich auf der Bildfläche des anatomischen Atlanten immer wieder ereignen zu lassen. Wenn Alberti bezüglich der Malerei feststellt, ›dass sie Abwesende vergegenwärtigt‹, dann kommt er damit den Beweggründen der Anatomie, anatomisches Wissen der Logik der Bildfläche anzuverwandeln, sehr nahe. Denn der auf dem Seziertisch präparierte Körper ist ein vergänglicher und nicht immer verfügbarer Untersuchungsgegenstand, welchen es allererst auf der Bildfläche zu bannen gilt.« 16
Dass die »Perspektive« in der Frühen Neuzeit als eine epochale Bildtechnik zur Speicherung und Übertragung dessen dient, was man während der anatomischen Sektion autoptisch sieht, hat auch Erwin Panofsky hervorgehoben: »[A]natomy as a science […] was simply not possible without a method of preserving observations in graphic records, complete and accurate in three dimensions. In the absence of such records even the best observation was lost because it was not possible to check it against others and thus to test its general validity. It is no exaggeration to say that in the history of modern science the advent of perspective marked the beginning of a first period […]: in the observational or descriptive sciences illustration is not so much the elucidation of a statement as a statement in itself.« 17
Sowohl für Buschhaus als auch für Panofsky stellt sich die Einführung der Perspektive in die Bildherstellung als ein entscheidender Moment für die Herausbildung einer sich auf die Autopsia berufenden, verwissenschaftlichenden Anatomie dar. Darüber hinaus erblicken sie beide darin einen wesentlichen Rollenwechsel des Bildes: Während es vor dem Einsatz der Perspektive als eine Illustration dient, welche die bereits schriftlich vorliegende Aussage veranschaulicht oder schmückt, versteht sich das Bild nun als eine Wiedergabe des tatsächlich oder grundsätzlich Sichtbaren. 18 In dieser Hinsicht wird das
16 Ebd., S. 111. 17 Panofsky, Erwin: »Artist, Scientist, Genius: Notes on the ›Renaissance-Dämmerung‹«, in: Ferguson, Wallace K. [Hrsg.]: The Renaissance: Six Essays, New York [u.a.] 1962, S. 123-182, hier S. 147. 18 Vgl. Buschhaus: Über den Körper im Bilde sein, S. 112.
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Bild nicht nur von der Hegemonie der Schrift befreit, sondern ist von nun an imstande, Evidenz zu erzeugen und Wissen zu generieren. Wir brauchen an dieser Stelle nicht weiter auf die Ideologie, die hinter dem perspektivischen Bildprogramm der Frühen Neuzeit steht, einzugehen, da bereits zahlreiche Arbeiten zu diesem Thema vorliegen. 19 Aus einer interkulturellen Perspektive heraus – vor allem wenn wir an die grob anmutenden Bilder in der chinesischen Medizin denken – wäre es jedoch sinnvoll, zu fragen, inwieweit sich die perspektivisch konstruierten Bilder im Rahmen der abendländischen Anatomie tatsächlich von den schematisch wirkenden unterscheiden. In Bezug auf diese Stilfrage ist eine Überlegung Martin Kemps für uns besonders aufschlussreich, denn anders als viele andere Kunst- und Medizinhistoriker, die die Durchsetzung der Perspektive in der Geschichte der anatomischen Abbildungen als einen Triumph der Wahrheit erachten, macht uns Kemp mit seiner Feststellung einer »rhetoric of reality«20 darauf aufmerksam, dass auch ein Stil als Überzeugungsmittel dienen kann. Am Beispiel von Leonardos Zeichnungen zeigt Kemp auf, dass auch ein perspektivisch produziertes Bild trotz seiner scheinbaren Unmittelbarkeit und seines Naturalismus immer noch die tradierten galenistischen Vorstellungen in sich enthält.21 Er kann zudem belegen, dass der Gebrauch der Perspektive keineswegs die Übernahme traditioneller schematischer Darstellungen der Eingeweide verhindert.22 Aus diesen Fakten folgert Kemp:
19 Um nur einige zu nennen: Damisch, Hubert: Der Ursprung der Perspektive, Zürich 2010; Belting, Hans: Florenz und Bagdad: Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008; Boehm, Gottfried: Studien zur Perspektivität: Philosophie und Kunst in der Frühen Neuzeit, Heidelberg 1969; Bryson, Norman: Das Sehen und die Malerei: Die Logik des Blicks, München 2001; Schmeiser, Leonhard: Die Er findung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, München 2002; Clausberg, Karl: »›Wozu hat der Mensch zwei Augen?‹: Der Mythos der Perspektive«, in: Müller-Funk, Wolfgang; Reck, Hans-Ulrich [Hrsg.]: Inszenierte Imagination: Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, Wien [u.a.] 1996, S. 163-183. 20 Kemp, Martin: »Vision and Visualisation in the Illustration of Anatomy and As tronomy from Leonard to Galileo«, in: Freeland, Guy; Corones, Anthony [Hrsg.]: 1543 and All That: Image and Word, Change and Continuity in the Proto-Scientific Revolution, Dordrecht [u.a.] 2000, S. 17-52, hier S. 19. 21 Siehe ebd., S. 21-22. 22 Siehe ebd., S. 22-23.
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»It should be remembered that in an inevitably messy dissection ›seeing‹ would certainly not have been readily translated into ›knowing‹. The apparent naturalism does not mean that the image is necessarily to be more trusted than the earlier woodcut, but it does mean that it is making implicit and explicit claims to be trusted.« 23
Um die Erfolgsgeschichte der Perspektive in der europäischen Anatomie besser zu verstehen, sollten wir deshalb die Perspektive nicht bloß als eine Errungenschaft, die zwei Stile, Epochen und Denkweisen voneinander trennt, oder als »symbolische Form« in der Tradition Panofskys auffassen – also als ein Denkmodell, das die frühneuzeitliche Vorstellung von Raum sowie den Blick auf die Welt drastisch umstrukturiert hat24 –, sondern den Gebrauch der Perspektive an sich als einen Akt betrachten, der mit gewissen Bedeutungen aufgeladen ist. Unsere Frage lautet im Folgenden, welche symbolischen Bedeutungen die europäischen Anatomen und Künstler durch den Einsatz der Perspektive – wenn auch nur unbewusst – zugleich in die Herstellung der anatomischen Abbildungen haben einfließen lassen. Bekanntlich ist die Erfindung der Perspektive gleichbedeutend mit der Erfindung der »dritten Dimension«. 25 Das Besondere an der perspektivischen Darstellung besteht darin, dass sie dem Bild eine illusionäre Tiefe verleihen soll. Es ist allerdings alles andere als einfach, diesen Effekt zu erreichen, denn die Malfläche ist – ganz egal, ob es sich dabei um eine Tafel, ein Blatt Papier oder eine Wand handelt – stets zweidimensional. Das zentrale Problem ist also, wie ein dreidimensionaler Raum auf einer zweidimensionalen Fläche sichtbar gemacht werden kann. Als Erster hat Alberti dieses Problem gelöst, indem er die Malfläche in ein »offenes Fenster« (aperta fenestra) umdeutete. 26 Auf diese Weise wird die Malfläche nicht mehr als eine opake Platte behandelt, sondern als eine Öffnung vorgestellt, durch die hindurch ein Raum sichtbar wird, in den man hineinblicken kann. Indem Alberti zudem die im 15. Jahrhundert weit rezipierten, auf der Theorie der Sehstrahlen beruhenden Gesetze des leiblichen Sehens mit dieser Vorstellung vom Bild als Fenster in Verbindung brachte, konnte er das Bild nicht nur als eine Fläche, auf der ein Raum wiedergegeben wird, sondern auch als eine Projektion definieren, in der genau
23 Ebd., S. 23. 24 Panofsky, Erwin: »Die Perspektive als ›symbolische Form‹«, in: der.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1992, S. 99-167. 25 Vgl. Edgerton: Giotto und die Erfindung der dritten Dimension. 26 Alberti: De Pictura, S. 224.
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derjenige Raum sichtbar wird, der sich dem Auge eines Betrachters zeigt. 27 Ein solches Bild wird von Alberti als eine senkrechte »Schnittebene« (intercisio) durch die Pyramide der Sehstrahlen beschrieben. 28 Wie bereits erwähnt, wird die Erfindung der Perspektive im Rückblick auf die abendländische Geschichte häufig als epochal angesehen. Die Geschichte der anatomischen Abbildungen belegt, dass selbst die Anatomen und Künstler der Frühen Neuzeit sich der Vorteile der Perspektive durchaus bewusst waren. Leonardo, der von Historikern gerne als »Begründer der wissenschaftlichen Demonstrationszeichnung«29 gepriesen wird, experimentierte zur selben Zeit, in der er seine ersten anatomischen Sektionen durchführte, mit der perspektivischen Darstellung.30 Er hat ausdrücklich betont, dass die Beherrschung der »Perspektive« zu denjenigen Fähigkeiten gehört, die zur Hervorbringung naturgetreuer anatomischer Körperbilder notwendig sind. 31 Es bleibt jedoch fraglich, ob es sich bei der »Perspektive« tatsächlich nur um ein rein technisches Beschreibungs- und Repräsentationsverfahren handelt. Im Folgenden werden wir uns, um diese Frage zu klären, mit der latenten Affinität zwischen
27 Vgl. dazu Ackerman, James: »The Involvement of Artists in Renaissance Science«, in: Shirley, John William; Hoeniger, F. David [Hrsg.]: Science and the Arts in the Renaissance, Washington [u.a.] 1985, S. 94-129, hier S. 98-102; Krämer, Sybille: »Über die Rationalisierung der Visualität und die Visualisierung der Ratio: Zent ralperspektive und Kalkül als Kulturtechniken des ›geistigen Auges‹«, in: Schramm, Helmar [Hrsg.]: Bühnen des Wissens: Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2003, S. 50-67, hier S. 56-57. 28 Alberti: De Pictura, S. 214-15. Zu Albertis Erläuterung der Theorie der Sehstrahlen siehe ebd., S. 200-205. 29 Braunfels-Esche, Sigrid: »Leonardo als Begründer der wissenschaftlichen Demonstrationszeichnung«, in: Schmitz, Rudolf; Keil, Gundolf [Hrsg.]: Humanismus und Medizin, Weinheim 1984, S. 23-49. 30 Siehe Keele, Kenneth D.: Leonardo da Vinci als Anatom, in: ders.; Pedretti, Carlo [u.a.]: Leonardo da Vinci: Anatomische Zeichnungen aus der königlichen Bibliothek auf Schloß Windsor, Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle, Gütersloh 1979, S. 14. 31 Leonardo da Vinci; Chastel, André [Hrsg.]: Leonardo da Vinci: Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, München 1990, S. 284. Zu Leonardos Perspektive siehe Veltman, Kim H.; Keele, Kenneth D.: Studies on Leonardo da Vinci I: Linear Perspective and the Visual Dimensions of Science and Art, München 1986.
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der »Perspektive« und der »Anatomie« auf psychologischer Ebene beschäftigen. Wir wissen, dass die Perspektive als eine Abbildungstechnik dem Maler dazu verhelfen soll, den Raum auf der Fläche wiederzugeben. Allerdings verlangt sie von ihm eine spezifische Einstellung zur Malfläche, die er symbolisch öffnen muss. Wir haben es hier mit einem der Perspektivmethode innewohnenden, für sie zugleich konstitutiven Paradox zu tun: Indem der Maler Farbe auf die Leinwand aufträgt, zielt er auf eine Durchbrechung ihrer Oberfläche. Er bringt zwar etwas Sichtbares hervor, aber was er am Bild aufzeigt, ist das, was eigentlich hinter dem Bild liegt. In diesem Sinne ist ein Bild nur dann perspektivisch, wenn es dem Maler gelingt, das Bild so zu gestalten, als ob es ein bemaltes Nichts wäre, das einen ungehinderten Durchblick ermöglicht. Das Bild muss zeigen, worauf es sich öffnet. Der malerische Akt kommt insofern dem anatomischen Akt sehr nahe, insofern beide darauf abzielen, das, was hinter der opaken Oberfläche bzw. Haut liegt, zu offenbaren und derart einen visuellen Zugang zur Tiefe zu verschaffen. Aber nicht nur das: Der Maler selbst ist bis zu einem gewissen Grad mit dem Anatomen vergleichbar. Während der Anatom die Formen der einzelnen Organe aus dem schleimig-blutigen Gewebe des Körpers geschickt herauspräpariert, lässt der Maler die darzustellenden Gegenstände aus dem monotonen, undifferenzierten Malgrund hervortreten, indem er entlang ihrer Umrisse, oder um mit Alberti zu sprechen, entlang ihrer »Säume« einen Schnitt durch die Linien vornimmt.32 Die Perspektive als Prinzip der Darstellung verpflichtet den Maler also dazu, die symbolische Sektion gleich dreimal auszuführen: Zunächst muss er den geometrischen Körper der Sehpyramide in seiner Vorstellung durchschneiden und das herzustellende Bild als einen Schnitt begreifen, dann die opake Fläche des Bildträgers durchbrechen und schließlich die darzustellenden Gegenstände von dem Malgrund abtrennen, um sie in eine räumliche Anordnung zu bringen. Man mag einwenden, dass diese »symbolische Sektion« bloß eine Metapher sei. Es bleibt jedoch zu fragen, ob sich die perspektivische Darstellungsweise nicht auch deshalb so schnell in der Anatomie der Frühen Neuzeit durchsetzen konnte, weil sie den Akt des Öffnens, Entdeckens, Schneidens, Durchsägens und Eindringens auf bemerkenswerte Weise zum Ausdruck brachte.
32 Zum Begriff »Saum« sowie seiner Beziehung zum »Schnitt« siehe Harlizius-Klück, Ellen: Saum & Zeit: Ein Wörter-und-Sachen-Buch, Berlin 2005, S. 168-170.
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Abbildung 33: Darstellung einer geöffneten Leiche in Spiegel der Artzny von Lorenz Fries, 1518.
Vielleicht fand die Perspektive in der anatomischen Darstellung nicht nur deshalb so schnell Verwendung, weil sie das Innere in ein präzises Bild verwandelte, sondern vor allem auch, weil sie einen ins Innere eindringenden Blick auf einer Fläche ermöglichte. Ziehen wir einen Holzschnitt aus dem Spiegel der Artzny von Lorenz Fries (Abb. 33) als Beispiel heran. Diese Darstellung zählt nicht nur zu den frühsten anatomischen Bildern, die nach den Prinzipien der Perspektive und Helldunkelmalerei angefertigt worden sind; es ist auch eines der ersten, denen durch Sektionen gewonnenes Wissen zugrunde liegt.33 Der Formschneider des Holzschnittes, Hans Wächtlin, stellt darauf eine liegende Leiche mit geöffnetem Brust- und Bauchraum in einer leicht schrägen Ansicht dar. Selbst wenn er, worauf Kemp hingewiesen hat,34 die mehrlappigen Formen der Leber von einer schematischen Darstellung der Eingeweide von Magnus Hundt (Abb. 12) übernimmt, kann Wächtlin diese überlieferte Darstellung mithilfe von Perspektive und Chiaroscuro in einen äußerst real anmutenden Innenraum transplantieren und damit eine aktualisierte Einsicht in sie bieten. Als Betrachter erleben wir, wie sich das voluminöse Herz und die Lungenflügel im Brustraum zusammendrängen, während im Bauraum der Magen von der Leber überdeckt
33 Vgl. Roberts: The Fabric of the Body, S. 44-47. 34 Vgl. Kemp: »Vision and Visualisation«, S. 23.
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Abbildung 34: Schädelzeichnung von Leonardo, 1489.
wird. Wir sehen aber auch, dass der Darm bereits entfernt wurde und nun den Blick auf die darunterliegenden Organe freigibt. Um die Darstellung der Leiche herum erkennt man übrigens eine Serie von numerierten, kleinen Illustrationen, die einzelne Schritte bei der Sektion des Gehirns veranschaulichen. 35 Bei genauer Betrachtung erkennt man, dass sich die Perspektive, aus welcher der sezierte Kopf abgebildet wird, von Figur zu Figur leicht verschiebt. Wir werden von diesen Illustrationen gleichsam aufgefordert, unseren Standpunkt ständig zu verändern, um das sezierte Gehirn aus einer angemessenen Perspektive zu betrachten: Wir blicken zunächst von schräg oben auf den geöffneten Schädel (1. Figur in Abb. 33), dann von oben auf das Gehirn (2-3. Figur) und weiter von oben in den Innenraum des Kopfes hinein (4-5. Figur). Schließlich müssen wir bei der sechsten Figur unseren Blickpunkt dem Bild ein weiteres Mal anpassen, um das aus der Schädelbasis nach oben gezogene Gehirn sowie die mit ihm verbundenen Nerven genau ins Auge zu fassen. Schon diese frühe perspektivische Darstellung zeugt von den Möglichkeiten der Perspektivtechnik, das Körperinnere in den dreidimensio-
35 Vgl. Larink, Wibke: Bilder vom Gehirn: Bildwissenschaftliche Zugänge zum Gehirn als Seelenorgan, Berlin 2011, S. 166.
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Abbildung 35: Schädelzeichnung von Leonardo, 1489.
nalen Bildraum einzubetten. Sie verwandelt das Körperinnere in eine physische Entität, die nicht nur aus unzähligen unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, sondern im Medium des Bildes immer weiter geöffnet, enthäutet, seziert und zerteilt werden kann. Ohne Zweifel ist Leonardo derjenige, der als Erster das Darstellungspotenzial der Perspektive in der Anatomie ausgeschöpft hat. In einer seiner berühmten Schädelzeichnungen von 1489 (Abb. 34) zeigt er zum Beispiel im unteren Teil des Bildes einen Schädel in seitlicher Ansicht, von dem ein Stück der Oberkiefer- und Jochbeinregion entfernt wurde, so dass man in die darunterliegenden Nasen-, Siebbein- und Rachenhöhlen ungehindert hineinschauen kann.36 Bemerkenswert ist, dass Leonardo im oberen Teil des Blattes zugleich einen unversehrten Schädel hinzugefügt und mit Linien die Schnittstellen markiert hat, die den Umrissen der Öffnung des darunter dargestellten Schädels entsprechen. Auf diese Weise zeigt uns Leonardo nicht nur den im Körperinneren befindlichen Schädel, sondern versieht das Innere wiederum mit einem Fenster, das uns dazu einlädt, in das Innere des Inneren zu blicken. In einer anderen Zeichnung (Abb. 35) zieht Leonardo Horizontal- und Sagittalschnitte durch den Schädel, der diesmal so dargestellt wird, dass man nicht nur in seinen Innenraum hineinblicken, sondern auch die Innenseite dieses Innenraums studieren kann. Das Innere wird insofern im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Äußeren. Es gewinnt in dem perspektivisch durchgestalteten Bildraum eine beträchtliche Plastizität.
36 Vgl. Esche-Braunfels, Sigrid: Leonardo da Vinci: Das anatomische Werk, mit kritischem Katalog und 175 Abbildungen, Stuttgart 1961, S. 31.
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Abbildung 36: Darstellung von Wirbeln im ersten Buch der Fabrica, 1543.
Abbildung 37-40: Darstellungen des sezierten Herzens in der Fabrica, 1543.
Sehen wir uns einige weitere Bilder in der Fabrica an. Auch Vesalius, so stellen wir fest, konstruiert mittels der Perspektive einen Einblick in einen scheinbar dreidimensionalen Raum, um dem Betrachter das Innere auf äußerst plastische Weise vor Augen zu führen. Im ersten Buch zeigt Vesalius beispielsweise ein und denselben Wirbel aus drei verschiedenen Perspektiven, in einer Vorder-, Seiten- und Rückansicht (Abb. 36). Im sechsten Buch findet sich eine Bilderfolge, die den Ablauf der Sektion des Herzens veranschaulicht: Zunächst wird das Herz mit dem geschlossenen Herzbeutel dargestellt (Abb. 37). Nachdem es ohne den Herzbeutel gezeigt worden ist (Abb. 38), wird das enthäutete Herz nach links gewendet, um seine rechte Seite und Verbindung mit den Hohlvenen an der Wurzel zu zeigen (Abb. 39). Dieses Bild schließt
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die Serie allerdings noch nicht ab. Das Herz wird in den darauffolgenden Bildern weiter nach rechts gewendet und auf verschiedene Weisen zergliedert, ja umgestülpt, damit alle Aspekte und Details, die dem Blick ansonsten verborgen blieben, sichtbar werden.37 Die Bilderfolge endet mit der Darstellung eines Querschnitts durch das Herz (Abb. 40).
3.2 DIE BESESSENHEIT VON DER FORM Wenn Vesalius die inneren Organe bis in die kleinsten Einzelheiten hinein analysiert und in Bilder verwandelt, so geht es ihm nicht nur darum, den Inhalt des Körpers zu beschreiben und wiederzugeben. Er zielt vielmehr auf eine bildliche Veranschaulichung der wahren Formen der inneren Organe. Seine Kritik an den antiken Autoritäten, darunter vor allem Galen, denen er vorwirft, sie hätten die Formen der Tiere irrtümlicherweise auf den Menschen übertragen, sowie die Gegenüberstellung, die er zwischen dem Rückenwirbel eines Affen und dem eines Menschen vornimmt (siehe Abb. 36 unten), müssen vor allem im Zusammenhang mit dieser Absicht gesehen werden. Dabei sind die einzelnen Formen der inneren Organe für Vesalius weit mehr als reine plastische Gestalten. Seiner Ansicht nach gibt es keine im Körperinneren auffindbare Form, die nicht tadellos, also nicht völlig durchdacht wäre. Jede Form – sei es die eines Organs oder die eines Details – trägt in seinen Augen ihre spezifische Funktion bzw. Bedeutung immer unmittelbar in sich selbst. Genau aus diesem Grund nimmt er stets eine gründliche Formanalyse vor, wobei er in seinem Text niemals vergisst, die Zweckmäßigkeit der soeben beschriebenen Form zu erläutern. Nehmen wir das Herz als Beispiel. Das Herz, so schreibt Vesalius im sechsten Buch, »is like a pyramid in form and resembles a pine nut: it starts from a broad base and proceeds gradually to end in an apex that is slightly sharper than that of a pine nut. Its length is much greater than its breadth.«38 Offenbar glaubt er, darauf hinzuweisen zu müssen, dass die
37 Siehe Vesalius, Andreas: Andreae Vesalii Bruxellensis, scholae medicorum Pa tavinae professoris, de Humani corporis fabrica Libri septem, Basel 1543, S. 564567. 38 Vesalius, Andreas: On the Fabric of the Human Body, Vol. 5: Book VI: The Heart and Associated Organs; Book VII: The Brain, übersetzt von William Frank Rich ardson in Zusammenarbeit mit John Burd Carman, San Francisco 2009, S. 69.
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Form des Herzens keine beliebige ist, wenn er seine Beschreibung durch folgende Worte ergänzt: »I am sure it is obvious to everyone without my saying it that, since the base had to be broad and ample to accommodate the beginnings of four large vessels, the heart is not exactly spherical. But Nature knew that the spherical shape is both the most capacious and the most resistant to injury, and designed the heart to approximate to this shape, so that when fully distended it appears completely spherical but when contracted is elongated and drawn out like a pine nut.«39
Bei der Beschreibung des Magens beschäftigt er sich nicht nur mit dessen Form, sondern auch mit der Frage nach dem Warum dieser Form. »The stomach […] is round and elongated from right to left, rather like a cylinder lying sideways; it is round because round objects have the greatest capacity and are least vulnerable, and elongated because this is required by the space into which it fits and by its two orifices, one to admit the food and the other through which it pushes the processed food into the intestines.«40
Die besondere Aufmerksamkeit, die Vesalius der Form der Organe widmet, und seine feste Überzeugung von ihrer spezifischen Funktionalität sind keineswegs neu. Diese Überzeugung lässt sich sogar bis auf eine Zeit zurückführen, in der das, was wir heute unter »Organ« verstehen, noch nicht benannt und erkannt worden war: In der hippokratischen Schrift Über die alte Heilkunst ist von den inneren Organen wie Blase, Milz, Lunge oder Leber die Rede. Sie werden jedoch nicht als »organon«, sondern als »schēma«, also als Form und Gestalt bezeichnet. 41 In Über die alte Heilkunst lesen wir: »I hold that one must also know which affections come upon the human being from powers and which from schemata. What do I mean by this? By ›power‹ I mean the acuity and strength of the humors; by ›schemata‹ I mean all the parts inside the human being, some hollow and tapering from wide to narrow, others also extended, others solid
39 Ebd., S. 94. 40 Vesalius, Andreas: On the Fabric of the Human Body, Vol. 4: Book V: The Organs of Nutrition and Generation, übersetzt von William Frank Richardson in Zusammenarbeit mit John Burd Carman, San Francisco 2008, S. 64. 41 Siehe Hippocrates: On Ancient Medicine, übersetzt und kommentiert von Mark J. Schiefsky, Leiden [u.a.] 2005, S. 104-109.
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and round, others broad and suspended, others stretched, others long, others dense, oth ers loose in texture and swollen, others spongy and porous. Now which schemata would best be able to attract and draw moisture to themselves from the rest of the body […]? I think it is these, the ones that taper from wide and hollow to narrow. […] Of the schemata inside the human being the following have such a nature and shape: the bladder, the head, and [in women] the womb. These manifestly attract most of all and are always filled with acquired moisture. The hollow and extended parts are best of all at receiving moisture when it flows toward them, but cannot draw it to themselves in like manner. The solid and round parts can neither draw moisture to themselves nor receive it when it flows toward them, for it slips around them and has no seat upon which to remain.«42
Der Autor dieser Passage bezeichnet und begreift die Körperteile nicht nur als Form oder Gestalt. Er ist auch der Meinung, dass die Form bzw. Gestalt eines Körperteils über dessen Eigenschaften entscheidet. Ob ein Körperteil Nässe und Feuchtigkeit anzieht, absorbiert und in sich bewahrt, lässt sich allein anhand seiner Form erschließen. Wie Kuriyama bemerkt, werden die inneren Organe in der westlichen Medizin erst nach Hippokrates als »organon« bezeichnet.43 Diese Umbenennung der inneren Organe ist, so Kuriyama, mit zwei Aspekten verbunden: Zum einen wird das Organ zu einem »Werkzeug«, einem »Instrument« erklärt, womit die Existenz eines »Benutzers« vorausgesetzt wird. Zum anderen wird das »Organ« als ein individueller Körperteil mit einer bestimmten Funktion aufgefasst.44 In der westlichen Geschichte stellt diese insbesondere von Aristoteles und Galen geprägte Umbenennung der inneren Organe jedoch weder die Bedeutung der »Form« in Frage noch verdrängt sie die Idee eines aus den »Formen« bestehenden Körpers. Ganz im Gegenteil: Sie veranlasst die Anatomen und Naturforscher zu einer umso eingehenderen Formanalyse der inneren Organe: Nicht allein die Form des Organs, sondern die all seiner Bestandteile soll fortan studiert werden, um zu erfahren, wie diese vielfältigen Elemente zu einer bestimmten Funktion des Ganzen beitragen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass das Programm, das Vesalius in der Fabrica betreibt, immer noch in einer bereits seit der Antike etablierten
42 Ebd., S. 105-107. 43 Siehe Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 263-265. 44 Für Aristoteles und Galen ist der Benutzer des Organs die Seele. Vgl. Aristoteles: Über die Teile der Lebewesen, 641a; Galen: On the Usefulness of the Parts of the Body, S. 67-68 und 76.
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Tradition steht. Trotz der Kritik, die Vesalius an den antiken Autoritäten übt, ist das, was er im geöffneten Körper sehen will, gar nicht so weit entfernt von dem, was seine antiken Vorgänger in ihm sehen wollten. Freilich besteht der Unterschied zwischen Vesalius und seinen Vorgängern darin, dass er das sichtbar gewordene Körperinnere sowie die Prozedur der anatomischen Zergliederung nicht mehr allein in Worten beschreibt, sondern sich bewusst des Bildes bedient. 45 Er visualisiert das Körperinnere und macht den Ablauf der Sektion durch die Abfolge der Darstellungen nachvollziehbar. Die neue Bildtechnik, die ihrerseits aus einer neuen Bildauffassung hervorgegangen ist, erlaubt ihm die Behauptung, dass das, was er bildlich darstellt, genau das sei, was einem der Blick in den geöffneten Körper zeige. Erwähnenswert ist, dass sich Vesalius von seinen antiken Vorgängern ebenso wie von seinen Zeitgenossen durch sein Selbstbewusstsein unterscheidet. Er ist sich des von ihm selbst vollzogenen Aktes des Zeigens völlig bewusst. Dies kommt im TitelHolzschnitt der Fabrica (Abb. 25) klar zum Ausdruck: Aus dem Gedränge der beunruhigten Zuschauer, die das anatomische Theater füllen, ragt er heraus und wirkt wie unberührt von seiner Umgebung. Selbstsicher erwidert er den Blick, den die Leser der Fabrica auf ihn richten. Er weiß, dass er gesehen wird. Und er weiß allzu gut, dass er das Innere des Körpers auf epochale Weise zur
45 Die verbreitete Annahme, das Bild nehme seit Vesalius eine Vorrangstellung gegenüber der Schrift ein, ist nur teilweise richtig. Gerade am Beispiel der Fabrica zeigt sich, dass zwar dem Bild eine größere Bedeutung zukommt, es jedoch in zunehmendem Maße Erläuterungen bedarf, um das, was das Bild zeigt, überhaupt zu verstehen. Die Aufwertung des Visuellen geht derart unvermeidlich mit einer grö ßeren Abhängigkeit des Bildes von der Schrift einher. Diesbezüglich schreibt Kusukawa zu Recht: »[…] pictures were in turn dependent on the accompanying verba. Without the verba, it would have been impossible to determine which of the five skulls […] represented the ›natural‹ form, for instance. Without the text, a novice would have been unable to tell that a particular muscle arrangement embedded in the human figure belonged to an animal, and that it thus showed how wrong Galen was. Without the text that explained what the reader ought to be seeing in the picture, the precise point of the picture would be lost. It meant that these pictures could not be understood fully by those who were illiterate or could not read Latin.« (Kusukawa: Picturing the Book of Nature, S. 229-230.)
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Schau stellt. Er ist sich im Klaren darüber, dass die von ihm verwendeten Bilder einen neuartigen Effekt der Authentizität hervorbringen. 46 Sie ermöglichen ihm jedoch keineswegs einen völlig neuen, von der westlichen Tradition befreiten Blick auf den Körper. Vielmehr verdichtet sich in ihnen der seit langem in der westlichen Anatomie kultivierte, aber auch kulturell bedingte Blick auf den Körper. Im Rückblick auf die europäische Geschichte der anatomischen Abbildungen kann man sagen, dass die Besessenheit von der »Form« nicht nur für Vesalius oder seine antiken Vorgänger, sondern für die ganze westliche Anatomie charakteristisch ist. Sie schlägt sich auch in den unterschiedlichen Fixierungsund Konservierungstechniken nieder, die zur Bestimmung der dem Körperinneren eigenen »Form« entwickelt wurden. Bereits Leonardo hat zum Beispiel geschmolzenes Wachs in die Hirnkammer injiziert und die zu zeichnende Hirnsubstanz erst nach dem Erhärten des Wachses aus den Hirnkammern entfernt, damit ihre fragile »Form« nicht zerfällt. 47 Die 14 Darstellungen, die Thomas Willis 1664 in seinem Werk De cerebri anatome publizierte, wurden nach Hirnpräparaten gezeichnet, die Christopher Wren ein Jahr zuvor mittels einer von ihm erfundenen Erhärtungsmethode durch Wachsinjektion hergestellt hatte.48 Nachdem sich William Harveys Blutzirkulationstheorie durchgesetzt hatte, wurde das gefärbte Wachs von zahlreichen Anatomen des 16. und 17. Jahrhunderts wie Jan Swammerdam und Frederik Ruysch auch in die Gefäße – und bis in die Kapillaren hinein – eingespritzt, um die filigrane Form der Gefäßbäume herauszuarbeiten und in fixierter Form darzustellen (Abb. 41).49
46 Zu den in der Fabrica verwendeten Bildstrategien vgl. Kusukawa, Sachiko: »Andreas Vesalius and the Canonisation of the Human Body: Res, Verba, Pictura«, verfügbar unter URL: https://www.princeton.edu/~hos/Seeing%20Sciences%20 Wkshp/SeeingSciencePapers/paper-kusukawa.pdf (30.06.2019); Kusukawa: Picturing the Book of Nature, S. 199-227. 47 Siehe Leonardo da Vinci; Keele, Kenneth D.; Windsor Castle [Hrsg.]: Atlas der anatomischen Studien in der Sammlung ihrer Majestät Queen Elizabeth II. in Windsor Castle, Bd. 1: Text, Gütersloh 1980, S. XXIX. 48 Siehe Putscher: Geschichte der medizinischen Abbildung, S. 50. 49 Zur Injektionstechnik vgl. Schultka, Rüdiger; Luminita Göbbel: »Präparationstechniken und Präparate im 18. und frühen 19. Jahrhundert, dargestellt an Beispielen aus den anatomischen Sammlungen zu Halle (Saale)«, in: Helm, Jürgen; Stukenbrock, Karin [Hrsg.]: Anatomie: Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im
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Abbildung 41: Darstellung einer Arterie in Frederici Ruyschii Opera omnia anatomico-medicochirurgica, 1737.
Das Einfrieren gehörte neben der Injektion zu den Verfahren, mit deren Hilfe die Anatomen seit dem 19. Jahrhundert die Form des Körperinneren untersucht haben. Der deutsche Anatom Wilhelm Braune ließ zum Beispiel den Leichnam eines 21-jährigen Soldaten »unberührt bei einer Kälte von circa 8° R. 14 Tage lang im Freien liegen«. 50 Nachdem der Leichnam gefroren war, wurde dessen Mittellinie auf Brust und Rücken mit einer geschwärzten Schnur markiert. Danach wurde er mit einer Blattsäge entlang dieser Linie zersägt.
18. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 49-81, insb. S. 61-68; Siegert, Bernhard: »Die Leiche in der Wachsfigur: Exzesse der Mimesis in Kunst, Wissenschaft und Medien«, in: Geimer, Peter [Hrsg.]: UnTot: Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit, Berlin 2014, S. 116-135, insb. S. 127-128; Faller, Adolf: Die Entwicklung der makroskopisch-anatomischen Präparierkunst von Galen bis zur Neuzeit, Basel 1948, S. 54-80. Zu Frederik Ruysch vgl. Kooijmans, Luuc: Death Defied: The Anatomy Lessons of Frederik Ruysch, Leiden [u.a.] 2011. 50 Braune, Wilhelm [Hrsg.]: Topographisch-anatomischer Atlas nach Durchschnitten an gefrornen Cadavern, Leipzig 1872, Anmerkung zur Tafel I (A. B.). Da der Atlas durchgehend unpaginiert ist, wird die Seitenzahl hier und im Folgenden nicht angegeben. Hingewiesen wird aber auf den Abschnitt, in dem das Zitat bzw. der Verweis zu finden ist.
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Abbildung 42: Querschnittszeichnung des menschlichen Körpers in Wilhelm Braunes Topographischanatomischem Atlas, 1872.
Schließlich wurde ein Künstler mit der exakten Wiedergabe dieses Querschnitts beauftragt (Abb. 42). Im Vorwort zu seinem Topographisch-anatomischen Atlas erklärt Braune, wie die von ihm gezeigten Querschnittszeichnungen hergestellt wurden: »Um eine ganz genaue Zeichnung zu gewinnen wurde die Schnittfläche zunächst von den Sägespänen sorgfältig gereinigt und dann mit einer dünnen Lage von Wasser bedeckt, die sogleich anfror, so dass man eine vollkommen ebene durchsichtige Fläche darüber erhielt, auf welche durchsichtiges Papier gelegt werden konnte. So gelang es mittels Durchzeichnen des Präparates selber die Hauptlinien genau zu fixiren. 51
Es wird nicht länger gezeichnet, sondern vielmehr nach-gezeichnet. Interessanterweise unterscheidet sich dieses Verfahren jedoch gar nicht so sehr von der klassischen Perspektivdarstellung, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Denn wenn die Perspektivmethode einen Schnitt durch den imaginären Körper einer Sehpyramide voraussetzt, so wird dieser Schnitt nun an einem anderen Körper, nämlich direkt am menschlichen Körper, vorgenommen. Die plane Bildfläche fällt nach wie vor mit der ebenen Schnittfläche zusammen. Und die Aufgabe des Künstlers besteht immer noch darin, die Umrisse
51 Ebd., Vorwort.
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der Dinge auf dem Papier zu fixieren. Das Besondere an der Querschnittszeichnung liegt aber darin, dass das darzustellende Körperinnere so nahe an die Malfläche gebracht, oder genauer gesagt, gedrückt wird, dass die räumliche Distanz zwischen ihnen suspendiert wird. Beim Betrachten solcher Zeichnungen blickt man nicht mehr in einen hinter der Malfläche befindlichen Raum, sondern auf die Malfläche, die mit der ebenen Schnittfläche des Körpers zusammenfällt. So kann der Betrachter direkt in die einzelnen Innenräume des Körperinneren blicken (auf der Abb. 42 erkennt man beispielsweise den Hohlraum der Luftröhre, der Speiseröhre und der rechten Herzkammer). Für Braune hängt die Zuverlässigkeit einer Durchschnittsdarstellung des menschlichen Körpers nicht nur davon ab, wie die Schnittfläche bildlich auf das Papier übertragen wird, sondern vor allem von der Härte des gefrorenen Kadavers. »Es genügt nicht«, so betont er: »die Masse blos anfrieren zu lassen; dieselbe muss vielmehr so lange in der Kälte liegen, bis sie metallhart wird und beim Anklopfen klingt, damit man mit der Säge glatte und klare Schnitte erhält. Die Durchschnitte durch Gehirn und Rückenmark nehmen sich dann wie mit dem Rasirmesser ausgeführt aus, so dass man die Conturen der grauen Substanz ganz genau erkennen kann.«52
Braune achtet nicht zuletzt auch darauf, dass das gefrorene Präparat seine Härte solange beibehält, bis die Nachzeichnung der Linien auf ihm »mit aller Ruhe und Sorgfalt« vollendet werden kann.53 Wenn die Zeichnungsarbeit, die normalerweise mehrere Tage in Anspruch nimmt, zu einer wärmeren Zeit durchgeführt werden muss, wird das Präparat jeden Abend in eine neue Kältemischung aus Eis und Salz gebracht, so dass es in seinem gefrorenen Zustand erhalten bleibt.54 Für uns ist Braunes Forderung nach der absoluten Härte des durchgefrorenen Kadavers nachvollziehbar, soll sie doch die Formen der inneren Organe vor der Verzerrung beim Durchschneiden schützen. Nur so bleiben die Konturen der ursprünglichen Formen gewahrt, die auf der Schnittfläche erscheinen.
52 Ebd. [Hervorhebungen vom Verfasser]. 53 Ebd., Anmerkung zur Tafel II (A. B.). 54 Siehe Ebd.
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Abbildung 43-45: Darstellung der Lunge, Milz und Harnblase in Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt.
Man kann sogar behaupten, dass der destruktive Akt des Durchschneidens gerade durch diese Härte in einen konstruktiven Akt des Entdeckens umgewandelt wird. Die beträchtliche Mühe, die Braune das Einfrieren des Kadavers gekostet hat, verdeutlicht jedoch paradoxerweise die Tatsache, dass die inneren Organe keineswegs fest und ihre Formen veränderlich sind. Genau aus diesem Grund träumten westliche Anatomen wie Braune von einer Technik, die dem Blick der Medusa ähnelt und dem Körperinneren eine fremdartige Härte verleiht. Noch vor der Öffnung des Körpers sollten die wahren Formen zu beständigen Gestalten erstarrt sein und feste Konturen gewonnen haben. Die chinesische Medizin ist dagegen von einer ganz anderen Einstellung gegenüber der »Form« geprägt. Zwar werden die einzelnen Formen der inneren Organe beschrieben und gelegentlich auch dargestellt, doch kommt ihnen niemals eine solche Bedeutung zu wie in der westlichen Anatomie. In den meisten Fällen, so lässt sich beobachten, werden die Formen der einzelnen inneren Organe entweder einfach nach der schriftlichen Überlieferung gezeichnet oder den anderen bereits vorhandenen Bildern entnommen.55 Und in der Regel muten sie sehr ähnlich und vereinfacht an (siehe Abb. 43-45).
55 Das bedeutet aber nicht, dass die chinesischen Mediziner die von anderen angefertigten Darstellungen der inneren Organe niemals verändert hätten. In vielen Fällen passen sie die Bilder ihrer eigenen Intepretation an. Vgl. Li Jian-min 李建民: »›Cang fu zhi zhang tu shu‹ de ›cang xiang‹ guan ji guan kan de shi jian《藏府指 掌圖書》的「藏象」觀及觀看的實踐«, in: Jiu zhou xue lin 九州學林 [Chinese Culture Quarterly] 27 (2010), S. 45-81.
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Zunächst könnte man vermuten, dass die fehlende Tradition einer anatomisch motivierten Erforschung des menschlichen Körpers zu dieser Darstellungsweise der »Form« geführt habe. Selbst wenn den chinesischen Medizinern Leichen als Anschauungsobjekte zur Verfügung standen, haben sie den »Formen« der inneren Organe nur wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht. In einer der wenigen dokumentierten Sektionen eines menschlichen Körpers, die auf das erste Jahrhundert zurückdatiert ist, lässt sich zum Beispiel deutlich erkennen, dass die chinesischen Mediziner ganz klar wissen, was sie vom geöffneten Körpern erfahren wollen: Sie wiegen die Eingeweide, messen ihr Volumen und verfolgen mit Bambusstreifen die im Körper verlaufenden Leitbahnen (mai).56 Doch untersuchen sie nicht die »Formen« der Eingeweide und unterlassen es ebenso, die in den überlieferten Schriften beschriebenen »Formen« der inneren Organe zu verifizieren. Eine ähnliche Einstellung gegenüber der »Form« finden wir auch in Der Klassiker des Gelben Kaisers. Die geöffnete Leiche, so heißt es darin, könne uns Aufschluss über die Festigkeit, Größe und Kapazität der Eingeweide oder über die Länge der Leitbahnen (mai) liefern, aber die »Form« der inneren Organe findet keine Erwähnung.57 Um den Darstellungen der chinesischen Medizin gerecht zu werden, sollten wir also das für sie charakteristische Desinteresse an der »Form« der inneren Organe im Hinterkopf behalten. Aber die Frage ist: Was wird in diesen Bildern gezeigt? Und wie wurden diese Bilder von chinesischen Medizinern wahrgenommen?
3.3 DAS KÖRPERBILD ALS DIAGRAMM Im bereits erwähnten Werk Der Illustrierte Klassiker des Mensch-Spiegels findet sich eine Darstellung des Herzens, die zusammen mit einer Darstellung des Dünndarms auf derselben Seite gezeigt wird (Abb. 46). Das Herz wird leicht geneigt dargestellt und ist mit dem Schriftzeichen 心, dem chinesischen Wort für ›Herz‹, versehen. Diese Darstellung entspricht der gängigen Beschreibung des Herzens als einer »noch nicht aufgeblühten Lotusknospe« in
56 Vgl. Li Jian-min 李建民: »Wang mang yu wang sun qing: ji gong yuan yi shi ji de ren ti ku bo shi yan 王莽與王孫慶: 記公元一世紀的人體刳剝實驗«, in: Xin shi xue 新史學[New History] 10.4 (1999), S. 1-24 und Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 155-156. 57 Siehe Ling su 12.
