Theorie des sozialen Handelns 9783110848922, 9783110135237


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German Pages 186 [188] Year 1992

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Table of contents :
Einleitung
1. Einführung
1.1 Handeln als Grundlage der menschlichen Welt
1.2 Handlungstheorie als Grundlage der Sozialwissenschaften
1.3 Zur phänomenologischen Grundlegung der Handlungstheorie
2. Handeln als Wirklichkeitsveränderung und als Bewußtseinsleistung
2.1 Erleiden und Tun
2.2 Erleben, Erfahren, Handeln
3. Das Verstehen von Handlungen
3.1 Gesellschaftliche Verantwortungszuschreibung
3.2 Handeln und Verhalten
4. Handeln in der Welt und in die Welt
4.1 Denken und Wirken
4.2 Arbeit
5. Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen
5.1 Die Zeitstruktur des Handelns
5.2 Der Entwurf und die Wahl
6. Der Handlungsvollzug
6.1 Vom Entwurf zum Handeln: Der Entschluß
6.2 Handlungsverläufe
7. Handeln und Gesellschaft I: Die gesellschaftliche Bedingtheit des Handelns
7.1 Die gesellschaftliche Bestimmtheit des handelnden Menschen
7.2 Die gesellschaftliche Bedingtheit der Wahl
8. Handeln und Gesellschaft II: Die Grundstruktur gesellschaftlichen Handelns
8.1 Der subjektive Sinn gesellschaftlichen Handelns
8.2 Die Hauptformen gesellschaftlichen Handelns
9. Handeln und Gesellschaft III: Institutionalisierung gesellschaftlichen Handelns
9.1 Einführung: Zur Problemgeschichte
9.2 Voraussetzungen der Institutionalisierung
9.3 Erwartungszwang und Handlungsverpflichtung
9.4 Funktionen institutionalisierten Handelns
10. Handeln und Gesellschaft IV: Historische Institutionen
10.1 Tradierung von Problemlösungen über die Generationen
10.2 Legitimierung von Problemlösungen
10.3 Sanktionierung von Problemlösungen
Literaturhinweise
Glossar
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Theorie des sozialen Handelns
 9783110848922, 9783110135237

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Grundzüge der Soziologie" „Grundzüge der Soziologie" schließt an eine bereits bestehende Tradition innerhalb der Sammlung Göschen an. In dieser Tradition geht es darum, theoretische Konzeptionen, wichtige Teilbereiche und Grundlagendiskussionen in Form von einzelnen Werken vorzustellen. Dabei werden zwei Zielrichtungen verfolgt: (1) Die Texte sollen thematisch und konzeptionell in sich geschlossen sein; (2) sie sollen auf theoretisch anspruchsvollem Niveau auch fachfremden Lesern eine Einführung in soziologisches Denken vermitteln. „Grundzüge der Soziologie" greift damit wieder auf, was die Klassiker der Disziplin für ihre selbstverständliche Aufgabe hielten: das Fach, seine Fragen, Probleme und Schwerpunkte so darzustellen, daß diejenigen, von denen in der Soziologie die Rede ist, die Gesellschaftsmitglieder, sich und die Gesellschaften, in denen sie leben, wiedererkennen und — in „außeralltäglicher" Einstellung — verstehen können. „Grundzüge der Soziologie" stellt die theoretischen Horizonte vor, innerhalb derer sich eine empirisch orientierte, „Materiale Soziologie" vollziehen muß. Die Herausgeber Jörg R. Bergmann, Gießen Thomas Luckmann, Konstanz Hans-Georg Soeffner, Hagen

Theorie des sozialen Handelns von

Thomas Luckmann

W G DE

1992 Walter de Gruyter · Berlin · New York

S A M M L U N G GÖSCHEN 2108 Thomas Luckmann, Ph. D., Professor für Soziologie, Sozialwissenschaftliche Fakultät, Fachgruppe Soziologie, Universität Konstanz

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Luckmann, Thomas: Theorie des sozialen Handelns / von Thomas Luckmann. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 (Sammlung Göschen ; 2108) ISBN 3-11-013523-X NE: GT

© Copyright 1992 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Datenkonvertierung durch Knipp Satz und Bild digital, Dortmund Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz und Bauer, Berlin

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1

1. 1.1 1.2

3 3

Einführung Handeln als Grundlage der menschlichen Welt . . . Handlungstheorie als Grundlage der Sozialwissenschaften Zur phänomenologischen Grundlegung der Handlungstheorie

16

2.1 2.2

Handeln als Wirklichkeitsveränderung und als Bewußtseinsleistung Erleiden und Tun Erleben, Erfahren, Handeln

26 26 28

3. 3.1 3.2

Das Verstehen von Handlungen Gesellschaftliche Verantwortungszuschreibung . . . Handeln und Verhalten

34 34 38

4. 4.1 4.2

Handeln in der Welt und in die Welt Denken und Wirken Arbeit

40 40 44

5. 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3

Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen Die Zeitstruktur des Handelns Die Zeitperspektive des Entwurfs Die Zeitperspektive des Handlungsvollzugs „Um-Zu"-und „Weil"-Motive Der Entwurf und die Wahl Phantasie und Wirklichkeit Das Entwerfen des Entwurfs Die zweifelhafte Zukunft: Interessen und Einstellungen Die Wahl zwischen Entwürfen

48 48 48 52 56 59 59 63

1.3

2.

5.2.4

6

67 70

VI

6. 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3

7. 7.1 7.2 8. 8.1 8.1.1 8.1.2 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 9. 9.1 9.2 9.2.1

9.2.2 9.3 9.4 9.4.1 9.4.2

Inhaltsverzeichnis

Der Handlungsvollzug Vom Entwurf zum Handeln: Der Entschluß Handlungsverläufe Anfang und Ende Umwege und Unterbrechungen Veränderungen im Vollzug: Andere Mittel, andere Ziele

75 75 80 80 84 89

Handeln und Gesellschaft I: Die gesellschaftliche Bedingtheit des Handelns Die gesellschaftliche Bestimmtheit des handelnden Menschen Die gesellschaftliche Bedingtheit der Wahl

93 96

Handeln und Gesellschaft II: Die Grundstruktur gesellschaftlichen Handelns Der subjektive Sinn gesellschaftlichen Handelns . . Die gesellschaftliche Verflechtung des Entwurfs . . Die gesellschaftliche Verflechtung des Vollzugs . . Die Hauptformen gesellschaftlichen H a n d e l n s . . . . Einseitig unmittelbares Handeln Wechselseitig unmittelbares Handeln Wechselseitig mittelbares Handeln Einseitig mittelbares Handeln

103 103 103 109 110 110 113 119 122

Handeln und Gesellschaft III: Institutionalisierung gesellschaftlichen Handelns Einführung: Zur Problemgeschichte Voraussetzungen der Institutionalisierung Routinisierung gesellschaftlichen Handelns: wechselseitige Abstimmung gewohnheitsmäßigen Handelns Erfolgreich erwartete Regelmäßigkeiten gesellschaftlichen Handelns: Soziale Beziehungen Erwartungszwang und Handlungsverpflichtung . . . Funktionen institutionalisierten Handelns Die Grundfunktion: Gemeinsame Regelung von Lebensproblemen (Arbeit, Geschlecht, Macht) Die Zweitfunktion: Entlastung

93

125 125 131

131 135 140 148 148 155

Inhaltsverzeichnis 10. 10.1 10.2 10.3

Handeln und Gesellschaft IV: Historische Institutionen Tradierung von Problemlösungen über die Generationen Legitimierung von Problemlösungen Sanktionierung von Problemlösungen

Literaturhinweise Glossar

VII

160 160 162 165 169 172

Einleitung

Jene Wissenschaften, die menschliches Handeln deuten und erklären wollen, müssen mit einer Beschreibung der für uns Menschen selbstverständlichen Wirklichkeit des Alltags beginnen. Sie ist die Wirklichkeit, an der der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. Sie ist die Wirklichkeit, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr handelt. Zugleich beschränken die in diesem Bereich vorfindlichen Gegenständlichkeiten und Ereignisse, einschließlich des Handelns und der Handlungsergebnisse anderer Menschen, seine freien Handlungsmöglichkeiten. Der Mensch kann sich nur innerhalb dieses Bereiches mit seinen Mitmenschen verständigen, und nur in ihm kann er mit ihnen zusammenwirken. Mit der Beschreibung ist es jedoch nicht getan. Auch die Sozialwissenschaften wollen „erklären". Die Bildung erklärender Theorien hat in dieser Disziplin vor allem zwei Wege beschritten. In Ansätzen, in denen Gesellschaft sozusagen vergegenständlicht als „Organismus" bzw. neuerdings als „System" aufgefaßt und Geschichte schlicht als das letzte Kapitel der Evolution verstanden wird, gelten menschliches Handeln und die alltagsweltliche Innensicht der Wirklichkeit, an der sich menschliches Handeln in seinem subjektiven Sinn ausrichtet, als Epiphänomene, als Schaum auf den tiefen Gewässern der „System"- Wirklichkeit. Als wirklichkeitsschaffendes Geschehen kann individuelles Handeln diesen Ansichten nach vernachlässigt werden. Außer in diesem Ansatz bilden Handlungstheorie und Institutionenlehre die Eckpfeiler der Gesellschaftstheorie, und gesellschaftliches Handeln und gesellschaftliche Institutionen werden als Bausteine historischer Gesellschaftsordnungen verstanden. Dies gilt im großen und ganzen, bis auf die erwähnte Ausnahme der Systemtheorie, für ansonsten recht unterschiedliche Versionen der Gesellschaftstheorie und nicht nur für jene, die radikal reduktionistisch sind. In der Sozial- und Kulturanthropologie prägt sich diese Position seit BRONISLAW MALINOWSKI (und eigentlich

2

Einleitung

s c h o n seit WILHELM W U N D T u n d s o g a r WILHELM VON HUMBOLD)

sehr deutlich aus, und auch in der Soziologie findet seit EMILE DURKHEIM u n d MAX WEBER ( u n d GEORG SIMMEL u n d GEORGE

HERBERT MEAD) eine ähnliche Entwicklung statt. Bei DURKHEIM

findet man übrigens (in einer entfernten Nachbarschaft zu MAURICE HAURIOUS Rechtstheorie der Institution) zwar die Grundzüge einer Institutibnentheorié,'aber keine eigentliche Handlungstfieprie, während MÀx WEBER zwar seine Analysen von Wirtschaft und Gesellschaft auf das Fundament einer Handlungstheorie setzt; aber keine eigentliche Institutionenlehre entwickelt - obwohl verschiedene Elemente einer solchen Theorie in seinen Ausführungen zu sozialen Beziehungen, zu Brauch und Sitte, zur Veralltäglichung von Charisma, Legitimation von Herrschaft, Forniaiibii von „Stäben" und '„Zwangsapparaten" usw. vorhanden sind. . • Jedenfalls wird heute in verschiedenen sozialwissenschäftlichen Ansätzen angenommen, daß Handlungstheorie und Institutionenlehre 2um Fundament einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft gehören, und daß sie mit theoretischer Notwendigkeit aufeinander bezogen sind. Man kann sich diese Beziehungen recht einfach vorstellen: Institutionen „entstehen" im Handeln, und einmal entstanden, „steuern" sie Handeln ihrerseits vermittels verinnerlichter Normen und äußerer Zwänge. Daher soll im folgenden zuerst Handeln als eine alltägliche Leistung beschrieben werden, zu der wir alle - alle Menschen zu allen Zeiten - schlecht und recht fähig sind; es soll dann aber auch das „Entstehen" von Gesellschaft durch Handeln analysiert werden, wobei „Gesellschaft" verstanden wird als ein Lebenszusammenhang von Institutionen.1

1

Der folgenden Abhandlung liegt ein vierteiliger Kurs zugrunde, den ich 1986 für die Fernuniversität Hagen geschrieben habe. Für die Überarbeitung, Fertigstellung und Korrektur des Manuskripts bedanke ich mich bei Margarethe Kusenbach, Peter Vuk und Thomas Willmann.

1.

Einführung

Warum ist Handeln unter all den Bestandteilen menschlichen Lebens besonders beachtenswert? Und ist es überhaupt beachtenswert? Wieso ist die systematische Beschäftigung mit dem Handeln grundlegend für die Wissenschaften vom Menschen? Und wie gewinnt man einen methodisch abgesicherten Zugang zum Verständnis des Handelns? Ist eine solche Absicherung überhaupt möglich? In den folgenden drei Teilen unserer Einführung wollen wir uns um Antworten auf diese Fragen bemühen.

1.1

Handeln als Grundlage der menschlichen Welt

Nicht alles im menschlichen Leben ist Handeln. Man handelt nicht, wenn man schläft, man handelt auch nicht, wenn man träumt (obwohl man natürlich träumen kann, daß man handelt). Oft döst man halbwach vor sich hin, manchmal liefert man sich auch im vollwachen Zustand dem Strom der Erfahrungen aus, ohne tätig zu werden. Aber vieles im menschlichen Leben, das Wichtigste in ihm, ist Handeln. Jeder Tag in unserem Leben besteht vom Aufstehen bis zum Schlafengehen aus einer Fülle unterschiedlicher Handlungen. Noch bevor man morgens die Wohnung verlassen hat, noch bevor der Tag richtig angefangen hat, hat man schon unzählige Handlungen verrichtet; man hat den Wecker ausgestellt, Kaffee aufgesetzt, hat sich die Zähne geputzt, auf die Uhr geschaut, den Schlüssel eingesteckt ... also gehandelt, gehandelt, gehandelt. Mit anderen Worten: der Alltag ist der Bereich des praktischen Handelns, der Praxis. Neben diesen kleinen Handlungen gibt es im menschlichen Leben auch „große" Handlungen, die für den Handelnden und unter Umständen - für seine Mitmenschen von größerer Bedeutung sind als Zähneputzen und Kaffeekochen. Einen hohen Berg besteigt man nicht alle Tage, man heiratet nicht leichthin,

4

1. Einführung

tritt nicht nebenbei in eine Klostergemeinschaft ein oder versucht nicht nur, weil man nichts Besseres zu tun hat, einen Diktator umzubringen. Nicht alle „großen" Handlungen machen Geschichte, aber manche tun es, und durch besondere Verkettungen von Umständen mag sogar eine kleine Handlung geschichtsträchtig werden. Jedenfalls beruht der wichtigste Teil des menschlichen Daseins auf Handlungen. Handelten sie nicht, könnten Menschen weder als Einzelwesen bestehen, noch als Gattung überleben. Handeln macht nicht immer Geschichte, aber es „macht" Gesellschaft. Handeln ist Produktion, Reproduktion und Kommunikation, Handeln schafft Macht und Handeln widersteht Macht. Zweifelsohne ist Handeln die Grundform des gesellschaftlichen Daseins des Menschen. Wir leben mit und unter anderen Menschen, wir handeln für und gegen andere. Auch wenn wir allein sind, beziehen wir andere in unsere Handlungen mit ein. Gesellschaft ist und war immer - von den Anfängen der Menschheit bis zum heutigen Tag - ein konkreter Handlungszusammenhang von Mitmenschen. Aber das allein wäre ein zu einfaches Verständnis von Gesellschaft. Hinter dem konkreten Handlungszusammenhang, in dem wir mit unseren Mitmenschen stehen, gibt es Leute, von denen wir wenig oder nichts wissen, deren Handeln aber auf unser Leben Einfluß genommen hat oder noch nimmt. Nicht nur die Handlungen bekannter und unbekannter Zeitgenossen, sondern auch die Taten und Untaten langer Ketten von Vorfahren haben die Welt zu dem gemacht, was sie jetzt für uns ist. Früher hat man sich die Gesellschaft als göttliche Ordnung oder als unabänderliche Natur vorgestellt. Heute, mehr als zwei Jahrhunderte nach der Blütezeit der Aufklärung, können wir uns Gesellschaft kaum noch als ewig wiederkehrende Natur oder als unmittelbare Schöpfung denken. Wir verstehen sie heute als Ergebnis einer Vielzahl unterschiedlicher Handlungen, als Produkt einer Folge vergangener Handlungen, die in gegenwärtige, ihrem Typ nach sich wiederholende, zum Teil aber auch neuartige Handlungen übergehen. Die Rede vom „Produkt" soll aber nicht den falschen Eindruck erwecken, als stehe hinter der Gesellschaft eine Kollektivperson (ein Volk, eine Nation, eine soziale Klasse), die nach einem Plan etwas erzeugt. Gesellschaften sind vielmehr das zusammengesetzte Ergebnis vieler Handlungen vieler Handelnder.

1.1 Handeln: Grundlage der menschlichen Welt

5

Manche dieser Ergebnisse mögen auch tatsächlich fest umrissene, für den Charakter einer Gesellschaft bedeutsame Ziele verwirklicht haben. Denken wir hier z.B. an Gesetze und Staatsverfassungen - obwohl auch diese gewiß nur von manchen Handelnden so und nicht anders gewollt waren, während wiederum andere Handelnde sich abweichende Ziele gesetzt haben mögen, ohne mit ihnen zum Erfolg gelangt zu sein. Aber viele zusammengesetzte Handlungsergebnisse waren weder als solche gewollt noch überhaupt vorhergesehen. Die Folgen der Französischen Revolution oder der „Ausbruch" des Ersten Weltkrieges können hier als Beispiel dienen. Obschon ungewollt waren sie dennoch Ergebnisse von Handlungen, mit denen die Handelnden zumindest etwas gewollt hatten. Auch die unbeabsichtigten Konsequenzen können, nachträglich zumindest, als Folgen von Handlungen verständlich gemacht werden. In unserem heutigen Vorstellungskreis hat „Gesellschaft" das Erbe von Gott und Natur angetreten. Ebenso wie wir Gesellschaft als „Produkt" des vergangenen Handelns ansehen, ist - in einem gewissen Sinn - auch das Handeln zum „Produkt" der Gesellschaft geworden, die es ermöglicht und erzeugt. Aber auch hier kann die Rede vom „Produkt" mißverständlich sein. 2 Menschen sind keine vorprogrammierten Roboter, sie verhalten sich nicht bloß, sie reagieren nicht schlicht auf vorgegebene Reize. Sie folgen den Regeln einer gesellschaftlichen Ordnung - oder sie brechen diese. Ihrem Handeln sind natürliche und soziale Grenzen gesetzt und es ist zudem in Zufälligkeiten eingebettet. Wenn menschliches Handeln voraussagbar ist, dann nur, weil wir unter typischen Bedingungen typische Entscheidungen treffen. Handeln setzt die Möglichkeit der Wahl voraus, ein Umstand, mit dem wir uns noch eingehender zu beschäftigen haben. 3 Das Gebiet des Handelns ist also von einem gesellschaftlichen „Zaun" umgeben, trotzdem wird es vom einzelnen (von seinem Willen, seinen Interessen, mit seinem Wissen) gestaltet. Auch auf den gerade verwendeten, aber nicht weiter erläuterten Begriff der „Regeln einer gesellschaftlichen Ordnung" werden wir zurückkommen müssen. Einer Regel folgen heißt, sich für eine 2 3

Vgl. Kapitel 7.1. Vgl. Kapitel 5.2.

6

1. Einführung

Vorentscheidung zu entscheiden. Das - und wie es zu diesen Vorentscheidungen kommt - sind Fragen einer Theorie der Institutionen und der Institutionalisierung des Handelns.4

1.2

Handlungstheorie als Grundlage der Sozialwissenschaften

Ameisenhaufen sind zum sprichwörtlichen Symbol für ein großes Durcheinander geworden. Wenn man sie aber näher betrachtet, bemerkt man gewisse Regelmäßigkeiten im Verhalten der kleinen Tiere. Man weiß, daß durch andauernde systematische Beobachtungen von Ameisenhaufen, Termitenhügeln und Bienenstöcken die Strukturen recht komplizierter Insektengesellschaften entdeckt werden konnten. Man weiß auch, daß die modernen Naturwissenschaften die Entstehung und das Wirken solcher „geschichtslosen" Gesellschaften zu erklären vermögen, ohne auf Begriffe wie „kollektive Seele" oder ähnliches, aber auch ohne auf die Annahme zielgerichteten Verhaltens der Einzelorganismen zurückgreifen zu müssen. Es genügen ihnen dazu die Erklärungsmodelle und Grundannahmen der neodarwinistischen Evolutionstheorie. Es wird heute kaum noch jemand bezweifeln, daß diese Modelle und Annahmen auch für die Naturgeschichte der menschlichen Gattung und die Entwicklung sowohl des menschlichen Körpers, der Grundstrukturen des menschlichen Bewußtseins und der Grundformen menschlicher sozialer Organisation ihre erklärende Gültigkeit und Nützlichkeit behalten. Kein Zweifel also, daß man der (ansatzweise ja auch schon bei den Primaten vorhandenen) Fähigkeit zu handeln - der Fähigkeit, sich an zukünftigen Zielen zu orientieren - in der Stammesgeschichte nachzugehen hat. Die (selbstverständlich nicht vollständige) Freisetzung unserer Gattung vom instinktgesteuerten Verhalten ist schließlich das Ergebnis eines vielschichtigen evolutionären Vorgangs; sie kann nicht die Folge geschichtlicher Ereignisse sein, da für diese die Fähigkeit zu handeln, die Geschichte „macht", überhaupt erst vorausgesetzt werden muß. Aber menschliche Gesellschaften sind ge4

Das wird uns in Kapitel 9 beschäftigen.

1.2 Handlungstheorie: Grundlage der Sozialwissenschaft

7

schichtliche Gegebenheiten, wie unverkennbar sie auch in einen naturgeschichtlichen Bedingungsrahmen eingebettet sind. Zum Verständnis menschlicher Gesellschaften reichen daher naturgeschichtliche Annahmen nicht aus. Evolutionstheoretische Erklärungsmodelle gehen an dem eigentlichen Erkenntnisinteresse, das wir än menschlichen Gesellschaften haben, einfach vorbei. Die fast in jeder Wissenschaftsgeneration neu aufflackernden Hoffnungen einiger Sozialwissenschaftler, die Gesellschaftswissenschaft auf die Methoden und Gesetze der Naturwissenschaft reduzieren zu können, werden ebenso regelmäßig wieder enttäuscht. Es geht also in einer Handlungstheorie nicht darum, der Entstehung der Handlungsfähigkeit nachzugehen; sie ist keine „Handlungsgeschichte". Zum Verständnis menschlicher Gesellschaften als Ergebnisse langer Ketten von geschichtlichen Ereignissen, die sich aus Handlungen zusammensetzen, ist sehr viel an recht unterschiedlichem theoretischen Rüstzeug nötig. Es geht nicht ganz ohne eine Erklärung der instinkthaften Elemente menschlichen Verhaltens und der entwicklungsgeschichtlich gesetzten Bedingungen und Grenzen menschlicher sozialer Organisation, also nicht ganz ohne eine menschliche Anthropologie. Es geht auch nicht ohne ein durch historisches Wissen geschultes Verständnis der Vielfalt gesellschaftlicher Entwicklungen; historisches Wissen ist zum systematischen Vergleich und zur Herausstellung von echten (nicht nur bei oberflächlicher Betrachtung so erscheinenden) Strukturähnlichkeiten unerläßlich. Und auf keinen Fall geht es ohne eine soziologische Handlungstheorie, die der Eigenart des Handelns als eines an Zielen ausgerichteten und somit bewußt in die Zukunft eingreifenden (intentionalen) Verhaltens gerecht wird. Die Handlungstheorie steht zwischen biologischen Verhaltenstheorien und geschichtlichen Einzeldarstellungen. Sie muß versuchen, die allgemeine Struktur des menschlichen Handelns zu beschreiben, ohne auf historische Einzelheiten Rücksicht zu nehmen und ohne naturwissenschaftlichen Reduktionen zu verfallen. Diese Auffassung, die in die Überzeugung mündet, daß die Handlungstheorie die Grundlage der Sozialwissenschaften bildet, ist weder eine neue Einsicht, noch steht sie im Streit der wissenschaftstheoretischen Meinungen vereinzelt da. Im Gegenteil, sie hat eine lange Vorgeschichte und dürfte heutzutage gegenüber den

8

1. Einführung

dogmatisch behavioristischen Verhaltenstheorien einerseits und den mehr oder minder evolutionistisch ausgerichteten Systemtheorien andererseits das Feld behauptet haben. In vielen sozialwissenschaftlichen Disziplinen haben sich „kollektivistische" - auf das Ganze einer Gesellschaft zielende (und handlungstheoretisch bestenfalls desinteressierte) - Denktraditionen mit evolutionistischsystemtheoretischen Denkweisen vermengt. Eine sorgfältige ideen- und wissenschaftsgeschichtliche Darstellung der Beziehung zwischen „kollektiv" und „subjektiv" orientierten Gesellschaftstheorien wäre angesichts der verwickelten Lage erforderlich. In diesem Rahmen kann aber noch nicht einmal eine Begriffsgeschichte von „Handlung" hinreichend skizziert werden. Trotzdem ist es notwendig, in aller Kürze die Hauptentwicklungslinien der systematischen, ursprünglich philosophischen und später dann auch fachwissenschaftlichen Beschäftigung mit den Grundfragen menschlichen Handelns nachzuzeichnen. Die Handlungstheorie findet ihre Anfange (wie so viele sozialwissenschaftlichen Fragestellungen) in der griechischen Philosophie bei ARISTOTELES (384 - 322 v. Chr.). In seiner Nikomachischen Ethik „entdeckt" er sozusagen die Hauptaspekte der Handlungstheorie: Wahlfreiheit zur Entscheidung von Zwecken und Mitteln; Zurechnungsfähigkeit, welche die Person als zureichenden „Grund" des Handelns bestimmt. Seine Unterscheidung zwischen „Handeln" (Praxis) und „Schaffen" (Poiesis) hat einen nachhaltigen Einfluß auf die (Über-)Schätzung des schöpferischen gegenüber dem „gewöhnlichen" Handeln genommen. Bald nach ARISTOTELES kündigt sich in der Stoa (deren Begründer ZENON lebte ca. 336 - 264 v. Chr.) eine Wendung, eine neue Fragestellung der Philosophie des Handelns an: Wie verträgt sich die Wahlfreiheit des handelnden Menschen mit der (schon von den Stoikern vertretenen) Annahme einer durchgehenden kausalen Bestimmtheit des Weltgeschehens? Diese Wendung bewegt zunächst die frühe und später die mittelalterliche christliche Theologie und Religionsphilosophie, und noch später die Philosophie der Sozialwissenschaften. Mit dem Aufstieg des Christentums spitzt sich die Frage allerdings in einer ganz bestimmten Weise zu. Wahlfreiheit wird für AUGUSTIN (354 - 430) ein theologisches Problem, ein Problem der Theodizee: Wie können der gerechte Wille und die Vollkommenheit des

1.2 Handlungstheorie: Grundlage der Sozialwissenschaft

9

Schöpfer-Gottes das Böse zulassen? Wenn der Mensch die Freiheit der Wahl hat, könnte er sich ja dafür entscheiden, Böses zu tun. Die Grundkategorien dieser Fragestellung blieben nicht nur der mittelalterlichen Philosophie erhalten, sondern bestimmten auch den Rahmen der lutherischen, calvinistischen und katholischen Theologie und Religionsphilosophie der Neuzeit in starkem Maße. In der modernen Philosophie der Sozialwissenschaften kehrt jedoch die weltlich-„wissenschaftliche" Problemstellung der Stoa zurück, die nach der Verträglichkeit von Determinismus und Handlungsfreiheit fragt. Überhaupt erfolgt seit dem 16. Jahrhundert eine des religiös-ethischen Charakters entkleidete, im modernen Sinne „wissenschaftliche" Beschäftigung mit der Theorie des Handelns. Langsam etabliert sich eine Denkweise, die immer größere Bereiche der Wirklichkeit als diesseitig erfaßt und die zu ihnen einen Zugang sucht, bei dem man sich nicht mehr auf jenseitige Instanzen zu berufen braucht. So geht es nun nicht mehr um Freiheit oder Bestimmtheit des Handelns in einer durch den göttlichen Willen geschaffenen Ordnung (welche ja im Christentum die natürliche Gesetzmäßigkeit des „Kosmos" in der griechischen Philosophie ersetzt hatte), sondern um das Handeln des Individuums in einer menschlichen Gesellschaft, in einem weltlichen Staat. Eine beschreibend-analytische Haltung zu den Grundfragen des Handelns setzt sich gegenüber einer ethisch-normativen durch. Die erstaunlich frühe Schlüsselfigur dieser Entwicklung ist NICCOLO MACHIAVELLI (1469 - 1527). Wohl wissend, daß Handeln (vor allem politisches Handeln) von Überzeugungen verschiedener Art (vor allem von religiösen Motiven) gelenkt wird, stellt er diese in seinen Analysen von Macht und Herrschaft systematisch in Rechnung. Als Theoretiker klammert er jedoch dabei seine eigenen Überzeugungen ebenso systematisch aus (man darf nicht vergessen, daß er ein engagierter Politiker in seiner florentinischen Heimat war). Die „Werturteilsfreiheit" seines theoretischen Denkens (natürlich nicht seines Handelns) mutet noch heute modern an, wie auch seine historisch-vergleichende Vorgehensweise. In Anbetracht dieser Umstände kann MACHIAVELLI ohne Übertreibung als der Begründer einer handlungstheoretisch ausgerichteten Sozialwissenschaft angesehen werden, auch wenn er sozusagen „zu früh" lebte. Sein Hauptwerk „II Principe" (1513) enthält An-

10

1. Einführung

Weisungen zum erfolgreichen politischen Handeln ohne Berücksichtigung moralischer Prinzipien. Da MACHIAVELLI keine gute Meinung von der menschlichen Natur besaß, konnte sein Name zum Symbol der Hinterlist und der politischen Rücksichtslosigkeit werden. Unterschwellig übte er einen starken Einfluß in der Theoriebildung aus. Weitaus „zeitgemäßer" als MACHIAVELLIS Werk im frühen 16. Jahrhundert ist das von THOMAS HOBBES ( 1 5 8 8 - 1 6 7 9 ) . Er gilt als einflußreicher Vertreter des wissenschaftstheoretischen „Reduktionismus". In seinem Hauptwerk „Leviathan" ( 1 6 5 1 ) versucht er darzulegen, daß alles Geschehen auf einfache, mathematisierbare Bewegungsgesetze zurückführbar sei. So entstünden auch die komplexen gesellschaftlichen Gebilde durch individuelles Handeln. Mit dieser Auffassung wird er zu einem wichtigen Vorgänger des „methodologischen Individualismus", wie er später z.B. Von MAX WEBER vertreten wird. Individuelles Handeln wiederum setze sich seinerseits aus einfacheren Bestandteilen zusammen; es sei von einem Bündel einzelner Leidenschaften getrieben.5 Für HOBBES ist Selbstsucht der letzte Grund aller Leidenschaften, die das Handeln steuern. Der Egoismus des Einzelnen müßte zum Krieg aller gegen alle führen; Selbstzerstörung könne nur durch die Unterordnung unter den Willen eines Souveräns vermieden werden". Das Spannungsverhältnis zwischen dem anarchischen individuellen Handeln und der gesellschaftlichen Ordnung wird von Hobbes in der Rechtfertigung der absoluten Monarchie aufgelöst. Die Annahme, daß Handeln wesentlich selbstsüchtig sei, bleibt jedoch nicht unbestritten. ADAM SMITH ( 1 7 2 3 - 1 7 9 0 ) , neben DAVID RICARDO ( 1 7 7 2 - 1 8 2 3 ) einer der Begründer der klassischen Wirtschaftstheorie, vertraut wie sein Freund DAVID HUME (1711 - 1776) darauf, daß sich im menschlichen Handeln eine „natürliche" Ordnung durchsetze. Er setzt auf die Preismechanis5

Hier steht HOBBES am Anfang der modernen Weiterentwicklung eines alten, der griechischen Philosophie entstammenden Denkansatzes; diese Entwicklung geht über JOHN LOCKE (1632 - 1704) weiter und mündet in einer „assoziationistischen" Erkenntnislehre und Psychologie. Ihr zufolge besteht das Bewußtsein aus einfachen Sinneseindrücken, die sich nach bestimmten Gesetzen zu komplexeren Denkgebilden verknüpfen.

1.2 Handlungstheorie: Grundlage der Sozialwissenschaft

11

men des freien Marktgeschehens und nicht wie Hobbes auf einen „Kontrakt", mit dem sich die Individuen dem Willen des Souveräns unterordnen. Während SMITH daher die Auffassung vertritt, daß vernünftiges, aufgeklärtes Eigeninteresse im wirtschaftlichen Handeln den Nutzen aller steigern könne, sieht er aber im Gegensatz zu JEREMY BENTHAM und den späteren Utilitaristen das Eigeninteresse keineswegs als Grundantrieb allen Handelns an. An die Stelle des „selfish system" von HOBBES setzt SMITH eine Theorie der „Sympathie", zu deren Wesen nicht nur „Mitgefühl" mit anderen Menschen, sondern vor allem auch die Fähigkeit gehört, sich in die Motive anderer Handelnder hinein zu versetzen. Nebenbei bemerkt ist dies eine frühe Version der Reziprozitätsthese, die in d e n H a n d l u n g s t h e o r i e n v o n GEORGE HERBERT MEAD ( „ t a k i n g

the role of the other") und ALFRED SCHÜTZ (sozialweltliches Sinnprinzip der „Vertauschbarkeit der Standpunkte") an zentraler Stelle wiederaufgenommen wurde. Im Utilitarismus wird die Theorie des Handelns im Anschluß an SMITH und RICARDO in eine liberale, marktwirtschaftlich- demokratische politische Philosophie umgeformt. Der Begriff des Nutzens in der Erklärung des Handelns wird hingegen in der Wirtschaftswissenschaft weiterdiskutiert, was sich bis in die Grenznutzenlehre der Österreichischen Ökonomischen Schule (wichtige V e r t r e t e r : KARL MENGER ( 1 8 4 0 - 1 9 2 1 ) u n d LUDWIG VON MISES (1881 - 1973)) fortsetzt.

Selbstverständlich wurden Probleme einer Theorie des Handelns nicht nur in der angelsächsischen politischen Philosophie und Ökonomie verfolgt. Aber in keiner anderen Denktradition erfuhren sie eine ähnlich systematische Behandlung, in keiner anderen wurde ihnen ein ähnliches Gewicht zugemessen. Für die aufklärerische Gesellschaftsphilosophie und die politische Theorie in Frankreich waren andere Themen wichtiger als die Möglichkeit einer Begründung der gesellschaftlichen Ordnung auf der Basis des individuellen Handelns. Nicht einmal JEAN-JACQUES ROUSSEAUS Theorie (er lebte von 1712 - 1778) des sozialen Vertrags (zentral ist die Unterscheidung eines „volonté generale" und eines „volonté de tous") bildet hier eine besonders beachtenswerte Ausnahme. Der Fortschritt und seine Hindernisse, Religion, Aberglaube usw. waren Hauptthemen des französischen Denkens ab Beginn d e r N e u z e i t . V o n MICHEL MONTAIGNE ( 1 5 3 3 -

1592) und d a n n

12

1. Einführung

später vor allem von CHARLES DE MONTESQUIEU (1689 - 1755)

wird die alte Hauptfrage des philosophischen Skeptizismus nach der Relativität der Werte wieder aufgenommen und in einem modernen, nahezu „wissenssoziologischen" Gewand vorgestellt. Auch in der kantischen Philosophie (IMMANUEL KANT 1724 1804) tauchen Fragen, die das menschliche Handeln betreffen, in einem „wissenssoziologischen" Zusammenhang auf; Fragen, die nach den Bedingungen des Denkens und somit auch des Handelns suchen. Die Gesamtheit der Denktraditionen auf dem europäischen Kontinent wird heute etwas pauschal als „Aufklärung" bezeichnet. Da sie für die fachwissenschaftliche Fortentwicklung der Theorie des Handelns nur von untergeordneter und höchstens mittelbarer Bedeutung ist, braucht sie hier nicht weiter behandelt zu werden. In der Zeit nach der Aufklärung entwickeln sich sehr verschiedene gesellschaftstheoretische Strömungen auf dem Kontinent. In einem Punkt aber gleichen sie sich alle: Ihre Konstruktionen und Rekonstruktionen einer gesellschaftlichen Ordnung zielen nicht darauf, die Entstehung der gesellschaftlichen Totalität zu erklären, sondern gingen von vornherein von ihr aus. Interesse am individuellen Handeln besteht, wenn überhaupt, nur in zweiter Linie. Das gesellschaftliche Ganze ist für sie das eigentlich Wirkliche, individuelles Handeln etwas Abgeleitetes. Dieser Grundidee folgen, mehr oder weniger stark, sehr verschiedene Strömungen des 19. Jahrhunderts. So zum Beispiel die sogenannten französischen T r a d i t i o n a l i s t e n JOSEPH DE MAISTRE (1753 - 1 8 2 1 ) u n d PHILIPPE

DE BONALD (1754 - 1840), der Begründer der Soziologie AUGU-

STE COMTE (1798 - 1857) und die Anhänger seines „Positivismus", und später, im Übergang zum 20. Jahrhundert, auch EMILE DURKHEIM (1858 - 1917) und seine Schule. Dazu gehören aber auch, um ganz andere, aber ebenso wichtige Beispiele zu nennen, d i e v o n GEORG WILHEM FRIEDRICH HEGELS G e s c h i c h t s p h i l o s o -

phie (1770 - 1831) beeinflußten, vor allem im russischen Sprachraum wirkenden Gesellschaftsphilosophen. HEGELS Einfluß war teils unmittelbar, also „idealistisch", teils auf den Kopf gestellt, also „materialistisch". Unter den hegelianisch-dialektischen Materialisten ist natürlich KARL MARX (1818 - 1883) bei weitem der wichtigste. Er selbst ist allerdings ein weniger passendes Beispiel für die kollektivistische Denkrichtung als die meisten seiner Nach-

1.2 Handlungstheorie: Grundlage der Sozialwissenschaft

folger. MARX stand nämlich auch unter dem Einfluß RICARDO vermittelten ökonomischen Handlungstheorie

13

der über und war bestrebt, eine philosophische Anthropologie auf der Grundlage des menschlichen Handelns - und nicht auf der Grundlage des Denkens - zu entwickeln. Er hätte also fast ebenso gut auch in der handlungstheoretischen „Linie" erwähnt werden dürfen. Insgesamt gesehen sind jedoch die Denkrichtungen des 19. Jahrhunderts eindeutig kollektivistisch auf das gesellschaftliche Ganze hin orientiert und zum Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluß CHARLES DARWINS ( 1 8 0 9 - 1 8 8 2 ) zum Teil sogar organizistisch - sofern sie die Gesellschaft als einen „Organismus" verstehen. Sie sind zwar für die moderne Entwicklung gesellschaftstheoretischer Fragen zweifellos von großer Bedeutung, aber für die hier grob skizzierte handlungstheoretische Linie eigentlich belanglos und stehen zum Teil sogar im direkten Widerspruch zu ihr. Schon bei MARX - und nicht nur bei ihm - erweist sich eine einfache Dichotomie zwischen einer handlungstheoretischen und einer kollektivistischen Orientierung als zu grobe Vereinfachung. In beiden wurden sowohl das gesellschaftliche Ganze wie individuelles Handeln berücksichtigt - nur eben, daß sie in charakteristisch verschiedenen Denkzusammenhängen bedacht wurden und so ein jeweils anderes Gewicht bekamen. Die „Linien" müssen nicht als geschlossene theoretische Traditionen sondern vielmehr als recht heterogene Gruppen von Denkrichtungen verstanden werden. Wenn schon die Unterscheidung zweier Hauptströmungen die Vereinfachung eines verwickelten Sachverhalts bedeutet, muß es sozusagen eine doppelte Vereinfachung sein, sie im Werk eines einzelnen Forschers wieder verbunden zu sehen. Trotzdem sei die Formulierung dieses bemerkenswerten Umstandes gestattet. In der wissenschaftlichen Person MAX WEBERS ( 1 8 6 4 - 1 9 2 0 ) gelangt der Widerstreit, der sich aus den Antworten auf die alte Frage nach dem Zusammenhang von individuellem Handeln und gesellschaftlicher Ordnung ergab, tatsächlich zu einer Art Ausgleich. Bei WEBER verbindet sich methodologischer Individualismus und ein (an der Systematik der politischen Ökonomie geschultes) Verständnis der gesellschaftlichen Folgen individuellen Handelns mit einem eindringlichen historischen Interesse an der Totalität der

14

1. Einführung

gesellschaftlichen Ordnung und den Rahmenbedingungen sozialen Wandels.6 An der Schwelle zum 20. Jahrhundert gab WEBER der Soziologie als erster in der Geschichte dieser Disziplin eine systematische handlungstheoretische Grundlage. Damit stellte er die Weichen für eine der wichtigsten Entwicklungen der modernen Soziologie, die unter dem unglücklichen und irreführenden Namen „Verstehende Soziologie" bekannt geworden ist. Unter den drei Hauptbeteiligten der sich zeitlich anschließenden handlungstheoretischen Diskussion in der Soziologie ist nur der a u f GEORGE HERBERT MEAD ( 1 8 6 3 - 1 9 3 1 ) z u r ü c k g e h e n d e s o g e -

nannte „Symbolische Interaktionismus

ohne" unmittelbare Be-

z i e h u n g z u r S o z i o l o g i e WEBERS e n t s t a n d e n . TALCOTT PARSONS

(1902 - 1979) nennt in seiner „Ahnenreihe" neben WEBER vor a l l e m n o c h ALFRED MARSHALL, VILFREDO PARETO u n d SIGMUND

FREUD; aber WEBER hat zweifellos den wichtigsten Einfluß auf die Entwicklung der (später immer mehr von systemtheoretischen Überlegungen zurückgedrängten) handlungstheoretischen Bestandteile seines Strukturfunktionalismus ausgeübt. Und ALFRED SCHÜTZ (1899 - 1959) knüpft schon in seinem ersten Buch („Der sinnhafte Aufbau der Sozialen Welt", Wien 1932) ausdrücklich an WEBER an. Darin versucht er, die W E B E R s c h e Handlungstheorie (deren philosophische Voraussetzungen über die Neokantianer bis auf KANT zurückgehen) auf eine abgesicherte phänomenologische Basis zu stellen. Die gegenwärtige handlungstheoretische Diskussion soll aber hier nicht aufgenommen werden.7 Ihrem Hauptstrang, der phänomenologischen Ausarbeitung der Handlungstheorie, gilt ohnehin der Hauptteil dieser Abhandlung. WEBERS handlungstheoretische Bestimmung der Soziologie ist bekannt: Sie sei 6

7

Eine Darstellung der Weberschen Handlungstheorie mit Hinweisen auf ihren ideengeschichtlichen Hintergrund und dessen weitere Diskussion in Deutschland findet sich in HELMUT GIRNDT, „Das soziale Handeln als Grundkategorie sozialwissenschaftlicher Soziologie", Tübingen 1967. Kurze Darstellungen der Biographien und Werke von Max Weber (Käsler), George Herbert Mead (Joas) und Alfred Schütz (Grathoff) finden sich - neben denen von Max Scheler, Robert Michels, Theodor Geiger, Karl Mannheim u.a. - in DIRK KÄSLER (Hrsg.), „Klassiker des soziologischen Denkens", Bd.II, München 1978.

1.2 Handlungstheorie: Grundlage der Sozialwissenschaft

15

..eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. , Handeln' soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei, ob äußeres oder inneres Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. .Soziales' Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.

Diese Sätze bilden den ersten Abschnitt der „Soziologischen Grundbegriffe", und sind im ersten Kapitel von M A X WEBERS Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft" (Tübingen 1922) nachzulesen. Im Anschluß daran erläutert WEBER mehr oder weniger beiläufig seine Verwendung des Sinn-Begriffs; er entwickelt eine vielkritisierte, aber auch vielbenutzte Typologie des Handelns (er unterscheidet affektives, traditionales, wertrationales, Zweckrationales Handeln) und schlägt eine Brücke vom Begriff des Handelns zum Begriff der sozialen Beziehung. Zum besseren Verständnis der WEBERschen Auffassung von Soziologie seien am Ende dieser Einleitung noch zwei Bemerkungen angefügt. Erstens dürfte schon in dem oben zitierten wichtigen Abschnitt deutlich geworden sein, daß WEBER kein empirisches Erklärungsmodell für Handeln entwickeln will. WEBERS Handlungstheorie ist vielmehr ein Geflecht von Begriffen, mit deren Hilfe soziales Handeln von verschiedenen anderen Erscheinungen des Lebens unterschieden, als Grundlage gesellschaftlicher Ordnungen verschiedener Art bestimmt und nach gewissen Grundtypen klassifiziert wird. Zudem wird eine Methode angegeben, mit welcher soziale Handlungen in historische Erklärungsmodelle von verschiedener Allgemeinheit systematisch eingefügt werden können, nämlich die „verstehende" Methode der idealtypischen Rekonstruktion des Sinns typischer Handelnder. Auf diesen Punkt, der in der Diskussion um die Methodologie der Sozialwissenschaften zu langen Auseinandersetzungen geführt hat, kann hier nicht näher eingegangen werden. Und zweitens ist der Begriff „Sinn" für die WEBERsche Handlungstheorie zwar von entscheidender Bedeutung, wurde aber von ihm - abgesehen von einigen Erläuterungen - nicht genau festgelegt. Etwas vereinfacht kann gesagt werden, daß „Sinn" für WEBER im wesentlichen sowohl als das vom Handelnden angesteuerte Ziel wie auch als den ihn moti-

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1. Einführung

vierenden Zweck angesehen wird. Auch soziales Handeln wird von dem Sinn, den es für den Handelnden hat, bestimmt und bleibt daher als Begriff ähnlich vage. Aus der eindeutig scheinenden Feststellung, daß Handeln dann „sozial" zu nennen sei, wenn es vom Handelnden aus gesehen am Verhalten anderer orientiert ist, ergeben sich bei genauerer Betrachtung gewisse Schwierigkeiten für das Verständnis der WEBERschen Handlungstheorie und für das Verständnis der „Verstehenden Soziologie" überhaupt.

1.3

Zur phänomenologischen Grundlegung der Handlungstheorie

ALFRED SCHÜTZ verfolgt schon in seinem ersten Werk „Der Sinnhafte Aufbau der Sozialen Welt" (Wien 1932) ausdrücklich das Ziel, die von MAX WEBER angestrebte handlungstheoretische Begründung der Soziologie durch sorgfältige phänomenologische Analysen der Konstitution von Sinn im Handeln, besonders im sozialen Handeln abzustützen. Er hält dessen Ausführung einer auf die Deutung und Erklärung sozialen Handelns gerichteten Soziologie in einem entscheidenden Punkt für unzureichend. Im allerersten Abschnitt („Vorbemerkungen zur Problemstellung", Seite 5) des gerade erwähnten Buches schreibt SCHÜTZ über WEBER: Seine Analyse der sozialen Welt bricht in einer Schicht ab, die nur scheinbar die Elemente des sozialen Geschehens in nicht weiter reduzierbarer oder auch nur in nicht weiter reduktionsbedürftiger Gestalt sichtbar macht. Der Begriff der sinnhaften und daher verstehbaren Handlung des einzelnen, der eigentliche Grundbegriff der verstehenden Soziologie, vermittelt aber keineswegs die eindeutige Fixierung eines echten Elements sozialen Geschehens, sondern ist nur der Titel für eine vielverzweigte und der weiteren Durchdringung sehr bedürftigen Problematik.

Die Problematik der philosophischen Begründung der Sozialwissenschaften mittels einer Theorie des sozialen Handelns beschäftigt SCHÜTZ sein Leben lang. Dieses besondere Interesse wird auch nicht durch seine Emigration im Jahre 1938 von Wien über Paris nach New York unterbrochen. Eingehende Studien sowohl „ k l a s s i s c h e r " (LUDWIG VON MISES, HANS KELSEN) als a u c h m o -

derner (besonders MEAD) Verhaltens- und handlungstheoretischer

1.3 Handlungstheorie: Phänomenologische Begründung

17

Ansätze und der fehlgeschlagene Versuch einer weiterführenden Diskussion mit TALCOTT PARSONS - von dem er unter den amerikanischen Soziologen der dreißiger und vierziger Jahre noch am ehesten erwarten durfte, daß er in der gleichen Richtung arbeitete8 - festigen SCHÜTZ nur in seiner frühen Überzeugung, daß für die Soziologie (und diese könne nur eine „verstehende" Sozialwissenschaft sein) eine Theorie des sozialen Handelns grundlegend sei. Der W E B E R s c h e Versuch überspringe das „Sinn-Problem", dieses könne nur über eine phänomenologische Analyse der Sinnkonstitution im Handeln zufriedenstellend gelöst werden. In den frühen fünfziger Jahren veröffentlicht SCHÜTZ zwei wichtige, auf handlungs- und wissenschaftstheoretische Grundfragen eingehende Aufsätze. 9 Mit diesen Fragen beschäftigt er sich bis zu seinem Tode, wie die von ihm selbst nicht mehr voll verwirklichten Pläne für eine systematische Zusammenfassung seines Denkens und Forschens, „Die Strukturen der Lebenswelt" zeigen. Das fünfte Kapitel („Lebenswelt als Bereich der Praxis") dieser von mir im wesentlichen nach SCHÜTZschen Plänen und Manuskripten zu Ende geführten Arbeit 10 stellt die späte Fassung seiner Handlungsanalysen dar und dient als Grundlage für die Ausführungen im Kernstück dieser Abhandlung. Zu einem genaueren Verständnis dessen, was oben als eine „phänomenologische Analyse der Konstitution des Sinns im Handeln" bezeichnet wurde, ist es notwendig, den philosophischen Hintergrund, die Phänomenologie EDMUND HUSSERLS (1859 1938), näher zu betrachten. Davon kann hier nur so viel angedeutet werden, als zum Verständnis der SCHÜTZschen Handlungstheorie unerläßlich ist. Ebenso wie die Begründung der Phänomenologie durch EDMUND HUSSERL würden dessen Weiterentwick-

8

9

10

Vgl. die Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Parsons und Schütz, auf deutsch herausgegeben von WALTER M. SPRONDEL, „Zur Theorie sozialen Handelns. Ein Briefwechsel", Frankfurt/M. 1977. „Choosing among Projects of Action" (1951) und „Common Sense and Scientific Interpretation of Human Action" (1953); deutsche Übersetzung in: ALFRED SCHÜTZ, Gesammelte Aufsätze, Bd.I, Den Haag 1971. ALFRED SCHÜTZ/THOMAS LUCKMANN, „Strukturen der Lebens welt", Bd.I, Frankfurt/M. 1979 und Bd.II, Frankfurt/M. 1984.

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1. Einführung

lungen, z.B. im Werk MAX SCHELERS, vor allem aber in den p h ä n o m e n o l o g i s c h e n A r b e i t e n v o n ARON GURWITSCH u n d A L -

FRED SCHÜTZ eine eigene Darstellung erfordern. Mit HUSSERLS Durchbruch zur Phänomenologie, der sich - im Anschluß an seine frühen mathematisch-logischen Arbeiten - in den „Logischen Untersuchungen" (1900/01) abzeichnet, beginnt die moderne Phänomenologie. Die neue Disziplin entwickelt sich in den Vorlesungen zur „Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" (1904/05), sie wird weiter ausgearbeitet in der systematischen Ausführung der Ideen zu einer „Reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie"." Die definitive Form einer transzendentalen Phänomenologie erhalten HUSSERLS Überlegungen in den „Cartesianischen Meditationen"12 und finden ihre reinste Gestalt in seiner letzten großen Arbeit „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie".13 Darin fragt seine radikale Wissenschaftskritik nach den Fundamenten der Wissenschaft und des theoretischen Denkens überhaupt und sucht diese in der vorwissenschaftlichen Erfahrung des Menschen: in der Lebenswelt. In der großen philosophischen Tradition, der „philosophia perennis", ist nach HUSSERL immer schon ein theoretisches Interesse an den Bedingungen und Möglichkeiten von Wissen und Bewußtsein angelegt gewesen. Dieses Interesse verband sich früh mit einer reflexiven Grundhaltung, in welcher das Bewußtsein in anderen, jedoch kontrollierten und gleichsam auf Abstand gehenden Bewußtseinsvorgängen betrachtet wurde. Allerdings sei diese frühe phänomenologische Philosophie immer mit verschiedenen anderen Motiven, vor allem metaphysischer, ethischer und ontologischer Art, verflochten gewesen. Auch solche Motive sind unbestritten in der Philosophie legitim, aber die Phänomenologie sollte keine metaphysische, sondern eine reine, streng philosophische 11

12 13

Band I 1913; ein zweiter und dritter Band waren von Husserl geplant, aber nicht veröffentlicht worden. Sie wurden nach seinen Manuskripten im Jahr 1952 herausgegeben. Die wichtigsten Manuskripte dazu stammen aus dem Jahr 1929 und wurden 1950 veröffentlicht. An dieser Arbeit schrieb Husserl hauptsächlich in den Jahren 1935 und 1936, in ihrer Gesamtheit wurde sie 1962 veröffentlicht.