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Abbildung 46: Darstellung des Herzens und des Dünndarms in Zang fu zheng zhi tu shuo ren jing jing, 1608.
der chinesischen Medizin. 58 Für uns ist die direkt neben dem Bild befindliche Anmerkung, die das Ziel des Bildes präzisiert, von besonderem Interesse: »Wenn man sich das Bild ansieht, weiß man, dass Lunge, Leber, Milz und Niere alle ihren Ursprung im Herzen haben.« Diese Worte deuten an, dass es hier nicht um eine realistische Darstellung des Herzens geht, sondern um eine Veranschaulichung seiner Beziehungen zu den anderen Organen. Somit verschiebt sich die Aufmerksamkeit des Betrachters von dem dargestellten Herzen auf die vier von seinem oberen Teil abzweigenden »Röhren«. Eine von ihnen wandert senkrecht nach oben, während sich die übrigen drei Röhren biegen und in verschiedene Richtungen nach unten erstrecken. Alle münden sie in Legenden, die erklären, mit welchem inneren Organ sie jeweils verbunden sind: Die nach oben laufende Röhre führt zur Lunge, die nach unten laufenden jeweils zu Milz, Leber und Niere. Vergleichen wir diese »Röhren« im chinesischen Bild (Abb. 46) mit denjenigen, die in der Darstellung des Herzens der Fabrica (Abb. 47) zu sehen sind, so scheinen sie auf den ersten Blick einander zu ähneln. Im Grunde aber handelt es sich um unterschiedliche Dinge. Während sich die »Röhren« in der
58 Li Ding 李鼎: Cang fu zhi zhang tu; shi si jing he can ping zhu 藏府指掌圖; 十四 經合參評注, Shanghai 2007, S. 27.
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Abbildung 47: Die Darstellung des nach rechts gebogenen Herzens in der Fabrica, 1543.
Darstellung der Fabrica auf konkrete Entitäten wie Arterien, Venen und Nerven beziehen, 59 basieren die »Röhren« im chinesischen Bild auf einem schriftlich überlieferten Wissen. Sie fungieren als imaginäre Leitungen, die vom Herzen ausgehen und dieses mit den anderen Organen verknüpfen. Sie lassen sich nicht wie die Röhren in den Abbildungen der Fabrica schneiden oder mit einer Schnur abbinden (vgl. die mit »N« markierte Röhre in der Abb. 47). Doch leiten sie den Blick des Betrachters, stellen das Herz als einen Knoten in einem Gefüge von Beziehungen dar und rücken das Bild derart in die Nähe eines Diagrammes, insofern es nicht die sinnliche Erscheinung wiedergibt, sondern dem Betrachter vielmehr Aufschluss über die Zusammenhänge zwischen dem Herzen und den anderen inneren Organen liefert. 60 Dass die Darstellung der inneren Organe in der chinesischen Medizin vielmehr einem Diagramm als einem Abbild entspricht, wird umso ersichtlicher, wenn wir uns einige andere Bilder ansehen. Ein heute in den National Archives of Japan befindlicher Traktat mit dem Titel Yi yin tang ye zhong jing guang
59 Vgl. Vesalius: On the Fabric of the Human Body, Vol. 5, S. 11-13. 60 Zum Unterschied zwischen »Bild« und »Diagramm« siehe Bauer, Matthias; Ernst, Christoph: Diagrammatik: Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld, Bielefeld 2010, S. 44.
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Abbildung 48: Darstellung der inneren Organe aus Yi yin tang ye zhong jing guang wei da fa von Wang Hao-gu, Edo-Zeit.
wei da fa 伊尹湯液仲景廣為大法 von Wang Hao-gu 王好古 (1200-1264) enthält beispielsweise ein Bild, welches das Innere des Rumpfes in einer Seitenansicht zeigt (Abb. 48). Das Herz, das im oberen Teil des Bildes zu sehen ist, wird als eine spitz zulaufende Ellipse dargestellt. Ähnlich wie im Klassiker des Mensch-Spiegels wird das Herz hier mit zahlreichen »Röhren« verbunden, die in unterschiedliche Richtungen ausstrahlen und von Legenden begleitet sind. Im unteren Teil des Bildes werden die anderen Eingeweide mit Schriftzeichen markiert. Aber ihre Formen sind nur noch andeutungsweise zu erkennen. Die auf der linken Seite zu sehende Wirbelsäule spannt sich über das ganze Bild und wird einfach durch eine Linie mit sich wiederholenden »U«förmigen Mustern veranschaulicht. In dieser Darstellung verliert der Körper jede Plastizität. Die einzelnen Formen der inneren Organe scheinen sich zu verwischen und aufzulösen. Eine andere Darstellung der inneren Organe (Abb. 49), diesmal aus dem Bildatlas der drei Reiche (San cai tu hui 三才圖會), ist noch frappierender, denn hier bleibt nur noch die Form der Nieren sichtbar. Alle anderen Eingeweide finden sich lediglich durch Schriftzeichen angedeutet, die durch Linien in eine räumliche Anordnung gebracht und miteinander verbunden werden. Diese Darstellung gibt keine absoluten, sondern relative Positionen der Eingeweide an: Im oberen Teil gruppieren sich die Lunge (肺), das Herz (心) und
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Abbildung 49: Darstellung der inneren Organe aus San cai tu hui von Wang Qi, 1609.
die Herz-Hülle (包絡); ihre Bezeichnungen werden von oben nach unten entlang der Mittelachse des Bildes übereinander geschrieben. Im mittleren Teil befindet sich der Magen (胃), während die Milz (脾) auf der rechten Seite und die nacheinander geschriebenen Zeichen für Leber und Gallenblase (肝膽) auf der linken Seite zu sehen sind. Im unteren Teil werden die symmetrischen Formen der Nieren (腎 bzw. 命門) so angeordnet, dass sie die Mittelachse des Bildes flankieren und einen Zwischenraum bilden, wobei der Dünndarm (小 腸) und der Dickdarm (大腸) nach links unten und rechts unten gerückt werden. Diese Darstellung unterliegt keiner kohärenten Perspektive: Die Nieren, die für gewöhnlich nur in der Rück- oder Seitenansicht des Körperinneren zu sehen sind, erscheinen nun mit allen anderen Eingeweiden zusammen auf einer Ebene. Die Schriftzeichen weisen eine unterschiedliche Größe auf. Sie entspricht aber nicht der tatsächlichen Größe oder dem Umfang der jeweiligen Organe, sondern bezieht sich vielmehr auf die Wichtigkeit, die ihnen im Hinblick auf ihre Funktion zugeschrieben wird: In der chinesischen Medizin gilt zum Beispiel die Stelle zwischen den beiden Nieren als »Quelle« aller Eingeweide und zugleich als der Ort, an dem die essenzielle Lebenskraft (qi) erzeugt wird.61 Die Nieren werden deshalb nicht nur durch ihre grafische Darstellung und ihr großes Schriftbild hervorgehoben; an der entsprechenden Stelle findet
61 Nan jing 8.
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sich auch eine Angabe mit folgender Erklärung: »Hier ist der Ort, wo die Wurzel [der Lebenskraft] ist«. Das Erstaunliche an den Linien dieses Diagramms besteht darin, dass ihnen eine Funktion zukommt, die über den bloßen Hinweis auf die Verbindungen zwischen den inneren Organen hinausgeht. Wir sehen, dass Herz (心) und Dünndarm (小腸) auf der linken Seite sowie Lunge (肺) und Dickdarm (大腸) auf der rechten Seite jeweils durch eine gekrümmte Linie miteinander verbunden sind.62 Diese beiden Linien tun aber noch mehr, denn sie umgeben die Eingeweide und schließen sie in einen den Torso andeutenden Raum ein. Damit verleihen sie den in eine Konstellation gebrachten Zeichen zugleich eine gewisse Figürlichkeit und lassen eine spezifische Bildlichkeit in die diagrammatische Darstellung der inneren Organe einfließen. Das Bild des Körperinneren wird hier zu einem Ineinander von Bild und Text. Die räumliche Relation, in der die unterschiedlichen Elemente zueinander stehen, vermittelt eine Kenntnis der organischen Beziehungen.63 Dass dieses Bild nicht darauf abzielt, das Körperinnere zu beschreiben, sondern darauf, dem Körper eine bestimmte lesbare Beziehungsstruktur einzuschreiben, liegt auf der Hand. Indem die inneren Organe auf Zeichen bzw. Graphen reduziert und auf dem Papier in einer Komposition fixiert werden, emanzipieren sie sich nicht nur von ihrer Form, Größe und Lage innerhalb des Körpers, sondern konstruieren zugleich ein Operationsfeld, eine Karte des Körperinneren, auf der die geheimen Verbindungen zwischen inneren Organen, die in Wirklichkeit räumlich getrennt sind und scheinbar nichts miteinander zu tun haben, eingetragen werden können. Wenn die westlichen Anatomen einen formanalytischen Blick auf den Innenraum des Körpers richten, dann ist der Blick, den die chinesischen Mediziner auf das Körperinnere werfen, eher ein diagrammatischer. Anstatt die
62 Die Ausführung der Linien erklärt sich dadurch, dass diesen Organen in der chinesischen Medizin eine enge Beziehung zugesprochen wird. Nehmen wir das Herz und den Dünndarm als Beispiel. Die chinesische Medizin geht davon aus, dass die Schädigung des Herzens die Funktion des Dünndarms stören kann. Umgekehrt können auch Störungen des Dünndarms dem Herzen schnell schaden. Aus diesem Grund wird im vorliegenden Bild eine Linie zwischen dem Herzen und dem Dünndarm gezogen. (Siehe Ji Shao-liang 季紹良 u.a. [Hrsg.]: Liang zhong yi ji chu li lun xue 中醫基礎理論學, Taipeh 2008, S. 95-96.) 63 Vgl. dazu Mahr, Bernd; Robering, Klaus: »Diagramme als Bilder, die Modelle repräsentieren: Diagrammgebrauch in der Elementargeometrie«, in: Zeitschrift für Semiotik 3-4 (2009), S. 275-309, hier S. 279-282.
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Formen, aus denen der Körper besteht, zu erforschen und unmittelbar im Bild einzufangen, versuchen die chinesischen Mediziner vielmehr, die geheimen inneren Beziehungen zwischen den Eingeweiden zu veranschaulichen. Ihr vermeintliches Desinteresse, das Körperinnere in einem »neuen« Stil oder auf »genauere« Weise darzustellen, hängt mit diesem diagrammatischen Blick auf den Körper zusammen. Für sie ist der Körper nicht etwas, das immer wieder geöffnet werden muss, um die Darstellung seines Inneren zu überprüfen und mit anderen Bildern abzugleichen. Im Gegenteil: Sobald die Eingeweide einmal zutage gefördert worden sind, wird der Körper als ein Raum angesehen, in dem sich die Eingeweide wie disparate Elemente verteilen, die miteinander in bestimmte Beziehungen treten und einander beeinflussen können. In diesem Zusammenhang dienen die Bilder des Körperinneren in der chinesischen Medizin gerade dazu, einerseits einen Überblick über die Eingeweide, das heißt, über die im Körper vorhandenen, verstreuten Elemente zu geben, und andererseits die unsichtbaren Beziehungen zwischen diesen Elementen aufzuzeigen. Derart haben die Mediziner diese Beziehungen nicht nur vor Augen, sondern können sie auch verinnerlichen und beispielsweise von Symptomen, die mit dem Dünndarm verbunden sind, auf eine mögliche Schädigung des Herzens schließen. Diese Bilder ermöglichen es also, körperliche Erscheinungen als Indizien für latente Prozesse in einem unsichtbaren Beziehungsgeflecht zu deuten. Wenn die chinesischen Mediziner anscheinend niemals die »Unzulänglichkeit« der schematischen Darstellungen des Körperinneren gespürt haben, so deshalb, weil diese Bilder auch niemals dazu bestimmt waren, den realen Blick auf den Körper zu ersetzen. Sie sollen vielmehr nur ein diagrammatisches Modell liefern, das die verschiedenen, sich überlagernden Beziehungen zwischen den Eingeweiden veranschaulicht. Anders als die anatomischen Abbildungen in der westlichen Medizin, die sich auf konkrete Elemente im geöffneten Körper beziehen, zeigen die chinesischen Bilder die Relationen zwischen den inneren Organen im Hinblick auf deren »sympathetische Mächte«, 64 also auf ihre sich aufeinander beziehenden pathologischen Symptome und physiologischen Funktionen. Dabei erweist sich der Körper als ein Grund, auf dem diese Relationen stattfinden. Er ist nicht ein geheimnisvolles, immer wieder neu zu entdeckendes Land, sondern vielmehr eine Karte, auf der die lebendigen Relationen aufgezeichnet und eingetragen werden. Aus dieser Perspektive betrachtet, verkörpert ein Bild, das sich in Yi yin tang ye zhong jing guang wei da fa 伊尹湯液仲景廣為大法 findet, vielleicht
64 Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 265.
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Abbildung 50: Darstellung der inneren Verhältnisse in Yi yin tang ye zhong jing guang wei da fa von Wang Hao-gu, Edo-Zeit.
am deutlichsten und auch am erstaunlichsten eine solche Sichtweise des Körpers (Abb. 50). Der Körper gleicht hier einem Feld, auf dem seine verstreuten Organe, Zonen und Elemente durch mäandernde, sich überkreuzende Linien miteinander verbunden sind.
3.4 DER GERASTERTE BILDRAUM In der chinesischen und in der westlichen Medizin wird das Körperinnere, so konnten wir feststellen, in zwei vollkommen unterschiedlich konzipierte Bildräume gerückt. Wie bereits erwähnt, wird das Körperinnere in der westlichen Anatomie seit dem 16. Jahrhundert in einem perspektivisch konstruierten Bildraum dargestellt. Panofsky hat uns in seinem bekannten Aufsatz Die Perspektive als »symbolische Form« auf die Charakteristika eines solchen Raumes aufmerksam gemacht: Der perspektivische Raum ist ein unendlicher, stetiger und homogener Raum, also ein rein mathematischer Raum, der keineswegs mit dem Wahrnehmungsraum übereinstimmt.65 Während der Raum in
65 Panofsky: »Die Perspektive als ›symbolische Form‹«, S. 101.
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der unmittelbaren Wahrnehmung niemals unendlich erscheint und dessen Vorne und Hinten, Oben und Unten, Rechts und Links keineswegs äquivalent sind, negiert die Struktur des perspektivischen Raumes die begrenzte Reichweite der leiblichen Wahrnehmungsfähigkeit und den psychophysisch wahrgenommenen Unterschied zwischen verschiedenen Orten und Richtungen.66 Diese mit der perspektivischen Darstellungstechnik einhergehende Abstrahierung, also die Mathematisierung und Geometrisierung des Raumes, hat weitreichende Auswirkungen zur Folge. Sie verwandelt den Wahrnehmungsraum nicht nur in einen Raum, dessen Elemente – also die Punkte, die sich in ihm zusammenfügen – von allen Inhalten leer sind,67 sondern auch in einen Raum, der gegenüber dem, was in ihm dargestellt werden soll, vollkommen gleichgültig ist: Alle Gegenstände werden den einheitlichen geometrischen Darstellungsprinzipien unterworfen und ohne Rücksicht auf ihre Eigenart allein durch ihre »Lagebeziehung im Raum« bestimmt.68 Diesbezüglich führt Sybille Krämer aus: »Die Geometrie wird zu einer ›universellen Sprache‹, zu einer ›visuellen Syntax‹, die homogenisiert, was überhaupt im Medium des Bildes zur Erscheinung kommen kann. Das Phänomen des Sehens wird berechenbar gemacht und in eine symbolische Funktion transformiert, das ›Etwas-als-etwas-Sehen‹ wird zu einer methodischen Prozedur stereotypisiert. Kurzum: Die perzeptive Phänomenalität wird zu einem mathematisierbaren Produkt.«69
Interessanterweise ging die Genese dieses Konzeptes des perspektivischen Raumes mit der Entwicklung neuer Bildgebungsverfahren einher, die das perspektivische Zeichnen erleichtern sollten. In De Pictura empfiehlt Alberti dem Maler, ein velum, also ein Fadengitter, zur Einteilung der Gegenstände zu verwenden.70 »Dabei handelt es sich […]«, so erklärt Alberti,
66 Siehe ebd. 67 Siehe ebd. 68 Siehe Krämer: »Über die Rationalisierung der Visualität und die Visualisierung der Ratio«, S. 56-57. 69 Ebd., S. 57. 70 Das Fadengitter-Verfahren wurde allerdings nicht von Alberti erfunden. Sein Erfinder ist unbekannt. Die Historiker vermuten, dass bereits Masaccio und Filippo Brunelleschi das Fadengitter für die zentralperspektivische Konstruktion verwen det haben. Zu Masaccio vgl. Hoffmann, Volker: »Masaccios Trinitätsfresko: Die
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»um ein Tuch, das aus feinstem Faden lose gewoben ist, nach Belieben gefärbt, mit etwas dickeren Fäden in eine beliebige Anzahl von parallelen Quadraten eingeteilt und über einen Rahmen gespannt. Dieses Tuch nun bringe ich zwischen dem Körper, der dargestellt werden soll, und dem Auge so an, dass die Sehpyramide das lose Gewebe des Tuches durchdringt.«71
Für Alberti hat der Gebrauch des velum, das den senkrechten Schnitt durch die Sehpyramide darstellt, den Vorteil, dass die Gegenstände, sofern man sie mit einem einzigen Auge an einer fixierten Stelle betrachtet, immer unverändert im Blick bleiben. Es reduziert die darzustellenden Gegenstände sowie den Raum, in dem sie sich befinden, auf ein flaches, perspektivisches Bild, so dass man »die Lage der Säume und die Grenzmarken der Flächen« einfach anhand des Gitternetzes, mit dem das Blickfeld überzogen ist, Quadrat für Quadrat auf eine andere Fläche, die dem velum entsprechend mit Quadraten versehen ist, übertragen kann.72 In diesem Sinne ist das velum eine Maschine, die das visuelle Phänomen automatisch abflacht und perspektivisch geometrisiert, aber auch in einzelne Quadrate zerlegt und in ein koordiniertes System einschließt. Derart wird das Sichtbare skaliert und vermessbar. Im Übrigen verwandelt das velum den Akt des perspektivischen Zeichnens in einen Akt des Kartografierens und in eine nahezu rein mechanische Operation, die darin besteht, Punkte an ihren zugeschriebenen Platz auf der gerasterten Fläche anzuordnen, oder um mit Bernhard Siegert zu sprechen, »Daten unter bestimmten Adressen abzuspeichern«. 73 In diesem Zusammenhang handelt es sich bei dem bekannte
Perspektivkonstruktion und ihr Entwurfsverfahren«, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 1/2 (1996), S. 42-77; Dyett, Marleen: Aus der Perspektive: Raster, Gitter, Netze: Betrachtungen zu einem Formelement der Kunst, Würzburg 2013, S. 52-63. Zu Filippo Brunelleschi vgl. Hoffmann, Volker: »Filippo Brunelleschi: Kuppelbau und Perspektive«, in: Bozzoni, Corrado; Carbonara, Giovanni; Villetti, Gabriella [Hrsg.]: Saggi in onore di Renato Bonelli: Quaderni dell’istituto di storia dell’architettura, Rom 1992, S. 317-326, hier S. 323-325. Zu Alberti vgl. auch Dyett, Marleen: Aus der Perspektive: Raster, Gitter, Netze, S. 7896. 71 Alberti: De Pictura, S. 249. 72 Ebd. 73 Siegert, Bernhard: »(Nicht) Am Ort: Zum Raster als Kulturtechnik«, in: Thesis: Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar 49 (2003), S. 92104, hier S. 93. Vgl. dazu Schäffner, Wolfgang: »Raster-Orte«, in: Zinsmeister,
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Abbildung 51: Der Zeichner mit Fadengitter und quadriertem Papier aus Albrecht Dürers Underweysung der Messung, 1538.
Szenario (Abb. 51), das Dürer in der zweiten Auflage seiner Underweysung der Messung von 1538 zeigt, nicht einfach um eine Abbildung des Apparates, sondern vielmehr um eine Inszenierung, in der sich perspektivische, kartografische, geometrische und mechanische Operation überlagern. Als der deutsche Anatom Bernhard Siegfried Albinus (1697-1770) in Zusammenarbeit mit dem holländischen Künstler Jan Wandelaar (1690-1759) die Abbildungen für seinen anatomischen Atlas Tabulae sceleti et musculorum corporis hominis (1747) anfertigte, verwendete er ein Dispositiv, das dem des velum-Verfahrens sehr ähnlich war:74 Er stellte einen großen Rahmen, der mit waagerecht und senkrecht gespannten Schnüren in Quadrate eingeteilt war,
Annett [Hrsg.]: Constructing Utopia: Konstruktionen künstlicher Welten, Zürich [u.a.] 2005, S. 47-56; Siegert, Bernhard: »Raster«, in: Wittmann, Barbara: Werkzeuge des Entwerfens, Zürich 2018, S. 195-224. 74 Zur Zeichentechnik von Albinus siehe Punt, Hendrik: Bernard Siegfried Albinus (1697-1770): On »Human Nature«, Anatomical and Physiological Ideas in Eighteenth Century Leiden, Amsterdam 1983, S. 18-53; Punt, Hendrik: »Bernard Siegfried Albinus (1697-1770) und die anatomische Perfektion«, in: Medizinhistorisches Journal 4 (1977), S. 325-345, insb. S. 332-337; Roberts: The Fabric of the Body, S. 323-329; Müller, Irmgard; Watzke, Daniela: »›Weil also die beste Abbildung [...] immer ein dürftiges Gleichnis bleibt.‹: Zu den Visualisierungsverfahren im 18. Jahrhundert«, in: Schultka, Rüdiger; Neumann, Josef N. [Hrsg.]: Anatomie und anatomische Sammlungen im 18. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 223-250, insb. S. 233-239; Huisman, Tim: »Squares and Diopters: The Drawing System of a Famous Anatomical Atlas«, in: Tractrix: Yearbook for the History of Science, Medicine Technology and Mathematics 4 (1992), S. 1-11.
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Abbildung 52-53: Rekonstruktion der Zeichentechnik von Albinus nach Hendrik Punt.
unmittelbar vor dem abzubildenden Skelett auf und brachte das mit einem ähnlichen Liniennetz überzogene Zeichenbrett in eine Lage, die vom Skelett in einem Abstand von 40 Rheinländischen Fuß (= 12.53 m) entfernt war.75 Der Künstler blickt mit einem Auge durch ein fixiertes Loch, ein »foramen fixum«,76 überträgt die Punkte des Skeletts, die mit dem Fadennetz zusammenfallen, nach und nach auf die Quadrate des Zeichenpapiers und wandelt sie so in die Umrisse des Skeletts um (vgl. Abb. 52). Weil die Details des abzubildenden Skeletts in solch einer großen Entfernung nur schwer berücksichtigt werden konnten, stellte Albinus einen zweiten, kleineren, wiederum mit Schnüren unterteilten Holzrahmen vor den ersten Rahmen auf, so dass der Künstler imstande war, jeden beliebigen Teil des Skeletts durch zwei hintereinander angebrachte Gitternetze aus geringerem Abstand nachzuzeichnen (Abb. 53).77 Mit diesem Doppelgitter-Verfahren wollte Albinus nicht nur die Verkürzungen und Verzerrungen, die mit der perspektivischen Technik einhergehen, umgehen,78 sondern auch, »das Risiko, dass sich der Künstler in den Proportionen irren könnte«, minimieren. 79 Albinus zielt nicht zuletzt auch darauf, den menschlichen Körper in eine »vermeßbare topographische Fläche« zu transformieren.80
75 Siehe Müller: »›Weil also die beste Abbildung [...] immer ein dürftiges Gleichnis bleibt.‹«, S. 233. 76 Punt: »Bernard Siegfried Albinus (1697-1770) und die anatomische Perfektion«, S. 333. 77 Vgl. ebd., S. 333-334. 78 Vgl. ebd., S. 332-333; Müller: »›Weil also die beste Abbildung [...] immer ein dürftiges Gleichnis bleibt.‹«, S. 234-236; Huisman: »Squares and Diopters«, S. 3-4. 79 Daston: »Das Bild der Objektivität«, S. 43. 80 Schäffner, Wolfgang: »Schauplatz der Topographie: Zur Repräsentation von Körper und Landschaft in den Niederlanden (1550–1650)«, in: Müller, Jan-Dirk [Hrsg.]:
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Abbildung 54-55: Mit Buchstaben als Erläuterungsschlüssel versehene Umrisszeichnung des menschlichen Skeletts sowie eine ausgeführte Darstellung mit Nashorn im Hintergrund aus Tabulae sceleti et musculorum corporis humani von Albinus, 1747.
Sehen wir uns die Abbildungen an, die Albinus in seinem Atlas Tabulae sceleti et musculorum corporis humani als Endprodukt zeigt: Das Gitternetz ist auf ihnen nicht mehr zu finden (Abb. 54 und 55).81 Sein Verschwinden bedeutet jedoch nicht, dass es keine Rolle mehr spielen würde. Ganz im Gegenteil: Es ist nun ein unsichtbares Prinzip, das der Darstellung aller sichtbaren Elemente zugrunde liegt. Daran ändern auch die blühende Landschaft (vgl. Abb. 55) und die exotischen Tiere, die Wandelaar in den Hintergrund des Bildes eingefügt hat, nichts. Der Körper wird in einen homogenen, geometrischen Raum gerückt und erhält erst innerhalb dieses koordinierten Rastersystems sein Spiegelbild.
Aufführung und Schrift in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart 1997, S. 596616, hier S. 608. 81 In der Universitätsbibliothek Leiden finden sich heute noch die von Jan Wandelaar gefertigten Vorlagen für die Abbildungen in Tabulae sceleti et musculorum corporis humani, die mit dem Gitternetz versehen sind. Vgl. dazu die Abbildungen in Punt: Bernard Siegfried Albinus (1697-1770): On »human nature«.
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Abbildung 56-57: Darstellung einer sezierten Ganzfigur und eines Skeletts aus Tabulae Anatomicae von Bartolommeo Eustachi, 1722.
In der Geschichte der westlichen Anatomiedarstellungen gibt es jedoch einen Augenblick, in dem das Raster innerhalb der Darstellung wieder auftaucht: Unter den anatomischen Tafeln des Bartolomeo Eustachi82 finden sich Darstellungen der Ganzfigur (Abb. 56) und des Skeletts (Abb. 57), die ein an eine geodätische Messlatte erinnernder Koordinaten-Rahmen umgibt.83 Die anatomische Figur posiert auf einer Platte, die anscheinend direkt hinter dem gerahmten »Fenster« liegt, und wirft einen Schatten auf sie. Dabei wird der Leser immer wieder dazu aufgefordert, ein imaginäres Liniennetz über das Bild zu legen, das ihm das Auffinden bestimmter Körperpartien, die im Text erwähnt werden, erleichtern soll. Auch wenn der Künstler also das Raster nicht mehr
82 Die anatomischen Tafeln des Bartolomeo Eustachi wurden 1552 von Giulio de Musi angefertigt und sollten ursprünglich Bartolommeo Eustachis Buch De dissensionibus ac controversiis anatomicis beigegeben werden. Das Werk wurde jedoch nie fertiggestellt. 1717 wurden diese Tafeln wiedergefunden und während des 18. Jahrhunderts in etlichen Editionen mit Erläuterungen herausgegeben, darunter Albinus’ Explicatio tabularum anatomicarum Bartholomaei Eustachii (1744). Vgl. Herrlinger: Geschichte der medizinischen Abbildung, S. 133. 83 Vgl. ebd.
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im Bild zeigt, so soll sich doch der Leser mithilfe des Koordinaten-Rahmens dieses Raster wieder ins Gedächtnis rufen. Dieser Koordinaten-Rahmen ist jedoch durchaus ambivalent: Während er im unteren Teil des Bildes die Konturen der albertischen Fensteröffnung markiert, ragen die Finger der Figur (Abb. 56 oben) und der Schädel des Skeletts (Abb. 57 oben) über ihn hinaus, als wären sie imstande, den durch ihn definierten Bildraum, in dem sie sich gerade befinden, zu verlassen. Einerseits umgibt dieser Koordinaten-Rahmen also einen perspektivisch entfalteten Bildraum, den er in eine kartografisch-geometrische Fläche verwandelt. Andererseits offenbart er plötzlich seine Materialität und wird von der dargestellten Figur gesprengt und in Frage gestellt.
3.5 DIE KARTOGRAFIE DES TAKTILEN Es gilt nun zu fragen, in was für einem Bildraum das Körperinnere in der chinesischen Medizin dargestellt wird. Vergegenwärtigen wir uns die verschiedenen Bilder, die wir bisher behandelt haben, so müssen wir zugeben, dass wir diese Frage nicht pauschal beantworten können. Festzustellen ist dennoch, dass das Körperinnere in der chinesischen Medizin keineswegs »ortlos« ist, nur weil es nicht in einem perspektivischen, geometrisch konstruierten Raum dargestellt wird. In der chinesischen Medizin wurde vielmehr eine besondere Methode entwickelt, um die Eingeweide im Körper zu verorten: Sie werden durch die auf der Hautoberfläche taktil spürbaren Knochen lokalisiert. Dabei nimmt das Rückgrat eine zentrale Rolle ein, denn die Eingeweide werden anhand der Rückenwirbel räumlich zugeordnet. In Cang fu zhi zhang tu shu 藏 府指掌圖書 (1639) von Shi Pei 施沛 ist zu lesen, dass die Lunge am dritten, das Herz am fünften, die Leber am neunten, die Gallenblase am zehnten, die Milz am elften, der Magen am zwölften, die Niere am vierzehnten, der Dickdarm am sechzehnten, der Dünndarm am achtzehnten und die Harnblase unterhalb des neunzehnten Wirbels aufgehängt ist.84 Wenn wir vor diesem Hintergrund die Seitenansicht des inneren Körpers aus einem Traktat von Shi Pei betrachten (Abb. 58), so erkennen wir, dass das den Rumpf auf der linken Seite umrahmende Rückgrat nicht auf die gleiche Weise wie die seitlich zu sehenden Knochen aufgefasst werden kann. Es fungiert vielmehr als ein dem Körper inhärenter Maß-Stab, mit dessen Hilfe sich 84 Siehe Shi Pei 施沛: »Cang fu zhi zhang tu shu 藏府指掌圖書«, in: Zheng JinSheng 鄭金生[Hrsg.]: Hai wai hui gui zhong yi shan ben gu ji cong shu 海外回歸 中醫善本古籍叢書, Bd. 12, Peking 2003, S. 595-632, hier S. 607-616.
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Abbildung 58: Seitenansicht des inneren
Abbildung 59: Darstellung des oberen
Körpers aus Cang fu zhi zhang tu shu
Rumpfes aus Yi yin tang ye zhong jing
von Shi Pei, 1639.
guang wei da fa von Wang Hao-gu, EdoZeit.
das räumliche Verhältnis zwischen den inneren Organen bestimmen lässt. In anderen Darstellungen des Körperinneren in der chinesischen Medizin weist das Rückgrat tatsächlich nicht selten dieselbe Funktion auf (vgl. Abb. 48 und 59). Wir müssen jedoch betonen, dass die Maßeinheit, die das Rückgrat bildet, keine invariable mathematische Größe ist. Es sind vielmehr die einzelnen, entlang der Mittellinie des Rückens verlaufenden, ertastbaren Knochenpunkte, die als Maßeinheit die Struktur des Raumes bestimmen. Die räumliche Ordnung, die auf diesen Knochenpunkten beruht, erschließt sich einem erst durch ein zählendes Ertasten: Indem man tastend die Wirbel des Rückgrates abzählt, erschließt man mittels der Hautoberfläche das Innere des Körpers und bringt die Eingeweide in ein bestimmtes räumliches Verhältnis zueinander. Wenn die inneren Organe in der westlichen Medizin in einem homogenen, rein mathematischen Raum – einem rasterförmigen Raum – wiedergegeben werden, so ist dieser taktile Raum einer, der durch die Wirbel gegliedert und durch den Tastsinn erfasst wird. Ein Vergleich der westlichen Knochendarstellungen mit denen der chinesischen Medizin offenbart uns schnell die wesentlichen Unterschiede. Während Vesalius in der Fabrica den Knochen rund 170 Seiten, das heißt mehr als
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Abbildung 60: Das Bild der Vermessung und Lagen der Knochen in Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt.
ein Viertel seines Werkes, und zahlreiche Abbildungen widmet, gibt es in der chinesischen Medizin kaum ein Bild, das wirklich als bildliche Wiedergabe der Knochen gelten kann.85 In Lei jing tu yi 類經圖翼 von Zhang Jie-bin 張介 賓 zum Beispiel finden sich zwei Bilder, die mit dem Titel Das Bild der Vermessung und Lagen der Knochen (Gu du bu wei tu 骨度部位圖) versehen sind (Abb. 60). Es fällt jedoch auf, dass es sich bei ihnen eigentlich um die
85 Dazu vgl. Zhang Zhe-Jia 張哲嘉: »Qing dai jian yan dian fan de zhuan xing. Ren shen gu jie lun bian suo fan ying de qing dai zhi shi di tu 清代檢驗典範的轉型. 人 身骨節論辨所反映的清代知識地圖«, in: Sheng ming yi liao shi yan jiu shi 生命 醫療史研究室 [Hrsg]: Zhong guo shi xin lun: Yi liao shi fen ce 中國史新論: 醫療 史分冊, Taipeh 2015, S. 431-473; Despeux, Catherine: »The Body Revealed: The Contribution of Forensic Medicine to Knowledge and Representation of the Skeleton in China«, in: Bray, Francesca; Dorofeeva-Lichtmann, Vera; Métailié, Georges [Hrsg.]: Graphics and Text in the Production of Technical Knowledge in China: The Warp and the Weft, Leiden [u.a.] 2007, S. 635-684.
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Abbildung 61-62: Seitenansicht der Rippen und des Beines aus Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt.
Vorder- und Rückansicht einer männlichen Figur handelt, an deren Körperoberfläche mit Schriftzeichen die Stellen markiert worden sind, an denen sich die unterschiedlichen Knochen befinden. Obwohl hier von den Knochen die Rede ist, handelt es sich bei dem, was gezeigt wird, nicht um die Knochen an sich, sondern vielmehr um die Stellen, an denen die Knochen erfühlt werden können. Diese Bilder setzen daher den tastenden Finger voraus. Wenn die Knochen in der Fabrica abgebildet und mit Zeichenschlüsseln und Erläuterungen versehen werden, damit diese nicht nur sichtbar, sondern auch bezeichenbar werden, so geht es den Bildern von Zhang Jie-bin eher darum, der Körperoberfläche eine Tastbarkeit, also eine taktile Differenzierbarkeit zu verleihen und diese Tastbarkeit durch den Einsatz der Schriftzeichen in Sprache zu übersetzen. Diese Bilder führen also nicht die Knochen und ihre Eigenschaften vor Augen, sondern müssen vielmehr als eine Kartografie des Taktilen verstanden werden. In Lei jing tu yi können wir Bilder finden, in denen die unter der Haut liegenden Knochen direkt auf der Oberfläche des Körpers gezeichnet werden (Abb. 61 und 62). Die Logik bleibt jedoch dieselbe: Es handelt sich nicht um Knochen, die ans Licht gebracht und zur Schau gestellt werden, sondern um solche, die an der Hautoberfläche zu ertasten sind. Dabei werden sie eher angedeutet als abgebildet, wirken eher schematisch als detailliert realistisch.
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Abbildung 63: Detail aus der anatomischen Tafel von Crisóstomo Martínez, ca. 16801694.
Im Unterschied zu den Skelettfiguren, die etwa vom spanischen Kupferstecher Crisóstomo Martínez (ca. 1638-1694) in einer anatomischen Tafel (Abb. 63) gezeigt werden, 86 sind die Knochen hier nicht sichtbar, weil der Körper gleichsam transparent gemacht wurde. Sie werden auch nicht dargestellt, weil sie die Form und Gestalt des Körpers bestimmen. Wenn sie auf der Oberfläche des Körpers erscheinen und sich mit anderen, von außen sichtbaren Dingen sowie mit den auf dem dargestellten Körper markierten Punkten und Linien überlagern, so aus dem Grund, weil sie eine Orientierung bieten: Die Knochen bilden ertastbare Differenzen auf der Körperoberfläche, sie fungieren als eine unter der Haut liegende Struktur, als Abbildung 64: eine taktile Topografie, die auf der Verteilung von Hartem Detailansicht der und Weichem basiert. Mit ihrer Hilfe sollen die Punkte Abb. 62. und Linien, die nach der Theorie der chinesischen Medizin über den ganzen Körper verstreut sind, an einem wirklichen Körper leichter lokalisierbar sein. Nehmen wir den Punkt namens yang guan 陽關 als Beispiel: Anhand der Abbildung 64 kann man diesen Punkt relativ einfach am Körper des Patienten erspüren, da er sich genau in
86 Zu Crisóstomo Martínez siehe Valverde, Nuria: »Small Parts: Crisóstomo Martínez (1638–1694), Bone Histology, and the Visual Making of Body Wholeness«, in: Isis 100 (2009), S. 505-536.
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Abbildung 65: Darstellung der
Abbildung 66: Das Bild des gesamten Rückens
Wirbelsäule aus der Fabrica, 1543.
aus Lei jing tu yi, Jahr unbekannt.
einer Senke zwischen zwei Beinknochen, also in einem Spalt, einer tastbaren Differenz befindet. Vor diesem Hintergrund ist der erhebliche Unterschied, der bei dem Vergleich zwischen der Darstellung der Wirbelsäule von Vesalius (Abb. 65) und der von Zhang Jie-bin (Abb. 66) sichtbar wurde, auf folgende Weise zu deuten: Wenn es Vesalius darum geht, die präparierte Wirbelsäule in einem vorbestimmten, perspektivisch konstruierten Bildraum wiederzugeben und möglichst naturgetreu auf die Bildebene zu transponieren, so geht es Zhang Jie-bin vielmehr darum, durch den Einsatz der Wirbelsäule auf dem Papier einen Bildraum hervorzubringen und diesen wiederum in einen Körperraum des Rückens zu transformieren. Anders als die in der Fabrica gezeigte Wirbelsäule, die auf sich selbst verweist und vorgibt, die bildliche Wiedergabe einer abwesenden Wirbelsäule zu sein, erweist sich die in der Lei jing tu yi gezeigte Wirbelsäule als eine Achse, die die Bildfläche in eine linke und eine rechte Hälfte teilt und durch ihre mit fortlaufenden Nummern versehenen Knochenpunkte die Gliederung der Fläche definiert. Genau in diesem Sinne wird die Wirbelsäule im
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Bild von Zhang Jie-bin nicht in einem vorgegebenen Raum dargestellt; vielmehr konstituiert die Wirbelsäule selbst allererst einen Raum, in dem verschiedene Punkte entlang der zu ihr symmetrisch verlaufenden Linien in eine Konstellation zueinander treten. Dabei handelt es sich um einen Raum, der sich aus dem jedem Körper eigenen Stab, der Wirbelsäule, ergibt und aus den taktilen Differenzen hervorgeht, aber auch um einen Körper ohne feste Umrisse, ohne Konturen und ohne Form.
4
Das Bild der Gefäße und mai 脈
»Theory furnishes laws, and experience furnishes dexterity: the best practitioner is the one who, taught and trained with both theory and experience, is a master of his art. Burning and acupuncture are the two primary operations among the Chinese and Japanese who employ them to be free from every pain. If these two peoples […] were deprived of the two techniques, their sick would be in a pitiful state without hope of cure or alleviation.«1
Diese Zeilen schreibt der niederländische Arzt Willem ten Rhijne (1647-1700) in seiner 1683 in London erschienenen Schrift Dissertatio de Arthritide: Mantissa Schematica: De Acupunctura. Et Orationes Tres […].2 In dieser Abhandlung, in der die chinesische Akupunktur zum ersten Mal in Europa detailliert vorgestellt wird, berichtet ten Rhijne nicht ohne Erstaunen davon, dass in China und Japan nicht der Aderlass, sondern die Akupunktur und Moxibustion weit verbreitet seien. Verblüfft von deren Heilkraft, möchte er die chinesischen Behandlungstechniken den Europäern vermitteln. Dabei legt er viel Wert auf die Abbildungen aus der chinesischen Medizin, die er in seinem Werk präsentiert:
1
Willem ten Rhijnes Abhandlung wurde von John Z. Bowers und Robert W. Carrubba ins Englische übersetzt: Bowers, John Z.; Carrubba, Robert W.: »The West ern World’s First Detailed Treatise on Acupuncture: Willem Ten Rhijne’s De Acupunctura«, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 29 (1974), S. 371-98, hier S. 375.
2
Zu Willem ten Rhijne siehe Michel, Wolfgang: »Willem ten Rhijne und die japanische Medizin I«, in: Dokufutsu Bungaku Kenkyu 39 (1989), S. 75-125; Bivins, Roberta: Acupuncture, Expertise and Cross-cultural Medicine, Basingstoke, Hampshire [u.a.] 2000, S. 48-65.
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Abbildung 67-68: Icon Sinensis und Effigies Sinica aus der Dissertatio de Arthritide von Willem ten Rhijne, 1683.
»Since this method is so very different from the practice of Westerners, and since a thorough demonstration of it would involve a huge amount of labor, and since this would not be suited to the flat surface of a book page, I thought it best to present illustrations clarifying separate dissertations. These authentic diagrams, which had long been neglected and ignored through want of an interpreter, at last came into my possession after I was assigned to Japan and sought out these representations for myself.«3
Ten Rhijne vertraut seinen Lesern an, dass er gerne noch andere in seinem Besitz befindliche Bilder hätte stechen lassen, dies aber leider wegen der zusätzlichen Kosten habe aufgeben müssen.4 Dennoch hat er sich nicht den Aufwand gespart, die ihm zur Verfügung stehenden chinesischen Bilder in einen
3
Bowers: »The Western World’s First Detailed Treatise on Acupuncture «, S. 376.
4
Siehe ebd.
Das Bild der Gefäße und mai | 177
europäischen Stil zu übersetzen: In seinen Abbildungen erhalten die »authentischen« chinesischen Körperdarstellungen durch den Gebrauch von Schraffuren eine Plastizität, die ihnen ursprünglich fehlt (Abb. 67 und 68). Anders als es in der Tradition der chinesischen Malerei üblich ist, wird der Körper mit einem Schatten dargestellt und zudem mit abgezogenen Hautlappen versehen, also in einen sezierten, geöffneten Körper umgedeutet (Abb. 68).5 Trotz dieses Versuchs, die chinesischen Bilder zu verwestlichen, zeigt sich ten Rhijne darüber besorgt, sie könnten bei seinen Lesern Abneigung erregen. Er vermutet, dass insbesondere die anatomisch gebildeten Gelehrten diese Bilder problematisch finden könnten. Ihre Ablehnung, so fährt er fort, werde wohl vor allem den auf der Haut eingezeichneten Punkten und Linien gelten: »In many instances, a person especially skillful at the art of anatomy will belittle the lines and the precise points of insertion, and will censure the awkward presentation of the short notes on the diagrams, when these should be more closely identified with walls of the blood vessels.«6
Als ausgebildeter Arzt ist sich ten Rhijne darüber im Klaren, dass diese Markierungen den Europäern unsinnig erscheinen werden. Wie uns die weitere Geschichte zeigt, war seine Sorge berechtigt. Wie ten Rhijne zeigte auch Engelbert Kaempfer (1651-1716), ein Arzt der holländischen Handelsniederlassung, großes Interesse an der chinesischen Akupunktur- und Moxabehandlung, die die japanischen Ärzte zur Linderung von Schmerzen anwandten.7 »Die Japanischen Ärzte«, so schreibt er in den Amoenitatibus exoticis:
5
Dazu vgl. Bivins, Roberta: »Imagining Acupuncture: Images and the Early Westernization of Asian Medical Expertise«, in: Asian Medicine 7 (2012), S. 298-318, hier 303-308. Bivins verweist in ihrem Aufsatz auf die ikonografische Nähe von »Effigies Sinica« in ten Rhijnes Werk zu einer Abbildung in John Brownes A compleat treatise of the muscles, as they appear in humane body, and arise in dissection […] (1681).