1.3 Handlungstheorie: Phänomenologische Begründung

19

Wissenschaft von Bewußtsein sein. Der alleinige Gegenstand der Phänomenologie sind nicht die „realen" Objekte, sondern die Gegenstände des Bewußtseins, beginnend mit ihren besonderen Erscheinungsweisen, aber in der Absicht, ihre allgemeine Struktur, ihr Wesen zu enthüllen. Die entscheidende Bedeutung liegt darin, daß das Bewußtsein der Menschen der uns einzig verfügbare Zugang zur Wirklichkeit ist. Von sich aus aber ist Bewußtsein nichts, vielmehr tritt es in etwas auf, das sich als nicht zum Bewußtsein gehörig vorstellt. Bewußtsein verweist auf etwas anderes als auf sich selbst, es gehört zu seinem Wesen, daß es sich transzendiert. Kurzum, der Grundcharakter des Bewußtseins ist seine Intentionalität,14 Eine Philosophie, die sich das Bewußtsein zum Gegenstand macht, ist folglich eine „transzendentale". Über die Wirklichkeit macht die Phänomenologie keine direkten Aussagen; sie beschreibt jedoch den Wirklichkeitsartj/?rHc/i, mit dem die intentionalen Objekte im Bewußtsein auftreten. Zum philosophischen Nachdenken über die „eigentliche" Wirklichkeit dürften die Ergebnisse der phänomenologischen Forschung einen wichtigen Beitrag hinzugeleistet haben, aber die phänomenologische Forschung selbst schließt ein solches metaphysisch-ontologisches Motiv aus. Die Phänomenologie bedient sich systematisch der Methode des Ausschlusses, der Ausklammerung. Als bewußtseinsanalytische Philosophie muß sie auf die ursprüngliche Evidenz zurückgreifen, die allem Denken und Philosophieren vorangeht: auf die jedem zugängliche, unmittelbare Erfahrung. In der naiven, „natürlichen" Einstellung des täglichen Lebens nähern wir uns den ursprünglichen Evidenzen unsystematisch, von Fall zu Fall an. Daher können wir uns in flüchtigen Eindrücken über das, was unmittelbare Erfahrung ist, täuschen lassen und das, wofür unmittelbare Erfahrung ursprüngliche Evidenz besitzt, verfehlen. Um von der besonderen Erscheinungsweise der Bewußtseinsgegenstände zu ihrer allgemeinen Struktur - und zu den Bewußtseinsleistungen, die dieser Struktur zugrundeliegen - vorzudringen, gilt es, eine Methode zu finden, welche die ursprüngliche 14

Diese alte Einsicht der scholastischen Philosophie hatte schon Husserls Lehrer Franz Brentano wieder in den Vordergrund der philosophischen Aufmerksamkeit gerückt.

20

1. Einführung

Evidenz unmittelbarer Erfahrungen (bei Husserl heißen diese „originäre Gegebenheitsweisen") zuverlässig herauszuarbeiten hilft, ihre Voraussetzungen überprüft und die „höheren" Bewußtseinsinhalte, die auf sie aufgestuft sind, in ihrem Aufbau nachzeichnet. Zu diesem Zweck müssen vorgefaßte Meinungen über Welt und Wirklichkeit ausgeklammert werden - und das schließt uns selbst als empirische Bestandteile der Wirklichkeit mit ein. Auch das feststehende - oder vielleicht nur scheinbar feststehende - Wissen über die Welt, einschließlich dem Wissen der empirischen Wissenschaften, dürfen zur Beschreibung nicht herangezogen werden. Dabei wird es aber weder als wissenschaftlicher Befund verneint, noch in der praktischen Orientierung in der alltäglichen Wirklichkeit ausgeschaltet. Zum Zweck einer genauen theoretischen Beschreibung des Kerns der ursprünglichen Bewußtseinsgegenstände hingegen muß ein solches Wissen mit der größtmöglichen Folgerichtigkeit ausgeklammert werden. Im übrigen ist die Ausklammerung vorgefaßter Meinungen, Bewertungen und theoretischen Wissens (mythologischer, religiöser, kausalwissenschaftlicher Art) nur der erste Schritt, der in der phänomenologischen Analyse vorgenommen wird. Die Phänomenologie beginnt mit der Beschreibung der Bewußtseinsgegenstände in der vollen Konkretheit ihrer besonderen Erscheinungsweise, so wie sie im empirischen Strom subjektiver Erlebnisse und Erfahrungen auftreten, also sozusagen „unrein". Um den „reinen" Kern der intentionalen Objekte zu enthüllen, muß sie Schicht um Schicht der konkreten Schale, die den Kern im subjektiven Erlebnisstrom umgibt, abschälen. Von der Ausklammerung des Vorwissens und des Wirklichkeitscharakters wurde schon gesprochen, nun soll ein einfaches - ein verhältnismäßig einfaches - Beispiel zeigen, daß der systematischen Anwendung der Methode der Ausklammerung noch sehr viel mehr zum Opfer fällt, bevor man zum Kern des intentionalen Objekts gelangt. In der natürlichen Einstellung des täglichen Lebens ist der Tisch, hinter dem ich gerade sitze, ein unproblematischer und vor allem einheitlicher Gegenstand in meiner Umwelt: ein wirklicher Gegenstand in einer wirklichen Umwelt. Dazu gehören z.B. auch der Boden, auf dem der Tisch steht, die Wand, gegen die er sich abhebt, das Buch, das auf ihm liegt usw. als Gegenstände der gleichen Wirklichkeit. Auch in der künstlichen, nicht alltäglichen

1.3 Handlungstheorie: Phänomenologische Begründung

21

Einstellung der phänomenologischen Reflexion tritt der Bewußtseinsgegenstand „Tisch", den ich jetzt in einem eigenen Bewußtseinsvorgang in den Griff nehme und betrachte, mit dem Anspruch auf, wirklich zu sein, so wie die anderen Gegenstände der Umwelt - und heute ebenso, wie es gestern war, als ich den Tisch sah und fühlte. Dieser Wirklichkeitsanspruch wird registriert, aber wie vorhin schon erwähnt, soll über die Letztgültigkeit dieses Anspruchs in metaphysischer Hinsicht nichts ausgesagt werden. Andere Bewußtseinsgegenstände treten von vornherein nicht mit diesem Wirklichkeitsanspruch auf. Wenn ich mir einen geflügelten Löwen vorstelle, führe ich mir ein Fabelwesen oder ein Wesen der assyrischen Mythologie vor Augen, nicht einen Verwandten wirklicher Löwen. Ich kann mich jedoch auch an ein wirkliches Bild eines geflügelten Löwen erinnern, ein großer Unterschied zum wirklichen Bild des wirklichen Löwen, den ich in der Kalahari fotografierte. Und wenn ich daran denke, daß „zwei" nach „eins" und vor „drei" kommt, lege ich diesen Bewußtseinsgegenständen eine andere Wirklichkeit zu als Tischen, geflügelten Löwen, Träumen von Tischen und Kalahari-Löwen. Der Tisch, den ich gegenwärtig vor mir sehe, tritt also mit einem Wirklichkeitsanspruch bestimmter Art auf. Dieser Anspruch ist in vielerlei Hinsicht stimmig: Ich erinnere mich, den gleichen Tisch gestern schon gesehen zu haben. Ich schließe die Augen und öffne sie mit der Erwartung, den gleichen Tisch wieder zu sehen - und so ist es. Eine andere, auch mögliche Form der Bestätigung seines Wirklichkeitsanspruches liegt darin, daß ich ihn betaste. Der Wirklichkeitsanspruch des Tisches bestätigt sich somit sowohl in der Selbstgegebenheit von „Tisch", nämlich in der aktuellen Wahrnehmung, Augenblick um Augenblick, wie auch in der Erinnerung und in der Vorerwartung. Nachdem ich dem Wirklichkeitsanspruch mancher intentionaler Gegenstände stattgegeben habe, stelle ich allerdings fest, daß ich einer optischen Täuschung erlegen bin: ich sehe „etwas", das so tut, als ob es sich auch betasten lassen müßte, aber es verschwindet, wenn ich das zu tun versuche. Der geflügelte Löwe hingegen hat sich nie anfühlen lassen (der Löwe in der Kalahari übrigens auch nicht, aber aus anderen Gründen), er war nur auf Bildern, nie „in Person" zu sehen. Aber ich kann mir den gleichen geflügelten Löwen, im

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1. Einführung

Unterschied zu einem anders gefärbten, größeren und älteren immer wieder vorstellen. Und mit „eins", „zwei" und „drei" kann ich ohnehin unabhängig von wahrnehmungsmäßigen Zusammenhängen umgehen; ihre Wirklichkeit bleibt ideal immer die gleiche, sie altern nicht und haben keine Farbe. Doch noch vieles mehr fällt bei der Ausklammerung buchstäblich unter den Tisch. Im engen Zusammenhang mit dem Wirklichkeitsanspruch des Tisches steht mein Wissen vom Tisch. Dieses setzt sich aus verschiedenen und auch verschiedenartigen Bestandteilen zusammen. Wenn ich Physiker wäre, könnte ich damit beginnen, etwas über Materie überhaupt zu sagen, als Botaniker über die Materie von Pflanzen, als Holzfachmann könnte ich detaillierte Vorträge über Holzsorten halten, als Möbelfabrikant über Tische aller Art. Ich selbst bin aber kein Fachmann auf diesen Gebieten, sondern, wie die meisten von uns, ein halber oder auch nur ein viertel Fachmann. Ich habe nur Allgemeinwissen in diesen Dingen. Immerhin weiß ich, daß der Tisch aus Eiche ist, und daß Fichtenholz anders aussieht. Und ich weiß, daß es Tische nicht nur aus verschiedenen Holzarten, sondern auch aus Glas, Marmor, Metall und sogar aus Plastik gibt. All dieses Wissen wird nun in der phänomenologischen Analyse ausgeklammert - und dennoch bleibt „Tisch" übrig. Ich weiß aber noch verschiedenes andere von diesem Tisch. Neben dem allgemeinen Wissen über Tische, Holztische, Eichentische usw. steht die Erinnerung an die besondere Geschichte dieses Tisches. Ich habe ihn vor fünf Jahren für tausend Mark gekauft. Ich habe ihn nicht selbst gezimmert, ich weiß nicht, wer ihn fertigstellte, irgend jemand; an den Namen des Verkäufers erinnere ich mich nicht, nicht einmal an sein Gesicht, wohl aber daran, daß es ein Mann war. Meine Frau hat diesen Tisch nie sonderlich gemocht; Dutzende von Leuten haben an diesem Tisch gesessen, gegessen, geredet, getrunken; meine Frau und die Kinder regelmäßig, verschiedene Verwandte, Freunde und Bekannte gelegentlich. Manche der Tisch-Benutzer waren jung, andere alt; inzwischen sind alle älter geworden, einige sind gestorben. Der Tisch selbst ist älter geworden, er hat Kratzer abbekommen, ist deshalb einmal neu poliert worden, usw. Die Geschichte dieses Tisches besteht in meinen Erinnerungen. Sie ist nicht insgesamt im Griff des Bewußtseins, sie ist nicht in der gleichen Weise gegen-

1.3 Handlungstheorie: Phänomenologische Begründung

23

wärtig wie z.B. die Vorderansicht des Tisch-Dings, wenn ich hinsehe. Aber sie befindet sich im Sinnverweisungsfeld meiner Erfahrung von „Tisch" und ist grundsätzlich weckbar. Nicht nur mein Wissen über Tische (das ja auch nicht immer insgesamt im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht, wenn ich einen Tisch sehe), sondern auch diese Erinnerungs-Geschichte gehört zum intentionalen Objekt „dieser mein Tisch". Nun kann ich die besondere Geschichte dieses Tisches ausklammern, ohne daß der Tisch seinen Tisch-Charakter verliert. Er behält eine stoffliche Zusammensetzung in einer typischen Gestalt (bzw. einer Bandbreite von typischen Gestalten); ein Alter (zwar kein bestimmtes mehr, nicht mehr die faktischen fünf Jahre dieses meines Tisches, aber notwendig irgendein Alter); er bleibt noch immer etwas Hergestelltes und ist kein Naturding, und er ist durch einen typischen Gebrauch gekennzeichnet. „Tisch" ist dieser Bewußtseinsgegenstand auch nach der Ausklammerung seiner Geschichte, aber „dieser mein Tisch" ist er dann nicht mehr. Den typischen Gebrauch in Verbindung mit der typischen Gestalt darf ich also nicht ausklammern, wenn ich das Tischhafte am Tisch beibehalten will. Aber typischer Gebrauch heißt: typischer Gebrauch für alle, zumindest dem Grundsatz nach. Ich kann jetzt noch versuchen, den typischen Gebrauch von „Tisch" beizubehalten, aber den Sinn „Tisch grundsätzlich für jedermann" auszuklammern. Geht das überhaupt? Bleibt nach der Ausklammerung des intersubjektiven, gesellschaftlichen Charakters von Gebrauchsgegenständen und Erzeugnissen noch ein typischer Gebrauch erhalten? Gewiß, aber ein ganz besonders künstlicher. Vom empirischen wirklichen Gegenstand sind wir ja schon weit entfernt. Es bleibt noch ein „Tisch", der hergestellt wurde und den ich benutze, um daran zu essen oder zu arbeiten, etwas, das kein Naturding ist und mit dem ich keinen Nagel in die Wand schlagen kann. Aber wer ist dann noch „ich"? Nicht mehr ein wirkliches emipirisches Selbst, wie es unter Mitmenschen leibt und lebt und eine Geschichte hat, sondern ein phänomenologischer Robinson ohne eine Vergangenheit, die andere Menschen einschließt, ohne einen Freitag als Genossen. Etwas reduziert „Tischhaftes" bleibt also auch nach dieser radikalen Ausklammerung der Intersubjektivität von „Tisch" übrig. Intersubjektivität kennzeichnet zunächst alle

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1. Einführung

Gegenstände meiner Welt: nicht nur andere Menschen, sondern auch Bäume, die ja von anderen Menschen ebenso gesehen werden wie von mir, und erst recht Werkzeuge, Gebrauchsgegenstände usw. Wenn ich bei Bäumen und anderen Naturdingen ihren intersubjektiven Charakter ausklammere, bleibt offensichtlich noch recht viel vom eigentlichen „Baum" unberührt; Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände sind durch diese Ausklammerung schon viel wesentlicher reduziert. Und wenn ich bei Worten oder indianischen Rauchzeichen die Intersubjektivität weglasse, bleibt wirklich nur noch Schall und Rauch. Kehren wir zum schon stark reduzierten „Tisch" zurück. Er hat noch einen Rest von typischem Gebrauch für mich. Wenn ich diesen auch noch ausklammere, ist das Tischhafte an ihm vollends verschwunden. Was bleibt aber dann noch übrig? Ich sehe noch immer „etwas" vor mir, das mit verschiedenen anderen Gegenständen meiner Umwelt gewisse Merkmale teilt. (Da meine Umwelt auch schon reduziert ist und nicht mehr ihren natürlichen intersubjektiven Charakter besitzt, sollte ich auch „Umwelt" in Anführungsstriche setzen; ebenso „ich", „mein" usw., da ich ja nur noch das reduzierte Einzel-Ich, der phänomenologische Robinson, bin. Aber bald müßten wir bei weiterer Reduktion fast alles in Anführungsstriche setzen - und das hat wohl keinen Sinn.) So wie viele andere Gegenstände meiner Umwelt kann das „Etwas" gesehen werden. Und es wird immer wieder gesehen, in verschiedenen Ansichten: es hat eine Ober- und eine Unterseite, eine Vorder- und eine Rückseite. Dazu kommt, daß es nicht nur gesehen, sondern auch betastet werden kann und als das gleiche erfaßt wird. Es gibt aber nicht nur Seh-Fühl-Dinge - von anderen Sinnesqualitäten wie Geruch und Geschmack wollen wir gar nicht erst reden - sondern auch Dinge, die nur gesehen werden können: zum Beispiel Regenbögen und Wolken. Das „Ding" ist also stofflich (aber von Holz weiß ich nichts mehr) und hat eine Gestalt (aber ob sie typisch ist und ob sie einem Gebrauch dient, weiß ich auch nicht mehr). Ich kann noch einen Schritt weiter gehen. Dann schalte ich alle Verweisungen auf frühere Erfahrung und auf Erfahrungen in anderen Modalitäten aus. Die „Vorderseite" kann ich nur von einem Ding sehen, wenn ich vorher die „Hinterseite" gesehen habe und umgekehrt. Und daß ein Sehen und ein Betasten zum gleichen

1.3 Handlungstheorie: Phänomenologische Begründung

25

Ding gehören und nicht zu zwei verschiedenen, einem „Sehding" und einem „Tastding", setzt ebenfalls eine automatische synthetisierende Bewußtseinsleistung voraus, die auf dieser Stufe ausgeschaltet werden muß. Dann gelange ich erst eigentlich zu dem, wovon ich ursprüngliche Evidenz habe: es bleibt ein Sehschema, ein Phantom, eine Vorderseite (nur daß ich „Vorderseite" nicht mehr sagen darf), also ein reines Sehphantom. Es ist nicht mehr viel übrig geblieben, gewonnen ist aber die Einsicht, daß Bewußtseinsgegenstände in regelhaften konstitutiven Bewußtseinsvorgängen einen regelhaften Aufbau, eine Konstitution, erhalten und daß diese durch die systematische Anwendung der Ausklammerungsmethode („Reduktion", „Epoché") aufgezeigt werden kann. Bewußtseinsgegenstände sind ein System von Wirklichkeitsansprüchen, Wissensbeständen, Erinnerungsablagerungen („Sedimenten"), Sinnverweisungen und Gegebenheitsweisen - um nur die wichtigsten Strukturelemente in ihrer Konstitution zu nennen. Damit sind die Antworten auf die eingangs dieses Kapitels gestellten Fragen gegeben worden; fassen wir sie zusammen. Phänomenologie ist eine philosophische Wissenschaft vom Bewußtsein, von einem „Nichts", das auf etwas verweist. Das Ziel der Phänomenologie ist die genaue Beschreibung des Aufbaus von Bewußtseinsgegenständen in Bewußtseinsleistungen verschiedener Art, das Verfahren wird als Konstitutionsanalyse bezeichnet. Dabei bedient sie sich der Methode der Ausklammerung, durch welche sie stufenweise reduziert, was sich im Bewußtsein konstituiert. Erinnern wir uns zum Schluß daran, daß SCHÜTZ versuchte, der WEBERSchen Handlungstheorie eine sichere Grundlage zu geben, indem er die Konstitution von Sinn im Handeln analysierte. Im „Sinnhaften Aufbau der Sozialen Welt" verfolgte er die Sinnkonstitution bis in die Tiefenschichten passiver Bewußtseinsleistungen in subjektiven Erlebnissen zurück. In den späteren Arbeiten, die zu den „Strukturen der Lebenswelt" führten, wandte er sich immer mehr der Beschreibung des Handelns in der natürlichen Einstellung des vergesellschafteten täglichen Lebens zu. Im folgenden werden wir die wichtigsten Ergebnisse dieser Handlungsanalysen darstellen.

2.

Handeln als Wirklichkeitsveränderung und als Bewußtseinsleistung

2.1

Erleiden und Tun

In alle verschiedenen Gesellschaften und zu allen sehr unterschiedlichen theoretischen Auffassungen des eigentlichen Wesens der Wirklichkeit hat bis auf den heutigen Tag zur praktischen, alltäglichen Orientierung in der Welt das selbstverständliche Wissen gehört, daß es „da draußen" Dinge gibt, die ohne unser Dazutun so sind, wie sie sind und die sich unserem Tun entgegenstellen. Jeder weiß, daß Wirklichkeit Widerstand leistet. Genauer: Jeder weiß, daß manches an der Wirklichkeit so bleibt, wie es ist, was immer man tut und sich manches wiederum im Lauf der Zeit wie von selbst verändert. Es gibt aber auch Bestände der Wirklichkeit, die sich gegen Veränderungen sträuben, obwohl dieser Widerstand unter gegebenen Umständen überwunden werden kann. In der praktischen, „natürlichen" Einstellung erfassen wir die Welt als eine Mischung von Unabänderlichem, das uns auferlegt ist, und von Veränderbarem, das unserem Bewirken offensteht. Unabänderlich Auferlegtes erleiden und erfahren wir, Veränderbares erfahren wir nicht nur, sondern wir wirken auf es ein - sofern wir eine bestimmte Veränderung herbeiführen wollen. Manches an der Wirklichkeit bleibt wie es ist, anderes verändert sich von selbst, und einiges bleibt oder verändert sich nur, wenn wir etwas tun oder unterlassen. Diese Art von Hintergrundwissen, selbstverständlich nicht in theoretisierende Sätze gefaßt, ist allgemein menschlich. Ein Bestand an unweigerlich Auferlegtem (welches teils aus Verharren, teils aus Veränderung besteht) und ein Bereich an Verfügbarem (das man sowohl bewahren wie auch verändern kann) gehört also gewissermaßen zur „Natur" des Menschen. Die Grenzen zwischen diesen zwei Bereichen sind jedoch von Gesellschaft zu Gesellschaft und von Epoche zu Epoche, ja sogar innerhalb der gleichen Gesellschaft und in der gleichen Generation von einem Menschen zum anderen nicht gleich gezogen. Gewiß, es gibt immer und überall und für jeden einen Kernbestand an Un-

2.1 Erleiden und Tun

27

abänderlichem. Niemand kann den zeitlichen Ablauf seiner Erfahrungen verändern. Das Gestern ist heute unwiderbringlich und ohne die Möglichkeit einer nachträglichen Beeinflussung vorbei. Daneben gibt es auch räumlich Unabänderliches. Dazu gehört z.B. die Verortung unseres Körpers: Sind wir hier, können wir nicht auch zugleich dort sein; wir können nur phantasieren, wir wären dort - oder hingehen, aber dann wären wir nicht mehr hier. Wir können, anders als manche Fische, nur nach vorn und nicht zugleich auch nach hinten blicken. Ein Mann kann kein Kind gebären. Ohne Hilfsmittel können weder Mann noch Frau vier Meter in die Höhe springen, auf einen Baum hinauffliegen, eine halbe Stunde unter Wasser bleiben usw. An den letzten Beispielen sehen wir jedoch auch schon, daß sich manche Grenzen des räumlich und zeitlich, ja auch sonstig Unabänderlichen verschoben haben. Ein Beduine des achten Jahrhunderts konnte unter gar keinen Umständen in einer halben Stunde von Mekka nach Medina gelangen, während das heute unter Zuhilfenahme gewisser technischer Hilfsmittel vielleicht zu schaffen ist. Blinde sind auch heute definitionsgemäß blind, aber manche Arten von Blindheit, die den Leidenden früher unabänderlich auferlegt waren, können heute geheilt werden. Wie wir alle wissen, verschieben sich die Grenzen des Verfügbaren nicht nur geschichtlich, im Verlauf der Generationen, sondern auch im Verlauf eines Einzellebens. Jedes Kleinkind muß gehen lernen, auch nach monatelanger Bettlägerigkeit muß man fast von vorn anfangen, und manche Menschen verlieren die Fähigkeit zu gehen endgültig durch einen Unfall, eine Krankheit oder Altersschwäche. Um sechs Meter weit springen zu können, muß man eine gewisse körperliche Veranlagung haben und üben. In manchen Dingen reicht die Veranlagung, in anderen reicht fleißiges Üben, in noch anderen nur beides zusammen. Und für manches nützt alle Veranlagung und alles Üben nichts. Kurzum, jeder von uns lebt in einem Bereich von Wirkungsmöglichkeiten, in welchem er die Wirklichkeit nicht nur erleiden muß. Der innerste Kern dieses Bereichs ist identisch mit den Wirkungsmöglichkeiten aller Menschen zu allen Zeiten; um diesen Kern herum lagern sich Schichten von Wirkungsmöglichkeiten, die er mit einem bestimmten Typ aller Menschen zu jeder Zeit (z.B. Frauen) teilt, oder mit allen Zeitgenossen (z.B. Beduinen des achten Jahrhunderts) oder mit einem bestimmten Typ von Zeitgenos-

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2. Bewußtseinsleistung und Wirklichkeitsveränderung

sen. Und ein gewisser Bestand an Wirkungsmöglichkeiten mag in mancher Hinsicht kleiner, in anderer größer sein als der seiner Mitmenschen, er kann sozusagen einem Einzelnen allein gehören. Die Grenzen des Gesamtbereichs sind teils natürlich, teils gesellschaftlich vorbestimmt, aber bis zu einem gewissen Grad individuell ausdehnbar. Sie können durch Schicksal, Zufall, eigene Schuld usw. eingeengt werden. Manche Wirkungsmöglichkeiten stellen sich von selbst - oder wie von selbst - ein, z.B. im Zuge der körperlichen Reifung wachsen und schrumpfen wie von selbst. Andere wiederum können nur durch Lernen und Üben erworben werden, und manche sind nur durch beharrliche Selbstdisziplin erreichbar. Aber wie unterschiedlich die Grenzen der Wirkungsmöglichkeiten von Mensch zu Mensch auch immer sein mögen, den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Erleiden von Auferlegtem und dem Bewirken von Verfügbarem gibt es für alle Menschen.

2.2

Erleben, Erfahren, Handeln

Die Unterscheidung zwischen einer auferlegten und einer verfügbaren Schicht der Wirklichkeit gehört, wie gesagt, zum Wissen aller; also zu den, von den Besonderheiten einer bestimmten Sprache und Kultur verhältnismäßig unabhängigen, Hintergrundannahmen der natürlichen Einstellung schlechthin. Diese Unterscheidung dürfte daher auch ohne eine eingehende Analyse der Bewußtseinsleistungen, die ihr zugrundeliegen, einsichtig geworden sein. Das Reden vom „Erleiden" des Auferlegten und vom „Tun" im Verfügbaren könnte jedoch zu Mißverständnissen führen, da diese Worte von vielfältigen sprach- und kulturbedingten Bedeutungsabschattungen umgeben sind. Andererseits beziehen sie sich aber unmittelbar auf menschliche Bewußtseinsleistungen, so daß eine einigermaßen genaue phänomenologische Beschreibung dieser Leistungen solchen Mißverständnissen vorbeugen kann. In der Einführung15 wurde der Untersuchungsgegenstand der Phänomenologie genannt (Bewußtseinsgegenstände und die Be15

Vgl. Kapitel 1.3.

2.2 Erleben, Erfahren, Handeln

29

wußtseinsleistungen, in denen sich Bewußtseinsgegenstände bilden), und es wurde das Wesentliche an der beschreibenden Methode dieser strengen philosophischen Wissenschaft umrissen (Reduktion und Konstitutionsanalyse). Hier wollen wir die handlungstheoretisch unmittelbar bedeutsamen Ergebnisse der phänomenologischen Forschung noch einmal erläutern. Am besten beginnen wir damit, daß wir einen wichtigen Satz wiederholen: „Bewußtsein ist nichts an sich, sondern stets Bewußtsein von etwas." Dieses jeweilige „von" konstituiert sich in fortlaufenden Synthesen. Diese Synthesen sind automatisch, das Bewußtsein kann sozusagen nicht anders; seine automatischen oder passiven Leistungen können nicht gesteuert oder ausgeschaltet werden. So wird immer das, was gerade jetzt im Bewußtsein ist - und automatisch wieder dahinschwindet - mit dem, was gerade dahingeschwunden ist und mit dem, was gerade dabei ist, ins Bewußtsein zu treten, automatisch verschmolzen. In der phänomenologischen Fachsprache geht es hierbei um Synthesen der retentiven, aktuellen und protentiven Phasen im inneren Zeitbewußtsein. Die Bewußtseinsgegenstände, die sich in passiven Synthesen vorstellen, präsentieren sich in verschiedenen Modalitäten wie: unmittelbare Wahrnehmung, Erinnerung, phantasierende Vergegenwärtigung, fiktiven Darstellung, usw. Aber wie immer sie sich auch vorstellen, sie zeigen sich in der universalen Struktur aller Bewußtseinsgegenstände, wie es HUSSERL schon aufgedeckt hatte. Aufgrund der von ARON GURWITSCH weitergeführten Analyse (GURWITSCH 1957) unterscheiden wir zwischen einem thematischen Kern, welcher sich im Bewußtsein aktuell vorstellt; einem thematischen Feld, welches den Kem umgibt und aus für ihn relevanten und den aktuell vorhandenen Verweisungen und Sedimenten besteht, und einem offenen Horizont, in dem das thematische Feld steht. Für die Analyse der Konstitution von Sinn im Handeln sind die thematischen Kerne, die sich im Bewußtsein in passiven Synthesen bilden, von besonderer Bedeutung. Sie sind die Grundlage aller Sinnkonstitution. In einer ersten Annäherung könnten wir solche thematischen Kerne Erlebnisse nennen. Die Definition wäre allerdings etwas zu eng, und wir wollen sie auch gleich erweitern. Kein Erlebnis enthält nur den aktuellen Kern der jeweiligen Erlebnisphase selbst, sondern auch das (als zu ihm gehörige) mit-

30

2. Bewußtseinsleistung und Wirklichkeitsveränderung

erfaßte gerade Vergangene und so fort bis zu einem Bruch, bis an eine variable Grenze, an der das Aufeinanderfolgende nicht mehr als zusammengehörig angesehen wird. Außerdem enthält ein Erlebnis, so wie wir den Begriff hier verstehen wollen, nicht nur das sich selbst präsentierende Thema, sondern thematisch relevante Bestandteile, die ihm „appräsentiert" sind. Dazu ein Beispiel. Wenn wir an einem Baum vorbeigehen, ohne besonders auf ihn zu achten, „sehen" wir dennoch nicht nur die uns zugekehrte Seite, sondern gleichzeitig automatisch auch die Kehrseite. Wir können ohne viel darüber nachzudenken, darauf verzichten, ihn anzustoßen, weil wir automatisch „wissen", daß er nicht nur zu sehen ist, sondern auch gespürt werden könnte, und wir registrieren automatisch den Duft der Blüten als zur Linde gehörig. Ähnliches hatten wir bereits in der Einführung am Beispiel des Tisches besprochen. Erinnern wir uns daran, daß das, was „nur" appräsentiert wird eine andere, schwächere Evidenz hat als das, was sich „selbst" vorstellt. Die Rückseite des Baumstammes könnte ja in Wirklichkeit gar keine Rinde haben, weil sie zu Testzwecken abgeschält worden wäre. Den Inhalt solcher dem Kern appräsentierten Bestandteile machen Vorerfahrungen, d.h. bestimmte Elemente des subjektiven Wissensvorrats aus.16 Bei allen Erlebnissen - zumindest solchen, die in der alltäglichen Wirklichkeitsebene stattfinden - wird ihr jeweiliger Typus appräsentiert.17 Der Typus ist ein aus der eigenen Vorerfahrung und aus gesellschaftlichen Wissensbeständen vermittelter, oft sprachlich fixierter Zusammenhang thematischer Bestandteile. All diese automatischen Synthesen und Appräsentationen verschmelzen zur selbstverständlichen Einheitlichkeit alltäglicher Erlebnisse. In Erlebnissen ist das in der Einleitung ja schon reduzierte „Ich" noch gar nicht beteiligt. Der Baum hat sich im letzten Beispiel im Vorbeigehen als Erlebnis konstituiert. Das Ich kann sich einem Erlebnis jedoch auch aufmerksam zuwenden, es kann sich im Erlebnis sozusagen „engagieren". Dadurch wird dem Erlebnis ein höherer Grad von Bestimmtheit verliehen, es hat einen deutliche16

17

Wer diese Analyse weiterverfolgen will, sei auf das dritte Kapitel von ALFRED SCHÜTZ/THOMAS LUCKMANN, „Strukturen der Lebenswelt" (Band 1, Frankfurt/M. 1979) verwiesen. Zur Typik vgl. ebd. 277 f.

2.2 Erleben, Erfahren, Handeln

31

ren Anfang, ein deutlicheres Ende, und der Erlebniskern hebt sich deutlicher aus dem Bewußtseinsstrom heraus. Der Verlauf der thematischen Kerne, die sich zu einem Erlebnis zusammenschließen, erfolgt unter einem schärferen Fokus. Erlebnisse dieser Art bilden offensichtlich nur einen Teil aller Erlebnisse. Wir wollen Sie Erfahrungen nennen. Auch Erfahrungen sind aktuelle Erlebnisabläufe, obwohl sie schärfer umrissen sind und ihnen ein höherer Grad an Aufmerksamkeit zukommt. Aber auch sie haben als solche und für sich genommen noch keinen „Sinn". Wir heben diesen Begriff für etwas auf, was sich erst im reflexiven, nachträglichen Zugriff des Bewußtseins konstituiert. Der Sinn einer Erfahrung bildet sich also nicht in ihrem schlichten Verlauf, sondern erst, wenn sich das Ich seinen Erfahrungen nachträglich zuwendet und sie in einen, über deren schlichte Aktualität hinausgehenden Zusammenhang setzt. Sinn ist nichts „an sich". Der Sinn einer Erfahrung konstituiert sich im bewußten, reflexiv erfaßten Zusammenhang zwischen der ursprünglichen Erfahrung und etwas anderem. Sinn ist also eine Relation. Der einfachste Fall eines solchen anderen ist eine andere Erfahrung, zu der die gerade in Frage stehende Erfahrung in eine Beziehung der Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit oder was auch immer gesetzt wird (in unserem Beispiel vielleicht: „Schon die zweite Linde, die ich heute sehe"). Das andere kann aber auch ein ganzes Erfahrungsschema sein, das aus dem subjektiven Wissensvorrat hervorgeholt wird, oder sich von selbst angeboten hat (z.B: „Warum riechen die Blüten dieser Linde so schwach?"). Das andere kann auch eine höherstufige Typisierung sein (z.B: „Linden stehen selten so nah an der Waldgrenze, sie brauchen dort einen ganz besonders günstigen Standort"), eine andere Handlungsmaxime („So gern ich ,Hans liebt Gretel' in die Rinde einritzen würde, ich weiß, daß die armen Bäume heutzutage genug zu leiden haben"), oder eine moralische Legitimation („Ich ritze dennoch und pflanze zwei neue Linden"). Das Wie und Warum der reflexiven Bewußtseinszuwendung, der Sinngebung also, hängt sowohl von der jeweiligen Situation ab - das Ich wendet sich schließlich im reflexiven Zugriff von seiner gerade aktuellen Erlebnissituation ab, um sich einer vergangenen zuzuwenden - als auch vom gesam-

32

2. Bewußtseinsleistung und Wirklichkeitsveränderung

ten Handlungszusammenhang, in den die Erfahrung eingebettet ist. Sowohl das Ich-Engagement, das eine Erfahrung aus der Erlebnisfolge hervortreten läßt wie auch die reflexive Zuwendung zu einer Erfahrung im Sinngebungsprozeß sind dem Ich teils in der konkreten Situation auferlegt, teils werden sie vom subjektiven Relevanzsystem frei gelenkt. Unter dem Relevanzsystem eines Individuums soll der lebensweltlich bestimmte Gesamtzusammenhang seiner Interessen, Wichtigkeiten und Dringlichkeiten verstanden werden.18 Fassen wir das bisher Gesagte zusammen. Aus dem Bewußtseinsstrom heben sich auf Grund passiver Synthesen Erlebnisfolgen ab. Infolge von Ich-Zuwendungen bilden sich im Ablauf der Erlebnisse einzelne Erfahrungen aus; im reflexiven Zugriff des Bewußtseins wird manchen Erfahrungen ein Sinn verliehen.19 Hier sind wir an einem entscheidenden Punkt unserer Überlegungen über das Handeln als Bewußtseinsleistung angelangt. Denn ein Ich kann sich Erfahrungen nicht nur nachträglich, sondern auch - in einem eigentümlichen, gleich zu erläuternden Sinn - schon im voraus zuwenden. Selbstverständlich nicht dem gleichen Typ von Erfahrung den wir bisher beschrieben haben - den in Erlebnissen vorgebildeten, durch Ich-Engagement konstituierten Erfahrungen mit einem direkten Wirklichkeitsanspruch. Es geht vielmehr um Erfahrungen, die in der Vorstellung, wenn man so will, phantasierend vorweggenommen werden. Wenn nun wirkliche Erfahrungen nicht schlicht und einfach ablaufen, sondern sich an „vorweggenommenen" Erfahrungen ausrichten, haben sie schon in ihrem aktuellen Verlauf und nicht erst nachträglich einen Sinn. Denn sie stehen schon in ihrem Verlauf in einer Beziehung zu etwas anderem, in diesem Fall der vorweggenommenen phantasierten Erfahrung. Diese Beziehung ist dem Ich mehr oder weniger - mei18

19

Wer dem Problem der subjektiven Relevanzsysteme noch weiter nachgehen möchte, findet entsprechende Analysen in ALFRED SCHÜTZ/ THOMAS LUCKMANN, „Strukturen der Lebenswelt", Band 1, Frankfurt/M. 1979, Kap. III b. „Verleihen" ist hier nicht als willkürlicher Akt gemeint, ebensogut könnte man von einer „Entdeckung" des Sinns in der Erfahrung sprechen.

2.2 Erleben, Erfahren, Handeln

33

stens weniger - bewußt und kann recht unterschiedliche Formen annehmen: Nahezu völlige Übereinstimmung zwischen vorweggenommener und aktueller Erfahrung (Erfolg) steht an einem Pol, fast völlige Nichtübereinstimmung (Scheitern) am anderen, neben vielen zwischen diesen Extremen liegenden Möglichkeiten. Einige Bemerkungen noch zur Begrifflichkeit: Vorweggenommene Erfahrungen werden wir Entwürfe nennen; den zu einem Entwurf in Beziehung stehenden aktuellen Erfahrungsverlauf Handeln und das zum Abschluß gekommene Handeln eine Handlung. Das alles wird in den folgenden Kapiteln aber noch genauer analysiert werden. Vorläufig sei festgehalten, daß Handlungen nicht wie Erlebnisse und schlichte Erfahrungen von sich aus geschehen, sondern vom Handelnden ausgehen; sie sind „motiviert". Das die aktuelle Erfahrung steuernde Motiv ist die Erreichung eines Ziels; das Ziel ist die im Entwurf vorweggenommene Erfahrung. Der aktuelle Sinn des Handelns konstituiert sich in der Beziehung zwischen Entwurf und aktuellem Verlauf, zwischen „Phantasie und Wirklichkeit". Handeln gewinnt seinen Sinn prospektiv und hat ihn aktuell. Aber wie alle anderen Erfahrungen kann auch das abgeschlossene oder unterbrochene Handeln in den Griff des Bewußtseins genommen, in Beziehung zu anderen Handlungen, Handlungsschemata, moralischen Maximen, Legitimationen usw. gesetzt werden und so auch reflexiv einen Sinn erhalten. Allerdings ist hier die nachträgliche Konstitution von Sinn ein verwikkelterer Vorgang, als die Sinnkonstitution bei schlichten Erfahrungen, da Handlungen im Gegensatz zu diesen ja schon einen aktuell gewesenen Sinn mitbringen und eine komplexere Zeitstruktur aufzuweisen haben.

3.

Das Verstehen von Handlungen

3.1

Gesellschaftliche Verantwortungszuschreibung

Daß Handlungen zum Kernbestand der alltäglichen Wirklichkeit gehören, wird kaum jemand bezweifeln, ebenso wenig, daß nicht nur ich, sondern auch meine Mitmenschen des Handelns fáhig sind; mehr noch, daß sie diese Fähigkeit tagaus, tagein in einer ähnlichen Weise zur Anwendung bringen wie ich selbst. Solche Selbstverständlichkeiten werden aber nicht eigens ausgesprochen, sie gehören zum unbefragten Hintergrund unseres Zurechtfindens in der Welt. Hier müssen aber diese Selbstverständlichkeiten dennoch etwas näher betrachtet werden, ganz so unproblematisch sind sie auf den zweiten Blick nicht. In der „natürlichen" Einstellung des täglichen Lebens ist es uns, wie gesagt, selbstverständlich, daß andere Menschen handeln und zwar ungefähr so handeln wie wir. Selbst diese Annahme beruht aber auf einer noch grundlegenderen Selbstverständlichkeit unserer Orientierung in der Welt: Wir nehmen stillschweigend an, daß andere Menschen die Welt ungefähr so erleben und erfahren wie wir selbst. Ich „weiß", ohne es ausdrücklich zu wissen, daß ich nicht nach gestern zurück kann, daß niemand es kann. Nicht nur ich kann mich aber an gestern erinnern, jeder kann es. Nicht nur mir tut der Kopf weh, wenn ich gegen einen Balken gestoßen bin, er wird jedermann unter den gleichen Umständen ähnlich weh tun. Wir alle spüren Schmerz, Hunger, Angst, Freude, wir alle können Geräusche hören (Taube allerdings nicht), wir alle können sehen (Blinde ausgenommen). Und natürlich, was ich jetzt sehe, sieht niemand genau so wie ich, da nur ich jetzt an genau diesem Ort stehen kann. Aber auf solche kleinlichen Einzelheiten kommt es meistens nicht an. Manchmal sind diese Kleinigkeiten dennoch von Bedeutung: Ich sehe, daß hinter meinem Gegenüber jemand die Faust gegen ihn erhebt, und da ich weiß, daß er keine Augen im Hinterkopf hat, warne ich ihn. Natürlich, stünde er hier, wo ich stehe, hätte er das gleiche sehen können. Kurzum, wir nehmen eine grundlegende Gleichheit aller Erfahrungen in der Welt an, sind aber bereit, gewisse empirische Abweichungen anzuerken-

3.1 Gesellschaftliche Verantwortungszuschreibung

35

nen. So nimmt jeder eine gewisse Einzigartigkeit seiner Erfahrungen in Anspruch, nicht nur eine situationsbedingte, sondern auch eine lebensgeschichtliche. Jeder „weiß" schließlich, daß er sein eigenes Leben und nicht das eines anderen lebt. Fassen wir das zusammen. Abgesehen von der Annahme, daß wir nicht allein auf dieser Welt sind, ist es wohl das elementarste Axiom der „natürlichen" Einstellung, daß andere Menschen die Welt ungefähr so erleben und erfahren wie wir selbst - oder jedenfalls unter den gleichen Umständen so erleben und erfahren würden. Den ersten Teil dieser Feststellung nennen wir mit SCHÜTZ die Generalthese der Reziprozität (oder Wechselseitigkeit) der Perspektiven, den zweiten Teil bildet die Ceteris-paribus-Klausel. Wir wissen wohl, daß die Umstände unseres Erlebens und Erfahrens, sehr genau genommen, niemals gleich sein können, daß sie aber oft und für die meisten praktischen Zwecke des täglichen Lebens in ausreichendem Maß gleich sind. Welchen Grund haben wir, zu behaupten, daß diese Annahme auch auf das Handeln ausgedehnt werden darf? Welche Evidenz haben wir dafür, daß andere Menschen überhaupt handeln, und wie wissen wir, welche Handlungen sie vollziehen? Denn wenn Handeln in einer Sinnbeziehung (der Beziehung zwischen dem aktuellen Erfahrungsverlauf und dem Entwurf) zustande kommt, ist nicht nur der jeweils besondere Sinn dieser Beziehung, sondern grundsätzlich das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein einer solchen Beziehung nur dem Handelnden (bzw. dem Nicht-Handelnden) evident. Angenommen, daß ein anderer Mensch den aktuellen Erfahrungsverlauf beobachtet, wird er niemals mit Sicherheit sagen können, ob dieser Erfahrungsverlauf sich an einem Entwurf ausrichtet oder nicht - und erst recht nicht, an welchem Entwurf. Entwürfe sind „Phantasien", und meine Phantasie ist im Prinzip nur mir, deine nur dir zugänglich. Auf eine kurze Formel gebracht heißt das, daß Handeln grundsätzlich nicht am beobachtbaren Verhalten ablesbar ist. Grundsätzlich nicht, das stimmt wohl. Aber „grundsätzlich" und „in der Praxis" sind zwei verschiedene Dinge. Zuerst hängt schon einiges von der Art des aktuellen Erfahrungsablaufs ab, der sich (möglicherweise) an einem Entwurf ausrichtet. Wenn jemand mit geschlossenen Augen dasitzt, kann man natürlich nicht mit Sicherheit entscheiden, ob er nur vor sich hindöst, ob er sich an den

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3. Das Verstehen von Handlungen

Namen des flüchtigen Bekannten zu erinnern versucht, dem er am Morgen auf der Straße begegnete, oder ob er kurz davor steht, die lange gesuchte Ableitung des phytagoreischen Lehrsatzes zu finden. Wenn er hingegen am Nachmittag in der Küche sitzt und Kartoffeln und Gemüse in einen Topf am Herd schneidet, wird man die Chance, daß er schlafwandelt oder einen hypnotischen Befehl gehorcht ziemlich niedrig einschätzen. Und warum? Man hat schon oft ähnliches gesehen, im subjektiven Wissensvorrat sind entsprechende Typisierungen abgelagert. Damit sind wir jedoch noch nicht auf den Grund gestoßen, es handelt sich immer noch um Evidenzen aus zweiter Hand. Aber wir alle haben auch ursprünglichere Evidenz von diesen Vorgängen. Jeder hat schon einmal einen Eintopf gekocht, mindestens aber Gemüse geschnitten und ganz sicher schon einmal gegessen. Jeder hat schon einmal mit geschlossenen Augen Musik gehört oder sich an etwas zu erinnern versucht. Jedenfalls hat jeder „bemerkt", daß manches Tun die Welt verändert hat, zuerst in der Phantasie des Entwurfs und dann in der Wirklichkeit des Vollzugs. Wenn er die Veränderung selbst bemerken konnte, „weiß" er natürlich auch, daß sie ebensogut von anderen Menschen beobachtet werden kann. Kurzum: Wir alle stellen einigermaßen feste Beziehungen („empirische Korrelationen") zwischen eigenen Entwürfen und eigenem Verhalten fest. Nach dem Grundsatz der Wechselseitigkeit der Perspektiven ist die Umkehrung nur folgerichtig: Typisches Verhalten anderer Menschen steht in einer einigermaßen festen Beziehung zu ihren typischen Entwürfen. Und wenn andere Menschen - ceteris paribus - die Welt und die Wirklichkeit so erleben und erfahren wie ich, handeln sie auch - ceteris paribus - ungefähr so wie ich. Ihre typischen Entwürfe sind den meinen ebenso ähnlich, wie ihr typisches Verhalten dem meinen ähnlich ist. Man kann sich in jedem konkreten Fall einmal täuschen, aber im großen und ganzen täuschen wir uns nicht auf Dauer. Die Deutungsschemata, die wir für die Handlungen anderer entwickeln, sind im Prinzip durch Enttäuschungen korrigierbar. Trotzdem bleibt unbestritten, daß in jedem Einzelfall der Handelnde selbst die letzte Instanz dafür ist, ob er handelt und - falls er überhaupt handelt - auf welches Ziel hin er handelt. Das ist gewiß von entscheidender theoretischer und moralischer Be-

3.1 Gesellschaftliche Verantwortungszuschreibung

37

deutung. Aus gutem Grund sehen aber die Dinge in der Praxis des Alltags etwas anders aus. Da kommt es, sagen wir es mit einiger Übertreibung, auf den Schein, auf den wohlbegründeten Schein des Handelns an. Jeder Handelnde ist im Prinzip die letzte Instanz hinsichtlich seines Handelns, jeder lebt aber in einer Welt von Mitmenschen. Jeder muß feststellen, daß die Handlungen anderer Folgen für ihn haben, jeder stellt fest (oder wird dazu gezwungen), daß sein Handeln Folgen für die anderen hat. Das betrifft nicht nur das Handeln, sondern ebensogut auch das Nicht-Handeln. Handeln ist sowohl eine subjektive Bewußtseinsleistung wie auch die objektive Voraussetzung für den Aufbau einer sozialen Welt. In einer sozialen Welt sind die Mitmenschen zwar nicht die letzte, wohl aber die praktisch entscheidende Instanz für das eigene Handeln. Grundsätzlich ist alles Handeln, nicht nur soziales Handeln im engeren Sinn sozial relevant. Es ist also nicht überraschend sofern man die Fähigkeit zur Kommunikation (einen Begriff, den wir im Moment ungeklärt lassen) voraussetzt - , daß sich sprachliche Kategorien ausbilden, welche sich auf typisches Handeln beziehen. „Handeln" und sinnentsprechende Begriffe gehören zu den semantischen Grundkategorien aller Sprachen, die Trennung zwischen Handeln und Nicht-Handeln gehört zu den sprachlichen Universalien. In vielen Sprachen, ja in der Mehrzahl der bekannten Sprachen, gehören handlungsartige Kategorien zur Syntax; z.B. Tempora, Modi usw. Jede Sprache in ihrer Weise bildet so ein Raster von Kategorien, das noch vor jeder ausdrücklichen moralischen Beurteilung und theoretischen Verarbeitung den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft nahelegt, für manche Geschehnisse sich selbst, anderen oder nichtmenschlichen Instanzen sozusagen die „Urheberrechte" zuzuschreiben. Der Satz „Er hat vor mir ausgespuckt" bedeutet etwas anderes als „Speichel ist ihm aus dem Mund geflossen". Typische Verhaltensverläufe werden als Handlungen erfaßt und moralisch bewertet, normalerweise mit Hilfe sprachlicher Kategorien. So wird - innerhalb deutlicher Grenzen - kultur- und epochenspezifisch für manches Verhalten, für Handlungen, Verantwortung zugeschrieben, für manches andere Verhalten nicht. Das Verhältnis von Handeln und Verhalten muß vor diesem Hintergrund noch etwas näher betrachtet werden.