6
Bowers: »The Western World’s First Detailed Treatise on Acupuncture«, S. 376.
7
Zu Engelbert Kaempfers Begegnung mit der japanischen Medizin siehe Bivins: Acupuncture, Expertise and Cross-cultural Medicine, S. 65-71; Michel, Wolfgang: »Engelbert Kaempfer und die Medizin in Japan«, in: Haberland, Detlef [Hrsg.]: Engelbert Kaempfer: Werk und Wirkung: Vorträge der Symposien in Lemgo (19.22.9.1990) und in Tokyo (15.-18.12.1990), Stuttgart 1993, S. 248-293; Haberland,
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Abbildung 69: Nadel und Akupunkturpunkte in einer Darstellung aus Engelbert Kaempfers Geschichte und Beschreibung von Japan, 1779.
»pflegen bei einem an der Kolik Kranken neun Nadelstiche vorzuschreiben, welche auf dem Unterbauche geschehen müssen, und zwar so, daß die neun gestochenen Punkte gerade ein Quadrat ausmachen, und allemal zwischen zwei derselben eines umgekehrten doppelten Daumens Breite gelassen wird. […] Jede Reihe dieser Punktierungen hat bei den Lehrern der Kunst einen besonderen Namen, und bei jeder sind eigene Regeln zu beobachten. […] Wenn in diesen drei Reihen nach der Ordnung und den Vorschriften des Meisters der Kunst in gehöriger Tiefe gestochen ist; so hören die Schmerzen der Senke sogleich und oft in einem Augenblick auf, als wenn sie weggezaubert wären. Ich kann dies als Wahrheit versichern, da ich sehr oft Augenzeuge davon gewesen bin. « 8 (vgl. Fig. 6 in der Abb. 69)
Detlef: »Zwischen Wunderkammer und Forschungsbericht: Engelbert Kaempfers Beitrag zum europäischen Japanbild«, in: Croissant, Doris; Ledderose, Lothar [Hrsg.]: Japan und Europa 1543-1929, Ausstellungskatalog Martin-Gropius-Bau Berlin, Berlin 1993, S. 83-93, insb. S. 86-87. 8
Kaempfer, Engelbert: Geschichte und Beschreibung von Japan, Bd. 2, Lemgo 1779, S. 427. Das Werk ist unter http://www.deutschestextarchiv.de/kaempfer_japan02_ 1779 zugänglich (30.06.2019). Kaempfers Abhandlung über die Akupunktur und
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Abbildung 70: Der Moxa-Spiegel aus Engelbert Kaempfers Geschichte und Beschreibung von Japan, 1779.
Kaempfer beschreibt die Behandlungsmethode auf äußerst detaillierte Weise und bildet auch die Geräte, die bei der Akupunkturbehandlung zum Einsatz kommen, in seinem Buch ab (Abb. 69). Er stellt darüber hinaus fest, dass die »zuverlässige und genaue Kenntnis des Orts, der nach Beschaffenheit jeder Art Krankheit gebrannt [und gestochen] werden muss«,9 die entscheidende Grundlage für die Akupunktur und Moxibustion bildet. Dabei entgeht ihm nicht die Diskrepanz zwischen den chinesischen Heilmethoden und der europäischen Anatomie: »Nach unseren europäischen Grundsätzen würde man nun denjenigen Ort für den bequemsten zu Austreibung der Dünste […] halten, der dem leidenden Teile am nächsten ist; aber die […] Kunstverständigen wählen oft einen ganz entfernten Ort, und der mit dem leidenden auf gar keine in der Anatomie bekannte Art, sondern nur durch das allgemeine Band des Körpers zusammenhängt. So ungereimt es einem gewissen litauischen Edelmann schien, bei dem Kopfweh ein Klistier zu geben, so wunderbar kommen dem Fremden die guten Wirkungen des […] Brennmittels vor, das doch an einem ganz
Moxibustion, die ursprünglich in seinen Amoenitatibus exoticis erschien, ist der Geschichte und Beschreibung von Japan als Anhang beigefügt. 9
Ebd., S. 436 [Ergänzung in eckigen Klammern vom Verfasser].
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anderen als dem leidenden Ort angebracht ist. Und doch bre[n]nt man mit wirklichem Erfolge in Magenbeschwerden und um Appetit zu erwecken die Schultern; die Gelenke des Rückgrades bei Seitenstichen, die Muskeln des Daumes bei Zahnschmerzen an eben der Seite, und solcher sonderbaren Beispiele gibt es mehr. Und wo ist nun irgendein Anatomiker scharfsichtig genug, um hier die besondere Verbindung der Gefäße angeben zu können?«10
Kaempfers Lösung für dieses Problem ist einfach: Wenn es keine anatomisch beweisbare Verbindung der Gefäße zwischen der leidenden und der zu behandelnden Stelle gibt, so leugnet er schlicht das Vorhandensein einer solchen Verbindung. Im Unterschied zu ten Rhijne zeigt er daher in seinem MoxaSpiegel (Abb. 70) »die in gewissen Krankheiten zu brennende[n] Orte« nur mit chinesischen und japanischen Schriftzeichen. 11 Während ten Rhijne alle Punkte und Linien, die in den chinesischen Darstellungen auf den Körper geschrieben werden, mehr oder weniger getreu auf einen anatomisierten Körper überträgt, behält Kaempfer in seinen Bildern nur noch all jene Punkte bei, von deren Wirksamkeit er Zeugnis ablegen kann. Kaempfers zwiespältige Einstellung gegenüber der Akupunktur spiegelt die ambivalente Einstellung vieler Europäer gegenüber der chinesischen Medizin wider. Seit sich im 17. Jahrhundert die Kenntnisse über die chinesische Medizin in der europäischen Gelehrtenwelt zu verbreiten begannen, erschien sie vielen Europäern einerseits wunderbar (da viele glaubwürdige Aussagen ihren Nutzen bestätigten), andererseits aber auch rätselhaft oder gar fragwürdig (da sie ein Körperschema voraussetzte, das den Europäern bizarr vorkam). Solche Reaktionen hängen nicht nur mit den unverständlichen Theorien, sondern auch mit den befremdlichen Bildern der chinesischen Medizin zusammen.12 Der englische Sprachforscher William Wotton (1666-1727) kritisierte die chinesischen Körperdarstellungen, die Andreas Cleyer dem 1682 von ihm herausgegebenen Werk Specimen Medicinae Sinicae sive Opuscula Medica ad
10 Ebd., S. 436-437. 11 Ebd., S. 438. 12 Vgl. Rosner, Erhard: »Wege der Diagnostik in der traditionellen chinesischen Medizin«, in: Habrich, Christa; Marguth, Frank; Wolf, Jörn Henning [Hrsg.]: Medizinische Diagnostik in Geschichte und Gegenwart: Festschrift für Heinz Goerke zum sechzigsten Geburtstag, München 1978, S. 51-59.
Das Bild der Gefäße und mai | 181
Abbildung 71: Darstellung einer Akupunkturfigur in Specimen Medicinae Sinicae, 1682.
Mentem Sinensium beigefügt hatte (vgl. Abb. 71),13 zum Beispiel mit folgenden Worten: »The Anatomical Figures annexed to the Tracts, which also were sent out of China, are so very whimsical, that a Man would almost believe the whole to be a Banter, if these Theories were not agreeable to the occasional Hints that may be found in the Travels of the Missionaries.«14 Im Hinblick auf die chinesischen Darstellungen der Eingeweide in Specimen Medicinae Sinicae meinte der englische Arzt John Floyer (1649-1734), den Chinesen reiche 13 Ein Exemplar von Specimen Medicinae Sinicae sive Opuscula Medica ad Mentem Sinensium befindet sich im Besitz der Bibliothèque nationale de France und ist unter http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8623308c einsehbar (30.06.2019). Die meisten Tafeln in Specimen Medicinae Sinica geben die in der chinesischen Medizin verbreiteten Tafeln und Abbildungen relativ getreu wieder. Zu Specimen Medicinae Sinicae sive Opuscula Medica ad Mentem Sinensium vgl. Müller, Hannelore: »Specimen Medicinae Sinicae«: »Das Mai chüeh« oder »Das Geheimnis der Pulslehre« und die Rezeption durch Europäer des 17. Jhs. (Dissertation), München 1994, S. 1-43. Müller hat in ihrer Dissertation die ersten vier Bücher des Specimen Medicinae Sinicae ins Deutsche übersetzt. 14 Wotton, William: Reflections upon Ancient and Modern Learning, London 1694, S. 152.
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offenbar »ein wenig Ähnlichkeit« bereits aus.15 Trotz des Interesses, das viele europäische Gelehrte im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts für die chinesische Medizin zeigten, vermochten sie in den Bildern, die Jesuiten und Reisenden nach Europa schickten, meistens nichts anderes als Beweisstücke für deren Unzulänglichkeit zu erblicken. Die chinesische Medizin schien auf fragwürdigen Grundthesen über den Körper zu beruhen und konnte deshalb nicht ernst genommen werden.16 Die chinesischen Ärzte wiederum reagierten auf nicht weniger ambivalente Weise auf die anatomischen Abbildungen, die die Jesuiten nach China brachten und in etlichen Traktaten veröffentlichten. So bemerkte zum Beispiel der chinesische Arzt Tang Zong-hai 唐宗海 (1851-1908), dass die westliche Medizin zwar die sichtbare »Formkonfiguration« (xing ji 形跡) des Körperinneren sehr gut erforscht habe.17 Die Existenz der »Leitbahnen« (jing mai 經脈) und »Akupunkturpunkte« (xue 穴) sei ihr jedoch unbekannt geblieben.18 Tang Zong-hai, ein Arzt der späten Qing-Dynastie (1616-1912), ist heute vor allem für sein Unternehmen bekannt, chinesische und westliche Medizin miteinander zu versöhnen.19 Sein Projekt bestand darin, die Lehrmeinungen der chinesischen Medizin mithilfe der westlichen Anatomiedarstellungen zu erklären. 20 Um die »Leitbahnen« und »Akupunkturpunkte« darzustellen, musste Tang Zong-hai in seinem Werk Die essenziellen Bedeutungen der medizinischen Klassiker in der gegenseitigen Annäherung von der chinesischen und westlichen [Medizin] (Zhong xi hui tong yi jing jing yi 中西匯通醫經精義, 1892) jedoch auf die traditionelle Formsprache der chinesischen Medizin zurückgreifen (Abb. 72).
15 Floyer, John: The Physician’s Pulse-watch: Or, an Essay to Explain the Old Art of Feeling the Pulse, and to Improve it by the Help of a Pulse-watch: In three parts, London 1707, S. 345. 16 Vgl. Bivins: Imagining Acupuncture, S. 310. 17 Tang Zong-hai 唐宗海: Zhong xi hui tong yi jing jing yi 中西匯通醫經精義, juan 1, 1892, S. 4. 18 Ebd., S. 4 19 Dazu siehe Pi Guo-li 皮國立: Yi tong zhong xi: Tang zong hai yu jin dai zhong yi wei ji 醫通中西: 唐宗海與近代中醫危機, Taipeh 2006. 20 Vgl. Lei, Sean Hsiang-lin: Neither Donkey nor Horse: Medicine in the Struggle over China’s Modernity, Chicago [u.a.] 2014, S. 69-78; ders.: »Qi-Transformation and the Steam Engine: The Incorporation of Western Anatomy and Re-Conceptualisation of the Body in Nineteenth Century Chinese Medicine«, in: Asian Medicine 7 (2012), S. 319-57.
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Abbildung 72: Darstellung der Leitbahn aus Zhong xi hui tong yi jing jing yi von Tang Zong-hai, 1892.
Wer sich mit den Abhandlungen der chinesischen Medizin genauer beschäftigt, wird schnell erkennen, dass diese Linien und Punkte die wichtigsten Elemente der chinesischen Medizin ausmachen. Wie aber fassen die chinesischen Mediziner diese Punkte und Linien auf? Und warum können die europäischen Mediziner sie nicht verstehen? Vergleichen wir den sogenannten »Arterienmann«, eine Abbildung aus dem dritten Buch der Fabrica (Abb. 73), mit einer Darstellung der »Herz-Leitbahnen mit allen ihren Akupunkturpunkten« im Bildatlas der drei Reiche (San cai tu hui 三才圖會) (Abb. 74). Bei der Darstellung von Vesalius handelt es sich um eine ganzseitige Illustration des Arteriensystems. Bemerkenswert ist, dass die Gefäße hier keineswegs in ihrem normalen Zustand, sondern vielmehr schwerelos und wie gefroren in situ dargestellt werden. Ein klarer Körperumriss ist zwar nicht zu sehen, aber die menschliche Gestalt leicht zu erkennen. In Anlehnung an die Darstellungskonvention der »lebendigen Anatomie« des 16. Jahrhunderts sind die Gefäße dieses »Arterienmanns« so arrangiert worden, dass eine lebendige Kunstfigur aus dem Arterienbaum entsteht.21 Diese Figur steht uns gegenüber, wendet uns ihr Gesicht zu, verlagert ihr Körpergewicht
21 Zur »lebendigen Anatomie« des 16. Jahrhunderts vgl. Fichtel: Die anatomische Illustration in der frühen Neuzeit, S. 155-157.
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Abbildung 73: Der »Arterienmann« in der Fabrica, 1543.
etwas auf den rechten Fuß und nimmt eine Pose ein, als wollte sie uns ihren eigenen Körper ohne Vorbehalt zeigen. In dieser Gestalt vereinigen sich die Arterien zu einem zusammenhängenden Ganzen. Der sezierten Leiche wird damit ein neues Leben verliehen, oder besser gesagt: In dieser Darstellung durchdringen der Tod und das Leben einander. Der zerrissene Körper wird gleichsam wieder zusammengefügt und repräsentiert in seiner monströsen Gestalt zugleich die Verzweigungen und Verästelungen der Arterien in allen menschlichen Körpern. Der Arterienmann ist daher einerseits ein auferstandener Toter, aber andererseits auch ein lebender Körper, dessen Haut, Nerven, Muskeln, Venen, Knochen und Organe durchsichtig geworden sind. Was allein sichtbar bleibt, sind die tief im Körper liegenden Arterien. Die anatomische Abbildung bringt sie ans Licht und lädt den Betrachter dazu ein, ungehindert ins dunkle Innere des Körpers zu blicken. Die chinesische Darstellung (Abb. 74) zeigt uns einen Mann mit freiem Oberkörper in aufrechter Haltung. Ähnlich wie der »Arterienmann« stützt er sein Körpergewicht auf den rechten Fuß, streckt seine linke Hand aus und wendet dem Betrachter seine Handfläche zu. Auf seinem Körper sieht man zwei Linien. Die eine verläuft von der Brust über die Schulter, sodann den Arm entlang bis zur Spitze des kleinen Fingers. Die andere verläuft senkrecht vom Hals bis zum Bauchbereich. Unterhalb des Bildtitels, Das Bild der HerzLeitbahnen mit allen ihren Akupunkturpunkten (Xin jing zhu xue tu 心經諸穴
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Abbildung 74: Darstellung der Herz-Leitbahnen mit allen ihren Akupunkturpunkten in San cai tu hui von Wang Qi, 1609.
圖), wurden viele Angaben mithilfe von Hinweislinien in die Abbildung hineingeschrieben, um die durch die Linien miteinander verbundenen Punkte zu benennen. Abgesehen von der exotischen Bekleidung und den chinesischen Schriftzeichen erscheint die männliche Figur eher »normal«. Im Gegensatz zum »Arterienmann«, dieser auferstandenen Leiche, handelt es sich um die Darstellung eines lebendigen Menschen, auf dessen Körper lediglich zwei Linien gezogen worden sind. Wer diese beiden Bilder ansieht, mag zu der Annahme tendieren, der einzige Unterschied zwischen ihnen bestehe darin, dass die eine Darstellung das Innere des Körpers und die andere den Körper von außen zeigt. Doch mussten, wie bereits erwähnt, sowohl die europäischen als auch die chinesischen Mediziner schnell erkennen, dass das, was in den Bildern der anderen Kultur dargestellt wurde, nicht mit dem, was sie seit langem am bzw. im Körper erblickt hatten, identifiziert werden konnte. Mit anderen Worten: Sie vermochten den ihnen bekannten Körper in den Körperbildern der anderen Kultur nicht wiederzufinden. Die westlichen Mediziner kritisierten das Fehlen der Arterien, Venen und Nerven, die chinesischen Medizinern wiederum vermissten die »Leitbahnen« (mai 脈). Um dieses gegenseitige Nicht-Verstehen zu erklären, müssen wir im Folgenden zeigen, auf welche Weise die »Linien«, das heißt die Venen, Arterien und Nerven auf der einen Seite und die »Leitbahnen« auf
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der anderen Seite, jeweils in der europäischen und chinesischen Medizin entdeckt worden sind.
4.1 DIE VENEN, ARTERIEN UND NERVEN Die Entdeckung des Venen-, Arterien- und Nervensystems wäre in der westlichen Medizin ohne die Ent-deckung des Körpers undenkbar gewesen. Systematisch durchgeführte anatomische Sektionen, Vivisektionen und Experimente mit sezierten Körpern erlaubten es den Ärzten der griechischen Antike nicht nur, die Adern zu entdecken, sondern allmählich auch die Venen, Arterien und Nerven voneinander zu unterscheiden. Es ist kein Zufall, dass Aristoteles, der als Erster in der westlichen Geschichte auf systematische Weise anatomische Sektionen am Tier vornahm, auch als Erster eine anatomisch fundierte Beschreibung der topografischen Verteilung der Blutadern innerhalb des Körpers lieferte. 22 Zwar konnte Aristoteles – wie andere Naturforscher des 5. und frühen 4. Jahrhunderts v. Chr. – noch nicht die Venen und Arterien voneinander unterscheiden, aber er erkannte bereits, dass alle Adern ein geschlossenes System bildeten, weshalb er sie mit dem allgemeinen Begriff ›phlebs‹ bezeichnete.23 Die Unterscheidung zwischen Venen und Arterien erfolgte erst durch Praxagoras (ca. 4. Jh. v. Chr.). Er nannte die Adern, die von der linken Seite des Herzens ausgehen, »Arterien« (arteriai) und die Adern, die von der rechten Seite des Herzens ausgehen, »Venen« (phlebes).24 Er wies zudem darauf hin, dass sich die Arterien sowohl durch ihre spezifischen Dehnbarkeit als auch durch ihr Pulsieren merklich von den Venen unterscheiden.25 Der letztere Unterschied ist von besonderer Bedeutung, wird doch der Puls hier zum ersten Mal in der westlichen Medizingeschichte als eine Eigenschaft angesehen, die ein bestimmtes System von Adern definiert und somit nicht länger nur bestimmten Adern, zum Beispiel in den Schläfen oder in der Nähe des Herzens,
22 Vgl. Staden, Heinrich von: Herophilus: The Art of Medicine in Early Alexandria : Edition, Translation and Essays, Cambridge [u.a.] 2007, S. 171-172; Lewis: Praxagoras of Cos, S. 216-217. 23 Vgl. Staden: Herophilus, S. 172; Lewis: Praxagoras, S. 217. 24 Vgl. Staden: Herophilus, S. 177. 25 Vgl. Lewis: Praxagoras, S. 220-229.
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zugeschrieben.26 Die Arterien heben sich nunmehr durch ihre Aktivität, durch ihre ständige natürliche Bewegung von den anderen Adern ab. Die beiden Fragen, was die Arterien transportieren (Praxagoras zufolge kein Blut, sondern nur pneuma) und ob sie sich von selbst bewegen können, führten zwar in der Antike zunächst zu erheblichen Kontroversen, 27 aber es ist unbestreitbar, dass die Unterscheidung zwischen Venen und Arterien einen langanhaltenden Einfluss auf die westliche Medizin ausübte und den anatomischen Blick, der in den folgenden Jahrhunderten auf den Körper gerichtet wurde, wesentlich bestimmte. Auch die Entdeckung der Nerven verdankt sich in der westlichen Medizingeschichte der Anatomie. 28 Dass der Arzt Herophilos (ca. 330/20 - 260/50 v. Chr.), ein Schüler des Praxagoras, auf sie stoßen konnte, hängt ohne Zweifel mit der Tatsache zusammen, dass er nicht nur einfache Sektionen, sondern auch Vivisektionen am Menschen durchgeführt hat.29 Ein wichtiges Motiv für derartige Untersuchungen kann in der Frage nach dem Sitz des Willens, mit der sich zahlreiche Philosophen und Mediziner der Antike beschäftigten, gesehen werden.30 Die Annahme, dass dem Gehirn – und nicht dem Herzen – bei
26 Vgl. ebd., S. 222-223. 27 Galen zufolge hat Praxagoras seine Annahme, dass sich die Arterien, selbst wenn sie vom Herzen getrennt sind, noch bewegen könnten, durch ein Experiment zu beweisen versucht: »Praxagoras […] believe[s] that the arteries pulsate entirely of their own accord, so that even if someone, after cutting out some flesh from the body, would lay it on the ground while it is palpitating, he would clearly observe the movement of the arteries.« (Zitiert nach Lewis: Praxagoras, S. 243. Vgl. dazu auch Staden: Herophilus, S. 270.) 28 Zur Geschichte der Entdeckung der »Nerven« siehe Burkert, Walter: »Die Entdeckung der Nerven. Anatomische Evidenz und Widerstand der Philosophie«, in: Brockmann, Christian; Brunschön, Wolfram; Overwien, Oliver [Hrsg.]: Antike Medizin im Schnittpunkt von Geistes- und Naturwissenschaften: Internationale Fachtagung aus Anlass des 100-jährigen Bestehens des Akademienvorhabens »Corpus Medicorum Graecorum/Latinorum«, Berlin [u.a.] 2009, S. 31-44; Solmsen, Friedrich: »Griechische Philosophie und die Entdeckung der Nerven«, in: Flashar, Hellmut [Hrsg.]: Antike Medizin, Darmstadt 1971, S. 202-279; Staden: Herophilus, S. 159-160 und 247-259. 29 Vgl. Staden: Herophilus, S. 153. 30 Vgl. ebd., S. 247; Burkert: »Die Entdeckung der Nerven«, S. 34.
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der Wahrnehmung und Bewegung eine zentrale Rolle zukomme, hat Anatomen wie Herophilos und Galen zu einer gründlichen Erforschung der vom Gehirn ausgehenden Fasern und Gefäße veranlasst. Die anatomischen Experimente, die den Medizinern allmählich Aufschluss über die Abhängigkeit des Empfindungsvermögens und der willkürlichen Bewegung von bestimmten Fasern innerhalb des Körpers lieferten, wurden bald auch Zuschauern präsentiert, um ihnen auf eindrückliche Weise den Unterschied zwischen den Nerven und anderen Adern vor Augen zu führen. 31 Galen bediente sich zum Beispiel einer Strategie der »Ausschaltung«. 32 Er zeigte, dass ein Eingriff, den er an einem Nervenstrang vornahm, den Körper sofort unbeweglich und unempfindlich machte, wohingegen sich ein anderer Eingriff, diesmal an einer Schlagader, zunächst weder auf die Bewegung noch auf das Empfindungsvermögen des Körpers hemmend auswirkte. 33 »The muscles move certain organs«, so schreibt Galen: »[…] but [the muscles] themselves in turn require for their motion the nerves from the brain; and if you block any of these [nerves] with a ligature, or cut it, you will immediately render motionless the muscle that the nerve entered […].«34
An einer anderen Stelle, an der er sich mit der Beziehung zwischen dem Herzen und Gehirn auseinandersetzt, weist Galen darauf hin, dass es drei verschiedene Gefäße gibt, die das Herz und Gehirn miteinander verbinden: Venen, Arterien und Nerven. 35 In einer ausführlichen Anweisung schildert er, wie man die wahre Natur dieser verschiedenen Gefäße durch die Vivisektion von Tieren erkunden kann: »You must not simply cut the jugular veins or the carotid arteries, as you do the nerves, for the animal will suffer a violent hemorrhage and quickly die, it is better first to intercept them with strong ligatures in the upper and lower parts of the neck, then to cut between the ligatures, so that no hemorrhage ensues. As for the nerves, whether you wish to crush them, or intercept them with ligatures or with your fingers, or cut them,
31 Vgl. ebd., S. 35. 32 Ebd. 33 Vgl. ebd. 34 Galen: On the Doctrines of Hippocrates and Plato, First Part: Books I-V, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Phillip De Lacy, Berlin 1981, S. 123. 35 Siehe ebd., S. 149f.
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Abbildung 75-77: Drei Darstellungen – Venenfigur, Arterienfigur und Nervenfigur – in Liber de corporis humani fabrica, spätes 13. Jahrhundert.
all of these operations will have one and the same effect on the animal: it will immediately be voiceless, but it will show no impairment of any other activity, either at the moment or later on. When the arteries have been intercepted by ligatures or cut in the manner described, the animal will not be voiceless or stupefied, […] but all the arteries above the injury will become completely pulseless. But neither when you intercept the veins with ligatures nor when you cut them in the manner described will you see any activity clearly destroyed.«36
Für Galen sind die Ergebnisse solcher Experimente evidente Beweise dafür, dass »the heart needs no help from the brain to move the pulse, and the brain needs none from the heart for the animal to have sensation and act in accordance with choice.«37 Durch seine Versuchsanordnung wird das gerade verlöschende Leben zu einem Schauplatz, an dem sich die Venen, Arterien und Nerven als drei vom Wesen her unterschiedliche Systeme auf unmittelbare Weise offenbaren, wobei die Qualen und der Tod des Tieres zu reinen Nebenprodukten der Evidenzerzeugung werden. In der Geschichte der westlichen Medizin findet sich die Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Gefäßsystemen bereits in den ältesten uns über-
36 Ebd., S. 149-151. 37 Ebd., S. 151.
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Abbildung 78-79: Venen- und Nervenfigur in der Fabrica, 1543
lieferten Bildzeugnissen repräsentiert, so etwa in der sogenannten »Fünfbilderserie«, deren Ursprung auf Alexandria zurückgeht. 38 Es handelt sich um eine Reihe von fünf Ganzkörperdarstellungen, die je ein Organsystem zeigen – Venen, Arterien und Nerven – sowie Skelett und Muskeln. In einer »Fünfbilderserie« aus dem späten 13. Jahrhundert, die sich in der Handschrift Ashmole 399 in der Bodleian Library befindet, werden die Venen, Arterien und Nerven mit verschiedenfarbigen Linien auf den Körper der Figuren, die alle eine ähnliche »Hockstellung« einnehmen, gezeichnet (Abb. 75-77).39 Diese Figuren
38 Zur »Fünfbilderserie« siehe Sudhoff, Karl: Anatomische Zeichnungen (Schemata) aus dem 12. und 13. Jahrhundert und eine Skelettzeichnung des 14. Jahrhunderts, in: ders.: Tradition und Naturbeobachtung in den Illustrationen medizinischer Handschriften und Frühdrucke vornehmlich des 15. Jahrhunderts, Leipzig 1907, S. 51-65; ders.: Kurzes Handbuch der Geschichte der Medizin, Berlin 1922, S. 129. 39 Zur »Hockstellung« vgl. Geschichte der medizinischen Abbildung, S. 10-12. Zur der Handschrift Ashmole 399 in Bodleian Library vgl. Klemm, Tanja: Bildphysiologie: Wahrnehmung und Körper in Mittelalter und Renaissance, Berlin 2013, S. 96-135.
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werden in einem mit verschiedenen Pflanzen und geometrischen Elementen verzierten Rahmen dargestellt und scheinen vor einem beschrifteten Hintergrund zu stehen. Wir können zwar die schematische Darstellungsweise dieser Bilder nicht übersehen, doch lässt sich feststellen, dass diese Abbildungen bereits darauf abzielen, die innerhalb des Körpers verlaufenden, einander überlagernden Linien zu entwirren. Die Venen, Arterien und Nerven werden nicht nur funktional oder begrifflich, sondern auch bildlich voneinander abgegrenzt. Vesalius steht offensichtlich in dieser von der Antike geprägten Tradition, wenn er in der Fabrica die Venen, Arterien und Nerven getrennt behandelt. So fällt auf, dass er die Venen-, Arterien- und Nervenfiguren, die in der Fabrica eigentlich an verschiedenen Stellen zu finden sind, bewusst nicht nur in derselben Pose, sondern auch in derselben Größe zeigt (Vgl. Abb. 73, 78 und 79).40 Die Abfolge dieser Figurendarstellungen, die verschiedene Organsysteme präsentieren, erzeugt – ähnlich wie die Figuren in Liber de corporis humani fabrica – einen gewissen Überblendungseffekt. Gerade die Einheitlichkeit der Darstellungsweise akzentuiert jedoch – ebenso wie die Anordnung von Bild und Text – die Verschiedenartigkeit der Bildinhalte. Die im Bild auferstandenen Venen-, Arterien- und Nervenfiguren stellen sich gleichsam als drei unterschiedliche Liniensystem dar, die ein und denselben Körper durchziehen.
4.2 DIE »LEITBAHNEN« (MAI 脈) Wenden wir uns noch einmal den Linien zu, die in der chinesischen Medizin auf den Körper gezeichnet werden. Es ist zunächst festzustellen, dass diese Linien keine Produkte anatomischer Studien sind. Sie beziehen sich weder auf die Nerven noch auf die Venen und Arterien, die den westlichen Anatomen interessieren. Im Unterschied zur europäischen Medizin, die von drei verschiedenen Systemen ausgeht, beschreibt die chinesischen Medizin zwölf unterschiedliche Linien, sogenannte »mai 脈«. Was zeigen aber diese Linien, da sie doch offenbar nicht die sichtbaren Gefäße innerhalb des Körpers wiedergeben? Wie lassen sie sich verstehen? Und wie wurden sie entdeckt? 40 Die Übereinstimmung der Bilder hinsichtlich ihrer Größe betont Vesalius selbst in der Überschrift für die »Nervenfigur« im fünften Buch. (Siehe Vesalius, Andreas: On the Fabric of the Human Body, Vol. 3: Book III: The veins and arteries; Book IV: The nerves, übersetzt von William Frank Richardson in Zusammenarbeit mit John Burd Carman, San Francisco 2002, S. 206)
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Im Jahr 1973 wurde ein Grab aus dem Jahre 168 v. Chr. in Changsha Mawangdui 馬王堆 entdeckt und zehn Jahre später, im Jahr 1983/1984, ein anderes Grab aus dem Jahre 186 v. Chr. in Jiangling Zhangjiashan 張家山. In diesen unter dem Namen »Mawangdui« (馬王堆) und »Zhangjiashan« (張家山) bekannten Grabanlagen wurden neben zahlreichen anderen Gegenständen medizinische Manuskripte, und zwar die bisher ältesten chinesischen Texte zur Heilkunde überhaupt, gefunden. 41 Anhand der Mawangdui- und Zhangjiashan-Manuskripte, die einen aufschlussreichen Einblick in die Entstehung und Entwicklung des Konzeptes des mai in der chinesischen Medizin bieten, lässt sich die Vorstellung von mai auf das 2. Jahrhundert v. Chr. zurückdatieren. Die in diesen Manuskripten beschriebenen mai weisen eine noch sehr frühe konzeptuelle Form auf. Eine charakteristische Eigenschaft, die die in den frühen Schriften beschriebenen mai miteinander teilen, besteht darin, dass die meisten von ihnen vom Ende der Gliedmaßen – von den Fingern, Zehen oder Knöcheln – ausgehen. Von dort verlaufen sie entlang der Extremitäten und des Rumpfes und gelangen schließlich zu den unterschiedlichen Stellen des Körpers. Es fällt auf, dass diese mai oft Stellen durchqueren, an denen die Adern an der Haut sichtbar sind oder sich der Puls erfühlen lässt. 42 In den Texten heißt es, dass die mai an diesen Stellen »auftauchen«, »sich zeigen« bzw. »erscheinen« (chu 出). Damit deutet sich an, dass die an der Oberfläche des Körpers sichtbaren oder tastbaren Venen oder Arterien eine gewisse Rolle für die Entwicklung des Konzeptes des mai spielen. Doch geht keines von diesen mai,
41 Zu den Grabanlagen »Mawangdui« (馬王堆) und »Zhangjiashan« (張家山) sowie zu den dort entdeckten medizinischen Manuskripten siehe Harper, Donald John: Early Chinese Medical Literature: The Mawangdui Medical Manuscripts, London [u.a.] 1998, S. 14-41; Lo, Vivienne: »Imagining Practice: Sense and Sensuality in Early Chinese Medical Illustration«, in: Bray, Francesca; Dorofeeva-Lichtmann, Vera; Métailié, Georges [Hrsg.]: Graphics and Text in the Production of Technical Knowledge in China, Leiden 2007, S. 387-425, insb. S. 383-384 (Fußnote 2 und 4); dies.: »The Influence of Nurturing Life Culture on the Development of Western Han Acumoxa Therapy«, in: Hsu, Elisabeth [Hrsg.]: Innovation in Chinese Medicine, Cambridge [u.a.] 2001, S. 19-50, insb. S. 19-21; Ma Ji-Xing 馬 繼 興 : Mawangdui gu yi shu kao shi 馬王堆古醫書考釋, Changsha 1992, S. 1-44. 42 Vgl. dazu Lo: »Imagining Practice«, S. 391; Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 42.
Das Bild der Gefäße und mai | 193
wie Kuriyama bemerkt, im Gegensatz zu den Venen und Arterien in der westlichen Medizin vom Herzen aus. Es gibt auch kein mai, das einer bestimmten Vene oder Arterie innerhalb des Körpers gänzlich entsprechen würde. 43 Es handelt sich vielmehr um voneinander unabhängige Kanäle, Bahnen und Passagen, die den Körper entlang bzw. in ihm verlaufen. Was die unterschiedlichen Teile des Körpers in Verbindung bringt, sind gerade die »Schmerzen«.44 Ziehen wir das »Ju yang mai« (鉅陽脈) als Beispiel heran: Vom äußeren Fußknöchel ausgehend, verläuft dieses mai hinten am Bein entlang nach oben durch das Gesäß hindurch und taucht am Hüftgelenk wieder auf. Es verläuft dann weiter seitlich zur Wirbelsäule nach oben durch den Hals, an dem es wieder in Erscheinung tritt, und von dort bis zur Schläfe. Daraufhin biegt es nach unten, wandert den Nasenrücken hinab und gelangt schließlich zum inneren Augenwinkel.45 In den frühen Texten wird die Beschreibung der Verteilung des »Ju yang mai« von einer Liste von Schmerzen und pathologischen Symptomen, die auf der Linie dieses mai auftreten, begleitet: Die Schwellung am Kopf; das Auge schmerzt, als fiele es aus; der Nacken tut weh, als würde er abgeschnitten; Schmerzen in der Brust; Schmerzen in der Wirbelsäule; die Taille tut weh, als würde sie durchtrennt; das Hüftgelenk lässt sich nicht mehr bewegen; der hintere Teil des Kniegelenks fühlt sich so an, als wäre er verdreht; reißender Schmerz in der Wade.46 Um diese Schmerzen zu lindern, so erklärt der Text, soll man das »Ju yang mai« mit Moxa brennen.47 Damit liegen zwei Aspekte des mai auf der Hand: Zum einen verweist das mai auf eine Reihe von bestimmten Schmerzen, die zwar verstreut an unterschiedlichen Stellen des Körpers auftauchen, doch zueinander in einer engen Beziehung stehen. Zum anderen erweist sich das mai als der Ort, an dem zugleich die Behandlung zum Einsatz kommen muss. Wenn elf verschiedene mai in den frühen Texten vorgestellt werden, so aus dem Grund, weil die so unterschiedlichen Schmerzen als pathologische Symptome in elf verschiedene Gruppen eingeteilt, sortiert und systematisiert werden. Ihnen entsprechen elf separate Kanäle bzw. Bahnen am Körper, deren Schmerzen sich durch eine entsprechende Behandlung lindern lassen. Die Historikerin Vivienne Lo weist
43 Siehe ebd., S. 42. 44 Ebd., S. 42. 45 Siehe Gao Da-lun 高大倫: Zhang jia shan han jian »mai shu« xiao shi 張家山漢簡 《脈書》校釋, Cheng du 1992, S. 35-43. 46 Siehe ebd. 47 Siehe ebd.
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darauf hin, dass »›tracking the pain‹ from the extremities to the inside of the body« eine wesentliche Rolle für die Entdeckung des mai in der chinesischen Medizin gespielt habe.48 Auch wenn die Mawangdui- und Zhangjiashan-Manuskripte noch keine genauen Angaben zu »Akupunkturpunkten« (xue 穴) enthalten, handeln sie bereits von der Bewegung des im zweiten Kapitel diskutierten qi 氣 innerhalb des Körpers. Das qi könne durch Moxibustion oder Stimulierung des mai auf der Oberfläche des Körpers reguliert werden.49 Im späteren Klassiker des Gelben Kaisers steigt die Zahl der mai auf zwölf. Sie verlaufen nun tiefer in den Körper hinein und werden systematisch mit den inneren Organen verbunden. Zudem postulieren die Autoren eine unablässige Zirkulation der »Lebenskraft« (qi 氣) in den mai. Die Grundtheorie der mai erfährt jedoch nur wenige Veränderungen: Stets sollen die verschiedenen mai dem Mediziner zeigen, dass scheinbar getrennte Symptome miteinander in Verbindung stehen und durch entsprechende Behandlung desjenigen mai, an dessen Ort sie sich befinden, gelindert werden können.50 Vor diesem Hintergrund lässt sich behaupten, dass die Bilder des mai in der chinesischen Medizin nicht so sehr darauf abzielen, den Körper zu beschreiben, sondern ihm vielmehr eine neue Sichtbarkeit hinzuzufügen. Ziehen wir hierfür als Beispiel eine Darstellung der »Leber-Leitbahnen« (Gan jing 肝 經)51 aus dem 1742 erschienenen Werk Auf kaiserlichen Befehl kompilierter Spiegel der gesamten Medizin (Yu cuan yi zong jin jian 御篡醫宗金鑑) heran. Die den Körper überziehende Linie dient hier nicht nur dazu, die im Text beschriebene Verteilung der »Leber-Leitbahnen« zu veranschaulichen; sie soll auch die geheimen inneren Beziehungen zwischen verschiedenen Stellen des Körpers, die auf den ersten Blick keineswegs offensichtlich sind, auf der Haut der dargestellten Figur eintragen und bildlich fixieren (Abb. 80). Diese Linie
48 Lo: »The Influence of Nurturing Life Culture«, S. 40. Vgl. dazu Lo, Vivienne: The Influence of Yangsheng Culture on Early Chinese Medical Theory (Dissertation), London 1998, S. 81-123. 49 Vgl. Gao: Zhang jia shan han jian, S. 96-102. 50 Vgl. dazu Ling su 10. 51 In der chinesischen Medizin wird der Begriff ›mai 脈‹ in ›jing 經‹ und ›luo 絡‹ unterteilt: ›jing 經‹ bezeichnet zentrales ›mai 脈‹. ›luo 絡‹ bezeichnet den Zweig des ›mai 脈‹.
Das Bild der Gefäße und mai | 195
Abbildung 80: Darstellung der »Leber-Leitbahnen« in Yu cuan yi zong jin jian, 1739.
zeichnet keine vorgegebenen Entitäten nach, sondern macht Nicht-Vorhandenes allererst sichtbar. Sie fügt der Sichtbarkeit des Körpers eine andere Ordnung hinzu. Anders als die »Konturlinie« im Sinne Niklas Luhmanns, die zwischen Körper und Nicht-Körper, Innen und Außen, Diesseits und Jenseits eine unterscheidende Grenze zieht und dadurch die Form eines Dinges festhält und zugleich hervorbringt,52 geht es bei dieser Linie vielmehr um den Akt des Verbindens: Sie verbindet die verschiedenen Stellen des Körpers und verwandelt seine Oberfläche in eine Karte, auf der die Linien und Punkte sternbildartig in eine Konstellation treten. Die »Leber-Leitbahnen« geben den chinesischen Medizinern Auskunft über die Verbindung zwischen ganz unterschiedlichen Symptomen. 53 So sind die Schmerzen auf Höhe der Taille und in den Geschlechtsorganen, Blässe im Gesicht und trockener Rachen auf einer Linie lokalisiert, die vom großen Zeh ausgeht, über den Rumpf mäandert und bis zum Scheitel verläuft. Die auf dieser Linie befindlichen Behandlungsorte, der Fuß
52 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 426f. 53 Vgl. Ling su 10.
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und der Unterschenkel, sind tatsächlich weit von den schmerzenden Stellen entfernt, stehen aber zu ihnen in einem latenten Zusammenhang, dessen Kenntnis eine erfolgreiche Behandlung erlaubt. Das mai ist der in der chinesischen Medizin am häufigsten dargestellte Gegenstand, und man darf behaupten, dass diese Linien die chinesische Vorstellung vom Körper tiefgreifend geprägt haben und den größten Unterschied zur Auffassung der westlichen Medizin darstellen. Wenn der Körper in letzterer anhand seiner Venen-, Arterien- und Nervensysteme untersucht wird, so besteht er in der chinesischen Medizin vielmehr aus zwölf unterschiedlichen Liniensystemen, die den geheimen Zusammenhängen zwischen schmerzenden und schmerzlindernden Stellen zur Sichtbarkeit verhelfen.
4.3 DIE AUF DEN KÖRPER GESCHRIEBENEN LINIEN UND PUNKTE Der Unterschied zwischen den Körperbildern der europäischen und chinesischen Medizin kommt nicht zuletzt in den jeweiligen Repräsentationen ihrer »Liniensysteme« zum Ausdruck. In der europäischen Medizin werden die Venen-, Arterien- und Nervensysteme von Anfang an in drei separaten Bildern dargestellt. Sofern sie in einem einzigen Bild gezeigt werden, werden sie durch unterschiedliche Farben voneinander deutlich unterschieden: In den posthum veröffentlichten großformatigen anatomischen Abbildungen von Paolo Mascagni (1755-1815) sind die Arterien rot, die Venen blau und die Nerven weiß koloriert54 und umhüllen den Körper des Muskelmannes wie eine mit Fäden in drei verschiedenen Farben ausgeführte Stickerei (Abb. 81).55 Durch
54 Vgl. Choulant, Ludwig: Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung, S. 145. Zu Paolo Mascagni siehe Monique Kornells Text im Ausstellungskatalog: Cazort, Mimi; Kornell, Monique; Roberts, Kenneth B.: The Ingenious Machine of Nature: Four Centuries of Art and Anatomy, Ausstellungskatalog National Gallery of Canada, Ottawa 1996, S. 230-233. 55 Erwähnenswert ist, dass die Gefäß- und Nervenverzweigungen von den Anatomen des 18. Jahrhunderts tatsächlich mit »Stickereien« bzw. »Geweben« verglichen wurden, nachdem sie den sezierten Körper unter dem Mikroskop studieren konnten. Vgl. dazu Ishizuka, Hisao: Fiber, Medicine, and Culture in the British Enlightenment, New York 2016, S. 9-12. Um 1750 wird sogar eine Lehre von der Faser entwickelt, in der diese als »the main operative building block and at the same time
Das Bild der Gefäße und mai | 197
Abbildung 81: Darstellung einer sezierten Figur in Anatomiae Universae von Paolo Mascagni, 1823.
diese Farbgebung, die auch bei den anatomischen Wachspräparaten zur Anwendung kommt, bleiben die ineinander verwobenen Venen, Arterien und Nerven trotz ihrer komplexen Verbindungen und Verschlingungen bis in die kleinsten Fasern hinein immer noch klar identifizierbar. In der chinesischen Medizin werden die zwölf unterschiedlichen mai auf andere Weise visualisiert. In Zhang Jie-bins 張介賓 Abhandlung Illustriertes Supplement zum nach Themen explizierten Klassiker (Lei jing tu yi 類經圖翼) wird jedes mai zusammen mit demjenigen Organ, das ihm zugeordnet wird, dargestellt. Bei der Darstellung der »Fuß-Klein-Yin-Nieren-Leitbahnen« (Zu shao yin shen jing 足少陰腎經) befindet sich zum Beispiel eine männliche Figur, deren Körper mit Linien und Punkten versehen ist, direkt neben einer
the first unifying principle of function-structure-complexes of organic bodies« beschrieben wird. (Cheung, Tobias: »Omni Fibra Ex Fibra: Fibre Oeconomies in Bonnet’s and Diderot’s Models of Organic Order«, in: Early Science and Medicine 15 (2010), S. 66-104, hier S. 67) Dazu vgl. auch Berg, Alexander: »Die Lehre von der Faser als Form- und Funktionselement des Organismus: Die Geschichte des biologisch-medizinischen Grundproblems vom kleinsten Bauelement des Körpers bis zur Begründung der Zellenlehre«, in: Virchows Archiv für Physiologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin 309 (1942), S. 333-460.
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Abbildung 82: Die Darstellung der »Fuß-Klein-Yin-Nieren-Leitbahnen« in Lei jing tu yi von Zhang Jie-Bin 張介賓, Jahr unbekannt.
Darstellung der Nieren (Abb. 82). Zhang Jie-bins Werk nennt zwölf solcher Paare. Dabei nehmen die dargestellten Figuren unterschiedliche Posen ein, um verschiedene mit Punkten und Linien bedeckte Körperpartien zu zeigen: Sie stehen oder sitzen, strecken ihre Hand seitlich nach vorne, um die Innen- oder Außenseite des Armes zu zeigen, oder wenden dem Betrachter den Rücken zu, während sie leicht den Kopf wenden, um einen Teil ihres Gesichts sichtbar zu lassen. In der Abb. 82 sitzt die dargestellte Figur in leicht zurückgelehnter Haltung auf einem Hocker und stützt sich auf ihre Arme, während sie ihr linkes Bein über das rechte kreuzt und dem Betrachter ihre Fußsohle präsentiert. Das mai wird von einer Linie bezeichnet, die zunächst von der Brust über den Bauch, sodann vom Oberschenkel bis zum Knie verläuft, wo sie schließlich nach unten abbiegt, um sich entlang des Unterschenkels bis zur Fußsohle fortzusetzen. Obwohl dieses am bzw. im Körper verlaufende mai den Nieren, also einem inneren Organ, zugeordnet wird, ist aus dem Bild nichts über die konkrete Lage der Nieren innerhalb des Körpers noch über ihre genaue Verbindung zum mai zu erfahren. Die Auskunft darüber kann man nur dem Text entnehmen, während das mai lediglich als eine auf der Oberfläche des Körpers gezeichnete Linie mit etlichen Punkten dargestellt wird.
Das Bild der Gefäße und mai | 199
Abbildung 83: Detailansicht
Abbildung 84: Detailansicht
der Abb. 78.
der Abb. 82.
Es ist festzustellen, dass alle zwölf mai in Lei jing tu yi auf diese Weise gezeigt werden: Sie werden jeweils einem der inneren Organe zugeordnet, aber nur auf der Haut markiert. Sie ziehen sich von den Gliedmaßen hin zu den verschiedenen Bereichen des Körpers. Die Punkte auf der Linie markieren jeweils die Stellen, an denen man mit Moxa oder Nadel behandeln muss, um bestimmte Schmerzen oder andere Symptome zu lindern. Vergleichen wir an dieser Stelle noch einmal eine anatomische Darstellung des Gefäßsystems in der Fabrica, zum Beispiel die Venenfigur (Abb. 78), mit der bereits beschriebenen Darstellung des mai (Abb. 82 rechts). Im Gegensatz zur Darstellung des mai zielt die Venenfigur offenbar darauf ab, die Gefäßverzweigungen innerhalb des Körpers mittels eines dreidimensionalen Effekts wiederzugeben. Diese Absicht hat Vesalius selbst hervorgehoben, weist er doch seine Leser ausdrücklich darauf hin, dass um die Venenfigur herum keine zusätzlichen Umrisse gezeichnet werden müssen.56 Für Vesalius sind diese Umrisse nicht nur nutzlos, sondern sie würden sogar den Effekt der Plastizität, der im Bild erlangt wird, zerstören. Seiner Ansicht nach soll alles ausgeblendet werden, was die Venen verbergen könnte. Hier soll ein Körper gezeigt werden, der durchsichtig gemacht und auf das Venensystem reduziert worden ist. Die chinesische Darstellung zeigt dagegen das mai an einem gegebenen Körper, der nicht analysiert, also zergliedernd untersucht, sondern mit Linien und Punkten im Sinne einer Ergänzung versehen wird.
56 Siehe Vesalius: On the Fabric of the Human Body, Vol. 3, S. 31.
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Ein Vergleich der beiden Darstellungen (Abb. 83 und 84) im Hinblick auf die in ihnen zur Verwendung kommenden Markierungen erlaubt es uns, die unterschiedlichen Sichtweisen der chinesischen und der westlichen Medizin auf den Körper weiter herauszuarbeiten. Bei der Venenfigur befinden sich die Zeichenschlüssel entweder neben den Gefäßen oder an ihren Verzweigungen. Jeder morphologische Unterschied der Venenäste verlangt die Hinzufügung eines weiteren Zeichenschlüssels. Dagegen werden im chinesischen Bild die zu behandelnden Stellen mit Punkten und Hinweislinien auf der Körperoberfläche markiert. Sie basieren nicht auf der »wirklich sichtbaren« Topografie des Körperinneren, sondern visualisieren auf diagrammatische Weise die Beziehungen innerhalb des Körpers. Es ist darüber hinaus zu erkennen, dass an einigen Punkten des mai zugleich auch der Puls gefühlt werden kann. In der Darstellung der »Fuß-Klein-Yin-Nieren-Leitbahnen« bezeichnet der Punkt namens tai xi 太谿 (wörtlich: mächtiger Strom) zum Beispiel eine Stelle am Fuß, an welcher der Puls deutlich wahrnehmbar ist. Dieser pulsierende Punkt nimmt bei der Diagnose eine besondere Rolle ein, weil er Auskunft über die Zustände des mai und der Nieren gibt.57 An dieser Stelle berühren wir einen grundlegenden Unterschied zwischen den Darstellungen der Gefäße und denen der mai. Während in der westlichen Medizin die Venen, Arterien und Nerven als drei verschiedene Liniensysteme dargestellt werden und der Puls in diesem Zusammenhang als ein eigentümliches Phänomen der Arterien gilt, wird er in der chinesischen Medizin offenbar auf eine andere Weise aufgefasst. Sie ordnet die Punkte auf der Körperoberfläche, an denen man den Puls fühlen kann, nicht einem einzigen System zu. Diese Punkte lassen sich vielmehr an allen mai finden und werden jeweils separat an unterschiedlichen mai markiert. Dieser Unterschied spiegelt nicht nur unterschiedliche Vorstellungen vom Puls wider, sondern auch die jeweilige Art und Weise, wie der an verschiedenen Stellen des Körpers fühlbare Puls in den Bildern der westlichen und chinesischen Medizin dargestellt wird.58
57 Vgl. Su wen 74; Nan jing 66; Ling su 24. 58 An dieser Stelle sei erwähnt, dass das Wort ›mai 脈‹ in der chinesischen Sprache zugleich den ›Puls‹ und die ›Leitbahn‹ bezeichnet. Zwar wird das Wort in der vorliegenden Arbeit je nach Kontext entweder als ›Puls‹ oder als ›Leitbahn‹ übersetzt. Doch sollten wir im Hinterkopf behalten, dass das mai 脈 nicht entweder Puls oder Leitbahn, sondern gleichzeitig Puls und Leitbahn ist. Vgl. dazu Lu, Kuei-chen; Needham, Joseph: Celestial lancets: A History and Rationale of Acupuncture and Moxa, London [u.a.] 2002, S. 24 ff. und Lo: »Imagining Practice«, S. 386-387.
Das Bild der Gefäße und mai | 201
Die Entdeckung des Pulses ist alles andere als selbstverständlich. Ein Blick auf die frühe Geschichte der westlichen Medizin belehrt uns, dass bei Hippokrates und auch bei Praxagoras, dem Entdecker der »Arterien«, der Begriff ›sphygmos‹, der heutzutage mit ›Puls‹ übersetzt wird, gleichbedeutend mit ›palmos‹ (Palpitation), ›tromos‹ (Tremor) und ›spasmos‹ (Spasmus, Krampf) verwendet wurde. 59 Dies deutet an, dass man sich zur Zeit des Hippokrates und des Praxagoras zwar taktiler Bewegungen am bzw. im Körper bewusst war, doch keinen wirklichen Unterschied zum Zucken der Muskeln und Nerven oder zum Herzschlag sah. In der Tat kam die Unterscheidung zwischen diesen verschiedenen Bewegungen erst durch Herophilos auf. Indem er einerseits den Puls auf das Herz und die Arterien und andererseits die Palpitation, den Tremor und den Spasmus auf die Muskeln und Nerven zurückführte, darf er als Begründer der westlichen Sphygmologie gelten.60 Der Puls fungierte fortan in den Augen der antiken Mediziner als eine Struktur, nach der die taktil fühlbaren Bewegungen des Körpers unterschieden, definiert und analysiert werden konnten: Nicht alle Bewegungen lassen sich zum Puls zählen, sondern nur diejenigen, die auf das Herz zurückführbar sind. Der Puls ist darüber hinaus nicht überall am Körper fühlbar. Mit den Fingerspitzen ist er an manchen Stellen des Körpers besonders gut fühlbar, an anderen verliert er seine scharfe Kontur. Je nach Körperstelle lässt er sich mal mehr, mal weniger deutlich spüren. Die europäischen Mediziner waren sich von Anfang an darüber im Klaren, dass der Puls, obwohl er an verschiedenen Stellen
59 Vgl. Staden: Herophilus, S. 271-272; Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 25-30; Harris, Charles R. S.: The Heart and the Vascular System in Ancient Greek Medicine: From Alcmaeon to Galen, Oxford 1973, S. 108; Lewis: Praxagoras, S. 224-225. 60 Dieser große Schritt, den Herophilos vollzog, wurde bereits von anderen antiken Medizinern anerkannt. Bei Rufus Ephesius heißt es zum Beispiel: »Praxagoras, then, assumed that these things [pulse, palpitation, spasm, tremor] differ from each other in quantity but not in quality as well […] And this is what Praxagoras said, who was not an inconsequential figure either in his medical theories or in the other aspects of life. But Herophilus, who had a more accurate knowledge of this topic, found the differences of these affections to lie in quality instead. For, he says, pulse occurs only in the arteries and the heart, whereas palpitation and spasm and tremor occur in muscles as well as nerves. And the pulse, he says, is born with a living being and dies with it, whereas these other motions do not.« (Rufus Ephesius: Synopsis de Pulsibus 2, zitiert nach Staden: Herophilus, S. 326-327.)
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des Körpers fühlbar ist, nicht in mehrere Pulse zerfällt, sondern lediglich in verschiedenen Erscheinungsweisen auftritt, insofern er vom Herz abhängt. Diesen Aspekt des Pulses hebt Galen in seiner Abhandlung Der Puls für Anfänger hervor, wenn er schreibt: »The pulse is the same in all arteries and in the heart; thus one may infer the nature of the pulse throughout from a single example. The perception of this motion in the arteries, however, is not equally possible in all cases. It is clearer in those arteries situated in the parts with less flesh, and comparatively indistinct in those in the parts with more. The motion of arteries that are concealed beneath thick flesh, that are within bones, or that have other bodies in front of them is not perceptible, at least in normal states.«61
Wenn der Begriff des »Pulses« in den heutigen europäischen Sprachen ein Nomen ist, das nur im Singular stehen kann, so ist der obligatorische Singular des Wortes eng mit dieser auf die Antike zurückgehenden Bestimmung des Pulses verbunden. An dieser Stelle können wir Folgendes annehmen: Wenn Galen darauf hinweist, dass der Puls nicht überall, sondern nur an bestimmten Stellen des Körpers fühlbar ist, so dürfte ihm ein ähnliches Bild wie der »Arterienmann« in der Fabrica (Abb. 73) oder die Darstellung der enthäuteten Figur in der Anatomiae Universae (Abb. 81) vorgeschwebt haben. In der westlichen Medizin übte das Bild der Arterien einen großen Einfluss auf die Vorstellung vom Puls aus, insofern es einerseits die Orte, an denen der Puls an der Hautoberfläche fühlbar ist, von innen her topografisch bestimmt und es andererseits den Medizinern ermöglicht, die auf den ganzen Körper verteilten, tastbaren arteriellen Bewegungen als etwas Zusammengehöriges zu betrachten. Den chinesischen Medizinern dagegen muss ein solches Bild des Arteriensystems unzulänglich erscheinen. Der Grund dafür liegt darin, dass es für sie keineswegs nur einen Puls gibt. Ihre Art der Diagnose erfordert es, dass sie den Puls an verschiedenen Stellen des Körpers abtasten und die gefühlten Pulsqualitäten miteinander vergleichen. Dieses Diagnoseverfahren findet bereits in den ältesten Schriften der chinesischen Medizin Erwähnung: In den Mawangdui- und Zhangjiashan-Manuskripten lesen wir, dass der Arzt bei der Diagnosestellung mit der Linken den Puls am Innenknöchel des Patienten spüren und zugleich mit der Rechten gegen den Knöchel schnipsen soll. »Wenn alle anderen Pulse stark sind und nur dieser Puls schwach ist, ist man krank;
61 Galen: »The Pulse for Beginners«, in: ders.: Selected Works, übersetzt von P. N. Singer, Oxford [u.a.] 1997, S. 325-344, hier S. 325.
Das Bild der Gefäße und mai | 203
Wenn alle anderen Pulse gleitend sind und nur dieser Puls rau [sic!] ist, ist man krank […].«62 Es liegt auf der Hand, dass die an verschiedenen Stellen des Körpers spürbaren Pulse keineswegs zu ein und demselben System gehören. Sie lassen sich durch ein einziges »Beispiel« nicht nivellieren. Die Pulse an verschiedenen Stellen des Körpers vergleichend zu prüfen, bedeutet in der chinesischen Medizin nichts anderes, als die Zustände der verschiedenen mai zu untersuchen. Zudem wird von chinesischen Ärzten immer wieder betont, dass eine Krankheit nur geheilt werden könne, wenn man wisse, welches mai Schaden genommen habe.63 In diesem Zusammenhang ist es wohl kein Zufall, dass neben den zu stechenden bzw. zu brennenden Punkten auch zu ertastende Punkte an allen mai zu finden sind. Bei solchen pulsierenden Punkten handelt es sich genau um jene Stellen, an denen die chinesischen Mediziner die Zustände der verschiedenen mai prüfen können. Die Bilder des mai sind dementsprechend darauf angelegt, diese Betrachtungsweise des Körpers zu stabilisieren: Die verschiedenen Stellen des Körpers, an denen sich die Pulse fühlen lassen, werden in voneinander getrennten Bildern an verschiedenen mai markiert. Sie werden also den unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Liniensystemen zugeschrieben und auf der bildlichen Ebene mit verschiedenen inneren Organen in Verbindung gebracht (vgl. Abb. 82). Wenn das Bild der Arterien in der westlichen Medizin alle am Körper fühlbaren arteriellen Bewegungen zusammenfasst und diese auf einen gemeinsamen Ursprung, also auf die Herztätigkeit, zurückführt, dann verteilen dagegen die Bilder des mai die einzelnen pulsierenden Punkte am Körper in verschiedene Systeme und fügen sie zu Konstellationen zusammen. Das Bild der Arterien und die Bilder des mai tragen in diesem Zusammenhang nicht nur zu den unterschiedlichen Vorstellungen vom Puls bei, sondern bestimmen ebenso den Umgang mit dem Körper wie auch die medizinische Wahrnehmung des Pulses: Kaum ein westlicher Mediziner ist auf die Idee gekommen, dass es nötig sein könnte, den Puls an verschiedenen Stellen des Körpers zu vergleichen.64 Dass der Puls an einer Stelle des Körpers anders als der an einer anderen erscheint, begründeten die westlichen Mediziner schlicht damit, dass der
62 Gao Da-lun: Zhang jia shan han jian »mai shu«, S. 104-106. 63 Siehe etwa ebd., S. 106-107. 64 In der westlichen Medizin bilden Paracelsus (1493/94-1541) und Robert Fludd (1574-1637) Ausnahmen. Vgl. Rösche, Johannes: Robert Fludd: Der Versuch einer hermetischen Alternative zur neuzeitlichen Naturwissenschaft, Göttingen 2008, S. 457 und Surya, D. W.: Paracelsus – richtig gesehen! Historisch-kritische Studie, Lorch 1938, S. 189-190.
204 | Körper bilden
eine deutlicher als der andere gespürt werden könne. Dabei handelt es sich in ihren Augen nicht um einen wirklichen Unterschied, sondern lediglich um eine geminderte Fühlbarkeit des Pulses. Das Gleiche gilt allerdings umgekehrt auch für die chinesischen Mediziner. Für sie wäre es undenkbar, dass die Pulse an verschiedenen Stellen des Körpers tatsächlich gleich sind, basiert ihre Pulslehre doch gerade auf den Unterschieden, welche die Pulse an verschiedenen Stellen des Körpers unter ihren Fingerspitzen offenbaren. Wie Kuriyama bemerkt, ist die »Bedeutung der Stellen« das auffälligste Charakteristikum der chinesischen Palpation: Fast alle Debatten in der chinesischen Medizingeschichte drehen sich um die Frage, welche Stellen des Körpers vom Arzt betastet werden sollen und was sie jeweils bedeuten. 65 Es ist also ersichtlich, dass ein Bild, das alle Pulse auf ein einheitliches Ganzes reduziert, einem chinesischen Mediziner nicht die Informationen vermittelt, die ihm die Bilder des mai liefern. Andererseits müssen die chinesischen Darstellungen, die die pulsierenden Punkte auf voneinander getrennten Linien zeigen, den westlichen Medizinern, die längst mit dem Bild der Arterien vertraut sind, absurd vorkommen. Bilder, so lässt sich erkennen, machen den Körper nicht nur sichtbar oder lesbar, sondern schließen auch andere Betrachtungsweisen des Körpers zugunsten einer jeweils einzigen aus. Die paradoxe Macht dieser Körperbilder besteht darin, dass sie ihn in dem Maße sichtbar und lesbar machen, in dem sie ihn unsichtbar und unlesbar machen. Ein innerhalb einer bestimmten Kultur wahrnehmbarer und verständlicher Körper geht gerade aus diesen produktiven Spannungen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Lesbarkeit und Unlesbarkeit hervor. Im vorliegenden Kapitel haben wir gesehen, wie die Bilder in der westlichen und chinesischen Medizin den Körper kategorial gestalten und wie das Bild der Arterien und das Bild des mai zu unterschiedlichen Vorstellungen und Wahrnehmungen im Hinblick auf den Puls beitragen. Im folgenden Kapitel soll auf ein anderes wesentliches Problem, vor dem sowohl die europäischen als auch die chinesischen Ärzte standen, eingegangen werden, nämlich: Wie lassen sich die winzigen Bewegungen des Pulses bildlich wiedergeben?
65 Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 40.
5
Das Bild des Pulses
»Als ich mein Sinnen und Trachten zum erstenmal der Beobachtung auf Grund von Vivisektionen (wie sie eben zur Hand waren) zuwendete, um den Zweck und Nutzen der Herzbewegung bei den Lebewesen durch eigene Anschauung und nicht durch Bücher und Schriften anderer herauszufinden, da fand ich die Sache rund heraus beschwerlich und unausgesetzt voll Schwierigkeiten, so daß ich beinahe gemeint hätte, um mit Fracastoro zu sprechen, die Bewegung des Herzens sei nur Gott allein bekannt. Und zwar konnte ich nicht recht unterscheiden, wie die Systole oder Diastole vor sich geht, noch wann oder wo eine Erweiterung oder Zusammenziehung vorhanden ist, und dies wegen der Schnelligkeit der Bewegung, die sich bei vielen Tieren wie ein Lidschlag oder wie ein vorbeisausender Blitz dem Anblick darbot und auf der Stelle dem Blicke entzog, so daß ich bald hier eine Systole, dort eine Diastole, bald umgekehrt, bald einzeln unterscheidbare, bald vermischte Bewegungen zu sehen geglaubt habe. Infolgedessen war ich im Geiste schwankend. Ich hatte nichts, was ich selbst als sicher hinstellen, noch was ich anderen glauben sollte, und habe mich nicht gewundert, daß André du Laurens geschrieben hat, die Bewegung des Herzens verhalte sich so, wie das Hin undherfluten des Euripos bei Aristoteles.«1
Die Herzbewegung lässt sich schwer beobachten. Selbst William Harvey (1578-1657), der Entdecker des Blutkreislaufs, musste sich dieses Problem eingestehen und schrieb 1628 in seinem wegweisenden Werk Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus in einem hoffnungslosen Ton, dass nur Gott die Herzbewegung begreifen könne.2 Mehr als zwei Jahrhunderte später wird Harveys Problem jedoch mit der Erfindung des Kymographions gelöst werden: 1847 setzte der deutsche Physiologe Carl Ludwig
1
Harvey, William: Die Bewegung des Herzens und des Blutes 1628, übersetzt und erläutert von Prof. R. Ritter von Töply, Leipzig 1910, S. 26-27.
2
Vgl. ebd., S. 25.
206 | Körper bilden
(1816-1895) einen stabförmigen Schwimmer auf die freie Quecksilbersäule eines Manometers, versah diesen am oberen Ende mit einem mit Farbe getränkten Pinsel und ließ durch ihn die Schwankungen auf die Fläche des mit stetiger Geschwindigkeit rotierenden Zylinders zeichnen. 3 Auf diese Weise konnte Ludwig nicht nur die Blutdruckhöhe in ihrer zeitlichen Veränderung genauer bestimmen, sondern parallel dazu Messungen durchführen, da die Druckwerte des Manometers nicht länger manuell abgelesen werden mussten, sondern automatisch als Kurve registriert wurden.4 Die epochale Bedeutung des Kymographions wurde von seinem Erfinder selbst nicht erkannt. Ludwig propagierte die Verwendung seines Gerätes damals nur für bestimmte Forschungen. Doch erwies sich das Kymographion innerhalb weniger Jahre als ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte der Physiologie und übte einen großen Einfluss auf die weitere Entwicklung physiologischer Instrumente aus. Verschiedene selbstregistrierende Geräte wurden nach dem Prinzip des Kymographions gebaut, um körperliche Vorgänge wie Muskelkontraktionen, Pulsbewegungen und die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenreizung aufzuzeichnen. Diese Bildtechnik drang in viele Bereiche der Wissensproduktion ein und formte die Identität der Physiologie, jener Wissenschaft, die sich mit dem im 19. Jahrhundert neu entdeckten »Leben« beschäftigte. 5 Nun erfüllte Ludwigs Kymograph zwar die Aufgabe, den gegen die Innenwand der Blutgefäße wirkenden, Schwankungen unterworfenen Blutdruck aufzuzeichnen, aber seine Erfindung konnte nicht an menschlichen Versuchspersonen, sondern nur an Tieren erprobt werden, da seine u-förmige Quecksilberröhre eine Einführung in die Arterie verlangte.6 Die klinische Aufzeichnungstechnik des menschlichen Pulses wurde von dem französischen Physiologen Étienne-Jules Marey (1830-1904), dem wohl
3
Vgl. Langendorff, Oskar: Physiologische Graphik: Ein Leitfaden der in der Physiologie gebräuchlichen Registrirmethoden, Leipzig [u.a.] 1891, S. 225.
4
Siehe: Chadarevian, Soraya de: »Die ›Methode der Kurven‹ in der Physiologie zwischen 1850 und 1900«, in: Hagner, Michael [Hrsg.]: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2001, S. 161-188, hier S. 161-163; Reiser, Stanley Joel: Medicine and the Reign of Technology, Cambridge [u.a.] 1978, S. 100-101.
5
Vgl. dazu Rieger, Stefan: Schall und Rauch: Eine Mediengeschichte der Kurve, Frankfurt a. M. 2009, S. 10-13.
6
Vgl. Chadarevian: »Die ›Methode der Kurven‹«, S. 161-163.
Das Bild des Pulses | 207
engagiertesten Vertreter der Méthode graphique, zum ersten Mal realisiert, indem er Karl Vierordts Sphygmographen 7 weiterentwickelte und die Messempfindlichkeit des Gerätes steigerte. 8 Für die Verwendung am Krankenbett war Mareys Instrument geeignet, da der Sphygmograph, den Bedürfnissen der medizinischen Praxis entsprechend, keiner blutigen Implantation mehr bedurfte. Er nahm den wahrnehmbaren Arterienpuls von außen auf. Aufgrund des drastisch reduzierten Gewichts war Mareys Modell auch einfacher zu handhaben. Als Marey 1860 der Académie des Sciences seine Erfindung vorstellte, wurde der Sphygmograph sogleich als ein »Durchbruch« in der medizinischen Technik angesehen.9 Bald erregt er weltweite Aufmerksamkeit: Unter dem Titel »Physicians and Physicists« präsentiert etwa die führende medizinische Fachzeitschrift The Lancet 1865 alle zu dieser Zeit gerade entwickelten Instrumente, die die Geheimnisse des Körpers offenbaren. Neben Ophthalmoskop, Laryngoskop, Stethoskop und Thermometer wird Mareys Gerät als ein weiteres »instrument of precision, of remarkable beauty and wide range of usefulness« gefeiert:10 »The sphygmograph of M. Marey is an exquisitely designed instrument, by the a id of which the pulse is armed with a pen, and at every beat writes its own diagram, and registers its own characters. In this diagram each part of every revolution, or ›beat‹ of the heart is recorded, so that the relation of the systole and diastole is inscribed in every curve, and the state of arterial tonicity on the one hand, and the impulsive power of the heart on the other, are automatically compared. The finger is substituted by an instrument of precision, which replaces impressions by recorded facts self-analyzed.«11
7
Vgl. Vierordt, Karl: Die Lehre vom Arterienpuls in gesunden und kranken Zuständen, gegründet auf eine neue Methode der bildlichen Darstellung des menschlichen Pulses, Braunschweig 1855.
8
Vgl. Langendorff: Physiologische Graphik, S. 222; Frank: »The Telltale Heart«, S. 215-218 und Reiser, Stanley Joel: Medicine and the Reign of Technology, S. 101103.
9
Zur Entstehung von Mareys Sphygmographen vgl. Rabinbach, Anson: Motor Mensch: Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, übersetzt von Erik Michael Vogt, Wien 2001, S. 114-115; Dagognet, Francois: Etienne-Jules Marey: A Passion for the Trace, New York 1992, S. 46-63; Braun, Marta: Picturing Time: The Work of Etienne Jules Marey, 1830–1904, Chicago [u.a.] 1992, S. 16-22.
10 »Physicians and Physicists«, in: The Lancet, 25 November 1865, S. 599. 11 Ebd., S. 599.
208 | Körper bilden
Abbildung 85: Pulskurven in La Méthode graphique dans les sciences expérimentales von Étienne-Jules Marey, 1878.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Sphygmograph im physiologischen Labor und in der Klinik als Hilfsmittel verwendet. Als neue Bildtechnik des Körpers macht er die Mediziner des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit der grafischen Repräsentation der körperlichen Phänomene vertraut und trägt letztlich dazu bei, dass die Elektrokardiografie, diese Visualisierung dessen, was der menschlichen Wahrnehmung gänzlich unzugänglich ist, gegen 1900 relativ reibungslos eingeführt wird.12 Heutzutage gehört die Pulskurve längst zu den »ganz normalen Bildern«. 13 Wenn wir uns heute das Bild des Pulses vergegenwärtigen, denken wir unwillkürlich an die Pulskurve. Wir sind zwar nicht imstande, die genauen Informationen, die sie zur Verfügung stellt, wirklich aus ihr herauszulesen, doch bedarf diese Repräsentationsform keiner Begründung mehr, um Aussagekraft oder Evidenz zu beanspruchen. Eine Pulskurve erscheint uns völlig selbstverständlich. Wenn wir aber die übliche Pulskurve (Abb. 85) den Darstellungen des Pulses aus der chinesischen Medizin (Abb. 86) gegenüberstellen, sehen wir sofort erhebliche Unterschiede, auch wenn die grafische Linie auf beiden Abbildungen eine dominante Rolle einnimmt. Während der Puls in Étienne
12 Vgl. Frank: »The Telltale Heart«, S. 275. 13 Vgl. Gugerli, David; Orland, Barbara: »Einführung«, in: dies. [Hrsg.]: Ganz normale Bilder: Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit, Zürich 2002, S. 9-18, hier S. 9.
Das Bild des Pulses | 209
Abbildung 86: Pulsdarstellungen in San cai tu hui von Wang Qi, 1609.
Jules Mareys La Méthode graphique dans les sciences expérimentales et principalement en physiologie et en médecine in Form einer langgezogenen, sich unablässig auf- und abschwingenden weißen Linie auf einem schwarzen Hintergrund abgebildet ist (Abb. 85), werden im Bildatlas der drei Reiche (San cai tu hui 三才圖會) fünfzehn verschiedene Pulsqualitäten benannt und grafisch durch augenförmige Figuren in einer Tabelle dargestellt (Abb. 86). Gezeigt werden hier gerade Linien, einfache Wellen, verschiedene Bögen, aber auch verstreute Punkte und nebeneinanderliegende Kugeln. Der französische Physiologe legt viel Wert auf die Visualisierung des Pulses in seinem zeitlichen Verlauf. Der chinesische Mediziner hingegen scheint kein Interesse daran zu haben, den Puls zeitlich zu verfolgen, stattdessen geht es ihm vielmehr darum, verschiedene Pulsqualitäten – schwebend (fu 浮), voll (shi 實), verborgen (fu 伏), überflutend (hong 洪), saiten[ähnlich] (xian 弦), straff (jin 緊), glatt (hua 滑), rau (se 濇) – durch die einzelnen Figuren zu veranschaulichen und mittels eines Diagramms übersichtlich anzuordnen. Insofern verfügt die chinesische Medizin über keine Visualisierungstechnik, durch die der Puls in seiner zeitlichen Entfaltung sichtbar gemacht werden kann. Dagegen fehlt der westlichen Pulskurve die Nomenklatur, mit deren Hilfe die chinesische Medizin die taktilen Merkmale des Pulses qualitativ unterscheidet und beschreibt, und folglich auch deren grafische Darstellung. Es stellt sich nun die Frage, woraus sich diese bildlichen Unterschiede ergeben. Rühren sie einfach von den unterschiedlichen Bildtechniken her, über
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die die westlichen und chinesischen Mediziner verfügen? Oder hängen sie damit zusammen, dass die winzigen Bewegungen des Pulses von ihnen auf unterschiedliche Weise wahrgenommen und konzipiert werden? Um diese Fragen zu beantworten, bedürfen wir weiterer Analysen. Es lässt sich angesichts dieses Vergleichs jedoch zunächst feststellen, dass die apparativ erzeugte Pulskurve, auch wenn sie uns »selbstverständlich« vorkommt oder als »sich selbst einschreibend« erscheint, lediglich eine mögliche Darstellungsform des Pulses ist. Doch wie sollen wir diese Unterschiede begreifen?
5.1 EINE ANGEMESSENE SPRACHE FÜR DEN PULS Die Pulskurve als eine »universale Sprache« Um die Unterschiede zwischen der Pulskurve und den chinesischen Darstellungen des Pulses besser zu verstehen, müssen wir zunächst genauer betrachten, wie die Pulskurve erzeugt wird. Die Abbildung 87 zeigt ein Modell von Mareys Sphygmographen, der laut Langendorff nicht nur »in den meisten Laboratorien und Kliniken« Ende des 19. Jahrhunderts Verwendung fand, sondern auch »leistungsfähiger und dabei bequemer und einfacher gemacht« worden war als die ursprüngliche Konstruktion. 14 Dieser Apparat besteht aus drei Grundelementen: Fühlhebel, Schreibkopf und Schreibfläche. Bei der Pulsaufzeichnung wird der Sphygmograph mithilfe zweier hölzerner, innen mit Tuch gefütterter Schienen und eines Bandes am Vorderarm so aufgesetzt und befestigt, dass eine federnde Pelotte (p in der Abb. 88) die Arteria radialis berührt. Mit dieser Pelotte ist durch ein Scharniergelenk ein Metallstäbchen (s) verbunden, in welches ein Schraubengewinde eingeschnitten ist. Dieses Schraubstäbchen greift mit seinen Windungen in ein kleines Zahnrad (z), welches durch eine Achse (a) am Schreibhebel (h) befestigt ist. Wenn sich die Pelotte hebt, so nimmt die dadurch gleichzeitig gehobene Schraube das Zahnrädchen mit und bewirkt eine kleine Drehung der Achse, die daraufhin den leichten Schreibhebel bewegt. 15 Auf diese Weise werden die vertikalen Schwingungen, die die Arteria Radialis hervorruft, aufgenommen und auf den Schreibstift übertragen. Und indem die berußte Schreibfläche mittels eines Uhrwerks an der metallenen Schreibspitze vorbeigeführt wird, hinterlässt der
14 Langendorff: Physiologische Graphik, S. 225. 15 Ebd., S. 225-226.
Das Bild des Pulses | 211
Abbildung 87-88: Mareys neue Konstruktion des Sphygmographen und die Verbindung von Schreibhebel und Pelotte in Mareys neuem Sphygmographen, 1891.
Schreibkopf, der ständig auf- und abgehoben wird, eine Kurve auf der Schreiboberfläche.16 Dieses Aufzeichnungsverfahren des Pulses vereinigt zwei isolierte Bewegungen in sich: zum einen die vertikale Bewegung des Fühlhebels und des Schreibkopfes, zum anderen die horizontale Bewegung der Schreibfläche. 17 Bleibt der Fühlhebel, während die Schreibfläche vorbeigezogen wird, in einem Ruhezustand, so wird der Schreibkopf auf der Schreibfläche nur eine horizontale Linie hinterlassen. Bleibt dagegen die Schreibfläche, während der Fühlhebel auf- und abgehoben wird, unbewegt, so wird die Schreibspitze nur eine senkrechte Linie produzieren. Die Überlagerung zweier im Grunde unterschiedlicher Bewegungen ist daher eine wesentliche Bedingung für die Erzeugung der Pulskurve: Die horizontale Bewegung der Schreibfläche verschiebt die senkrechte Linie, und die vertikale Bewegung des Fühlhebels bringt die gerade Linie zum Schwingen. Diese zwei sich kreuzenden Bewegungen tragen zur Verzerrung der jeweils von der anderen Bewegung gezogenen Linie bei und bringen zusammen eine Kurve hervor. Es ist zu betonen, dass die horizontalen und senkrechten Linien, die durch das Ausbleiben einer der beiden Bewegungen sichtbar werden, für die Bestimmung der Pulskurve von großem Belang sind. Sie konstituieren nämlich genau die Eigenschaft des Bildraums, in dem die Kurve sichtbar wird: Wie Langendorff hervorhebt, ist diese horizontale Linie als »die Abscissenaxe der zu zeichnenden Curve« und die senkrechte Linie als »die Ordinatenaxe« zu verstehen.18 Diese Linien sollen die Schreibfläche, in die die Kurve eingezeichnet
16 Ebd., S. 226. 17 Vgl. Schäffner, Wolfgang: »Mechanische Schreiber: Jules Etienne Mareys Aufzeichnungssysteme«, in: Siegert, Bernhard; Vogl, Joseph [Hrsg.]: Europa: Kultur der Sekretäre, Zürich [u.a.] 2003, S. 221-234, insb. S. 227f. 18 Langendorff: Physiologische Graphik, S. 12.
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wird, in ein Koordinatensystem umdeuten, in dem die zeitlich aufeinanderfolgenden Veränderungen der Auf- und Abschwingung der Arteria radialis verräumlicht und in einem proportionalen Verhältnis dargestellt werden. Die Deutung des Bildraums, in dem sich die Pulskurve befindet, als Koordinatensystem ist eine durchaus folgenreiche Operation. Denn auf diese Weise wird jeder beliebige Punkt auf der Kurve nicht mehr als eine reine »materiale Spur der Einzeichnung«,19 sondern als eine Markierung, die einen bestimmten Platz besetzt und sich aus zwei Zahlen ergibt, gelesen. Da die Pulskurve nicht aus diskreten Punkten besteht, sondern eine kontinuierliche Linie bildet, erweist sie sich als ein Archiv, in dem unzählige Daten, Messwerte und Zahlenpaare abgespeichert werden können. Dabei verleiht sie dieser großen Menge von Daten einen klaren und leicht zu überblickenden Ausdruck. Für Marey ist dieser Aspekt der Kurve einer der wichtigsten Vorteile, die die grafische Methode bietet. Es gibt für ihn aber noch einen anderen Grund, weshalb die Aufzeichnung des Pulses in Kurvenform von Nutzen ist. Dieser Grund betrifft ein besonderes Charakteristikum des Pulses: Seine Bewegungen sind manchmal so unregelmäßig, dass sie sich nur schwer verfolgen lassen. »Bei unregelmäßigen Bewegungen«, so schreibt Marey: »kann man mit der graphischen Methode ein äußerst wichtiges Element erfassen; ich meine den Rhythmus, den die Unregelmäßigkeiten in bestimmten Fällen aufweisen. Dies ist wieder ein Fall, bei dem uns unsere Sinne sehr schlecht informieren. Denn sofern die Periode, in der die Wiederkehr desselben Aktes geschieht, lang und kompliziert ist, entzieht sie sich uns. Die flüchtige Erinnerung der Intervalle, die man beobachtet hat, löst sich auf und wir erkennen die Wiederkehr derselben Periode, wenn sie sich reproduziert, nicht wieder. Im Unterschied dazu stellen sich die auf das Papier aufgetragenen Signale unseren Augen in aller Präzision dar; der Blick umfaßt einen genügend
19 Krämer, Sybille: »Zwischen Anschauung und Denken. Zur epistemologischen Bedeutung des Graphismus«, in: Bromand, Joachim; Kreis, Guido [Hrsg.]: Was sich nicht sagen lässt: Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin 2010, S. 173-192, hier S. 179. Zur Bildlichkeit und epistemologischen Bedeutung des »Koordinatensystems« liefert uns Krämer aufschlussreiche Texte: ebd., S. 179-180; dies.: »Über das Verhältnis von Algebra und Geometrie in Descartes’ ›Geometrie‹«, in: Philosophia Naturalis 26 (1989), S. 19-40.
Das Bild des Pulses | 213
langen Verlauf der Spur, um die periodische Wiederkehr bestimmter Unregelmäßigkeiten zu erfassen; und wenn die Periodizität klar erkannt ist, führt sie uns auf den Weg neuer Untersuchungen ihrer Ursachen. 20
Um dies zu veranschaulichen, bedient sich Marey einer Pulskurve (Abb. 89) als Beispiel und demonstriert mit ihrer Hilfe die Regelmäßigkeit des Unregelmäßigen: Die gleichen unregelmäßigen Bewegungen kehren alle zehn Herzschläge wieder.21 Abbildung 89: Eine Pulskurve, die unregelmäßige Bewegungen aufweist, in La Méthode graphique von Marey, 1878.
Wir sollten dabei nicht das ambitionierte Ziel, das Marey mit seiner Erfindung des Sphygmographen verfolgt, übersehen. Sein Programm besteht darin, die defizitäre natürliche Sprache durch eine neue »universale Sprache«, nämlich die grafische Kurve, zu ersetzen. »Ganz ohne Zweifel«, so schreibt Marey, »wird der grafische Ausdruck bald alle anderen ersetzen, wann immer eine Bewegung oder eine Zustandsveränderung aufzuzeichnen ist – mit einem Wort, bei jedem Phänomen. Aus vorwissenschaftlicher Zeit stammend, ist die Sprache ungeeignet, die exakten Maße oder genauen Beziehungen auszudrücken.«22
Marey ist der Ansicht, dass jede konventionelle Sprache durch eine authentische Form des grafischen Ausdrucks ersetzt werden müsse. Zum einen sei die menschliche Sprache nämlich nicht imstande, die dem Wandel unterworfenen
20 Marey, Étienne Jules: La Méthode graphique dans les sciences expérimentales et principalement en physiologie et en médecine, Paris 1878, S. 165. Ich übernehme die deutsche Übersetzung von Wolfgang Schäffner in: »Mechanische Schreiber«, S. 232. 21 Siehe Marey: La Méthode graphique, S. 164. 22 Ebd., S. III. Deutsche Übersetzung nach: Jäger, Ludwig: »Semantische Evidenz: Evidenzverfahren in der kulturellen Semantik«, in: ders.; Lethen, Helmut; Koschorke, Albrecht [Hrsg.]: Auf die Wirklichkeit zeigen: Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften. Ein Reader, Frankfurt a. M. [u.a.] 2015, S. S. 39-62, hier S. 57-58.
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Phänomene im Verhältnis zur Zeit präzise zu erfassen. Zum anderen bilde jede menschliche Sprache ihre eigene Grenze, die alle, die sie nicht beherrschen, ausschließe. 23 Für Marey vermag die Einführung der grafischen Methode diese Sprachbarriere zu überwinden, weil sich die durch den Sphygmographen gewonnene Kurve weder auf die beschreibende Schrift noch auf eine rein numerische Darstellung stützt. Sie wird nicht von irgendeinem System arbiträrer sprachlicher Zeichen vorgegeben, sondern als eine »indexikalische Spur« 24 der Phänomene selbst aufgezeichnet, als eine Markierung also, die die Bewegungsform der Phänomene nachvollziehbar macht. Aus diesem Grund bezeichnet Marey die Kurve nicht nur als eine »universale Sprache«, sondern auch als die »Sprache der Phänomene selbst«.25 Für Marey sind der Sphygmograph und andere selbstschreibende Apparate im Übrigen aus zweierlei Gründen von erheblichem Nutzen: erstens, weil sie diejenigen Phänomene, die sich wegen ihrer immanenten Geschwindigkeit, Langsamkeit oder synchronen Mannigfaltigkeit der menschlichen Anschauung entziehen, »unverzerrt« einfangen können, und zweitens, weil damit die Subjektivität des Beobachters und die Voreingenommenheit seines Blicks, die die Wahrnehmung und Registrierung der Phänomene verfälschen, gebändigt werden können. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert wurden die neu erfundenen Registrierapparate von Marey und seinen Zeitgenossen vor allem deshalb gepriesen, weil sie durch ihre endlose Aufmerksamkeit und Selbstverleugnung den zunehmend suspekten »human factor«26 abzuschaffen schienen. In dieser Hinsicht sind der Sphygmograph und andere automatische Aufzeichnungsverfahren, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa entwickelt wurden, in einem historischen Kontext anzusiedeln, auf den Lorraine Daston und Peter Galison in ihrem berühmten Aufsatz Das Bild der Objektivität aufmerksam gemacht haben. 27 Am Beispiel wissenschaftlicher
23 Vgl. Marey: La Méthode graphique, S. 448-449. 24 Mersch, Dieter: »Schrift/Bild – Zeichnung/Graph – Linie/Markierung: Bildepisteme und Strukturen des ikonischen ›Als‹«, in: Krämer, Sybille; Cancik-Kirschbaum, Eva; Totzke, Rainer [Hrsg.]: Schriftbildlichkeit: Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, Berlin 2012, S. 305-328, hier S. 317. 25 Marey: La Méthode graphique, S. IV u. III. 26 Schäffner: »Mechanische Schreiber«, S. 230. 27 Siehe Daston: »Das Bild der Objektivität«. Diesen Aspekt der anatomischen Abbildungen hat auch Martin Kemp thematisiert: »›The Mark of Truth‹: Looking and
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Atlanten zeigen Daston und Galison, dass die mechanisch produzierten Abbildungen keineswegs immer für wahrhaftig gehalten werden. Tatsächlich geht diesem »Bild der Objektivität« eine völlig andere Auffassung von »wahren Bildern«, also von »Naturwahrheit«,28 voraus. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich die »mechanische Objektivität« als neue epistemische »Tugend« aufgrund der zunehmenden erkenntnistheoretischen Skepsis gegenüber der Subjektivität des Künstlers und Wissenschaftlers allmählich durch. Sie avancierte im Laufe weniger Jahre nicht nur zu einer wissenschaftlichen Norm, sondern auch zur allgemeinen Richtlinie zur Herstellung von »wahren« Bildern. Während die Bilder im 18. und frühen 19. Jahrhundert erst durch Auswahl, Urteil und Intervention des erfahrenen Gelehrten als typisch, ideal, charakteristisch, allgemeingültig galten, sind die Wissenschaftler seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereit, technische Fehler in Kauf zu nehmen, um die wissenschaftliche Tugend der »mechanischen Objektivität« einzuhalten. 29 Dieser kulturelle Hintergrund erklärt das seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielen Bereichen beobachtbare Bestreben, die menschliche Intervention weitestgehend auszuschalten. Dem entspricht das Interesse an der »exakten« Übersetzung verschiedener sinnlicher Qualitäten in eine grafische Kurve. Zweifellos gehört die Entwicklung des Sphygmographen in diesen kulturellen Kontext. Wenn wir aber einen Blick auf die lange Geschichte der westlichen Sphygmologie werfen, können wir erkennen, dass die Skepsis gegenüber der konventionellen Sprache und die Suche nach einem exakten Aufzeichnungsverfahren des Pulses keineswegs erst im 19. Jahrhundert entstanden sind, sondern eine lange Geschichte aufweisen. Bereits in der Antike ist sich Galen der Problematik der Mitteilbarkeit des gefühlten Pulses durchaus bewusst. Er fragt sich, ob und wie es möglich ist, seinem Leser in einem Logos, also in einer mündlichen oder schriftlichen Rede, die unterschiedlichen taktilen Modifikationen des Pulses verständlich zu machen.30 Er gibt zu, dass die Beobachtungen des Pulses durch den Tastsinn nicht
Learning in Some Anatomical Illustrations from the Renaissance and the Eight eenth Century«, in: Bynum, William Frederick; Porter, Roy [Hrsg.]: Medicine and the Five Senses, Cambridge 1993, S. 85-121. 28 Zur Geschichte der »Naturwahrheit« und »mechanischen Objektivität« vgl. Daston: Objektivität. 29 Vgl. dies.: »Das Bild der Objektivität«. 30 Siehe Deichgräber, Karl: Galen als Erforscher des menschlichen Pulses: Ein Beitrag zur Selbstdarstellung des Wissenschaftlers, Berlin 1957, S. 26.