38 3.2

3. Das Verstehen von Handlungen

Handeln und Verhalten

Handeln ist eine Bewußtseinsleistung, nicht eine objektive Kategorie der natürlichen Welt. Das heißt selbstverständlich nicht, daß diese (oder irgendeine andere) Bewußtseinsleistung der gesellschaftlichen Vor- und Nachprägung unfähig sei, im Gegenteil, über Handeln wird berichtet und verhandelt. Lassen wir aber für einen Augenblick diese sekundären gesellschaftlichen Aspekte beiseite. Jetzt interessiert uns zunächst, daß viele der Handlungen anderer Menschen als solche (schon im Vollzug) zugänglich sind - nur eben nicht unmittelbar, sondern vermittelt. Das was Handeln vermittelt, ist Verhalten; ein körperliches Geschehen in Raum und Zeit, das anderen Menschen, die dieses Geschehen beobachten, Aufschluß über Tun und Lassen geben kann. Im übrigen kann es auch dem Handelnden selbst Auskunft über den Verlauf des Handelns geben. Natürlich erscheint das Verhalten dem Handelnden und den Beobachtern nicht in gleicher Perspektive. Außerdem braucht der Handelnde selbst meist keinen vermittelten Aufschluß über sein Handeln, er hat es ja selbst unvermittelt, von seinem Entwurf her, im Griff. Über die innere Wahrnehmung des Handlungsverlaufs hält er es, so gut es geht, sozusagen unter ständiger Kontrolle. Aber der Handelnde ist zugleich auch der Beobachter des Handelns anderer (einschließlich ihrer Beobachtungen). Kurzum, jeder Mensch handelt und jeder Mensch erfährt fremdes Handeln. Wir können also das Verhältnis zwischen Verhalten und Handeln von zwei Seiten betrachten: vom Handelnden und vom Beobachter ausgehend. Nach dem Grundsatz der Reziprozität der Perspektiven sieht jeder Mensch, daß andere ebenso handeln wie er selbst, daß er selbst als Handelnder von anderen beobachtet wird. Gewiß, er bleibt zwar selbst die letzte Instanz, die zu entscheiden hat, ob er in einem gegebenen Fall gehandelt hat oder nicht - und ob die Handlung gelungen ist oder nicht. Es sind aber die anderen, die Mitmenschen, die aufgrund gesellschaftlicher (im gesellschaftlichen Wissensvorrat abgelagerter und im Sozialisierungsprozeß vermittelter) Regeln den beobachteten typischen Verhaltensabläufen auch das typische Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Ziels, eines Handlungsentwurfs - und zwar

3.2 Handeln und Verhalten

39

eines typischen - zuordnen. Als praktisch gültige Instanz entscheiden die anderen, nicht der Handelnde, ob etwas eine Handlung war oder nicht, was für eine Handlung es war und sogar, ob sie erfolgreich war oder nicht. Zwischen Handeln als einem subjektiv vorentworfenen Erfahrungsablauf und Verhalten, das von Mitmenschen als Verkörperung von Handeln erfaßt werden kann, besteht also ein verwickelter und unzertrennlicher Zusammenhang. Die Perspektiven, in denen Verhalten von Handelnden und von Beobachtern als Handeln angesehen wird, sind zwar verschieden, sie sind aber systematisch als Sinnabschattungen typisch ähnlicher oder identischer Vorgänge aufeinander bezogen. Aufgrund seiner Doppelrolle als Handelnder und Beobachter, noch vor jeder theoretischen Reflexion, ist jeder völlig mit der Tatsache vertraut, daß Verhalten zwar Handeln grundsätzlich nur sehr unvollkommen verkörpert, aber praktisch doch in äußerst nützlicher Weise auf jenes hinweist. Die gesellschaftlich konstruierten Regeln, welche bestimmten Handlungstypen auch bestimmte Verhaltensweisen zuordnen, wendet man ebenso an sich selbst an wie an anderen. Zudem ist es selbstverständlich, daß sich nicht nur Handeln im Verhalten verkörpert, sondern daß sich bis zu einem gewissen Grad auch schon schlichte Erfahrungen im Verhalten anzeigen. Wenn ich sehe, daß jemand rot im Gesicht wird, hat er das vermutlich nicht geplant, trotzdem lese ich daran ab, daß er sich körperlich anstrengt, daß er zu viel getrunken hat, daß er aus Scham errötet usw. Der Körper des Mitmenschen ist Träger bestimmter Symptome, die gar nicht im Bewußtsein des betreffenden Menschen aufzutauchen brauchen. Vor allem aber ist der Körper ein Ausdrucksfeld (im eigentlichen Sinn des Wortes) für die Bewußtseinsvorgänge des Mitmenschen, für seine Erfahrungen und Handlungen. Als Beobachter der Mitmenschen lernen wir es, an ihren Körpern und Körperbewegungen abzulesen, was sie tun und wie sie erfahren, was ihnen widerfährt. Diese Verhaltensindizien sind für uns als in einer Gesellschaft Handelnde nicht nur gelegentlich nützlich, sie sind grundsätzlich notwendig.

4.

Handeln in der Welt und Handeln in die Welt

4.1

Denken und Wirken

Es leuchtet ohne weiteres ein, daß ein Mensch, der handelt, weiß, daß er handelt. Er hat schließlich das, was geschieht, ungefähr so vorentworfen, wie es geschieht - und beim Mißlingen der Handlung merkt er, daß das, was geschieht, seinem Entwurf nicht entspricht und seiner Lenkung entgleitet. Und es leuchtet ein, daß häufig auch andere Menschen, nicht nur der Handelnde selbst, mit einiger Zuversicht feststellen können, ob jemand handelt oder nicht; mehr noch, daß sie oft sogar sagen können, was der Betreffende tut. Für beides finden sie meistens ausreichende Hinweise im beobachtbaren Verhalten ihres Gegenübers. Das alles haben wir schon zur Genüge besprochen; es blieb aber noch eine Frage offen: Wie steht es mit dem Handeln, das nicht am Verhalten ablesbar ist? Man weiß ja, daß nicht alles einem Entwurf folgende Handeln auch „äußerlich" verkörpert und somit für die Mitmenschen beobachtbar sein muß. Alles Handeln findet selbstverständlich in der Welt statt, aber daraus folgt nicht, daß alles Handeln zugleich auch in die Welt eingreift. Gibt es also zwei grundverschiedene Arten des Handelns? Ob sein Handeln in die Umwelt eingreift oder nicht, ist natürlich auch für den Handelnden selbst aus praktischen Gründen sehr wichtig. Manchmal will er die Umwelt irgendwie verändern (und wenn es auch nur darum geht, einen Apfel vom Baum zu pflükken), und dann ist es wesentlich, daß sein Handeln tatsächlich und nicht nur in Gedanken in sie eingreift. Auch wenn ein Mensch keine weltverändernden Pläne verfolgt, kann es für ihn oft gewichtige Folgen haben, falls sein innerliches Handeln am äußeren Verhalten abgelesen werden kann. Die Beobachtbarkeit seines nicht vorsätzlich in die Welt eingreifenden Handelns ist vom Handelnden aus gesehen grundsätzlich - und oft auch praktisch - von zweitrangiger Bedeutung; für ihn besteht der wesentliche Unterschied zwischen einem Handeln, das seinem Entwurf entsprechend in die Umwelt eingreift, und einem Handeln, das nur mehr

4.1 Denken und Wirken

41

oder minder zufällig oder unvermeidlich in der Umwelt bemerkbar wird. Es besteht schließlich ein beachtlicher Unterschied zwischen dem Pflücken von Äpfeln und dem Abzählen von Äpfeln an einem Baum. Ob jemand beim Abzählen die Lippen bewegt oder nicht, ist hingegen für den Betreffenden normalerweise unerheblich. Tätigkeiten, die in die Umwelt eingreifen, wie beispielsweise das Äpfelpflücken, wollen wir, ohne uns von der Umgangssprache allzu weit zu entfernen, Wirken nennen; Tätigkeiten, die hingegen wesentlich im Bewußtsein ablaufen, wie Äpfel zählen, wollen wir dagegen als Denken bezeichnen. Vom Beobachter aus gesehen ist Denken keine ganz so einfach erfaßbare Form von Handeln wie für den Denkenden selbst. Wenn ein Mensch selbst denkt, weiß er das; wie soll er aber wissen, ob sein Mitmensch denkt? Zunächst einmal weiß er ja aus eigener Erfahrung, daß man es ihm nicht eigentlich ansehen kann, ob er denkt - und erst recht nicht, was er denkt. Gedanken sind in diesem Sinne „zollfrei". Vom Beobachter aus gesehen ist also Denken ein Handeln, das man am Verhalten nicht ablesen kann - und von dem man eigentlich auch gar nicht wissen kann, ob es ein Handeln ist. Wie in vielen anderen Dingen besteht auch hier zwischen „grundsätzlich" und „praktisch" ein nicht unwesentlicher Unterschied. Vorhin wurde schon festgestellt, daß auch inneres Handeln, das vom Handelnden her eindeutig als Denken aufzufassen wäre, manchmal am Verhalten ablesbar ist. Darüber haben wir alle Erfahrungen gesammelt; Erfahrungswerte über äußere Anzeichen für Denken sind bei allen Menschen in ihren subjektiven Wissensvorräten abgelagert. So ganz bewegungslos muß das Denken nicht vonstatten gehen, es wird ja oft von stummen Lippenbewegungen, von Kopfwiegen, Stirn runzeln, an den Fingern abzählen oder ähnlichen beobachtbaren Bewegungen begleitet. Auch manches Nicht-Handeln ist am Verhalten ablesbar. Ohne daß man es will, kann ein Augenblinzeln verraten, daß man wach ist; kann man vor Wut blaß werden, ohne es dem Gegenüber zeigen zu wollen; mag man denken, daß er Unsinn redet - und peinlicherweise merkt er, was man denkt. Gedanken sind also nicht immer „zollfrei". Denken ist nicht nur für den Denkenden ein Handeln, sondern stellt auch für den Beobachter eine mögliche Art des Handelns dar, und zwar einfach deswegen, weil jeder von uns handelt, denkt, beobachtet. Aber im einzelnen Fall denkt der eine und beobachtet

42

4. Handeln in der Welt und Handeln in die Welt

der andere - und wir haben gesehen, daß es zwischen jeweils Handelnden und jeweils Beobachtenden beträchtliche Perspektivenunterschiede gibt, die auch im praktischen Leben Folgen haben. Für den Handelnden ist „Denken" ein Handeln, das seinem Entwurf nach nicht zielstrebig in die Umwelt eingreift; für den Beobachter ist es ein Handeln, das nicht allzu sichtbar wird. Umgekehrt ist „Wirken" für den Handelnden ein Handeln, das in die Umwelt hinein entworfen und vollzogen wird; für den Beobachter ist es ein Handeln, das offensichtlich in die Umwelt eingreift und von dem man erfahrungsgemäß annimmt, daß es absichtlich in die Umwelt eingreift. Daß jemand Äpfel pflückt, ohne es zu wollen, ist recht unwahrscheinlich. Wir haben Wirken gerade als Handeln bestimmt, das in die Umwelt eingreift. Dabei sollten wir aber bedenken, daß es zwischen Entwurf und Vollzug einen Unterschied gibt, der auch hier eine gewisse Bedeutung erlangen kann. Es wäre sinnlos, ein Handeln, das nicht tatsächlich in die Umwelt eingreift, als „Wirken" zu bezeichnen. Wirken ist also auf jeden Fall ein Handeln, in dem der eigene Körper zielstrebig gesteuert wird. Aber was ist der Fall, wenn im Entwurf ursprünglich vielleicht gar nicht vorgesehen war, daß die Umwelt in einer bestimmten Weise verändert werden sollte, der Handelnde jedoch gewisse leibliche Bewegungen vollzog und dadurch eine - wie immer geringfügige - Umweltveränderung in Kauf genommen hat? Er mag z.B. die Äpfel halblaut und mit Hilfe seiner Finger gezählt haben. Dabei geht das Denken in eine Art Wirken über, obwohl in der Umwelt nichts Besonderes bewirkt wurde. Offensichtlich ist das nicht die gleiche Art von Wirken, die wir beim Pflücken eines Apfels feststellten. Dort wurde vom Handelnden eine ganz bestimmte Umweltveränderung entworfen (Apfel vom Baum in die Hand), und die gesteuerte leibliche Bewegung war für die Verwirklichung des Entwurfs unumgänglich. Hier wird hingegen eine Handlung schrittweise im Bewußtsein vollzogen, und die Lippenbewegung ist für das Zählen der Äpfel nicht unbedingt nötig. Um ein anderes Beispiel anzuführen: Wenn jemand sagt „Bitte pflücke diesen Apfel für mich", hat er mit der Bitte eine bestimmte Umweltveränderung beabsichtigt und - unter gegebenen Bedingungen und durch die von ihm verursachten leiblichen Bewegungen des Mitmenschen - auch tatsächlich bewirkt. Wenn er sich in Gedanken nur ausmalt, wie schön es

4.1 Denken und Wirken

43

wäre, wenn ihm jemand das Äpfelpflücken abnehmen würde, hat er zwar gedacht, aber nicht gewirkt. So gibt es viele Zwischenstufen zwischen reinem Denken, einem Wirken, bei dem Umweltveränderungen entweder nur beiläufig oder geringfügig sind, und einem Wirken, das die Umwelt in beträchtlicher oder beabsichtigter Weise verändert. Aber bei allen Übergängen und Mischformen bleiben die Grundtypen als verschiedene Möglichkeiten des Handelns in der Welt und in die Welt bestehen. Bei der alltäglichen Orientierung in der Sozialwelt spielen die typischen Unterschiede zwischen diesen Möglichkeiten eine nicht zu verkennende Rolle. Dessen ungeachtet könnte man in einer Anwandlung philosophischen Tiefsinns behaupten, daß jeder Gedanke - auf Umwegen - grundsätzlich eine Veränderung der Welt bedeutet. Wir wissen aber trotzdem sehr gut, daß im alltäglichen Leben manche Veränderungen völlig unwichtig sind. Wir mögen uns in Einzelfällen über die Bedeutsamkeit oder Unbedeutsamkeit einer Veränderung täuschen. Im allgemeinen verlassen wir uns jedoch mit einigem Erfolg auf die Erinnerung an eigene Erfahrungen und auf die sozial abgeleiteten Wissenselemente, die uns zur Verfügung stehen. Sie sagen uns, welches Denken und welches Wirken praktisch zu vernachlässigen ist und welche Umweltveränderungen folgenreich sein könnten, z.B. schädlich, gefährlich, nützlich, angenehm oder beglückend. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, daß Gedanken als solche die Welt in keinem praktisch anwendbaren Sinn des Wortes verändern. Das heißt natürlich nicht, daß wir ihnen überhaupt keine Bedeutung zumessen. Es kann uns gar nicht entgehen, daß viele Taten, die nachhaltig die Welt veränderten, die Folge von vorangegangenen Überlegungen sind. Viele Taten sind ein Wirken, das auf das Denken folgt und durch es motiviert ist. Wenn schon nicht Äpfel essen viel Nachdenken erfordert, so doch das Pflücken von Äpfeln, um vom Pflanzen der Apfelbäumchen gar nicht erst zu sprechen.

4. Handeln in der Welt und Handeln in die Welt

44

4.2

Arbeit

Unter den Grundformen des Wirkens verdient es vor allem eine gesondert betrachtet zu werden, nämlich jenes Wirken, das eine beträchtliche Umweltveränderung zum Ziel hat und das in der vergesellschafteten Praxis des täglichen Lebens eine (sowohl für die jeweils Handelnden als auch für die Beobachtenden) beachtenswerte Rolle spielt. Diese Grundform des Wirkens wollen wir Arbeit nennen. 20 Arbeit ist nicht aufgrund äußerlicher Merkmale erkennbar, sondern muß auch auf ihren typischen subjektiven und intersubjektiven Sinn bezogen werden. Wir haben für Arbeit keinen überzeitlichen, objektiven Maßstab. Die soeben vorgeschlagene Bestimmung macht Arbeit vielmehr ausdrücklich zu einer gesellschaftlich konstruierten, geschichtlichen Gegebenheit. Sie ist nicht überzeitlich, sondern nur historisch faßbar; ihre Objektivität ist selbst eine gesellschaftliche Konstruktion. Denn die Bestimmungsmerkmale sind grundsätzlich feststellbar und intersubjektiv überprüfbar: Subjektiv muß es sich um eine beabsichtigte und beträchtliche Umweltveränderung handeln, und über die Bedeutsamkeit des betreffenden Wirkens muß intersubjektive Übereinkunft herrschen. Die historischen Grenzziehungen zwischen Arbeit (im vorgeschlagenen Sinn) und anderen Arten des Wirkens (z.B. Spiel) trennten - in Übereinstimmung mit diesen zwei Kriterien - konkret doch recht unterschiedliche Betätigungen, da die Bestimmungen auf Grund sehr verschiedener Lebens-, Wirtschafts- und Machtverhältnisse zustande kamen. Formal gilt also, daß Veränderungen, die zufällige Folgen des Handelns sind, zwar als Wirken aufgefaßt, aber nicht dem Begriff „Arbeit" zugeordnet werden dürfen. Auch dann nicht, wenn die Folgen des Handelns unvermeidlich sind - solange sie eben nur nicht als Ziel des Handelns angestrebt wurden. Wenn jemand durch ein Schneetreiben nach Hause marschiert, hinterläßt er im Schnee Fußstapfen ob er will oder nicht und normalerweise wird ihm das gleichgültig sein. Eine merkliche Veränderung der Umwelt fand statt; wenn das Schneetreiben aufhört und der Schnee gefriert, ist die Spur sogar dauerhaft, und wenn jemand den heim20

Vgl. dazu auch die Einleitung von THOMAS LUCKMANN/WALTER SPRONDEL in: dies. (Hrsg.) „Berufssoziologie", Köln 1972

4.2 Arbeit

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kehrenden Menschen verfolgen sollte sogar gefährlich. Aber sie ist nicht beabsichtigt, sondern nur ein Begleitumstand des Handelns, das ein ganz anderes Ziel verfolgte: Wirken ja, Arbeit nein. Der objektiv gleiche Vorgang könnte jedoch unter veränderten Umständen auch sehr wohl als Arbeit erkennbar sein. Wenn sich die Goldsucher in Alaska seinerzeit durch den tiefen Schnee vorwärts kämpfen mußten, wechselten sie sich in der Aufgabe des Schneeniedertretens ab. So strengte sich jeweils nur einer an, während die anderen mit weniger Anstrengung vorwärts kamen, um dann abwechselnd und verhältnismäßig ausgeruht die Spitze zu übernehmen (so berichtet es aus eigenen Erfahrungen der Schriftsteller Jack London). Hier haben wir es zweifellos mit „Arbeit" im Sinn der vorangegangenen Bestimmung zu tun. Man könnte sich sogar vorstellen, daß die reicheren Goldsucher den ärmeren Geld für das Ausstampfen von Spuren bezahlten - dann wäre der gleiche Vorgang sogar so etwas wie „Lohnarbeit". Der umgangssprachlichen Bedeutung des Wortes „Arbeit" tun wir mit der vorgeschlagenen Bestimmung keine große Gewalt an. Die formale Bestimmung trifft mit ihren subjektiven und intersubjektiven Kriterien den umgangssprachlichen Kern. Andererseits decken sich beide nicht vollständig. Sie schließt mehr ein, als wir uns normalerweise unter Arbeit vorstellen. Wenn jemand glaubt, daß das Verfluchen eines Feindes diesen umbringt oder krank macht, und Verfluchen in der betreffenden Gesellschaft als eine mögliche Weise der Umweltveränderung gilt, dann ist Fluchen „Arbeit" im Sinn der formalen Bestimmung, obwohl sich unser normales Sprachgefühl gegen eine solche Ausweitung wehrt. Eine Prügelei, ein Liebesakt fallen ebenfalls unter diese weite Definition, obwohl sie in unserer Gesellschaft nicht unbedingt zum üblichen Bedeutungsbereich des Wortes „Arbeit" gehören. Es ist nicht unbekannt, daß andere Kulturen ganz allgemein für Eigenschaften, Gegenstände und Tätigkeiten, die uns sehr ähnlich oder sogar gleichartig erscheinen, recht unterschiedliche Begriffe bereithalten - und umgekehrt Eigenschaften, Gegenstände und Tätigkeiten, die wir mit feinen Unterscheidungen auseinanderhalten, unter einem umfassenden Begriff vereinen. „Arbeit" ist hier keine Ausnahme. In manchen Kulturen ist dieser Begriff sogar gänzlich unbekannt, obwohl die vorgeschlagenen Bestimmungs-

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4. Handeln in der Welt und Handeln in die Welt

gebracht werden könnten und so von ihm Arbeit auch dort feststellbar wäre, wo die Arbeitenden selbst von ihrem Glück gar nichts wüßten. In den frühmenschlichen Gemeinschaften von Jägern und Sammlern (Wild- und Feldbeuterkulturen) sind bestimmte Tätigkeiten wohl kaum ganz spezifisch als Arbeit ausgesondert worden; in einem gewissen Sinn dürfte fast alles Arbeit und damit so gut wie nichts Arbeit gewesen sein. Dafür gibt es indirekte Anhaltspunkte. Man hat berichtet, daß noch vor verhältnismäßig kurzer Zeit den im Regenwald umherstreifenden Pygmäen gelegentliche Hilfstätigkeiten für die feldbauenden Bantustämme der Umgebung nicht als Arbeit erschienen und ihnen diesbezügliche Aussagen der Bantus (welche die Pygmäen als eine Art Saisonarbeiter betrachteten) gar nicht einleuchten wollten. Aber ein außenstehender Beobachter hätte keine große Mühe, die organisierten Jagden der Männer, das Pflanzensuchen der Frauen usw. als Arbeit zu erkennen, von ihren entlohnten Tätigkeiten für die Feldbauern gar nicht zu sprechen.21 Der formale Begriff von „Arbeit" ist für vergleichend-analytische Zwecke natürlich auch auf Gesellschaften anwendbar, die selbst keinen entsprechenden Sammelbegriff für bestimmbare Arten des Wirkens entwickelt haben. Die Anwendung fällt in gewissem Sinn gerade in solchen Gesellschaften sogar leichter, weil sie nicht auf eingebürgerte Begriffsverwendungen stößt. Aber viele Kulturen haben Begriffe in ihre Sprachen aufgenommen, die wir in unserer Sprache mit „Arbeit" übersetzen würden. Es handelt sich vor allem um die Kulturen von Gesellschaften, die auf Bodenbau, Seßhaftigkeit und einer gewissen Verstädterung der Siedlungsform beruhen: die sogenannten Hochkulturen. Die Schwierigkeit liegt nun darin, daß diese Kulturen mit ihren „Arbeits"-Begriffen doch recht unterschiedliche Bündel von Tätigkeitsmerkmalen bezeichneten. Es geht ja hierbei nicht um eine schlichte Bezeichnung von vorfindlichen Gegenständen (und sogar da sind Bezeichnungen nur selten wirklich schlicht), sondern um gesellschaftliche Gegebenheiten, die unter unterschiedlichen Machtkonstellationen auch sehr unterschiedlich aufgefaßt, gedeutet und bewertet wurden. Man denke nur an die Bedeutungshorizonte von dem, was Arbeit genannt wurde im Alten und Neuen Testament, im antiken 21

C. M. TURNBULL, „The Forest People", New York 1980.

4.2 Arbeit

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Griechenland, im altchinesischen Kaiserreich, in den frühmittelalterlichen germanischen Stammesfürstentümern usw. Die uns vertraute umgangssprachliche Bedeutung des Wortes „Arbeit" samt ihren wertenden Sinnabschattungen hat bekanntlich eine lange Vorgeschichte. Sie hat alttestamentarische Wurzeln, denen eine spezifisch christliche, spätantike und mittelalterliche Tradition entsproß. Das, was wir unter „Arbeit" verstehen, geht jedoch vor allem auf die Reformation und die geistesgeschichtlichen und sozial-strukturellen Gegebenheiten der frühen Neuzeit zurück. In seiner heutigen Bedeutung ist der Begriff im wesentlichen von der Ausbreitung der Lohnarbeit im Zeitalter des modernen Kapitalismus und der Industriegesellschaften geprägt worden.

5.

Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen

5.1

Die Zeitstruktur des Handelns

5.1.1 Die Zeitperspektive des Entwurfs Zunächst eine Bemerkung zum Sprachgebrauch: Mit dem Wort Handeln soll der schrittweise Vollzug einer Handlung, mit dem Wort Handlung das vollzogene Handeln bezeichnet werden. Das Handeln ist also ein Vorgang in der Zeit, der sich einem bestimmten, vorweggenommenen Ende nähert; die Handlung ist hingegen das vergangene Handeln, das die Geschichte der vorangegangenen Schritte, die zu ihm führten, in sich enthält. Eine Handlung ist somit genau genommen kein Vorgang in der Zeit, sondern eine Sinnkonstellation, die sich auf etwas in der Zeit Vorangegangenes bezieht. Es ist selbstverständlich, daß Handeln vor der Handlung kommt. Allerdings sind die zeitlichen Beziehungen und die Sinnkonstellationen beim Handeln und in der Handlung nicht ganz so einfach, wie man es nach einer solchen einfachen - und in dieser Einfachheit auch nicht widerlegbaren - Feststellung meinen möchte. Denn um überhaupt handeln zu können, muß man eine Handlung vorentworfen haben, so daß sich das Handeln an der entworfenen Handlung als seinem Ziel ausrichten kann. Das „wirkliche" Handeln kommt zwar gewiß vor der „wirklichen" Handlung, aber die vorgestellte Handlung kommt vor dem Handeln. Die Zeitperspektiven überschneiden sich offenbar in einer recht verwikkelten Weise. Wir wollen uns deshalb die Sache an einem einfachen Beispiel etwas näher ansehen. Wenn jemand am Morgen in das Badezimmer geht und sich dort das Gesicht wäscht, tut er das so gewohnheitsmäßig, daß er nicht einmal das Ziel (gewaschenes Gesicht) klar und deutlich in den Griff des Bewußtseins zu nehmen braucht, um in das Badezimmer zu gelangen - und erst recht nicht die einzelnen Schritte (den linken Fuß vor den rechten, den rechten vor den linken setzen, die Tür öffnen, den Wasserhahn aufdrehen usw.). Nehmen wir aber den Fall an, daß er schwer krank gewesen wäre, drei Monate im

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Bett gelegen und das Gehen verlernt hätte. Die einfache Handlung kennt er aus der Erinnerung, aber er weiß auch, daß ihm die Umsetzung in die Praxis Schwierigkeiten machen wird. Deshalb überlegt er sich die einzelnen Schritte ganz bewußt und hält sie als Teilentwürfe im Kopf fest; die Teilentwürfe werden dem Gesamtentwurf (Gesicht waschen) untergeordnet. Die Sinnkonstellation (die Beziehung der untergeordneten Schritte zum übergeordneten Entwurf) ist ebenso eindeutig wie die - in anderer Hinsicht allerdings verwickeitere - Zeitstruktur (die notwendige Reihenfolge der nebengeordneten Teilentwürfe). Die einzelnen Schritte sind in ihrer Bedeutung nebengeordnet. Man kann natürlich nicht den zweiten Schritt tun, bevor man den ersten getan hat, aber es ist sinnlos, von einer Unterordnung des ersten Schritts unter den zweiten zu sprechen. Hingegen kann man von einer ¿/Verordnung des letzten Schritts sprechen: das Erreichen des Zieles ist ja auch zeitlich das Ende des Handelns, aber das Wesentliche daran ist eben seine Bedeutung als Ziel und nicht, daß es der letzte Schritt in einer Reihe von Schritten ist. In unserem Beispiel haben wir angenommen, daß das Erreichen des Ziels, schon die Verwirklichung der einzelnen Schritte, ein Problem für den Handelnden war. Sowohl das Nacheinander der Schritte wie ihr Bezug auf das Endziel traten dem Handelnden deutlich ins Bewußtsein. Ein ähnlicher Grad der Bewußtheit zeichnet ganz allgemein alle ungewohnten, problemlösenden Handlungen aus. Dagegen werden wir uns im routinisierten, problemlosen Alltagshandeln der Zeit- und Sinnstruktur des Handelns kaum bewußt; das Ziel ist selbstverständlich, die Schritte gehen automatisch ineinander über. Noch einmal: Vor jedem Handeln steht ein Entwurf. Dieser tritt mit sehr unterschiedlicher Deutlichkeit ins Bewußtsein, je nachdem, um welche Art des Handelns es geht. Eine genauere Beschreibung des Verhältnisses von Teilentwürfen zum Gesamtentwurf (bzw. von Einzelentwürfen zu Planhierarchien) soll in den nächsten Kapiteln folgen, ebenso die Fragen, wie Entwürfe auf ihre Durchführbarkeit hin eingeschätzt werden und schließlich, wie man sich zwischen verschiedenen Handlungsentwürfen entscheidet. Zunächst soll nur die Zeitperspektive des Entwurfs beschrieben werden, wobei wir vorläufig von den künstlichen Annahmen ausgehen, daß man einen Entwurf als einen in sich geschlossenen

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5. Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen

Einzelentwurf behandeln kann, daß Entwürfe keinerlei Probleme hinsichtlich ihrer Durchführbarkeit aufwerfen und daß sich immer nur ein einziger Entwurf zur Wahl anbietet. Im Entwurf wird das letzte als erstes vorgestellt: die vollzogene Handlung als Ziel des Handelns. Wie könnte dieses „Vorstellen" verstanden werden? Zunächst einmal ist es gewiß keine Wahrnehmung; Gesichtwaschen-Vorstellen ist nicht Gesichtwaschen. Es ist auch keine Erinnerung; man kann sich wohl an Gesichtwaschen gestern, vorgestern usw. erinnern, aber das, was man jetzt anvisiert, war weder gestern, noch ist es vorgestern gewesen, es war überhaupt noch nicht. Gesichtwaschen-Vorstellen ist vielmehr so etwas wie eine Phantasie, die auf die Zukunft - eine als wirklich erwartete Zukunft - gerichtet ist. Gesichtwaschen-Vorstellen ist eine Fiktion, die keine bleiben will. Es gibt selbstverständlich auch andere Arten von Phantasien, z.B. solche, die in die Vergangenheit gerichtet sind (auch auf eine phantasierte Vergangenheit: Ich stelle mir vor, vor 150 Jahren auf Samoa gelebt zu haben) und solche, die überhaupt keinen bestimmten Zeitindex haben (Wenn ich eine Möwe wäre ..), und es gibt andere Arten von Fiktionen, die sich klar und deutlich als Fiktionen auf Dauer ausweisen, z.B. Märchen, Romane usw. Die bloße Ausrichtung auf die Zukunft verwandelt eine Phantasie noch nicht in eine sich als Entwurf präsentierende Vorstellung. Eine phantasierende Vorstellung, die zum Entwurf wird, setzt die Erreichbarkeit einer bestimmten Zukunft, die Durchführbarkeit eines bestimmten Plans voraus - oder nimmt sie zumindest als möglich an und stellt sie einer Überprüfung anheim. Außerdem ist zu bedenken, daß man sich ja in der Phantasie alles mögliche vorstellen kann, ohne zu wollen, daß sich die Vorstellungen verwirklichen. Man kann auch höchst unangenehme und unerwünschte Möglichkeiten in Gedanken durchspielen, meist gerade deswegen, um sie besser vermeiden zu können. Eine fiktive Vorstellung, die zum Entwurf wird, muß also eine Verwirklichungsabsicht enthalten. Diese Absicht ist noch nicht der endgültige Entschluß, führt aber normalerweise zu ihm. Handlungsentwürfe sind keine bloßen Phantasien oder reine Fiktionen, andererseits aber auch keine schlichten Voraussagen zukünftiger Ereignisse. Man könnte sie daher „praktische Utopien" nennen. Es wurde gerade festgestellt, daß im Entwurf die noch nicht vollzogene Handlung als vollzogen vorgestellt wird, so, daß das

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zukünftige Letzte als gegenwärtiges Erstes kommt. Von einer Kette von Handlungsschritten wird im Entwurf - im Gegensatz zum Handeln - das letzte Glied zuerst aufgenommen; im eigentlichen Handeln muß man selbstverständlich mit dem ersten Glied beginnen. Für diese handlungsentwerfene Zeitperspektive hat ALFRED SCHÜTZ den Begriff futurum exactum" vorgeschlagen, in Absetzung zu anderen zeitlichen Modi der Zeitwörter, in denen z.B. eine Handlung in der Zukunft (im imperfekten Futur) andauert oder sich (im Iterativ) wiederholt. In jedem Entwurf wird eine Handlung modo futuri exacti vorgestellt; in dieser Hinsicht variieren die Entwürfe nicht, wohingegen sie im Inhalt natürlich unendlich vielfältig sind. Es ist ein offenkundiger Unterschied, ob man heute abend „Eintopf kochen" und „Eintopf essen" plant oder in den nächsten zwei Jahren fließend Arabisch lernen will oder sich zurechtlegt, wie man seinem Freund klarmachen möchte, daß man ihn doch nicht heiraten will. Aber in einer anderen Hinsicht unterscheiden sich die Zukunftsvorstellungen im Entwurf auch formal: Die modo futuri exacti vorgestellte Handlung kann entweder verhältnismäßig vage und nur ihrem allgemeinen Typ nach („Abendessen") auftreten oder bis ins einzelne bestimmt sein (es soll friaulische „pasta e fagioli", dazu einen Merlot vom Isonzo geben). Es ist klar, daß - ähnlich den Typisierungen von Erfahrungen im allgemeinen auch die Typisierungen von Handlungszielen im subjektiven Wissensvorrat abgelagert werden und dabei die verfügbaren semantischen Kategorien der Sprache die wichtigste Rolle spielen. Wenn solche Handlungsetikettierungen für gewohnheitsmäßig angestrebte Ziele vorliegen, die Ziele fest in den Tagesablauf eingebaut sind und die Handlungsschritte, die zum Ziel führen sollen, schon oft erfolgreich vollzogen wurden, dann braucht der Entwurf nicht scharf ins Auge gefaßt werden. Er stellt sich sozusagen von selbst ein und gibt fast unbemerkt den Anstoß zum Handlungsbeginn. Wenn aber das Ziel ungewiß ist (die Schritte, die zu ihm führen könnten, unsicher sind) und die möglichen Folgen der Handlung bedeutsam werden könnten, muß der Entwurf sorgfältig vorgestellt und das Endziel in seinen Einzelheiten bedacht werden, damit unter Umständen auch die hinführenden Schritte abgewogen werden können.

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5. Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen

Das Handeln folgt weder bei der einen noch bei der anderen Art des Entwurfs wie von selbst. Zuvor kommt der Entschluß, den Entwurf jetzt tatsächlich zu verwirklichen. Bei routinisiertem Handeln ist der zum Handeln notwendige Entschluß kein schwieriger Willensakt, sondern er wird ohne viel Aufhebens gefaßt. Wenn das Handeln einen immer wiederkehrenden festen Platz im Tagesplan hat, können sich sowohl Entwurf wie Entschluß fast automatisch einstellen und heben sich im Bewußtsein vom gewohnten Gang der Dinge nicht merklich ab. Anders liegen die Dinge bei problematischen Handlungen: Der Entwurf wird bewußt vorgezeichnet, unter Umständen muß sogar zwischen konkurrierenden Möglichkeiten gewählt werden; und der Entschluß ist eine Angelegenheit von einigem Gewicht. Diese Problematik wird später noch angesprochen, zunächst wollen wir uns aber noch mit bestimmten Aspekten der Zeitstruktur des Handelns selbst beschäftigen.

5.1.2 Die Zeitperspektiven des HandlungsVollzugs Das Handeln beginnt, wenn zum Entwurf der Entschluß kommt, den Entwurf jetzt zu verwirklichen. Die Handlungschritte insgesamt sind am Entwurf ausgerichtet. Wenn diese Schritte im Entwurf nicht im einzelnen und in genauer Reihenfolge vorgezeichnet wurden, weil sie für den gleichen Entwurf schon früher eingeübt wurden und zur Gewohnheit geworden sind, rollen sie auch im Vollzug sozusagen von selber ab. Dies ist so lange der Fall, wie keine unerwarteten, in vergangener Routine noch nicht bewältigten Schwierigkeiten auftauchen. Das Handeln ist im ersten Fall am Endziel ausgerichet, ohne daß die dorthin führenden Schritte klar und deutlich nacheinander bewußt werden. Wenn aber der Handelnde nicht schon im voraus einigermaßen sicher ist, daß der modo futuri exacti vorgestellte Endzustand anstandslos erreicht werden kann und daher die einzelnen Schritte schon im Entwurf mit ausreichender Deutlichkeit vorgezeichnet wurden, richtet sich auch der Handlungsvollzug, das Handeln, bewußt an der Aufeinanderfolge der einzelnen Schritte aus. Nach jedem Schritt wird eine Art „Erfolgsmeldung" gegeben, bevor der nächste eingeleitet wird. Bewußt wird man sich aber dieses andauern-

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den, das Verhalten fließend steuernden Rückmeldevorgangs im allgemeinen erst bei „Mißerfolgsmeldungen". In jedem Fall ist jedoch die Gegenwart des Handelns an der im Entwurf vorweggenommenen Zukunft der Handlung ausgerichtet. Darin, in dieser zeitlichen Beziehung, konstituiert sich der spezifische subjektive Sinn des Handelns. Für den Handelnden hat das Handeln also schon im Vollzug, in dem er gegenwärtig auf die Zukunft (nämlich auf das vorentworfene Handlungsziel) gerichtet ist, einen Sinn - einen gewissermaßen aktuell-prospektiven Sinn. Erfahrungen haben im Allgemeinen einen solchen, jeweils schon gegenwärtigen Sinn nicht; ihr Sinn konstituiert sich erst nachträglich im Rückgriff auf die jüngst oder längst vergangene Erfahrung; er ist dann reflexiv und retrospektiv. Damit ist aber die Sache noch nicht zureichend erfaßt. Denn wenn das Handeln einmal zum Ende gekommen ist, wird es zu einer Art Erfahrung und geht mit anderen Erfahrungen in die Erinnerung ein - nur eben nicht in der gleichen, „sinnheischenden" Weise wie die anderen, schlichteren Erfahrungen, sondern mit einem ersten, schon vorgegebenen Sinn, der sich in der verwickelten Zeitstruktur des ursprünglichen Handelns konstituiert hat. Dieser ehemals aktuell-prospektiv gewesene Sinn war einmalig und ist abgeschlossen. Aber wie alle anderen Erfahrungen kann selbstverständlich auch eine vergangene Handlung retrospektiv erfaßt, in alle möglichen Zusammenhänge gesetzt und unterschiedlichen Deutungen unterzogen werden. Dieser „zweite" Sinn der Handlung ist demnach vielschichtig und offen obwohl vom ersten Sinn nicht völlig unabhängig. Bisher wurden jene Perspektiven des Entwurfs und des Handlungsvollzugs beschrieben, die dem subjektiven Handelns - und ihm allein - angehören. Die Grundschichten der subjektiven Zeit besteht aus dem, was man die „innere" Zeit nennen könnte: Den Rhythmen einer fließenden Gegenwart mit ihren fortwährenden Protentionen und Retentionen, den in sie eingelagerten Erinnerungen an eine einst gegenwärtig gewesene Vergangenheit sowie den Erwartungen einer noch nicht gegenwärtig gewordenen Zukunft. So innerlich aber diese Schichten der subjektiven Zeit auch sein mögen, im alltäglichen Handeln sind sie zumindest oberflächlich von geschichtlich vorgegebenen und gesellschaftlich konstruierten Zeitkategorien mitgeprägt. Dennoch bleiben sie wesentlich subjek-

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5. Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen

tiv, der unmittelbaren intersubjektiven Kontrolle und dem gesellschaftlichen Zwang entzogen. 22 Noch einmal: Die bisher beschriebenen Perspektiven des Handlungsentwurfs und des Handlungsvollzugs gehören der subjektiven Zeit des Handelnden an. Sie bilden die grundlegende und allgemeine Zeitstruktur des Handelns, auf ihnen beruht sowohl das Denken wie das Wirken. Während über das Denken diesbezüglich nichts mehr hinzugefügt werden braucht, ist jedoch die Zeitstruktur des Wirkens noch nicht ausreichend beschrieben. Über den Entwurf des Wirkens brauchen wir zwar nichts mehr zu sagen, da er so wie die Entwürfe allen Handelns der subjektiven Zeit angehört. Anders steht es hingegen mit dem Vollzug. Wirken ist ja ein Handeln, das in seinem Vollzug in die Umwelt eingreift - und die Zeit der Umwelt ist nicht die subjektive Zeit des Handelnden. Der Vollzug des Wirkens gehört sozusagen zwei Zeiten an. In die Umwelt hinein wirkt der Handelnde vermittels seines Körpers. Er bewegt sich fort, indem er Füße und Beine bewegt, er verteidigt sich mit Händen und Füßen und greift mit ihnen an, er umarmt Mitmenschen, er runzelt die Stirn und hebt die Augenbrauen hoch, er schreibt mit der Hand, mit den Fingern und dem Mund ißt er, er bewegt die Lippen und Stimmbänder, um zu sprechen usw. Nun sind gewiß nicht alle Leibbewegungen gesteuert. Der Mensch hat nicht nur einen Leib, über den er verfügt, sondern er ist auch ein Leib, der über ihn verfügt. 23 Umgekehrt sind aber nicht alle Handlungen leibvermitteltes Wirken. Außerdem sind die Grenzen zwischen gesteuerten und ungesteuerten Leibbewegungen (z.B. gewolltem und ungewolltem Weinen, Lachen, Ellbogenstoßen, auf die Füße treten usw.) ohnehin nicht immer leicht und trennscharf zu ziehen. Schließlich

22

Genaueres über die Zeiten menschlicher Erfahrung in THOMAS LUCKMANN, „Gelebte Zeiten - und deren Übeschneidungen im Tages- und L e b e n s l a u f ' , i n : REINHART H E R Z O G / R E I N H A R T KOSELLECK ( H r s g . ) ,

23

„Epochenschwelle und Epochenbewußtsein", Poetik und Hermeneutik Band XII, München 1987, 283-304. Darüber sind wichtige Befunde in der philosophischen Anthropologie, vor allem im Werk HELMUTH PLESSNERS, zu finden. Vgl. z.B. sein Buch „Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Vehaltens", München 1961.

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kommt hinzu, daß die Kontrolle des Körpers, seiner Bewegungen und seiner Fertigkeiten im Handeln von Gesellschaft zu Gesellschaft, innerhalb einer Gesellschaft von Epoche zu Epoche und von einem sozial definierten Typ zum anderen, nach Alter, Geschlecht, Begabung und Übung von einem Menschen zum anderen recht unterschiedlich ausgeprägt ist. Überall ist aber ein Kernbereich des Wirkens als leibgesteuertes Handeln erkennbar. Wie erkennt das der Handelnde selbst? Offenbar auf zwei Weisen: als Leib-Habender, indem er ihn verwendet, um etwas zu erreichen und als Leib-Seiender, indem er seinen Leib erleidet und erfahrt. Zum einen ist er sich also der Bewegungen seines Leibes sozusagen von „innen" her bewußt. Nach und nach bemerkt er eine Veränderung seiner Wahrnehmungen der Umwelt und seiner selbst im Verhältnis zur Umwelt. Er sieht den Baum nicht mehr in dreißig Metern Entfernung, sondern aus der Nähe, und er erfährt seinen Körper nicht mehr dort, wo er war, sondern da, wo er jetzt ist. Und zum anderen: Das alles überrascht ihn ganz und gar nicht; er hat es ja so gewollt. Er wollte sich ja dem Apfelbaum nähern und hat dazu die nötigen Schritte unternommen. Wollen allein genügt jedoch nicht, er mußte etwas in der Welt tun - und das nahm Zeit in Anspruch, die er nicht einfach wegwünschen konnte. Die Zeit des Wirkens ist grundsätzlich eine Zeit des Wartens. Das Warten ergibt sich daraus, daß die innere Zeit nicht allein herrscht, sondern mit der Zeit der Umwelt, der Welt schlechthin, abgestimmt werden muß. Wirken geschieht nicht nur in der Zeit, es „braucht" auch Zeit, und zwar eine Zeit, die uns nicht in gleicher Weise zur Verfügung steht wie die des Denkens (in einem gewissen Sinn „braucht" Denken allerdings ja auch Zeit). Beim Wirken erfahre ich mich nicht nur als handelndes Subjekt, sondern außerdem noch als Objekt in der Welt, somit auch an der Zeit der Welt teilhabend. Unser Leib bewegt sich in einem Raum, in dem er auf Widerstände stößt, in einem Raum, in dem immer anderes und andere stehen; ich stoße daran an, oder ich vermeide das Zusammenstoßen, wenn ich einigermaßen geschickt bin. Unsere Bewegungen verlaufen, wie es scheint, in der gleichen und doch nicht in der gleichen Zeit wie die Bewegungen der Mitmenschen. Man merkt das, wenn man sich prügelt, wenn man Tennis spielt, wenn man küßt, wenn man mit jemandem auf der Treppe zusammenstößt. Meine Bewegungen verlaufen in meiner und in

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seiner Zeit. Die Synchronisierung dieser zwei Zeiten ist nicht von vornherein selbstverständlich. An einer Treppe aneinander vorbeizugehen erfordert eine feine Abstimmung der Vollzugszeiten des Wirkens, hier vor allem der eigenen Geschwindigkeit und der seinen. 24 Das gelingt nur, weil wir innerhalb bestimmter Grenzen unsere eigenen Bewegungen genauso wahrnehmen, wie wir die Bewegungen anderer wahrnehmen. In einem gewissen Sinn stehen wir auch „außer" uns als Subjekte. Man betrachtet die eigenen Bewegungsabläufe sozusagen vom Standpunkt des anderen aus und die seinen vom eigenen aus - in der zusätzlichen Annahme, daß er meine Bewegungen von seinem Standpunkt aus betrachtet. Manchmal begehen wir Fehler in diesem komplizierten Abstimmungsprozeß der Reziprozität der Perspektiven. Ich trete nach rechts, aber leider ist er nicht auf seine rechte Seite getreten, sondern nach links. Jetzt stehen wir uns wieder gegenüber, lachen und sagen „Entschuldigung", fangen von vorn an und stoßen mit den Nasen zusammen. Mit diesen Bemerkungen haben wir schon die hier noch zu beachtenden Grenzen des „einsamen" Handelns überschritten. 25 Abstimmung und Warten sind aber nicht nur beim Wirken in der Sozialwelt nötig, sondern bei jedem Wirken. Man muß warten, bis die Sonne aufgeht, das Wasser im Flußbett sinkt, die Wunde heilt, die Verkühlung vergeht, die Äpfel reif geworden sind - bevor man die eine oder die andere Handlung beginnen, fortsetzen, zu Ende führen kann.

5.1.3 „Um-Zu"- und „Weil"-Motive Die vorangegangene Analyse der Zeitstruktur des Handelns hat gezeigt, daß Handeln einen aktuellen Sinn hat, der sich in der Beziehung der einzelnen, jeweils gegenwärtigen Handlungsschritte zum Entwurf eines zukünftigen Ziels konstituiert. Zusätzlich haben Handlungen, so wie alle anderen (nicht als Handlungen zustande gekommenen) Erfahrungen, einen reflexiven Sinn, des24 25

Vgl. hierzu DESMOND MORRIS, „Der Mensch, mit dem wir leben. Ein Handbuch unseres Verhaltens", München 1978. Die Abstimmung zweier „innerer" Zeiten ist gesellschaftliches Handeln, das erst in den Schlußkapiteln analysiert werden soll.

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sen Konstitution die Beziehung zwischen der vollendeten Handlung und einem Deutungszusammenhang voraussetzt. Daraus mag der Anschein entstanden sein, daß Handeln, im Gegensatz zur Handlung, ausschließlich eine Angelegenheit der Zukunft sei. Aber der Schein trügt: Handeln führt nicht vergangenheitslos aus der Gegenwart in die Zukunft. Die Vergangenheit reicht gerade im Entwurf in die vorgestellte Zukunft hinein und wirkt von dort aus in die ständig vergehende Gegenwart des Handlungsvollzugs zurück - allerdings in einem noch zu erläuternden, besonderen Sinn. Erinnern wir uns zunächst noch einmal an die Abfolge der Handlungsschritte. Diese wird schon im Entwurf festgelegt und führt - mehr oder minder entwurfgetreu - im Vollzug zum Ziel. Vorsichtiger ausgedrückt: Sie soll zum Ziel führen, da ja die Möglichkeit des Scheiterns nie ganz ausgeschlossen werden kann. Die einzelnen Schritte folgen einander: der erste führt zum zweiten, der zweite zum dritten (welcher, nehmen wir einmal an, zugleich der vorletzte ist) und der vorletzte zum letzten. Man kann jeden Schritt als eine Teilhandlung betrachten, die vollzogen wird, um eine andere Teilhandlung überhaupt erst beginnen zu können, um dann schließlich die Gesamthandlung zu vollenden. Hierbei ist es wichtig, sich daran zu erinnern, daß eine Entscheidung, was eine Teilhandlung und was eine Gesamthandlung ist, grundsätzlich nur durch Rückbezug auf den subjektiven Sinn der Handlung (die vom Handelnden beabsichtigte Spannweite seines Entwurfs) getroffen werden kann. Kurz und gut, jeder Handlungsschritt ist ein Schritt „Um-zu". In der Zeitperspektive des Handelns konstituiert sich der aktuell-prospektive Sinn der Handlungsschritte als eine Kette von Um-zuMotiven. Der aktuell prospektive Sinn des Handelns insgesamt konstituiert sich als das Endglied der Um-zu-Motiv-Kette: das Erreichen-Wollen des entworfenen Ziels. Die Kette der Um-zuMotive ist offenbar ganz der Zeitperspektive der Zukunft verschrieben, genauer, einer in die Zukunft gerichteten Gegenwart. Die Zukunft, von der hier die Rede ist, ist als Zukunft unwirklich; wirklich ist sie nur als gegenwärtige Zukunftsvorstellung. Diese Vorstellung kommt nicht gerade aus dem Nichts, bestimmt aber nicht aus der Zukunft. Wir werden also bei der Frage nach dem „woher" der Zukunftsvorstellung an die Vergangenheit zurückver-

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5. Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen

wiesen. Mit anderen Worten: Der Entwurf, dieser Vorposten der Zukunft, hat eine Vorgeschichte. Es ist selbstverständlich, daß dies keine eigenständige Vorgeschichte ist, sondern ein Bestandteil der gesamten Lebensgeschichte des Handelnden. Innerhalb der Lebensgeschichte ist sie jedoch bis zu einem gewissen Grad ausgegrenzt und erkennbar. Die besondere Vorgeschichte jedes einzelnen Entwurfs besteht aus den in die gesamte Lebensgeschichte des Handelnden eingebetteten Sedimenten vergangener Erfahrungen - und zwar jener Erfahrungen, die für den Typ von Entwürfen, zu denen der betreffende einzelne Entwurf gehört, subjektiv relevant sind. Sie umfassen vor allem die dazugehörigen Handlungserfahrungen, die sich im subjektiven Wissens vorrat schon ursprünglich auf Grund der (ebenfalls lebensgeschichtlich verfestigten) subjektiven Relevanzstrukturen abgelagert hatten. Gesetzt den Fall, es entschließt sich jemand, heute abend Eintopf zu essen. Er wird dann vermutlich überlegen, ob er alles Nötige im Haus hat, das Fehlende einkaufen, zur rechten Zeit zu kochen beginnen usw. Der erste Schritt wird zum nächsten führen, in einer Verkettung von Um-zu-Motiven, bis unser Eintopf-Entwerfer endlich zu löffeln beginnt. Sollten wir ihm vorher auf dem Markt begegnet sein und gefragt haben, warum er diese Gemüsesorten kauft, wird er vermutlich geantwortet haben: Weil ich sie für den Eintopf brauche. Dieses „Weil" ist jedoch zukunftsgerichtet, es läßt sich ohne jeden Sinn verlust in ein „Um-zu" umformulieren: Um für meinen Eintopf alle nötigen Zutaten zu haben. Fragen wir ihn hingegen, warum es heute gerade Eintopf sein soll und nicht ein anderes Gericht, wird er seine Antwort auch mit einem „Weil" beginnen, jedoch mit einem „Weil" anderer Art, z.B.: Weil ich Freitag abends immer Eintopf esse. Fragen wir dann weiter, warum er eigentlich freitags immer Eintopf ißt, mag er antworten: Weil ich das seit meiner Kindheit so gewöhnt bin. Oder: Weil Eintopf billig ist und ich mich für Freitag als Spartag entschlossen habe. Schon die erste Antwort hätte übrigens auch ganz anders lauten können: Weil meine Freundin zu mir zum Essen kommt und sie Eintopf besonders gern mag. Oder er hätte eine andere von unzähligen möglichen (und sinnvollen) Antworten geben können. Es ist klar, daß wir bei jeder dieser Antworten weiter fragen könnten, denn jede Antwort ließe sich in die verschiedensten Richtun-

5.2 Der Entwurf und die Wahl

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gen weiter zurückverfolgen. Aber alle (annehmbaren) Antworten wären als „Weil"-Antworten formuliert, die unmittelbar oder wenigstens mittelbar, mit der Eintopf-relevanten Lebensgeschichte des Handelnden in einem Sinnzusammenhang stünden. Hier haben wir es mit einer anderen Art von Verkettung als der vorhin beschriebenen Verkettung zwischen Um-zu-Motiven zu tun. Auch hier geht es um Motive, aber diese reichen nicht in die Zukunft hinein, sondern in die Vergangenheit zurück. Die WeilAntworten lassen sich in diesen Fällen nicht in Um-zu-Antworten verwandeln. Es ist sinnlos zu sagen: Ich esse freitags immer Eintopf, um mich für Freitag als Spartag zu entschließen. Wenn man sagt, daß man Eintopf ißt, um zu sparen, ist das eine andere Sache. Da wird das Eintopfessen zur Teilhandlung und Sparen das Gesamtziel. Aber das war nicht die Ausgangsfrage. Die echten Weil-Motive (ein Ausdruck von SCHÜTZ) können theoretisch endlos weit zurückverfolgt werden, ohne an ein eigentliches letztes Ende zu kommen. Praktisch sind wir an einer solchen Detektivarbeit natürlich nicht interessiert und geben uns, je nach Interessenlage, früher oder später zufrieden. So werden wir es z.B. bei Fragen der Eintopf-Wahl normalerweise für sinnlos halten, von den Gewohnheiten, Vorlieben und finanziellen Verhältnissen des Eintopfessers und unter Umständen seiner Freundin auch noch in seine Familiengeschichte oder in seine Finanzlage zurückzudringen. Wann immer wir aber auch abbrechen mögen, die zeitliche Richtung zielte in die Vergangenheit. Aus dieser Vergangenheit stammt der zukunftsträchtige Entwurf.