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mit aller Genauigkeit durch Worte beschrieben werden könnten. Doch betont er zugleich mit einem gewissen Optimismus, dass man über charakteristische Merkmale und Zeichen zu einer relativ genauen Darstellung und Identifizierung des Pulses gelangen könne.31 In Galens Augen kann das Problem der Mitteilbarkeit von Wahrnehmungen durch eine semiotische Erkenntnislehre gelöst werden. 32 Mit diesem Problembewusstsein bemüht er sich, alle Eigenschaften des Pulses, die der Tastsinn erfühlt, in seinen Schriften möglichst präzise und klar zu definieren. Aber trotz seiner aufmerksamen Arbeit, so lässt sich am weiteren Verlauf der Geschichte beobachten, werden Galens Aussagen nicht selten auch wegen seiner »mystizistischen« Sprache angezweifelt. Der französische Arzt Théophile de Bordeu (1722-1776) attackierte beispielsweise Ende des 18. Jahrhunderts Galen wegen seiner unverständlichen Sprache. Seine Kritik gilt vor allem Galens Beschreibung des Pulses, insbesondere den Formulierungen »wie Ameisen fortkriechend«, »wie ein Mausschwanz« und »wie eine Ziege springend«: »Galen, when he composed his treatise of the pulse, reasoned much more than he had observed: he comprehended however that each different species of the pulse should be distributed into as many different classes: but there was some difficulty to characterize them, and to make them distinguishable; besides to express them in an intelligible manner. He hit out a method of describing those different specieses [sic!] of the pulse, by their relation to things, which he looked upon as well known. He pretended to have found pulses that resembled the movement of ants […]; others which gradually diminished like the tail of a mouse […]; and he called […] pulsus caprizans, such as he imagined to represent the bounding of a Goat.«33
31 Galens Ansicht nach können die Begriffe nicht dazu dienen, richtige Erkenntnisse über die Dinge zu gewinnen. Die Begriffe entsprechen nicht den Dingen, sondern können nur im Kontext der Kommunikation als »Darstellung der Dinge« fungieren. Vgl. Morisons, Ben: »Language«: in: Hankinson, Robert J. [Hrsg.]: The Cambridge Companion to Galen, Cambridge [u.a.] 2008, S. 116-156, hier S. 142-144. 32 Siehe Deichgräber: Galen als Erforscher des menschlichen Pulses, S. 28. 33 Bordeu, Théophile de: Inquiries Concerning the Varieties of the Pulse, and the Particular Crisis Each More Especially Indicates, übersetzt von Mr. De Bordeu, London 1764, S. XI-XII. Das Werk ist abrufbar unter: http://archive.org/stream/in quiriesconcern00bord (30.06.2019).
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Auch der deutsche Mediziner Johann Ludwig Formey (1766-1823) spottete 1823 in seinem Versuch einer Würdigung des Pulses über Galens »[b]is in das Lächerliche und Abgeschmackte gehen[de]« 34 Terminologie und seine Einteilungen des Pulses. Formey ist sogar der Ansicht, dass Galen für die Verworrenheit und Unbrauchbarkeit der europäischen Pulslehre verantwortlich ist. 35 Zwar hat Galen – und dem muss auch Formey zustimmen36 – dazu beigetragen, die langfristige Aufmerksamkeit der europäischen Mediziner auf die Bedeutung des Pulses zu lenken. Dennoch melden sich im Laufe der Zeit immer wieder Stimmen, die nicht nur Galens minutiöse Unterscheidung der Pulsmodifikationen als spekulativ kritisieren, sondern sogar über die nicht metaphorischen Attribute wie schnell, langsam, hart, weich usw. klagen. Bei Théophile de Bordeu ist beispielsweise zu lesen: »On feeling a pulse, we find it hard or soft, slow or quick, great or small, etc. but we are immediately perplexed with difficulties; what must be the state of a pulse that is called hard or soft, slow or quick, great or small? By what signs do we know the pu lse to be such as we pronounce it? Hardness, softness, greatness, quickness, etc. are only different states relative modes thereof, which cannot be estimated but by a common and fix’d measure, to which all it’s variations may be referred.« 37
34 Formey, Johann Ludwig: Versuch einer Würdigung des Pulses, Berlin 1823, S. 3. 35 Ebd. 36 Siehe ebd. 37 Bordeu: Inquiries Concerning the Varieties of the Pulse, S. 2-3. An einer anderen Stelle schreibt er: »It was against this vocabulary of Galen […] that the moderns have principally drawn their pens […]. The moderns contented themselves with divisions and denominations more simpler and even in appearance more significant: they have divided the pulses into strong and weak, frequent and slow, great and small, hard and soft, etc. […] But it is very obvious that this vocabulary adopted by the Moderns, has near as many defects as that which they have rejected; because in fact these denominations express nothing precise. It is not possible to determine by what mark one is to judge in a patient, that the pulse is for instance, hard or soft, great or small; it’s smallness, and greatness, it’s softness, and hardness, being in the state of health at very different degrees, according to the different constitutions of the body. This judgment supposes a comparison to be made between the pulse, which by it’s nature is judged hard, or soft, or great or small, and that which, on the moment that it is examined, appears to have some of these qualities. The knowledge of the first species, that is of the natural pulse, is wanting to the observer at the
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Immer wieder wird die Forderung erhoben, die Pulskriterien auf »die wirklich wahrnehmbaren Merkmale« zu reduzieren.38 Welche aber sind »die wirklich wahrnehmbaren Merkmale« des Pulses? Für den Schweizer Mediziner Albrecht von Haller (1708-1777) war es die Zahl der Pulsschläge. Er schreibt: »Da es in der ganzen Naturgeschichte überall von gutem Nuzzen ist, die Maaße und Zalen fest zu sezzen, so wird es bey diesem so viel bedeutenden Zeichen, welches einen so beständigen Gebrauch hat, und welches der vornemste Grund zu der ganzen Erkennt nis derer Krankheiten ist, gewis grossen Nuzzen schaffen, wenn man mit Genauigkeit und durch Zalen bestimmt, wie der Puls in gesunden Menschen beschaffen ist, und wie er im Fieber zu laufen pflegt, damit man den Unterscheid desselben, und die Rükkehr desselben auf eine sichre Vergleichung bringen möge.«39
1768 formuliert der englische Mediziner William Heberden (1710-1801) dieselbe Ansicht noch deutlicher: »[W]ir wünschen, dass die Aerzte in der Lehre von den Pulsarten und in Krankengeschichten hauptsächlich auf jene Umstände ihr Augenmerk gerichtet haben möchten, hinsichtlich deren weder sie selbst getäuscht werden, noch Andre in Irrthum gerathen konnten. Ein Punkt ist es, der theils in dieser Beziehung, theils wegen seiner Wichtigkeit besonders in Erwägung zu ziehen ist, nämlich die Häufigkeit oder Schnelligkeit des Pulses […]. Diese wird nämlich fast in allen Theilen des Körpers gleich gefunden und durch Steifheit oder Schlaffheit, Grösse oder Kleinheit, tiefe oder mehr oberflächliche
instant when he is feeling the pulse of which he is to judge: besides, it happens but too often, that a pulse appears great or hard to one physician which will appear small or soft to another: these definitions therefore, or denominations, can express nothing positive.« (Ebd., S. XIII-XIV) 38 Kümmel, Werner Friedrich: »Der Puls und das Problem der Zeitmessung in der Geschichte der Medizin«, in: Medizinhistorisches Journal 1 (1974), S. 1-22, hier S. 14. 39 Haller, Albrecht von: Anfangsgruende der Phisiologie des menschlichen Koerpers, übersetzt von Johann Samuel Hallen, Bd. 2, Berlin 1762, S. 417-418. Das Werk ist abrufbar unter: http://books.google.de/books?id=xpQUAAAAQAAJ&hl (30.06. 2019). Der Text wird getreu nach der Veröffentlichung zitiert.
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Lage der Arterie nicht verändert; auch kann sie gezählt und eben desshalb beschrieben und Andren mitgetheilt werden.«40
Von Haller und Heberden wollen die galensche qualitative Beschreibung der Pulseigenschaften durch die unfehlbar genaue quantitative Zählung der Pulsschläge ersetzen.41 Ihre Aufforderung, den Puls durch Zählen zu bestimmen, ist an dieser Stelle nachvollziehbar, denn die Zahlen scheinen ein perfektes und unmissverständliches Kommunikationssystem zu bilden: Sie sind abstrakte mathematische Objekte, die auf einer linearen Abfolge von diskreten Zeichen basieren.42 Jede beliebige Zahl setzt eine scharfe Grenze zu den anderen. Während Attribute wie »schnell« und »langsam«, deren begriffliche Schattierungen von zwei extremen Polen am Ende unmerklich ineinanderfließen, nur relativ bestimmt werden können, sind die Zahlen keineswegs vage, unbestimmt oder mehrdeutig, sondern immer definitiv und klar, ganz egal, in welchem Kontext sie stehen. Wenn die »Schnelligkeit« und »Langsamkeit« des Pulses bei Galen als Abweichungen von einer mittleren Norm definiert
40 Heberden, William: »Beobachtungen über den Puls (1767)«, in: ders.: Heberden’s ärztliche Schriften, übersetzt von Johann Karl Friedrich Trautner, Nürnberg 1840, S. 373-382, hier S. 375-376. Das Werk ist abrufbar unter: http://books.google.de/ books?id=hoQ_AAAAcAAJ&hl (30.06.2019). Der Text wird getreu nach der Veröffentlichung zitiert. 41 In der Tat gehören von Haller und Heberden nicht zu den Ersten, die sich von der galenischen Pulslehre distanzieren und für die quantitative Zählung des Pulses in teressieren. Bereits seit dem ausgehenden Mittelalter haben Michaele Sa vonarola um 1450, Galilei um 1583 und viele andere Gelehrte die Pulsmessung durchgeführt. Der italienische Arzt Santorio Santorio (1561-1636) hat insbesondere die Pulsgeschwindigkeit wegen ihrer messbaren Größe als das vorrangigste Pulskriterium hervorgehoben. Er hat die pulsilogia erfunden, mit deren Hilfe man die Frequenz des Pulses »with mathematical certainty and not by conjecture« bestimmen kann. (Zitiert nach Bigotti, Fabrizio; Taylor, David: »The Pulsilogium of Santorio: New Light on Technology and Measurement in Early Modern Medicine«, in: Society and Politics 2 (2017), S. 55-114, hier S. 89) Vgl. dazu auch Kümmel: »Der Puls und das Problem der Zeitmessung«, S. 3-8; sowie Buess, H.: »Notizen zur Geschichte der Sphygmographie II«, in: Experientia 6 (1947), S. 250-251. 42 Vgl. Schäffner, Wolfgang: »Körper im Takt: Zur Geschichte symbolischer Maschinen im 16. und 17. Jahrhundert«, in: Kaleidoskopien 3 (1999), S. 188-205, hier S. 189.
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wird, die allein durch Übung und Erfahrung zu beurteilen ist,43 so kommt das Zählen der Pulsschläge ohne den geschulten Tastsinn des Mediziners aus und führt mühelos zu Klarheit und Transparenz. In diesem Zusammenhang scheint es, als wäre die galensche Pulslehre, die auf der Beschreibung der qualitativen Eigenschaften beruht, wegen der konstitutiven Unschärfe der konventionellen Sprache bereits von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Es ist jedoch hervorzuheben, dass sich Galen dieser sprachlichen Problematik völlig bewusst war. In seinen Schriften hat er nicht nur beanstandet, dass manche Autoren die Sprache missbrauchen, sondern wiederholt betont, dass die Benennung der Pulseigenschaften nicht metaphorisch, sondern klar und exakt sein soll.44 Man kann deshalb behaupten, dass Galen bis zu einem gewissen Grad gar nicht so weit entfernt von Heberden, von Haller und sogar von Marey ist. Letzterer feiert die vom Sphygmographen registrierte Kurve als »universale Sprache« und als »Sprache der Phänomene selbst«. Heberden und von Haller appellieren an die Ärzte, sich auf die unfehlbare Zahl der Pulsschläge zu konzentrieren. Sie sind alle, ähnlich wie Galen, der in seinen Abhandlungen der weitschweifigen Erläuterung einzelner Begriffe beträchtlichen Raum widmet, auf der Suche nach einer »perfekten« Sprache, die keinen Platz für Vagheit und Unbestimmtheit lässt. Sie gehen zwar unterschiedliche Wege, doch repräsentieren sie zugleich eine überzeitliche, tief in der westlichen Sphygmologie verwurzelte Annahme, der zufolge die wahre Erkenntnis des Pulses auf dessen »exakter Wiedergabe« beruht.45 In diesem Zusammenhang kommentiert Kuriyama die westliche Sphygmologie zu Recht mit folgenden Worten:
43 Vgl. Kümmel: »Der Puls und das Problem der Zeitmessung«, S. 3. 44 Vgl. Morisons: »Language«, S. 150-152. In De differentiis pulsuum präzisiert Galen den »exakten« Gebrauch der Sprache mit folgenden Sätzen: »If we have the appropriate words, we should use them. Otherwise, it’s better to put each thing into words using a phrase, and not to name it metaphorically […] the initial teach ing of all technical things needs the appropriate words in order to be clear and articulated.« (Galen: De differentiis pulsuum, VIII 675, zitiert nach Morisons: »Language«, S. 151.) 45 Zur Problematik der konstitutiven Vagheit von Begriffen vgl. Hoffmann, Eckart: »Unschärfe und Vagheit als symbolische Form«, in: Gaßner, Hubertus; Koep, Da niel [Hrsg.]: Unscharf: Nach Gerhard Richter, Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle, Ostfildern 2011, S. 74-80.
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»[N]othing more distinctly characterized the history of discourse on the pulse than this nervousness about words. We encounter it time and again – the haunting sense that vague terms are blunting, distorting, and misrepresenting what the fingers feel, the restless urge to rename and redefine, the ever-renewed hope that this time one might get it right. As if the failures securely to grasp the pulse were really just failures properly to name and describe it. As if the problem of knowledge was, at its heart, a problem of words.«46
Kommen wir zurück zu Mareys Sphygmographie. Es muss betont werden, dass Marey zwar ähnlich wie Heberden und von Haller danach strebt, den Puls einer mathematischen Behandlung zu unterziehen, doch im Vergleich zu ihnen viel weiter geht. Dadurch, dass er den Puls sich selbst mechanisch auf dem Papier als grafische Kurve registrieren lässt, entbindet er nicht nur – wie es Heberden und von Haller forderten – die Vermittlung des Pulses von den »zweifelhaften« Begriffen der menschlichen Sprache, sondern verwandelt das Taktile ins Bildliche. Obzwar Marey die Pulskurve als »Sprache der Phänomene selbst« bezeichnet, ist diese Sprache eigentlich stumm. Sie gibt keinen Laut von sich, sondern wird von Anfang an zu dem, was Bruno Latour »unveränderlich mobile Elemente«47 nennt. Wir sollten diese Visualisierung des Taktilen nicht unterschätzen. Denn wenn, um mit Hans Jonas zu sprechen, der Tastsinn den Puls nur »additiv aus einer serienhaften Vielheit von einzelnen oder kontinuierlich ineinander übergehenden Berührungsempfindungen« 48 verarbeiten kann, macht die Kurve den Puls durch ihre materielle Existenz zu einem konkreten Objekt des Gesichtssinns. Der Puls ist von nun an nicht mehr ein vergängliches Phänomen des Körpers, sondern stellt sich als eine auf dem Papier abgespeicherte Linie dar. Er weist keinen Prozesscharakter mehr auf, sondern entfaltet sich als ein
46 Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 70. 47 Latour, Bruno: »Drawing Things Together: Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente«, in: Belliger, Andréa; Krieger, David J. [Hrsg.]: ANThology: Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 259-308, hier S. 267. 48 Jonas, Hans: »Der Adel des Sehens: Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne«, in: Konersmann, Ralf [Hrsg.]: Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 247-271, hier S. 254. Vgl. dazu auch Köller, Wilhelm: Perspektivität und Sprache: Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache, Berlin 2004, S. 12.
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Abbildung 90-91: »Normale Pulskurve« und »Pulsus parvus, irregularis« im Atlas der klinischen Untersuchungsmethoden von Christfried Jakob, 1897.
statisches Bild – als eine gleichzeitige Darstellung des Ungleichzeitigen – vor den Augen des Mediziners. Einmal auf Papier fixiert, bietet sich diese Aufzeichnung dem analysierenden Blick dar. Der nunmehr als Kurve dargestellte Puls entspricht dem Ideal der mathematischen Exaktheit, denn die unfehlbaren numerischen Zahlen können einfach von den Wendepunkten und Krümmungen der Kurve abgeleitet werden.49 Was umso wichtiger ist: Solange die Pulskurve als »Sprache der Phänomene selbst«, oder genauer: als »Abbild« des Pulses betrachtet und gebraucht wird, löst sie endgültig das Problem der Sprache und befreit die Pulslehre von Spekulation, Vagheit und Konfusion.50 Nun ist es nicht mehr nötig, den Puls fühlend zu erfassen, geschweige denn danach zu fragen, welche Eigenschaften dabei wahrgenommen werden. Man nimmt nicht mehr den tatsächlichen Puls, sondern das Bild des Pulses wahr. Die Bestimmung der Pulseigenschaft wird zu einer reinen Formanalyse der Kurve. Im Atlas der klinischen Untersuchungsmethoden, den der deutsche Mediziner Christfried Jakob (1866-1956) Ende des 19. Jahrhundert publiziert, werden die verschiedenen Pulseigenschaften, die noch lateinische Namen tragen, durch ihre bildlichen Abweichungen von einer als »normal« geltenden Pulskurve (Abb. 90) definiert: »Pulsus parvus, irregularis« (Abb. 91) wird durch »geringe Höhe und Ungleichmässigkeit der Pulswellen«,51 »Pulsus celer« (Abb. 92) durch »steile[n] Anstieg,
49 Vgl. Schäffner: »Mechanische Schreiber«, S. 231-232. 50 Es ist jedoch zu betonen, dass die Pulskurve im 19. Jahrhundert, worauf De Chadarevian in seinem aufschlussreichen Aufsatz hinweist, erst durch die Standardisierung und Kalibrierung der Instrumente ihren »abbildenden« Status erhielt. Siehe Chadarevian: »Die ›Methode der Kurven‹«. 51 Jakob, Christfried: Atlas der klinischen Untersuchungsmethoden, nebst Grundriss der klinischen Diagnostik und der speziellen Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten, München 1897, S. 71.
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Abbildung 92-93: »Pulsus celer« und »Pulsus tardus« im Atlas der klinischen Untersuchungsmethoden von Christfried Jakob, 1897.
rapide[n] Abfall des ersten Gipfels« 52 und »Pulsus tardus (Abb. 93) durch »Plateaugipfel«53 gekennzeichnet. Der Puls zeigt sich nun als eine dünne, gekrümmte weiße Linie, die sich – parallel zu einer durchgehend mit Zeitmarken versehenen getakteten Linie laufend (siehe Abb. 90-93 oben) 54 – quer über die ganze Bildoberfläche erstreckt und verschiedene Formen von Wellen, Bögen, Gipfeln, Tälern und Spitzen annimmt. Die Metaphern und Darstellungen der Pulseigenschaften in der chinesischen Medizin In der Geschichte der europäischen Sphygmologie lässt sich beobachten, dass die galensche, auf qualitativen Modifikationen des Pulses beruhende Sphygmologie aufgrund einer tiefgreifenden Skepsis gegenüber der Sprache allmählich durch eine quantitative Untersuchung des Pulses verdrängt wird. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird der taktile Puls dank der Erfindung des Sphygmographen sichtbar gemacht und als Kurve übersetzt. Die Visualisierung des Pulses als grafische Kurve scheint also ein konsequentes Ergebnis der Geschichte zu sein. Doch wenn wir uns der chinesischen Pulslehre zuwenden, erkennen wir, dass die chinesische Medizin die Bewegungen des Pulses nicht nur auf eine andere Weise zeigt, sondern eine völlig andere Einstellung zu der Sprache hat. Wie Kuriyama anmerkt, bereitet die Vagheit der Sprache den Vertretern der chinesischen Pulslehre keine weiteren Sorgen. Die traditionellen Benennungen und Beschreibungen der verschiedenen Pulseigenschaften werden im Laufe der Zeit zwar modifiziert und ergänzt, aber niemals angezweifelt oder als Spekulation abgetan. Im Gegensatz zur westlichen
52 Ebd., S. 72. 53 Ebd. 54 Laut Christfried Jakob stehen fünf Striche für eine Sekunde. Siehe ebd., S. 70.
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Sphygmologie gibt es in der Geschichte der chinesischen Pulslehre keine terminologischen Streitigkeiten, und es wird auch keine Forderung nach einer größeren Transparenz der Sprache erhoben. Die Wahrnehmbarkeit der beschriebenen Pulsvariationen steht für die chinesischen Mediziner außer Zweifel.55 Lässt sich daraus schließen, dass die chinesische Sprache exakter als diejenigen der Europäer wäre? Mit Sicherheit nicht. Als die Europäer im 18. Jahrhundert durch Michael Boyms lateinische Übersetzung des Werkes Merkreime der Pulse (Mai jue 脈訣),56 einer Sammlung von Versen zur Pulsdiag-
55 Siehe Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 70-71. Diese unkritische Einstellung der chinesischen Mediziner gegenüber der Sprache hängt bis zu einem gewissen Grad mit dem Umstand zusammen, dass epistemologische Bedenken in der chinesischen Medizingeschichte weniger präsent sind, da den medizinischen Autoritäten in China größeres Vertrauen entgegengebracht wurde als der altgriechischen Medizin in Europa. (Vgl. Lloyd, Geoffrey: »Epistemological Arguments in Early Greek Medicine in Comparativist Perspective«, in: Bates, Don [Hrsg.]: Knowledge and the Scholarly Medical Traditions, Cambridge [u.a.] 1995, S. 25-40.) Kuriyama warnt jedoch davor, das Vertrauen der chinesischen Mediziner in ihre Autoritäten vorschnell als »blind« anzusehen, komme es doch zu einer permanenten Anwen dung und Prüfung ihrer Lehrmeinungen in der Praxis. Die unkritische Einstellung zur Sprache lasse sich daher nicht einfach durch »blindes Vertrauen« begründen. (Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 74-75.) 56 Zu Michael Boyms Übersetzung der chinesischen medizinischen Schriften siehe Kajdanski, Edward: »Michael Boym’s ›Medicus Sinicus‹«, in: T’oung pao 73 (1987), S. 161-189. Es ist zu berücksichtigen, dass das Werk Merkreime der Pulse (Mai jue 脈訣) nicht von Wang Shu-he 王叔和 (ca. 3. Jahrhundert), sondern tatsächlich von Gao Yang-sheng 高陽生 im 10. Jahrhundert verfasst, aber Wang Shuhe zugeschrieben wurde. Die Merkreime der Pulse sind im Übrigen trotz ihrer weiten Verbreitung keineswegs als das kanonische Werk der chinesischen Pulsuntersuchung anzusehen. Bereits im 12. Jahrhundert wurde dieses Werk wegen seiner Einfachheit und Grobheit von chinesischen Gelehrten scharf kritisiert. Vgl. Hsu, Elisabeth: »Towards a Science of Touch, Part I: Chinese Pulse Diagnostics in Early Modern Europe«, in: Anthropology & Medicine 2 (2000), S. 251-268, hier S. 265. Zu Mai jue 脈訣 siehe auch Zheng Jinsheng; Kirk, Nalini; Buell, Paul D.: Dictionary of the Ben cao gang mu, Vol. 3: Persons and Literary Sources, Oakland, California 2018, S. 323.
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nose, die chinesische Pulslehre kennenlernten, kam ihnen deren Ausdrucksweise mindestens genauso verwirrend und unverständlich vor wie diejenige Galens. Der bereits erwähnte Théophile de Bordeu zum Beispiel erblickte Ähnlichkeiten zwischen der chinesischen Pulslehre und den Beschreibungen der Pulseigenschaften bei Galen, dessen Sprache er scharf kritisierte.57 Der französische Arzt Menuret de Chambaud (1739-1815) gelangte in seinem für Diderots Encyclopédie verfassten Lexikonartikel Pouls zu dem folgenden Schluss: »Il n’y a pas lieu de douter que les différences des pouls, établies par les Chinois, ne soient fondées sur l’observation; la maniere dont elles sont exprimées & peintes fait voir évidemment leur origine; cependant il n’en est pas moins certain que la plûpart sont indéterminées & arbitraires. Les objets qui leur ont servi de point de comparaison ne sont rien moins que fixes & décidés, chacun peut souvent s’en faire une idée trèsdifférente; il y en a même qui ne présentent aucune image sensible, qui n’offrent aucun sujet d’analogie; quel rapport en effet peut-il y avoir entre le battement d’une artere & le mouvement de l’eau qui se glisse à-travers une fente, & un homme qui défait sa ceinture, ou qui, voulant entortiller quelque chose, n’a pas assez d’étoffe pour en faire le tour, & une motte de terre […]. 58
Obwohl er die chinesischen Beschreibungen der Pulseigenschaften nicht für widersinnig hält, muss er zugeben, dass die meisten Beschreibungen für die Europäer fremd und schwer zu erfassen sind.59 Als die Europäer des 18. Jahrhunderts die chinesische Pulslehre studierten, bemerkten sie sofort, dass sie nur so von Analogien wimmelte. Diese zahlreichen Metaphern erinnerten sie zwar an die von Galen überlieferten Beschreibungen des Pulses, überschritten jedoch in den Augen vieler das Maß einer vernünftigen Bestimmung. Diesbezüglich schreibt etwa Floyer: »The Chinese are very extravagant in comparing their several Pulses to odd Figures and Motions; ’tis true, we want Words for to explain Colours and Tastes, and we therefore describe them by comparing them to known Colours and Tastes, so it must be in the
57 Siehe Bordeu: Inquiries Concerning the Varieties of the Pulse, S. XII. 58 Menuret de Chambaud, Jean-Joseph: »Pouls«, in: Diderot, Denis; D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond [Hrsg.]: Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers (University of Chicago: ARTFL Encyclopédie Project http://encyclopedie.uchicago.edu/), Vol. XIII, S. 205-240, hier S. 227. 59 Siehe ebd.
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Sense of feeling; we must compare all nice Motions to those that are well known […]; but the Chinese comparisons are sometimes very extravagant, and the Similitude imperceptible, when they compare the Pulse to a flying Ribband or Feather; the Pulsus jusculi ubi pinguedo bullit & notat, a Pulsus nistar staminis araneae, or a Pulse like the motion of a Cock’s Wings; and here I will make this Remark, that all the very nice touching of the Pulse may be very curious, but not useful, because Physicians must build all their Practice on those sensible Phaenomena, which are obvious to all unprejudic’d Persons; and those are sufficient, and very evident, as Nature has made all useful Things.«60
Floyer macht klar, dass man Worte benötigt, um die taktilen Bewegungen des Pulses zum Ausdruck zu bringen. Es ist seiner Ansicht nach durchaus legitim, dass man auf etwas Bekanntes rekurriert, um die Bewegungen des Pulses zu beschreiben. Allerdings findet Floyer manche Vergleiche in der chinesischen Pulslehre »ausschweifend« (extravagance), da sie nicht mehr evident und unmittelbar verständlich sind. Solche Vergleiche mögen zwar interessant sein, sind aber, so betont Floyer, nutzlos und überflüssig. In dieser Hinsicht ist es kein Zufall, wenn Floyer nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der chinesischen Pulslehre bemerkt, die chinesische Ausdrucksweise sei weniger für die »Philosophie« als vielmehr für die »Dichtung und Redekunst« geeignet:61 »[T]he Asiatics have a gay luxurious Imagination, but the Europeans excel in Reasoning and Judgment, and clearness of Expression.«62 Eine nähere Beschäftigung mit der Geschichte der chinesischen Pulslehre zeigt schnell, dass ihre in Floyers Augen allzu poetische und fantasievolle Ausdrucksweise von den chinesischen Ärzten überhaupt nicht als Problem empfunden wurde. Darüber hinaus versuchen sie diese Metaphern, Analogien und Vergleiche keineswegs zu verringern, sondern fügen ihnen sogar immer weitere hinzu. Nehmen wir den »rauen Puls«, se mai 瀒脈, als Beispiel: Im Klassiker des Pulses (Mai jing 脈經) von Wang Shu-he 王叔和 (ca. 3. Jahrhundert) wird der raue Puls als ein »dünner und langsamer« Puls, der »mit Schwierigkeiten kommt und geht« oder »[erst] mit Unterbrechungen wiederkehrt«, beschrieben.63 In dem bereits zitierten Werk Merkreime der Pulse (Mai
60 Floyer: The Physician’s Pulse-watch, S. 345-346. 61 Ebd., S. 232. 62 Ebd. 63 Wang Shu-he 王叔和; Shen Yan-nan 沈炎南 [Hrsg.]: Mai jing xiao zhu 脈經校注, Peking 2016, S. 2.
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jue 脈訣) aus der Zeit der Sechs Dynastien (ca. 222-589) wird dieser Puls durch eine Metapher – »wie man mit einem Messer den Bambus abschabt«64 – erklärt. In Binhus Studie der Pulse (Binhu mai xue 瀕湖脈學) von Li Shizhen 李時珍 (1518-1593) wird derselbe Puls nicht nur als »wie man mit einem Messer leicht am Bambus kratzt«, sondern auch als »wie der Regen den Sand anfeuchtet« und »wie eine kranke Seidenraupe, die Maulbeerblätter frisst« beschrieben.65 Im Laufe der Zeit ziehen die Pulseigenschaften immer mehr Vergleiche auf sich. Manche von ihnen werden direkt mit Dingen in Zusammenhang gebracht: Der »schnittlauch[ähnliche] Puls« (kou mai 芤脈) bezeichnet denjenigen Puls, der an den Seiten fest und in der Mitte leer ist, der folglich einen Eindruck vermittelt, als fasste man einen Schnittlauchstengel an.66 Der »lederne Puls« (ge mai 革脈) bezeichnet einen Puls, der sich so anfühlt wie das Fell einer Trommel. 67 Andere Eigenschaften des Pulses werden außerdem mit der »Sehne des gespannten Bogens«,68 einem »[dünnen] Seidenfaden«, 69 einem »Faden, der nicht eng zusammengedreht ist«, 70 einem »im Wasser schwimmenden [leichten] Stoff«71 oder auch mit den »sich in der Luft herumwirbelnden Blütenkätzchen der Weiden« 72 verglichen. Angesichts solcher Vergleiche bemerkt Joe Moshenska treffend: »The crucial question for a Chinese physician seems to be: what does it feel like?«73 In seinem Buch Feeling Pleasures: The Sense of Touch in Renaissance England hat Joe Moshenska gezeigt, wie die Konfrontation mit den blühenden Metaphern in der chinesischen Pulslehre Floyer dazu veranlasst hat, über die Grenze zwischen »angemessenen« und »unangemessenen« Metaphern nachzudenken und sich implizit an der Debatte über die rhetorische Unterscheidung von metaphorá und katáchresis, die Ende des 16. Jahrhunderts in England von
64 Zitiert nach Li Shi‐zhen 李時珍: Binhu mai xue 瀕湖脈學, Peking 2013, S. 11. 65 Ebd., S. 11. 66 Ebd., S. 29. 67 Ebd., S. 33. 68 Ebd., S. 31. 69 Ebd., S. 43. 70 Ebd., S. 27. 71 Ebd., S. 37. 72 Ebd., S. 41. 73 Moshenska, Joe: Feeling Pleasures: The Sense of Touch in Renaissance England, Oxford [u.a.] 2014, S. 311.
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Henry Peacham (1546-1634) angestoßen wurde, zu beteiligen. 74 An dieser Stelle sollten wir aber berücksichtigen, dass die Metaphern, die in der chinesischen Pulslehre zu finden sind, weit über jenen »wichtigste[n] Schmuck der Rede«75 hinausgehen, von dem in Quintilians Institutio Oratoria die Rede ist. Ohne Zweifel handelt es sich um bildliche Ausdrücke, bei denen man Dinge aus ihren eigentlichen Zusammenhängen herauslöst und auf einen anderen, scheinbar uneigentlichen Zusammenhang, wie den Puls, überträgt, so dass ein indirekter Vergleich möglich wird. Wenn die chinesischen Mediziner im Unterschied zu ihren europäischen Kollegen die metaphorische Ausdrucksweise niemals in Frage gestellt haben, so hängt dies damit zusammen, dass sie diese Metaphern nicht bloß als »rhetorische Figuren« betrachteten. Im Kapitel 2 habe ich das Konzept der »korrespondierenden Zugehörigkeit« (類 lei) behandelt und darauf hingewiesen, dass die Dinge nach diesem Konzept nicht wegen ihrer ähnlichen Erscheinungen, sondern wegen ihrer Fähigkeiten, aufeinander reagierend in eine inter-aktive, korrespondierende Beziehung zu treten, als »kategorial zugehörig« betrachtet werden. An dieser Stelle lohnt es sich, die Diskussion über die »Herbeiführung der Metaphern und Zusammentragung der Kategorien« (yin pi lian lei 引譬連類) in der chinesischen Literaturtheorie zu präsentieren, um die epistemologische Bedeutung, die den Metaphern in der chinesischen Kultur zukommt, besser verstehen zu können. Wie die Literaturwissenschaftlerin Cheng Yu-yu 鄭毓瑜 bemerkt, besteht die zentrale Funktion der »Metapher« (pi 譬) in der chinesischen Literatur darin, unterschiedliche »Kategorien« (lei 類) miteinander zu verbinden.76 Mit anderen Worten: Die Metapher ist imstande, scheinbar unerschütterliche Kategorien durchlässig zu machen, indem sie Interaktionen und Resonanzen zwischen ihnen erzeugt und ihre geheimen Affinitäten offenbart. Derart bringt sie eine leiblich wahrnehmbare und lesbare Welt hervor, in der alle Dinge auf gewisse Weise miteinander zusammenhängen.77 In diesem Akt erblickt Cheng Yu-yu eine für die chinesische Kultur charakteristische Weise der Welterzeugung, die nicht zuletzt auch in der Einstellung der chinesischen Gelehrten zu
74 Siehe ebd., S. 313-318 und 4-8. 75 Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners: Zwölf Bücher, herausgegeben und übersetzt von Helmut Rahn, Zweiter Teil, Buch VII-XII, Darmstadt 1995, S. 141. 76 Siehe Cheng Yu-yu 鄭毓瑜: Yin pi lian lei: Wen xue yan jiu de guan jian ci 引譬 連類: 文學研究的關鍵詞, Taipeh 2012, S. 18f. 77 Siehe ebd., S. 30f.
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den »Metaphern« zum Ausdruck komme: Zum einen würden die Metaphern in der Regel nicht als »fiktiv« oder »frei erfunden«, sondern als »wahre Erfahrungen« und »tatsächlich zu einer bestimmten Zeit geschehene Reaktionen auf die Welt« empfunden.78 Zum anderen zeichne sich die chinesische Literatur dadurch aus, dass traditionelle Metaphern im Laufe der Zeit immer wieder verwendet, zitiert und ins Gedächtnis zurückgerufen würden. Dabei käme es beständig zu Verschiebungen, Erweiterungen und Anpassungen an neue Situationen. Für Cheng Yu-yu ist gerade dieser Akt der »Herbeiführung der Metaphern und Zusammentragung der Kategorien« entscheidend: Durch eine endlose Wiederholung erschaffen die Dichter und Gelehrten des alten China eine bedeutungsvolle, von vielfältigen Zusammenhängen geprägte Welt, in der sie zusammen mit ihren Vorfahren ein kollektives Gedächtnis im Hinblick auf die erlebte Welt und die Ordnung der wahrgenommenen Dinge pflegen.79 Vor diesem Hintergrund müssen auch die in der chinesischen Pulslehre reichlich verwendeten »Metaphern« verstanden werden: Sie erklären den Puls nicht nur durch die Übertragung bestimmter dinglicher Eigenschaften, sondern veranschaulichen ihn in dinghafter Form. Dabei geht es nicht darum, die Eigenschaften des Pulses ein für alle Mal zu definieren, sondern darum, sie im Prozess der Analogiebildung durch etwas bereits Erfahrenes, Vertrautes anzudeuten und allmählich erkennbar zu machen. In diesem Sinne schließen die
78 Siehe ebd., S. 32. Cheng Yu-yu bezieht sich auf die Analysen von Stephen Owen, der in seinem Buch Traditional Chinese Poetry and Poetics: Omen of the World Gedichte von William Wordsworth und Du Fu 杜甫 (712-770) im Hinblick auf die unterschiedlichen Lesehaltungen, die sie implizieren, miteinander verglichen hat. Owen gelangt dabei zu folgendem Ergebnis: »For the reader of Wordsworth, all is metaphor and fiction; the referential instructions to regard place and moment are an embarrassment, an unwanted intrusion. Literary language is supposed to be fundamentally different from the language of diary and empirical observation: its words mean Something Else, something hidden, richer, infinitely more satisfying. In [D]u Fu’s poem, the assumptions through which significance grows are different, and potent consequences follow from those initial differences, which at first seem so slight. The differences shape two fiercely distinct concepts of the nature of literature and its place in the human and natural universe. For [D]u Fu’s reader the poem is not a fiction: it is a unique, factual account of an experience in historical time, a human consciousness encountering, interpreting, and responding to the world.« (Owen, Stephen: Traditional Chinese Poetry and Poetics: Omen of the World, Madison, Wisconsin 1985, S. 15) 79 Vgl. ebd., S. 229 und 262-263.
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Abbildung 94: Der schnittlauch[ähnliche]
Abbildung 95: Der schnittlauch[ähnliche]
Puls (kou mai 芤脈) in Tu zhu wang shu
Puls (kou mai 芤脈) in Cha bing zhi nan,
he mai jue, 1522-1566.
1644.
Abbildung 96: Der glatte Puls (hau mai
Abbildung 97: Der glatte Puls (hau mai
滑脈) in Tu zhu wang shu he mai jue,
滑脈) in Cha bing zhi nan, 1644.
1522-1566.
Metaphern einander nicht aus, sondern überlagern sich und tragen zusammen zur Bestimmung der taktilen Qualität des Pulses bei. Auf ähnliche Weise lassen sich auch die in der chinesischen Medizin anzutreffenden bildlichen Darstellungen der Pulseigenschaften, die auf den ersten Blick rätselhaft scheinen mögen, begreifen: Sie zielen keineswegs darauf ab, die sprachlichen Beschreibungen, herkömmlichen Metaphern oder bildlichen Übertragungen zu verdrängen, sondern sind, ganz im Gegenteil, unmittelbar mit ihnen verbunden. Man darf sogar behaupten, dass diese Darstellungen ohne den Text nicht mehr nachvollziehbar wären. Betrachten wir zum Beispiel die Darstellung des »schnittlauch[ähnlichen] Pulses« (kou mai 芤脈). In den Illustrierten Merkreimen der Pulse von Wang Shu-he (Tu zhu wang shu he mai jue 圖註王叔和脈訣) wird dieser Puls (Abb. 94) so dargestellt, als ob sich zwei Halbellipsen mit ihrer jeweiligen Innenseite gegeneinander richten würden, während der Raum zwischen ihnen leer bleibt. Offenbar bezieht sich das Bild auf die Eigenschaft dieses Pulses, an den Seiten fest und in der Mitte leer zu sein. Im Führer zur Diagnose (Cha bing zhi nan 察病指南) hat derselbe Puls eine etwas andere Form (Abb. 95), das Bild bezieht sich aber wahrscheinlich auf dieselbe Metapher, wenn man davon ausgeht, dass der Schnittlauch im Querschnitt dargestellt wird.
Das Bild des Pulses | 231
Abbildung 98: Der saiten[ähnliche]
Abbildung 99: Der straffe Puls
Puls (xian mai 弦脈) in Cha bing zhi
(jin mai 緊脈) in Cha bing zhi
nan, 1644.
nan, 1644.
Eine ähnliche Abhängigkeit von der sprachlichen Metapher zeigt auch die Darstellung des »glatten Pulses« (hau mai 滑脈), der mit »rollenden Kugeln« verglichen wird. Er wird durch mehrere Kugeln, die eine nach der anderen über die Bildfläche kullern und eine gerade Reihe (Abb. 96) oder eine Kurve (Abb. 97) bilden, repräsentiert. Dieser enge Zusammenhang zwischen Bild und Text tritt vor allem bei jenen Darstellungen zutage, die den Leser dazu auffordern, sich aktiv an der Lektüre der Bilder zu beteiligen. Die Darstellungen des »saiten[ähnlichen] Pulses« (xian mai 弦脈) und des »straffen Pulses« (jin mai 緊脈) veranschaulichen auf besondere Weise die Bedeutung des Textes (Abb. 98 und 99): Sähen wir uns nur diese Bilder an, ohne den beigefügten Text zu lesen, würden wir zwischen den gezeichneten Linien kaum einen Unterschied erkennen. Indem wir erfahren, dass sich der »saiten[ähnliche] Puls« wie eine »gespannte Bogensehne«80 und der »straffe Puls« wie ein »stark verdrehtes Seil«81 anfühlt, fügt der Text den Zeichnungen spezifische materielle Eigenschaften hinzu und schreibt eine bestimmte Wahrnehmungsweise ihrer Linien vor: Der Leser soll diese Linien nicht einfach als solche betrachten, sondern sich die konkreten Eigenschaften, die ihnen zugewiesen werden, vorstellen. Könnte man sie betasten, würden sie sich anfühlen wie eine »gespannte Bogensehne« oder ein »stark verdrehtes Seil«. Um es anders auszudrücken: Der Leser soll die Dynamiken der in den Metaphern herbeigerufenen Dinge nachfühlen und die Eindrücke, die er von diesen Dingen hat, in seiner Imagination auf die Linien übertragen. In diesem Sinne setzen
80 Shi Fa 施發: Cha bing zhi nan 察病指南, in: Shang hai zhong yi xue yuan zhong yi wen xian yan jiu suo 上海中醫學院中醫文獻研究所 [Hrsg.]: Li dai zhong yi zhen ben ji cheng 歷代中醫珍本集成, Bd. 13, Shanghai 1990, S. 1-31, hier S. 7. 81 Ebd., S. 8.
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diese Zeichnungen ein aktives Handeln des Betrachters bei der Bildwahrnehmung voraus. Die sichtbaren Linien sollen nicht als »geometrische Figuren«, sondern als »Träger der realen Dinge« aufgefasst werden. An dieser Stelle rühren wir an einen grundlegenden Unterschied zwischen den westlichen Pulskurven und den chinesischen Darstellungen der Pulseigenschaften: Während zwei ähnliche Pulskurven in der Sphygmographie ähnliche Eigenschaften bezeichnen, können zwei ähnliche Linien in der chinesischen Pulslehre zwei durchaus unterschiedliche Tastqualitäten verkörpern. Im Gegensatz zur Pulskurve werden die Linien in den chinesischen Pulsdarstellungen also nicht einfach durch ihre Form und Lage bestimmt, sondern beginnen ihre Eigentümlichkeit erst in der Imagination des Betrachters zu offenbaren. Indem sie einen Vorstellungshorizont eröffnen, gleichen sie den sprachlichen Metaphern. Wie aber lässt sich diese »indirekte« Darstellungsweise des Pulses in der chinesischen Medizin erklären?
5.2 DAS TASTEN DES PULSES Um eine mögliche Antwort auf diese Fragen zu geben, müssen wir zunächst näher auf die haptische Wahrnehmung eingehen. In seiner Phänomenologie der Wahrnehmung schreibt Maurice Merleau-Ponty: »Auf Grund der visuellen Erfahrung, die die Objektivierung weiter treibt als die taktile Erfahrung, können wir, zumindest auf den ersten Blick gesehen, uns schmeicheln, selbst die Welt zu konstituieren, da sie sich hier als ein auf Abstand vor uns ausgebreitetes Schauspiel darbietet, so daß wir die Illusion gewinnen, unmittelbar allgegenwärtig und nirgends situiert zu sein. Die Tasterfahrung aber hängt der Oberfläche unseres Leibes an, wir vermögen sie nicht vor uns auszubreiten, niemals wird sie ganz und gar Objekt. Als Tastsubjekt kann ich mir nicht schmeicheln, überall und nirgends zu sein, hier kann ich nie vergessen, daß ich allein durch meinen Leib zur Welt komme; die Tasterfahrung vollzieht sich ›mir zuvor‹ und ist nicht in mir zentriert.«82
82 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, übersetzt von Ru dolf Boehm, Berlin 1974, S. 366.
Das Bild des Pulses | 233
Merleau-Ponty verdeutlicht, dass sich ein Taktilphänomen schwer objektivieren lässt, da es niemals aus der Entfernung betrachtet werden kann. Beim Tasten verschwimmt die Grenze zwischen Subjekt und Objekt.83 Im Kontakt mit dem zu berührenden Objekt berührt das Subjekt nicht nur das Objekt, sondern stets auch sich selbst. Der Leib des Subjekts wird seinerseits zu einem erstasteten Ding. Berühren heißt zugleich Berührt-Werden. Für Merleau-Ponty ist das Taktilphänomen daher kein Gegenstand der Reflexion, sondern eine von der leiblichen Erfahrung untrennbare Präsenz: »Nicht ich bin es, der berührt, sondern mein Leib; […] Die Wirksamkeit der Berührung setzt voraus, daß das Phänomen in mir sein Echo findet, mit einer gewissen Natur meines Bewußtseins zusammenstimmt, daß das ihm begegnende Organ mit ihm synchronisiert ist. Einheit und Identität des Tastphänomens verwirklichen sich nicht auf Grund einer Synthesis der Rekognition im Begriff, sie gründen vielmehr in der Einheit und Identität des Leibes als eines synergischen Ganzen.«84
Merleau-Pontys phänomenologische Betrachtung über den Tastsinn erklärt die Unreinheit85 der taktilen Erfahrung und vor allem die unvermeidliche Subjektivität, die mit der Pulstastung und der Versprachlichung der Pulseigenschaften stets verbunden ist. Sie erklärt aber auch, weshalb der Pulstastung in vielen Kulturen eine magische Macht zugeschrieben wird: Aufgrund der Ambivalenz, die jedem Berühren innewohnt, wird das Fühlen des Pulses nicht als rein theoretische Erkundung des Taktilen empfunden. In dem Moment, in dem der Mediziner seine Finger auf das Handgelenk des Kranken legt, überschneidet
83 Vgl. auch Mazis, Glen A.: »Touch and Vision: Rethinking with Merleau-Ponty Sartre on the Caress«, in: Philosophy Today 23 (1979), S. 321-328 und vor allem Böhme, Hartmut: »Der Tastsinn im Gefüge der Sinne«, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland [Hrsg.]: Tasten, Göttingen 1996, S. 185-210, hier S. 203-206. 84 Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 366. 85 Hier ist nicht nur von »Unreinheit« die Rede, weil die Grenze zwischen Subjekt und Objekt beim Tasten zerfließt, sondern auch, über dem Tastsinn aufgrund seiner Nähe zum Lustgefühl in der europäischen Philosophiegeschichte seit Aristoteles ein moralischer Verdacht schwebt. Dazu vgl. John, Matthias: »Historisch-philosophischer Exkurs über den Tastsinn«, in: Grunwald, Martin; Beyer, Lothar: Der bewegte Sinn: Grundlagen und Anwendungen zur haptischen Wahrnehmung, Basel [u.a.] 2001, S. 15-24.
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sich die Pulsdiagnose mit anderen, religiösen und spirituellen Praktiken: dem Segnen durch Handauflegen, dem Reliquienkult oder dem Berührungswunder. Die intersubjektive, leibnahe Beziehung zwischen Arzt und Patient führt zu einer Annäherung der Pulstastung an magisch-animistische Vorstellungen, denen zufolge heilsame Kräfte durch Berührung auf den Kranken übertragen werden können.86 Wenngleich man diese magischen Vorstellungen für überholt oder entkräftet halten mag, lässt sich trotzdem nicht bestreiten, dass sich bestimmte materiale Qualitäten und Dynamiken wie »stumpf«, »hart«, »weich«, »rau«, »schwer«, »leicht«, »kalt«, »warm«, »nass«, »trocken«, »durchdringend«, »gebrochen«, »gespannt« usw. nicht durch den Gesichtssinn, sondern lediglich durch den Tastsinn erkennen lassen.87 Dies hat zum Beispiel der Atomist Lukrez bereits erkannt, der das Vorhandensein der »unsichtbaren« Atome aus dem Sachverhalt, dass einige Phänomene zwar nicht sichtbar, aber haptisch wahrnehmbar seien, herleitet: »Wir spüren […] verschiedene Gerüche der Dinge und sehen sie doch nie zu unseren Nasen kommen, wir können auch nicht die glühende Hitze sehen noch mit unseren Augen die Kälte erfassen, noch pflegen wir die Stimmen zu sehen; sie alle aber müssen doch eine körperliche Natur haben, da sie unsere Sinne zu treffen vermögen; denn nur ein Körper kann berühren und berührt werden.«88
Worin besteht aber der Unterschied zwischen Tasten und Sehen? Wie Hans Jonas bemerkt, ist das Sehen durch »Simultaneität«, »Neutralisierung« und »Distanz« bestimmt, während sich das Tasten durch seine »Zeitverbundenheit« auszeichnet. 89 Damit ist gemeint, dass das Tasten die wahrgenommenen »Einheiten des Mannigfaltigen« immer »aus einer zeitlichen Abfolge von Sensationen, die an sich zeitgebunden« sind, konstruiert.90 Der taktile Eindruck, den wir beim Tasten haben, ist in diesem Sinne niemals eine »Erfahrung des Augenblicks«, sondern vielmehr »ein Gebilde, das erst additiv aus einer se-
86 Vgl. Böhme: »Der Tastsinn im Gefüge der Sinne«, S. 190-193 und Older, Jules: Touching is Healing, New York 1982. 87 Siehe Böhme: »Der Tastsinn im Gefüge der Sinne«, S. 201. 88 Lukrez: Über die Natur der Dinge, übersetzt von Josef Martin, Berlin 1972, S. 53. 89 Jonas: »Der Adel des Sehens«, S. 248. 90 Ebd., S. 249.
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rienhaften Vielheit von einzelnen oder kontinuierlich ineinander übergehenden Berührungsempfindungen erwächst.«.91 Das Tasten setzt darüber hinaus eine Bewegung voraus: Selbst um eine einfache taktile Qualität wie »hart« und »weich« oder »rau« und »glatt« zu erkunden, ist eine Reihe von wechselnden, durch das Drücken, Streichen und Umherwandern gewonnenen Sensationen erforderlich.92 Jonas macht uns darauf aufmerksam, dass die bewusste »kinästhetische Begleitung willkürlicher Bewegung« das passive Leiden ins aktive Handeln und die einfache Kontaktbegegnung in den Akt des abfühlenden Erfassens verwandeln kann.93 Auf diese Weise, so Jonas, wird die taktile Wahrnehmung in eine höhere Ordnung gehoben.94 Das maschinelle Tasten des Sphygmographen Wie wird der Puls in Mareys Sphygmographie erfasst? Wie bereits erwähnt, wird eine Pulskurve so erzeugt, dass eine auf das innere Handgelenk angelegte Pelotte die vertikalen Schwingungen aufnimmt und diese Bewegungen mittels einer Hebelkonstruktion auf den Schreibstift in vergrößerter Gestalt überträgt. Indem die Schreibfläche in Bewegung gesetzt und an der Spitze des Schreibstiftes vorbeigeführt wird, wird der Puls als eine grafische Kurve wiedergegeben. An diesem Dispositiv sind zwei Tastsituationen für uns bemerkenswert, mit denen sich auch die Physiologen und Maschinenbauer des 19. Jahrhunderts intensiv auseinandergesetzt haben. Es handelt sich um die Tastbeziehung zwischen Puls und Pelotte sowie zwischen Schreibkopf und Papier. Diese beiden Tastsituationen bedürfen besonderer technischer Lösungen. Sie erfordern nämlich einen »kontinuierlichen« Kontakt zwischen Schreibkopf/Pelotte und zu berührendem Papier/Puls, wobei dieser Kontakt keineswegs zu »eindringlich« sein darf. Denn der Schreibkopf soll keine Bewegungen aufzeichnen, die durch die Trägheit des Schreibhebels oder durch Reibungen zwischen Schreibkopf und Papier beeinflusst werden. Genau aus diesem Grund muss der Schreibkopf, wie Marey sagt, »ohne Gewicht sein, vollständig elastisch in der
91 Ebd., S. 254. 92 Siehe ebd. Dazu vgl. auch Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 365-366 und vor allem das Buch Der Aufbau der Tastwelt von David Katz, auf das sich Merleau-Ponty in seinem Buch mehrfach bezieht: Katz, David: Der Aufbau der Tastwelt, Leipzig 1969. 93 Siehe Jonas: »Der Adel des Sehens«, S. 254-255. 94 Siehe ebd.
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Ausrichtung, in der er auf das Papier trifft, und vollständig starr in der anderen Ausrichtung.«95 Das Gleiche gilt auch für die Tastbeziehung zwischen Pelotte und Puls. Da die Pelotte die Auf- und Abwärtsbewegung der Arteria radialis möglichst exakt aufnehmen soll, darf sie nicht allzu schwer sein. Gleichzeitig darf sie auch nicht allzu leicht sein, weil sie genügend Druck auf die Hautoberfläche ausüben muss, um den andauernden Kontakt zum Puls aufrechtzuerhalten.96 Ein solcher Kontakt, der zwischen Pelotte und Hautoberfläche sowie zwischen Schreibspitze und Papieroberfläche konstruiert werden soll, findet an einem Berührungspunkt statt, der vollkommen dem »Punkt« in der Geometrie entspricht. An einem solchen »Punkt« berühren die Dinge zwar einander, er selbst aber ist nichts anderes als »ein leerer Ort«, »eine anwesende Abwesenheit«.97 An diesem Punkt soll die Pelotte die Hautoberfläche, soll die Schreibspitze die Papieroberfläche streifen, aber beide dürfen keinen Druck auf ihre jeweilige Unterlage ausüben. Tasten hier ist zugleich Nicht-Tasten. Und der Kontakt reduziert sich auf ein berührendes Nichts. Dieses für die Aufzeichnungstechnik des Pulses charakteristische tastende Nicht-Tasten bestimmt die zahlreichen Versuche, die die Physiologen des 19. Jahrhunderts unternommen haben, um den Kontakt zwischen Schreibkopf und Schreiboberfläche zu minimieren. Mit der weiteren Entwicklung dieser Apparaturen werden der Bleistift und die Zeichenfeder, die am Anfang als Schreibgeräte dienten, zur Vermeidung von Reibung auf dem Papier durch eine scharfe Schreibspitze ersetzt,
95 Marey: La Méthode graphique, S. 502, zitiert nach Schäffner: »Mechanische Schreiber«, S. 227. 96 Vgl. Langendorff: Physiologische Graphik, S. 225 und Vierordt: Die Lehre vom Arterienpuls, S. 32-33. 97 Schäffner, Wolfgang: »Stevin, der Punkt und die Zahlen«, in: ders.; Weigel, Sigrid; Macho, Thomas [Hrsg.]: »Der liebe Gott steckt im Detail«: Mikrostrukturen des Wissens, München 2003, S. 203-218, hier S. 204 und 206. Zur epistemischen Bedeutung und Genese des »Punktes« siehe ders.: »Die Macht des Punktes: Euklid mit Proklos«, in: Boehm, Gottfried; Alloa, Emmanuel; Budelacci, Orlando; Wildgruber, Gerald [Hrsg.]: Imagination: Suchen und Finden, Paderborn 2014, S. 113124; ders.: »Euklids Zeichen: Zur Genese des analogen Codes in der Frühen Neuzeit«, in: Bildwelten des Wissens: Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 7.2 (2010), S. 62-73; ders.: Punkt 0.1: Zur Genese des analogen Codes in der Frühen Neuzeit (im Erscheinen).
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Abbildung 100: Der von Sigmund Theodor Stein gebaute Photosphygmograph in Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung, 1885.
und das Glanzpapier, in das die Pulskurve eingezeichnet wurde, wird aus demselben Grund gegen eine berußte Platte ausgetauscht. 98 Sigmund Theodor Stein (1840-1891), ein deutscher Mediziner, der von den Ideen Johann Nepomok Czermaks (1828-1873) beeinflusst war, konstruierte schließlich ein neues Modell des Sphygmographen, dessen Aufzeichnungsverfahren sich den »pencil of nature«,99 also das Licht, zunutze machte.100 Mittels dieses sogenannten »Photosphygmographen« (Abb. 100) lässt sich der Puls nicht nur fotografieren, auch der »konkrete« Kontakt zwischen Schreiber und Schreiboberfläche ist gänzlich aufgehoben. Die Projektion eines Lichtpunktes auf eine beschichtete Platte ermöglicht eine Aufzeichnung der Pulskurve auf Distanz.101 Kommen wir noch einmal auf die Tastbeziehung zwischen Pelotte und Hautoberfläche zurück. Das maschinelle Tasten des Sphygmographen setzt die Vorstellung voraus, dass der Puls ein Phänomen der wechselnden Zusammenziehung und Ausdehnung der Arterie sei. Aus diesem Grund haben die Physiologen des 19. Jahrhunderts immer wieder versucht, das auf den Puls ausgeübte Gewicht zu verringern. Ihrer Ansicht nach verfälschte der Druck
98 Vgl. dazu Schäffner: »Mechanische Schreiber«, S. 227. 99 Talbot, William Henry Fox: The Pencil of Nature, London 1844. 100 Siehe Stein, Sigmund Theodor: Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung, Bd. I, Halle a. S. 1885, S. 332-342. 101 Siehe ebd., S. 334-337.
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auf die pulsierende Stelle die Aufzeichnung der Zusammenziehung und Ausdehnung der Arterie.102 Vor diesem Hintergrund ist es wohl kein Zufall, dass der Physiologe Maximilian von Frey (1852-1932) darauf hinwies, dass die Aufgabe des Sphygmographen darin bestehe, »den Wechsel des Gefässdurchmessers durch ein passendes graphisches Verfahren« unblutig zu verfolgen.103 Diese Vorstellung vom Puls als Bewegungen der Arterie ist keineswegs neu. Sie reicht bis in die Antike zurück. Im vorigen Kapitel habe ich erklärt, dass Herophilos als Begründer der westlichen Sphygmologie gelten darf, da er als Erster den Puls von anderen Bewegungen – Palpitation, Tremor oder Spasmus –, die durch das Zucken der Muskeln und Nerven verursacht werden, unterschied. Ich habe auch ausgeführt, inwiefern die anatomische Erforschung des Körpers eine wesentliche Rolle für die Entdeckung des Pulses spielte. Im Folgenden möchte ich darstellen, welchen maßgeblichen Einfluss die Anatomie auf die westliche Auffassung des taktil spürbaren Pulses ausübte. Von Anfang an wurde der an der Haut taktil spürbare Puls in der europäischen Medizin auf die sichtbare Zusammenziehung und Ausdehnung der Arterie zurückgeführt. 104 Diese Bewegungen der Arterien konnten jedoch nur durch anatomische Sektionen entdeckt werden, die folglich der visuellen Auffassung des Pulses zugrunde liegen. Diese Auffassung ist in den Definitionen der antiken Mediziner klar erkennbar: Herophilos bestimmt den Puls als »a perceptible motion of the arteries received from the heart; […] onccurring both when the arteries are filled and when they are emptied, i.e. when they dilate and contract.«105 Von Bacchius wird der Puls als »a dilation and contraction occurring simultaneously in all the arteries« beschrieben.106 Ähnlich definiert Chrysermus (ca. 150-120 v. Chr.) den Puls als »a distention and contraction of arteries, occurring when the arterial coat, through the agency of a psychic and vital faculty, rises on all sides and then again shrinks together.«107
102 Siehe beispielsweise Vierordt: Die Lehre vom Arterienpuls, S. 3. 103 Frey, Maximilian von: Die Untersuchung des Pulses und ihre Ergebnisse in gesunden und kranken Zuständen, Berlin 1892, S. 17. 104 Vgl. Kuriyama: The Expressiveness of the Body, S. 32-35. 105 Zitiert nach Staden: Herophilus, S. 447. 106 Zitiert nach ebd. 107 Zitiert nach ebd.
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Diese Vorstellung vom Puls kommt aber vor allem dort am deutlichsten zum Ausdruck, wo dem Gesichtssinn eine Priorität über den Tastsinn zugesprochen wird: Als sich Galen gegen die von den Empirikern vertretene Ansicht wehrt, dass man beim Fühlen des Pulses nur ein Pochen und darüber hinaus nichts Sicheres wahrnehmen könne, erklärt er, sie würden die evidenten Befunde übersehen, die sich bei der Öffnung des Körpers, sei es durch Zufall, sei es in der anatomischen Sektion, ergeben. 108 Wenn die Systole und Diastole der Arterie, so Galen, in der anatomischen Sektion sichtbar seien, dann müssten sie auch erfühlt werden können. Dies sei nur eine Frage der Zeit: Durch intensive Übung und Ausbildung des Tastsinns werde man eines Tages ein »Bild«109 der Systole und Diastole erlangen.110 Diese Einübung ist für Galen beinahe ein Prozess der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung, denn er betont: »Wer diese Darlegung als ›wahre Lehre‹ und nicht als Fabel aufnimmt, wird größten Gewinn davon haben, er darf nur nicht in Verzweiflung seine Bemühungen, das Gesuchte zu finden, aufgeben, und wenn er auch so lange, lange Zeit in Unkenntnis bleibt.«111
Wir bemerken schnell, dass »das Gesuchte« für Galen nichts anderes als »das Gesehene« ist. Wenn er darauf beharrt, dass sich das sichtbare Phänomen Systole und Diastole auch beim Tasten erkennen ließe, so heißt dies zugleich, dass das zu Fühlende seiner Ansicht nach dem Gesehenen angepasst werden müsse. In dieser Hinsicht könnte die Anatomie als Leitbild betrachtet werden, denn sie fördert nicht nur eine bildliche Vorstellungsweise des Taktilen, sondern leitet und diszipliniert den fühlenden Finger des Mediziners. Es lohnt sich, einen Blick auf Galens Beschreibungen der taktilen Pulseigenschaften zu werfen, denn sie zeigen uns, in welchem Maße seine Pulslehre von dem Bild der an- und abschwellenden Arterie geprägt ist. »On touching an artery«, so schreibt Galen in Über den Puls für Anfänger, »one becomes aware that it is extended in every dimension. There are three dimensions in every physical body: length, depth, and breadth.«112 In diesen wenigen Worten scheinen bereits zwei bemerkenswerte Aspekte auf: Zum einen, dass hier nicht
108 Siehe Deichgräber: Die griechische Empirikerschule, S. 314. 109 Zitiert nach Deichgräber: Galen als Erforscher des menschlichen Pulses, S. 19. 110 Ebd., S. 19. 111 Zitiert nach ebd., S. 19. 112 Galen: »The Pulse for Beginners«, S. 325.
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vom »Puls«, sondern von der »Arterie« die Rede ist, obwohl es dabei tatsächlich um das Fühlen des Pulses auf der Hautoberfläche geht. Zum anderen, dass Galen von der Länge, Breite und Tiefe der sich ausdehnenden Arterie spricht. Galen beschreibt den Puls nach dem Schema des Sehsinns, als hätte er die pulsierende, unter der Haut befindliche Arterie vor Augen. In einem anderen Text arbeitet Galen die geometrische Formveränderung der Arterie weiter heraus und beschreibt die unterschiedlichen Eigenschaften des Pulses wie folgt: »When the animal is in a normal state, the artery will be found to be quite well-proportioned in its extension; in abnormal states it will have a deficiency here or an excess there, in one or other of these dimensions. At this point one has to remember the nature of the pulse in its normal state; if, then, the abnormal pulse appears broader, it should be termed ›broad‹; if longer, ›long‹; if deeper, ›deep‹. Conversely, if it appears of less than the normal dimension in any of these respects, it should be termed ›narrow‹, ›short‹, or ›shallow‹. If the abnormality affects all three dimensions equally, that which is diminished in all these respects must be termed ›small‹, and that which is augmented, ›large‹.«113
Zwar erwähnt Galen auch andere Eigenschaften wie die Kraft und die Geschwindigkeit des Pulses sowie die Beschaffenheit der Arterienwand.114 Die Ausdehnung nimmt jedoch einen beträchtlichen Platz in seiner Unterscheidung der verschiedenen Pulseigenschaften ein. Viele von ihm genannte Merkmale des Pulses stützen sich auf das virtuelle Bild der Arterienröhre. Galens Pulslehre, die den Puls als eine durch eine Art Lebensenergie angetriebene Bewegung der arteriellen Gefäßwand definiert,115 wurde bekanntlich im 17. Jahrhundert durch William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufes widerlegt. Harvey wies nach, dass der Puls das mechanische Anschlagen der durch den Herzschlag fortgeleiteten Blutwelle an den Gefäßwänden ist. Trotz dieser Weiterentwicklung der Pulslehre prägte Galens visuelle Vorstellung vom Puls nach wie vor die westliche Medizin. Floyer, der mit Harveys revolutionären Entdeckungen vertraut war, greift noch 1707 in seinem Buch The Physician’s Pulse-watch auf Galens Vokabular zurück: »[I]n great Pulses
113 Ebd., S. 325-326. 114 Siehe ebd., S. 326-327. 115 Vgl. Nutton, Vivian: »Galen at the Bedside: The Methods of a Medical Detective«, in: Bynum, William F. [Hrsg.]: Medicine and the Five Senses, Cambridge [u.a.] 2004, S. 7-16, hier S. 12 und Harris: The Heart and the Vascular System, S. 397402.
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Abbildung 101: Darstellung der Arterienröhre in Pulsus seu nova et arcana pulsuum historia von Robert Fludd, 1631.
the Artery appears like a large tense Circle, and in small Pulses like a small and more flaccid Circle.«116 Galens visuelle Vorstellung vom Puls findet sich auch in einer Darstellung, die Robert Fludd (1574-1637) verwendet, um die drei Dimensionen der Arterienröhre zu veranschaulichen (Abb. 101).117 Wenn der französische Arzt Henri Fouquet (1727-1806) die verschiedenen Pulseigenschaften direkt durch die verschiedenen Formen der Arterien, die auf einem Sektionstisch zu liegen scheinen, darstellt (Abb. 102), dann steht auch er noch bis zu einem gewissen Grad in dieser Tradition. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, mit welchem Argument Vierordt 1855 die Einführung des Sphygmographen begründet: Seiner Meinung nach soll der Finger nicht nur deshalb durch den Sphygmographen ersetzt werden, weil er nicht imstande sei, »die Expansion und Contraction der Arterie« wahrzunehmen, sondern weil er an sich einen Störfaktor bilde, der »die Ortsveränderung der Arterie« beeinträchtige: »Indem wir die Arterie betasten, was nur bei einem gewissen Druck des Fingers möglich ist, bemerken wir ein ansteigendes Prallerwerden (den Puls), abwechselnd mit Erschlaffung; den Verlauf der letzteren fühlen wir bekanntlich nicht. Nach Volkmann […] nehmen wir beim Pulsfühlen nicht die Expansion und Contraction der Arterie wahr; dies ist einleuchtend, denn der Finger, wenigstens bei der Radialis, übt immer noch einen zu grossen Widerstand aus, um gehoben zu werden; auch wäre die Bewegung der
116 Floyer: The Physician’s Pulse-watch, S. 27. 117 Zu Robert Fludds Pulslehre vgl. Marié, Éric: Le Diagnostic par les pouls en Chine et en Europe: Une histoire de la sphygmologie des origines au XVIIIe siècle, Paris [u.a.] 2011, S. 279-289.
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Abbildung 102: Darstellung der verschiedenen Pulse in Essai sur le Pouls von Henri Fouquet, 1818.
Arterie viel zu gering, um wahrgenommen werden zu können. Fühlen wir also nur die Ortsveränderung der Arterie als Puls? Ich glaube nein. Wenn wir die Arterie auf ihre knöcherne Unterlage fest andrücken, so zeigt trotzdem das dem Druck zunächst liegende centrale Arterienstück, dessen Ortsveränderung doch offenbar jetzt beeinträchtigt ist, den Puls. Es ist also das Wachsen des Seitendruckes, die stärkere Arterienspannung, was wir als Puls fühlen. Der leicht bewegliche Pulshebel des Sphygmographen setzt dagegen der Entwickelung der Arterie kein Hinderniss, der Sphygmograph also giebt die Expansion und Contraction der Arterie an […]«.118
Erinnern wir uns noch einmal an Merleau-Pontys Bemerkung, dass man eine Tasterfahrung im Gegensatz zur visuellen Erfahrung nicht vor sich ausbreiten kann. Beim Tasten könne man daher nie vergessen, dass diese Erfahrung allein durch ein leibliches Verhältnis zur Welt möglich sei. 119 Wir erkennen nun, dass sich die Auffassung des Pulses in der westlichen Medizin dieser phänomenologischen Verfassung des Taktilen entzieht. Indem der taktile Puls als Ausdehnung und Zusammenziehung der Arterie begriffen wird, verwandelt er sich in etwas, das man offen vor anderen Beobachtern ausbreiten und zur
118 Vierordt: Die Lehre vom Arterienpuls, S. 98. 119 Siehe Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 366.
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Abbildung 103-104: Der blinde Seher und das Modell des Sehens mit zwei Augen in Discours de la méthode von René Descartes, 1637.
Schau stellen kann. Der Puls reduziert sich auf eine logisch-abstrakt analysierbare, das heißt objektivierbare Formveränderung eines sich ausdehnenden und zusammenziehenden Zylinders. Es liegt auf der Hand, dass diese visuelle Vorstellung vom Puls als Bewegung der Arterie eine wesentliche Rolle für die Entwicklung der Selbstregistrierung des Pulses im 19. Jahrhundert spielte. Sie hat Physiologen wie Marey ermöglicht, den Puls überhaupt als eine objektiv bestehende Tatsache zu betrachten, die sich selbst – ohne Zutun des tastenden Subjekts – aufzuzeichnen vermag. Erst unter dieser Bedingung konnte der Puls als eine selbständige, von der Tastwahrnehmung unabhängige Entität angesehen werden. Und nur so konnte der Puls die Funktion eines autonomen »Autors« erhalten, der in der Lage ist, seine eigene Handschrift mittels des Sphygmographen in die Schreiboberfläche einzuzeichnen. Man könnte insofern sogar behaupten, dass erst diese visuelle Vorstellung vom Puls die Überzeugung der Physiologen ermöglichte, sie könnten den Puls in objektiven Bildern einfangen. Wie lässt sich aber ein solches Tasten überhaupt begreifen? Vielleicht lässt es sich besser verstehen, wenn wir uns jenem Autor zuwenden, der die Begriffe »res extensa« und »res cogitans« geprägt hat: René Descartes. In seinem 1637 in Leiden anonym publizierten Buch Discours de la méthode findet sich das Bild eines Blinden (Abb. 103), das uns zugleich Aufschluss über das im Sphygmographen verkörperte Tasten gibt. Dargestellt wird hier ein mit einem antikisierenden Mantel bekleideter alter Mann, der barfuß in einer Landschaft steht. Begleitet von einem Hund, der sich hinter ihm niederkauert, hält er in seinen Händen zwei Stöcke. Diese werden von ihm derart nach vorne gerichtet, dass sie einander an ihren Enden berühren. Über den Berührungspunkt hinaus
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werden die Stöcke durch gepunktete Linien verlängert, die sich überkreuzen und zusammen ein großes X bilden, das halb konkret und halb imaginär ist.120 Dieses Bild eines Blinden sollte ursprünglich das Sehen veranschaulichen. Der Befremdlichkeit einer solchen Analogie ist sich Descartes durchaus bewusst. Er betont daher nachdrücklich, dass es sich um einen erklärenden Vergleich handelt.121 Was aber veranlasst ihn dazu, das Sehen mit dem Nicht-Sehen-Können zu vergleichen? Was will er damit erklären? Descartes kann das Bild des Blinden deshalb als Modell des Sehens auffassen, weil er von einer gewissen Vergleichbarkeit zwischen Lichtstrahlen und Stöcken ausgeht: So wie der Blinde die Gegenstände mit seinen Stöcken ertastet, berühren auch die Lichtstrahlen der Objekte, auf die wir blicken, unsere Augen und prägen ihnen auf diese Weise deren Bilder ein. In diesem Sinne ist das Sehen für Descartes mit dem Tasten des Blinden vergleichbar. Umgekehrt ist dies aber auch der Grund dafür, weshalb der Blinde seiner Ansicht nach »mit den Händen sehen« kann.122 Noch in einem weiteren Aspekt ähnelt das Sehen für Descartes dem Tasten, und zwar hinsichtlich ihrer gemeinsamen Fähigkeit zur Distanzbestimmung: Wie der Blinde, auch wenn ihm die Länge seiner Stöcke unbekannt sei, allein aus dem Zwischenraum zwischen seinen beiden Händen (AC in Abb. 103) und der Größe der Winkel (ACE und CAE) den Ort, an dem sich der Berührungspunkt der Stöcke (E) befinde, herleiten könne, so könnten auch die beiden Augen, indem sie sich einem bestimmten Punkt zuwendeten, den Ort dieses Punktes bestimmen.123 In seinem Buch bedient sich Descartes einer anderen Abbildung (Abb. 104), um diese Fähigkeit der Augen zu veranschaulichen. Abb. 103 und 104 zeigen uns deutlich, dass Descartes Tasten und Sehen als geometrische Operationen auffasst. In der Tat erweist sich die Geometrie auch in seiner Theorie der Wahrnehmung als ein entscheidender Faktor, der Sehen und Tasten einander annähert. Dadurch erfährt die Auffassung von Sehund Tastsinn zugleich eine drastische Veränderung: Ein Sehen, das sich durch
120 Vgl. dazu die Bildbeschreibung in: Bexte, Peter: Blinde Seher: Wahrnehmung von Wahrnehmung in der Kunst des 17. Jahrhunderts. Mit einem Anhang zur Entdeckung des blinden Flecks im Jahre 1668, Dresden 1999, S. 83-84. 121 Vgl. Descartes, René: Entwurf der Methode: Mit der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie, übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers, Hamburg 2013, S. 72-73. 122 Ebd., S. 73. 123 Vgl. ebd., S. 116.
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den Tastsinn ersetzen lässt, weiß nichts vom Licht oder von den Farben, also von dem, was Leibniz als das »Klar-Verworrene« (clair-confus) bezeichnet hat.124 Ein Tasten, das an die Stelle des Sehens tritt, nimmt umgekehrt keine »sekundären Qualitäten« mehr wie Rauigkeit, Temperatur, Feuchtigkeit usw. wahr, sondern allein die Formen und Gestalten der Dinge.125 Der Kontakt zu den Dingen bleibt minimal. Auf diese Weise mündet die cartesianische Erklärung des Sehens durch das Tasten in eine Bereinigung der Sinnesdaten. Nicht zufällig unterstehen das sehende Tasten und das tastende Sehen dem Herrschaftsbereich der Geometrie. Die geometrischen Sinnesdaten sind die einzigen Eigenschaften von Dingen, die Descartes für unerschütterlich, zweifelsfrei und apriorisch gewiss hält.126 Wenn Galen die Pulseigenschaften nach der Länge, Breite und Tiefe der Arterie definiert, oder wenn die Physiologen des 19. Jahrhunderts den Puls anhand der Veränderungen des Arteriendurchmessers untersuchen, so gehen sie von denselben Annahmen aus wie Descartes. Auch für sie sind das Sehen und das Tasten bis zu einem gewissen Grad miteinander austauschbar. Und ähnlich wie Descartes orientieren sie sich an der Geometrie. Festzustellen ist jedoch, dass das ideale Tasten für Descartes ebenso wie für die Physiologen des 19. Jahrhunderts am Ende nichts anderes als das reine Aufnehmen bedeutet. Dabei entscheidet die Frage, ob sich das tastende Element an die Bewegung, oder genauer gesagt, an die Formveränderung des Ausgedehnten anpasst, durchaus darüber, ob eine Maschine als präzise oder gar als funktionsfähig erachtet werden kann. Die Sensibilität einer Maschine wird somit ganz und gar mit der Teilnahmslosigkeit und Gefügigkeit des tastenden Elements gleichgesetzt.
124 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Buch I-II (= Philosophische Schriften, Band III. Erste Hälfte), herausgegeben und übersetzt von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz, Darmstadt 1985, S. 162-163. Vgl. dazu Bexte: Blinde Seher, S. 101-108. 125 Zu den primären und sekundären Sinnesqualitäten siehe Kügler, Peter: Die Philosophie der primären und sekundären Qualitäten, Paderborn 2002. 126 Vgl. Decartes’ dritte Meditation 43, 10. Descartes, René: Meditationes de Prima Philosophia, übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers, Hamburg 2008, S. 84-87.
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Das Tasten in der chinesischen Pulslehre In der chinesischen Medizin liegen der Pulsdiagnose gänzliche andere Vorstellungen zugrunde. Der schwebende Puls (fu mai 浮脈) wird zum Beispiel bei leichter Berührung deutlich fühlbar, bei stärkerem Druck verschwindet er dagegen nahezu.127 Der schnittlauch[ähnliche] Puls (kou mai 芤脈) teilt einige Züge mit dem schwebenden Puls; im Unterschied zu ihm gilt er aber als besonders groß und weich; übt der Finger einen stärkeren Druck aus, so hat man den Eindruck, dass er im Inneren leer, aber an beiden Seiten konkret fühlbar sei.128 Der tiefe Puls (chen mai 沉脈) lässt sich kaum fühlen; spürbar wird er erst, wenn der Finger stark in die Senke drückt, und zwar so tief, bis der Finger die Sehnen und Knochen berührt. 129 Der volle Puls (shi mai 實脈) ist ein überwiegend großer Puls; er ähnelt zwar dem überflutenden Puls (hong mai 洪脈), doch unterscheidet er sich von diesem darin, dass er sich immer kräftig anfühlt, unabhängig davon, ob man ihn nur leicht oder mit Druck abtastet.130 Der sanfte Puls (ru mai 濡脈) ist so sanft und dünn wie ein auf dem Wasser schwimmendes Seidentuch und bereits bei leichter Berührung zu fühlen; übt man aber stärkeren Druck aus, verschwindet er. 131 Offensichtlich werden die Eigenschaften des Pulses in diesen Beispielen nicht durch die Formveränderung der Arterie, sondern durch die Beschreibungen einer Reihenfolge von wahrgenommenen Tastqualitäten bestimmt. Die Bestimmung einer Pulseigenschaft setzt ein wahrnehmendes Subjekt, oder genauer gesagt, ein interaktives Verhältnis des tastenden Subjekts zum Puls voraus. Letzterer wird nicht durch eine schwerelos schwebende Berührung erfasst, sondern vom Subjekt nacheinander in verschiedenen Druckgraden erfühlt. Gerade durch die nuancenreichen Tastempfindungen, die sich aus verschiedenen Tastweisen ergeben, werden die Eigenschaften des Pulses erkannt. Ein solches Tasten, das den Auffassungen von Hans Jonas und Merleau-Ponty nahekommt, unterscheidet sich deutlich vom Sehen. Die Beschreibungen der chinesische Pulslehre orientieren sich an den leiblichen Tasterfahrungen des Arztes bei der Pulsdiagnose.132 Dass sich die chi-
127 Vgl. Li Shi-zhen: Binhu mai xue, S. 1. 128 Vgl. ebd., S. 29. 129 Vgl. ebd., S. 3. 130 Vgl. ebd., S. 15 und 21. 131 Vgl. ebd., S. 37. 132 Vgl. Hsu: »Towards a Science of Touch, Part I«, S. 265.
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nesischen Mediziner, anders als ihre europäischen Kollegen, nicht um die Unschärfe der Sprache oder die Probleme des Metapherngebrauchs sorgen, ist ohne Zweifel auch mit der Grundprämisse der von ihnen vertretenen Pulslehre verbunden: Das, was beschrieben werden soll, lässt sich keineswegs von dem beschreibenden Subjekt losgelöst betrachten. Jeder Akt, die Pulseigenschaften zu versprachlichen bzw. zu visualisieren, ist daher immer zugleich ein Versuch, die leiblichen Erlebnisse auszudrücken. Wer den Puls beschreibt, spricht nicht nur über ihn, sondern auch über sich selbst. Genau aus diesem Grund kann man niemals kurz und bündig definieren, was eine bestimmte Pulsqualität eigentlich ist, sondern nur möglichst annähernd beschreiben, wie sie vom tastenden Körper-Ich wahrgenommen wird. Das gefühlte Wie bildet in der chinesischen Pulslehre die wesentliche Frage, die bei der Bestimmung der Pulsqualitäten zu berücksichtigen ist. Es ist darüber hinaus zu erkennen, dass der Tastpunkt in der chinesischen Pulslehre im Gegensatz zu dem Berührungspunkt in der westlichen Sphygmographie eine auffallende Tiefe aufweist. Diese Tiefe zeigt sich nicht nur darin, dass der chinesische Mediziner den Puls bewusst mit verschiedenen Druckgraden ertasten soll, um die Tastqualität des Pulses zu erschließen, sondern auch darin, dass die drei Stellen am inneren Handgelenk, an denen in der chinesischen Pulslehre am häufigsten getastet wird, als »Öffnung des Pulses« (mai kou 脈口) bezeichnet werden. Die Stellen, an denen der Puls spürbar ist, werden somit als »Öffnungen« erachtet, durch die hindurch die im Körper zirkulierende Lebenskraft (qi) zum Vorschein kommt, aber auch als »Pforten«, die dem Mediziner Zugang zu einem tieferen Bereich bieten, in dem sich die mannigfaltigen Dynamiken des Pulses den tastenden Fingern offenbaren. Vor diesem Hintergrund könnten wir die Darstellungen der verschiedenen Pulseigenschaften in der chinesischen Pulslehre auch als »Öffnungen« deuten. Diese »Öffnungen« sind jedoch keine Fenster im Sinne Albertis. Sie bieten uns auch keinen Einblick in den realen Innenraum der Arterie. Eröffnet wird hier vielmehr ein Bildraum, in dem der taktile Puls in seiner Interaktion mit dem tastenden Ich zum Ausdruck kommt. Der »raue Puls« (se mai 濇脈) wird durch eine Fläche dargestellt, die eine unregelmäßige Textur besitzt (Abb. 105). Dieses Bild erzeugt den Eindruck, als könnte man mit den Fingerspitzen über seine Oberfläche hin- und herfahren. Zugleich wirkt es wie eine schrundige Fläche, über die man nur stockend streichen kann. Die Darstellung des »schwebenden Pulses« (fu mai 浮脈) zeigt eine Kurve, die sich quer durch das Bild zieht (Abb. 106). Diese Zeichnung erweckt den Eindruck, als würden wir unsere Position wechseln und eine Fläche nicht mehr von vorn, sondern von der Seite betrachten. Die Linie biegt
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Abbildung 105: Der
Abbildung 106: Der
Abbildung 107: Der
raue Puls (se mai 濇脈)
schwebende Puls (fu
schnelle Puls (shuo
in Cha bing zhi nan,
mai 浮脈) in Cha bing
mai 數脈) in Cha bing
1644.
zhi nan, 1644.
zhi nan, 1644.
Abbildung 108: Der der
Abbildung 109: Der einem
Fortbewegung der Garnele
kochenden Topf [ähnliche]
[ähnliche] Puls (xia you mai
Puls (fu fei mai 釜沸脈) in
蝦遊脈) in Cha bing zhi nan,
Cha bing zhi nan, 1644.