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Der Entwurf und die Wahl

5.2.1 Phantasie und Wirklichkeit Entwürfe sind, so wurde schon gesagt, praktische Utopien. Utopien sind sie, weil sie etwas Irreales, nämlich das Zukünftige, in einer Als-Ob-Gegenwart vorstellen; praktisch sind sie, weil sie das noch irreale Zukünftige als in der kommenden Gegenwart real möglich vorwegnehmen. In dieser Weise motiviert die Zukunft die praktischen Utopien der Gegenwart.

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5. Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen

Entwerfende Phantasie ist keine reine Phantasie, sie begnügt sich nicht mit sich selbst, mit ihrem Vollzug als Phantasie. Gewiß, auch in der reinen Phantasie kann man sich etwas vorstellen, das unter Umständen zu verwirklichen wäre. Aber die entwerfende Phantasie muß die Möglichkeit der Verwirklichung mit sich führen, in der Zukunft, in die hinein sie entworfen wurde. Eines ist jedoch zu beachten: Wenn in diesem Zusammenhang von den Grenzen des Möglichen und Durchführbaren die Rede ist, so ist dabei nicht an unverrückbar gezogene, objektiv gegebene und objektiv feststellbare Grenzen gedacht. Vielmehr an jene Grenzen, deren sich der jeweilige Handelnde jeweils bewußt ist. Daß sein Bewußtsein nicht ohne Beziehung zu „objektiven" Grenzen sein mag, ist eine andere, aber einleuchtende Tatsache. Es würde uns nicht sonderlich überraschen, wenn uns ein Bekannter (wir nehmen für das Beispiel einen in guter körperlicher Verfassung, aber mit leichtem Übergewicht) erzählen würde, er hätte sich entschlossen, täglich ein halbe Stunde zu laufen. Es würde uns nicht einmal verwundern, wenn er ankündigen sollte, er wolle in dieser halben Stunde durchschnittlich acht Kilometer zurücklegen. Wenn uns das gleiche Ziel von einem anderen älteren, schwerfälligen und kurzatmigen Bekannten angekündigt worden wäre, hätten wir jedoch gewiß nicht ohne Zweifel zugehört, vielmehr meinten wir, er rede von einer Erinnerung oder Wunschvorstellung. Aber auch, wenn unser erster, einigermaßen sportlicher Bekannter erzählt hätte, er wolle in der halben Stunde fünfzig Kilometer zurücklegen, hätten wir vermutlich gedacht, er hätte „ f ü n f gesagt (und uns über seine Langsamkeit gewundert); hätte er aber auf „fünfzig" bestanden, wären wir gezwungen gewesen, ihn in das Reich der Phantasie zu verweisen. Im Gegensatz zum wirklichen Laufen auf wirklichen Wegen kann im Reich der Phantasie jeder so schnell laufen wie er will. Wir könnten uns mit unseren beiden Bekannten zusammensetzen, um uns auszumalen, wie es wäre, wenn wir drei tatsächlich in einer halben Stunde ohne Anstrengung fünfzig Kilometer zurücklegen könnten. Und wenn wir im Augenblick für Tagträume keine Zeit hätten, könnten wir uns verabreden, am nächsten Sonntagnachmittag mit der gemeinsamen Phantasie in allen Einzelheiten fortzufahren. Es fällt uns offenbar nicht schwer, anzunehmen, daß jeder Mensch phantasieren kann, was er will. Vielleicht hat der

5.2 Der Entwurf und die Wahl

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eine mehr, der andere weniger Lust am Phantasieren, der eine mag in technischen, der andere in erotischen Phantasien begabter sein. Aber an die Gegebenheiten der alltäglichen Wirklichkeit braucht sich dabei niemand zu halten. Jeder Wirklichkeitsbereich hat seine eigenen Möglichkeiten und seine besonderen Begrenzungen der Durchführbarkeit von Entwürfen. In unseren Träumen hat nicht alles Aussicht auf Erfolg, weil wir phantasieren können, was immer uns in den Sinn kommt. Der Bereich der alltäglichen Wirklichkeit hingegen ist dadurch gekennzeichnet, daß für jeden vieles möglich und durchführbar ist, wenn auch in einem verwickelten System von Eingrenzungen. Im Alltag nehmen wir im allgemeinen an, daß das, was gestern durchführbar war, auch heute möglich und durchführbar ist und ceteris paribus - auch morgen so sein wird. Unsere Entwürfe haben eine Vorgeschichte, die im subjektiven Wissensvorrat abgelagert ist. Dementsprechend hat das individuelle System von Durchführbarkeiten sozusagen eine biographische Dimension. Wenn kein besonderer Grund dazu besteht anzunehmen, daß ich heute nicht mehr gehen, pfeifen, rechnen kann, obwohl ich es gestern noch konnte, mache ich mir darüber keine Gedanken und halte es für selbstverständlich, daß ich bis auf weiteres gehen, pfeifen, rechnen kann. Dieses Grundprinzip unserer entwerfenden Phantasie - von HUSSERL als die lebensweltliche Idealisierung des „Ich-kann-immer-wieder" bezeichnet - unterliegt jedoch gewissen Einschränkungen. Es setzt eine andere lebensweltliche Idealisierung - von HUSSERL das „Und-so-weiter" genannt - voraus: Die Dinge werden so wie bisher weitergehen - und auch die zukünftigen Veränderungen werden ungefähr so ausfallen wie die bisherigen. Wenn wir jedoch diese Annahme einmal in einem gegebenen Fall einschränken müssen, können wir auch nicht mehr als selbstverständlich voraussetzen, daß wir die „Ich-kann-immerwieder"-Handlungen, die auf der zweiten „Und-so-weiter"-Idealisierung beruhen, durchführen können. Aber auch, wenn sich der Gang der Dinge in der Welt nicht ganz unerwartet verändert, verändert sich die Grundlage des eigenen „Ich-kann-immer-wieder". Jeder Mensch weiß, daß es einen Unterschied in der Handlungsfähigkeit gibt, der dem Lauf der Welt entspricht: einen altersbedingten Unterschied. Man kann mit vierzig vieles besser als mit vierzehn, aber es gibt auch Dinge,

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5. Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen

die man mit vierzehn besser konnte. Man merkt es zunächst an Großeltern und Eltern, daß sie manchmal in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt sind; man warnt beispielsweise den Vater vor einer Bergtour, die er vor zehn Jahren noch leicht bewältigen konnte. Später merkt man diese Veränderungen dann an sich selbst. Das Wissen um die Periodisierung der Handlungsfähigkeit ist in allen Gesellschaften im sozialen Wissensvorrat anzutreffen. Es muß zwar nicht immer in den festen Lehrsätzen einer akademischen Pädagogik entwickelt sein; gäbe es aber ein solches Wissen nicht allgemein zumindest in impliziter Form, wären Eltern wohl kaum in der Lage, ihre Kinder einigermaßen erfolgreich aufzuziehen. Unser Wissen um die Ungleichheit menschlicher Handlungsfähigkeiten ist nicht auf altersmäßige Unterschiede beschränkt. Man hat Theorien und Vorurteile über geschlechtsbedingte, regionale, erziehungsbedingte und viele andere Bedingungen von Dummheit und Gescheitheit, Fleiß und Faulheit usw. im Kopf. Frauen sind schwach, Berner sind langsam, die Ostfriesen - na ja. Was man dem einen zutrauen kann, will man dem anderen nicht zumuten. Man schätzt - und verschätzt sich zuweilen dabei - auf Grund von Vorwissen und Vorurteilen jedoch nicht nur andere Menschen hinsichtlich ihrer Handlungsfähigkeit ein. Mehr oder minder zutreffend und mehr oder minder falsch wird man auch seine eigenen Handlungsfähigkeiten beurteilen. Auf jeden Fall beurteilt man sie irgendwie - und auf diesem System von Durchführbarkeitseinschätzungen beruht die entwerfende Phantasie des handelnden Menschen. Wenn der Handelnde annimmt, daß er das, was er sich jetzt gerade als ein mögliches Handlungsziel vorstellt, auch durchführen könnte, wenn er es nur wollte, dann ist die Vorstellung keine reine Phantasie, sondern ein Entwurf. Es ist aus offensichtlichen Gründen unwahrscheinlich, daß sich Leute auf Dauer über die Durchführbarkeit ihrer Pläne täuschen. Aber im Einzelfall irren wir alle, Kinder und Erwachsene, Frauen und Männer, Dünne und Dicke, Große und Kleine, Dumme und Gescheite. Wir nehmen uns Dinge vor, die über unsere Kräfte gehen oder verzagen vor erreichbaren Zielen. Hinzu kommt aber noch ein anderer wesentlicher Umstand. Auch praktische Utopien, grundsätzlich ja durchführbare Entwürfe, führen nicht immer zum Erfolg. Der Wein, den man

5.2 Der Entwurf und die Wahl

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in einem Glas zum Munde führen will, kann noch im letzten Augenblick verschüttet werden. Die NichtVerwirklichung undurchführbarer Phantasien ist gewiß, die Verwirklichung von Entwürfen kann hingegen nie mit Sicherheit vorausgesagt werden. 5.2.2 Das Entwerfen des Entwurfs Der Entwurf wurde in den vorangegangenen Analysen als das modo futuri exacti phantasierte Ziel des Handelns beschrieben, als das Endglied einer Um-zu-Motivationskette und als ein mit einer besonderen Vorgeschichte belastetes Vorwegnehmen einer bestimmten Zukunft in der jeweiligen Gegenwart. Damit wurden die Zeitperspektiven des Entwurfs, welche die Zeitstruktur des Handelns wesentlich mitbestimmen, deutlich herausgestellt. Dagegen ist ein die Zeitlichkeit des Entwurfs selbst betreffender Umstand bisher nur gestreift worden. In der Diskussion der Vorgeschichte des Entwurfs wurde festgestellt, daß Entwürfe keineswegs - gewissermaßen in unmittelbarer Eingebung - dem Nichts entspringen. Sie tauchen vielmehr, um es bildlich auszudrücken, aus ihrer Vorgeschichte im Licht des Bewußtseins des Handelnden auf. Die Vorgeschichte eines Entwurfs, bestehend aus typischen Handlungserfahrungen und insbesondere aus Erfahrungen, die für den gerade in Frage stehenden Entwurf relevant sind, erschöpft jedoch noch längst nicht alles, was an einem Entwurf geschichtlich ist. Kurzum: Jeder Entwurf muß zuerst einmal entworfen werden. Der Handelnde baut seinen Entwurf aus verschiedenen „vorgeschichtlich" bestimmten Bausteinen zu einem vollständigen Entwurf auf. Der Vorgang des Entwerfens ist ein Denkakt und bildet die Entstehungsgeschichte des Entwurfs. Die Grundzüge dieser Entstehungsgeschichte sollen im folgenden beschrieben und in ihrem Zusammenhang mit der allgemeinen Vorgeschichte der betreffenden Handlung betrachtet werden. Entgegen dem vorhin Gesagten hat es bei vielen Handlungen dennoch den Anschein, als ob sie sich an längst fertigen, sozusagen vorfabrizierten Entwürfen ausrichteten. Viele alltägliche Handlungen sind so sehr zur Gewohnheit geworden, daß sie fast wie von selbst ablaufen und weder im Entwurf noch im Entschluß, noch im Vollzug der einzelnen Handlungsschritte erhöhter Auf-

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5. Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen

merksamkeit bedürfen. Die zu bewältigenden Probleme sind hinsichtlich des Entwurfs längst keine Probleme mehr, sondern „theoretisch" in zufriedenstellender Weise gelöst. Dazu wieder ein Beispiel. Tante Amalia am Nachmittag vom Bahnhof abholen, die jeden zweiten Samstag zu Besuch kommt, bedeutet: Auf die Uhr schauen, kurz vor zwei Uhr die Wohnung verlassen, zum Auto gehen, die Tür aufschließen, Starter anlassen, Gang einlegen usw. bis zum Bahnhof (wenn keine Umleitung auf der gewohnten Route in den Weg tritt), dort Parkplatz suchen, parken, Münze einwerfen usw., zur Bahnhofshalle gehen, Anzeigetafel lesen, Bahnsteig und das Gleis des ankommenden Zuges feststellen usw., bis man endlich die Tante (die altvertraute Tante Amalia, nicht die Tante Josephine, die man seit zwanzig. Jahren nicht mehr gesehen hat) in die Arme schließen kann. Natürlich kann jeder einzelne Schritt, der hier angefühlt wurde, weiter zerlegt werden, zum Beispiel das Autoaufschließen: Schlüssel aus der Rocktasche mit der rechten Hand herausziehen, mit der linken Hand den Türhebel betätigen, während der von der rechten Hand eingeführte Schlüssel gedreht wird usw. Man zweifelt nicht an der Durchführbarkeit der einzelnen Schritte, und man nimmt die Notwendigkeit und Wünschbarkeit der Gesamthandlung ohne weitere Überlegung hin. Kurz und gut, es gibt keine theoretischen Schwierigkeiten. Obwohl gelöst, bewältigt ist das Problem damit noch lange nicht; dieses besondere muß zweimal im Monat bewältigt werden, andere wöchentlich, andere täglich, sogar mehrmals täglich. Denn daß man weiß, wie Tanten am Bahnhof abgeholt werden, genügt selbstverständlich nicht; durch das Wissen allein kommt Tante Amalia nicht an unseren Wohnzimmertisch. Alltägliche Probleme müssen immer wieder von neuem bewältigt, jedoch nicht immer wieder aufs neue gelöst werden. Die Lösung, der fertige Entwurf, steht meist zur Verfügung. Er ist im subjektiven Wissensvorrat als typisches Wissen über typische Handlungen und die dazugehörigen Handlungsschritte abgelagert und in typisch ähnlichen Situationen abrufbar. Von der Einbettung solcher Gewohnheitshandlungen in den Tagesablauf war ja schon die Rede. Zudem enthält aber der subjektive Wissensvorrat auch die spezifischen Erinnerungen an das Abholen gewisser Tanten von Bahnhöfen - und damit nicht nur vorgeschichtliche, sondern auch

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„entstehungsgeschichtliche" Bestandteile des im gewohnheitsmäßigen Handeln zur Anwendung kommenden Entwurfs. Es ist klar: Auch bei gewohnheitsmäßig eingeschliffenen Handlungen wird man zu guter Letzt auf eine Zeit zurückverwiesen, in der Entwurf und Vollzug noch nicht zur Gewohnheit geworden waren; auf eine Zeit, in welcher der Entwurf als Entwurf entstanden ist und das ursprüngliche Problem erstmalig seine theoretische Lösung finden mußte. Demnach gibt es zwar vorfabrizierte Entwürfe für Handlungsroutinen, aber auch sie mußten zuerst einmal angelegt werden, in einer Teilhandlung des Erstentwurfs für eine ursprüngliche Situation, die bestimmtes Handeln erforderte. In jener ursprünglichen Situation stand eben kein Entwurf schon fertig zur Verfügung, sondern mußte erst schrittweise erstellt werden. Die Fertigstellung des Entwurfs ist ein Handeln, dessen Ziel es ist, ein Ziel für die eigentliche Handlung zu bestimmen. Sein Um-zu-Motiv ist es, das Endglied in der Kette der Um-zu-Motivationen in Gedanken vorauszuschmieden. Das Fertigstellen des Entwurfs ist ein Vorgang in der Zeit - und zwar in der Zeit des Denkens, der inneren Zeit. Die eigentlichen Handlungsschritte richten sich an dieser Teilhandlung aus, die vor dem entworfenen Handeln kommt und doch selbst schon ein Handeln voraussetzt, und erhalten von ihr ihren Sinn. Welcher Art dann die eigentlichen Handlungsschritte sind, ist eine andere Sache. Sie können entweder ebenfalls reine Denkakte sein oder als Wirken angelegt sein, also in die Umwelt eingreifen und folglich in der Überschneidung der inneren Zeit mit der Weltzeit stattfinden. Jeder Entwurf setzt sich aus typischen Bestandteilen zusammen: aus Einschätzungen der Durchführbarkeit der Gesamthandlung und der einzelnen Handlungsschritte (auf Grund der Idealisierungen des „Und-so-weiter" und des „Ich-kann-immer-wieder"); aus Überlegungen zur Schrittfolge; aus Bewertungen der Wichtigkeit und Dringlichkeit der Handlung von der Warte eines größeren Lebens- und Handlungszusammenhangs aus. Diese typischen Bestandteile wurden insgesamt schon als die (in die Lebensgeschichte des Handelnden eingebettete) allgemeine Vorgeschichte des Entwurfs beschrieben. Im ersten Entwurf in der ursprünglichen Handlungssituation müssen nun diese Bestandteile erst mehr oder minder deutlich ins Bewußtsein gerufen, festgehalten und zu einer

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5. Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen

für diese besondere Problemlage geeigneten Ziel- und Verlaufseinheit zusammengefügt werden. All dies geschieht in der Zeit, nicht zugleich und nicht beliebig, sondern in geordneter Reihenfolge, ein Schritt nach dem anderen - ob nun die Schritte subjektiv als schnell oder langsam empfunden werden, ändert nichts am grundlegenden Sachverhalt. Wenn ein Handelnder ein ursprüngliches Handlungsproblem zum ersten Mal theoretisch zu bewältigen sucht, kann er auf keinen vorfabrizierten Entwurf zurückgreifen, der sich monothetisch (in einem Griff) fertig ins Bewußtsein heben läßt. Er muß vielmehr die - auch zeitlich noch unzureichend bestimmte Zukunft - mit Hilfe der vorgeschichtlichen, typischen Bestandteile nach und nach gedanklich durchspielen, d.h. den Entwurf polythetisch aufbauen. Eine absolut ursprüngliche Handlungssituation gibt es natürlich nicht, jedenfalls nicht im Sinn einer Vorgeschichtslosen Handlungssituation. Als man am zweiten Samstag im Mai 1978 Tante Amalia zum ersten Mal vom Bahnhof abholte, war es gewiß eine ursprüngliche Handlungssituation. Man war selbst erst vor kurzem in die Nähe dieses Ortes gezogen und hatte noch nie am Bahnhof geparkt. Man mußte sich daher zunächst die beste Straßenverbindung zum Bahnhof durch den Kopf gehen lassen. Aber man war schon an anderen Bahnhöfen gewesen; „Bahnhof ' war kein allgemeines Problem in der Handlungsorientierung. Zudem hatte man erst vor kurzem seinen Führerschein erworben; daher waren die einzelnen Handhabungen des Autofahrens noch nicht gut eingeschliffen. Aber den Führerschein hatte man immerhin erworben und etliche Fahrkilometer hinter sich gebracht. Tante Amalia hatte man seit Jahren nicht gesehen, das letzte Mal war man noch ein Kind gewesen. Würde man sie wohl wiedererkennen? Wie viele ältere Damen würden aus jenem Zug steigen? Man würde nach Fotos suchen, um die Erinnerung aufzufrischen. Aber immerhin, mit Hilfe von alten Erinnerungen und neueren Familienfotos hatte man schon einmal eine andere Tante aus einer überfüllten Hotelhalle herausgefischt. Mit anderen Worten: Auch neuartige Handlungen bedienen sich selbstverständlich der im subjektiven Wissensvorrat abgelagerten Erfahrungen und orientieren sich an Entwürfen, die aus typischen Bestandteilen aufgebaut werden. Im Gegensatz zum gewohnheits-

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mäßigen Handeln müssen aber diese Bestandteile einzeln ins Bewußtsein gerufen, unter Umständen sogar wiederholt durchgespielt und in ihrer Reihenfolge festgelegt werden. Genau genommen haben also nur Entwürfe für Gewohnheitshandlungen sowohl eine Vorgeschichte als auch eine Entstehungsgeschichte. Daß diese Entstehungsgeschichte bei Gewohnheitshandlungen in der subjektiven Erinnerung meist verschüttet ist, hat seine guten Gründe. Dagegen haben ursprüngliche Entwürfe zwar selbstverständlich auch eine Vorgeschichte, aber noch keine eigentliche Geschichte, da diese jeweils erst im Entstehen begriffen ist. 5.2.3 Die zweifelhafte Zukunft: Interessen und Einstellungen Der Zukunft gegenüber kann man nicht ganz gleichgültig bleiben. Gewiß, bei vermeintlich unabwendbaren Dingen lohnt es sich nicht, lange hin und her zu überlegen. Anders steht es um jene Aspekte der Zukunft, von denen man meint, man könne sie in einem - wenn auch noch so geringen - Ausmaß mitgestalten. Die Sorge um die Zukunft richtet sich nicht in eine leer ins Unendliche verlaufende Zeit, sondern auf noch nicht eingetretene aber möglicherweise eintretende, konkrete Umstände, die das eigene Leben und das Leben der Mitmenschen betreffen könnten. Das Handeln auf eine bestimmte Zukunft hin und schon das Entwerfen eines Plans für ein solches Handeln entspringen dieser Sorge. Man kann darüber hinaus zumindest in einem formal allgemeinen Sinn sagen, daß einem bestimmten Handlungsentwurf auch ein bestimmtes Interesse an einer bestimmten Zukunft zugeordnet werden kann. Die konkreten Beziehungen zwischen Interessen und Entwürfen sind allerdings etwas verwickelter. Denn so wie es keinen aus dem Lebenszusammenhang gerissenen Entwurf gibt, sondern nur Entwürfe in Beziehung zu anderen Entwürfen und ganzen „Handlungsstrategien", gibt es auch keine völlig isolierten Einzelinteressen, die für sich allein, ohne Beziehung zu anderen Interessen stünden. Das Verhältnis zwischen einem bestimmten Interesse und einem bestimmten Entwurf muß immer gegen den Hintergrund übergreifender Handlungszusammenhänge und ganzer Interessenbündel betrachtet werden.

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5. Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen

Die Interessen eines Handelnden stehen zwar in einem Gesamtzusammenhang, bilden aber kein System im strengen Sinn des Wortes, in welchem sowohl die Wichtigkeit wie die Dringlichkeit einer bestimmten Handlung, die eine bestimmte Zukunft herbeiführen oder verändern soll, klar, deutlich und widerspruchslos festgelegt wäre. Von einer bewußten Abrufbarkeit und Artikulierbarkeit eines solchen, theoretisch denkbaren Systems kann erst recht nicht die Rede sein. Vielmehr sind die Interessen selbst, so wie ihr Bewußtheitsgrad und ihre Beziehungen untereinander, recht unterschiedlicher Art. In manchen Lebensbereichen sind sie zu so etwas wie einem Bündel zusammengeschnürt. Die Konflikte zwischen ihnen sind, falls es sie überhaupt je gegeben hat, durch Kompromisse (teils dieses, teils das andere), Nebenordnung (zuerst das eine, dann das andere), Unterordnung (daß andere nur, wenn das eine befriedigt ist) usw. geglättet worden. Auf diese Weise wurde aus einem losen „Bündel" von Interessen ein festes einheitliches „Paket" zusammengestellt. Für den Handelnden gehören solche Lösungen zur weitgehend versunkenen Vorgeschichte seiner gegenwärtigen Interessenlage, in welcher er sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit für bestimmte Handlungsentwürfe zum Nachteil anderer, grundsätzlich ebenfalls in Frage kommender, entscheidet. Man verbringt den Urlaub lieber in Kärnten als in Spanien; am Speiseeisstand bestellt man ohne zu zögern Mokka und Zitrone. (Wenn natürlich die Preise in Österreich allzusehr ansteigen, überlegt man sich die Sache von neuem; wenn es Mokka nicht gibt, nimmt man stattdessen Himbeer.) Interessen, die verschiedene Lebensbereiche betreffen, geraten normalerweise untereinander nicht in Konflikt. Wenn es dabei bleibt, daß sich die in Frage stehenden Lebensbereiche nicht berühren, besteht kein Problem. Man muß sich nicht zwischen Mittwochskegeln und Sonntagsmesse entscheiden. Wenn sich aber die Lebensumstände des Handelnden verändern, können manchmal eigentlich getrennte Lebensbereiche ineinandergeschoben werden. Dann muß man in bestimmten Situationen zwischen den Interessen aus den zwei Bereichen doch noch eine Wahl treffen: zwischen Zitroneneis und Kärnten wohl nicht, aber zwischen Einschränkungen in verschiedenen Eß-, Trink-, Rauch- und sonstigen Gewohnheiten und einem Sommerurlaub, zwischen Liebe und Beruf, zwischen Freizeit und Karriere usw. Auch hier können

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Interessen sehr verschiedener Herkunft meist doch noch aufeinander abgestimmt werden. Sie werden in noch größeren Interessenbündeln noch loser zusammengeschnürt. Diese bilden ihrerseits feste Beziehungen zu Systemen von Handlungsentwürfen aus und liegen mehr oder minder gewohnheitsmäßigen Typen des Handelns zugrunde. Gerade bei gewohnheitsmäßigem Handeln fällt es schwer, konturierte Einzelinteressen scharf umrissenen Einzelentwürfen zuzuordnen. Sogar die losen Bündel von Interessen, die in die Vorgeschichte der von ihnen motivierten Handlungsentwürfe eingegangen waren, sind dem Handelnden als solche meist gar nicht mehr bewußt. Sie wirken bei ihm eher als Vorlieben für dieses oder jenes, als Handlungsdispositionen. Wir wollen sie Einstellungen nennen und den Begriff recht weit fassen. Einstellungen enthalten alle in die Weil-Motive verschiedener Typen des Handelns eingehenden Ablagerungen vergangener Erfahrungen, also nicht nur die engere Vorgeschichte des bewußten (genauer: bewußt gewesenen, aber nicht mehr notwendig deutlich erinnerten) Interesse-Entwurf-Zusammenhangs der in Frage stehenden Handlung. Wenn man versehentlich eine Kreuzung bei Rot überfahren hat, dürfte man daran interessiert sein, nicht erwischt zu werden. Es ist jedoch gar nicht so leicht, das Wie und Warum dieses Interesses eindeutig zu beschreiben. Vielleicht ist es einem sehr wichtig, keine Strafe zu zahlen, weil einen beim jetzigen Kassenstand die Strafe allzu empfindlich treffen würde. Oder die Strafe wäre nicht so schlimm, aber man will nicht von einer Streife angehalten werden, weil man zu einer besonders wichtigen Verabredung ohnehin schon zu spät kommen wird. Andererseits aber will man selbst keineswegs, daß andere Leute bei Rot ungestraft über Kreuzungen fahren. Bei all dem ist selbstverständlich auch immer eine mehr oder minder bestimmte Vorgeschichte im Spiel; z.B. wurde man schon mehrmals bei Verkehrsübertretungen erwischt, und jetzt droht Führerscheinentzug, Vorstrafe, Berufsverlust; oder ein guter Freund wurde vor kurzem von einem Rot-Fahrer schwer verletzt. Nicht immer muß die Vorgeschichte so deutlich bewußt, müssen die Folgen so dramatisch sein. Auch allgemeinere Einstellungen, Sedimente vergangener und versunkener Erfahrungen, „stimmen" uns gegenüber bestimmten Zukunftsmöglichkeiten recht unterschiedlich. Die Handlungsentwürfe, die überhaupt in Betracht ge-

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5. Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen

zogen, sowie jene, die dann durchgeführt werden, liegen dementsprechend zwischen den extremen Möglichkeiten vom Typ „Fahrerflucht" und „Selbst-Stellen" und werden von einer Mischung aus Eigennutz und Rechtsempfinden motiviert sein. Weder Einstellungen noch Interessen, noch die ihnen entsprechenden Handlungsentwürfe schließen sich zu strengen Systemen zusammen, noch stehen sie zueinander in ganz und gar eindeutigen Beziehungen. Sie bilden aber einander - mehr oder weniger deutlich - zugeordnete Zusammenhänge. Darüber hinaus sind sie in einigen engeren Bereichen sehr klar strukturiert und bündelweise fest aufeinander bezogen. Dies gilt teils für gewohnheitsmäßige Vorlieben, teils aber auch für voll bewußte Entscheidungspräferenzen. Insgesamt gehen individuelle Interessen und Einstellungen auf Grund von und in Verschränkung mit gesellschaftlichen Zwängen in die Ausbildung von Tagesroutinen und Lebensplänen ein. Diese können bei manchen Menschen nahezu völlig erstarren, bei anderen ganz und gar chaotisch sein (immer bezogen auf gesellschaftlich mehr oder minder deutlich festgelegte Normen), und bei den meisten dürften sie wohl zwischen den Extremen liegen. 5.2.4 Die Wahl zwischen Entwürfen Zur Analyse des Wählens zwischen verschiedenen Entwürfen muß jetzt nicht mehr allzuweit ausgeholt werden. Die wichtigsten Bausteine zum Verständnis dieses Vorgangs wurden schon zusammengetragen: in den vorangegangenen Beschreibungen der Zeitperspektiven des Entwurfs, der Um-zu- und der Weil-Motive des Handelns und des Vorgangs des Entwerfens selbst. Es wurde gezeigt, daß sich in der Lebensgeschichte des Handelnden verschiedene Einstellungen ablagern, aus denen sich teils scharf umrissene Interessen, teils ganze Interessenbündel hervorheben, die in unmittelbar motivierende oder zumindest vorgeschichtliche, vorliebenartige Beziehungen zu Handlungsentwürfen und Systemen von Handlungsentwürfen treten. Wir fassen die Folgen noch einmal mit anderen Worten zusammen. Erstens treten bei Gewohnheitshandlungen keine scharf umrissenen Interessen hervor und dem Handelnden drängen sich dementsprechend auch keine untereinander wetteifernden Zu-

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kunftsvorstellungen auf - sondern ganze Interessenbündel, die mit vorsortierten Paketen von Handlungsentwürfen in Verbindung stehen und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit in konkretes Handeln umgesetzt werden. Zweitens ist es aber auch verständlich, daß in bestimmten nichtroutinisierten Lebenslagen, vor allem solchen, welche eine rasche Entscheidung verlangen, ein einziges dringliches Interesse sozusagen „konkurrenzlos" in das Bewußtsein dringt und mit Hilfe eines vorgefertigten Entwurfs sofort zum Handeln führt. Blitzschnellen Entwürfen und gewohnheitsmäßigem Handeln ist gemeinsam, daß Alternativen gar nicht erst erwogen werden und der Vollzug „wie von selbst" einsetzt. Die Gründe dafür sind natürlich verschieden: Im einen Fall sind die in Frage kommenden Interessen schon einigermaßen abgewogen in Bündeln zusammengeschnürt, im anderen Fall kommt ein anderes Interesse von vornherein nicht in Frage. Wie die jeweiligen Interessen nun inhaltlich aussehen, ist von Fall zu Fall sehr verschieden. Einerseits kann je nach Lebensumständen fast alles, nicht nur Zähneputzen, zur Gewohnheit werden, andererseits ist in einer gefährlichen Situation das Vermeidenwollen eines Verkehrsunfalls nur bei eingefleischten Nicht-Selbstmördern das selbstverständliche Interesse. Beide Fälle unterscheiden sich so in einem wesentlichen Punkt von der gewissermaßen vorbildlich ausgewogenen Art des Handelns. Diese ist dadurch gekennzeichnet, daß Entwurf und Vollzug nicht schon auf Grund längst eingeschliffener Vorentscheidungen oder infolge der augenblicklichen Vordringlichkeit eines einzigen, alles beherrschenden Interesses wie von selbst zustande kommen, sondern daß der Handelnde mit Bedacht einen Entwurf unter zweien oder sogar mehreren in Frage kommenden auswählt. Es sind zweierlei Arten von Umständen, die zu einer Wahl zwischen Handlungsalternativen führen können. Zum ersten: Wenn in einer Lebenslage zwei (oder mehrere) durch vorangegangene Erfahrungen in kein Bündel verpackte Interessen an zwei (oder mehreren) verschiedenen Zukunftsmöglichkeiten aufeinanderstoßen, muß sich der Handelnde zwischen ihnen entscheiden, bevor er überhaupt handeln kann. Zum zweiten: Wenn das Ziel schon feststeht, aber verschiedene Wege dahin führen könnten und der Handelnde nicht schon genau weiß, welcher Weg der beste ist, wird er sich auch darüber Gedanken machen müssen, bevor er zu

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5. Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen

handeln beginnt. Ein Zweifel hinsichtlich des zu erreichenden Ziels auf Grund eines Interessenkonflikts ist nicht das gleiche wie Ungewißheit hinsichtlich des einzuschlagenden Wegs infolge unzureichenden Wissens. Immerhin besteht aber inhaltlich eine gewisse Verwandtschaft zwischen diesen zwei Arten von Umständen: Ziele können oft als Teilziele, als Strecken auf dem Weg zu einem übergeordneten Ziel betrachtet werden. In beiden Fällen, ob es sich um zwei verschiedene Ziele oder zwei verschiedene Wege zum gleichen Ziel handelt, muß überlegt und zwischen den Zielen bzw. den Wegen entschieden werden. Es wurde gezeigt, daß sich Interessen mit bestimmten - und nicht mit einer Unzahl von beliebigen - Entwürfen verbinden, daß manche Interessen manchmal - aber nicht alle immer - zu Interessenbündeln und Entwurfpaketen verschnürt werden. Es war auch schon davon die Rede, daß es in der Vorgeschichte der Entwürfe zur Aussonderung von Phantasie und Wirklichkeit und zu Durchführbarkeitseinschätzungen kommt - ohne daß diese immer zufriedenstellend abgeklärt werden. Versetzen wir uns also ohne weiteres in die Ausgangslage des Wählens. Entweder sind Interessen an nicht zu vereinbarenden Zukunftsmöglichkeiten aufeinander gestoßen, oder es bieten sich verschiedene Wege zum Ziel an, die im subjektiven Wissensvorrat mit Durchführbarkeitseinschätzungen sozusagen „ohne Gewähr" abgelagert worden sind. Was geschieht dann? Zunächst nimmt der Handelnde eine der Zukunftsmöglichkeiten in den Griff des Bewußtseins. Er inspiziert sie genau, genauer jedenfalls als bei gewohnheitsmäßigem oder unüberlegtem Handeln. Er stellt ausdrücklich, gleichsam in einem Selbstgespräch, sein Interesse an dieser Zukunftsmöglichkeit fest und erwägt, soweit als möglich, deren Wichtigkeit und Dringlichkeit. Er geht dabei in seine Lebensgeschichte zurück und versucht, das jeweilige Interesse in eine Interessenhierarchie zu stellen. Er geht dabei auch in seine Zukunft voraus, indem er den Entwurf in Zusammenhang mit übergeordneten Lebensplänen setzt und betrachtet. Zusätzlich malt er sich aus, welche Folgen diese Zukunftsmöglichkeit, falls sie tatsächlich eintreten sollte, für ihn haben könnte und welche anderen, für ihn wichtigen Interessen sie vorteilhaft oder zum Nachteil berühren könnte. Auf diese Weise untersucht der Handelnde seinen ersten Entwurf in einem größeren Zusammen-

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hang, so gut er eben kann. Von einer Gewichtung des Entwurfs kann jedoch noch nicht wirklich die Rede sein, da es ja keine absoluten Maßzahlen für alle Implikationen eines Entwurfs gibt. Das Gewicht des Entwurfs kann erst, wenn überhaupt, im Vergleich mit anderen Entwürfen festgesetzt werden. Nach der Inspektion von Entwurf 1 (und dem Versuch, die Ergebnisse im Gedächtnis zu behalten) macht sich der Handelnde nun daran, den Entwurf 2 genauer zu betrachten. Jetzt können schon vorläufige Gewichtungen im groben Vergleich zu E 1 abgeschätzt werden. E 2, der jetzt betrachtet wird, kann probeweise gegen E 1, an den man sich erinnert, abgewogen werden (z.B. E 1 ist wichtiger für das berufliche Fortkommen als E 2, aber E 1 könnte nachteilige Folgen für die Ehe haben im Gegensatz zu E 2). Manchmal ist es möglich schon nach der Inspektion von E 1 und E 2 im ersten Durchgang zu einer Entscheidung zu kommen (z.B. wenn E 1 eindeutig wichtiger für berufliches Fortkommen und E 1 und E 2 gleichermaßen folgenlos für die Ehe bleiben dürften). Dann wird der stärker gewichtete Entwurf gewählt und der andere verworfen. Die in E 1 und E 2 zugrundeliegenden konkurrierenden Interessen können in ein loses Bündel zur späteren Verwendung zusammengeschnürt werden, so daß - ceteris paribus - dann ein wiederholtes Wählen zwischen E 1 und E 2 überflüssig wird. Natürlich sind die Dinge nicht immer so einfach. Oft spricht manches für E 1 und manches für E 2. Dann muß der Handelnde zu einem zweiten Durchgang ansetzen. Bei der zweiten Inspektion von E 1 sind die vorläufigen Gewichtungen von E 2 schon fest im Gedächtnis und E 1 kann jetzt mit diesen verglichen und genauer abgewogen werden. Eine Entscheidung mag daher schon nach der ersten Hälfte des zweiten Durchgangs möglich sein. Grundsätzlich könnten sich aber noch weitere Durchläufe anschließen, sofern man nicht unter unmittelbarem Handlungsdruck steht. Früher oder später wird man sich dann für eine Möglichkeit entscheiden, wenn man nicht beide verwirft und einen dritten Entwurf verwirklicht. Es gibt aber noch eine weitere Möglichkeit. Man kann nämlich zu dem Schluß kommen, daß auch bei weiterer Inspektion der Entwürfe keine wohlbegründete Entscheidung möglich ist. Dieser letztere Fall kann zwei ganz verschiedene Ursachen haben. Die erste besteht darin, daß man beiden Entwürfen das gleiche Gewicht (den gleichen Nutzen) zuordnen muß. Man mag dann noch

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5. Die Zeit- und Sinnstruktur von Handlungen

eine Zeitlang zwischen E 1 und E 2 hin und her schwanken, in der Hoffnung, es würde sich etwas ergeben, das eine noch feinere Gewichtung und dann vielleicht doch noch eine Entscheidung erlaubt. Wenn sich diese Hoffnung dann doch als trügerisch erweist (auf dieser Welt hat man außerdem bei keiner Handlungsentscheidung unbegrenzt Zeit), muß man einsehen, daß keine richtige, „vernünftige" Wahl getroffen werden kann. Dann bleibt nicht viel anderes übrig, als eine Münze in die Luft zu werfen und „Kopf oder Zahl" zu sagen oder ein anspruchsvolleres Orakel zu befragen. Im anderen Fall stellt sich heraus, daß überhaupt nicht entschieden werden kann, ob die Entwürfe gleichen oder verschiedenen Gewichts sind. Man kann sie einfach guten Gewissens nicht mit den gleichen Maßstäben messen. Nicht die Entwürfe, sondern die Maßstäbe selbst stehen im Konflikt. Wenn nicht blind oder zufällig gehandelt werden soll, muß in diesem Fall zuerst zwischen den Maßstäben entschieden werden und dann erst zwischen den Entwürfen. Eine solche, im wesentlichen ethische Entscheidung kann zwar gesellschaftlich weitgehend vorgeformt sein. Man kann sich dann belehren und beraten lassen und die Norm annehmen oder von ihr abweichen, z.B. „Profit" der „Ehre" unterordnen oder umgekehrt. Zumindest in komplexeren Gesellschaften sind aber die Werte nicht vollständig - oder jedenfalls nicht verbindlich in eine einzige herrschende Wertordnung gefügt. Individuelle Wertentscheidungen auch inhaltlicher Art, über Konformität oder Abweichung hinaus, können für eine begründete Wahl zwischen Entwürfen notwendig werden. Die Fälle sind nicht immer und für jeden Handelnden klar unterscheidbar. So wie es individuelle Unterschiede schon im Vorfeld solcher Entscheidungen gibt (manche schwanken eben von Natur aus mehr als andere), sind die Ausprägungen, Hierarchisierungen und Verbindlichkeiten kultureller Wertordnungen nicht überall und zu allen Zeiten gleich. Je nachdem wird man also eher dazu neigen, sein eigenes Gewissen zu befragen oder sich den Ratschlägen astrologischer Spalten in Illustrierten zu überlassen.

6.

Der Handlungsvollzug

6.1

Vom Entwurf zum Handeln: Der Entschluss

Es wurde gezeigt, daß Entwürfe eine Art phantasierender Vorstellungen sind, aber dennoch keine bloße Phantasien. Denn im Entwurf befaßt man sich nicht mit etwas wesentlich Unwirklichem, sondern mit etwas, das Wirklichkeit werden könnte. Jeder Entwurf ist auf Verwirklichung einer (zumindest vermeintlich) möglichen Zukunft angelegt. Femer wurde gezeigt, daß Entwerfen eine Art Denken ist, aber ein Denken, das sich nicht mit sich selbst begnügt. Das entwerfende Denken ist vielmehr ein Handeln, das von vornherein als Vorbereitung für ein anderes Handeln gemeint ist. Der Entwurf ist jene Teilhandlung, die vor den „eigentlichen" Handlungsschritten kommt und an deren Ergebnis sich diese ausrichten sollen. Das Endziel des Entwerfens ist nicht der Entwurf, sondern die im Entwurf vorgestellte Handlung. Das Entwerfen konstituiert zwar den Entwurf als den Richtungssinn des eigentlichen Handelns, aber nicht dieses Handeln selbst. Um das Selbstverständliche kurz zu sagen: Entwerfen ist Handeln - aber der Entwurf ist nicht die eigentliche Handlung. Mit dem Entwurf ist noch nichts Unwiderrufliches geschehen. Bevor etwas zustande kommt, das als solches auch so gemeint war (der Entwurf entwirft ja nicht sich selbst), muß eine Schwelle überschritten werden. Das Überschreiten dieser Schwelle ist keine Denkhandlung, wie es Entwerfen, Wählen zwischen Entwürfen oder eigentliche Denkakte sind. Es ist auch kein Wirken und keine Arbeit, wie es die Schritte des „eigentlichen" Handelns sind, die in der Welt getan werden. Das Überschreiten der Schwelle zwischen Entwurf und eigentlichem Handeln ist ein Willensakt, zu dessen Bezeichnung ,J?ntschluß" gut geeignet erscheint. Wie alles, das mit Handeln, dessen Zeitstruktur, der Verantwortungszuschreibung für Handlungen und dergleichen zusammenhängt, unterscheiden sich Sprachen, Kulturen und Gesellschaften auch in den Begrifflichkeiten mit deren Hilfe man das Wesen dieses Willensaktes zu erfassen sucht. Trotz dieser (auch die subjektive Erfahrung der Menschen prägenden) Unterschiede ist aber jedem Handelnden -

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6. Der HandlungsvoHzug

je nach Umständen - mehr oder minder deutlich bewußt, daß er vor dem eigentlichen Handeln noch eine Schwelle zu überschreiten hat, die den Entwurf davon trennt. Sie ist aber nicht immer gleich schwer zu überwinden. Einige Schwellen kann man zuletzt überhaupt nicht überschreiten, andere überspringt man nur mit allergrößter Anstrengung und über manche tritt man achtlos hinweg. Der Grad der Anstrengung hängt von verschiedenen Umständen ab. Diese ergeben sich aus den verschiedensten Verbindungen zwischen der Art des Entwurfs, der Art der entworfenen Handlung, dem Charakter des Handelnden, seiner lebensgeschichtlich bedingten Einstellungen und der konkreten Handlungssituation. Die wichtigsten Verbindungen dieser Umstände sollen im folgenden etwas näher betrachtet werden. Vorerst noch eine allgemeine Bemerkung. Zwischen dem Entwurf und dem eigentlichen Handeln liegt nicht nur eine Willensschwelle, sondern immer auch Zeit. Diese beträgt manchmal nur Bruchteile eines Augenblicks, bei manchen Handlungen aber auch Stunden, Tage und sogar Jahre. Es gibt Entwürfe, die unter Entscheidungsdruck in der handlungsakuten Situation zum sofortigen Gebrauch angefertigt werden; es gibt Entwürfe, die für einen voraussehbaren Zeitpunkt (z.B. für heute abend, nächsten Sonntag oder den kommenden Sommerurlaub) vorbereitet werden; es gibt aber auch Entwürfe, die vorsorglich für spätere - mit einiger Wahrscheinlichkeit auftretende - Situationen sozusagen auf Vorrat hergestellt werden. Im allgemeinen gilt, daß eine wesentliche Veränderung der im Entwurf veranschlagten handlungsrelevanten Bedingungen umso wahrscheinlicher ist, je länger die Spanne zwischen der Fertigstellung des Entwurfs und dem Beginn der eigentlichen Handlung ist. Selbstverständlich sind aber auch bei kurzen Zeitspannen solche Veränderungen nicht undenkbar. Die Welt ist nicht einmal kurzfristig zuverlässig voraussagbar. Betrachten wir nun das Überschreiten der Schwelle genauer. Beginnen wir mit dem besonderen Fall, in dem der Handelnde entgegen der ursprünglichen Absicht doch noch diesseits der Schwelle bleibt und mit dem eigentlichen Handeln erst gar nicht beginnt. Aber warum? Nach dem gerade Gesagten drängt sich der häufigste und wichtigste Grund auf: Weil sich die handlungsrelevanten Bedingungen nach Ansicht des Handelnden entscheidend verändert haben und sich der alte Entwurf im Licht des Wissens

6.1 Vom Entwurf zum Handeln: Der Entschluss

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um die veränderten Umstände als undurchführbar, als unerwünscht oder beides'zusammen erweist. (Wie gesagt: je mehr Zeit zwischen Entwurf und Durchführung verstrichen ist, umso wahrscheinlicher ist auch - ceteris paribus - eine beträchtliche Veränderung der Bedingungen.) Wenn solche Veränderungen tatsächlich eintreten, bleibt es normalerweise beim bloßen Entwurf. Der in ihm enthaltene Vorentschluß zur Verwirklichung wird rückgängig gemacht. Noch ist nichts Unwiderrufliches geschehen. Allerdings heißt auch hier „aufgeschoben" nicht immer „aufgehoben". Wenn sich die Bedingungen noch einmal verändern - und zwar zur Ausgangslage zurück - , kann man sich doch noch für die ursprünglich entworfene Handlung entschließen. Zum Beispiel mag man schon lange geplant haben, nach Abschluß des Studiums in das südamerikanisches Land auszuwandern, in welchem der Onkel schon seit einiger Zeit lebt. Wenn dann der Onkel aber nach einem Putsch verhaftet wird, könnte man den Emigrationsplan aufgeben oder sich nach einem anderen Land umsehen. Wenn aber nach einiger Zeit das alte Regime wiedereingerichtet und der Onkel freigelassen wird, geht man vielleicht doch noch dorthin. Im folgenden untersuchen wir die verschiedenen Weisen der eigentlichen Schwellenüberschreitung. Wenn die Schwelle schmal und niedrig ist, genügt zu ihrer Überwindung ein einziger kleiner Schritt. Dies ist durchweg bei gewohnheitsmäßigen Handlungen der Fall. Diese bedienen sich ja, erstens, eines längst vorgefertigten Entwurfs und erfolgen, zweitens, in hochvertrauten Situationen. So ist, erstens, kein ausdrückliches (polythetisches) Entwerfen einer Handlung erforderlich, der Entwurf liegt auf „Lager". Und so braucht man, zweitens, nicht unter mehreren vorrätigen und untereinander konkurrierenden Entwürfen zu wählen, da die Verbindung zwischen den Handlungsanforderungen der Situation und dem „richtigen" Entwurf durch häufige Wiederholung bis hin zur Selbstverständlichkeit verfestigt ist. Unter all diesen Umständen gewohnheitsmäßigen Handelns wird der Handelnde die Schwelle zwischen Entwurf und Vollzug kaum bemerken. Der leiseste Anstoß genügt, um die passende Handlung ins Rollen zu bringen und obwohl der Handelnde weiß, daß dieser Anstoß von ihm kommt, wird er sich eines besonderen Entschlusses kaum oder gar nicht bewußt.

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6. Der Handlungsvollzug

Bei einem weiteren Fall der „Lagerung" von Entwürfen liegen die Dinge schon etwas anders. Situationsbestimmung, Anwendung eines passenden abgelagerten Entwurfs und Handlungsvollzug gehen nicht mehr fast automatisch und ohne ausdrückliche Entschlußfassung ineinander über. Hier stehen verschiedene Entwürfe zur Verfügung, die auf Grund hypothetischer Vorwegnahmen verschiedener Varianten einer möglichen Zukunftsentwicklung angefertigt und abgelagert wurden, oft lange vor Eintritt der erwarteten Anwendungssituation. In dieser Situation muß also zuerst zwischen den verschiedenen Entwürfen gewählt werden. Um diesen Aufwand so gering wie möglich zu halten, mag man zwar auch schon im voraus versucht haben, die situativen Bedingungen für den Einsatz der auf Lager gesetzten Entwürfe genau zu bestimmen. Dies ist aber in nur sehr begrenztem Ausmaß möglich. Das gewöhnliche Leben ist kein Schachspiel, es gibt dafür keine handlichen Anweisungen, die der Schachtheorie entsprächen. Man kann sich im Alltag nicht wie auf jede denkbare Variante des Ruy Lopez Man und das Dutzend moderner Eröffnungen vorbereiten und für jeden Zug gleich die entsprechende Antwort bereithalten. Aufmerksamkeit auf vielfältig wechselnde Bestandteile von Handlungssituationen, eine einigermaßen bewußte Wahl zwischen verschiedenen Entwürfen und zuguterletzt doch auch ein starker willentlicher Ruck sind erforderlich. Sogar beim Schachspiel könnten sich ja manche Leute ohne die Zeitbegrenzung nicht zum nächsten Zug entschließen. Der nächste Fall ist dem soeben beschriebenen in einem Punkt ähnlich: Es muß wieder zwischen verschiedenen Entwürfen gewählt werden, die aber nun erst noch fertiggestellt werden müssen. (Natürlich sind alle „Fälle" hier idealtypisch gemeint, das Leben kennt keine so scharfen Grenzen.) Die Bedingungen, unter denen es zu dieser hochgradig bewußten - und empirisch gar nicht so häufigen - Phase in der Vorbereitung des eigentlichen Handelns kommt, dürften aus der Beschreibung des Wählens zwischen Entwürfen noch in Erinnerung sein. Zwei Umstände mit entgegengesetzter Wirkung bestimmen hier das Überschreiten der Schwelle zum Handeln. Einerseits ist der Entwurf nicht leichthin, sondern aufgrund reiflicher Überlegung gewählt worden. Wenn Handeln nur nach dem Verstand ginge, sollte der gewählte Entwurf also auch schon

6.1 Vom Entwurf zum Handeln: Der Entschluss

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den Verwirklichungsentschluß in sich bergen (sofern zwischen der Verwirklichungsabsicht, die ja jeden Entwurf kennzeichnet, und dem Entschluß überhaupt noch ein Unterschied gemacht werden kann). Jedenfalls wäre die zu überschreitende Schwelle niedrig, der Entschluß kaum merklich. Sofern nicht triftige, bei der Wahl noch unbekannte Gründe zwingend eine Neuwahl erfordern, müßte sich der erste Schritt des eigentlichen Handelns wie von selbst anschließen. Andererseits erfolgt aber eine Wahl zwischen untereinander im Wettstreit befindlichen Entwürfen wohl kaum aus nichtigem Anlaß. Man hat es vielmehr mit Handlungen - und Handlungsfolgen - zu tun, die für den Handelnden von großer Bedeutung sind. Aus diesem Grund wäre anzunehmen, daß Menschen auch bei Handlungen, über deren „Richtigkeit" vernunftgemäß kein Zweifel besteht, zögern werden, den ersten unwiderruflichen Schritt zu wagen. Wenn es um Kopf und Kragen geht, erfordert meist auch bei den besten Erfolgschancen die letzte Entscheidung eine gewisse Überwindung. (Man versuche nur einmal die bescheidene Distanz von 3 m zu überspringen, zuerst im Garten, dann über eine tiefe Schlucht. Dann stelle man sich zusätzlich vor, wie es wäre, wenn man nicht bloß zum Vergnügen springt, sondern seine Haut vor Verfolgern retten will.) Es ist klar, daß diese in entgegengesetzter Richtung wirkenden Umstände zumindest eines zur Folge haben: Der Handelnde wird sich seines Entschlusses deutlich bewußt. Es ist jedoch darüber hinaus schwer zu sagen, wie diese Umstände eine konkrete Handlung bestimmen. Man kann nicht alles in Rechnung stellen, Handeln ist schließlich keine rein verstandesmäßige Tätigkeit. Insbesondere ist der Entschluß selbst, so sehr er auch auf verstandesmäßigen Erwägungen beruhen mag, etwas ganz anderes, nämlich ein Willensakt. Und hier spielen verschiedene, den Willen unmittelbar oder mittelbar beeinflussende, lebensgeschichtlich geprägte Eigenschaften des Handelnden eine bedeutende Rolle. Dies gilt besonders für jene (zuletzt besprochenen) Handlungen, die lebenswichtig - oder jedenfalls nicht ganz unwichtig - sind. Es gibt Handelnde, die „willensstark" und solche, die „willensschwach" sind, so wie es faule oder fleißige, lebensfrohe und müde, tapfere und feige Menschen gibt. Manche fassen Entschlüsse leicht, an-

80

6. Der Handlungsvollzug

dere schwer und auch jene, die Entschlüsse im allgemeinen leicht fassen, mögen in bestimmten Situationen doch noch zögern.