1644.
sich, als ob eine Auftriebskraft die Fläche nach oben heben würde. Im Führer zur Diagnose (Cha bing zhi nan 察病指南) findet sich ein anderes Bild, das stark an Mareys Pulskurve erinnert (Abb. 107). Tatsächlich handelt es sich bei dieser Zickzacklinie um eine Darstellung des »schnellen Pulses« (shuo mai 數 脈), der rasch kommt und geht und sechs Schläge pro Atemzug aufweist.133 Wie bereits erwähnt, können sich auf den ersten Blick ähnlich aussehende Linien in den Darstellungen der chinesischen Pulslehre auf ganz verschiedene Metaphern beziehen, zum Beispiel eine gerade Linie auf »eine gespannte Bogensehne« oder auf »ein stark verdrehtes Seil«. Andere Linien wiederum nehmen nicht Bezug auf die Dinge selbst, sondern auf die Spuren, die sie hinterlassen. Ein Beispiel dafür ist die Zeichnung einer Pulsart, die der »Fortbewegung der Garnele« (xia you 蝦遊) ähnelt (Abb. 108). Sie zeigt eine von links unten nach rechts oben gezogene, sanft geschwungene Linie, die an die Spuren
133 Shi Fa: Cha bing zhi nan, S. 22.
Das Bild des Pulses | 249
Abbildung 110: Darstellungen des »schnittlauch[ähnlichen] Pulses« (kou mai 芤脈) in Specimen Medicinae Sinicae, 1682.
erinnert, die eine Garnele bei der Fortbewegung im Wasser hinterlässt. Darüber hinaus finden wir auch figurative Darstellungen: Der Puls etwa, der sich wie ein »kochender Topf« (fu fei 釜沸) anfühlt, wird durch einen dampfenden Topf repräsentiert (Abb. 109). Diese Beispiele machen klar, dass die weiter oben erwähnten »Öffnungen« den Betrachter nicht in einen einheitlichen, klar definierten Bildraum führen. Vielmehr wird der Betrachter stets von neuem dazu aufgefordert, einen veränderten Blick auf das Bild zu werfen. Er soll das Bild mal als eine tastbare Fläche (Abb. 105), mal als einen Raum, in dem verschiedene Dinge erscheinen können (z. B. Abb. 109), erfahren. Nicht nur den Linien, auch dem Bildgrund soll er materielle Eigenschaften verleihen: Derart wäre der Bildgrund mal eine glatte Fläche, auf der Kugeln rollen (Abb. 96 und 97), mal ein mit Süßwasser gefülltes Becken, in dem eine Garnele lebt (Abb. 108). Ebenso gut kann der Bildgrund, wenn ihn eine Linie teilt, auf zwei unterschiedliche Räumlichkeiten verweisen. Im Fall der Darstellung des »schwebenden Pulses« (Abb. 106) lässt sich zum Beispiel annehmen, dass der untere Teil des Kreises mit Wasser gefüllt und der obere leer ist; die Linie würde dann für die Oberfläche des Wassers stehen. Es wäre also verfehlt, die kreisförmigen Figuren in der chinesischen Pulslehre als »Querschnitt durch die Arterie« zu interpretieren, wie es Éric Marié tut.134 In der Tat stellen auch die chinesischen Mediziner die Eigenschaften des Pulses durch augenförmige und viereckige Figuren dar. Dies hat der Autor von Specimen Medicinae Sinicae, der die in verschiedenen Epochen entstandenen Darstellungen ein und derselben Pulsqualität in seinem Buch nebeneinander präsentiert, sicherlich auch bemerkt (Abb. 110). Die Form der Figuren spielt nur eine untergeordnete Rolle. Das Entscheidende ist vielmehr der Bildraum, den diese Figuren eröffnen: einen Bildraum, der ganz anderen Gesetzen
134 Marié: Le Diagnostic par les Pouls, S. 426.
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gehorcht als denen der geometrischen Konstruktion. Er ist sowohl ein Imaginationsraum, in dem die Tastqualitäten veranschaulicht werden, als auch ein Möglichkeitsraum, in dem die Linien und der weiße Bildgrund eine beträchtliche Vieldeutigkeit gewinnen. Vorgeführt wird in diesem Bildraum eine instabile Welt, in der sich Punkt, Linie und Fläche nicht der Klarheit und Transparenz der Geometrie unterwerfen, sondern von einem Überschuss, einem Mehr zeugen. Diese Zeichnungen wollen nicht gelesen, sie wollen gedeutet und nachempfunden werden. Darin besteht der wesentliche Unterschied zwischen den chinesischen Darstellungen der Pulseigenschaften und Mareys Pulskurve: Während jedem Punkt der Pulskurve von vornherein bereits ein definitiv mathematischer Wert vorgeschrieben wird, erhalten Punkt, Linie und Fläche in den chinesischen Bildern erst ihren Sinn, ihre Eigentümlichkeit und ihre Verhältnisse zueinander durch die aktive Teilnahme und Imagination des Betrachters.
5.3 DIE MUSIKNOTATION ALS AUFSCHREIBESYSTEM DES PULSES Der fühlbare »Rhythmus« des Pulses »Lange schon gibt es einen grafischen Ausdruck von sehr flüchtigen, sehr feinen, sehr komplexen Bewegungen, die keine Sprache beschreiben könnte. Diese bewundernswerte Schrift wird in allen Ländern gelesen: Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes eine universale Sprache. Ich meine die musikalische Notation […].«135
Mit diesen Worten bezeichnet Marey die musikalische Notation als Vorläufer der grafischen Methode. Er führt die Entwicklung dieser Methode sogar auf Guido von Arezzo (ca. 995-1050) zurück, der zu Beginn des 11. Jahrhunderts das Terzliniensystem begründete.136 Obwohl es Marey hier in erster Linie darum geht, die Notenschrift und die grafische Kurve in einen historischen Zusammenhang zu bringen und ihre gemeinsame Autonomie gegenüber der konventionellen Sprache zu betonen, deutet er implizit auch eine Verwandtschaft
135 Marey, Etienne Jules: Du Mouvement dans les fonctions de la vie, Paris 1868, S. 93. Die deutsche Übersetzung übernehme ich von: Chadarevian: »Die ›Methode der Kurven‹«, S. 169. 136 Siehe Marey: Du Mouvement dans les fonctions de la vie, S. 93.
Das Bild des Pulses | 251
zwischen den Phänomenen an, die mit ihrer Hilfe aufgezeichnet werden: Musik und Puls. Sie ähneln sich, insofern sie beide flüchtig, fein und komplex sind. Es ist jedoch zu betonen, dass es sich dabei für Marey keineswegs nur um eine reine Analogie handelt. Wenn er ausdrücklich darauf hinweist, dass der hervorragendste Nutzen der grafischen Methode darin bestehe, den »Rhythmus« komplizierter Bewegungen aufzuzeichnen, und die Pulskurve als Beispiel dafür anführt, erblickt er im Puls das wichtige Element der Musik.137 Zwar gehören Musik und Puls in Wirklichkeit zwei unterschiedlichen Phänomenbereichen an, sie ähneln sich jedoch, Marey zufolge, hinsichtlich ihres immanenten »Rhythmus«.138 Tatsächlich hat die Verknüpfung des Pulses mit der Musik in der westlichen Sphygmologie eine erstaunlich lange Tradition: Bereits Herophilos, der Begründer der westlichen Sphygmologie, hat in seiner Pulslehre die Ansicht vertreten, der Puls bewege sich in musikalischen Rhythmen.139 In Anlehnung an die Rhythmuslehre des Musiktheoretikers Aristoxenos (um 360 - um 300 v. Chr.) hat Herophilos die Diastole und Systole des Pulses, also die Ausdehnung und Zusammenziehung der Arterie, mit »Arsis« und »Thesis«, dem Auf und Ab in der Musik und Metrik, gleichgesetzt. Um die in verschiedenen Lebensaltern unterschiedlichen Verhältnisse von Diastole und Systole zu notieren, griff er auf die Metren der Musiktheorie zurück (mit fortschreitendem Alter: ᴗ ᴗ / ‒ ᴗ / ‒ ‒ / ᴗ ‒ ).140
137 Marey: La Méthode graphique, S. 165. 138 Diese Verwandtschaft zwischen Musik und Puls, zwischen Akustischem und Taktilem wird zudem daran erkennbar, dass die grafische Methode nicht nur zur Registrierung des Pulses, sondern auch zur Erforschung der Faktoren und Komponenten sprachlicher Laute verwendet wurde. Brain beschreibt in seiner Disser tation die Rolle, die die grafische Methode zur Verwissenschaftlichung der Linguistik im ausgehenden 19. Jahrhundert spielte. Zudem hat er auf den Zusammen hang zwischen der grafischen Methode und Saussures image acoustique hingewiesen. Vgl. Brain, Robert Michael: The Graphic Method: Inscription, Visualization, and Measurement in Nineteenth-Century Science and Culture (Dissertation), University of California 1996, S. 233-243. 139 Siehe Staden: Herophilus, S. 276. 140 Siehe Kümmel, Werner Friedrich: »Puls und Musik (16. - 18. Jahrhundert)«, in: Medizinhistorisches Journal 3 (1968), S. 269-293, hier S. 269; ders.: Musik und Medizin: Ihre Wechselbeziehungen in Theorie und Praxis von 800 bis 1800, Freiburg [u.a.] 1977, S. 23-24 und vor allem Staden: Herophilus, S. 276-288.
252 | Körper bilden
Seit der römischen Zeit war die Vorstellung von den Rhythmen des Pulses auch außerhalb der Medizin verbreitet.141 Im Mittelalter gehörte die Musiktheorie sogar zu den obligatorischen Fächern für das Medizinstudium.142 Dieser Umstand war mit der zu dieser Zeit dominierenden Musica Humana-Idee verbunden, der zufolge Seele und Körper des Menschen in die universale Harmonie der Welt und der Musik eingebunden seien.143 Ein Heer von Musiktheoretikern, Medizinern und Philosophen, darunter auch Roger Bacon, war davon überzeugt, dass der metrisch-musikalische Rhythmus des Pulses mit den Fingern wahrgenommen werden könne. 144 Diese Auffassung fand bereits bei Avicenna (980-1037) einen klaren Ausdruck und stieß in der folgenden Zeit immer wieder auf Resonanz: 145 »Du mußt wissen, daß im Puls musikalische Natur vorhanden ist. Wie sich das Fach Musik zusammensetzt aus der ›Komposition‹ der Töne aufgrund des Verhältnisses zwischen [je zwei von] ihnen in Höhe und Tiefe und aus Zyklen metrischer Zeitmaße begrenzter Zeitspannen, die zwischen den Anschlägen der Töne [mit dem Plektrum auf der Laute] liegen, so ist es auch beim Puls. Die Proportionen [seiner] Zeitabschnitte in Schnelligkeit [der Bewegungen] und [ihrer] Aufeinanderfolge entsprechen den musikalisch-metrischen Proportionen, und [seine] Proportionen in Intensität, Schwäche und Quantität entsprechen den musikalisch-›kompositorischen‹. Und so, wie die metrischen Zeitabschnitte und die Quantitäten der Töne gleichmäßig oder ungleichmäßig sein können, so auch die Pulsationen in ihrer Aufeinanderfolge: Sie können geordnet miteinander verbunden sein oder ungeordnet. Und ebenso die Proportionen des Pulses oder unregelmäßig gleich, oder aber unregelmäßig ungleich; [letztere] stehen außerhalb einer feststellbaren Ordnung. […] Ich finde es großartig, diese Verhältnisse durch das Puls-
141 Siehe Kümmel: Musik und Medizin, S. 26-27. 142 Siehe ebd., S. 27. 143 Zur »Musica Humana« vgl. Abrams, Brian: »Understanding Music as a Temporal-aesthetic Way of Being: Implications for a General Theory of Music Therapy«, in: The Arts in Psychotherapy 2 (2011), S. 114-119, hier S. 115; Dyer, Joseph: »The Place of Musica in Medieval Classifications of Knowledge«, in: The Journal of Musicology 1 (2007), S. 3-71, hier S. 27; sowie Kümmel: Musik und Medizin, S. 26 und 93-96. 144 Siehe ebd., S. 26 ff. 145 Siehe ebd., S. 28-31.
Das Bild des Pulses | 253
Abbildung 111: Musikalische Pulsdarstellung von Josephus Struthius in Artis sphygmicae seu pulsuum doctrinae liber primus, 1602.
fühlen wahrnehmen zu können, halte es aber für leichter, wenn jemand sich in den musikalischen Metren und in den Tonverhältnissen professionell auskennt, denn er kennt die Musik und kann durch sein Wissen das (hierin) Geschaffene beurteilen. «146
Vor diesem Hintergrund erstaunt es kaum, dass die Mediziner seit dem 16. Jahrhundert den Puls mithilfe der musikalischen Notenschrift veranschaulicht haben. Als einer der Ersten stellte der polnische Arzt Josephus Struthius (1510-1568) im Jahr 1555 vier für verschiedene Altersstufen charakteristische Rhythmen mithilfe der Mensuralnotation dar: longam, breuem, semibreuem und minimam (Abb. 111).147 Struthius ging von einer gleich langen Zeitdauer
146 Avicenna: al-Qānūn fī al-Ṭibb, Kairo 1294/1877, S. 125-126, zitiert nach: ebd., S. 29. Die englische Übersetzung dieser Passage findet sich in: Avicenna: A Treatise on the Canon of Medicine of Avicenna, übersetzt von O. C. Gruner, London 1930, S. 292-293. 147 Siehe Kümmel: »Puls und Musik«, S. 272; ders.: »Die ›süsseste Melodie des Lebens‹: Historische Beziehungen von Herzschlag, Puls und Musik«, in: Hahn, Susanne [Herg.]: Herz: Das menschliche Herz. Der herzliche Mensch, Ausstellungskatalog Deutschen Hygiene-Museum Dresden, Dresden [u.a.] 1995, S. 1230, hier S. 16; ders.: Musik und Medizin, S. 35-37; Michon, Pascal: Elements of Rhythmology II: From the Renaissance to the 19th Century, Paris 2018, S. 18-25.
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Abbildung 112: Darstellung des
Abbildung 113: Darstellung des
normalen Pulses von Samuel
aussetzenden Pulses von Samuel
Hafenreffer, 1641.
Hafenreffer, 1641.
von Systole und Diastole aus, wobei sich diese von Altersstufe zu Altersstufe verdoppelt. Ähnlich wie Struthius versuchte auch der Tübinger Medizinprofessor Samuel Hafenreffer (1587-1660) den Puls mithilfe einer Notenschrift zu veranschaulichen.148 Bei ihm steht nicht mehr das Zeitverhältnis zwischen Systole und Diastole – also der Rhythmus innerhalb des Pulsschlages –, sondern die Abfolge der Pulsschläge im Vordergrund. Dabei verleiht er den Notenlinien eine besondere Funktion: Sie entsprechen den vier tastenden Fingern.149 Wird der gewöhnliche Puls eines Gesunden (pulsus moderatus) mit gleichen mittleren Notenwerten in gleichen Zeitabständen wiedergegeben (Abb. 112), so reihen sich die Noten auf den verschiedenen Notenlinien bei dem aussetzenden Puls (pulsus intermittens) als gepunktete schräge Linien aneinander (Abb. 113).150 1747 unternahm François-Nicolas Marquet (1687-1759) einen weiteren Versuch, ein musikalisches Notationssystem für die Darstellung des Pulses zu verwenden.151 Er ging davon aus, dass der normale Puls eine strenge Periodizität besitzt und 60 Mal pro Minute schlägt, weshalb er ihn mit der »Kadenz des Menuetts« (la cadence du menuet) oder mit der »Sekunde einer gut regulierten Uhr« (la séconde d’une pendule bien réglée) für vergleichbar
148 Siehe Kümmel: »Puls und Musik«, S. 275-279; ders.: »Die ›süsseste Melodie des Lebens‹«, S. 18-19. 149 Siehe ders.: »Puls und Musik«, S. 275. 150 Kümmel hat sich ausführlich mit anderen Darstellungen der Pulstypen in Hafenreffers Werk auseinandergesetzt. Siehe ders.: »Puls und Musik«, S. 275-279 und ders.: Musik und Medizin, S. 38-44. 151 Marquet, François-Nicolas: Nouvelle Méthode facile et curieuse pour apprendre par les notes de musique à connaître le Pouls de l’Homme, & les différens changemens qui lui arrivent, depuis la naissance jusqu’à la mort, Amsterdam 1769.
Das Bild des Pulses | 255
Abbildung 114-115: Darstellung des normalen Pulses und der verschiedenen Pulstypen in Nouvelle Méthode facile et curieuse pour apprendre par les notes de musique à connaître le Pouls de l’Homme […] von François Nicolas Marquet, 1769.
hält.152 Den normalen Puls stellt er durch Viertelnoten dar, die von ihm zwischen zwei Notenlinien eingetragen und in gleichen Abständen angeordnet werden (Abb. 114). Unter seiner Pulsnotation zeigt Marquet zugleich die Notation eines Menuetts und bezieht derart beide Systeme aufeinander, die nicht zuletzt durch die fortlaufenden Taktstriche miteinander verbunden sind. Marquet weist den Notenlinien folgende Funktion zu: Absteigende Noten bezeichnen eine abnehmende Intensität der Pulsschläge; die den normalen Puls (Abb. 114) kennzeichnende Lage zwischen den Linien steht für eine mittelmäßige Intensität.153 Die Notenlinie zwischen den Taktstrichen wird in fünf Einheiten geteilt. Wenn die Note nicht, wie beim normalen Puls, an erster, sondern an anderer Stelle erscheint, dann bedeutet dies, dass er nicht mehr im
152 Ebd., S. 35. 153 Siehe Kümmel: »Puls und Musik«, S. 282.
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Takt schlägt.154 Indem Marquet den großen bzw. vollen Puls durch halbe Noten und den kleinen Puls durch Achtelnoten wiedergibt,155 konstruiert er ein Notensystem, mit dessen Hilfe sich nicht nur die Dauer, Intensität und Frequenz des einzelnen Pulsschlags, sondern auch eine komplizierte Abfolge von Pulsschlägen anschreiben lässt (vgl. Abb. 115).156 Es ist nicht bekannt, ob Marey wusste, dass der Puls schon lange vor der Entstehung der Sphygmographie mit der Musik assoziiert und mittels musikalischer Notationssysteme veranschaulicht wurde. Es lässt sich zumindest feststellen, dass seine grafische Methode den Rhythmus des Pulses auf sehr ähnliche Weise visualisiert wie die auf Notenschrift basierenden Pulsaufzeichnungen. Wir müssen uns allerdings bewusst sein, dass diese Aufmerksamkeit für den Rhythmus das Ergebnis einer kulturspezifischen Auffassung des Pulses ist. So wird der Pulsrhythmus in der chinesischen Medizin kaum thematisiert, während die westliche Kultur zahlreiche Visualisierungstechniken und Bildpraktiken zu seiner Darstellung und Fixierung entwickelt hat. Was aber ist genau unter »Rhythmus« zu verstehen? Im gegenwärtigen Sprachgebrauch wird dieser Begriff hauptsächlich in Bezug auf flüchtige, unsichtbare Phänomene wie Musik, Sprache und Puls verwendet. Auch in der bildenden Kunst und in der Architektur ist zwar von Rhythmus die Rede; dieser Wortgebrauch gilt aber, wie Wilhelm Seidel bemerkt, für gewöhnlich als ein Sprechen »per analogiam«,157 das eine Übertragbarkeit bestimmter akustischer Aspekte auf die Wahrnehmung eines konkreten Gegenstandes impliziert. Wenn man sich der Etymologie des Begriffs »Rhythmus« zuwendet, stößt man jedoch auf ein überraschendes Bild: Der älteste Beleg des Begriffs geht auf das 7. Jahrhundert v. Chr. zurück und findet sich in einem Fragment des Archilochos. In diesem Textfragment bat Archilochos sein Herz inständig darum, sich weder zu sehr über den Sieg zu freuen noch zu sehr die Niederlage zu beklagen, sondern zu erkennen, »welcher Rhythmus (ρυθμός) die Menschen in seinen Banden hält.«158 Dabei bedeutet das Wort »Rhythmus« »das
154 Siehe Marquet: Nouvelle Méthode facile, S. 32. 155 Siehe Michon: Elements of Rhythmology II, S. 43. 156 Siehe ebd., S. 47. 157 Seidel, Wilhelm: »Rhythmus«, in: Barck, Karlheinz; Fontius, Martin [Hrsg.]: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart [u.a.] 2003, S. 291-314, hier S. 291. 158 Archilochos, Fr. 67a, in: Diehl, Ernst [Hrsg.] Anthologia lyrica Graeca, Bd. 3, Lipsiae 1952, S. 29, zitiert nach Seidel: »Rhythmus«, S. 292.
Das Bild des Pulses | 257
Auf und Ab, den Wechsel von Glück und Unglück, dem die Menschen unterworfen sind«159 im Sinne eines »pattern of life«.160 Im 6. Jahrhundert v. Chr. wurde der Begriff »Rhythmus« verwendet, um den Charakter eines Individuums zu bezeichnen. Im darauffolgenden Jahrhundert bezog es sich zudem auf die den Gegenständen eigene Form, beispielsweise auf die äußere Gestalt eines Brustpanzers, einer Tasse oder eines Stiefels.161 Dieser Gebrauch ging einher mit der Einbürgerung des Begriffs in die Terminologie der musischen Künste, wobei es die temporale Ordnung der musikē, des Tanzes, der Poesie und des Gesangs bezeichnete. 162 Es liegt auf der Hand, dass die Verwendung des Begriffs »Rhythmus« in der Architektur und bildenden Kunst nicht auf der Übertragung musikalischer Aspekte beruht. Damit stellt sich aber zugleich die folgende Frage: Warum wurde das Wort »Rhythmus« einerseits auf die Tonbzw. Verskunst, die sich lediglich in der Zeit ereignet, und andererseits auf die Architektur und die bildenden Künste, deren Werke, um mit Eugen Petersen zu sprechen, »in toten Stoffen« 163 ausgeführt werden, angewendet? Warum konnte der Rhythmus die zeitliche Ordnung einer Bewegung und die Form eines Kunstwerks zugleich bezeichnen? Um dieses Paradox zu lösen, führte Eugen Petersen das griechische Wort ›ρυθμός‹, statt auf die Wurzel ›ρέω‹, ›fließen‹ und ›Fluss‹, auf ›(ε)ρυ-‹, ›Ziehen‹ und ›Zug‹, zurück und deutete »Rhythmus« als »unbewegte Gestalt, die durch Bewegung entstand«.164 Auf diese Weise deutete Petersen »Rhythmus« als einen dialektischen »Energie-Begriff«165 und machte auf dessen bildliche Dimension aufmerksam: Der Rhythmus verwirkliche sich nicht im gleichmäßigen Fließen der Bewegung, sondern in deren Abteilung. Im Tanz und Marsch diene der Rhythmus als räumliche und zeitliche Gliederungsform des Bewegungsablaufs, die durch wiederholte Hebung und Senkung des Fußes markiert und bestimmt werde. Was die Griechen als »Rhythmus« eines Kunst- oder Bauwerks bezeichneten, sei keine Übertragung des musikalischen Rhythmus auf die bildende Kunst gewesen. Ganz im Gegenteil sei der Rhythmus der
159 Seidel: »Rhythmus«, S. 292. 160 Pollitt, Jerry J.: The Ancient View of Greek Art: Criticism, History, and Terminology, New Haven, Conn. [u.a.] 1974, S. 220. 161 Siehe ebd., S. 221. 162 Seidel: »Rhythmus«, S. 293. 163 Petersen, Eugen: Rhythmus, Berlin 1917, S. 2. 164 Ebd., S. 11. 165 Ebd., S. 11.
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sichtbaren Schrittbewegungen auf die unsichtbare Musik, die den Tanz und Marsch in der Antike begleiteten, übertragen worden. Dieser Ursprung erklärt, weshalb die Grundkomponente in der Ton- und Verskunst für gewöhnlich »Fuß« oder »Schritt« genannt wird und ebenso warum der »Fuß« wiederum in die Elemente »Arsis« und »Thesis«, also »Auf« und »Ab«, »Heben« und »Setzen« zerfällt.166 Die Rhythmustheorie des Aristoxenus liefert Petersen eine Gelegenheit, genauer auf die Gründe für seine etymologische Ableitung des »Rhythmus«Begriffs einzugehen: »Alle Form des Seienden wird und ist doch erst durch irgend welche Abteilung des Raumes oder der Zeit und durch einen diese Abteilung wahrnehmbar machenden Inhalt. Ein Ton, der gleichmäßig, ohne Abteilung, durch alle Zeit tönte, wäre so formlos wie ein Nebel, der sich gleichmäßig durch allen Raum dehnte.«167
Der musikalische Rhythmus ist in diesem Sinne für Peterson keine fließende Bewegung, sondern eine fertige, unbewegte Form und Gestalt, die aus der Abteilung zwischen den einzelnen Tönen hervorgeht.168 In seinem Werk Paideia
166 Siehe Pollitt: The Ancient View of Greek Art, S. 224. Auf diesen Aspekt hat uns auch Lionel Pearson aufmerksam gemacht. Er schreibt in seiner Einleitung zu Aristoxenus’ Elementa rhythmica: »The Greeks used the language of dancing or marching to explain rhythm. Where we speak of a bar, they spoke of a foot (πούς), a time-length that might correspond to a pace divided into a ›down‹ portion an ›up‹ portion, sometimes called ›thesis‹ and ›arsis‹, ›lowering‹ and ›raising‹. In modern discussion of the rhythm and metre of spoken verse the terms ›thesis‹ and ›arsis‹ are used of lowering and raising the voice, to indicate different degrees of emphasis or stress in speech, but the Greeks used these terms of the feet, as one of their writers tells us plainly ›What do we mean by ›arsis‹? When our foot is in the air, when we are about to take a step. And by ›thesis‹? When it is on the ground.‹« (Pearson, Lionel: »Introduction«, in: Aristoxenus: Elementa Rhythmica: The Fragment of Book II and the Additional Evidence for Aristoxenean Rhythmic Theory, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Lionel Pearson, Oxford 1990, S. XI-LIV, hier S. XXIV.) 167 Petersen: Rhythmus, S. 17. 168 Auch Émile Benvenistes Auseinandersetzung mit dem Begriff »Rhythmus« ist in dieser Hinsicht von großer Bedeutung. Wie Peterson verweist er darauf, dass der Begriff »Rhythmus« in der Antike die Form und die Gestalt bezeichnet. Doch
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vertritt Werner Jaeger eine ähnliche Ansicht. Wenn Archilochos schreibt, der »Rhythmus« halte die Menschen in seinen Banden, oder wenn er davon erzählt, »Xerxes […] habe den Fluß des Hellespont in Fesseln gelegt und den Wasserweg über ihn ›in eine andere Gestalt (Rhythmus) gebracht‹«169 , so ist der »Rhythmus« nicht der Fluss, sondern das, was das Leben und die Bewegung in eine Gestalt bringt und ihnen »die Schranke, das Feste auferlegt.«170 »Die Uranschauung, die der griechischen Entdeckung des Rhythmus in Tanz und Musik zugrunde liegt,« so schreibt Jaeger, »ist nicht das Fließen, sondern umgekehrt Halt und feste Begrenzung der Bewegung.«171 Bekanntlich wurde bereits in der Antike der Versuch unternommen, die rhythmischen Proportionen der Musik zahlenmäßig zu bestimmen. 172 Unter Einfluss des Aristoxenos bezeichnete der Rhythmus nicht mehr die Ordnung konkreter Bewegungselemente, sondern die abstrakte temporale Ordnung der Zeit.173 Dennoch wurde die rhythmische Musik, wie Petersen und Jaeger klar zeigen, in der Antike trotz dieser Abstrahierung bildlich vorgestellt. Zwar ist
anders als Peterson versucht Benveniste nicht, den Begriff »Rhythmus« auf eine andere Wurzel zurückzuführen. Er bemerkt, dass der Begriff ρυθμός erst bei Plato eine drastische Neuerung erlebt hat: Indem Plato »das Wort [ρυθμός] auf die Form der Bewegung anwendet, die der menschliche Körper beim Tanz vollbringt, und auf die Disposition der Figuren, in die diese Bewegung sich zergliedern läßt«, sei der Begriff ρυθμός dem Gesetz der Zahlen unterworfen worden. Während das Wort ρυθμός vor der Mitte des 5. Jahrhunderts als »eine besondere Art des Fließens« definiert und als eine der Veränderung unterworfene Anordnung betrachtet worden sei, werde der Begriff »Rhythmus« nun mit dem »Metrum« verbunden und durch das »Maß« bestimmt. Im »Rhythmus«-Begriff erblickt Benveniste daher einen Vorgänger des platonischen Formbegriffs, in welchem die Form noch im Fließen und »ohne Festigkeit oder natürliche Notwendigkeit« war. (Benveniste, Émile: »Der Begriff des ›Rhythmus‹ und sein sprachlicher Ausdruck«, in: ders.: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, übersetzt von Wilhelm Bolle, München 1974, S. 363-374) 169 Jaeger, Werner: Paideia: Die Formung des griechischen Menschen, Bd. I, Berlin [u.a.] 1934, S. 174-175. 170 Ebd., S. 175. 171 Ebd., S. 175. 172 Vgl. dazu Benveniste: »Der Begriff des ›Rhythmus‹ und sein sprachlicher Ausdruck«, S. 372. 173 Seidel: »Rhythmus«, S. 298-299.
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die Musik unsichtbar und ephemer, aber indem ihr zeitlicher Verlauf in verschiedene Längen und Kürzen geteilt, gegliedert und rhythmisiert wird, gewinnt sie eine bestimm- und messbare Gestalt, die einen bildlichen Charakter aufweist. Der Rhythmus der Musik wird insofern als eine Manifestation aufgefasst, in der sich die Zeit in ihrem Werden verräumlicht und in Erscheinung tritt.174 In diesem Sinne kann man sagen, dass die auf die Antike zurückführbare Idee der musikalischen Symmetrie nur vor diesem Hintergrund zu verstehen ist. Die bildliche Auffassung der Musik findet ihre Entsprechung in der Modalnotation, die gegen Ende des 12. Jahrhunderts in der Notre-DameSchule entwickelt wurde: Nun wurden die Stimmen nicht nur harmonisch, sondern auch zeitlich (relativ) exakt aufeinander abgestimmt. Ebenso wurden die zeitlichen Rhythmen aufgezeichnet und topografisch visualisiert.175 Die ursprüngliche Bedeutung von »Rhythmus« zeigt, dass die Griechen eine visuelle Vorstellung von der Musik hatten. In dieser Tradition ist der als ständiger Wechsel von Systole und Diastole definierte Puls zwar gleichfalls unsichtbar, doch wurde er – in Analogie zur Musik – durch ihre charakteristische zeitliche Gliederung bzw. Taktung, die den Rhythmus ausmacht, bildlich wahrgenommen und als sichtbare Form bzw. Gestalt aufgefasst. Die Entwicklungsgeschichte der westlichen Pulsdarstellung zeigt, dass sowohl die Musiknotation, mit deren Hilfe die Mediziner des 16. und 17. Jahrhunderts den Puls darstellten, als auch das Aufzeichnungsverfahren der grafischen Methode deshalb als angemessene Visualisierungstechniken betrachtet werden konnten, weil sie es erlaubten, die flüchtige Zeit in einem geschlossenen System bildlich exakt zu repräsentieren. Wenn Petersen den Rhythmus auf die Wurzel ›(ε)ρυ-‹, ›Zug‹, zurückführt und ihn als »unbewegte Gestalt, die durch Bewegung entstand«,176 definiert, so findet diese Bedeutung des Rhythmus auf verblüffende Weise ihre konkrete Verkörperung in der Kurve, die die scharfe Schreibspitze auf der mechanisch vorbeiziehenden Schreibfläche hinterlässt. In Mareys Sphygmographen tritt der metallene Schreiber an die Stelle des sich auf und ab bewegenden Fußes, der die ursprüngliche Vorstellung vom Rhythmus geprägt hat. Das Auf und
174 Vgl. Petersen: Rhythmus, S. 16. 175 Vgl. Seidel: »Rhythmus«, S. 299. Zur Modalnotation vgl. Traub, Andreas: »Modalnotation«, in: Jaschinski, Andreas [Hrsg.]: Notation, Kassel [u.a.] 2001, S. 97105. 176 Petersen: Rhythmus, S. 11.
Das Bild des Pulses | 261
Abbildung 116: Notationssystem mit abgekürzten Zeichen (jian zi pu 減字 譜) aus der Geheimnotation göttlicher Besonderheiten (Shen qi mi pu 神奇 秘譜), 1425.
Ab des Schreibers bringt den Rhythmus des Pulses auf dem berußten Untergrund zur Erscheinung. Marey, der das musikalische Notationsverfahren für eine »universale Sprache«177 hält, vernachlässigt offenbar die Tatsache, dass dieses Darstellungsprinzip allein keineswegs Universalität garantieren kann. Die Wahrnehmung von Musik ist ebenso kulturell bedingt wie ihre Notation, der unterschiedliche Funktionen und Gebrauchsweisen zugeschrieben werden. Ein Blick auf eine chinesische Notenschrift für qin 琴, eine Griffbrettzither, soll uns dabei helfen, den fundamentalen Unterschied zwischen dem chinesischen und dem europäischen Notationssystem zu skizzieren. Die Abbildung 116 zeigt ein chinesisches Notationssystem mit abgekürzten Zeichen (jian zi pu 減字譜) für die Zither, das während der Tang-Zeit (618-907) entstanden ist. Mittels verkürzter Schriftzeichen stellt diese Notation die Stelle, an der die Saite anzuschlagen ist, sowie die Griff- und Anschlagsweisen des Fingers dar.178
177 Marey: Du Mouvement dans les fonctions de la vie, S. 169. 178 Zur Notation der Qin-Musik vgl. Lindquist, Cecilia 林西莉: Gu qin de gu shi 古 琴的故事 , Taipeh 2009, S. 212-250; Dahmer, Manfred: Qín: Die klassische chinesische Griffbrettzither und ihre Musik in Geschichte, Geschichten und
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Merkwürdig ist, dass die Angaben zur rhythmischen Ausführung in der QinNotation komplett fehlen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass diese Musik außerhalb jedes Zeitmaßes aufgeführt werden könnte. Doch im Gegensatz zu dem Notationssystem des Westens, das auf das sogenannte »Blattspiel« bzw. »prima-vista-Spiel«179 angelegt ist, zielt diese Notation nicht auf eine Festlegung des Rhythmus. Der Musiker, der ein Stück aus der traditionellen QinNotation spielen möchte, muss die Notation erst »machen« (da pu 打譜), das heißt sich intensiv mit der Notenschrift auseinandersetzen und sie rhythmisieren.180 Es kann daher nicht verwundern, dass ein Stück, von Musikern aus zwei unterschiedlichen Schulen gespielt, nur schwer als ein und dasselbe wiederzuerkennen ist.181 Diesbezüglich bemerkt Manfred Dahmer, »dass die Notation sicher als notwendiges Hilfsmittel zum Musizieren benutzt wurde, dass sie aber eigentlich nur als Stütze zum Auswendiglernen gesehen wurde, ganz in der Art, wie sie auch heute noch gebraucht wird, und dass letztlich die mündliche Überlieferung, das direkte Weitergeben vom Lehrer an den Schüler als gängige Praxis anzusehen ist.«182
Im Vergleich zum Notationssystem der westlichen Instrumentalmusik weist das chinesische Notationssystem für die Zither eine Fülle von Zeichen auf, aus denen hervorgeht, wie und mit welchen Fingern der Spieler die Saite greifen, zupfen, streichen, reiben, haken, abschaben, rollen oder klopfen soll. Diese verschiedenen Spieltechniken dehnen den Ton, lassen ihn schwingen, »sich kräuseln« oder »flattern«. Diese vielfältigen dynamischen Ausdrucksweisen können durch die im europäischen Notationssystem gebräuchlichen Parameter wie Tonhöhe, Tondauer und Lautstärke nur lückenhaft dokumentiert werden. Zum Beispiel wird ein Ton, der im westlichen Notationssystem auf derselben Tonhöhe aufgezeichnet wird, in der Qin-Notation danach unterschieden, ob
Gedichten, Uelzen 2003, S. 48-69; ders.: Der lange Regenbogen: Die Solosuite Guanglingsan für Qin, Uelzen 2009, S. 268-303; Gulik, Robert Hans van: The Lore of the Chinese Lute: An Essay in the Ideology of the Ch’in, Tokyo [u.a.] 1969, S. 117-139. 179 Unter dem »Blattspiel« bzw. »prima-vista-Spiel« versteht man die Interpretation der notierten Komposition »auf den ersten Blick« ohne vorheriges Üben. 180 Vgl. Dahmer: Der lange Regenbogen, S. 304. 181 Siehe ders.: Qin, S. 49-50. 182 Siehe ders.: Der lange Regenbogen, S. 271.
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der Spieler die Saite mit demselben Finger »nach innen«, also »in Richtung des Spielers«, oder »nach außen«, also »vom Spieler weg« anschlägt. 183 Während die Angabe des Fingersatzes im westlichen Notationssystem eher eine sekundäre oder ergänzende Rolle spielt, basiert die Qin-Notation wesentlich auf der Fixierung der verschiedenen Anschlags- und Griffweisen. Notationssysteme ermöglichen es, einen seriellen, zeitlich versetzten Datenfluss als grafisches Bild zu bewahren. Diese Aufzeichnungen, so schreibt Hartmut Möller, »akzentuieren, verkürzen und abstrahieren angesichts der Fülle des realen Klanggeschehens und beginnen ein Eigenleben als Dokumente, die verschiedene Lesarten zulassen, ja provozieren.«184 Die deutliche Diskrepanz zwischen der chinesischen und europäischen Notationsmethode verdeutlicht jedoch, dass sich das autonome »Eigenleben« dieser Dokumente einem komplexen Zusammenspiel kulturspezifischer Faktoren verdankt. Die Pulsdarstellung und die Musiknotation Diese Einsicht gilt auch für die unterschiedlichen Darstellungsweisen des Pulses im westlichen und chinesischen Kontext: Indem Marey die Pulskurve als die »Sprache der Phänomene selbst« betrachtet, setzt er die mechanisch aufgeschriebene Kurve mit dem Puls gleich. Ähnlich wie die Partitur, die in der westlichen Kultur lange Zeit der musikalischen Analyse zugrunde lag, wurde auch die grafische Pulskurve in der Physiologie und Medizin des 19. Jahrhunderts zur Analyse des Pulses herangezogen. Aus vergleichender Sicht ist dennoch festzustellen, dass die Pulskurve nicht naiv als Repräsentation oder Abbild des Pulses, sondern als ein konstruktives Übersetzungsverfahren verstanden werden muss, das nicht nur registrierend Sichtbarkeit hervorbringt, sondern zugleich auf die kulturellen Voraussetzungen seiner eigenen Entstehung verweist. Insofern stellt die Pulskurve nicht den Puls an sich dar, sondern vielmehr die tradierten Vorstellungen vom Puls gemäß einem historisch situierbaren Wissensideal. Indem der Sphygmograph dynamische Prozesse des Pulses in ein Koordinatennetz mit der Zeit als Abszisse und der Intensität der vertikalen Schwingungen als Ordinate anschreibt und in eine Kurve übersetzt, setzt die grafische
183 Siehe Lindquist: Qin, S. 241-242. 184 Möller, Hartmut: »Einleitung«, in: Jaschinski, Andreas [Hrsg.]: Notation, Kassel [u.a.] 2001, S. 15-23, hier S. 15.
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Methode, wie Marey selbst betont,185 Descartes’ »analytische Geometrie« 186 fort und reagiert auf die gegen Mitte des 19. Jahrhunderts problematisch gewordene »menschliche Intervention«. 187 Darüber hinaus ist die Pulskurve aber auch hervorgegangen aus der seit der Antike vorherrschenden Vorstellung vom Puls als einer Zusammenziehung und Ausdehnung der Arterien, aus dem kulturspezifischen Ideal einer genauen Aufzeichnung des Rhythmus, aus der mit der Entstehung der Zentralperspektive in der Frühen Neuzeit einhergehenden Auffassung des Bildes als exakter Wiedergabe der äußeren Realität und nicht zuletzt aus einer Suche nach sprachlicher Transparenz, welche die Geschichte der westlichen Sphygmologie charakterisiert. In der Geschichte der chinesischen Pulslehre stoßen wir ebenfalls auf Visualisierungsversuche des Pulses.188 Aus diesem Sachverhalt wird ersichtlich, dass auch die chinesischen Mediziner dem Puls eine gewisse Darstellbarkeit zusprachen. Indessen können ihre Pulsdarstellungen lediglich im Zusammenhang mit der chinesischen Vorstellung vom Puls und dem mit ihr verbundenen Akt der Pulstastung verstanden werden: Der Puls wird also nicht als ein selbständiges Phänomen begriffen, das sich selbst aufzuzeichnen vermag. Zur Erscheinung kommen kann er vielmehr nur im Akt des Tastens, also an der fließenden Schnittstelle zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Berühren und Berührt-Werden. Dabei handelt es sich nicht um ein Bild von etwas, sondern vielmehr um ein Wahrnehmungsbild, um ein inneres Gebilde, das den zeitli-
185 Siehe Marey: La Méthode graphique, S. IV. 186 Zu Descartes’ analytischer Geometrie siehe Krämer: »Zwischen Anschauung und Denken«, S. 173-192, hier S. 178-182. 187 Vgl. Daston: »Das Bild der Objektivität«. 188 Die früheste Pulsdarstellung in der chinesischen Medizin geht auf das Werk Zhong Jings sechsunddreißig Pulsverfahrensbilder (Zhong jing san shi liu mai fa tu 仲景三十六脈法圖, vor 1132) von Xu Shu-wei 許叔微 (1079-1154) zurück. Siehe Zhang Tong-jun 張同君: »Xu Shu-wei ›Zhong jing san shi liu mai fa tu‹ kao 許叔微《仲景三十六脈法圖》考«, in: Zhong hua yi shi za zhi 中華醫史雜 誌 [Chinese Journal of Medical History] 23 (1995), S. 171-174. Vgl. dazu Hsu, Elisabeth: »Towards a Science of Touch, Part II: Representations of the Tactile Experience of the Seven Chinese Pulses Indicating Danger of Death in Early Modern Europe«, in: Anthropology & Medicine 3 (2000), S. 319-333, hier S. 325328 und Zhen Yan 甄艷: »Cang yi de chu jiao biao da fa 藏醫的觸覺表達法«, in: Lo, Vivienne; Wang, Shumin 王淑民 [Hrsg.]: Xing xiang zhong yi: zhong yi li shi tu xiang yan jiu 形象中醫: 中醫歷史圖像研究, Beijing 2007, S. 218-220.
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chen Ablauf nicht fixiert, sondern die sukzessiv wahrgenommenen Berührungseindrücke in sich als Matrix einschließt. Das Pulsbild entsteht aus einer Fülle leiblicher, sich überlagernder Berührungs-Sensationen, die durch aktive Ausübung des Tastens gewonnenen werden. Ein solches Bild kann nur im menschlichen Leib und Bewusstsein entstehen. Ähnlich wie die in der chinesischen Pulslehre reichlich verwendeten Metaphern, Analogien und bildlichen Vergleiche fungiert das Pulsbild als bildliche Stütze zur Präzisierung und Veranschaulichung dessen, was schwer in Worte zu fassen ist. Es ist kein Ersatz für die reale Wahrnehmung, noch zielt es darauf ab, die Sprache zu verdrängen. Der chinesische Mediziner soll sich vielmehr dieses Bild beim Tasten des Pulses ins Bewusstsein rufen, um seine im Text beschriebenen taktilen Eigenschaften zu identifizieren, zu erlernen und angemessen zu bestimmen. Interessanterweise ist dieser kulturspezifische Gebrauch des Bildes als inneres Wahrnehmungsbild nicht allein in der Pulsdarstellung, sondern ebenfalls im chinesischen Notationssystem vorzufinden: In einer heute in der National Central Library in Taipeh befindlichen Ausgabe des Werkes Die mysteriöse Musik des Uraltertums (Tai gu yi yin 太古遺音) aus der Ming-Dynastie (13681644) finden sich zahlreiche handgemalte Illustrationen und kleine Gedichte, die dies belegen.189 Diese Illustrationen sollen das Buch jedoch keineswegs nur schmücken, sondern die dynamische Ausführung der Notationszeichen bildlich präzisieren. Auf der Abbildung 117 sehen wir zum Beispiel auf der linken Seite einen Schmetterling, der über den Blüten eines Baumes schwebt und sich offenbar auf einer von ihnen niederlassen will. Auf der rechten Seite ist eine linke Hand dargestellt. Das Bild des Schmetterlings illustriert eine Fingertechnik namens »fan 泛«, die in einer Berührung der Saite mit der Spitze des Daumens, des Zeige- oder des Ringfingers der linken Hand besteht, während die rechte Hand dieselbe Saite anschlägt und dadurch einen Oberton erzeugt. Auf den ersten Blick hat die hier gezeigte Szene mit der Spieltechnik nichts zu tun. In Verbindung mit dem Gedicht unter dem Bild wird jedoch ersichtlich, dass das Bild die Dynamik der Anschlagsweise veranschaulicht: Die tastende Fingerspitze soll die Saite so leicht und zart berühren, wie der Schmetterling über den Blüten schwebt.