6.2

Handlungsverläufe

6.2.1 Anfang und Ende Menschliche Erfahrungen tauchen aus dem fließenden Erlebnisstrom in verhältnismäßig deutlichen Umrissen hervor, besonders Anfang und Ende von Erfahrungen treten mit einiger Deutlichkeit in das Bewußtsein. Dies gilt erst recht für jene besondere Art von Erfahrungen, die von Anfang an und bis zum Ende hin einen aktuellen Sinn haben, der in der Beziehung jeder einzelnen ihrer Phasen zum entworfenen Ende konstituiert wurde26, nämlich für Handlungen. Beim Handlungsan/ang liegen die Dinge ziemlich einfach; nach dem Entschluß kommt der erste Schritt und damit der Beginn der eigentlichen Handlung. Das Handlungsende wird hingegen auf verschiedenen Pfaden und Bahnen erreicht. Bei Erfolg tritt es entwurfgemäß mit dem letzten Schritt ein. Aber Handlungen können selbstverständlich auch mißlingen, schon gleich nach dem ersten oder irgendeinem späteren Schritt, sie können zeitweilig unterbrochen, abgeändert oder endgültig abgebrochen werden. Diese Möglichkeiten wollen wir im Anschluß an einige Bemerkungen zum Handlungsanfang eingehend betrachten. Dem Entschluß folgt der erste Schritt der eigentlichen Handlung - und zwar ohne weiteres. Ein Entschluß ist ja, wie gezeigt wurde, nicht als der bloße, wenn auch noch so ernsthafte Vorsatz zu verstehen, einen erwogenen Entwurf bei gegebener Zeit durchzuführen. Er ist vielmehr der letzte Anstoß des Willens, mit dem die Schwelle zwischen dem Entwurfhandeln (als dem auf das eigentliche Handeln vorverweisenden Denkakt) und dem eigentlichen Handeln selbst unwiderruflich überschritten wird. Es tritt nichts mehr zwischen den Entschluß und den ersten Schritt. Allerdings kann der Handelnde beim Abwägen der Entwürfe schwan-

26

Vgl. Kapitel 5.1.1 und 5.1.2.

6.2 Handlungsverläufe

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ken und er kann zögern, weil er sich noch nicht entschlossen hat; dazu zwei passende Beispiele. Im Bett liegend kann man zunächst eine Zeit lang zwischen zwei Möglichkeiten hin und her gerissen sein: Der unangenehmen, aber dringlichen Bestandsaufnahme der eigenen Finanzlage (das Konto ist überzogen), oder der angenehmen, aber aufschiebbaren Erinnerung an die letzte Skiabfahrt (im tiefen Pulverschnee des hinteren Abhangs am Wöllanernock). Wenn man nicht vor dem Entschluß eingeschlafen ist und wenn dieser, pflichtschuldig, zugunsten der finanziellen Bestandsaufnahme gefallen ist, fangt man auch schon gleich mit dem ersten Schritt an. Dieser ist mehr oder minder deutlich, mehr oder minder gewohnheitsmäßig im Entwurf festgelegt worden. Man will die Restschuld bei der Bank berechnen, dazu hat man die nötigen Informationen im Kopf: Höhe der Gesamtschuld, monatliche Abzahlungen, Beginn der Abzahlungen usw. und man kann sich auf die erlernte Fähigkeit (nach der lebensweltlichen Idealisierung des „Ich kann immer wieder") verlassen, die nötigen Rechenschritte durchzuführen. Selbstverständlich kann nach jedem der Schritte lange vor der letzten Subtraktion etwas dazwischenkommen: man schläft ein oder fällt etwa wegen eines Erdbebens aus dem Bett. Aber solange man auch zwischen (erinnertem) Skifahren und Rechnen geschwankt haben mag und was immer nach dem ersten Schritt noch geschehen könnte, nach dem Entschluß hat man als ersten Schritt der Rechenaufgabe die Höhe der Gesamtschuld sogleich in Erinnerung gerufen. Nehmen wir noch ein anderes Beispiel: Wieder liegt man im Bett, aber diesesmal drängt die Blase, nicht die Finanzlage. Kein anderer Entwurf kommt in Frage als aufzustehen und zur Toilette zu gehen. Nicht einmal das Unterlassen dieser Handlung kann ernstlich in Betracht gezogen werden. Bei diesem Entwurf muß nichts abgewogen werden, die einzelnen Schritte müssen nicht planend ins Bewußtsein gerufen werden, die Durchführbarkeit des Entwurfs steht nicht in Frage - nur viel Wahlfreiheit hat man eben nicht. Wenn man sich aber einmal den letzten Stoß gegeben hat, ist schon der rechte (oder der linke) Fuß auf dem Weg vom Bett zum Boden. Soviel zum Anfang einer Handlung. Der Weg zum Ende hingegen ist voller Hindernisse, alles nur Erdenkliche kann geschehen, bevor das Ziel erreicht ist. Sogar bei reinen Denkhandlungen treten manchmal unvorhergesehene Um-

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6. Der Handlungsvollzug

stände ein. Denn obwohl Denken nicht in die Welt gerichtet ist, geschieht es in der Welt. Die meisten Unvorhersehbarkeiten sind aber selbstverständlich mit jenen Handlungen verbunden, die in die Welt eingreifen, vor allem, wenn sie auf die Handlungen anderer Menschen gründen. Seiner Sinnstruktur nach ist der einfachste Fall der des „erfolgreichen" Handelns. Zunächst wird der erste Schritt des eigentlichen Handelns in ausreichender Übereinstimmung mit dem Entwurf getan, dann der zweite, der sich ebenfalls entwurfgemäß an den ersten anschließt und so fort bis zum letzten ursprünglich entworfenen und nun verwirklichten Schritt. Damit ist das Ziel erreicht; das Badezimmer, die Höhe der Restschuld oder was immer man erreichen wollte. Das Ziel war im Entwurf modo futuri exacti vorgestellt worden im Handeln wurden zunächst die Schritte wirklich vollzogen und dann das Ziel gegenwärtig. Nachdem die Handlung vollendet ist, geht auch das Ziel in das perfectum über. Eine kleine Frage bleibt noch zu klären: Was heißt „ausreichende" Übereinstimmung zwischen Entwurf und Handlungsschritten bzw. vollendeter Handlung? Grundsätzlich kann es eine vollkommene Übereinstimmung zwischen der Vorstellung (dem Entwurf) und der Verwirklichung (dem eigentlichen Handeln) gar nicht geben. Aber im Alltag bleibt dies unbemerkt und unerheblich solange nur das Ziel erreicht wird, d.h. solange die Verwirklichung das Wesentliche an der Vorstellung trifft. So reicht es bei eingeschliffenen Gewohnheitshandlungen vollkommen aus, daß der Handelnde keine grobe Nicht-Übereinstimmung bemerkt. Bei solchen Handlungen wird der Entwurf ohnehin nicht in seinen Einzelheiten in den Griff des Bewußtseins genommen, also treten die einzelnen Schritte jeder für sich auch nicht gesondert hervor. Erfolgreiche Gewohnheitshandlungen sind definitionsgemäß jene, bei denen die Schritte wie von selbst zum Ziel führen. Nur das Stolpern, den mißlungenen Schritt, merkt man deutlich. Auch bei vielen anderen erfolgreichen Handlungen, bei denen der Entwurf deutlicher in das Bewußtsein tritt, die aber aus mehr oder minder eingeschliffenen Teilhandlungen zusammengesetzt sind, heißt „ausreichende Übereinstimmung" noch nicht mehr als die Abwesenheit von aufdringlicher Nicht-Übereinstimmung.

6 . 2 Handlungsverläufe

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Es gibt jedoch auch Handlungen, bei denen man zwar auf die einzelnen Schritte einigermaßen achtgibt, sie aber dennoch nicht Zoll für Zoll an den entsprechenden Entwurfsschritten mißt. Und schließlich gibt es Handlungen, die für den Handelnden hochgradig problematisch sind, wenn er z.B. auf ein ganz neuartiges Ziel zusteuert oder den Plan mit unvertrauten Mitteln durchführen muß. Dann kann es wohl geschehen, daß der Handelnde sorgfaltig schon im voraus eine schrittweise Strategie plant und im Vollzug ebenso sorgfältig die Übereinstimmung jedes Handlungsschritts mit dem entworfenen Schritt überprüft, bevor er zum nächsten ansetzt. Aber auch in diesem Fall wird die Überprüfung j e nach Art des Handelns und der sonstigen Umstände mit unterschiedlichem Klarheits- und Bestimmtheitsgrad durchgeführt. Bei solchen bis ins einzelne durchdachten, in vielerlei Hinsicht „rationalen" Handlungen geht es meist um Ziele, die für den Handelnden von erheblicher Bedeutung sind, deren Erlangung aber keine weitreichende Routinisierung zuläßt. Sogar in modernen, ihrer Organisationsstruktur (oder zumindest ihrem Selbstverständnis) nach auf „Rationalität" angelegten Gesellschaften dürften Annäherungen an diesen Handlungstyp nicht allzuoft vorkommen. Noch am häufigsten kennzeichnet ein gewisser Grad der schrittweisen Durchdachtheit jene Formen gesellschaftlichen Handelns, in denen jeder einen bestimmten Schritt des Mitmenschen (des Verkäufers, der Geliebten, des Schachgegners) abwarten muß und immer schon auch die eigenen Schritte auf die vorweggenommene, vorgestellte, typische Wahrnehmung des anderen hin angelegt sind. Aber damit sprechen wir die verwickelte Art des unmittelbaren wechselseitigen Handelns an, die später ohnehin noch genauer beschrieben werden muß.27 Jedenfalls kann hinsichtlich des Endes „erfolgreicher" Handlungen festgehalten werden, daß es formal und seinem Sinn nach einfach ist, ebenso wie der Anfang aller Handlungen. Denn für sie gilt, daß sowohl der erste wie der letzte Schritt in ausreichender Übereinstimmung mit dem Entwurf getan wird. Allerdings ist „ausreichende Übereinstimmung" ein dehnbarer Begriff schon deswegen, weil er auf die Wahrnehmungen und Deutungen des Handelns durch den Handelnden selbst bezogen werden muß. Es wur27

Vgl. Kapitel 8.2.2.

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6. Der Handlungsvollzug

de gezeigt, daß diese von der Art des Handelns und den lebensgeschichtlich geprägten Einstellungen des Handelnden zum Zeitpunkt seiner jeweiligen Handlung abhängen. Einmal bedeutet es, daß sich dem Handelnden keine nennenswerte Nicht-Übereinstimmung aufdrängt, ein anderes Mal, daß er die Deckung zwischen Entwurf und Vollzug Schritt für Schritt bis zum Ende überprüft. Anders verhält es sich mit dem Ende jener Handlungen, die nicht entwurfgemäß verlaufen. Sie können nicht, wie die erfolgreichen Handlungen, in Analogie zum Handlungsanfang beschrieben werden und sollen jetzt in eigenen Abschnitten betrachtet werden.

6.2.2 Umwege und Unterbrechungen Der Begriff einer „erfolgreichen Handlung" wurde bisher ohne genauere Bestimmung bzw. ohne lange Überlegungen darüber, was er alles bedeuten könnte, verwendet. Als erfolgreich wurden Handlungen angesehen, die entwurfgemäß zum Ziel führen. Bei näherer Betrachtung ist jedoch die Sache nicht mehr ganz so einfach. Entwurfgemäß heißt, daß das im Entwurf anvisierte Ziel auf dem im Entwurf vorgezeichneten Weg erreicht wird. Dies ist gewiß auch die im täglichen Leben vertrauteste, typische Weise des erfolgreichen Handelns. Sie hat Modellcharakter: Man handelt auf ein angestrebtes Ziel zu, wenn man zu wissen meint, wie man zu ihm gelangt. Es gibt aber logisch und empirisch andere Möglichkeiten. Man kann z.B. entwurfgemäß auf das entworfene Ziel zusteuern - und wenn man es erreicht, stellt sich heraus, daß man dieses Ziel eigentlich doch nicht erreichen wollte. Dieses Handeln ist jedoch kaum erfolgreich zu nennen, sofern man sich nicht ausschließlich auf eine Betrachtung der Vollzugsseite beschränkt. In einer solchen Perspektive wäre es allerdings zu den erfolgreichen Handlungen im schon besprochenen Sinn zu zählen. Der Mißerfolg ist schließlich vor dem Vollzug, nämlich schon im Entwurf angelegt und wird erst nachträglich, nämlich in der Deutung der vollzogenen Handlung bewußt. Diese Handlungsaspekte sind aber schon in anderen Zusammenhängen angesprochen worden und stehen hier nicht mehr zur Diskussion.

6.2 Handlungsverläufe

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Von Interesse ist vielmehr ein Handeln, das zwar zum entworfenen Ziel geführt hat, aber nicht auf dem entworfenen Weg. Im weiteren Sinn des Wortes können gewiß auch solche Handlungen, bei denen (wenn man es nicht allzu genau nimmt) das letzte Glied der Um-zu-Motiv-Kette das „gleiche" bleibt, als erfolgreich angesehen werden. Mit den im engeren Sinn erfolgreichen Handlungen haben sie also gemeinsam, daß das entworfene Ziel im Endeffekt erreicht wird; was sie von ihnen unterscheidet, ist der eingeschlagene Weg. Dieser ist nicht so gradlinig verfolgbar wie im ersten Fall, die Sinnstruktur des Vollzugs solcher Handlungen ist daher entsprechend verwickelter. Der Grund dafür, daß ein Handeln nicht entwurfgemäß vollzogen wird, ist im wesentlichen immer der gleiche. Zwischen die jeweilige Lage des Handelnden und den letzten Schritt, mit dem das Ziel erreicht werden sollte, haben sich Umstände geschoben, welche ein dem ursprünglichen Entwurf getreues Weiterhandeln verhindern. Diese Umstände können entweder das Ziel oder die zu ihm führenden Schritte betreffen; genauer: die Wiinschbarkeit des Ziels (nach dem ersten, zweiten usw. Schritt des Vollzugs sieht man das Ziel vielleicht in einem anderen Licht als zur Zeit des Entwerfens, aus welchen Gründen auch immer) oder die Durchfiihrbarkeit der jeweils noch verbleibenden Teilhandlungen (man sieht, daß man auf diesem Weg nicht weiterkommen wird). In beiden Fällen wird die Handlung wahrscheinlich endgültig abgebrochen. Wenn man merkt, daß man das Ziel eigentlich gar nicht mehr erreichen will, bleibt man eben stehen. Und wenn sich die ursprünglichen Durchführbarkeitseinschätzungen hinsichtlich der nötigen, zum Ziel führenden Schritte als grundfalsch herausstellen, muß man die Verwirklichung des Entwurfs aufgeben. Das gilt aber natürlich nur für Handlungen, die man mitten im Vollzug noch abbrechen kann. Bei einem Kopfsprung vom Fünf-Meter-Brett nützt es nichts, wenn man auf halbem Wege zu der Überzeugung gelangt, daß man an der Sache eigentlich nicht mehr interessiert ist. Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, daß Handlungen, sogar solche, die grundsätzlich abgebrochen werden könnten, trotz der unerwarteten, im Vollzug auftretenden Umstände dennoch nicht abgebrochen werden. Auch wenn man zu spüren beginnt, daß man das Ziel nicht mehr erreichen will, muß man sich das nicht un-

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6. Der Handlungsvollzug

bedingt wahrheitsgetreu eingestehen; auch wenn man merkt, daß man sich bei den Durchführbarkeitseinschätzungen verrechnet hat, braucht man nicht immer klar einzusehen, daß man das Ziel nicht mehr erreichen kann. Und schließlich gibt es Menschen, die unter bestimmten Umständen auch oder gerade in voller Gewißheit des kommenden Mißerfolgs weiterhandeln. Pflicht, Ehre, Stolz, Trotz, Selbsttäuschung, Dummheit und vieles mehr gehen in Handlungs- und Weiter-Handlungsentscheidungen ein. Vom Einfluß verschiedener lebensgeschichtlich und gesellschaftlich geprägter Umstände auf den Entwurf, auf die Wahl zwischen Entwürfen und Entschluß und auf die Hierarchien von Um-zu- und Weil-Motiven war schon verschiedentlich die Rede. Die Befunde können in derselben Weise auf das Weiter-Handeln wie auf das Handeln an sich angewendet werden. Jedenfalls kommt der Handelnde weder durch den üblicherweise erfolgenden Abbruch, noch aufgrund eines „Dennoch"Weiterhandelns zum ursprünglich entworfenen Ziel. Das Handeln ist also weder im engeren noch im weiteren Sinn des Wortes erfolgreich. Im Fall des Abbruchs ist dies eindeutig: Das Handeln kommt zum Ende, das Ziel wurde nicht erreicht. Im Fall des Weiterhandelns in der „Dennoch"-Einstellung ist die Sache verwikkelter: Das Handeln ist nicht zum Ende gekommen, und das NichtErreichen des ursprünglichen Ziels ist nicht unbedingt in jeder Hinsicht ein Mißerfolg. Zum einen hat sich ja bei dem „hoffnungslosen" Weiterhandeln das entworfene Ziel verändert, und dieses (z.B. „stolz untergehen") wird vielleicht dem abgeänderten Entwurf gemäß erreicht. Zum anderen mag der Handelnde die unerwartet eingetretenen Hindernisse überschätzt haben, und das Weiterhandeln („weiterrudern trotz unerwartet hohem Wellengang") führt doch noch an das ursprünglich entworfene Ziel („nicht stolz untergehen, sondern das andere Ufer erreichen"), wenn auch nicht dem ursprünglichen Entwurf gemäß. In diesen Fällen sind die besprochenen Möglichkeiten des „hoffnungslosen" Weiterhandelns so weit verändert, daß sie nicht mehr als Gegenstück zum schlichten Abbruch gelten können. Sie rücken vielmehr in die Nähe anderer Verlaufstypen; entweder zu Handlungen, bei deren Vollzug sich das angestrebte Ziel verändert (davon wird im nächsten Unterabschnitt die Rede sein), oder zu Handlungen, die nach Unterbrechungen oder auf

6.2 Handlungsverläufe

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Umwegen das Ziel doch noch erreichen. Diese sind es, die jetzt betrachtet werden sollen. Im Vollzug des Entwurfs, nach dem ersten, zweiten usw. Schritt des eigentlichen Handelns treten beim jetzigen Typ unerwartete Umstände ein, welche zwar eine schlichte Fortführung des entwurfgemäßen Handelns nicht mehr erlauben, aber andererseits keinen endgültigen Abbruch erzwingen oder dessen Gegenstück (aussichtsloses Weiterhandeln) veranlassen. Das Handeln muß deswegen unterbrochen oder „umgeleitet" werden, je nachdem, ob die hindernden Umstände den zeitlichen Ablauf oder die Streckenführung (allgemeiner: die Tauglichkeit der Mittel) betreffen. Ein scharfer Unterschied kann zwischen diesen zwei Bestandteilen des Vollzugs nicht immer gemacht werden. Sie sind eng verbunden und werden durch die veränderten Umstände häufig beide zugleich in Mitleidenschaft gezogen. Dennoch sollen sie auseinandergehalten werden. Im ersten Fall muß der Handelnde warten, bis die Umstände sich wieder soweit verändert haben, daß eine (wenn auch verspätete) Fortführung des Handelns möglich wird - so wie sich diese Möglichkeit dem Handelnden aufgrund seines subjektiven Wissens darstellt. Im zweiten Fall kann er zwar sogleich weiterhandeln, nur muß er einen anderen Pfad einschlagen, der nicht mit unüberwindlichen Hindernissen versperrt ist - wenn er einen solchen Pfad kennt. Eigentlich beschäftigen uns hier nur Unterbrechungen, die durch unerwartete, im Entwurf nicht vorgesehene Umstände verursacht worden sind. Es soll jedoch daran erinnert werden, daß es auch Unterbrechungen gibt, die ganz und gar den Erwartungen des Handelnden entsprechen. Bei vielen Handlungen werden nämlich schon im Entwurf nach Phasen des eigentlichen Handelns auch Phasen des Nicht-Handelns, des Wartens, eingeschoben. Die Planung der Unterbrechungen richtet sich nach der Art des Handelns. Bei manchen Arten von Handlungen wird eine geordnete Reihenfolge im voraus festgelegt (der erste Schritt, dann warten, dann der zweite Schritt usw.); bei anderen wird die Reihenfolge provisorisch, die Unterbrechung hypothetisch vorgezeichnet (wenn nach dem ersten Schritt Umstand X eintritt, dann folgt der zweite Schritt, wenn aber nach dem ersten Schritt zunächst Umstand Y

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6. Der Handlungsvollzug

eintritt, dann warte, bis X später der Fall ist, und dann erst folgt der zweiten Schritt usw.). Ein Beispiel: Wenn man einen Eisenstab fest in einem weichen Boden verankern will, muß man zunächst ein ausreichend tiefes und breites Loch ausgraben, aus Zement, Sand und Wasser eine entsprechende Menge Beton anrühren und ihn in das Loch gießen. Dann kann man sich hinsetzen und muß abwarten, bis sich der Beton so weit verfestigt hat, daß er den eingerammten Stab zu halten vermag, aber nicht so hart geworden ist, daß der Stab nicht mehr eingesetzt werden kann. Oder: In einem Gespräch ist man bereit, harte, für den anderen unangenehme Argumente vorzubringen, um zum erwünschten Ziel (z.B. Entschädigungszahlung bei einem Autounfall) zu kommen, aber nur, wenn der andere sich sträuben sollte. Man wartet mit diesem Schritt entwurfgemäß solange, wie man noch hoffen darf, daß er unnötig werden könnte. Es gibt viele Arten von Handlungen, gesellschaftliche und andere, die grundsätzlich nicht in einem Zug ohne Unterbrechung beendet werden können. Man muß sich bei ihnen von vornherein auf kurze oder lange, einmalige oder wiederholte Unterbrechungen einrichten, sie sogar in Tages- und Jahresroutinen einbauen („Regionalliga-Tennismeister werden"). Das alles braucht jedoch nicht wieder ausführlich besprochen zu werden, da es sich um Unterbrechungen handelt, die schon im Entwurf angelegt sind und somit kein besonderes Vollzugsproblem darstellen. Natürlich sind aber die Grenzen zu Unterbrechungen, die nicht entwurfgemäß sondern infolge unerwarteter Umstände eintreten, nicht allzu scharf zu ziehen. Viel hängt davon ab, wie genau der Entwurf im voraus die einzelnen Schritte, ihre Durchführbarkeit, ihre Abfolge usw. festgelegt hatte. Wenn der Entwurf in diesen Hinsichten verschwommen war, läßt sich ohnehin nicht recht entscheiden, ob eine Unterbrechung eingeplant war oder nicht. (Auf einem anderen Blatt steht, daß bei ungeplanten Unterbrechungen manchmal aus strategischen Gründen doch noch so getan wird, als ob sie eingeplant gewesen seien.) Im Modellfall einer unerwarteten Unterbrechung ist sich der Handelnde jedenfalls klar bewußt, daß er nicht entwurfgemäß verfahren kann, sondern das Handeln zumindest vorläufig einstellen oder umstellen muß. Wenn sich darüber hinaus herausstellt, daß die noch verbleibenden Schritte, die zum Ziel hätten führen sollen, endgültig unmöglich geworden

6.2 Handlungsverläufe

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sind, haben wir es mit dem schon besprochenen Verlaufstyp „Abbruch" zu tun. Wenn der Handelnde jedoch meint, daß sich die Umstände vielleicht nur vorübergehend ungünstig gestalten, wird er - ceteris paribus - abwarten, bis die Fortsetzung der Handlung wieder möglich erscheint. Wenn man z.B. trockenen Fußes auf eine Insel, die nur bei Flut von Wasser umgeben ist, gelangen will, sich bei der Berücksichtigung der Gezeiten verschätzt und der Anmarsch zu lange gedauert hat, so daß die Flut einsetzte, bevor man hinübergelangen konnte, wird man - ceteris paribus - auf die nächste Ebbe warten. HandlungSMmwge können in weitgehender Analogie zum Verlaufstyp „Unterbrechung" verstanden werden und brauchen uns daher nicht ausführlich zu beschäftigen. Möglicherweise zwingen unerwartet eingetretene Umstände den Handelnden zu der Einsicht, daß die ursprünglich geplanten Schritte nicht mehr zum Ziel führen können; daß die Hindernisse, die sich unverhofft in den Weg gestellt haben, schier unüberwindlich sind. Mit anderen Worten: Die Mittel, deren Verwendung man im Entwurf vorgesehen hatte, erweisen sich unter den veränderten Umständen als untauglich, das erstrebte Ziel herbeizuführen. Man muß zwar nun nicht warten, bis sich die Umstände wieder verändern (außer man weiß, daß die Hindernisse demnächst wieder verschwinden werden, dann hat man es mit dem Verlaufstyp „Unterbrechung" zu tun), muß aber zumindest einen Augenblick innehalten und überlegen, ob man auf anderen Pfaden, mit anderen Mitteln zum Ziel kommen könnte. Wenn die Einschätzung der Situation nach Heranziehung des jeweils vorhandenen Wissensvorrats einen solchen Weg, ein solches Mittel anbietet, wird der alte Entwurf in dieser Hinsicht abgeändert und man setzt die Handlung auf das alte Ziel hin mit einem neuen Teilentwurf fort. Sollte sich hingegen keine alternativen Umwege und Mittel anbieten, bekommen wir es mit dem Verlaufstyp „Abbruch" zu tun.

6.2.3 V e r ä n d e r u n g e n i m Vollzug: A n d e r e Mittel, a n d e r e Ziele Die Verlaufstypen eigentlichen Handelns wurden in ihren wichtigsten Formen beschrieben: erfolgreiche Handlungen im engeren

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6. Der Handlungsvollzug

Sinn, die vom Anfang bis zum Ende, vom ersten Schritt bis zum Ziel in ausreichender Übereinstimmung mit dem Entwurf verlaufen; erfolgreiche Handlungen im weiteren Sinn, bei denen das ursprünglich entworfene Ziel erst nach Unterbrechungen oder auf Umwegen erreicht wird; Handlungen, die das Ziel nicht erreichen, weil sie aus (für den Handelnden) triftigen Gründen abgebrochen werden mußten. (Selbstverständlich gibt es auch Handlungen, die das Ziel verfehlen, weil sie schlecht angelegt worden sind; das ist aber ein Frage des Entwurfs, des subjektiven Wissens des Handelnden, seiner Situations- und Selbsteinschätzung usw. und wurde daher schon früher an entsprechender Stelle behandelt.) In der Diskussion der Verlaufstypen wurden darüber hinaus auch Handlungen angesprochen, die weiterhin an dem ursprünglich entworfenen Ziel ausgerichtet bleiben, obwohl der Handelnde während des Vollzugs erkennen muß, daß er auf Grund veränderter Umstände (einschließlich der Einsicht in frühere Fehleinschätzungen) kaum noch erwarten kann, das angestrebte Ziel zu erreichen. In diesem Zusammenhang wurde eine weitere Möglichkeit des Handlungsverlaufs angedeutet. Der Handelnde stellt fest, daß er das ursprünglich entworfene Ziel nicht erreichen kann; er bricht die Handlung jedoch nicht ab, sondern handelt dennoch weiter. Tut er dies nicht unbedingt in blindem Festhalten am alten Ziel, sondern indem er diesem Ziel (bzw. dem erwarteten Verfehlen dieses Ziels) einen anderen Sinn als den eines „Mißerfolgs" verleiht, haben wir es mit einem neuen Typus zu tun. Diese Andeutung muß noch genauer ausgeführt und allgemeiner gefaßt werden. Sonst ist aber in den vorangegangenen Analysen das Wichtigste über die hauptsächlichen Veränderungen des Entwurfvollzugs schon gesagt worden und braucht im folgenden nur noch zusammengefaßt werden. Zunächst folgen ein paar Worte zu den Veränderungen des Vollzugs, die durch den Einsatz anderer Mittel (als die im Entwurf vorgesehenen) gekennzeichnet sind. Davon können Zeitabläufe, Bewegungssequenzen, Pfade, Werkzeuge im engeren und weiteren Sinn usw. betroffen sein. Solche Veränderungen bestimmen den schon ausreichend beschriebenen Verlaufstyp des „erfolgreichen Handelns im weiteren Sinn". Auf Grund veränderter Umstände, die nach dem ersten, zweiten usw. bis zum vorletzten

6.2 Handlungsverläufe

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Schritt des eigentlichen Handelns eintreten können, verwirft der Handelnde seine ursprüngliche Durchfiihrbarkeitseinschätzung der noch verbleibenden Schritte. Am ursprünglichen Ziel festhaltend (an dessen Wünschbarkeit haben die neuen Umstände ja nichts geändert), verändert er den Restentwurf. Er wartet mit dem nächsten Schritt, bis dieser wieder durchführbar wird, tut den Schritt in eine neue Richtung oder bedient sich neuer Mittel, um doch noch zum Ziel zu gelangen. Selbstverständlich kann auch die „Weiterhandlung" das Ziel verfehlen. Es beginnt damit, daß schon der neue Rest-Entwurf unzureichend, vielleicht sogar undurchführbar gewesen sein mag. Auch, wenn er im Augenblick, in dem er entworfen wurde, zufriedenstellend schien, können sich die Umstände dennoch schon wieder so verändert haben, daß sich den weiteren Schritten unüberwindliche, zum Abbruch führende, oder nur nach Unterbrechungen und auf Umwegen bezwingbare Hindernisse in den Weg stellen. Kurzum, das Spiel kann weitergehen, und es bilden sich neue Verzweigungen der Verlaufstypen. Selbstverständlich ist dies nicht bei allen Arten von Handlungen möglich. Es ist ein Unterschied zwischen Kopfsprüngen vom Fünf-Meter-Brett, Fallschirmabsprüngen aus zweitausend Metern Höhe und der Karriere eines Politikers von der Hinterbank zum Ministersessel. Wie auch noch die am weitesten verzweigten Handlungen im nachhinein gedeutet werden, ist natürlich eine andere Sache. Es läßt sich vermuten, daß im allgemeinen die Neigung besteht, Handlungen als „erfolgreich" im engeren Sinn darzustellen. Inwieweit aber dies wirklich zutrifft und wie es im einzelnen aussieht, hängt von vielen lebensgeschichtlichen und gesellschaftlichen Umständen ab, vor allem davon, welche Erzählmuster überhaupt zur Darstellung verwickelter Handlungsabläufe und zur Selbstdarstellung in einer Gesellschaft, in einer Epoche, in einer Gesellschaftsschicht und deren narrativer Kultur zur Verfügung stehen und wie der einzelne sie zu verwenden gelernt hat. Außer der Veränderung der Mittel im Vollzug wurde auch schon die Möglichkeit einer Veränderung des Ziels angesprochen. Allerdings war da nur von einem Sonderfall die Rede, wenn der Handelnde einem aller Voraussicht nach nicht entwurfgemäß erreichbaren Ziel einen anderen Sinn als den eines „Mißerfolgs" gibt. Allgemeiner gilt, daß auf Grund von veränderten Umständen

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6. Der Handlungsvollzug

während des Entwurf-Vollzugs der Handelnde feststellen muß, daß er das ursprünglich entworfene Ziel nicht mehr erreichen kann oder nicht mehr erreichen will. Für den ersten Fall gilt das schon Gesagte: Er handelt weiter, aber das Ziel erscheint ihm nun in einem neuen Sinnzusammenhang („ehrenvoll untergehen", „dabeisein ist alles"). Im zweiten Fall wird er das Erreichen des Ziels meist wohl überhaupt aufgeben (Abbruch wegen mangelnder Wünschbarkeit, nicht auf Grund mangelnder Durchführbarkeit). Unter gewissen Bedingungen kann er das Handeln aber auf ein neues, erstrebenswertes Ziel umlenken. Ein Beispiel: Man ist einem bekannten Gesicht auf der Straße nachgeeilt in der entgegengesetzten Richtung als die man ursprünglich einschlagen wollte, man holt die betreffende Person ein und stellt fest, daß man sie verwechselt hat. Aber da man schon so weit in diese Richtung gegangen ist, läuft man noch ein paar Schritte weiter, um in die Buchhandlung dieses Viertels zu schauen, in die man früher oder später ohnehin gehen wollte. Hier sind nur Handlungsverläufe besprochen worden, die als Vollzüge eines ursprünglichen Entwurfs oder eines veränderten Restentwurfs verstanden werden können. Die Abgrenzung zu weiteren, sich anschließenden Handlungen, die nach Abschluß der ursprünglichen Handlungen begonnen und vollzogen werden, ist nicht leicht zu ziehen. Handlungen sind ja keine in sich geschlossene Sinneinheiten, ihr Sinn ist immer in über- und nebengeordnete Zusammenhänge eingebettet.

7.

Handeln und Gesellschaft I: Die gesellschaftliche Bedingtheit des Handelns

7.1

Die gesellschaftliche Bestimmtheit des handelnden Menschen

In der Einführung sprachen wir vorübergehend von der Gesellschaft als „Produkt" des Handelns und vom Handeln als „Produkt" der Gesellschaft. Schon die erste Formulierung ist nur eine verschleiernde Zusammenfassung der vielen Möglichkeiten, in der Gesellschaft durch Handlungen aufgebaut, aufrechterhalten, fortgesetzt und verändert wird. Noch fragwürdiger scheint die zweite Behauptung zu sein: Kann denn überhaupt sinnvoll davon die Rede sein, daß Handeln ein gesellschaftliches „Produkt" sei? Selbstverständlich kann ein solcher Satz nicht im wörtlichen Sinne gemeint sein. Gesellschaften stellen die Handlungen nicht her, wie ein einzelner Mensch zum Beispiel einen Holztisch mithilfe seiner Hände und anderen Werkzeugen anfertigt. Man sagt aber auch, daß eine Möbelfirma einige Tausend Tische im Jahr herstellt, ohne daß die Aussage mißverstanden wird. Die Firma ist eine „symbolische" Wirklichkeit, vielleicht eine „Rechtsperson", auf jeden Fall ist sie ein Deckwort für die typischen Handlungszusammenhänge, in denen Tische im wörtlichen Sinne hergestellt werden. Die Metapher wird allerdings sehr weit ausgedehnt, wenn man sagt, das Gesellschaften etwas „produzieren". Die Aussage ist noch in einer anderen Hinsicht problematisch. Handeln ist ja nicht irgendein künstliches, stoffliches Produkt und kann folglich auch nicht in der gleichen Weise produziert werden. Kann so etwas wie Handeln überhaupt produziert werden? In der Tat, hier sträubt sich das Sprachgefühl endgültig, so daß wir die Formulierung lieber aufgeben sollten. Allerhöchstens könnte man - auch gegen das Sprachgefühl verstoßend - sagen, daß es Handelnde sind, die Entwürfe „produzieren" und dann, in Ausrichtung darauf, das eigentliche Handeln.

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7. Handeln und Gesellschaft I

Genaugenommen sollten wir auch nicht von einer gesellschaftlichen „Verursachung" des Handelns sprechen. Diese Redewendung ist ein zwar unbeholfenes, aber nicht unverständliches Kürzel. Verkürzt wird der Sachverhalt insofern, als es der Handelnde ist, der unmittelbar in gesellschaftlichen (und anderen) Verursachungszusammenhängen steht, nicht die Handlungen selbst. „Natürliche" Vorgänge wie z.B. manche Krankheiten, Kniereflexe und ähnliches werden hingegen unmittelbar ohne die Vermittlungsinstanz des Handelnden „verursacht", sind aber bestimmt keine Handlungen. Es ist also besser, in einer ersten Annäherung zu sagen, die Gesellschaft schafft die Bedingungen dafür, daß Menschen überhaupt handeln; und dafür, daß sie so handeln, wie sie handeln. Ohne irgendeine Gesellschaft wäre kein menschliches Handeln möglich; ohne eine bestimmte historische Gesellschaft wäre das jeweilige bestimmte Handeln nicht möglich. Etwas ausführlicher ausgedrückt: Erstens ist Gesellschaft „schlechthin" (d.h. irgendeine Form sozialer Beziehungen) die phylogenetische und ontogenetische Voraussetzung dafür, daß Angehörige der Gattung „homo sapiens" zu „homines sapientes" werden: ihre Triebe und Bedürfnisse als Interessen in Beziehung zu den Interessen anderer Menschen zu erfassen und einzusetzen lernen, ihre augenblicklichen Gefühle im Zusammenhang langfristiger mitmenschlicher Beziehungen zu beherrschen vermögen, sich irgendeine Sprache aneignen und mit irgendeiner Technologie mit anderen Menschen zu arbeiten und überleben lernen - kurzum, zu handlungsfähigen Personen werden. Und zweitens ist eine historische Gesellschaft die Voraussetzung dafür, daß ein Mensch aus Fleisch und Blut eine bestimmte Handlung zunächst in Betracht ziehen kann, sie anderen in Betracht kommenden Handlungen vorzieht und sie schließlich so und nicht anders ausführt. Die gesellschaftliche Grundbedingung allen (nicht nur des sozialen) Handelns ist also die Vergesellschaftung des Menschen. Daß der vergesellschaftete einzelne Mensch seinerseits die Grundbedingung für Gesellschaft ist, steht auf der Rückseite des gleichen Blattes geschrieben. (Großartiger ausgedrückt: das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum ist „dialektisch".) Damit ist jedoch nur ein erster Schritt zur Erläuterung jener Aussage vom Handeln als gesellschaftlichem „Produkt" getan. Denn was bedeu-

7.1 Die gesellschaftliche Bestimmtheit des handelnden

95

tet „Gesellschaft schlechthin", was heißt „historische Gesellschaft", wenn es um konkrete Bedingungen des Handelns geht? Beide Begriffe sind Abstraktionen, bewegen sich aber auf einem verschiedenden Niveau der Abstraktion. Der Begriff einer „historischen Gesellschaft" läßt sich einfacher mit Gehalt füllen; die Bedeutung von „Gesellschaft schlechthin" ist hingegen höchstens als Verallgemeinerung von historischen Gesellschaften vorstellbar. Die gesellschaftlichen Bedingungen des Handelns, von denen die Rede war, werden jedoch nicht von Abstraktionen, sondern von konkreten Handlungen von Menschen aus Fleisch und Blut geschaffen: von Mitmenschen. Wenn die Mitmenschen nicht in bestimmten Weisen handelten, wäre man selbst nicht handlungsfähig, lernte keine Sprache, keine Gefühlskontrolle und Interessenabstimmung, keine Arbeit. Nun sind aber die Handlungen dieser Mitmenschen selbstverständlich ihrerseits ebenso gesellschaftlich bedingt: die Voraussetzungen ihrer Handlungen sind die Handlungen ihrer Mitmenschen. Deren Handlungen sind selbstverständlich wiederum gesellschaftlich bedingt usw. So kommt es zu einem unendlichen Regreß, der theoretisch feststellbar ist, mag er auch konkret keinen besonderen zusätzlichen Erkenntnisgewinn mit sich bringen. Bei der Verwendung von Begriffen wie „Gesellschaft schlechthin" und „historische Gesellschaft" ist so immer in Erinnerung zu rufen, daß dahinter dieser unendliche Regreß konkreter Handlungsbedingtheiten steht - will man nicht einem pseudo-soziologischen Fetischismus der Begriffe aufsitzen. Demnach sind die gesellschaftlichen Bedingungen des Handelns alles andere als überzeitlich: sie sind wesentlich geschichtlich. Der Handelnde wird in eine historische Gesellschaft „hineinsozialisiert", sein Leben verläuft in einer historischen Gesellschaft, und das gleiche gilt selbstverständlich für seine Mitmenschen, seine Zeitgenossen. Darüber hinaus haben Handlungsweisen typische Handlungen in typischen Handlungssituationen - auch in einem gewissen Sinn ihre eigene Vorgeschichte. In langen Ketten konkreter Handlungen hat sich ein historisch begrenzter Sinn typischer Handlungen ausgebildet, der gesellschaftlich in der „Sozialisierung" vermittelt wird und an dem sich der subjektive Sinn individuellen Handelns weitgehend ausrichtet. Man könnte fast sagen, daß typische Handlungen selbst historisch vergesellschaftet

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7. Handeln und Gesellschaft I

werden. Darüber wird noch einiges in der anschließenden Diskussion der gesellschaftlichen Bedingungen der Wahl zu sagen sein; ausdrücklich auf gesellschaftliches Handeln bezogen wird die Frage in der Analyse der „Institutionalisierung" des Handelns. Kehren wir zum Handelnden als jener Instanz zurück, über die Handlungen nicht nur von der „historischen Gesellschaft" bedingt werden, sondern von der sie bis zu einem gewissen Grad auch bestimmt werden. Zu den gesellschaftlichen Bedingungen des Handelns gehört, wie gesagt, ganz allgemein die Handlungsfähigkeit des Menschen als Gattungswesen - eine Fähigkeit, die gewiß eine verwickelte Phylogenese hat, aber ohne eine Evolution hochgradig individualisierter Sozialbeziehungen nicht zu denken ist. Zu den Bedingungen der Handlungsfähigkeit gehört dann natürlich auch eine soziale Ontogenese des Menschen. Ohne die frühe Wechselseitigkeit der Beziehung zwischen Kindern und Müttern, (wenn vorhanden) Vätern, usw. ist auch keine geschichtliche Sozialisation des Einzelnen in eine historische Gesellschaft möglich. In der geschichtlichen Sozialisation werden typische Erfahrungen aus dem Fluß von Erlebnissen ausgegliedert, in Übereinstimmung mit vorherrschenden Weltansichten bewertet, als Möglichkeiten des eigenen Handelns erfaßt und mit charakteristischen „Gewichten" versehen. Infolgedessen ist es wahrscheinlich, wenn auch für keinen Einzelnen zwingend, daß bestimmte Menschen zu bestimmten Zeiten bestimmte Handlungen wählen und vollziehen. Die Wahl zwischen Entwürfen ist schon beschrieben worden, über die gesellschaftlichen Umstände des Wählens bzw. der sozialen „Vorgeschichte" der Entwurfsbewertungen wurde auch schon wenigstens andeutungsweise gesprochen. Daher können wir uns im folgenden Abschnitt im wesentlichen mit einer Zusammenfassung begnügen.

7.2

Die gesellschaftliche Bedingtheit der Wahl

Menschen lernen in geschichtlichen Sozialisationsvorgängen zu handeln - und zwar nicht irgendwie, sondern in einer bestimmten Art und Weise, die in der Gesellschaft, in der sie leben und in der Epoche, in der sie aufwachsen mit der allergrößten Selbstver-

7.2 Die gesellschaftliche Bedingtheit der Wahl

97

ständlichkeit als die Art und Weise zu handeln betrachtet wird. Von ihren Mitmenschen (besonders von „Bezugspersonen") erfahren sie, was erstrebenswert und erwünscht ist, was gut und böse, was schön und häßlich ist. Sie eignen sich Bewertungsmaßstäbe mit moralischen, ästhetischen und praktischen Bezügen an. Ihre Mitmenschen loben einige Handlungen, dulden manche und bestrafen wiederum andere. Der „Handlungsunterricht" beginnt schon in den frühesten Sozialbeziehungen des Kindes: „Braves Kindchen, böses Kind; laß dies sein, tue jenes auf der Stelle; ein Junge weint nicht, wenn er sich weh getan hat ...". Der Unterricht setzt sich fort: „Am Sonntag geht man zur Kirche; Lügen ist eine Sünde; 2 x 2 = 4; 1 Meter hat 100 Zentimeter; den Hammer mußt du so, die Nägel so halten; Lärchenholz ist wertvoller als Kiefernholz; halte dich von diesem Mädchen fern . . . " und so weiter und so fort. Das Ergebnis ist nicht überraschend, obwohl es auch nie voraussagbar gewesen wäre, auch nicht von den hoffenden und zitternden Eltern. Es entwickelt sich zum Beispiel ein Tischlermeister namens Hobel in Ulm. Er geht am Sonntag nicht mehr oft zur Kirche, lügt selten, hält den Hammer genau so, wie er es gelernt hat, fertigt Tische an und läßt die Finger von manchen Mädchen - und von anderen nicht. In vieler Hinsicht handelt er anders und vollzieht andere Handlungen als seine Zeitgenossen, als z.B. die Stenotypistin Schmidt-Krone in Hamburg, aber in mancher Hinsicht denkt er ähnlich und handelt ähnlich wie sie. Wenn sich die beiden kennenlernen sollten, würden sie manches Gemeinsame und manches Trennende entdecken - und vieles am Gemeinsamen wie am Trennenden wäre erklärlich, wenn man sich die Mühe machte, ihre geschichtliche Sozialisation in ausreichenden Einzelheiten nachzuzeichnen. Und ähnlich verständlich wären die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Handeln zweier Tischlermeister (zwischen den Geschlechts- und Berufsgenossen Hobels aus Ulm im 20. Jahrhundert und den Tavolinis in Florenz, 14. Jahrhundert) oder zweier Hamburgerinnen (zwischen der Stenotypistin SchmidtKrone und einer Schauspielerin des Stadttheaters). Verschiedene Gesellschaften haben selbstverständlich auch verschiedene gesellschaftliche Wissensvorräte. Diese unterscheiden sich nicht nur inhaltlich, sondern - weniger selbstverständlich auch strukturell·, sie sind mehr oder minder beständig oder verän-

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7. Handeln und Gesellschaft I

derlich.28 Das hängt vor allem vom allgemeinen Typ der Gesellschaftsstruktur und dem Grad der Differenzierung ihrer Institutionen ab. So gibt es offensichtlich zwischen Wild- und Feldbeutem, archaischen Hochkulturen, Feudalgesellschaften und der modernen Industriegesellschaft strukturbedingte Unterschiede im Ausmaß der Wissensspezialisierung. Je nachdem kann diese recht einfach oder hochkomplex sein. Der Umstand ist hier deswegen von Interesse, weil der praktische Kern jedes gesellschaftlichen Wissensvorrats ein Handlungsrepertoire umfaßt. Dieses Repertoire kann für alle Gesellschaftsmitglieder fast das gleiche sein (mit Unterschieden, die höchstens auf der Ebene von Alters- und Geschlechtsrollen angedeutet sind), oder es kann in unterschiedlichen sozialen Klassen und Institutionsbereichen sehr verschiedene Handlungsmuster beinhalten. Wenn das letztere zutrifft, kann man nicht mehr von einem Handlungsrepertoire mit gewissen Varianten sprechen, sondern nur noch von „Bündeln von Handlungsrepertoires", die wohl aber noch um ein gemeinsames allgemeines Grundrepertoire geflochten sind. Das allen gemeinsame Handlungsrepertoire wird, wie der Ausdruck schon besagt, an alle werdenden und lernenden Mitglieder einer Gesellschaft vermittelt, meist und zum großen Teil schon in den frühesten Sozialbeziehungen (Primärsozialisation), während die Sonderrepertoires, die an gesellschaftlich vordefinierte Typen und Rollen (insbesondere Berufsrollen) gebunden sind, dementsprechend selektiv und meist erst später (Sekundärsozialisation) vermittelt werden. Jedenfalls gibt es keine Gesellschaft, in der die Vermittlung des gesellschaftlichen Wissens insbesondere in seinem Kern, dem gemeinsamen Handlungsrepertoire - nicht einigermaßen systematisch geregelt wäre. Was immer der Begriff eines „vergesellschafteten Menschen" bedeuten mag, auf jeden Fall und vor allem bezieht er sich auf die Art und Weise, wie der Mensch handelt·, sein Handlungsrepertoire muß im wesentlichen dem gesellschaftlichen Handlungsrepertoire entnommen sein. Ein „normaler" Erwachsener zieht in der Wahl zwischen konkurrierenden Entwürfen lebensgeschichtlich verfestigte Maßstäbe heran; seine Lebensgeschichte ist eine soziale 28

w e i t e r f ü h r e n d v g l . ALFRED SCHÜTZ/THOMAS LUCKMANN, „ S t r u k t u -

ren der Lebenswelt", Bd. 1, Frankfurt/M. 1979, Kap. 4.

7.2 Die gesellschaftliche Bedingtheit der Wahl

99

Geschichte (sonst wäre er eben nicht „normal" im Sinn der vorherrschenden Gesamtweltansicht seiner Gesellschaft und seiner Epoche), und in dieser, seiner eigenen „Sozialgeschichte" übernimmt er Bestandteile des gesellschaftlichen Handlungsrepertoires. Denn selbstverständlich werden die Bestandteile des gesellschaftlichen Handlungsrepertoires dem „normal" werdenden Menschen nicht mit einer Spritze verpaßt. Sie werden vielmehr in mehr oder minder geregelten Formen von Sozialbeziehungen (Eltern/Kind; Lehrer/Schüler; zwischen Freunden, Kollegen usw.) mehr oder minder erfolgreich vermittelt; über Vorbilder, über Bestrafung, Belohnung, Lob, Befehl, Bitte, Erklärung. Eine sehr große Vermittlungsrolle spielt dabei die Sprache. So werden Bewertungsmaßstäbe, Durchführbarkeitskalküle und Rechtfertigungsformeln in der subjektiven Ablagerung intersubjektiver Erfahrungen erworben, der Erfahrungen der Handlungen anderer Menschen (welche als „Antworten" auf vorangegangene eigene Handlungen verstanden werden, die wiederum „Antworten" auf Handlungen anderer Menschen sind). Ursprüngliche Triebe werden dabei zu Handlungsneigungen (Weil-Motive), rohe Bedürfnisse werden zu ausdrücklichen Interessen an bestimmten Zukunftsmöglichkeiten (Um-zuMotive) umgeformt. Wenn gesagt wurde, daß Bewertungsmaßstäbe, Durchführbarkeitskalküle und Handlungsrechtfertigungen in beträchtlichem Ausmaß mithilfe der Sprache (einer konkreten historischen Sprache) vermittelt werden, heißt das nicht unbedingt, daß die Wahl zwischen Entwürfen sprachlich bestimmt ist. Aber bereits die instrumenteile Rolle der Sprache darf nicht unterschätzt werden. Die Sprache hilft dabei, erprobte Bewertungsmaßstäbe in der Erinnerung festzuhalten - und das ist besonders bei verwickeiteren Handlungen, die sich über größere Zeitspannen erstrecken, von außerordentlicher Bedeutung. Im Kalkül von Durchführbarkeiten der verschiedenen Schritte verschiedener konkurrierender Entwürfe bringt sie die Berechnungen auf einen Nenner. Und sie liefert das Rohmaterial für die Formulierung von Handlungsrechtfertigungen; ganz allgemein ist sie unersetzlich in der Deutung aller verwickeiteren Handlungen und unerläßlich, wenn die Deutungen anderen mitgeteilt werden sollen. Obwohl das Erlernen kommunikativen Handelns eine allgemeine Handlungsfähigkeit voraussetzt (deren soziale Phylo- und Ontogenese schon erwähnt wurde), be-

100

7. Handeln und Gesellschaft I

steht kein Zweifel, daß „normale" Erwachsene die meisten verwickeiteren Formen des Handelns (vor allem jene, die große zeitliche Spannweiten und verschachtelte Sinnstrukturen haben) vermittels sprachlich-kommunikativer Handlungen erlernt haben. Die Sprache, eine konkrete historische Sprache, ist im vorliegenden Zusammenhang nicht nur wegen dieser instrumentellen Funktion von Bedeutung. Wie in vorangegangenen Analysen gezeigt wurde,29 haben die Gewichtungen von Entwürfen eine „Vorgeschichte". Im Leben eines Menschen bilden sich gesonderte Bündel von Interessen heraus, die als Weil-Motive spezifischer Entwürfe wirken und sich als Einstellungen zu spezifischen Zukunftsmöglichkeiten verfestigen. Viele solche „Vor-Gewichtungen" von Entwürfen gehen fast automatisch in eingeschliffene Gewohnheitshandlungen ein. In problematischen Handlungssituationen, in denen verschiedene Entwürfe untereinander im Wettstreit stehen, können sie aber auch zum Zweck einer Entscheidung ausdrücklich bewußt gemacht werden. Sofern die Vor-Gewichtungen sprachlich festgehalten worden sind - und da sie meist aus seinerzeit problematisch gewesenen Handlungssituationen stammen, ist das überwiegend der Fall - , werden sie auch in der gegenwärtig problematischen Situation in sprachlicher Form in Erinnerung gerufen. Die sprachlichen Formen enthalten aber nicht nur neutrale Fixierungen einer früheren Gewichtung; sie sind auch dazu geeignet, das lebendige Interesse an einer bestimmten Handlungsmölichkeit wieder wachzurufen. Denn jede Sprache enthält ein Vor-Angebot an Erfahrungs- und Handlungsbewertungen, welches von handelnden Menschen keineswegs nur in neutraler Distanz zu rein instrumenteilen Zwecken (der Fixierung in der Erinnerung, der Mitteilung usw.) wahrgenommen wird, sondern gefühlsmäßig aufgeladen ist und zum Handeln prädisponiert. Augenfällig ist, daß jede Sprache Formen (z.B. Eigenschaftswörter) enthält, die von sich aus bewertend sind und in Bewertungsmaßstäbe eingebaut werden. Schon Einteilungen von Gewicht, Länge, Zeit usw., die vor jeder Bewertung zu liegen und als neutrale Maßeinheiten zu dienen scheinen, tragen Spuren von VorGewichtungen (kurz und lang, groß und klein, dick und dünn usw.). Greifbarer werden solche Vor-Gewichtungen jedoch bei 29

Vgl. vor allem die Kapitel 5.1.3 und 5.2.3.

7.2 Die gesellschaftliche Bedingtheit der Wahl

101

sprachlichen Formen, die im Bedeutungsbereich von Bewegung, Geschmack, Geruch usw. beheimatet sind (tolpatschig, süß, stinkend, ungeschickt, bitter, duftend). Am deutlichsten wird die Wertung bei Bezeichnungen für die Intensität von Gefühlen und die Korrektheit des Verhaltens (wütend, zügellos, gefaßt, beherrscht usw.). Viele Sprachen bieten als Hilfsmittel der Bewertung komparative und superlative Formen an (lieb, lieber, am liebsten; dumm, dümmer, am dümmsten). All diese sprachlichen Mittel helfen bei der „Kalibrierung" handlungsrelevanter Einstellungen, nicht erst bei der Erinnerung an längst vorgenommene Bewertungen der Einstellungen untereinander. Es geht hier im wesentlichen nicht um Sprachverwendung in gesellschaftlicher Kommunikation, sondern um deren Binnengebrauch als „innere" Sprache des Handelnden. Sprache wird natürlich im gesellschaftlichen Sprachgebrauch, also in kommunikativen Vorgängen erworben - und Kommunikation ist selbstverständlich ihre Grundfunktion. Sie dient jedoch auch der subjektiven Orientierung in der Wirklichkeit, vor allem der Handlungsorientierung,30 Die verdeckten und ausdrücklichen Bewertungsbestandteile sprachlicher Formen spielen gerade in der „inneren" Sprache eine wichtige Rolle. Der Handelnde wird im Entwerfen und im Gewichten von Entwürfen in vielerlei Hinsicht von ihnen mitgelenkt. Im ursprünglichen Erwerb von Handlungsrepertoires durch den vergesellschafteten Einzelnen vermittels kommunikativer Handlungen, dann im handlungsvorbereitenden „Selbstgespräch" (und selbstverständlich auch im kommunikativen Handeln) spielen zu ganzen Äußerungen zusammengesetzte, wertende Sprachmuster eine entscheidende Rolle. Sie reichen von Tadel- und Schimpf-, Lob- und Schmeichelfloskeln einfacher und verwickelterer Art bis hin zu Handlungsmaximen und Sprichwörtern. Erwähnenswert sind zuletzt noch Bewertungsdimensionen, die nicht ausdrücklich an Vokabular und Grammatik einer Sprache festgemacht sind und sich auch nicht zu ganzen Redewendungen verbinden. Sie lassen je nach Zusammenhang (Zank, 30

Weiterführend hierzu vgl. LEW S. WYGOTSKI, „Denken und Sprechen", Frankfurt/M. 1977; oder allgemein: THOMAS LUCKMANN, „Soziologie der Sprache", in: RENÉ KÖNIG (Hrsg.), „Handbuch der empirischen Sozialforschung", Bd. 13, Stuttgart 1979, 1-116.

102

7. Handeln und Gesellschaft I

Klatsch, öffentliche Rede usw.) handlungsrelevante Vor-Gewichtungen im Bedeutungshof einer Äußerung anklingen („Brutus ist ein ehrenwerter Mann"), meist weniger zum Eigengebrauch als zur Vor-Gewichtung der Meinungen anderer Menschen.

8.

Handeln und Gesellschaft II: Die Grundstruktur gesellschaftlichen Handelns

8.1

Der subjektive Sinn gesellschaftlichen Handelns

8.1.1 Die gesellschaftliche Verflechtung des Entwurfs Menschliche Handlungen sind ihrem Wesen nach gesellschaftlich bedingt, nur über die Handlungen anderer Menschen lemt der Einzelne zu handeln. Die Handlungen anderer, die Folgen dieser Handlungen und die Sprache vergesellschaften darüber hinaus das Bewußtsein des „normalen" Menschen so weit, daß seine Handlungen auch in beträchtlichem Ausmaß gesellschaftlich bestimmt werden. Der Handelnde ist so immer „in Gesellschaft", auch wenn er augenblicklich allein ist. Sogar Handlungen, die von ihm aus gesehen nichts mit anderen Menschen zu tun haben, die einsam vollzogen werden und auch keine Auswirkungen auf andere haben, stehen in einem gesellschaftlichen Sinnzusammenhang und können unbeabsichtigte Folgen auslösen, die in einem gesellschaftlichen Verursachungszusammenhang verortet werden müssen. Daher müssen grundsätzlich alle Arten menschlichen Handelns von den Sozialwissenschaften in Betracht gezogen werden - und die vorangegangenen Analysen haben sich ja auch mit der allgemeinen Struktur des Handelns befaßt. Jetzt können wir uns jener besonders wichtigen Art des Handelns zuwenden, in welcher eine Gesellschaft aufgebaut, aufrechterhalten und verändert wird: dem eigentlich gesellschaftlichen Handeln. Im engeren Sinn gesellschaftlich ist ein Handeln, dessen subjektiver Sinn ausdrücklich an anderen Menschen oder ihren Handlungen ausgerichtet ist.

So ungefähr lautete auch die Definition sozialen Handelns bei MAX WEBER, die wir in der Einführung bereits besprochen haben. Daß dennoch einige Unterschiede zwischen den beiden Beschreibungen bestehen, wird im folgenden deutlich werden. Die in dieser ersten Annäherung an eine Definition verwendeten Begriffe müssen unbedingt näher erläutert werden.

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8. Handeln und Gesellschaft II

Zunächst zum Begriff „andere Menschen". Unser Interesse beschränkt sich hier auf Handlungen, die in der alltäglichen Wirklichkeit stattfinden und deren Sinn sich auf sie bezieht. Daher können Götter und Tiere als vielleicht Handelnde und menschliches Handeln, das sich „seinem gemeinten Sinn nach" an handelnden Göttern und Tieren ausrichtet, ausgeklammert werden, obwohl es natürlich in gewisser Weise auch gesellschaftliches Handeln ist. Die Grenzen der Sozialwelt sind nicht in allen Gesellschaften die gleichen: in manchen schließen sie Götter und Tiere ein, in manchen schließen sie Menschen anderer Stämme aus. 31 Totemistische Stammesgesellschaften und alte Hochkulturen haben Weltansichten, die sich von unserer modernen säkularisierten Auffassung grundlegend unterscheiden. Aber auch jene Gesellschaften unterscheiden das alltägliche, auf „socii" bezogene Handeln von außeralltäglichen Formen gesellschaftlichen Handelns. Bei Ausklammerung der Probleme einer allgemeinen Kulturtheorie und der Religionswissenschaft (einschließlich der Religionssoziologie) ist unsere Beschränkung auf „andere Menschen" daher zulässig. Andererseits sind mit diesem Begriff nicht nur lebende Mitmenschen und Zeitgenossen gemeint, sondern auch Vorgänger und Nachfahren. Handeln kann auch an Verstorbenen und noch nicht Geborenen ausgerichtet sein (z.B. in der Fortsetzung des wissenschaftlichen Werks eines früheren Lehrers, in der Familienplanung usw.). Das Hauptinteresse wird allerdings dem Kernbereich des gesellschaftlichen Handelns, dem an Mitmenschen und Zeitgenossen ausgerichteten, gelten. Gesellschaftliches Handeln kann sich an anderen Menschen ausrichten, ohne daß deren Handlungen im Vordergrund stehen, z.B. bei der Abneigung gegen einen Mitmenschen, die weder durch seine Handlungen begründet ist, noch Handlungen seinerseits zur Folge haben soll. Oder ein an allgemeiner Nächstenliebe ausgerichtetes Handeln kann sich gerade nicht an den konkreten Einzelhandlungen anderer orientieren. Die Beispiele zeigen jedoch, daß es schwer ist, an andere Menschen auch nur zu denken, ohne daß deren Handlungen miteinbezogen werden. Jedenfalls gibt es gesellschaftliche Handlungen, die sich ausdrücklich an den 31

vgl. THOMAS LUCKMANN, „Über die Grenzen der Sozialwelt", in: ders., „Lebenswelt und Gesellschaft", Stuttgart 1980.

8.1

Der subjektive Sinn gesellschaftlichen Handelns

105

Handlungen anderer Menschen ausrichten. Auch hier müssen die anvisierten Handlungen nicht unbedingt in der Gegenwart ablaufen. Sie können sowohl an den vergangenen Handlungen eines Mitmenschen (seiner vor vielen Jahren begangenen Straftat) als auch an dessen erwarteten zukünftigen Handlungen (dem möglichen Rückfall) ausgerichtet sein. Aber nicht nur an vergangenen Handlungen von Mitmenschen, auch an solchen von Vorgängern (z.B. am heroischen Widerstandskampf Andreas Hofers gegen die französisch-bayrischen Besatzungstruppen in Tirol zu Beginn des 19. Jahrhunderts) kann sich gesellschaftliches Handeln orientieren, ebenso wie an zukünftig erwarteten Handlungen nicht nur von Mitmenschen, sondern auch von Nachfahren (testamentarische Bestimmungen für den Fall, daß Enkel, Urenkel usw. das Familiengrab nicht pflegen). Selbstverständlich gilt jedoch auch in dieser Hinsicht das Hauptinteresse jenem Bereich von Handlungen, an dem sich gesellschaftliches Handeln vornehmlich ausrichtet: den Handlungen von Mitmenschen und Zeitgenossen. So wie es nicht immer leicht ist, zu sagen, ob sich gesellschaftliches Handeln in einem konkret vorliegenden Fall an anderen Menschen oder an deren Handlungen ausrichtet, ist auch eine andere Grenze nicht immer scharf zu ziehen: die zwischen Handlungen und deren Folgen. In vielen Fällen kann man auch dann gewiß noch mit Recht von gesellschaftlichem Handeln sprechen, wenn sich das betreffende Handeln weder an anderen Menschen noch an deren Handlungen orientiert, sondern nur noch an den Folgen solcher Handlungen. Jedoch wird hierbei die Grenze zu Handlungen, die zumindest im engeren Sinn des Wortes nicht mehr als gesellschaftlich zu bezeichnen sind, verschwommener. Ob sie überhaupt noch gezogen werden kann, hängt vor allem von zwei Dingen ab: von der Art der Folgen und davon, ob der Handelnde die Folgen ihrem Sinn nach ausdrücklich mit seinem Entwurf und seinem Handlungsvollzug verknüpft. Betrachten wir das anhand von Texten, den Folgen von Schreibhandlungen, genauer. Handlungen, die sich im Vollzug an einem Text orientieren (ihn z.B. verbrennen), sind gewiß nicht immer gesellschaftlich (zum Beispiel dann nicht, wenn ich dadurch den Kamin anheizen will). Aber Handeln, das sich im Entwurf z.B. an der Bergpredigt, oder sowohl im Entwurf wie im Vollzug an einer Staatsverfassung ausrichtet, dürfte doch wohl als gesellschaftlich

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8. Handeln und Gesellschaft II

gelten. Wie steht es aber mit dem unertappten Diebstahl von Steinquadern aus einer herrenlosen Tempelruine für den Bau eines Ziegenstalls? Wir dürfen diese Spitzfindigkeiten einfach stehenlassen, da das Interesse hier insbesondere den Folgen jener Handlungen gilt, an denen sich gesellschaftliches Handeln eindeutig und ausdrücklich auszurichten pflegt, nämlich solchen, die vom Handelnden einigermaßen deutlich bestimmten anderen Menschen (oder Typen oder Gruppen von Menschen) zugeschrieben werden können. Das sind vor allem die Folgen der gesellschaftlichen Handlungen von Mitmenschen und Zeitgenossen. Diese Überlegungen zur Frage, was denn gesellschaftliches Handeln eigentlich ist, können auch recht gut in eine genauere Beschreibung seines subjektiven Sinns eingebracht werden. Zunächst ist wieder die Unterscheidung zwischen Entwurf und Vollzug wichtig, genauer: zwischen der sinnhaften Ausrichtung von Entwürfen auf andere Menschen (und deren Handlungen und die Folgen von deren Handlungen) und der sinnhaften Verflechtung von Handlungsvollzügen mit den Handlungen anderer Menschen. (Diese Unterscheidung ist übrigens vielleicht auch schon in WEBERS Definition des sozialen Handelns angedeutet - wenn man nämlich den dort erwähnten „gemeinten subjektiven Sinn" etwas genauer als Entwurf versteht und „Ablauf mit Vollzug gleichsetzt). Jedenfalls soll im folgenden zuerst die spezifische Sinnstruktur gesellschaftlicher Entwürfe und im Anschluß daran die gesellschaftliche Sinnverflechtung von Handlungsvollzügen in gebotener Kürze beschrieben werden. Mit den Ergebnissen dieser Analysen wird der Boden für die Untersuchung der Hauptformen gesellschaftlichen Handelns (in Kapitel 8.2) vorbereitet sein. Genaugenommen treten andere Menschen (und deren Handlungen) im Entwurf eines Handelnden ebenso wie alles andere, das im Entwurf vorkommt, nur als Vorstellungen, als „Phantasie" auf; Entwerfen ist ein Denkakt. Aber es gibt große Unterschiede in der Art und Weise, in der andere Menschen vorgestellt werden. Dazu zwei Beispiele: Ich führe ein Gespräch mit einem alten Bekannten, währenddessen ich mir überlege, wie ich ihn daran erinnern kann, daß er mir noch zweihundert Mark schuldet (ich höre ihm mit einem Ohr zu, versuche mir aber zugleich vorzustellen, auf welche Reaktionen seinerseits ich mich vorbereiten muß

8.1

Der subjektive Sinn gesellschaftlichen Handelns

107

und wie ich ihnen vorbeugen könnte). Oder ich schreibe einen weiteren Brief an die Steuerbehörde, die auf meine letzten zwei Briefe, in denen ich sie an eine Rückzahlung von zweihundert Mark erinnerte, mit computergedruckten Zetteln geantwortet hat (da kann ich mir noch nicht einmal vorstellen, ob ein Mann oder eine Frau die Briefe in Empfang genommen und die entsprechenden Standardantworten ausgedruckt hat). Bei genauerer Betrachtung der Beispiele sieht man schon, daß sich hier zwei Dimensionen miteinander verbinden: eine formal-strukturelle und eine inhaltlich-konkrete. Wir wollen sie nacheinander kurz betrachten. Mit formal-strukturell soll die Art und Weise bezeichnet werden, in der ein Handelnder den in seinem Entwurf vorgestellten Menschen während des Entwerfens jeweils auch tatsächlich erfahren kann. Die grundlegende Unterscheidung ist hier die zwischen der unmittelbaren und der bloß mittelbaren Erfahrung. Ein anderer Mensch kann natürlich nur dann unmittelbar erfahren werden, wenn er in Person, in Fleisch und Blut, in Reichweite des Handelnden ist.32 Der „Mitmensch" (so wollen wir von nun an mit ALFRED SCHÜTZ den anderen in Reichweite bezeichnen) kann in verschiedenen Sinnesgegebenheiten und Sinnesverbindungen erfahren werden: er kann zugleich gesehen, gehört, gerochen und gespürt werden, oder nur gehört oder nur gesehen usw. Auch die Reichweite hat Nah- und Fernzonen. Eine ins Einzelne gehende Analyse ist hier nicht möglich und auch nicht unbedingt erforderlich.33 Das Wesentliche am Mitmenschen ist, daß er im Entwurf konkret vorgestellt wird, während er zugleich in Person anwesend ist. Wenn der im Entwurf vorgestellte Mensch nicht in Reichweite ist, ist er definitionsgemäß abwesend, aber dabei gibt es verschiedene Grade der Abwesenheit.

32

33

Dieses grundlegende Merkmal wird auch bei der Analyse der Sinnverflechtungen des Vollzugs im Kapitel 8.1.2 eine entscheidende Rolle spielen. Das Problem muß ohnehin noch einmal aufgegriffen werden, wenn von gesellschaftlichem Handeln und sozialen Beziehungen die Rede sein wird, in Kapitel 9.2.2.

108

8. Handeln und Gesellschaft II

Schon ein Mitmensch, der gerade um die Ecke gebogen ist, wird zum bloßen Zeitgenossen. 34 Er ist zwar nicht mehr unmittelbar erfahrbar, aber die unmittelbare Erfahrung klingt noch nach und die Wahrscheinlichkeit einer erneuten unmittelbaren Erfahrung ist groß. Im Unterschied zu der eines Bekannten, den ich seit zehn Jahren nicht gesehen habe und der nach Patagonien gezogen ist. Erst recht im Unterschied zu der eines mir persönlich unbekannten Politikers, dem ich einmal - verärgert - im Fernsehen zugehört und zugesehen habe, und noch viel mehr im Unterschied zur unmittelbaren Erfahrung von Zeitgenossen, die ich überhaupt nicht als Individuen kenne, die mir aber ihrem Typus nach bekannt sind, z.B. wie die Beschäftigten der Steuerbehörde. Im Entwurf anvisierte Zeitgenossen können also als lebendige Erinnerungen oder als Typisierungen (mehr oder minder individueller oder auch nur ganz anonymer Art) vorgestellt werden. Mutatis mutandis gilt dies auch für jene Abwesende, an denen sich gesellschaftliches Handeln zwar ausrichten kann, die aber nie mehr oder noch nicht in Reichweite gelangen können: für Vorgänger und Nachfahren. Nun zum inhaltlich-konkreten Aspekt der Definition. Damit soll die jeweilige lebensgeschichtlich bedingte Bedeutung des anderen Menschen, an den sich der Entwurf richtet, für den Handelnden bezeichnet werden. In der natürlichen Einstellung des täglichen Lebens sind die formal-strukturellen Unterschiede so selbstverständlich, daß sie nur dann beachtet werden, wenn sich Probleme ergeben; wenn es also um die Einschätzung der Durchführbarkeit von Entwürfen geht. Hingegen ist für den gesellschaftlich Handelnden die konkrete Bedeutung, den der andere Mensch in seinem Leben hat, von einiger Wichtigkeit. Ein Freund, der ein paar Monate in Patagonien umherreist, bleibt ein Freund - ceteris paribus. So wie der Busfahrer, den ich fast täglich sehe, ein Busfahrer bleibt - ceteris paribus. Diese „inhaltlichen", auf das Leben und die Interessen des Handelnden bezogenen Eigenschaften des anderen (im Entwurf anvi34

Hier können wir an die vorangegangenen Überlegungen anknüpfen. Genauere Analysen finden sich bei ALFRED SCHÜTZ, „Der sinnhafte A u f b a u d e r s o z i a l e n W e l t " , u n d in ALFRED SCHÜTZ/THOMAS LUCK-

MANN, „Strukturen der Lebenswelt" Bd. I, Frankfurt/M. 1979, Kap. 2.

8.1

Der subjektive Sinn gesellschaftlichen Handelns

109

sierten) Menschen sind besonders für die Wahl zwischen Entwürfen, also zwischen verschiedenen Zukunftsmöglichkeiten wichtig. An diesen Eigenschaften orientiert sich weitgehend die Gewichtung der untereinander im Wettstreit befindlichen gesellschaftlichen Entwürfe (Verbringe ich lieber ein Segelurlaub mit meinem ungeschickten besten Freund oder mit dem langweiligen, zuverlässig segelnden Klubkollegen?).

8.1.2 Die gesellschaftliche Verflechtung des Vollzugs Hier können wir uns kürzer fassen. Insofern sich der Vollzug „erfolgreich" am Entwurf ausrichtet, gilt natürlich im wesentlichen Zügen das, was gerade über die Sinnstruktur von Entwürfen gesagt wurde, die an anderen Menschen und deren Handlungen orientiert sind. Und insofern es um die typischen Vollzugskonstellationen gesellschaftlichen Handelns geht, werden sie erst im folgenden Abschnitt (8.2) genauer beschrieben. Jetzt sollen die grundlegenden, den Vollzug bestimmenden Umstände nur im allgemeinen festgestellt werden. Offensichtlich kann auch der Vollzug gesellschaftlichen Handelns entweder unmittelbar oder mittelbar sein. Wenn der im Entwurf anvisierte andere Mensch während des Vollzugs der (auf ihn gerichteten) Handlung in Reichweite ist, ist der Vollzug unmittelbar; wenn er außerhalb der Reichweite des Handelnden ist, mittelbar. Mittelbares gesellschaftliches Handeln richtet sich definitionsgemäß an Zeitgenossen, Nachfahren und - mit gewissen Einschränkungen - auch an Vorgängern aus. Wenn sich das Handeln ohnehin nur auf einen Typ von Menschen oder einen Handlungszusammenhang gesellschaftlicher Typen (erinnern wir uns an das Beispiel der Steuerbehörde) richtet, kann der Vollzug nur mittelbar sein. Es braucht kaum betont zu werden, daß es für den Vollzug einer gesellschaftlichen Handlung von allergrößter Bedeutung ist, ob er unmittelbar oder mittelbar stattfindet. Nicht weniger wichtig ist aber für den Handelnden noch eine andere, ebenfalls „strukturelle" Dimension des Handelns. Zwar ist auch sie schon im Entwurf angelegt, wird aber erst jetzt, im Zusammenhang mit dem Vollzug angesprochen, da sie erst im Vollzug verwirklicht wird. Es geht darum, ob eine Handlung nur in eine

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8. Handeln und Gesellschaft II

Richtung vollzogen wird oder ob sie sich so in die Handlung eines anderen Menschen einfügt, daß sie als „Frage" oder „Antwort" gelten kann. Mit anderen Worten, es geht darum, ob das gesellschaftliche Handeln einseitig oder wechselseitig ist. Es ist klar, daß eine gesellschaftliche Handlung schon im Entwurf auf Wechselseitigkeit angelegt sein kann, eine „Antwort" einfordert, aber keine erhält und dann einseitig bleibt. Umgekehrt kann eine auf Einseitigkeit angelegte gesellschaftliche Handlung unerwartet eine Antwort finden und damit wechselseitig werden. Der übliche Fall ist jedoch derjenige, in der Entwurf und Vollzug in dieser Hinsicht übereinstimmen. Entscheidend für die Bestimmung von Einseitgkeit oder Wechselseitigkeit des Handelns ist auf jeden Fall der Vollzug. Die grundlegenden strukturellen Dimensionen des gesellschaftlichen Handelns ergeben in verschiedenen Verbindungen die vier Hauptformen, die im folgenden Abschnitt beschrieben werden sollen:35 einseitig-unmittelbares, wechselseitig-unmittelbares, wechselseitig-mittelbares und einseitig-mittelbares Handeln. Obwohl alle vier „logischen" Kombinationsmöglichkeiten auch tatsächlich vorkommen, sind sie nicht alle gleich wichtig. Unter verschiedenen Gesichtspunkten ist wechselseitig unmittelbares Handeln (Typ 2) als die Grundform alles sozialen Handelns anzusehen.

8.2

Die Hauptformen gesellschaftlichen Handelns

8.2.1 Einseitig unmittelbares Handeln Die Verbindung von Einseitigkeit und Unmittelbarkeit ist auf den ersten Blick gar nicht so selbstverständlich. Wenn der andere Mensch in Reichweite des Handelnden ist, befindet sich gewöhnlich auch umgekehrt der Handelnde in Reichweite des anderen. Unter diesen Umständen können eigentlich nur reine Denkakte 35

Vgl. Kap. 8.2. Darin werde ich mich nicht nur an die Befunde, sondern streckenweise auch enger an den Wortlaut des Kapitels V von ALFRED SCHÜTZ/THOMAS LUCKMANN, „ S t r u k t u r e n d e r L e b e n s w e l t "

Bd. 2, Frankfurt/M. 1984, halten.

8.2 Die Hauptformen gesellschaftlichen Handelns

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einseitig bleiben. Handlungen, die irgendwie in die gemeinsame Umwelt eingreifen, also gesellschaftliches Wirken und erst recht gesellschaftliche Arbeit, werden zu Anlässen oder sogar zu Motiven „antwortender" Handlungen. Der Normalfall unmittelbaren gesellschaftlichen Wirkens ist wechselseitig. Einseitigkeit ist auf Sonderfälle beschränkt oder kennzeichnet nur die Anfangsphasen eines Handelns, das dann doch noch wechselseitig wird. Die sozusagen „uneigentlichen" Fälle einseitig unmittelbaren Handelns sind vom Handelnden zwar auf Wechselseitigkeit angelegt, bleiben aber aus verschiedenen Gründen vorläufig - und manchmal endgültig - einseitig. Zur Veranschaulichung des verwickelten Sachverhaltes stellen wir uns im folgenden zwei Personen vor, A und B. Lassen wir A zuerst handeln. Es ist auch in einer gemeinsamen Umwelt möglich, daß Β gar nicht bemerkt, daß A auf ihn zu gehandelt hat. Das mag auf Unachtsamkeit zurückzuführen sein oder der Grund kann auch in Hindernissen bestehen, die der Wahrnehmung der Handlung von A durch Β entgegenstehen, die aber A in seinem Entwurf nicht ausreichend berücksichtigt hat. In beiden Fällen wird A seine Handlung, meist mit entsprechenden Verbesserungen, wiederholen, und Β wird antworten. Die vorübergehend einseitige Handlung wird - wie ursprünglich geplant - wechselseitig. Wenn Β die Handlung von A zwar zur Kenntnis genommen hat, aber aus welchen Gründen auch immer nichts tut, z.B. indem er vorgibt, daß er die Handlung von A nicht zur Kenntnis genommen hat, hat er selbstverständlich dennoch „geantwortet". Damit ein Handeln wechselseitig ist, ist es keineswegs unbedingt erforderlich, daß Β auf einen Wirkakt von A selbst mit einem Wirkakt reagiert. Bei der ersten Art der „eigentlichen" Fälle einseitig unmittelbaren Handelns wirkt A auf Β in der Absicht, daß es einseitig bleibt. Hier kommen zwei Möglichkeiten in Frage. Zum einen ist es auch in einer gemeinsamen Umwelt durchaus denkbar, daß A sein Wirken auf Β hin so anlegt und dann auch so durchführt, daß Β nichts davon bemerkt, bzw. nicht bemerkt, daß die Handlung von A ausging. (Aus Spiel, Liebe und Spionage ließen sich viele Beispiele anführen, besonders anschaulich ist auch das des Taschendiebstahls.) Und zweitens kann es sein, daß die Reichweiten von A und Β gar nicht übereinstimmen. Wieder richtet A sein Handeln an Β in der Absicht, daß Β nicht antworten soll, weiß aber

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8. Handeln und Gesellschaft II

jetzt, daß Β das auch gar nicht kann, weil er beispielsweise schläft oder bewußtlos ist. Dazu kommen verschiedene technische Möglichkeiten, die Reichweite einseitig zu machen. Psychologische Laboratorien, Fernrohre, Abhörwanzen, heimliche Fotoaufnahmen usw. sind Beispiele dafür. Unter solchen Ausnahmebedingungen sind natürlich die Chancen, daß ein auf Einseitigkeit angelegtes Wirken auch einseitig bleibt, am größten. (Der Bewußtlose wird umgebracht, der betäubte Patient operiert, die Schlafende geküßt, die Versuchsperson manipuliert.) Selbstverständlich kann auch hier zumindest der auf Einseitigkeit beruhende Teil des ursprünglichen Entwurfs mißlingen. Es gibt übrigens auch Handlungen, die zwar tatsächlich wechselseitig sind, aber auf Vortäuschung von Einseitigkeit beruhen. (Obwohl die Schlafende schon aufgewacht ist, täuscht sie vor, daß sie noch weiterschläft, damit der Küssende fortfährt. Ein anderes Beispiel sind Selbstgespräche, die darauf angelegt sind, gehört zu werden.) Die zweite Art der „eigentlichen" Fälle einseitig unmittelbaren Handelns ist weniger kompliziert. Denken kann gar nicht anders als einseitig sein. Es hat die Grundstruktur einsamen Handelns und behält sie in allen wesentlichen Zügen bei, auch wenn es in Gegenwart anderer Menschen vollzogen wird. Das gilt selbstverständlich auch dann, wenn sich das Denken mit diesen anderen beschäftigt. Die Gegebenheitsweise des anderen Menschen ist die einer Vorstellung. In Denkakten werden andere Menschen mit Hilfe verschiedener Typisierungen erfaßt, die noch stark individualisierend (die belgische Königsfamilie) oder ganz anonym (das Steuersystem Liechtensteins) sein können. Wenn man sich in Anwesenheit anderer befindet, heißt das noch nicht, daß man sich unbedingt mit ihnen beschäftigen muß. Wenn A mit Β nichts zu tun hat und mit ihm nichts zu tun haben will, kann er auch in seiner Anwesenheit innerlich - unter Umständen sogar äußerlich - die Augen schließen und an gar nichts oder an sein Mittagessen denken. Es findet kein noch so einseitiges gesellschaftliches Handeln statt. A, der Β unmittelbar erfährt, könnte jedoch auch an Β denken. Er wirkt nicht auf ihn ein; er scheint ihn gar nicht zu beachten, beschäftigt sich aber innerlich mit ihm. Das Handeln ist dann einseitig unmittelbar. Wenn zugleich Β an A denkt, haben wir es sogar mit einseitig unmittelbarem Handeln in unbemerkter Verdoppelung zu tun.

8.2 Die Hauptformen gesellschaftlichen Handelns

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Allerdings ist die Sache doch nicht ganz so einfach. Reine Denkakte verlieren in Anwesenheit anderer ihre Reinheit. Eine Nicht-Beschäftigung mit anderen in deren Anwesenheit ist mehr oder minder auffällig und daher bedeutsam. Eine denkende Beschäftigung, die keinen Anteil an anderen nimmt, sieht wie eine Abwendung aus und kommt daher einer bestimmten („unhöflichen") Form gesellschaftlichen Handelns nahe. Verschiedene Gesellschaften haben gerade für Beachtung und Nicht-Beachtung von Menschen in gemeinsamer Reichweite recht vewickelte Formen der Etikette entwickelt, in denen Distanz, Körperhaltung, Gesichtsausdruck und dergleichen mehr oder weniger verbindlich geregelt sind. In einer gemeinsamen Umwelt ist eine gewisse Befangenheit der Handelnden immer vorhanden, ob sie aneinander interessiert sind oder nicht und wie sehr auch die Befangenheit durch gesellschaftliche Konventionen überwunden sein mag. In der Begegnung zweier Menschen ist es immer möglich, daß „reines" Denken unbeabsichtigten Ausdruck gewinnt: Denken wird zum Wirken, Einseitigkeit zur Wechselseitigkeit.

8.2.2 Wechselseitig unmittelbares Handeln Es wurde gerade gesagt, daß einseitig unmittelbares Handeln nur unter besonderen, einschränkenden Bedingungen (als Denken, wenn es vollkommen verdeckt geschieht; als Wirken, wenn der andere aus bestimmten Gründen gar nicht bemerkt, daß jemand auf ihn einwirkt) stattfindet. Wechselseitig unmittelbares Handeln ist hingegen unter den verschiedensten Bedingungen möglich, im Gegensatz zum einseitig unmittelbaren Handeln jedoch nur als Wirken. Als Grenzfall einseitig unmittelbaren Handelns wurde vorhin die Möglichkeit erwähnt, daß zwei Leute in gemeinsamer Reichweite einseitig aneinander denken. In einer Lage, in der sich zwei Leute gegenüberstehen, sind jedoch die Voraussetzungen für reines Denken kaum je gegeben. Wenn sich A in Reichweite von Β befindet und Β in Reichweite von A, kann Β alles, was A in seiner Anwesenheit tut oder läßt, als ihn angehend und unter Umständen sogar als auf ihn gerichtet auffassen; und umgekehrt ebenso. Nach dem im Hintergrundwissen verankerten Grundsatz der Reziprozität der Perspektiven ist

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8. Handeln und Gesellschaft II

sich A darüber hinaus immer bewußt, daß Β sein Tun oder Lassen auf diese Weise auffassen könnte; und Entsprechendes gilt für B. Selbst wenn A ursprünglich nicht an Β (und Β nicht an A) gedacht haben sollte, wird er angesichts von Β (bzw. von A) nicht umhin können, wenigstens nebenbei daran zu denken, daß der andere denken könnte, daß er vielleicht an ihn denkt. Kurzum: In gemeinsamer Reichweite befindet man sich in wechselseitiger und leibhaftiger Befangenheit. Wechselseitig unmittelbares Handeln kann zwar nur in der Form des Wirkens stattfinden, braucht aber nicht unbedingt die Form wechselseitig unmittelbarer Arbeit anzunehmen. In Anwesenheit von Β greift das Wirken von A natürlich nicht nur in seine eigene Umwelt ein, sondern zugleich auch in die von B. „Wirken" und „Eingriff in die Umwelt" treten hier zugleich in der Perspektive des Handelnden und des Beobachters auf. Der Handelnde A ist zugleich auch ein Beobachter, und der Beobachter Β wird zum Handelnden. Die Begriffe haben zwar eine andere Bedeutungsabschattung, wenn sie sich auf die Perspektive des jeweils und gerade Handelnden oder des jeweils und gerade Beobachtenden beziehen. Aber im wechselseitigen Handeln sind die Teilnehmer zugleich sowohl Beobachter wie Handelnde. Ein beobachtetes Wirken wird zum Anlaß für eigenes Wirken, beobachtete Arbeit wird zum Anlaß für eigene Arbeit: A und Β wirken wechselseitig, A und Β arbeiten wechselseitig. Selbstverständlich sind auch Misch- und Übergangsformen denkbar: der eine wirkt nur, der andere arbeitet. Wenn wechselseitig unmittelbares Wirken nicht gleich zur Arbeit werden soll, darf der jeweilige Eingriff in die Außenwelt nicht schon vom Entwurf her auf den Mitmenschen gerichtet sein. Das gilt natürlich sowohl für das ursprüngliche, wie für das darauffolgende Handeln des Mitmenschen. „Gerichtet" heißt nicht „bezogen", es ist gar nicht zu vermeiden, daß jedes Handeln in der Anwesenheit eines Mitmenschen irgendwie und auch auf ihn bezogen ist. Wenn also ein Handeln von A in Anwesenheit von Β in die gemeinsame Umwelt eingreift, darf der Eingriff entweder überhaupt nicht ein wesentlicher Bestandteil des Entwurfs gewesen sein oder - falls dies doch der Fall sein sollte - jedenfalls nicht vom Entwurf her auf Β gerichtet gewesen sein. Sonst hätten wir es nicht mehr mit „reinem" Wirken, sondern schon mit Arbeit zu tun.

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Soviel zur Perspektive von A; nun zu der von B, der den Eingriff in die Umwelt bemerkt. Er kann zwar nicht umhin, anzunehmen, daß er ihn (B) irgendwie betreffen könnte; er darf ihn aber nicht als von A unmittelbar auf ihn (B) gerichtet auffassen. Sonst wäre die Bedingung des reinen Wirkens in Wechselseitigkeit nicht mehr erfüllt. Und schließlich darf das Wirken von B, das daraufhin erfolgt (und das vom Wissen um das Wirken von A beeinflußt wird), seinerseits nicht unmittelbar auf A gerichet sein. Nehmen wir lieber ein Beispiel zu Hilfe. Der Gesichtsausdruck von A beim Aufheben einer schweren Last wird vom vorbeigehenden Β beobachtet. Von A aus gesehen ist sein Gesichtsausdruck nichts weiter als eine Begleiterscheinung der von ihm entworfenen und soeben vollzogenen Handlung, die Kiste auf den Tisch zu heben. Die Anwesenheit von Β hat für A damit nichts zu tun. Wenn nun auch Β den Gesichtsausdruck von A so versteht, ihn also richtig deutet, ist sein Vorbeigehen nicht als Hilfsverweigerung aufzufassen. Der Gesichtsausdruck von A ist ein notwendiger, aber nicht entworfener Bestandteil seiner Handlung, die wohl Arbeit, nicht aber gesellschaftliche Arbeit ist. Das Vorbeigehen von Β ist ebenfalls eine Handlung, die nicht auf A hin entworfen wurde. Dennoch sind A und Β aufeinander bezogen, sogar in ihrem Wirken. Die „Nicht-Anfrage" von A und die „Nicht-Antwort" von Β sind Bestandteile wechselseitig unmittelbaren Wirkens. Die gleichen oder nahezu die gleichen äußeren Vorgänge könnten jedoch auch als „Anfrage" und „Antwort" verstanden werden: als gesteuerte, unmittelbar auf den anderen gerichtete Arbeit. A verzieht das Gesicht, um Β zur Mithilfe zu veranlassen. Der Unterschied zwischen einem Wirken, das irgendwie und auch auf einen Mitmenschen bezogen ist, weil er sich eben gerade in Reichweite befindet und einem Handeln, das von Anfang an - auch in der Form des Eingriffs in die gemeinsame Umwelt - an den Mitmenschen unmittelbar gerichtet ist, ist schwer festzustellen. Die NichtAnfrage von A setzt voraus, daß sein Gesichtsausdruck eine Anfrage sein könnte. Und die Nicht-Antwort von Β setzt voraus, daß der andere tatsächlich nicht angefragt hat, so daß seine Nicht-Antwort nicht als Antwort, nämlich als Verweigerung, gelten könnte. Jedes wie immer geartete gesellschaftliche Wirken ist nahe daran, in wechselseitig unmittelbare Arbeit umzuschlagen.

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8. Handeln und Gesellschaft II

Wechselseitig unmittelbare Arbeit ist also ein Wirken, das nicht nur irgendwie wechselseitig aufeinander bezogen ist, sondern von den Entwürfen her aufeinander gerichtet ist und in einer gemeinsamen Umwelt vollzogen wird. Bei einem Wirken in gemeinsamer Umwelt fällt es schwer, zwischen bloßer Bezogenheit und eigentlicher Ausrichtung auf den anderen zu unterscheiden. Bei wechselseitig unmittelbarer Arbeit ist die Sache klarer: Das Wirken des einen ist von vornherein auf das Wirken des anderen gerichtet. Genaugenommen bedeutet dies, daß der Entwurf von A die Herbeiführung oder Verhinderung eines bestimmten zukünftigen Wirkens von Β als letztes Glied in der Kette der Um-zuMotive schmiedet. A hat sich also das mögliche Wirken von Β vorgestellt und Schritte entworfen, die zu diesem Ziel führen sollen. Am Vollzug dieser Schritte liest Β auf Grund seines Wissensstandes die Absichten von A ab, erwägt diese im Rahmen seiner eigenen Interessenszusammenhänge und entwirft ein Wirken, das seinerseits auf ein zukünftiges Wirken von A gerichtet ist. Die Vorstellung des zukünftigen Handelns des anderen kann klar und deutlich oder recht verschwommen sein, das Erwägen der Bedeutung solchen Handelns auf Grund der eigenen Interessen genau oder nachlässig, das Entwerfen der Schritte sorgfältig oder oberflächlich sein. Und selbstverständlich können auch wechselseitig unmittelbare Handlungen sowohl im Entwurf wie im Vollzug unterschiedlich weit routinisiert werden. Der Routinisierungsgrad kann für A und Β ungefähr der gleiche sein: Das trifft für viele Formen des gesellschaftlichen Verkehrs zwischen durchschnittlich kompetenten und zureichend sozialisierten Erwachsenen zu. Er kann aber auch asymmetrisch sein, für den einen hoch und für den anderen niedrig: Das ist gewöhnlich auf Unterschiede im Stand des erforderlichen Wissens rückführbar. (Über die unterschiedliche soziale Verteilung des Handlungswissens wurde ja schon gesprochen.) Wechselseitig unmittelbares Arbeiten ist durch gezielte Veränderungen in der natürlichen und sozialen Umwelt gekennzeichnet, sofern diese Veränderungen an einem Mitmenschen ausgerichtet sind. Das Um-zu-Motiv für das Wirken des einen ist es, Bedingungen für das Weil-Motiv eines bestimmten Wirkens des anderen zu schaffen; das daraus entstehende Um-zu-Motiv des Adressaten dieses Wirkens ist seinerseits auf ein bestimmtes

8.2 Die Hauptformen gesellschaftlichen Handelns

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Wirken des ersten Handelnden gerichtet und so fort. Diese Form des Handelns scheint somit durch eine unmittelbare und bis zum Abschluß der Handlung ungebrochene Verkettung der Motive der Handelnden in wechselnder Abfolge bestimmt zu sein. Das Umzu-Motiv von A wird zum Weil-Motiv von B, das Um-zu-Motiv von Β zum Weil-Motiv von A und so weiter. Das „Ineinandergreifen" der Um-zu- und Weil-Motive besagt natürlich nicht notwendig auch die Übereinstimmung der Interessen und Ziele. Die Motiv-Verkettung findet sowohl in Zusammenarbeit wie in Gegnerschaft statt. (Eine Frage wird meist gestellt, um beantwortet zu werden. Eine Ohrfeige wird meist nicht gegeben, um zurückgeohrfeigt zu werden - man wird dennoch öfter auch eine solche „Antwort" kassieren.) Genaugenommen verbirgt sich hinter diesen Formulierungen ohnehin ein verwickelterer Sachverhalt: A begibt sich - im Rahmen eines übergeordneten Plans oder zufällig - in die Reichweite von B. Er stellt sich, auf Grund seiner Interessenlage, im Rahmen seiner übergeordneten Pläne und nach Einschätzung der vorgegebenen Lage, ein bestimmtes Wirken von Β vor, vergleicht es mit anderen für Β in Frage kommenden Möglichkeiten eines Wirkens oder Nicht- Wirkens und entscheidet sich für eine der Möglichkeiten. Dann erwägt er die Schritte, die er (A) unternehmen müßte, um dieses Wirken von Β hervorzurufen. Dabei versetzt er sich, nach dem Grundsatz der Reziprozität der Motive in die Lage von B. Dieser Grundsatz ist eine besondere, auf Handeln bezogene Abwandlung des Grundsatzes der Reziprozität der Perspektiven, der besagt, daß der andere die Welt - ceteris paribus - ungefähr so erfährt, wie ich sie erfahren würde, wenn ich mich in seiner Lage befände. Der andere versteht also auch das, was ich tue ungefähr so, wie ich mich verstehen würde, wenn ich an seiner Stelle wäre. Und weiter: der andere ist - ceteris paribus - ungefähr durch solche Motive zu bestimmten Handlungen veranlaßt, die ein entsprechendes Handeln auch bei mir motivieren würden. A versetzt sich also, insoweit dies für eine Einschätzung der Reaktion von Β auf die Schritte, die A erwägt, notwendig ist, in die Lage von Β. A erwägt seine eigenen Schritte auf Grund einer Vorwegnahme der wahrscheinlichen Deutung und Einschätzung dieser Schritte durch B. Denn diese Deutung und Einschätzung

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8. Handeln und Gesellschaft II

durch Β soll bei Β zum Weil-Motiv eines bestimmten Wirkens werden. Nachdem sich also A für ein bestimmtes zukünftiges Wirken von Β entschieden hat, muß er sich auch für bestimmte eigene Schritte, sozusagen aus dem Blickwinkel von B, entscheiden. Dann erst faßt er den Entschluß zu handeln und beginnt mit dem Vollzug. Jeder dieser Schritte kann auch im Fall gesellschaftlichen Handelns sorgfältig durchgeführt werden; es können aber einzelne Schritte oder ganze Schrittfolgen auch so hochgradig routinisiert sein (von der Wahl zwischen Entwürfen zum Erwägen der Einschätzungen, die andere zum Handeln motivieren könnten, bis zum Entschluß und Vollzug), daß sie gar nicht mehr klar und deutlich in den Griff des Bewußtseins genommen werden. Viele Phasen des Handelns, auch des gesellschaftlichen Handelns in seiner vielschichtigen Konstitution, können in sekundäre Passivität zurücksinken. Im Alltag ist gesellschaftliches Handeln in einem so hohen Ausmaß routinisiert, daß diese Ineinanderschachtelung von Vorwegnahmen zu einer miersubjektiven Zukunft kaum noch in den Blick gerät.36 Die wichtigste Voraussetzung für die Routinisierung ist die gesellschaftliche Verfestigung typischer Motive und Handlungen in einem gesellschaftlichen Wissensvorrat. (Wenn A dem Β eine Ohrfeige verabreicht, wird er selbstverständlich annehmen, daß Β die Ohrfeige nicht nur fühlen, sondern auch als Ohrfeige verstehen wird. Mit welchem Genauigkeitsgrad er vorwegnehmen kann, wie der andere (B) sie verstehen wird, hängt davon ab, ob sie beide einer duellierenden Aristokratie angehören oder sich wildfremd und mehr als minder angetrunken in einer Hafenbar gegenüberstehen.) Vollzogene Handlungen sind nicht mit dem Entwurf identisch und können auch, genau genommen, gar nicht mit ihm identisch sein. Im Fall des wechselseitig unmittelbaren Handelns ist das besonders augenfällig: In seiner intersubjektiven Verkettung der Motive und Entwürfe greift es schon von Anfang an nach einer sozusagen doppelt ungewissen Zukunft - von den Unsicherheiten ganz zu schweigen, die ein Handeln begleiten, dessen Schritte 36

In Kapitel 9 werden wir uns mit der Institutionalisierung des Handelns befassen, die weit über eine bloße Routinisierung hinausgeht.

8.2 Die Hauptformen gesellschaftlichen Handelns

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auch im Vollzug ineinandergreifen. Aber auch für gesellschaftliches Handeln gilt wie für alles Handeln, daß man in der alltäglichen Wirklichkeit nicht alles so genau zu nehmen braucht. Bei allen Handlungen und erst recht bei gesellschaftlichen Handlungen garantieren gesellschaftlich verfestigte, vortypisierte Verbindungen von Motiven, Zielen und Verläufen die Möglichkeit einer für die praktischen Erfordernisse des täglichen Lebens ausreichenden Übereinstimmung zwischen Entwurf, Handeln und vollzogener Handlung; und bei normalen Erwachsenen außerdem noch die Chance einer intersubjektiven Übereinstimmung. Wechselseitig unmittelbares Handeln ist gegenüber anderen Formen gesellschaftlichen Handelns durch eine Besonderheit ausgezeichnet, die nicht den Entwurf, die Wahl zwischen Entwürfen oder die Deutung vollzogener Handlungen betrifft, sondern den Verlauf des Handelns selbst. Handlungen, die auf einen Mitmenschen hin entworfen wurden, werden in seiner Anwesenheit vollzogen. Die Erfüllung oder das Mißlingen der Entwürfe des anderen kann im Vollzug des Handelns beobachtet werden. Das Ziel, auf das ein Mensch zusteuert, kann von einem anderen nie mit absoluter Gewißheit festgestellt werden, noch kann am Handlungsverlauf die Einordnung der Handlung in seine übergeordneten Pläne abgelesen werden. Aber das Wissen um die typischen Verbindungen von Motiven, Zielen, Handlungen und Handlungsverläufen kann mit Hilfe der Grundsätze der Reziprozität der Perspektiven und der Reziprozität der Motive in Fällen wechselseitig-unmittelbaren Handelns eingesetzt werden. Man wohnt dem schrittweisen Aufbau seiner Handlung bei; zusätzliche, unmittelbare Evidenz steht zur Verfügung, wenn man sieht, wie eine Handlung verläuft. Handlungsrelevante Typisierungen werden unmittelbar am Mitmenschen geprüft - wechselseitig.

8.2.3 Wechselseitig mittelbares Handeln Im Unterschied zum unmittelbaren Handeln richtet sich im mittelbaren Handeln der Entwurf des Handelnden auf einen abwesenden Einzelnen. Von ihm weiß der Handelnde nicht einmal mit Sicherheit, ob er lebt. Sein Handeln muß sich daher auf die bloße Annahme stützen, daß es den anderen (noch) gibt. Ob aber diese

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8. Handeln und Gesellschaft II

Annahme zu Recht besteht, kann erst nachträglich, nachdem die Handlung (oder ein antwortfordernder Teil der Handlung) vollzogen worden ist, entschieden werden. Je nach Art der Vermittlung, die das Handeln kennzeichnet, wird der Handelnde früher oder später feststellen, ob er ins Leere gehandelt hat oder nicht. Und dann erst wird er wissen, ob seine auf Wechselseitigkeit angelegten Handlungsschritte beantwortet wurden und sich tatsächlich eine wechselseitige Handlungskette vollzogen hat oder nicht. Die Ungewißheit dieser Annahme besteht für jeden der wechselseitig Handelnden in jeder Phase der Handlung, und die Annahme muß sich in wechselnder Abfolge bis zum Vollzug der gesamten Handlung bestätigen. Auch im mittelbaren gesellschaftlichen Handeln verketten sich die Motive. Aber im Gegensatz zum unmittelbaren Handeln greifen die Schritte des Vollzugs nicht in der gemeinsamen Erfahrung der Handelnden, sozusagen vor ihren Augen und Ohren, ineinander. Gehandelt wird nicht in der fließenden Synchronisation der Erfahrung beider Handelnder, sondern in einer Aufeinanderfolge von Erfahrungen: zuerst des einen, dann des anderen, dann wieder des ersten usw. Das Bewußtsein des anderen ist nur über die „erstarrten" Ergebnisse seines Wirkens faßbar. Der eine handelt, der andere erfährt die Ergebnisse dieses Handelns und deutet sie in der einen oder der anderen Weise, handelt dann seinerseits, woraufhin der erste die Ergebnisse dieses Handelns deuten muß usw. Wechselseitig mittelbares Handeln ist daher notwendig ein Wirken und hat normalerweise die Form von Arbeit. Alles gesellschaftliche Handeln beruht auf Annahmen. Es setzt den Grundsatz der Reziprozität der Perspektiven voraus. Darüber hinaus muß für wechselseitiges gesellschaftliches Handeln auch die Reziprozität der Motive gewährleistet sein, ob es nun mittelbar oder unmittelbar ist. Das wechselseitig mittelbare Handeln beruht außerdem auf der (das Vorhandensein eines Handlungsadressaten annehmenden) Idealisierung des „Und-so-weiter". Sie mag sich auf den Adressaten als Einzelnen richten (mein Freund Peter wird wohl nicht plötzlich ausgewandert sein, sonst hätte er mich vorher gewiß noch benachrichtigt) oder auf ihn als Funktionstyp (in den Nachrichten kam nichts über einen Streik, die Busfahrer werden wohl wie gewohnt ihrer Arbeit nachgehen).