189 Zu dem Werk Die mysteriöse Musik des Uraltertums (Tai gu yi yin 太古遺音) siehe Li Mei-yan 李美燕: »(Ming) jing chao cai hui ben ›tai gu yi yin‹ de ›zhi fa shou shi tu‹ zai gu qin pu zhong de jia zhi yi yi (明) 精鈔彩繪本《太古遺音》 的「指法手勢圖」在古琴譜中的價值意義«, in: Arts Review 28 (2015), S. 75100.
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Abbildung 117: Illustrationen für die Fingertechnik namens »fan 泛« in Die mysteriöse Musik des Uraltertums (Tai gu yi yin 太古遺音), Ming-Dynastie (1368-1644).
Abbildung 118: Illustrationen für die Fingertechnik namens »gui 跪« in Die mysteriöse Musik des Uraltertums (Tai gu yi yin 太古遺音), Ming-Dynastie (1368-1644).
Ein anderes Beispiel: Das linke Bild auf der Abbildung 118 zeigt eine Landschaft, die eine Fingertechnik namens »gui 跪« illustriert. Dabei handelt es sich um eine Technik, bei welcher der Ringfinger der linken Hand einen Ton wiederholt. Wie wir dem Gedicht entnehmen können, soll das Bild hier nicht
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die Anschlagsweise der Saite, sondern vielmehr den Klang der hervorgebrachten Töne darstellen. Der Musiker soll die Saite so erklingen lassen, dass sie wie Wasser klingt, das steil einen Felsen herabstürzt und gurgelnd gegen die Steine am Ufer schwappt. Diese Bilder zeigen also keineswegs, wie die Bewegungen der Finger oder der Klang der Töne beschaffen sein sollen. Sie bringen atmosphärische Assoziationen hervor und verleihen den verschiedenen Spieltechniken eine verfeinerte Ausdrucksweise. Dadurch erleichtern sie es dem Musiker, sich die Bewegungen der Finger besser vorzustellen. Zugleich dienen sie als ein Mittel zur Selbstkalibrierung: Wie der chinesische Mediziner, der sich mittels der Pulsbilder den taktilen Eigenschaften des Pulses annähert, soll sich der Spieler das vorgegebene Bild ins Gedächtnis rufen, um seine eigenen Bewegungen darauf abzustimmen. Zu einem genaueren Verständnis der Pulskurve oder der Musiknotation ist also nicht nur die Rekonstruktion ihrer technischen, sozialen und institutionellen Durchsetzungsgeschichte nötig. Der Visualisierung bzw. Sichtbarmachung des taktilen Pulses und der akustischen Musik liegen nämlich keine kulturneutrale, übergreifende Bildpraxis und Wahrnehmung zugrunde. Es kommt immer darauf an, wie man sich den Puls und die Musik, diese unsichtbaren Phänomene, vorstellt. Die Frage lautet dann, was man ins Bild bannen will, welche Funktionen man dem Bild zuschreibt, wie man Genauigkeit definiert und nicht zuletzt wie man die sprachlichen und visuellen Mittel interpretiert und verwendet.
Schluss
Formulieren wir die Frage also anders: was ist zeitgenössisch? Betrachten Sie ein jüngeres Modell eines Automobils: es bildet ein uneinheitliches Aggregat wissenschaftlicher und technischer Lösungen unterschiedlichen Alters; man kann es Stück für Stück datieren: dieses Element wurde zu Beginn des Jahrhunderts erfunden, ein anderes vor zehn Jahren, und der Carnotsche Kreisprozess ist beinahe zweihundert Jahre alt. Abgesehen davon, dass das Rad bis in die Jungsteinzeit zurückreicht. Das Ensemble ist zeitgenössisch nur durch die Montage, das Design, die Verpackung, manchmal nur durch die Eitelkeit der Werbung. 1
In seinem Werk Techniken des Betrachters hat uns Jonathan Crary daran erinnert, dass »es in der Geschichte weder Kontinuität noch Diskontinuität gibt, sondern nur in der Geschichtsschreibung.«2 Dementsprechend können wir im Hinblick auf das Thema unserer Untersuchung behaupten, dass es in den Kulturen weder Unterschiede noch Gemeinsamkeiten gibt, sondern nur im zielgerichteten Vergleich. Es steht außer Zweifel, dass hinter einer Forschung, die vergleichend vorgeht, immer auch Entscheidungen stehen, die bestimmte Tatsachen und bildliche Zeugnisse gegenüber anderen aufwerten oder letztere schlicht ignorieren. Die Divergenzen und Konvergenzen, die sich aus einem
1
Serres: Aufklärungen, S. 70.
2
Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters: Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, übersetzt von Anne Vonderstein, Dresden [u.a.] 1996, S. 18.
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Vergleich ergeben, sind niemals neutral. Die vorliegende Arbeit bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Sie könnte in den Verdacht geraten, ausgehend von einigen vereinzelten Phänomenen, allgemeine kulturelle Unterschiede zu formulieren, ohne die vielfältigen Brüche und Diskontinuitäten in der Geschichte der jeweils behandelten Kulturen zu berücksichtigen, die sie stattdessen in naiver Weise als kompakte, in sich kohärente und diametral entgegengesetzte Modelle darstellt. Ich bin mir dieses Problems durchaus bewusst. Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht aber nicht darin, kulturelle Diskrepanzen zu verallgemeinern oder die Körperdarstellungen in der chinesischen Medizin als idealisiertes Gegenstück zu denjenigen in der europäischen Medizin aufzustellen. Es ging vielmehr um den Nachweis, dass die in der Gegenwart so selbstverständlich erscheinenden Körperbilder – selbst wenn sie »mechanisch« und »automatisch« erzeugt werden – eine kulturspezifische Vergangenheit in sich tragen. Durch die Gegenüberstellung von Körperbildern aus der europäischen und der chinesischen Medizin wollte ich darüber hinaus ein Bewusstsein für die verschiedenen Zeiten schaffen, die sich in ein und demselben Körperbild akkumulieren und innerhalb des Horizontes der europäischen Kultur nur schwer zu erkennen sind. Anhand der »Pulskurve« habe ich beispielsweise gezeigt, dass sie nicht nur mit der seit dem 17. und 18. Jahrhundert in der westlichen Pulslehre zunehmenden Skepsis gegenüber der menschlichen Sprache verbunden ist, sondern auch auf eine bereits in der griechischen Antike entstandene Vorstellung vom Puls als Ausdehnung und Zusammenziehung der Arterie zurückgeht. Wenn Marey die Entwicklung der »grafischen Methode« einerseits auf Descartes’ »analytische Geometrie«3 und andererseits auf Guido von Arezzos »Musiknotation« 4 zurückführt, so lässt sich behaupten, dass die Pulskurve ähnlich wie das »Automobil«, über das Michel Serres im oben zitierten Text schreibt, »ein uneinheitliches Aggregat« ist. Modern ist sie nur durch »die Verpackung«.5 Die vergleichende Analyse ermöglicht uns aber nicht nur einen neuen Blick auf scheinbar unhintergehbare Körperbilder; sie konfrontiert uns zugleich mit den tiefgreifenden kulturellen Bedingungen, unter denen diese Bilder entstanden sind. In der Einleitung habe ich Flecks Konzept der »Präidee« präsentiert. Unter ihr versteht Fleck jene Überreste der Vergangenheit, die über einen langen Zeitraum hinweg in der Gegenwart fortleben. Wenn es in
3
Siehe Marey: La Méthode graphique, S. IV.
4
Siehe ders.: Du Mouvement dans les fonctions de la vie, S. 93.
5
Serres: Aufklärungen, S. 70.
Schluss | 271
der Geschichte der europäischen Körperbilder eine »Präidee« gäbe, dann bestünde sie wohl in der Annahme, dass die »wahre« Sichtbarkeit des Körpers nur unter der Haut, im geöffneten Körper zu finden sei. Diese kulturelle Präidee kommt bei dem, was ich die »unablässige Wiederkehr des geöffneten Körpers« nenne, deutlich zum Vorschein.6 Sie hat kein festes Antlitz und zieht sich von Bild zu Bild, von Medium zu Medium durch die ganze Geschichte der europäischen Körperbilder hindurch. Im wahrsten Sinne des Wortes lebt sie in den europäischen Körperbildern nach. In der Pulskurve wird zwar kein geöffneter Körper zur Schau gestellt – es handelt sich dabei lediglich um eine grafische Darstellung –, doch basiert die Aufzeichnung des Pulses als Kurve immer noch auf der Annahme, der taktile Puls bestehe in einer Formveränderung der Arterie, die unter der Haut gesehen werden kann. In der europäischen Kultur ähnelt der Körper der Büchse der Pandora: Seitdem er geöffnet und erforscht worden ist, übt das bildliche Wissen um sein Inneres einen unwiderruflichen, dominierenden Einfluss auf die Vorstellung- und Wahrnehmungsweise des Körpers aus. Im Unterschied zu den Körperbildern in der europäischen Medizin gewinnt der Körper in der chinesischen Medizin seine Sichtbarkeit, indem man sein Inneres mit seinem Äußeren in Beziehung setzt (wie etwa im Fall des Gesichts, auf dessen Oberfläche die inneren Organe ihre Zustände offenbaren) oder indem man die geheimen inneren Beziehungen zwischen verschiedenen Stellen des Körpers zu erschließen versucht (zum Beispiel mithilfe der im 4. Kapitel diskutierten Liniensysteme, mai 脈). Während die europäischen Ärzte einen formanalytischen Blick auf den Körper richten, richten die chinesischen auf ihn einen diagrammatischen. Diese kulturelle Differenz ist wohl auch der entscheidende Grund dafür, warum sich die Körperbilder in der europäischen und chinesischen Medizin deutlich voneinander unterscheiden und nicht die gleiche Historizität aufweisen. Wenn wir die verschiedenen Typen der Körperbilder aus einer interkulturellen Perspektive betrachten, erkennen wir zudem, dass sich die anatomischen Abbildungen, die seit der Frühen Neuzeit in der europäischen Kultur angefertigt wurden, gar nicht so sehr von den Kurven unterscheiden, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch selbstregistrierende Geräte produziert werden: Sowohl bei den perspektivisch gestalteten Bildern als auch bei den grafischen Kurven werden der Körper und seine Erscheinungsweisen in einem homogenen, geometrischen, mathematisierbaren Bildraum dargestellt. Wie
6
Siehe Kapitel 1 der vorliegenden Arbeit.
272 | Körper bilden
der Bildraum des perspektivisch konstruierten Bildes ist auch das Koordinatensystem der Kurvenaufzeichnung gerastert. Jeder Punkt in diesem Bildraum erweist sich als ein wohlbestimmter Ort, ganz unabhängig davon, was das Bild zeigt. Dieser Bildraum unterscheidet sich erheblich von dem, welchen die chinesische Medizin zur Visualisierung des Körpers verwendet. Wie wir beispielsweise gesehen haben, wird der Ort des Akupunkturpunktes durch seine Lage innerhalb einer Topografie des Taktilen bestimmt. Der Punkt wird also nicht durch ein geometrisches Gitter, sondern durch seine relative räumliche Beziehung zu den ertastbaren Differenzen, die direkt auf der Bild- und Körperoberfläche markiert werden, verortet. In seinem Buch Es gibt keine kulturelle Identität hat der französische Philosoph und Sinologe François Jullien vorgeschlagen, die Verschiedenheit der Kulturen nicht als »Differenz«, sondern als »Abstand« zu begreifen. 7 Auf diese Weise, so Jullien, können wir »die kulturelle Diversität« vor einer »Standardisierung des Uniformen« und »das Gemeinsame vor einer Verwechslung mit dem Gleichartigen bewahren.«8 Worin besteht aber der Unterschied, wenn wir uns der Verschiedenheit der Kulturen mittels des Konzeptes des »Abstands« nähern, anstatt sie als »Differenz« aufzufassen? Beide Begriffe markieren zwar eine ähnliche »Trennung«, aber »die Differenz setzt dabei […] auf eine Unterscheidung, während der Abstand den Blick auf eine Entfernung richtet.«9 Jullien führt einen »Angelfischer« als Beispiel an: Um ihn zu definieren, muss man zunächst bestimmen, welcher Tätigkeit er nachgeht. Zunächst beginnt man damit, »zwischen produzierenden und erwerbenden Tätigkeiten zu unterscheiden.« 10 Nachdem man sich für den »Erwerb« entschieden hat, lässt man die »Produktion« beiseite und muss in einem nächsten Schritt hinsichtlich des »Erwerbs« wiederum zwischen zwei anderen Termen, zum Beispiel »Tausch« und »Gewalterwerb«, unterscheiden. Dieser durch eine Serie von Unterscheidungen in Gang gesetzte Prozess zielt auf eine Bestimmung der Identität ab.11 Er definiert über eine Reihe von Vergleichen, was das Besondere, was die exklusiven Merkmale des »Angelfischers« ausmacht, und geht mit der wiederholten Verdrängung und Zurückweisung aller anderen
7
Siehe Jullien, François: Es gibt keine kulturelle Identität: Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, übersetzt von Landrichter Erwin, Berlin 2017, S. 35-43.
8
Ebd., S. 35.
9
Ebd., S. 36.
10 Ebd., S. 38. 11 Siehe ebd., S. 38-39.
Schluss | 273
Bestimmungen einher, um schließlich zu einer klaren Definition zu gelangen.12 Wenn wir die Verschiedenheit der Kulturen nicht als »Differenz«, sondern als »Abstand« betrachten, können wir nicht nur das Andersartige weiterhin im Blickfeld behalten, sondern auch das Zwischen, das sich zwischen den Termen öffnet, deutlicher wahrnehmen: »Beim Abstand hingegen bleiben die einmal unterschiedenen und somit getrennten Terme auch weiterhin im Blickfeld – gerade deshalb ist es so wertvoll, den Abstand zu denken. Die zwischen ihnen zutage getretene Distanz hält das einmal Getrennte auch weiterhin in Spannung. Doch was heißt ›in Spannung‹ halten? Während im Unterscheidungsprozess das In-Beziehung-Setzen durch den Vergleich zum Abschluss kommt, jeder der beiden Terme gelassen seines Weges geht und sich in seiner Besonderheit einkapselt, bleibt beim Abstand durch die aufgetauchte Distanz jeder der beiden Terme in Gegenüberstellung zum anderen. Sie sind auch weiterhin füreinander offen, versetzen sich wechselseitig in Spannung und müssen sich unaufhörlich in dieser Gegenüberstellung erfassen. Diese löst sich nicht auf. Dieses im Hinblick auf bleibt operativ, völlig offen, intensiv. […] Bei der Differenz, bei der jeder Term auf seine Seite zurückkehrt, nachdem er sich vom anderen separiert hat, um seine Identität noch besser zu identifizieren, gibt es kein ›Zwischen‹, das sich zwischen ihnen öffnet – und damit ist die Sache erledigt. Beim Abstand hingegen ziehen sich die beiden Terme nicht auf sich zurück, sie ruhen sich nicht in sich aus; dank des durch die entstandene Distanz geschaffenen ›Zwischen‹ bleiben sie vielmehr auch weiterhin aufeinander ausgerichtet, sie versetzen einander in Spannung – weshalb der Abstand auch eine ethische und politische Berufung hat. In dem zwischen den beiden eröffneten Zwischen entfaltet sich eine Intensität, die beide über ihre Grenzen hinaustreten und auch weiterhin operativ sein lässt […].«13
Im Kontext dieser Arbeit lassen sich die »Terme«, von denen Jullien spricht, ganz einfach durch »Bilder« ersetzen. Die einander gegenübergestellten Bilder aus verschiedenen Kulturen machen uns auf einen Abstand zwischen ihnen aufmerksam, der uns dazu veranlasst, das eine Bild nicht an sich, sondern im Hinblick auf andere Bilder zu betrachten. Und da es sich um Bilder vom »Körper« handelt, führt uns dieser Abstand ebenso dazu, die scheinbar natürliche Verbindung von »Körper« und »Bild« zu hinterfragen. Der zwischen den Körperbildern eröffnete Abstand bringt unsere vorgefassten Ideen darüber, was ein Körper ist und wie er sich bildlich zeigt, ins Wanken. Er stellt darüber
12 Siehe ebd., S. 37. 13 Ebd., S. 39-41.
274 | Körper bilden
hinaus diejenigen Bilder, die angeblich unseren Körper wiedergeben, in Frage. Dieser Abstand lässt uns begreifen, dass dem Körper keine genuine, ursprüngliche, vermittlungslose Sichtbarkeit eignet, sondern dass vielmehr erst durch das Bild ein spezifisch sichtbarer und lesbarer Körper hervorgebracht wird. Je mehr wir die voneinander abweichenden Körperbilder in den Blick nehmen, desto klarer tritt dieser Abstand zwischen ihnen zutage. Er lässt uns erkennen, wie viele Erscheinungsweisen der Körper in verschiedenen Kulturen hat, welche unterschiedlichen »Präideen« seine Sichtbarkeit bestimmen und welche komplexen Praktiken und Verfahren sein Bild allererst erzeugen. Dieser Abstand verweist uns – solange wir an ihre heuristische Kraft glauben – nicht zuletzt auf das Potenzial der Bilder, sich selbst zu reflektieren und gegenseitig zu beleuchten.
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Gegenüberstellung einer chinesischen und einer westlichen Darstellung des menschlichen Körpers in The National Medical Journal of China, 1915, Quelle: The National Medical Journal of China 1.1 (1915), S. 52 (Fotografiert vom Verfasser). Abbildung 2: Marten de Vos’ Geburt Christi aus der Evangelicae historiae imagines, 1593, Quelle: Edgerton, Samuel Y.: Giotto und die Erfindung der dritten Dimension: Malerei und Geometrie am Vorabend der wissenschaftlichen Revolution, München 2003, S. 244. Abbildung 3: Die von einem chinesischen Künstler angefertigte Kopie von Marten de Vos’ Geburt Christi aus Nian zhu gui cheng, 1620, Quelle: Edgerton, Samuel Y.: Giotto und die Erfindung der dritten Dimension, S. 251. Abbildung 4: Jeff Wall: Adrian Walker, artist, drawing from a specimen in a laboratory in the Department of Anatomy at the University of British Columbia, Vancouver, 1992, Quelle: Newman, Michael: »Towards the Reinvigoration of the ›Western Tableau‹: Some Notes on Jeff Wall and Duchamp«, in: Oxford Art Journal 1 (2007), S. 84. Abbildung 5: Körperdarstellung aus Andreas Vesalius’ De humani corporis fabrica libri septem, 1543, Quelle: Universitätsbibliothek Basel, AN I 15, S. 178. Abbildung 6: Körperdarstellung aus Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt, Quelle: http://archive.wul.waseda.ac.jp/kosho/ya09/ya09_0030 5/ya09_00305_0033/ya09_00305_0033_p0040.jpg (30.06.2019). Abbildung 7: Ludwik Flecks Aufsatz Patrzeć, widzieć, wiedzieć (Schauen, sehen, wissen) in Problemy, 1947, Quelle: Fleck, Ludwik: Patrzeć, widzieć, wiedzieć, in: Problemy 2 (1947), S. 74. Abbildung 8: Anatomische Figur aus dem 15. Jahrhundert in Ludwik Flecks Patrzeć, widzieć, wiedzieć, 1947, Quelle: Fleck, Ludwik: Patrzeć, widzieć, wiedzieć, S. 78.
304 | Körper bilden
Abbildung 9: Darstellung des Brustkorbes in Carl Heitzmanns Die descriptive und topographische Anatomie des Menschen, 1884, Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg, P 1519::1-2(3), S. 79. Abbildung 10: Die denkende Skelettfigur in Andreas Vesalius’ De humani corporis fabrica libri septem, 1543, Quelle: Universitätsbibliothek Basel, AN I 15, S. 164. Abbildung 11: Frontale Darstellung des menschlichen Körpers in San cai tu hui von Wang Qi, Druckplatten im Jahr 1609, Überarbeitung und Abzug Qianlong (1735-1795), Quelle: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb 00060341/image_187 (30.06.2019). Abbildung 12: Darstellung der inneren Organe in Magnus Hundts Antropologium de hominis dignitate […], 1501, Quelle: https://www.nlm.nih.gov/ exhibition/historicalanatomies/Images/1200_pixels/hundt_p119.jpg (30. 06.2019). Abbildung 13: Darstellung der Eingeweide in Compendiosa Capitis phisici declaratio von Johannes Peyligk, 1516, Quelle: http://resolver.sub.uni goettingen.de/purl?PPN527399183 (30.06.2019). Abbildung 14: Seitenansicht des Körperinneren in Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt, Quelle: http://archive.wul.waseda.ac.jp/kosho/ ya09/ya09_00305/ya09_00305_0033/ya09_00305_0033_p0045.jpg (30. 06.2019). Abbildung 15: Tierkreiszeichenmann im Teutsch Kalender, ca. 1483, Quelle: Wellcome Collection, https://wellcomecollection.org/works/mzv5erae (30. 06.2019). Abbildung 16: Aderlassmann aus dem Manuskript 18.2 Aug. 40 der HerzogAugust-Bibliothek Wolfenbüttel, Quelle: http://diglib.hab.de/mss/18-2aug-4f/start.htm?image=00223 (30.06.2019). Abbildung 17: Aufgeschnittener Leichnam aus dem Ms. X 118 der Kungliga biblioteket Stockholm, ca. 1412, Quelle: Wellcome Collection, https:// wellcomecollection.org/works/bavr6kbf (30.06.2019). Abbildung 18: Darstellung der Fortpflanzungsorgane in Berengario da Carpis Commentaria […], 1521, Quelle: Wellcome Collection, https://wellcome collection.org/works/myafdh3j (30.06.2019). Abbildung 19: Darstellung eines zugleich sezierenden und sezierten Anatomen in Juan Valverde de Amuscos Anatomia del corpo humano, 1560, Quelle: https://www.nlm.nih.gov/exhibition/historicalanatomies/Images/ 1200_pixels/valverde_p108.jpg (30.06.2019).
Abbildungsverzeichnis | 305
Abbildung 20-22: Anatomische Klapptafeln von Heinrich Vogtherr, 1539, Quelle: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0000EF1200000000 (30.06.2019). Abbildung 23: Die anatomische Venus in La Specola, ca. 1780, Quelle: Mitchell, David Mark: Vividness without Vitality: The Specola Venus’s Intersecting Afterlives, in: Journal 18 3 (2017), verfügbar unter URL: http:// www.journal18.org/1478 (30.06.2019). Abbildung 24: Anatomische Demonstrationsszene aus Johannes de Kethams Fasiculo de medicina, 1494, Quelle: https://www.nlm.nih.gov/exhibition/ historicalanatomies/Images/1200_pixels/ketham_p64.jpg (30.06.2019). Abbildung 25: Das Frontispiz von Vesalius’ De corporis humani fabrica, 1543, Quelle: Universitätsbibliothek Basel, AN I 15, Titelblatt. Abbildung 26: Darstellung eines topografisch eingeteilten Gesichts in Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt, Quelle: http://archive.wul.wase da.ac.jp/kosho/ya09/ya09_00305/ya09_00305_0034/ya09_00305_0034_ p0014.jpg (30.06.2019). Abbildung 27-28: Vorder- und Rückansicht der Eingeweide von Yan-luo-zi, 1445, Quelle: Huang Shih-shan Susan: Picturing the True Form: Daoist Visual Culture in Traditional China, Cambridge 2012, S. 69. Abbildung 29-30: Kopie der Bilder von Yang Jie in Xuan men mai jue nei zhao tu, Yuan Dynastie, Quelle: Huang: Picturing the True Form, S. 74. Abbildung 31: Vorderansicht des Körperinneren in Zang fu zheng zhi tu shuo ren jing jing, 1608, Quelle: https://dl.wdl.org/4683_9_1.png (30.06.2019). Abbildung 32: Darstellung der Bauchhöhle in Andreas Vesalius’ De humani corporis fabrica libri septem, 1543, Quelle: Universitätsbibliothek Basel, AN I 15, S. 360. Abbildung 33: Darstellung einer geöffneten Leiche in Spiegel der Artzny von Lorenz Fries, 1518, Quelle: http://daten.digitale-sammlungen.de/0002/ bsb00025948/images/index.html?fip=193.174.98.30&id=00025948&seit e=18 (30.06.2019). Abbildung 34: Schädelzeichnung von Leonardo, 1489, Quelle: https://www. rct.uk/sites/default/files/collection-online/e/3/852993-1545392309.jpg (30.06.2019). Abbildung 35: Schädelzeichnung von Leonardo, 1489, Quelle: https://www. rct.uk/sites/default/files/collection-online/3/d/262841-1333033283.jpg (30.06.2019). Abbildung 36: Darstellung von Wirbeln im ersten Buch der Fabrica, 1543, Quelle: Universitätsbibliothek Basel, AN I 15, S. 77.
306 | Körper bilden
Abbildung 37-40: Darstellungen des sezierten Herzens in der Fabrica, 1543, Quelle: Universitätsbibliothek Basel, AN I 15, S. 561, 562, 563 und 567. Abbildung 41: Darstellung einer Arterie in Frederici Ruyschii Opera omnia anatomico-medico-chirurgica, 1737, Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg, Friedreich 362 RES::1, G 11b. Abbildung 42: Querschnittszeichnung des menschlichen Körpers in Wilhelm Braunes Topographisch-anatomischem Atlas, 1872, Quelle: https://www. nlm.nih.gov/exhibition/historicalanatomies/Images/1200_pixels/braune0 1a.jpg (30.06.2019). Abbildung 43: Darstellung der Lunge in Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt, Quelle: http://archive.wul.waseda.ac.jp/kosho/ya09/ya09_00 305/ya09_00305_0033/ya09_00305_0033_p0032.jpg (30.06.2019). Abbildung 44: Darstellung der Milz in Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt, Quelle: http://archive.wul.waseda.ac.jp/kosho/ya09/ya09_00 305/ya09_00305_0033/ya09_00305_0033_p0035.jpg (30.06.2019). Abbildung 45: Darstellung der Harnblase in Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt, Quelle: http://archive.wul.waseda.ac.jp/kosho/ya09/ya 09_00305/ya09_00305_0033/ya09_00305_0033_p0038.jpg (30.06.2019). Abbildung 46: Darstellung des Herzens und des Dünndarms in Zang fu zheng zhi tu shuo ren jing jing, 1608, Quelle: https://dl.wdl.org/4683_4_1.png (30.06.2019). Abbildung 47: Die Darstellung des nach rechts gebogenen Herzens in der Fabrica, 1543, Quelle: Universitätsbibliothek Basel, AN I 15, S. 564. Abbildung 48: Darstellung der inneren Organe aus Yi yin tang ye zhong jing guang wei da fa von Wang Hao-gu, Edo-Zeit, Quelle: https://www.digi tal.archives.go.jp/das/image-j/M2016091511303259045 (30.06.2019). Abbildung 49: Darstellung der inneren Organe aus San cai tu hui von Wang Qi, 1609, Quelle: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00060341/ima ge_252 (30.06.2019). Abbildung 50: Darstellung der inneren Verhältnisse in Yi yin tang ye zhong jing guang wei da fa von Wang Hao-gu, Edo-Zeit, Quelle: https://www.di gital.archives.go.jp/das/image-j/M2016091511303259045 (30.06.2019). Abbildung 51: Der Zeichner mit Fadengitter und quadriertem Papier aus Albrecht Dürers Underweysung der Messung, 1538, Quelle: https://www. metmuseum.org/art/collection/search/336657 (30.06.2019). Abbildung 52-53: Rekonstruktion der Zeichentechnik von Albinus nach Hendrik Punt, Quelle: Punt, Hendrik: Bernard Siegfried Albinus (1697-1770) und die anatomische Perfektion, in: Medizinhistorisches Journal 4 (1977), S. 333 und 334.
Abbildungsverzeichnis | 307
Abbildung 54-55: Mit Buchstaben als Erläuterungsschlüssel versehene Umrisszeichnung des menschlichen Skeletts sowie eine ausgeführte Darstellung mit Nashorn im Hintergrund aus Tabulae sceleti et musculorum corporis humani von Albinus, 1747, Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Rar 292 GF, unpaginiert. Abbildung 56-57: Darstellung einer sezierten Ganzfigur und eines Skeletts aus Tabulae Anatomicae von Bartolommeo Eustachi, 1722, Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg, 68 D 20 RES, Tabula 25 und Tabula 46. Abbildung 58: Die Seitenansicht des inneren Körpers aus Cang fu zhi zhang tu shu von Shi Pei, 1639, Quelle: Li Ding 李鼎: Cang fu zhi zhang tu; shi si jing he can ping zhu 藏府指掌圖; 十四經合參評注, Shanghai 2007, S. 15. Abbildung 59: Darstellung des oberen Rumpfes aus Yi yin tang ye zhong jing guang wei da fa von Wang Hao-gu, Edo-Zeit, Quelle: https://www.digi tal.archives.go.jp/das/image-j/M2016091511303259045 (30.06.2019). Abbildung 60: Das Bild der Vermessung und Lagen der Knochen in Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt, Quelle: http://archive.wul.wase da.ac.jp/kosho/ya09/ya09_00305/ya09_00305_0033/ya09_00305_0033_ p0004.jpg (30.06.2019). Abbildung 61: Seitenansicht der Rippen aus Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt, Quelle: http://archive.wul.waseda.ac.jp/kosho/ya09/ya0 9_00305/ya09_00305_0033/ya09_00305_0033_p0029.jpg (30.06.2019). Abbildung 62: Seitenansicht des Beines aus Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin, Jahr unbekannt, Quelle: http://archive.wul.waseda.ac.jp/kosho/ya09/ya0 9_00305/ya09_00305_0033/ya09_00305_0033_p0031.jpg (30.06.2019). Abbildung 63: Detail aus der anatomischen Tafel von Crisóstomo Martínez, ca. 1680-1694, Quelle: https://www.metmuseum.org/art/collection/sear ch/743034 (30.06.2019). Abbildung 64: Detailansicht der Abb. 62, Quelle: http://archive.wul.waseda. ac.jp/kosho/ya09/ya09_00305/ya09_00305_0033/ya09_00305_0033_p00 31.jpg (30.06.2019). Abbildung 65: Darstellung der Wirbelsäule aus der Fabrica, 1543, Quelle: Universitätsbibliothek Basel, AN I 15, S. 57. Abbildung 66: Das Bild des gesamten Rückens aus Lei jing tu yi, Jahr unbekannt, Quelle: http://archive.wul.waseda.ac.jp/kosho/ya09/ya09_00305/ ya09_00305_0033/ya09_00305_0033_p0031.jpg (30.06.2019). Abbildung 67: Icon Sinensis aus der Dissertatio de Arthritide von Willem ten Rhijne, 1683, Quelle: Wellcome Collection, https://wellcomecollection. org/works/uffnqtje (30.06.2019).
308 | Körper bilden
Abbildung 68: Effigies Sinica aus der Dissertatio de Arthritide von Willem ten Rhijne, 1683, Quelle: Wellcome Collection, https://wellcomecollection. org/works/vnwxeuh7 (30.06.2019). Abbildung 69: Nadel und Akupunkturpunkte in einer Darstellung aus Engelbert Kaempfers Geschichte und Beschreibung von Japan, 1779, Quelle: http://www.deutschestextarchiv.de/kaempfer_japan02_1779/485 (30.06.2019). Abbildung 70: Der Moxa-Spiegel aus Engelbert Kaempfers Geschichte und Beschreibung von Japan, 1779, Quelle: http://www.deutschestextarchiv. de/kaempfer_japan02_1779/497 (30.06.2019). Abbildung 71: Darstellung einer Akupunkturfigur in Specimen Medicinae Sinicae, 1682, Quelle: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8623308c/f2 41.image (30.06.2019). Abbildung 72: Darstellung der Leitbahn aus Zhong xi hui tong yi jing jing yi von Tang Zong-hai, 1892, Quelle: Tang Zong-Hai 唐宗海: Zhong xi hui tong yi jing jing yi 中西匯通醫經精義, shang juan 上卷, 1892, S. 74. Abbildung 73: Der »Arterienmann« in der Fabrica, 1543, Quelle: Universitätsbibliothek Basel, AN I 15, S. 295. Abbildung 74: Darstellung der Herz-Leitbahnen mit allen ihren Akupunkturpunkten in San cai tu hui von Wang Qi, 1609, Quelle: http://daten.digitale sammlungen.de/bsb00060341/image_61 (30.06.2019). Abbildung 75-77: Drei Darstellungen – Venenfigur, Arterienfigur und Nervenfigur – in Liber de corporis humani fabrica, spätes 13. Jahrhundert, Quelle: Klemm, Tanja: Bildphysiologie: Wahrnehmung und Körper in Mittelalter und Renaissance, Berlin 2013, S. 97, 98 und 100. Abbildung 78-79: Venen- und Nervenfigur in der Fabrica, 1543, Quelle: Universitätsbibliothek Basel, AN I 15, S. 268 und 232 [sic!]. Abbildung 80: Darstellung der »Leber-Leitbahnen« in Yu cuan yi zong jin jian, 1739, Quelle: http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL:27664964?n=31 (30.05. 2019). Abbildung 81: Darstellung einer sezierten Figur in Anatomiae Universae von Paolo Mascagni, 1823, Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg, P 1017 Gross RES::Tafeln;;SK, Stratum primum adversa Tabula 1. Abbildung 82: Die Darstellung der »Fuß-Klein-Yin-Nieren-Leitbahnen« in Lei jing tu yi von Zhang Jie-bin 張介賓, Jahr unbekannt, Quelle: http://ar chive.wul.waseda.ac.jp/kosho/ya09/ya09_00305/ya09_00305_0033/ya09 _00305_0033_p0039.jpg (30.06.2019). Abbildung 83: Detailansicht der Abb. 78., Quelle: Universitätsbibliothek Basel, AN I 15, S. 268.
Abbildungsverzeichnis | 309
Abbildung 84: Detailansicht der Abb. 82, Quelle: http://archive.wul.waseda. ac.jp/kosho/ya09/ya09_00305/ya09_00305_0033/ya09_00305_0033_p00 39.jpg (30.06.2019). Abbildung 85: Pulskurven in La Méthode graphique dans les sciences expérimentales von Étienne-Jules Marey, 1878, Quelle: http://gallica.bnf.fr/ark:/ 12148/bpt6k6211376f/f316.image (30.06.2019). Abbildung 86: Pulsdarstellungen in San cai tu hui von Wang Qi, 1609, Quelle: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00060342/image_13(30.06.2019). Abbildung 87-88: Mareys neue Konstruktion des Sphygmographen und die Verbindung von Schreibhebel und Pelotte in Mareys neuem Sphygmographen, 1891, Quelle: Langendorff, Oskar: Physiologische Graphik: Ein Leitfaden der in der Physiologie gebräuchlichen Registrirmethoden, Leipzig [u.a.] 1891, S. 225. Abbildung 89: Eine Pulskurve, die unregelmäßige Bewegungen aufweist, in La Méthode graphique von Marey, 1878, Quelle: http://gallica.bnf.fr/ark:/ 12148/bpt6k6211376f/f198.image (30.06.2019). Abbildung 90: »Normale Pulskurve« im Atlas der klinischen Untersuchungsmethoden von Christfried Jakob, 1897, Quelle: https://archive.org/stream/ atlasderklinisch00jako#page/68/mode/2up (30.06.2019). Abbildung 91: »Pulsus parvus, irregularis« im Atlas der klinischen Untersuchungsmethoden von Christfried Jakob, 1897, Quelle: https://archive.org/ stream/atlasderklinisch00jako#page/70/mode/2up (30.06.2019). Abbildung 92-93: »Pulsus celer« und »Pulsus tardus« im Atlas der klinischen Untersuchungsmethoden von Christfried Jakob, 1897, Quelle: https://ar chive.org/stream/atlasderklinisch00jako#page/72/mode/2up (30.06.2019). Abbildung 94: Der schnittlauch[ähnliche] Puls (kou mai 芤脈) in Tu zhu wang shu he mai jue, 1522-1566, Quelle: Wang Shu-he 王叔和; Zhang Shi-xian 張世賢[Hrsg.]: Tu zhu wang shu he mai jue 圖註王叔和脈訣, juan 3, 1522-1566, S. 8. Abbildung 95: Der schnittlauch[ähnliche] Puls (kou mai 芤脈) in Cha bing zhi nan, 1644, Quelle: http://dl.ndl.go.jp/info:ndljp/pid/2535939 (30.06.2019). Abbildung 96: Der glatte Puls (hau mai 滑脈) in Tu zhu wang shu he mai jue, 1522-1566, Quelle: Wang Shu-he: Tu zhu wang shu he mai jue, juan 3, S. 9. Abbildung 97: Der glatte Puls (hau mai 滑脈) in Cha bing zhi nan, 1644, Quelle: http://dl.ndl.go.jp/info:ndljp/pid/2535939 (30.06.2019). Abbildung 98: Der saiten[ähnliche] Puls (xian mai 弦脈) in Cha bing zhi nan, 1644, Quelle: http://dl.ndl.go.jp/info:ndljp/pid/2535939 (30.06.2019).
310 | Körper bilden
Abbildung 99: Der straffe Puls (jin mai 緊脈) in Cha bing zhi nan, 1644, Quelle: http://dl.ndl.go.jp/info:ndljp/pid/2535939 (30.06.2019). Abbildung 100: Der von Sigmund Theodor Stein gebaute Photosphygmograph in Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung, 1885, Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Rar 2465, S. 335. Abbildung 101: Darstellung der Arterienröhre in Pulsus seu nova et arcana pulsuum historia von Robert Fludd, 1631, Quelle: http://digital.slub-dres den.de/werkansicht/dlf/9523/39/0/ (30.06.2019). Abbildung 102: Darstellung der verschiedenen Pulse in Essai sur le Pouls von Henri Fouquet, 1818, Quelle: Fouquet, Henri: Essai sur le pouls, par rapport aux affections des principaux organes: ouvrage augm. d'un Abrégé de la doctrine et de la pratique de Solano […] et d'une Dissertation sur la théorie du pouls […], Montpellier 1818, unpaginiert (Fotografiert vom Verfasser). Abbildung 103-104: Der blinde Seher und das Modell des Sehens mit zwei Augen in Discours de la méthode von René Descartes, 1637, Quelle: Descartes, René: Entwurf der Methode. Mit der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie. Übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers, Hamburg 2013, S. 114 und 109. Abbildung 105: Der raue Puls (se mai 濇脈) in Cha bing zhi nan, 1644, Quelle: http://dl.ndl.go.jp/info:ndljp/pid/2535939 (30.06.2019). Abbildung 106: Der schwebende Puls (fu mai 浮脈) in Cha bing zhi nan, 1644, Quelle: http://dl.ndl.go.jp/info:ndljp/pid/2535939 (30.06.2019). Abbildung 107: Der schnelle Puls (shuo mai 數脈) in Cha bing zhi nan, 1644, Quelle: http://dl.ndl.go.jp/info:ndljp/pid/2535939 (30.06.2019). Abbildung 108: Der der Fortbewegung der Garnele [ähnliche] Puls (xia you mai 蝦遊脈) in Cha bing zhi nan, 1644, Quelle: http://dl.ndl.go.jp/info: ndljp/pid/2535939 (30.06.2019). Abbildung 109: Der einem kochenden Topf [ähnliche] Puls (fu fei mai 釜沸 脈) in Cha bing zhi nan, 1644, Quelle: http://dl.ndl.go.jp/info:ndljp/pid/ 2535939 (30.06.2019). Abbildung 110: Darstellungen des »schnittlauch[ähnlichen] Pulses« (kou mai 芤脈) in Specimen Medicinae Sinicae, 1682, Quelle: http://gallica.bnf.fr/ ark:/12148/btv1b8623308c/f31.image (30.06.2019). Abbildung 111: Musikalische Pulsdarstellung von Josephus Struthius in Artis sphygmicae seu pulsuum doctrinae liber primus, 1602, Quelle: Universitätsbibliothek Basel, Ld XI 10, S. 23.
Abbildungsverzeichnis | 311
Abbildung 112: Darstellung des normalen Pulses von Samuel Hafenreffer, 1641, Quelle: Wellcome Collection, https://wellcomecollection.org/ works/zhdhmczy (30.06.2019). Abbildung 113: Darstellung des aussetzenden Pulses von Samuel Hafenreffer, 1641, Quelle: Wellcome Collection, https://wellcomecollection.org/ works/u647fte9 (30.06.2019). Abbildung 114-115: Darstellung des normalen Pulses und der verschiedenen Pulstypen in Nouvelle Méthode facile et curieuse pour apprendre par les notes de musique à connaître le Pouls de l’Homme […] von François Nicolas Marquet, 1769, Quelle: https://archive.org/stream/nouvellemthode 00marq#page/202/mode/2up und https://archive.org/stream/nouvelle mthode00marq#page/n225/mode/2up (30.06.2019). Abbildung 116: Notationssystem mit abgekürzten Zeichen (jian zi pu 減字譜) aus der Geheimnotation göttlicher Besonderheiten (Shen qi mi pu 神奇秘 譜), 1425, Quelle: Zhu Quan 朱權 [Hrsg.]: Shen qi mi pu 神奇秘譜, in: Zhong guo yi shu yan jiu yuan yin le yan jiu suo. Beijing gu qin yan jiu hui 中國藝術研究院音樂研究所 北京古琴研究會 [Hrsg.]: Qin qu ji cheng 琴曲集成, Bd. 1, Beijung 2010, S. 110. Abbildung 117: Illustrationen für die Fingertechnik namens »fan 泛« in Die mysteriöse Musik des Uraltertums (Tai gu yi yin 太古遺音), Ming-Dynastie (1368-1644), Quelle: http://rbook2.ncl.edu.tw/Search/SearchDetail? item=d8d06aa76b374551a7359c37b860665efDc1MjQ50&image=1&pag e=&whereString=&sourceWhereString=&SourceID=# (30.06.2019). Abbildung 118: Illustrationen für die Fingertechnik namens »gui 跪« in Die mysteriöse Musik des Uraltertums (Tai gu yi yin 太古遺音), Ming-Dynastie (1368-1644), Quelle: http://rbook2.ncl.edu.tw/Search/SearchDetail? item=d8d06aa76b374551a7359c37b860665efDc1MjQ50&image=1&pag e=&whereString=&sourceWhereString=&SourceID=# (30.06.2019).
Danksagung
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um meine Dissertation, die im Juli 2018 dem Fachbereich Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin vorgelegt und im April 2019 verteidigt wurde. Mein Dank gilt dem Exzellenz-Cluster »Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor« sowie der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin für den großzügigen Druckkostenzuschuss. Diese Arbeit wäre nicht entstanden ohne die enorme Unterstützung und das große Vertrauen von Wolfgang Schäffner und Claudia Blümle. Ebenso danke ich Tobias Cheung, Ann-Cathrin Drews, Maria Keil, Graziele Lautenschlaeger, Petra Löffler, Martin Müller, Ekaterina Tewes und Christina Vagt für ihre Anregungen und Ermutigungen. Maximilian Gilleßen danke ich für das sorgfältige Lektorat. Mein besonderer Dank gilt Holger Brohm, der mich während meines gesamten Studiums begleitete und mich in Aby Warburgs Bildtheorie und das Denken Walter Benjamins einführte. Ferner bin ich ChiehTing Hsieh zu Dank verpflichtet, der meine Arbeit nicht nur ausführlich kommentierte, sondern auch immer bereit war, äußerst gewinnbringende Gespräche mit mir zu führen. Die vorliegende Arbeit ist meinen Eltern gewidmet.
Kunst- und Bildwissenschaft Artur R. Boelderl, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)
»Die Zukunft gehört den Phantomen« Kunst und Politik nach Derrida 2018, 430 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4222-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4222-7
Chris Goldie, Darcy White (eds.)
Northern Light Landscape, Photography and Evocations of the North
2018, 174 p., hardcover, numerous ill. 79,99 € (DE), 978-3-8376-3975-9 E-Book: 79,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3975-3
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Kunst- und Bildwissenschaft Julia Mia Stirnemann
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