8.2 Die Hauptformen gesellschaftlichen Handelns

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Eine weitere Annahme betrifft die Typisierungen mit deren Hilfe die gesellschaftlichen Handlungsschritte konkret entworfen werden. Sie sind im mittelbaren Handeln grundsätzlich nicht anders als im unmittelbaren vorausgesetzt. Man nimmt an, daß sich der andere in den für das gegenwärtige Handeln bedeutsamen Hinsichten nicht - oder nur in typischer Weise - verändert hat. Die hier wirkende Idealisierung des „Und-so-weiter" verbindet sich mit einer auf den anderen bezogenen Idealisierung des „Ichkann-immer-wieder": auch der andere kann immer wieder. Wie in allem gesellschaftlichen Handeln wird auch hier der Grundsatz der Reziprozität der Perspektiven und der Reziprozität der Motive angewandt; auch hier wird er durch besonderes, den anderen betreffendes Wissen eingeschränkt. Im Unterschied zum unmittelbaren gesellschaftlichen Handeln wird jedoch hier die Annahme nicht nur im Entwurf gemacht und dann im Vollzug unmittelbar bestätigt oder einer abweichenden lebendigen Wirklichkeit angepaßt. Im mittelbaren Handeln muß sie auch im Vollzug ohne unmittelbare Bewährung durchgehalten werden. Im mittelbaren gesellschaftlichen Handeln stellt sich der Handelnde den anderen so vor, als ob er mit ihm gleichzeitig wäre - in Analogie zur echten Gleichzeitigkeit unmittelbaren gesellschaftlichen Handelns. Diese „A/.sob-Gleichzeitigkeit" mag sich im nachhinein als Täuschung erweisen (der andere ist ja nicht nur nicht gegenwärtig, sondern denkt vermutlich auch nicht gerade jetzt an den Handelnden). Je weiter sich ein Handeln von der unmittelbaren Gegenwart des anderen entfernt, umso fiktiver wird die erlebnismäßige Gleichzeitigkeit, die den Handelnden mit dem anderen verbindet. Man kann sich diesen Tatbestand anhand der verschiedenen Übergänge zwischen Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit veranschaulichen. Je nach dem Stand der Vermittlungstechnologie können die Symptome, durch die der andere erfaßt wird, abnehmen, während die Synchronisation der Bewußtseinsströme bis zu einem gewissen Grad noch aufrecht erhalten werden kann. (Ein Gespräch in Hautnähe aber in Dunkelheit, ein Telefongespräch, Rauchsignale, Trommelsprache, Telefax-Nachrichten, Briefwechsel usw.). Je weiter sich das Handeln von der kontrollierenden Unmittelbarkeit des anderen entfernt, umso wichtiger wird die Ubereinstimmung zwischen der Vorwegnahme seitens des Handelnden der Deutung seines gegenwärtigen Handelns durch den anderen und

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8. Handeln und Gesellschaft II

der später tatsächlich vorgenommenen Deutung dieses Handelns (über dessen Folgen) durch den anderen. Umso wichtiger wird also eine gesellschaftliche (sprachliche, schriftliche usw.) Objektivierung der Deutungsschemata für typische Handlungsergebnisse. Im mittelbaren gesellschaftlichen Handeln hilft sie, erfolgreiche Wechselseitigkeit herzustellen. Mittelbares Handeln kann ja immer erst nachträglich den Veränderungen der Umstände angepaßt werden. Verbesserungen des Entwurfs können nicht in das Handeln selbst einfließen; sie müssen dem Vollzug als nachträgliche Reparatur der Handlung folgen und bekommen dadurch unweigerlich einen anderen Sinn. Je nach den Umständen besteht jedoch im mittelbaren gesellschaftlichen Handeln eine geringere oder größere Chance, Handlungsergebnisse durch weitere Handlungen aus der Welt zu schaffen, bevor sie dem, an den sie ursprünglich gerichtet worden waren, zur Kenntnis gelangen. (Einen Brief kann man eher abfangen als ein Wort, eine Mine kann man entschärfen, einen Schuß aber nicht.) Im Gegensatz zum unmittelbaren Handeln besteht zudem auch eine gewisse Chance, die Urheberschaft an bestimmten Handlungsergebnissen glaubhaft abzustreiten („die Beule im Kotflügel deines Autos ist mir unerklärlich", „der Brief ist gefälscht"). Dieser Umstand ist normalerweise - aber nicht immer - für mittelbare Handlungen, die auf Wechselseitigkeit angelegt sind, viel weniger wichtig als für das einseitig mittelbare Handeln. 8.2.4 Einseitig mittelbares Handeln Das einseitig mittelbare Handeln ist durch zwei Umstände gekennzeichnet: Es wurde vom Handelnden schon im Entwurf darauf angelegt, daß es einseitig bleibt und es bleibt im Vollzug dann auch tatsächlich einseitig. Jeder der beiden Umstände kann „danebengehen". So kann ein auf Einseitigkeit angelegtes Handeln ganz gegen die Absicht des Handelnden doch noch eine Antwort erhalten, damit wird es dann wechselseitig. Umgekehrt kann auch ein auf Wechselseitigkeit angelegtes Handeln in diesem wesentlichen Punkt mißlingen und gegen die Absichten des Handelnden unbeantwortet bleiben. Während im unmittelbaren Handeln eine solche Entwicklung nur schwer vorstellbar ist, stellt sie im mittelbaren

8.2 Die Hauptformen gesellschaftlichen Handelns

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Handeln nichts Ungewöhnliches dar. Der Mensch handelt zwar dann, gegen seine Absicht, in der Wirklichkeit einseitig, aber das Handeln bleibt seinem Sinn nach vom eigentlichen mittelbaren Handeln grundverschieden. Viele der „eigentlichen" einseitig mittelbaren Handlungen beruhen auf der Annahme, daß Wechselseitigkeit gar nicht möglich ist. Der Handelnde ist überzeugt, daß die vorgegebene Struktur der Alltagswirklichkeit eine Antwort von vornherein unmöglich macht. (Der achtzigjährige Erbonkel, der seinem noch ungeborenen Urneffen ein Stück Land vermacht, auf dem er gerade Nußbäume gepflanzt hat, erwartet von jenem keinen Dank für die Nüsse. Der Präsident, der das Gnadengesuch eines Mörders ablehnt, befürchtet nicht, dessen nächstes Opfer zu werden). Entweder hat der Handelnde recht, und das Handeln bleibt tatsächlich einseitig, oder er hat sich getäuscht und die unerwartete Wechselseitigkeit bringt ihm überraschend Freude oder Leid. In anderen Fällen besteht nach Ansicht des Handelnden die Möglichkeit einer Antwort. Wenn er sie vermeiden will, wird er abzuschätzen versuchen, wie groß diese Möglichkeit ist. Daraufhin wird er abzuwägen haben, wie sehr oder wie wenig ihn eine Antwort treffen würde. Dagegen würde er aufzurechnen haben, wie viele Mühen er auf sich zu nehmen willens ist, um eine Antwort zu verhindern. Erst dann wird er einen Entschluß fassen können. Sehen wir uns einige Beispiele an. Der Handelnde kann versuchen, den anderen Menschen gar nicht erst merken zu lassen, daß eine Handlung an ihn gerichtet wurde. (Das gelingt im mittelbaren Handeln eher als im unmittelbaren, darin unterscheidet sich ein Mordversuch durch Gift von einem durch Erwürgen.) Wenn der Handelnde zwar nicht verhindern kann, daß der andere bemerkt, daß eine Handlung an ihn gerichtet wurde, so mag er doch vor allem daran interessiert sein, den anderen nicht merken zu lassen, daß eine bestimmte Handlung an ihn gerichtet wurde; wenn es zu einer Antwort kommt, soll es nicht die Antwort auf diese Handlung sein. (Betrügereien, politische Propaganda und Werbung haben eines gemeinsam: Obwohl manchmal das Motiv, manchmal die Schritte und manchmal das Ziel - manchmal wohl auch alle drei zusammen - einer bestimmten Handlung oder Teilhandlung verdeckt werden, ist es für die beabsichtigte Wirkung wesentlich, daß der von der Handlung angesprochene Mensch nicht merkt,

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8. Handeln und Gesellschaft II

welche Handlung insgesamt an ihn gerichtet wurde, so daß er zwar antwortet, aber auf eine versteckte Frage.) Etwas anders liegen die Dinge, wenn sich der Handelnde bemüht, seine Urheberschaft an einer bestimmten Handlung zu verschleiern (z.B. bei anonymen Briefen). Obwohl der andere merkt, daß eine Handlung an ihn gerichtet wurde, obwohl er angemessen feststellen kann, welcher Art die Handlung ist, weiß er nicht, an wen er die Antwort richten soll. In den meisten Fällen wird er dann gar nicht antworten. Noch eine weitere Variante des mittelbar einseitigen Handelns bleibt zu erwähnen. Nicht das Geben der Antwort, nicht ihre angemessene Richtung werden Gegenstand der Vorkehrungen durch den Handelnden, sondern ihre Wirksamkeit, z.B. ihr Ankommen. Der Handelnde begibt sich vorläufig oder endgültig aus der Reichweite desjenigen, an den die ursprüngliche Handlung gerichtet war, z.B. durch Flucht oder Selbstmord. Nun wenden wir uns aber endlich dem Problem der gesellschaftlichen Institutionalisierung von Handeln zu.

9.

Handeln und Gesellschaft III: Institutionalisierung gesellschaftlichen Handelns

9.1

Einführung: Zur Problemgeschichte

Menschliche Gesellschaften stehen sowohl in der Natur wie auch in der Geschichte. Natürlich ist nicht nur die Entstehung der Grundformen, innerhalb derer das Zusammenleben der Angehörigen unserer Gattung organisiert wird - das gilt für uns Menschen nicht weniger als für andere Gattungen. Natürlich ist auch, wenn man es so formulieren kann, die Entstehungsgeschichte von „Geschichte"; diese gibt es aber wohl nur für unsere Gattung. Natürlich bleibt auch weiterhin der fortwirkende Bedingungsrahmen aller Formen menschlichen Zusammenlebens. Innerhalb dieses Bedingungsrahmens werden allerdings die konkreten Formen des gesellschaftlichen Daseins der Menschen geschichtlich: in menschlichen Handlungen hervorgebracht, bewahrt, verändert, zerstört, neu aufgebaut. In menschlichen Handlungen - das heißt im situationsübergreifenden, sinnvollen Verhalten, das auf kurz- oder langfristige Ziele angelegt ist, das sein Ziel erreicht oder es verfehlt und Folgen zeitigt, die nur zum Teil beabsichtigt gewesen sein mögen und in ihren gehäuften und zusammengesetzten Auswirkungen unvorhersehbar bleiben. Für diese „natürlich" entstandene Ablösung von der unmittelbaren Bedingtheit (des Verhaltens, des Daseins) hat HELMUTH PLESSNER (1892 - 1986) den treffenden Begriff „natürliche Künstlichkeit" geprägt. Daß menschliche Gesellschaften menschliche Erzeugnisse sind, wurde ja schon in der Einleitung diskutiert. Die sich daran anschließende Feststellung, daß die Handlungstheorie die Grundlage der Sozialwissenschaften bildet oder bilden müsste, konnte daher als die begriffliche Entsprechung dieses in der Wirklichkeit vorgegebenen Umstands verstanden werden. Es konnte auch kaum überraschen, daß diese Auffassung der Handlungstheorie im sozialwissenschaftlichen Denken eine gewichtige, wenn auch nicht un-

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9. Handeln und Gesellschaft III

umstrittene Rolle spielt. Zu Anfang wurde auf die lange philosophische Vorgeschichte der Handlungstheorie überhaupt und die der vorliegenden Auffassung von Handlungstheorie verwiesen, anschließend auf deren eigentliche, fachwissenschaftliche Geschichte. Die knappe Zusammenfassung der handlungstheoretischen Wurzeln reichte von antiken Autoren bis hin zu jenen Theoretikern, die auch heute noch die Voraussetzungen der Grundlagendiskussion weitgehend bestimmen: MAX WEBER, GEORGE HERBERT MEAD, TALCOTT PARSONS UND ALFRED SCHÜTZ.

Schon ganz früh bei ARISTOTELES wurde das zentrale Problem im wechselseitigen Bedingungszusammenhang zwischen menschlichem Handeln als individueller Tätigkeit einerseits und der gesellschaftlichen (politischen) Ordnung andererseits verortet. Der weitere Verlauf dieser Problemgeschichte ist jedoch zumeist durch die einseitige Hervorkehrung einer der beiden Pole gekennzeichnet. THOMAS HOBBES zum Beispiel setzte dem egoistischen Handeln, das - sich selbst überlassen - zum Kampf aller gegen alle führen müsste, einen diesen Gefahren begegnenden, gleichsam in einem „Urvertrag" gestifteten Staat entgegen. In diesem Tenor setzte sich die Diskussion fort bis in die jüngste Vergangenheit, bis zu den verschiedenen Strängen der heutigen Gesellschaftsphilosophie und -theorie, in denen „Gesellschaft" dem Individuum als etwas ursprünglich und wesentlich Fremdes und Entfremdendes gegenübergestellt wird. Diese Ansichten laufen dem antiken Denken über die wahre Natur der „Polis" (Aristoteles) und der „res publica" (Cicero) zuwider. Vermutlich wurzelt jene Entwicklung wenigstens zum Teil in den Denkmustern des vorkonstantinischen, noch nicht staatskirchlichen Christentums. Wie dem aber in ideengeschichtlicher Hinsicht auch immer sei, bei Betrachtung des systematischen Denkzusammenhangs fällt auf, daß in der Gegenüberstellung von individuellem Handeln und gesellschaftlicher Ordnung sachliche und begriffliche „Zwischeninstanzen" meist nur unzureichend und ohnehin erst recht spät seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts - erfaßt wurden. Es gibt sowohl eine ansehnliche Geschichte der Handlungstheorie wie eine eindrucksvolle Geschichte der Staatstheorie, aber sie verlaufen im großen und ganzen getrennt nebeneinander her. Das wirkt sich bis heute, bis in die oberflächlich-stereotype Gegensätzlichkeit von „Mikro"- und Makro"-Soziologie aus.

9.1 Einführung: Zur Problemgeschichte

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Gewiß weiß man schon lange, daß es Familien, Haushalte, Wirtschaftsorganisationen, Kirchen usw. gibt, die in irgendeinem Zusammenhang mit dem Gemeinwesen stehen, aber nur selten wurden diese gesellschaftlichen „Zwischeninstanzen" anders als in ihrer konkreten Eigenart betrachtet und beschrieben. Eine tiefergreifende, gesellschaftstheoretisch bedeutsame Betrachtung der Gemeinsamkeiten der Organisationsformen zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlicher Ordnung ließ lange auf sich warten. Die eigentliche Theorie gesellschaftlicher Institutionen, beruhend auf einer Theorie der Handlungsinstitutionalisierung, ist neueren Datums und nimmt sich im Vergleich mit Staats- und Handlungstheorie noch recht bescheiden aus. Es sei nur nebenbei erwähnt, daß es in dieser Hinsicht um die Untersuchung einer weiteren, gesellschaftstheoretisch bedeutsamen „Zwischeninstanz" der Handlungssteuerung, nämlich der gesellschaftlich geprägten persönlichen Identität, noch schlechter bestellt ist. Sie bildet keineswegs neben den Institutionen eine wesentliche Kategorie der allgemeinen Gesellschaftstheorie, wie sie das eigentlich sollte. Vielmehr wird dieses Problem einem Winkel der Psychologie zugewiesen - und man muß schon froh sein, wenn es sich dabei um die Sozialpsychologie und nicht um die Psychopathologie handelt. Die modernen Institutionstheorien kommen selbstverständlich nicht aus dem Nichts; sie bilden aber andererseits auch nicht das letzte Glied in einer philosophischen und wissenschaftlichen Traditionskette. Der Begriff der „institutio" spielt zwar seit M A R T I N LUTHER ( 1 4 8 3 - 1 5 4 6 ) und JOHANN CALVIN ( 1 5 0 9 - 1 5 6 4 ) eine gewisse Rolle im theologischen Denken, hat aber keine engere Beziehung zum sozialwissenschaftlichen Problem der „Zwischeninstanzen". Die rechtsphilosophische und ganz allgemein die rechtstheoretische Beschäftigung mit dem Institutionenproblem ist hingegen zwar auch für die sozialwissenschaftliche Diskussion von Interesse, aber ein wirksamer Einfluß war vor Beginn dieses Jahrhunderts kaum spürbar. Das änderte sich erst, als MAURICE HAURIOU ( 1 8 5 9 - 1 9 2 9 ) Institutionen als jene soziale Tatsachen begriff, in denen sich die einer Rechtsordnung zugrunde liegenden Leitideen („idées directrices") konkret verkörpern, also in Verbindung mit gesellschaftlicher Macht und mit Sanktionen. Diese rechtstheoretische Institutionsauffassung verdankt allerdings ihrer-

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9. H a n d e l n und G e s e l l s c h a f t III

seits mindestens ebenso viel der DuRKHEiMschen Soziologie, wie die spätere sozialwissenschaftliche, institutionstheoretische Diskussion der HAURiOUschen Rechtsphilosophie verpflichtet ist. Im übrigen war das Problem der „Zwischeninstanzen" schon mit dem B e g r i f f „ I n s t i t u t i o n " v o n HERBERT SPENCER ( 1 8 2 0 - 1 9 0 3 ) i n d i e

soziologische Diskussion gut eine Generation vorher eingeführt worden. Für SPENCER, der die Gesellschaft im Bild eines Organismus, eines lebendigen Funkionszusammenhangs sah, bildeten Institutionen den Gliedern eines Organismus ähnliche, mehr oder minder spezialisierte Funktionsträger. Am wichtigsten erschienen ihm verwandtschaftliche, politische, religiöse, wirtschaftliche, „professionelle" und „zeremonielle" Institutionen. Angesichts seines darwinistisch-biologischen Ausgangspunktes ist es nicht verwunderlich, daß seine Lösung für das Problem Individuum/Gesellschaft „systemtheoretisch" ausfiel: Einzelne Menschen handeln zwar bewußt nach ihren eigenen Interessen und verfolgen ihre eigenen Ziele, erfüllen aber damit gesellschaftlichen Funktionen, ohne sich dessen bewußt zu werden. „Individualistischer" ist der eine Generation später entwickelte „Institutionsfunktionalismus"

von

BRONISLAW

MALINOWSKI

(1884 - 1942). Konkret genommen sind die Institutionen nach ihm zwar Einheiten der gesellschaftlichen Organisation des Verhaltens, sie dienen aber dabei der stabilisierten und auf Dauer gestellten Befriedigung individueller Bedürfnisse. Individualistisch ist seine Institutionstheorie insofern, als ihr Ausgangspunkt nicht die Gesellschaft als System ist, sondern das Gattungswesen Mensch. Die Beziehung zum sinnvollen Handeln des einzelnen ist bei MALINOWSKI über die Werte definiert, die als Leitideen (wenn man hier den HAURiOUschen Begriff verwendet; bei MALINOWSKI heißt es „charter": Stiftungsprogramm, Stiftungsvertrag) den verschiedenen Institutionen zugrunde liegen und an denen sich die Menschen in ihren Handlungen orientieren. In den soziologischen Begriffssystemen von MAX WEBER (1864 -

1 9 2 0 ) u n d v o n EMILE DURKHEIM ( 1 8 5 8 -

1917) spielte

das Wort „Institution" keine wichtige Rolle. DURKHEIM allerdings schlug vor, daß man es auch dafür verwenden könne, was er als „soziale Tatsachen" definiert hatte, da sie sowohl durch „exterriorité" (Überschreitung eines einzelnen Bewußtseins) und „contrain-

9.1 Einführung: Zur Problemgeschichte

129

te" (den Zwang, den es auf jenes ausübt) gekennzeichnet seien. Der Begriff selbst aber, wie immer er umschrieben wurde, war für D U R K H E I M wie für W E B E R (besonders für dessen Herrschafts- und Religionssoziologie) von sozusagen selbstverständlicher Wichtigkeit. F ü r TALCOTT PARSONS ( 1 9 0 2 - 1979) legen Institutionen

Orien-

tierungsmuster für gesellschaftliches Handeln fest, und dieses Verständnis dürfte wohl auch heute im soziologischen Kategoriensystem - vielleicht gerade wegen seiner etwas vagen Allgemeinheit - am geläufigsten sein. Eine eigentliche Institutionstheorie hat Parsons, der von einer handlungstheoretischen immer mehr zu einer systemtheoretischen Grundauffassung überging, weder entwickelt noch gebraucht. Als Begründer der modernen Institutionstheorie kann man am ehesten ARNOLD GEHLEN ( 1 9 0 4 - 1976) bezeichnen. N a c h MAX SCHELER und mit HELMUTH PLESSNER gehört Gehlen zu den Neubegründern der philosophischen Anthropologie. Der Mensch sei dadurch gekennzeichnet, daß zwar einerseits sein Verhalten nicht mehr durchweg instinktiv gesteuert wird, daß er aber andererseits überlastet wäre, wenn er sein Handeln durch ständige eigene Bewußtseinsleistungen steuern müßte. Institutionen legen Handeln unabhängig vom einzelnen fest, entlasten ihn also in der Lebensführung. Vereinfacht gesagt: Institutionen sind Instinktersatz· In der Institutionenlehre von H E L M U T SCHELSKY ( 1 9 1 2 - 1 9 8 4 ) wurden der MALiNOWSKische Gedanke, daß Institutionen Bedürfnisse befriedigen und die GEHLENsche Entlastungshypothese miteinander verbunden. Je mehr menschliche Grundbedürfnisse institutionell abgedeckt werden und dies zur unproblematischen Selbstverständlichkeit wird, desto eher können sich weitere, über die Lebenserhaltung als solche hinausragende Bedürfnisse entwikkeln, deren Versorgung gesellschaftlich organisiert, das heißt institutionalisiert wird. Obwohl die Institutions- und Institutionalisierungsproblematik nicht gerade im Mittelpunkt der gesellschaftstheoretischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte stand, hat man sich auch nach SCHELSKY hier und dort - mehr oder minder eindringlich und mehr oder minder originell - mit ihr beschäftigt. Die Behauptung, daß man sich damit begnügt hat, die schon bestehenden Ansichten zu verteidigen oder auszubauen, wäre unberechtigt.

130

9. Handeln und Gesellschaft III

Man darf allerdings sagen, daß sich die neueren Entwicklungen der Institutionstheorie im wesentlichen an die klassischen Ansätze u n d an d i e Ü b e r l e g u n g e n v o n PARSONS, GEHLEN u n d SCHELSKY

anlehnen. So führt zum Beispiel NIKLAS LUHMANN in seiner Behandlung der Institutionsproblematik SPENCERsche und PARSON-

sche Grundgedanken fort, allerdings in einer systemtheoretisch radikalisierten, funktionalistischen Perspektive. Das System wird dabei vom handelnden Menschen und seinen Bedürfnissen entkoppelt. Auch PETER BERGER und ich knüpfen (in unserem Buch „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit") an alte Positionen an: handlungstheoretisch an SCHÜTZ und MEAD, institutions-

theoretisch vor allem an GEHLEN. In jüngster Zeit wurde die Diskussion um die Institutionsproblematik im deutschsprachigen Raum wieder neu aufgenommen. Erwähnenswert sind vor allem die Arbeiten von EPHREM ELSE LAU und JOHANNES AUGUST SCHÜLEIN;37 es sind nützliche theoriege-

schichtliche Darstellungen, die eine kritische Auseinandersetzung mit den wichtigsten institutionstheoretischen Traditionen und - in Anknüpfung an diese - eigene systematische Versuche enthalten. Eine ins einzelne gehende, genauere Besprechung der verschiedenen institutionstheoretischen Ansätze ist hier nicht nötig. Wir sollten nur noch versuchen, die Hauptbestandteile der wichtigsten Institutionstheorien einigermaßen sinnvoll zusammenzufassen. Gesellschaftliche Institutionen organisieren die Lösung grundlegender (und auch nicht so grundlegender) menschlicher Lebensprobleme. Sie tun das, indem sie bestimmte Ausschnitte gesellschaftlichen Handelns einigermaßen verpflichtend steuern und dafür Durchsetzungsmechanismen und - unter Umständen - einen Zwangsapparat bereitstellen. Sie entlasten den einzelnen durch die Vorlage mehr oder minder selbstverständlicher Lösungen für die Probleme seiner Lebensführung und gewährleisten und bewahren dadurch zugleich - sozusagen en détail - den Bestand gesellschaftlicher Ordnungen. Mit einer solchen Bestimmung dessen, was Institutionen sind und was sie leisten, läßt sich, wie sich im folgenden zeigen wird, 37

EPHREM ELSE LAU, „Interaktion und Institution", Berlin 1978, und JOHANNES AUGUST SCHÜLEIN, „Theorie der Institutionen", Opladen 1987.

9.2 Voraussetzungen der Institutionalisierung

131

einiges anfangen. Zunächst allerdings wollen wir uns damit beschäftigen, wie Institutionen entstehen, wie Handeln überhaupt institutionalisiert wird. Dabei interessieren wir uns aber nicht für vorwissenschaftliche Theorien und Mythologien über den Ursprung einzelner Institutionen; 38 die Frage zielt vielmehr auf die allgemeinen, formalen Voraussetzungen der Ausbildung von Institutionen.

9.2

Voraussetzungen der Institutionalisierung

9.2.1 Routinisierung gesellschaftlichen Handelns: Wechselseitige Abstimmung gewohnheitsmässigen Handelns Ebenso wie jeder Mensch sich selbst für sein eigenes Handeln lockere oder strenge Regeln geben kann, kann er sich auch für die Nichtbefolgung solcher selbstauferlegten Regeln milde oder schwere Strafen zumessen. Trotz Regelhaftigkeit und Sanktion wird es aber dennoch sinnvoller sein, von „Institutionalisierung" erst dann zu sprechen, wenn das Handeln, um das es geht, gesellschaftliches Handeln ist; wenn die Regeln, denen es folgt, intersubjektive Gültigkeit beanspruchen; und wenn die Abweichungen von der Regel nicht dem Gutdünken des (Zuwider-)Handelnden selbst überlassen sind. Auch der Vorgang der Institutionalisierung selbst besteht aus gesellschaftlichem Handeln. Der gesellschaftliche Zustand, der durch Institutionalisierung geschaffen wird, kann natürlich die verschiedenen Arten gesellschaftlichen Handelns steuern. Institutionen können sich zu anonymen gesellschaftlichen „Mächten" entwickeln, die ihrerseits anonymes gesellschaftliches Handeln festlegen. Wenn wir nach dem Ursprung der Institutionalisierungsvorgänge suchen, werden wir ihn nicht etwa bei mittelbaren oder einseitigen Formen gesellschaftlichen Handelns finden, sondern im unmittelbaren und wechselseitigen Handeln. Zu den Voraus38

Auf diese kommen wir noch kurz in Kapitel 10.2 zu sprechen, wenn von der Legitimierung von Institutionen die Rede sein wird.

132

9. Handeln und Gesellschaft III

Setzungen der Institutionalisierung gehören daher alle Voraussetzungen des gesellschaftlichen - und insbesondere des wechselseitig unmittelbaren - Handelns, die wir weiter oben ja schon besprochen hatten: die wechselseitige Aufmerksamkeit und Synchronisation der Bewußtseinsströme der Handelnden, die Reziprozität der Perspektiven und eine Übereinstimmung der Relevanzsysteme, die zumindest so weit reicht, daß die Handelnden das Handeln der jeweils anderen adäquat deuten können. All dies beruht auf Erfahrungen in einer gemeinsamen Umwelt und stellt die Grundlage für die Verzahnung der verschiedenen Handlungsschritte im gesellschaftlichen Handeln dar. Es gibt aber darüber hinaus noch andere, spezifischere Voraussetzungen der Institutionalisierung, die nun untersucht werden müssen. Wenn man sich die vielfältigen subjektiven und intersubjektiven Bedingungen gesellschaftlichen Handelns (vor allem des wechselseitigen) ansieht, könnte der Eindruck entstehen, daß dies eine besonders schwierige und komplizierte Angelegenheit sein muß. Dieser Eindruck täuscht nicht ganz. Viele der Voraussetzungen des gesellschaftlichen Handelns, und alle Voraussetzungen des unmittelbar wechselseitigen Handelns, gehören zwar zur natürlichen Grundausstattung normaler Menschen und beruhen auf der Leiblichkeit und den Bewußtseinsleistungen unserer Gattung. So kann z.B. ein Kleinkind ohne besondere Unterweisung schon sehr früh wechselseitigen Blickkontakt mit seiner Mutter aufnehmen. Aber nicht einmal die grundlegenden praktischen Dinge der Gesellschaft, in die das Kleinkind hineingeboren wurde, beherrscht es von Natur aus; es muß sie erlernen. Die Voraussetzungen gesellschaftlichen Handelns werden von Menschen nicht einfach - sozusagen automatisch - in den Vollzug gesellschaftlichen Handelns umgewandelt. Aufstufend auf den verschiedenen Voraussetzungen braucht es Jahre und viel gemeinsame „Arbeit" zwischen Kind und Bezugspersonen, bis es „nur" sprechen kann. Und von da ist es noch ein langer Weg zur Cellistin, zum Gangsterboß, zur Krankenschwester, zum Autoverkäufer. Natürlich sind die Schwierigkeitsgrade, die das Erlernen gesellschaftlichen Handelns begleiten, je nach Art des Handelns sehr unterschiedlich. In manchen Formen gesellschaftlichen Handelns werden einfache Teilhandlungen zweier Menschen koordiniert, in anderen müssen verwickelte Teilhandlungen vieler Beteiligter in-

9.2 Voraussetzungen der Institutionalisierung

133

einandergefügt werden. Um Händeschütteln oder Nasenreiben zu lernen, muß man nicht ein ganzes Jahr eine Tanzschule besuchen - aber ein Jahr Tanzschule reicht noch lange nicht, um im Bolschoi Ballett auftreten zu können. Bei den meisten Formen des Lernens, vor allem des Erlernens gesellschaftlichen Handelns, macht erst „Übung den Meister". Wie alle Arbeit (im Sinne von zielbewußt in die Umwelt eingreifender Tätigkeit) ist auch gesellschaftliche Arbeit nicht nur eine Sache des Begreifens. Wenn man einen Handlungsablauf verstanden hat, kann man ihn deswegen lange noch nicht ausführen. Und wenn das einmal geschafft ist, heißt das noch lange nicht, daß man ihn mühelos beherrscht. Zähneputzen z.B. erscheint uns als eine triviale und mühelose Angelegenheit, im Vergleich beispielsweise mit dem, was von einer Pianistin bei einem Klavierkonzert geleistet wird. Dennoch hat man auch Zähneputzen einmal lernen müssen. Sicher, nach einer gewissen Anzahl von Wiederholungen hört die ganze Prozedur auf, das Problem(chen) zu sein, das es bei den ersten Versuchen noch war. Die Handlung wird zur Gewohnheit und erfordert immer weniger Aufmerksamkeit (schlafen kann man dabei allerdings nicht), und man kann sich unterdessen mit anderen Dingen beschäftigen, z.B. mit der Erinnerung an den Traum, aus dem man gerade erwacht ist, oder mit Plänen für den kommenden Tag. Bis zu einem gewissen - je nach Art der Handlung unterschiedlichen - Grad werden öfters wiederholte Handlungen in ihren ursprünglich problematischen Einzelleistungen „abgeschliffen". Wenn es um gesellschaftliches Handeln geht, genügt es natürlich noch nicht, daß nur die eigenen Handlungsschritte beherrscht werden. Diese müssen ja auch noch mit den Handlungsschritten der anderen verzahnt werden. In einem gewissen Sinn bedeutet das, daß auch die Teilhandlungen des anderen eingeübt werden müssen. Nicht notwendig in ihrem konkreten Vollzug, aber es wird schon mehr verlangt als nur ein abstraktes Verständnis dessen, was die anderen tun. Die Ablaufformen des fremden Handelns müssen fast automatisch begriffen werden, nur dann können sie nahtlos in das eigene Handeln eingepaßt werden. Was „nahtlos" heißt, ändert sich natürlich mit der Art des in Frage stehenden Handelns. Wenn man mit einem Partner einen Baumstamm zersägen will, müssen die eigenen Bewegungen dem Bewe-

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9. Handeln und Gesellschaft III

gungsrhythmus des anderen sehr genau angepaßt werden. Gelingt das nicht - und bis man sich aneinander gewöhnt hat, gelingt es meistens nicht - bleibt die Säge stecken. Wenn es nicht vornehmlich um Körperbewegungen geht, gewinnt „nahtlos" eine andere, übertragene Bedeutung. Die Einpassung der Handlungsschritte in einem Vorstellungsgespräch z.B. muß zwar nicht mehr ganz so eng sein, ist aber dafür verwickelter. Und wenn ein junger Mann um ein Mädchen wirbt, sind die Sinnschichten des Handelns in den meisten Gesellschaften noch um einiges tiefer; selbst hier kann man aber noch von „Einpassung" reden. Einübung und Gewohnheit nehmen sich in diesen drei Beispielen recht unterschiedlich aus. Dennoch spielt es bei allen diesen Unternehmungen eine gewisse und oft wichtige Rolle, ob man sie zum ersten Mal bewältigt oder schon mehrmals gemeistert hat. Eigenes Gewohnheitshandeln und die Voraussagbarkeit des Gewohnheitshandelns des anderen verbinden sich zu einer (gewissen) Routine gemeinsamen Handelns. Bis auf Widerruf verläßt man sich darauf, daß in bestimmten Situationen bestimmte eigene, mehr oder minder routinisierte Handlungen mit den mehr oder minder routinisierten Handlungen bestimmter anderer in typisch wiederkehrender Weise soweit zusammenpassen, daß sich ein mehr oder minder routinisiertes gesellschaftliches Handeln ergibt. Gewohnheitshandlungen leisten im menschlichen Leben in mancher Hinsicht - wenn auch nur in beschränktem Maß - das, was Instinkte im Verhalten anderer Gattungswesen leisten. Besonders wichtig in diesem „funktionalen" Zusammenhang ist natürlich die Vorstufe des institutionalisierten Handelns, der wir im routinisierten gesellschaftlichen Handeln begegnen. Dennoch darf nicht vergessen werden, daß Gewohnheitshandlungen alles andere als instinktives Verhalten sind. Sie wurden vom Handelnden entworfen, richten sich in ihren einzelnen Schritten am Entwurf aus und stehen im Vollzug unter der bewußten Kontrolle des Handelnden, obwohl sie bei zunehmender Routinisierung nicht mehr seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.

9.2 Voraussetzungen der Institutionalisierung

135

9.2.2 Erfolgreich erwartete Regelmässigkeiten gesellschaftlichen Handelns: Soziale Beziehungen Gesellschaftliches Handeln ist - definitionsgemäß - an anderen orientiert. Diese anderen müssen nicht unter allen Umständen unmittelbar anwesend sein. Unter bestimmten Bedingungen können sich sowohl der Entwurf wie auch der Vollzug einer Handlung an einem (oder an mehreren) Abwesenden ausrichten. Außerdem haben wir gesehen, daß sich das Handeln gar nicht an bestimmten Personen als Personen orientieren muß, ob diese nun an- oder abwesend sind. Das Handeln mag sich an einem spezifischen, erwartbaren Typ sozialen Handelns ausrichten, und der andere mag nur als Träger dieses Handelns von Bedeutung sein. Dem Briefträger genügen ein Name und eine Adresse, damit er auf einen, ihm persönlich unbekannten, Postempfánger hinzu handeln kann. Wörtlich genommen ist dieser andere für ihn nicht „anonym", da er ja seinen Namen wissen muß; aber das Handeln ist im Grunde doch „anonym", da es für den Briefträger irrelevant ist, welche Person aus Fleisch und Blut sich hinter diesem Namen versteckt. Wenn ich Geld von meinem Konto abheben will, braucht der Angestellte hinter dem Schalter immerhin noch meine Kontonummer, meinen Namen und meine unverwechselbare Unterschrift (bei Geldautomaten wird die Prozedur noch anonymer, obwohl das Geld schließlich doch noch von meinem Konto abgebucht wird); wenn ich aber nur Geld wechseln will, braucht dem Schalterangestellten nichts als das Geld „bekannt" zu sein. Für einen Verkehrspolizisten bin ich nur als Fußgänger relevant - und er für mich nur als jemand, dessen Anwesenheit mich daran hindert, bei Rot über die Straße zu gehen, obwohl weit und breit kein Verkehr zu sehen ist. Anonymisierendes gesellschaftliches Handeln kennzeichnet also nicht nur viele Formen unmittelbarer Beziehungen, sondern auch manche mittelbaren Beziehungen. Aber auch wenn derjenige, an den das Handeln gerichtet ist, in Person anwesend ist, kann er für den Handelnden seinem Sinn nach anonym bleiben. Natürlich kann sich der brieftragende Jedermann in einen bestimmten, unverwechselbaren Menschen verwandeln (für mich, für seine Frau war er das vermutlich schon immer), mit dem ich nicht nur

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9. Handeln und Gesellschaft III

das Wetter, sondern auch Fragen der Tagespolitik und schließlich auch persönliche Angelegenheiten wie beispielsweise seine Ehekrise bespreche. Es sei allerdings noch einmal daran erinnert, daß andere Menschen im Entwurf und Vollzug mittelbarer gesellschaftlicher Handlungen nur über Erinnerungen an ihre frühere Gegenwart und über die phantasierende Vorwegnahme zukünftiger Begegnungen - also in mehr oder minder anonymisierenden Typisierungen - erfaßt werden. Demgegenüber füllen im Vollzug unmittelbarer Handlungen auch Menschen, die im Entwurf nur als Schnittpunkte von Funktionen (als Rollenträger) vorgestellt werden, durch ihre Gegenwart diese Typisierungen mit Leben. Es war vorhin nebenbei von „Beziehungen" die Rede. Vergegenwärtigen wir uns zunächst, daß soziales Handeln auf bestimmte Personen (das Abholen meiner Tante Agathe) ebenso wie auf anonyme Typen (Bankangestellte, Zollbeamte) hin eine Art „Geschichte" entwickelt. Die Erinnerung an die Art und Weise der vergangenen Handlungen geht in das Handeln ein, das sich wieder auf dieselben Menschen, bzw. die gleichen sozialen Typen bezieht. Man erwartet, daß sich die Personen - ceteris paribus ebenso wenig verändert haben wie die sozialen Typen, und daß ähnliches Handeln ähnliche Folgen haben wird. Selbstverständlich nimmt man an, daß sich der andere an ähnliche Erwartungen hält, ob diese nun mich als Person oder als sozialen Typ betreffen. Die wechselseitige Erwartungen der mehr oder weniger regelmäßigen Wiederkehr bestimmter wechselseitiger Handlungen hat MAX WEBER als „soziale Beziehungen" bestimmt: als ein ..seinem Sinngehalt nach aufeinander eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten. D i e soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz ausschließlich in der Chance, daß in einer (sinnhaft) angebbaren Art sozial gehandelt wird, einerlei zunächst, worauf diese Chance beruht. (Wirtschaft und Gesellschaft, S. 13).

Es ist allerdings fraglich, ob das „ganz ausschließlich" in der WEBERschen Definition sozialer Beziehungen eine sinnvolle Bestimmung ist. In dieser Ausschließlichkeit könnte man ebenso soziale Beziehungen zwischen Schimpansen und anderen Primaten beschreiben. Und gewiß kann man auch den Kern menschlicher sozialer Beziehungen mit M A X WEBER treffend definieren: erstens über angebbare Arten sozialen Handelns und zweitens über

9.2 Voraussetzungen der Institutionalisierung

137

die Chance, daß so gehandelt wird. Nur betrifft „Chance" zumindest im Fall menschlichen Handelns nicht nur die Fortschreibung beobachteter Regelmäßigkeiten des Verhaltens durch den Forscher, sondern meint wesentlich und in erster Linie die „subjektive Chance" - die wechselseitigen Erwartungen angebbarer Arten sozialen Handelns seitens des Handelnden. Diese Erwartungen werden versprachlicht und den anderen unter verschiedenartigen Bedingungen mitgeteilt. Darüber hinaus können die Erwartungen, die spezifische soziale Beziehungen betreffen, mit Wertvorstellungen besetzt werden, die ihrerseits symbolische Objektivierung finden („Freundschaft", „eheliche Treue", „reelles Geschäftsgebaren"). Kurzum: Soziale Beziehungen e r s t e h e n im sozialen Handeln und sie bestehen in ihrem Kern aus sozialem Handeln und der Chance der regelmäßigen Wiederkehr solchen Handelns. Da ihnen aber sowohl die objektive wie die subjektive Erwartbarkeit angebbarer Arten sozialen Handelns zugrunde liegt, enthalten soziale Beziehungen neben ihrem Handlungskern auch vielschichtige gesellschaftliche Wert- und Bedeutungskonstruktionen. Soziologisch ausgedrückt stellen soziale Beziehungen zugleich ein Element der Sozialstruktur und der Kultur dar (auch wenn man der Sozialstruktur dabei die erste Stelle einräumt). Wenn sich die wechselseitigen typischen Erwartungen „angebbarer Arten sozialen Handelns" einigermaßen erfolgreich und wiederholt erfüllt haben, werden auch diese zur Routine. In diesem Sinn kann man davon sprechen, daß soziale Beziehungen auf gewohnheitsmäßigem Handeln beruhen - so wie man sagen kann, daß Institutionalisierung auf den Regelmäßigkeiten sozialer Beziehungen beruht, und daß über das Zwischenglied sozialer Beziehungen gewohnheitsmäßiges Handeln eine logische Voraussetzung der Institutionalisierung ist. Das heißt jedoch nicht, daß soziale Beziehungen ausschließlich aus gewohnheitsmäßigem Handeln bestehen oder daß nur gewohnheitsmäßiges Handeln institutionalisiert wird. Tatsächlich setzen sich soziale Beziehungen aus einem Gemisch von gewohnheitsmäßigem Handeln und nichtroutinehaften, die volle Aufmerksamkeit der Handelnden fordernden problematischen Elementen zusammen. In vielen sozialen Beziehungen kommen außerdem Bestandteile institutionalisierten Handelns hinzu.

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9. Handeln und Gesellschaft III

Dabei ist zu bemerken, daß natürlich auch Elemente des institutionalisierten Handelns selbst, sozusagen sekundär, zur Gewohnheit werden können. Wenn nicht vom tatsächlichen Gemisch der Elemente sondern von den logischen Voraussetzungsschichten die Rede ist, bleibt es jedoch sinnvoll, an den Unterscheidungen zwischen dem Gewohnheitshandeln (dem individuellen wie sozialen), den wechselseitigen Erwartungen typischen Handelns, den sozialen Beziehungen und den institutionalisierten Handlungen festzuhalten. Die Art der sozialen Beziehungen hängt sowohl von der typisch erwartbaren „Form" (mittelbar, unmittelbar) wie von dem subjektiv sinnhaften (aber gesellschaftlich vorkonstruierten, sprachlichsymbolisch objektivierten) „Inhalt" der Beziehungen ab (wie beispielsweise Liebe, Kollegialität, Verantwortung). Zusammen bilden Form und Inhalt den typischen Kern sozialer Beziehungen. In dieser doppelten Weise unterscheiden sich etwa die wesentlich unmittelbaren intimen Beziehungen innerhalb der Familie von den wesentlich mittelbaren und anonym-sachlichen sozialen Beziehungen zwischen den Vertretern bestimmter Organisationen. Man kann eine Gesellschaftsordnung als ein Gebäude aus sozialen Beziehungen betrachten. Schon allein der sich verändernde Anteil verschiedener Formen gesellschaftlichen Handelns an sozialen Beziehungen ist folglich ein wichtiges Merkmal historischer Gesellschaftsordnungen. Was die eigentlichen Ursachen für solche Veränderungen sein mögen (z.B. technische Neuerungen, welche die sekundäre Wirkzone gesellschaftlichen Handelns erweitern), braucht hier nicht genau hinterfragt zu werden. Im großen und ganzen ist jedenfalls die Anonymisierung sozialer Beziehungen in Gesellschaften, die auf Unmittelbarkeit beruhen, ungewöhnlich. Und in Gesellschaften, die auf hochgradigen Anonymisierungen und systematischer Mittelbarkeit aufbauen (wie der unsrigen), setzt Wechselseitigkeit ein recht verwickeltes System technischer und sozialer Einrichtungen voraus. Die theoretische Analyse von Gesellschaftsordnungen strebt einen gewissen Grad an Formalität und Abstraktion an, bedient sich aber zugleich auch verschiedener Bilder und Metaphern, die solange nützlich sein können, als man sich ihres Zweckes gegenwärtig bleibt. So kann man Gesellschaften unter verschiedenen anschaulichen Gesichtspunkten betrachten: als eine Aufschichtung

9.2 Voraussetzungen der Institutionalisierung

139

von sozialen Klassen, als ein Gefüge von Institutionen oder als ein Gebäude aus sozialen Beziehungen. Diese Bilder sind oft nur unzulänglich gezeichnet und verblassen schnell. Nehmen wir aber dennoch die Vorstellung, daß Gesellschaftsordnungen als „Gebäude" betrachtet werden können, wieder auf und malen sie ein wenig aus. Den gemeinsamen „Baustoff bilden soziale Beziehungen aller Art, die „Gebäude" haben aber verschiedene Innen- und Außenansichten. Wenn man sie miteinander vergleicht, findet man alte, mit der Hand aus Holz gezimmerte Hütten, steinerne Paläste aus früheren Zeiten und moderne Blöcke aus Beton, Glas und Kunststoff. Manche Hütten kommen mit einem Raum aus, der sowohl dem Wohnen wie dem Schlafen, dem Kochen und Essen, dem Gebären und Sterben dient, während andere Bauwerke für jede erdenkliche Lebensäußerung gesonderte Räume bereitstellen, welche bei Bedarf mit Hilfe vorgefertigter Bauelemente noch weiter unterteilt werden können. Die Grundrisse der Gebäude könnte man vor allem in Hinsicht auf di e. formalen Bestandteile des Kerns sozialer Beziehungen beschreiben, während man die Raumaufteilung und die Innenausstattung mit Hilfe der inhaltlichen Elemente kennzeichnen würde. Für eine Gesamtansicht der Gebäude, und im Vergleich der Architektur der verschiedenen Gebäudetypen und Baustile müßte man sich selbstverständlich immer auf die konkreten historischen Verbindungen der formalen und der inhaltlichen Bestandteile beziehen, die nur zusammen den gesamten Kern sozialer Beziehungen ausmachen. Im übrigen erfreut sich in der Soziologie eine verhältnismäßig anschauliche, an die formale Soziologie anknüpfende Systematisierung der Analyse sozialer Beziehungen einer nicht unverdienten Beliebtheit. In den sogenannten „Netzwerkanalysen" werden die thematisch als nachbarschaftlich, verwandschaftlich, freundschaftlich, arbeits-, religions- usw. bezogenen definierten sozialen Beziehungen in ihren verschiedenen Strängen und Knoten dargestellt. 39 Welche formalisierbaren Begriffe und anschaulichen Vorstellungen man auch immer bei der Analyse sozialer Beziehungen verwendet, wichtig bleibt, daß die sozialen Beziehungen als Be39

Vgl. dazu EPHREM ELSE LAU, „Interaktion und Institution", Berlin 1 9 7 8 , Kap. 7 .

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9. Handeln und Gesellschaft III

zugspunkt der Analyse nicht dermaßen vergegenständlicht werden, daß ihre Grundlage im gesellschaftlichen Handeln aus dem Blickfeld gerät. Fassen wir noch einmal zusammen: Soziale Beziehungen entstehen in gesellschaftlichen Handlungen und bestehen aus gesellschaftlichem Handeln. Wenn man eine Gesellschaftsordnung als ein Gebäude sozialer Beziehungen ansehen will, muß man immer im Auge behalten, daß das Fundament aus wechselseitig aufeinander bezogenem Gewohnheitshandeln gebaut wurde und daß das feste - das mehr oder minder feste - Gerüst des Gebäudes aus Institutionen errichtet ist.

9.3

Erwartungszwang und Handlungsverpflichtung

Sehen wir für den Augenblick einmal davon ab, daß jeder Mensch in eine geschichtliche Gesellschaftsordnung hineingeboren wird, welche aus einem Gebäude sozialer Beziehungen besteht, das mit dem „Mobiliar" einer gesellschaftlich vorkonstruierten Wirklichkeit, einer Sprache, einem Bestand an Selbstverständlichkeiten und anderen Wissenselementen ausgestattet ist. Auch dann können wir uns noch ohne Schwierigkeiten vorstellen, daß sich zwischen zwei Menschen ohne verbindlich vorgefertigte Muster des Verhaltens und ohne äußeren Zwang im wechselseitigen Bezug des Handelns feste soziale Beziehungen entwickeln können, nur aus ihrer natürlich-künstlichen Handlungsfähigkeit heraus. Begeben wir uns dazu in ein Gedankenexperiment, in eine Robinsonade. Nehmen wir an, daß ein Tunguse aus dem hinteren Sibirien und eine Frau vom australischen Stamm der Warramunga zugleich in eine von der Welt abgeschnittene Gegend verschlagen worden wären. Stellen wir uns vor, wie sie die Probleme des Überlebens in einer ihnen beiden fremden Umwelt gemeinsam zu lösen suchen und wie sie die dabei entstehenden Probleme ihres Zusammenlebens meistern. Nahrungsbeschaffung, Schutz vor Kälte, Regen, wilden Tieren, Ängste und Zuneigung, Geschlechtlichkeit - all das geht motivierend in ihr Handeln ein; ein Handeln, das in diesem Beispiel unweigerlich wechselseitig aufeinander eingestellt sein muß: entweder unmittelbar und thematisch (etwa im

9.3 Erwartungszwang und Handlungsverpflichtung

141

Geschlechtsakt) oder zumindest mittelbar im Sinnhorizont des (etwa nahrungssuchenden) Handelns. Wenn sich eine bestimmte Handlungsweise in der Bewältigung eines bestimmten Problems bewährt hat, wird bei Wiederauftreten desselben Problems normalerweise wieder so oder so ähnlich gehandelt werden. Die meisten der unmittelbar lebenswichtigen Probleme, beginnend mit dem Hunger, kehren immer wieder zurück. Die darauf bezogenen Handlungen, die ja immer auch zugleich auf den anderen mitbezogen sind - sofern sie nicht ohnehin aus gemeinsamen Tätigkeiten bestehen - werden zur Gewohnheit. Man (die Warramunganerin auf den Tungusen, der Tunguse auf die Warramunganerin) verläßt sich darauf, daß der jeweils andere unter gegebenen Umständen so und nicht viel anders handeln wird wie bisher. Die wechselseitigen Erwartungen hinsichtlich des wechselseitigen, aufeinander bezogenen Handelns entwickeln so eine gemeinsame „Geschichte", in der die sozialen Beziehungen sich verfestigen. Wenn auch die einmal zustande gekommenen Abstimmungen der Handelnden aufeinander nicht in allen Bereichen zur Routine werden - eine gewisse Voraussagbarkeit des Handelns für die Beteiligten und eine gewisse Vertrautheit und ein „Sich-aufeinander-verlassen-können" kennzeichnet früher oder später vermutlich fast alle Bereiche des gemeinsamen Lebens. Wenn der eine auf Fischfang geht, sucht die andere eßbare Wurzeln. Beide erwarten mit zunehmender Zuversicht, daß sie ein Fisch-Eßwurzel-Mahl zu sich nehmen können, bevor sie sich anderen warramunganischtungusischen Tätigkeiten widmen. Die Erwartung, daß der andere unter bestimmten Umständen und in Zusammenhang mit einem typischen eigenen Handeln so und nicht anders handeln wird, ist in unserem Beispiel nur subjektiv zwingend. Bis auf weiteres hat man keine Veranlassung anzunehmen, daß die Idealisierungen des „ich (oder der andere) kann immer wieder" und des „und so weiter" hier nicht mehr gelten. Entsprechend verhält sich die eigene subjektive Handlungsverpflichtung, die auf solche, dem anderem zugeschriebenen Erwartungen bezogen ist. Jedenfalls ist für ein gegebenes Problem ein bestimmtes soziales Handeln als Lösung soweit festgelegt worden, daß sich beide darauf verlassen können. Es mag verfrüht sein, hier gleich von „Zwang" und „Verpflichtung" reden zu wollen. Aber schon dieser, aus der gemeinsamen

142

9. Handeln und Gesellschaft III

Handlungs-Geschichte stammende Druck, daß die einmal festgelegten Muster sozialen Handelns befolgt werden sollen, darf nicht zu gering veranschlagt werden. Ob das festgelegte Handlungsmuster die einzig mögliche oder die objektiv beste Lösung des betreffenden Problems ist oder nicht, spielt in diesem Zusammenhang keine besondere Rolle. Von Bedeutung ist nur, was den Handelnden als die beste Lösung erscheint. Und es ist nicht einmal unbedingt nötig, daß eine Handlungsweise als die denkbar beste betrachtet wird. Da üblicherweise unter dem Handlungsdruck des Alltagslebens keine langen theoretischen Überlegungen angestellt werden, genügt es schon, daß sich die nächstliegende Möglichkeit zur Lösung des Problems in der Einschätzung der Handelnden bewährt. Tut sie das, wird sie dann als eine selbstverständlich gangbare Vorgehensweise festgesetzt, und man hat keinen Anlaß dazu, sich nach Alternativen umzusehen, die vielleicht ebenfalls möglich oder sogar besser wären. Hier ist noch eine zusätzliche Bemerkung nötig. Vorhin war von der „wechselseitigen Abstimmung des Handelns" und jetzt von den „Einschätzungen einer Handlungsweise durch die Handelnden" die Rede. Damit ist nicht gemeint, daß alle Handelnden den gleichen Einfluß auf die Festlegung von Handlungsweisen und auf die Einschätzung des Erfolgs von Problemlösungen haben. Über die Eignung der Lösungen wird in den wenigsten Fällen gleichberechtigt abgestimmt. Machtunterschiede verschiedener Art (sie mögen in roher Gewalt, Geschicklichkeit, List, Voraussicht, Koalitionsfähigkeit usw. begründet sein) gehen in gesellschaftliches Handeln mitbestimmend ein. Das gilt für alle verschiedenen Ebenen des Handelns: so schon für die wechselseitigen Abstimmungen des gewohnheitsmäßigen wie auch des darauf aufbauenden „halb"-institutionalisierten Handelns; in der Festlegung von Problemlösungen; und erst recht natürlich dann, wenn es gilt, die Befolgung der einmal gefundenen Lösungen durchzusetzen. Von einer tatsächlichen, ursprünglichen Gleichheit ist institutionstheoretisch gewiß nicht auszugehen; sie stellt in der Entstehung von Institutionen einen Sonderfall dar. Wie sich die Ungleichheiten anhäufen oder aufheben - und zwar sowohl im Ursprung wie im Fortbestand und der Veränderung von Institutionen - ist hingegen eine empirische Frage. Wenn in unserem Beispiel der Tunguse seine Frau mit der Faust dazu zwingt, Wurzeln sammeln

9.3 Erwartungszwang und Handlungsverpflichtung

143

zu gehen, ist das ein Fall von Machtausübung. In einem anderen bewegt sie, intelligenter als er, ihn zu Handlungen, die er von sich aus eigentlich nicht unternommen hätte, z.B. einen Vorrat an getrockneten Fischen anzulegen. Wie asymmetrisch oder symmetrisch die Festlegung gesellschaftlichen Handelns durch die Handelnden von Fall zu Fall tatsächlich auch immer sein mag, grundsätzlich bleibt aber die Abstimmung des Handelns wechselseitig.40 Wenn wir uns anschaulich vorstellen, wie in unserem Beispiel die Warramunganerin und der Tunguse die verschiedenen Probleme des Überlebens und Zusammenlebens handelnd bewältigen, so können wir uns auch ausmalen, wie sie das konkret in wechselnden Verhältnissen von Gleichheit und Ungleichheit tun. Für die Verfestigung ihrer Beziehungen durch ein halb-institutionalisiertes Gerüst von Handlungsverpflichtungen und Handlungserwartungen bietet sich jedenfalls das vorhin gebrauchte Bild einer zu zweit gezimmerten und eingerichteten Holzhütte an. Dabei war dieses Beispiel so angelegt, daß die Handelnden ihre eigenen Probleme zu lösen haben und sie auch in eigener Vollmacht lösen können. Schon in dieser Abstraktion von den vielfältigen historischen Abhängigkeiten tatsächlichen Handelns konkreter Individuen von für sie - immer schon vorhandenen Institutionen zeigt sich, daß das gemeinsame Handeln und die Problemlösungen eine eigene „Geschichte" entwickeln. Diese Geschichtlichkeit ist jedoch zweischneidig. Einerseits hilft sie, wie eben ausgeführt wurde, den Verpflichtungscharakter des festgelegten Handelns zu bestärken. Wenn einmal eine gemeinsame Lösung gefunden wurde, „darf" nicht mehr jeder nach eigenem Gutdünken und augenblicklicher Laune herumexperimentieren (ganz abgesehen davon, daß er normalerweise, auch wenn er ausnahmsweise einmal dafür ausreichend Zeit und Lust besäße, dazu ohnehin keine Veranlassung hätte). Das Handeln hat schließlich schon seinerzeit Erfolg gehabt, hat sich inzwischen immer wieder bewährt und gehört jetzt zum Bestand des gangbaren und von den Handelnden wechselseitig erwartbaren Handelns. 40

In dieser Minimalform der InterSubjektivität dürften allerdings die Geprügelten vermutlich ebensowenig Trost finden wie in den HEGELschen Ausführungen in der „Phänomenologie des Geistes" über das Verhältnis von Herr und Knecht.

144

9. Handeln und Gesellschaft III

Andererseits stellt aber die Geschichte des Handelns auch eine versteckte, unter bestimmten Umständen offen zutage tretende Gefahr für die Verbindlichkeit der Lösung dar. Die Geschichte besteht ja in ihrem Kern aus der kollektiven Erinnerung an die Lösung - und damit zugleich auch an die Selbstgeschaffenheit der Lösung. 41 Sollte man über Problem und Lösung überhaupt noch nachdenken wollen, könnte man sich daher der relativen Beliebigkeit der praktizierten Lösung bewußt werden. Die Richtigkeit der Lösung ist durch die Erinnerung an ihr intersubjektives Zustandekommen potentiell bezweifelbar. Nun werden aber nur wenige Menschen auf einsame Inseln verschlagen. Typische Handelnde erzeugen normalerweise keine eigenen Lösungen von Problemen, sondern diese werden von anderen übernommen. Im allgemeinen institutionalisieren wir nicht selbst unser Handeln - es wird institutionalisiert, von schon vorhandenen Institutionen. Das Erlernen institutionalisierten Handelns bildet einen wesentlichen Teil der Sozialisation. In der geschichtlichen Welt werden Lösungen für Nahrungsbeschaffung, Schutz, Geschlechtlichkeit und vieles andere als schon festgelegte Lösungen mit mehr oder weniger Widerstand übernommen. Die Verpflichtung des an diesen Lösungen ausgerichteten Handelns entspringt nicht der Autonomie (der von Macht und List der Handelnden bedingten Autonomie) eigener vergangener Handlungen, sondern sie ist fremdbestimmt. Die Handlungsverpflichtung ist aber andererseits auch nicht durch Erinnerungen an die Beliebigkeit dieser Handlungsweisen gefährdet (außer bei über die Relativität von Institutionen aufgeklärten Soziologen). Vielmehr tritt die Handlungsweise als Bestandteil einer gesellschaftlich-geschichtlichen Tradition auf, in welcher viele Probleme gelöst, viele Handlungsweisen festgelegt wurden. Bleibt ein Handlungsproblem über mehrere Generationen erhalten - wie das beim Grundbestand der lebenswichtigen Bedürfnisse selbstverständlich der Fall ist - und bestehen zwischen der alten und der neuen Problemgeneration (wenn man das wenigstens für unser Beispiel so schematisch ausdrücken darf) soziale Be-

41

Die Tatsache, daß diese Erinnerung normalerweise sehr schnell mythologisch überformt wird, soll uns in Abschnitt 10.2 beschäftigen.

9.3 Erwartungszwang und Handlungsverpflichtung

145

Ziehungen, so ist es ziemlich selbstverständlich, daß die alte Generation ihre Problemlösungen an die neue vermittelt. Der ursprüngliche Sinn der Problemlösungen war noch Bestandteil der Geschichtlichkeit des gemeinsamen Handelns. Er war in der kollektiven Erinnerung der Handelnden aufbewahrt - so zweischneidig diese Erinnerung für den Verpflichtungscharakter des Handelns auch gewesen sein mag. Mit der Vermittlung der Problemlösung an die nächste Generation verändert sich dieser ursprüngliche Sinn entscheidend. Die Art der Selbstverständlichkeit des Handelns ist eine andere geworden, und der Verpflichtungscharakter des Handelns verschärft sich. Aus dem „So haben wir es uns ausgedacht" und „So machen wir es" wird ein „So macht man es eben". Besser ausgedrückt: Aus der InterSubjektivität der Handlungsweise entwickelt sich so ihre Objektivität. Daß daraus auf einer anderen Ebene ein Legitimationsproblem für das in der ersten Generation schon „halb" (nämlich intersubjektiv) institutionalisierte Handeln entsteht, wurde schon angedeutet. 42 Das erste Kind, das der Warramunganerin und dem Tungusen geboren wird, wird sich ohne viel Begründungsaufwand von der bewährten Lösungsweise der verschiedensten Handlungsprobleme überzeugen lassen. Das Kind lernt, wie man Wurzeln sammelt und Fische fängt und sieht auch den Grund dafür ein; es sieht, wie der Vater mit der Mutter und die Mutter mit dem Vater umgeht, auch wenn ihm die Gründe dafür nicht in jedem Fall einleuchten mögen. Dieses erste Kind einer zweiten Generation ist aber nicht nur beobachtend und nachahmend, sondern auch mehr oder minder aktiv an der Lösung eines erst mit ihm aufgetretenen Problems beteiligt: Wie gehen Mutter, Vater und Kind miteinander um? Für das zweitgeborene Kind gilt das schon in geringerem Maß - dafür tritt aber das Problem des Umgangs zwischen Geschwistern in dieser fiktiven „Gesellschaft" zum ersten Mal auf. Und für die dritte Generation, ist die Lage noch einmal grundlegend anders. Die Lösungen sind fremdbestimmt und nicht selbstgefunden, und man war nicht einmal dabei, als sie sich als Handlungsweisen verfestigt haben. Auch für die kommenden Generationen mag der Sinn solcher vorgeregelter Handlungsweisen (noch) nicht uneinsichtig ge42

Und auch das wird uns in Kapitel 10.2 noch weiter beschäftigen.

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9. Handeln und Gesellschaft III

worden sein, auch wenn er nicht durch pädagogisch-legitimatorische Bemühungen abgestützt wird. Der Sinn hatte sich ursprünglich Schritt für Schritt, in wechselseitiger Abstimmung der Handelnden, polythetisch konstituiert. Auch im nachfolgenden routinehaften Handeln derjenigen, welche die Lösung gefunden hatten ein Handeln, das sich normalerweise nur noch im monothetisehen Zugriff an diesem Sinn ausrichtete - , konnte die ursprüngliche Sinnkonstitution von den Beteiligten grundsätzlich rekonstruiert werden. Die nachfolgenden Generationen haben aber den Sinn der Handlungsweise aus zweiter, dritter, vierter Hand übernommen. Er ist ihnen zunächst einmal nur monothetisch als der objektive Sinn der Lösung verfügbar. Die Betonung liegt auf „zunächst einmal": denn selbstverständlich erfolgen pädagogisch-legitimatorische Nachbildungen des Zustandekommens des objektiven Sinns einer Regel überall dort, wo dies nötig erscheint, wie z.B. in den verschiedenen Entstehungsmythen von Institutionen. Das schmälert aber den Wirklichkeitsund Verpflichtungscharakter der Institution nicht; eher im Gegenteil, denn das „So wird es gemacht" dürfte eindrucksvoller sein als das vorangegangene „So machen wir es". Machtverhältnisse, die schon in der „Ur-Institutionalisierung" ihren Einfluß ausgeübt hatten, werden auch in der Vermittlung von geregelten Handlungsweisen an die nächste Generation geltend gemacht. Zwar verschwinden die menschlichen Grundbestände, auf denen die Machtverhältnisse beruhen (z.B. die Geschlechterdifferenz) nicht aus der Geschichte, aber sie sind in überkommene Herrschaftsbeziehungen eingebettet: in eine tradierte, als mehr oder minder legitim geltende, in sozialen Beziehungen und Institutionen verortete und mit Durchsetzungsmaßstäben versehene Macht. Kinder fügen sich ihren Eltern nicht nur aus Angst vor Prügel. Auch Untertanen (und erst recht moderne Staatsbürger) folgen staatlichen Verordnungen nicht nur, weil sie den Scharfrichter oder den Steuereintreiber fürchten. (Die Legitimität von Herrschaftsverhältnissen steht zwar nur in entfernter Entsprechung zum Vertrauen in Eltern-Kind-Beziehungen, es ist aber sicher kein Zufall, daß sich Herrschaftsinstitutionen mit Vorliebe in Analogie zum strengen, aber wohlwollenden Vater darstellen.) So wird auch der Zwang, der die Durchsetzung institutioneller Normen begleitet, als Bestandteil der Gesellschaftsordnung über

9.3 Erwartungszwang und Handlungsverpflichtung

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das Bild unmittelbarer sozialer Beziehungen symbolisiert. Unter bestimmten Umständen, zu denen zumindest auch auslösend der Verlust der Legitimität zählt, schützt selbst die Angst die Herrschaftsinstitutionen, die zu bloßen Gewalteinrichtungen degeneriert sind, nicht mehr. Erinnern wir uns jedoch nach diesen eingeflochtenen Betrachtungen über Macht und Herrschaft daran, daß so etwas wie soziale Kontrolle nicht erst die vollentwickelten geschichtlichen Institutionen kennzeichnet, welche die Geltung der in ihnen verkörperten Handlungsnormen durch Zwangsmaßnahmen und Durchsetzungsapparate abzusichern verstehen. Sie ist schon im intersubjektiven „moralischen" Zwang der gegenüber anderen übernommenen Handlungsverpflichtungen anzutreffen, bei der Erfüllung wechselseitiger Erwartungen. Diese werden selbstverständlich in allen gesellschaftlichen, also auch in institutionalisierten Handlungsformen, gelegentlich enttäuscht. Aber in den letzteren wird nicht nur eine Erwartung enttäuscht, es wird vor allem auch eine Verpflichtung gebrochen. Daß anfänglich noch kein Erzwingungsstab den Bruch zu ahnden versucht, wie das bei vollentwickelten historischen Institutionen der Fall ist, ändert daran nichts. Daß bei historischen Institutionen, bei denen der ursprüngliche Problemlösungssinn längst verdeckt sein mag, subjektiv oft kaum noch Verpflichtungen empfunden werden, ist andererseits einer der Gründe für die Auswucherung von Zwangsmaßnahmen bei manchen historischen Institutionen. Dies umso mehr, wenn eine indirekte, aber gerade dadurch besonders wirksame Form der sozialen Kontrolle (aus welchen Gründen auch immer, z.B. infolge eines umfassenderen Wertewandels) geschwächt wurde. Dieser indirekte Aspekt der sozialen Kontrolle des Handelns besteht darin, daß sich der Sinn der problemlösenden Handlungen - der ja, wie gesagt, den ursprünglichen Problemlosem zwar noch unmittelbar einleuchtet, aber einen gewissen Beliebigkeitscharakter beibehält - im Verlauf seiner Vermittlung über die Generationen hinweg verfestigt und an Objektivität zunimmt.

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9.4

9. Handeln und Gesellschaft III

Funktionen institutionalisierten Handelns

9.4.1 Die Grundfunktion: Gemeinsame Regelung von Lebensproblemen (Arbeit, Geschlecht, Macht) In den vorangegangenen Überlegungen ist schon viel von „Problemlösungen" die Rede gewesen. So wurden Handlungsweisen bezeichnet, mit denen Menschen die Fragen zu beantworten suchen, die sich in ihrem Leben stellen. Bei problemlösenden Handlungsweisen, die institutionalisiert werden, geht es natürlich nicht um Fragen, die sich in Vereinzelung stellen und vom einzelnen beantwortet werden. Es geht vielmehr um Probleme, denen der Mensch in seiner konkreten Vergesellschaftung begegnet und die er gemeinsam mit anderen im wechselseitigen (nicht unbedingt immer auch im unmittelbaren) gesellschaftlichen Handeln (genau genommen: in gesellschaftlicher Arbeit) zu meistern sucht. Wenn sich bestimmte Handlungsweisen als gangbar und als dem Problem angemessen herausstellen und wenn sie sich dann auch weiterhin unter ähnlichen Umständen bewähren, werden sie intersubjektiv als Lösungen für die betreffenden Probleme festgelegt. In der Weitergabe von einer Generation an die nächste werden sie schließlich zu objektiven Bestandteilen einer das Handeln verpflichtenden Überlieferung. Selbstverständlich geht es dabei nicht um nebensächliche theoretische Fragen, sondern um die im Alltag dringlichen und ständig wiederkehrenden Anforderungen des Überlebens und des Zusammenlebens - jedenfalls zunächst und zuallererst. Das schließt aber nicht aus, daß dort, wo diesen Anforderungen einigermaßen entsprochen wird, auch ein von unmittelbarem Entscheidungsdruck freigestelltes theoretisches Denken, in Religion, Philosophie, Wissenschaft usw., eine eigene institutionelle Basis bekommt. Ohne Zweifel spielt jedoch Denken gerade auch im Handeln, das nicht unter dringendem Entscheidungsdruck steht, eine Rolle, die im Vergleich mit anderen nahverwandten Gattungen des Handelns außerordentlich wichtig ist. Schon früh in der Entwicklungsgeschichte des Menschen hat Denken das instinktive Verhalten überformt, es in übergeordnete Handlungszusammenhänge eingebettet und in mancher Hinsicht auch ganz ersetzt. Dieses Denken

9.4 Funktionen institutionalisierten Handelns

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entwickelte sich dabei immer mehr über einfaches Probeverhalten und Erfahrungs-Ablagerung und -Anwendung hinaus. Nach und nach konnten Menschen nicht nur Probleme, die sie nicht instinktiv beantworteten, handelnd - meist gemeinsam handelnd - lösen, sondern auch längerfristige Handlungsstrategien entwerfen. Vor allem konnten sie eigene Problemlösungen in einen sich ansammelnden gesellschaftlichen Wissensvorrat einfließen lassen. Dadurch bildeten sich Ketten von Überlieferungen, die sie befähigten, schon von anderen gefundene und festgelegte Handlungsweisen situationsgerecht und problembewältigend einzusetzen. Auch bei verhältnismäßig unwichtigen gesellschaftlichen Handlungen kann es im Verlauf typischer Wiederholungen zu einer recht hohen Stimmigkeit zwischen den jeweils auf den anderen bezogenen Handlungserwartungen und dem routinisierten Handlungsvollzug kommen. Dies hatte sich ja als eine wichtige Voraussetzung für eine Institutionalisierung von Handlungsweisen herausgestellt. Aber der Zwang, dem man durch solche Erwartungen ausgesetzt ist und die Verpflichtung, die Erwartungen zu erfüllen, werden bei belanglosen Angelegenheiten nicht allzu hoch sein. Je wichtiger jedoch das Handeln bzw. dessen Ergebnis für die Handelnden ist, umso mehr Gewicht erhält auch die gemeinsame Handlungsgeschichte, umso höher sind dementsprechend Erwartungszwang und Handlungsverpflichtung. Ganz abgesehen von den jeweiligen historischen Festlegungen bestimmter ethischer Normen und gesellschaftlicher Obligationen erhält Handeln hier eine moralische Qualität. Zwang und Verpflichtung erreichen im allgemeinen erst bei wichtigen Lebensangelegenheiten jenes Maß, von dem an es sinnvoll wird, wenigstens von einer „halben" Institutionalisierung zu sprechen. Wir wollen nämlich den Begriff erst dann „voll" anwenden, wenn Handlungsregelungen verpflichtend an nachfolgende Generationen überliefert werden. Die Grundfunktion der Institutionalisierung besteht darin, daß die Regelung verschiedener wichtiger Lebensprozesse auf Dauer gestellt wird. Und dieses Auf-Dauer-Stellen beruht eben auf der moralischen, von spezifischen ethischen Anschauungen grundsätzlich unabhängigen Eigenschaft gemeinsamen problemlösenden Handelns, auf dem Vertrauen auf die Verläßlichkeit des anderen. Sie beruht zwar darauf, wird aber in allen Gemeinschaften (außer in einfachen Gemeinschaften, in denen diesem Vertrauen

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9. Handeln und Gesellschaft III

ein unmittelbarer Personenbezug eignet) durch „Erzwingungsstäbe" abgesichert. Und Erzwingungsstäbe können erfahrungsgemäß auch dann spezifische historische Institutionen am Leben erhalten, wenn die Grundlage für dieses elementare wechselseitige Vertrauen längst eingesunken ist. Alles in allem wird gesellschaftliches Handeln dann institutionalisiert, wenn die Handelnden annehmen, daß es wichtige gemeinsame Lebensprobleme löst. Um Mißverständnissen dieser Formulierung vorzubeugen, seien hier zwei Bemerkungen angebracht. Die eine betrifft die institutionsschaffenden Absichten (Motive) der Handelnden; die andere bezieht sich auf die Wichtigkeit von Problemen in der Auffassung der Handelnden. Zum ersten Punkt: Im allgemeinen haben Menschen ihr gemeinsames Handeln unter dem Druck anstehender Probleme geregelt und die Regeln auf Dauer gestellt, ohne von vornherein die ausdrückliche Absicht zu verfolgen, so etwas wie Institutionen zu schaffen. Erinnern wir uns daran, daß eine der wichtigen Voraussetzungen der Institutionalisierung, die Routinisierung des Handelns, nicht das Ergebnis von Handlungsentwürfen ist, sondern die kumulative Folge von Handlungsvollzügen. Auch eine andere Voraussetzung, die wechselseitige Abstimmung des Handelns, ist den Absichten gemeinsamen Handelns nicht über- sondern untergeordnet. Und insgesamt können wir davon ausgehen, daß auch die Institutionalisierung selbst (sogar in der Weitergabe von Handlungsweisen an nachfolgende Generationen) im Grunde eine Folge gesellschaftlichen Handelns ist, und nicht dessen Ziel. Davon können wir ausgehen, aber nicht damit abschließen. Denn selbstverständlich gibt es auch die Möglichkeit, daß Menschen mit der ausdrücklichen Absicht eine feste und dauerhafte Regelung aufzustellen, ihr Handeln entwerfen. Spätestens seit den alten Hochkulturen gibt es Zeugnisse davon, daß bestimmte Lebensprobleme sozusagen theoretisch betrachtet und ihre Lösungen mit der festen Absicht der Dauerhaftigkeit und der Verhinderung von Abweichungen festgelegt wurden. Von den Statuten Hammurabis und den Gesetzestafeln des Moses bis zu unserem Volkszählungsgesetz gibt die Gesetzgebung die Paradebeispiele der absichtlichen Schaffung von Institutionen. Zum zweiten Punkt: Zu verschiedenen Zeiten unter verschiedenen Umständen ist verschiedenen Menschen und Gruppen von

9.4 Funktionen institutionalisierten Handelns

151

Menschen gewiß schon alles Mögliche und Unmögliche wichtig erschienen - und zwar nicht nur im Einzelfall und in augenblicklicher Laune, sondern über Generationen hinweg. Darum mögen uns, die wir so wie alle Menschen unsere eigene Weltansicht haben und mehr oder minder in ihr befangen sind, manche Institutionen anderer Gesellschaften und anderer Zeiten (und manchmal sogar die unserer eigenen gegenwärtigen Gesellschaft) recht merkwürdig erscheinen. Zum Beispiel kommen uns Institutionen, die sich in der Vergangenheit viele Jahrhunderte lang (in anderen Gesellschaften bis heute) um den zentralen Wert der „Ehre" anordneten (wie Blutrache, Duell usw.), heute bestenfalls altmodisch vor. Wir begnügen uns mit Prügeleien oder EhrabschneidungsKlagen. Wenn wir aber unsere Befangenheit mit theoretischer Absicht auszuklammern versuchen, werden wir es nicht für besonders sinnvoll halten, anzunehmen, daß Mensch von Natur aus so dumm sind, daß sie nicht zwischen Wichtigem und Belanglosem unterscheiden können. Es liegt näher zu vermuten, daß auf die Dauer und im großen und ganzen Menschen zu allen Zeiten einem Kernbereich ähnlicher Probleme der Lebensführung gegenübestanden und sie diese auch im wesentlichen erkennen konnten - sonst, so könnten wir in einer hausgemachten Variante der Evolutionstheorie vermuten, hätten sie nicht überlebt. Die bisherigen Überlegungen zu den Grundbedingungen und Hauptfunktionen der Institutionalisierung gesellschaftlichen Handelns konnten vielleicht den Anschein erwecken, daß man von deutlich abgegrenzten und im Verlauf des täglichen Lebens getrennt auftretenden Problemen ausgehen kann, und daß diese von einigermaßen vernünftig denkenden - praktisch vernünftig denkenden - Menschen in einer deutlich abgegrenzten, wechselseitig aufeinander abgestimmten und genau auf das betreffende Problem zugeschnittenen Handlungsweise bewältigt werden. Falls dieser Eindruck tatsächlich entstanden ist, muß er korrigiert werden. Daß im menschlichen Leben wie in der gesamten Menschheitsgeschichte Probleme immer wieder nicht bewältigt wurden; daß viele Handlungsweisen, die zunächst Erfolg hatten und institutionalisiert wurden, später, als man starr an ihnen festhielt, unvorhergesehene und schlimme Folgen hatten; daß sogar manche Handlungsweisen zu Katastrophen für einzelne wie für ganze Gesellschaften führten -

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9. Handeln und Gesellschaft III

all das versteht sich eigentlich von selbst. Es muß nur als Hintergrund für alle Ausführungen über Problemlösungen und Institutionen hinzugedacht werden. Hingegen ist es etwas schwieriger, mit den möglichen Mißverständnissen sowohl der formal-abstrakten wie der veranschaulichenden Ausführung über die Ausgrenzung von Problemen und deren zugeordnteten Lösungen umzugehen. Beginnen wir mit den Abstraktionen. Es steht außer Zweifel, daß im täglichen Leben des einzelnen Menschen und ganzer sozialer Gruppen, sowie in der Geschichte menschlicher Gesellschaften viele Probleme zugleich oder in Vermischung auftreten können. Weiter, daß unter bestimmten Umständen auch ähnliche Probleme in der gleichen Gesellschaft durch verschiedene Handlungsweisen mehr oder minder erfolgreich gelöst werden und daß eine Handlungsweise verschiedene Probleme zugleich lösen kann. Und schließlich, daß verschiedene Handlungsweisen in manchen Gesellschaften unter gewissen gesamtstrukturellen Bedingungen zu einem einzigen großen Bündel (z.B. zu einem Verwandschaftssystem) verhältnismäßig fest zusammengeschnürt werden. In anderen Gesellschaften wird das Bündel wieder aufgeschnürt und der Inhalt nach funktionalen Gesichtspunkten (Arbeit, Liebe, Macht) aufgeteilt und in mehreren Bündeln neu zusammengeknotet. Das soll nun etwas anschaulicher gesagt werden. Die Warramunganerin und der Tunguse sind füreinander „Gesamtbezugspersonen". Das gilt nicht nur für ihre Einstellungen und Gefühle (wie Angst, Vertrauen, Zärtlichkeit usw.), sondern ebenso für ihr gesamtes Tun und Lassen, auch wo sich dieses auf verhältnismäßig deutlich ausgegrenzte Angelegenheiten (wie z.B. Nahrungsbeschaffung) bezieht. Alles was der eine tut, hängt eng mit dem gesamten Tun des anderen zusammen. Mit den nachfolgenden Generationen werden Fischfang, Wurzelnsammeln, Hüttenbauen, Kochen, Geschlechtsverkehr, Kindererziehung usw. zu Tätigkeiten, die - den Regeln mehr oder minder genau entsprechend von mehreren Menschen (in diesem Punkt als soziale Typen einander erkennbar ähnlich) zugleich ausgeübt werden. Dabei beziehen sich die Handlungserwartungen immer deutlicher auf die spezifischen Tätigkeiten des anderen und immer weniger auf den Handelnden als Gesamtbezugsperson. Man könnte hier schon von einer Einbindung einzelner Problemlösungen in soziale Rollen sprechen. Es haben sich Typisierungen von problemlösenden

9.4 Funktionen institutionalisierten Handelns

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Handlungsvollzügen ausgebildet, die von der Gesamtbezugsperson soweit abgelöst sind, daß sie als objektiviertes und anonymisiertes Handlungswissen („die Männer fangen Fische mit Harpunen") in den gesellschaftlichen Wissensvorrat eingehen. Es wurde gesagt, daß die Grundfunktion der Institutionalisierung in der dauerhaften gemeinsamen Regelung wichtiger Lebensprobleme besteht. Je nachdem von welcher Seite man diese Funktion betrachtet, kann man sagen, daß die Institutionalisierung gesellschaftlichen Handelns sowohl dem vergesellschafteten einzelnen Menschen wie auch der aus Einzelmenschen bestehenden Gesellschaft „zugute" kommt. Daß Institutionalisierung unter gewissen Umständen (z.B. beim starren Festhalten an einer etablierten Handlungsregel unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen) auch schaden kann, wurde ebenfalls schon angedeutet. Institutionen können sich zweifellos ändern; und Handlungsweisen, die einmal fest institutionalisiert waren, können sozusagen „ent-institutionalisiert" werden. Umgekehrt können Handlungsweisen, die noch nicht wichtig genug waren, um institutionalisiert zu werden, unter veränderten Umständen formalen Institutionalisierungsvorgängen unterworfen werden. Diese Überlegung führt uns zu einem schon angesprochenen Punkt zurück. Verschiedene Gesellschaften haben auch - nahezu definitionsgemäß - verschiedene Institutionen, oder genauer, eine unterschiedliche Gesamtstruktur von Institutionen. Denn gleiche oder jedenfalls sehr ähnliche Institutionen kommen zumindest in Gesellschaften ähnlichen Grundtyps vor, z.B. das sakrale Königtum in verschiedenen alten Hochkulturen. Außerdem können sich Institutionen, wie schon gesagt wurde, verändern, ohne ihre ursprüngliche „Identität" ganz aufzugeben; andere verschwinden völlig, und es bilden sich neue Institutionen. Dem steht eine andere, vorhin gemachte Behauptung entgegen, daß Menschen zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften einem identischen Kernbereich von Problemen begegnen. Bei dieser Behauptung war ja dann auch mitzubedenken, daß die Lösungen dieser Probleme auch in allen Gesellschaften - wenn auch in unterschiedlicher Weise - institutionalisiert sind. Wie kann dieser Widerspruch gelöst werden? Um darauf eine Antwort geben zu können, muß das Abstraktionsniveau der Aussagen auf dasjenige der „condition humaine",

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9. Handeln und Gesellschaft III

der Grundverfassung des Menschen, angehoben werden; in ihrer gattungsspezifischen leiblichen Verfassung müssen Menschen von ihrer Geburt an bis zu ihrem Tod manche genau bestimmte Dinge tun, wenn sie überleben wollen, und andere Dinge, bei denen gewisse Entscheidungsmöglichkeiten offenstehen. Alle müssen atmen - aber das Atmen kommt „von selbst". Alle müssen essen - aber nicht alle und immer das gleiche, und wie sie handeln oder arbeiten, um essen zu können, unterliegt sehr vielfältigen Variationen. Menschen sind zwar sozusagen von Natur aus mit bestimmten Bedürfnissen (ein oft mißbrauchter und vieldeutiger Begriff) ausgestattet, die sie bewegen, etwas zu tun; aber schon die Bedürfnisse selbst sind nicht einfach da, sondern sinnhaft überformt. Sie - und erst recht die Handlungsweisen zur Befriedigung der Bedürfnisse - sind in eine gesellschaftlich konstruierte Weltansicht eingebettet. Es gibt nun gewisse Grundbedürfnisbereiche, welche in allen Weltansichten ihre Sinn Verankerung haben, deren Befriedigung wiederkehrende Probleme aufwirft und deren Bewältigung zum gemeinsamen (und schließlich institutionalisierten) Handeln bewegt. Auf diesem Abstraktionsniveau können dann, wie wir es in kulturanthropologischen und soziologischen Lehrbücher finden, die Probleme dieses Kernbereichs benannt werden. So, wie es in der (älteren) Fachliteratur verschiedene und ganz unterschiedlich lange Kataloge von menschlichen Bedürfnissen gibt, gibt es auch ein gewisses - allerdings weniger heterogenes Angebot an gesellschaftlichen Problem- bzw. Institutionsbereichen. Sie enthalten je nach Abstraktionsniveau einige wenige, unmittelbar mit Produktion und Reproduktion zusammenhängende Bereiche oder auch reichhaltigere Vorschläge verschiedener sozialer und psycho-sozialer Funktionen. Es wäre kaum nützlich, hier diese Liste bereichern zu wollen. Es genügt vielleicht, den Katalog so kurz und die Problembereiche so allgemein als möglich zu belassen. Leibliches Überleben gehört gewiß zu den dauerhaften Grundproblemen, denen bestimmte Bedürfnisse entsprechen. Um zu überleben ist offensichtlich in erster Linie Arbeit (in unserer Definition) nötig. Zusammenleben gehört ebenso gewiß in den einfachsten Grundkatalog: Zusammenleben sowohl in Arbeit wie in Geschlechtlichkeit (auch da sind wir ja mit gewissen Bedürfnissen ausgestattet) und wie im naturnotwendigen - aber selbstverständ-

9.4 Funktionen institutionalisierten Handelns

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lieh auch sinnhaften - Anschluß daran, der Sorge um die nachfolgende Generation. Die Konflikte im Zusammenleben bedürfen ebenfalls der Regelung. Und schließlich - da sind sich die säkularisierten Sozialwissenschaftler, Philosophen und Laien allerdings nicht einig - gehört der Umgang mit dem Außerordentlichen, den verschiedenen Ebenen dessen, was das unmittelbare Leben im Alltag transzendiert, dazu. Kurz: Arbeit, Geschlecht, Macht und vielleicht - Transzendenz. Zum Schluß dieser Betrachtungen über die Grundfunktion der Institutionalisierung noch eine Anmerkung zur Vermutung, daß Menschen nicht nur zu allen Zeiten einem Kernbereich ähnlicher Lebensprobleme gegenüberstehen, sondern daß sie diese auch ihrer Wichtigkeit entsprechend erkennen können. Das heißt unter anderem, daß sie im großen und ganzen auch wissen, wozu und warum eine Institution existiert. Den Mitgliedern einer Gesellschaft ist natürlich bekannt, daß eine Eheregelung der Eheregelung dient, es ist ihnen bekannt, welche Götter aus welchen Gründen Inzest verboten hatten, wie die ersten Regelbrecher bestraft wurden usw. Anders gesagt: In jeder Gesellschaft gibt es nicht nur Institutionen und ein elementares praktisches Wissen um die von ihnen getragenen Handlungsregeln, sondern auch ein - im engeren oder weiteren Sinn des Wortes - mythologisches Zusatzwissen (im Fachjargon „ethno-theories"), welches den Ursprung, die Funktionsweise und den Zweck der Regelungen erklärt. Für den Sozialwissenschaftler ist dieses Wissen ein wichtiger Bestandteil seines Untersuchungsgegenstands. Das Alltagswissen der „Eingeborenen" (von den Trobriand-Insulanern bis zu uns selbst) über die Institutionen und was sie leisten, ist ein wesentlicher Teil des sozialwissenschaftlichen Interessensbereichs „Institution"; die Erforschung dieses Wissens ist aber kein Ersatz für eine erfahrungswissenschaftliche, soziologische Theorie über diesen Gegenstand. 9.4.2 Die Zweitfunktion: Entlastung So, wie es verschiedene, im Leben jedes Menschen auftretende wichtige Probleme gibt, und so, wie es je nach natürlichen Bedingungen und geschichtlich entstandenen gesellschaftlichen Umständen unterschiedliche Auffassungen von den (abstrakt gesehen

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9. Handeln und Gesellschaft III

„gleichen") Lebensproblemen gibt, so weichen auch die konkreten Institutionen von Gesellschaft zu Gesellschaft „inhaltlich" voneinander ab. So muß z.B. jede Gesellschaft wirtschaftliche Grundfragen lösen, aber die Art und Weise der Lösungen ist sehr variabel. Institutionalisierte Handlungsweisen, denen sich eine wirtschaftliche Funktion zuschreiben läßt, finden sich sowohl in den frühen polynesischen Gartenbaukulturen wie bei den uralten Beduinenstämmen, wie im hochindustrialisierten Westeuropa. Auffallend sind die großen Unterschiede im Grad der Ausgliederung, Formalisierung und Verrechtlichung spezifisch wirtschaftlicher Institutionen, in der Autarkie bzw. Interdependenz der Wirtschaftsform, in der biographischen Sinnhaftigkeit des Wirtschaftens für den einzelnen usw. Gleich sind aber nicht nur die ursprünglichen subjektiven und intersubjektiven Handlungselemente und die Grundvoraussetzungen der Institutionalisierung, gleich ist auch das, was wir hier als Zweitfunktion der Institutionalisierung bezeichnen wollen: die „Entlastung". Sofort stellt sich die Frage: Entlastung wovon? ARNOLD GEHLEN beschreibt die Funktion als .. die allen Institutionen wesenseigene Entlastungsfunktion von der subjektiven Motivation und von dauernden Improvisationen fallweise zu vertretender Entschlüsse. (ARNOLD GEHLEN, „Urmensch und Spätkultur", S.22)

Betrachten wir sie unter ihren subjektiven, intersubjektiven und sozialen Aspekten. Die Vorteile einer auf Dauer gestellten, sozial approbierten Lösung gesellschaftlicher Handlungsprobleme für den einzelnen Handelnden liegen auf der Hand. Der Einzelne braucht, wenn das gesellschaftliche Repertoire an Institutionen Lösungen nicht nur bereitstellt, sondern ihn zu deren Gebrauch verpflichtet, erstens, nicht selbst nach Lösungen zu suchen. Zweitens muß er sich hinsichtlich der Lösung nicht mit anderen Handelnden erst mühsam (etwa über die Vorteile der einen gegenüber einer anderen Lösung argumentierend) abstimmen. Hinzu kommt, daß, drittens, die institutionalisierten Handlungsweisen „überpräg-

9.4 Funktionen institutionalisierten Handelns

157

nant" sind, 43 also leicht einprägsam und dadurch fast automatisch anwendbar. 44 Die Überprägnanz institutionalisierter Handlungsweisen bringt aber auch intersubjektive und soziale gesamtgesellschaftliche Vorteile. Intersubjektiv ist, erstens, der Vorteil der Verläßlichkeit: auch wenn es nicht die denkbar beste Lösung gewesen sein mag, die festgelegt wurde (in den ideologisierenden Selbstdeutungen der Institutionen wird das selbstverständlich kaum zugestanden) sie wurde nun einmal festgelegt und ist so eine Lösung, bei der man sich aufeinander verlassen kann. Sowohl für den einzelnen Handelnden wie auch zwischen den Handelnden wird (durch Überprägnanz) Mehrdeutigkeit und (durch Auf-Dauer-Stellung der Lösung) Unsicherheit vermieden. Das Handeln ist folglich im institutionalisierten Bereich auf Grund seiner Selbstverständlichkeit in besonderem Maße „entlastet". Zweitens braucht man eigene Handlungen, die institutionalisierten Regeln folgen, nicht zu rechtfertigen. Zunächst einmal wird es als selbstverständlich angesehen, daß man mit Fahrkarten die Straßenbahn benützen darf, ohne dafür besondere Begründungen abgeben zu müssen. Die Regelungen des Handelns können, drittens, verhältnismäßig einfach auf „Formeln" gebracht werden, und über die Formeln können Handlungsregeln ohne verhältnismäßig große Schwierigkeiten (Schwierigkeiten, die sonst z.B. schon wegen der unterschiedlichen Auffassungsgabe der Mitglieder einer Gesellschaft gehäuft auftreten würden) vermittelt und über die Generationen hinweg überliefert werden. Institutionen kann man so als eine Art kollektives Handlungsgedächtnis betrachten, das verhältismäßig leicht lehrbare Erinnerungen enthält. Bei GEHLEN heißt es:

43 44

Ein Ausdruck von WILHELM EMIL MÜHLMANN in „Homo Creator", Wiesbaden 1962. Die enge Beziehung zwischen Gewohnheitshandeln und Institutionalisierung ist in den vorangegangenen Überlegungen mehrfach herausgestellt worden. Institutionalisiertes Handeln hat im gesellschaftlichen Bereich die gleichen „ökonomischen" Vorteile wie individuelles Gewohnheitshandeln. In der lockeren Bedeutung des Wortes könnte man auch von „Instinktersatz" sprechen.

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9. Handeln und Gesellschaft III

Über lange Zeiten und große Zahlen hin können gerade die hohen und verdichteten Inhalte nur in den Formalismus eingewickelt überleben: Forms are the food of faith (Urmensch und Spätkultur, S. 26f.)

Einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen bringt Institutionalisierung viertens dadurch, daß sie gesellschaftliches Handeln „ökonomisch" organisiert. Wenn wir uns gesellschaftliches Handeln für einen Augenblick als ein Miteinandergehen vieler Menschen veranschaulichen, so gleicht Institutionalisierung der Einführung von „Gleichschritt". Der Hintere tritt dem Vorderen nicht in die Fersen, der Vordere dem Hinteren nicht auf die Zehen. Dabei spielt es keine große Rolle, welches Tempo der Gleichschritt hat, solange nur das einmal festgelegte Tempo von allen eingehalten wird. Wenn das Stolpern aufgehört hat, kann man zugleich auch noch andere Dinge tun, Marschierende können oder müssen bekanntlich auch noch singen. Doch wollen wir diese Metapher nicht weiter strapazieren - in jedem Fall hilft sie uns, eine wichtige, wenn nicht überhaupt die wichtigste gesamtgesellschaftliche Funktion der Institutionalisierung zu verdeutlichen. Wenn es gelungen ist, die Grundprobleme des Lebens durch festgelegte problemlösende Handlungsweisen mehr oder minder routinehaft abzudecken, kann (muß aber nicht) Aufmerksamkeit auf andere, noch gar nicht in den Vordergrund getretene Problembereiche gelenkt werden. Durch die Entlastung der auf den Grundproblembereich bezogenen Bedürfnisse wird Zeit und Energie zur Entdeckung solcher Probleme und gesellschaftliches Organisationspotential zu ihrer Lösung freigestellt. Diese These ist ein Kernstück des GEHLENschen Erklärungsversuches für die Entwicklung der Hochkulturen und auch für die Entstehung des „modernen Subjekts", der neuzeitlichen Form des Individualismus. SCHELSKY, dessen eigene Überlegungen zur Entstehung der „reflexionskritischen und analytischen Bewußtheit der Subjektivität des modernen Individuums" an GEHLEN anschließen, stellt die These so dar: Die von den großen Leitideen geschaffenen Institutionen - und wir können als solche Leitideen anführen: die Götter und Gott, die monogame Familie, das Recht, das Eigentum, die Herrschaft, die Demokratie, die kritisch-rationale Wissenschaft, die Toleranz, die Meinungsfreiheit usw. schaffen ihrerseits erst die entlasteten Handlungsfelder, in denen dann

9.4 Funktionen institutionalisierten Handelns

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sekundär funktionale Zweckmäßigkeiten untergebracht werden können. (HELMUT SCHELSKY, „Zur soziologischen Theorie der Institution", in: ders. (Hrsg.), „Zur Theorie der Institution", S. 23)

Inwiefern die Leitidee eines „autonomen Subjekts" (nach S C H E L S KY könnte das die „Dauerreflexion" der Intellektuellen sein) Institutionen schaffen kann und inwiefern diese mit den großen, subjekt-transzendierenden gesellschaftlichen Institutionen in Konflikt geraten können, ist eine noch unbeantwortete Frage der Theorie der modernen Gesellschaft.

10. Handeln und Gesellschaft IV: Historische

Institutionen

10.1 Tradierung von Problemlösungen über die Generationen Die Analyse historischer Institutionen ist nicht nur ein eigenes Gebiet der Soziologie, sondern sie gehört zu ihren Hauptaufgaben. Die Erforschung der Art und Weise, wie Handlungsregeln überliefert werden, bestimmen das Erkenntnisinteresse der Sozialisationstheorie und wichtige Teile der Familiensoziologie. Wie Institutionen „sich selbst" rechtfertigen und glaubwürdig erhalten und welche Institutionen der Legitimierung einer gesellschaftlichen Ordnung insgesamt dienen, sind Fragen, denen sowohl die Wissenssoziologie wie die politische Soziologie nachzugehen haben. Und die Untersuchung der vielfältigen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Durchsetzung von Handlungsregeln ist in den Aufgabenkatalogen der politischen Soziologie und der Rechtssoziologie enthalten, betrifft aber zugleich auch die meisten anderen sogenannten Bindestrich-Soziologien. Mit anderen Worten: das, was hier zum Schluß der handlungs- und institutionstheoretischen Überlegungen angesprochen wurde, bildet den Kernbereich der allgemeinen Soziologie und Kulturanthropologie, und zugleich auch den Gegenstand spezialisierter sozialwissenschaftlicher Disziplinen. Es ist also klar, daß hier kein Überblick über den Forschungsstand zu den angesprochenen Fragen auch nur zu geben versucht werden kann. Es wird nur darum gehen, manche der bisher erörterten Fragen und Antworten so zusammenzustellen, daß sich von ihnen aus ein Ausblick auf die verschiedenen Etagen und Räumlichkeiten des soziologischen Gebäudes eröffnet, welches auf den Fundamenten der Handlungs- und Institutionstheorie steht. Erinnern wir uns zunächst daran, daß Institutionen zwei Gesichter haben, ein nach hinten und ein nach vorne gewendetes. Sie sind einerseits das Ergebnis vergangener Handlungen der Vorfahren; sie wurden teils absichtlich gesetzt, später vielleicht absichtlich verändert und neu festgelegt, andererseits sind sie das kumulative

10.1 Tradierung von Problemlösungen über die Generationen

161

Resultat von Handlungen mit ursprünglich ganz anderen Zielen, die aber im Lauf der Zeit einen verpflichtenden Charakter annahmen. Sie bestimmen aber in jedem Fall zugleich das Handeln der jeweiligen Nachfahren. Auch die Vermittlung zwischen den vergangenen und den jeweils zukünftigen Handlungen geschieht im konkreten Handeln der Mitmenschen: in Geboten und Verboten, in einer Tradition oder mehreren. Die Handlungsregeln und ihre Begründungen, die Strafkataloge für Übertretungen - all das wird dem heranwachsenden Kind in mehr oder minder systematischer Weise übermittelt. Die Grundlagen dazu werden immer, in allen Gesellschaften (nun, es gibt Sonderfälle, z.B. Kibbuzim) im Verwandschaftssystem und meist in einer der verschiedenen Formen der Kernfamilie (nicht unbedingt der monogamen) gelegt. Dem heranwachsenden Kind stehen so nicht mehr alle - rein hypothetischen - Möglichkeiten offen, die im Beispiel unserer Robinsonade den Handelnden zunächst offenstanden. Das Kind wird in die Wirklichkeit eines geschichtlichen gesellschaftlichen Apriori geboren, die vor ihm mehr oder minder feststeht. Das Kind lernt, daß das, was die anderen tun, selbstverständlich ist, daß manches davon nur so und nicht anders getan werden darf. Institutionswissen (also sowohl praktisches Wissen um feste Handlungsregeln und deren Anwendung wie auch theoretisches Wissen um den Ursprung und die z.B. in Entstehungsmythen damit verbundene Bedeutung der Institution) wird zwar, wie gesagt, in allen Gesellschaften in einprägsamen Formeln gelehrt aber selbstverständlich nicht in völliger Isolierung, sondern in einigermaßen enger Verbindung mit den anderen zu überliefernden Teilen des gesellschaftlichen Wissensvorrats. In den schriftlosen, auf einer der verschiedenen Formen der Subsistenzwirtschaft beruhenden Gesellschaften wird Traditionsvermittlung zum allergrößten Teil über das Verwandtschaftssystem geleistet. Dort ist die Einbettung des Handlungswissens in die gesellschaftlich konstruierte Gesamtorientierung in der Wirklichkeit gerade in den Wissensvermittlungsvorgängen besonders deutlich. Nicht viel anders ist es auch in jenen verhältnismäßig einfachen Gesellschaften, in denen es institutionalisierte Altersgruppen gibt und in welchen solche Institutionen bestimmte Aspekte der Traditionsvermittlung übernehmen. Gewiß werden auch in manchen mündlichen Kultu-

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10. Handeln und Gesellschaft IV

ren (z.B. in der vorhomerisch griechischen, den alten keltischen, in denen mancher Bantu-Gesellschaften) bestimmte, nicht unwichtige Teile der Tradition von Spezialisten (Barden, Genealogie-Rezitatoren usw.) gepflegt und weitergegeben, aber das allgemein verbindliche alltägliche Handlungswissen wird auch da noch völlig im Verwandtschaftssystem an die Nachkommenschaft übermittelt. Die Rolle der Familie in der Vermittlung des Grundbestands an allgemeinem Handlungswissen bleibt auch in weniger einfachen Gesellschaften erhalten. Aber mit fortschreitender Arbeitsteiligkeit und einer ansatzweisen Technisierung (Entwicklung des Handwerks), mit dem Wachstum der Städte und der Einführung der Schrift kommt es, jedenfalls für Teile der sozial stärker differenzierten städtischen Bevölkerung, schon in den alten Hochkulturen zu einer Ausgliederung von Primär- und Sekundärsozialisation. Verschiedene Arten von Sonderwissen (auch Handlungswissen) werden in den neu entstehenden Schulen und Werkstätten, in der Kriegerausbildung usw. schon an verhältnismäßig zahlreiche Gesellschaftsmitglieder vermittelt. In Gesellschaften mit allgemeiner Schulpflicht und voller Alphabetisierung, also in den modernen Industriegesellschaften, erfaßt diese Entwicklung immer größere Teile der Bevölkerung. Wichtige Teile der Tradition, einschließlich des Handlungswissens, werden nicht mehr „nebenbei" in der Familie weitergegeben, sondern in eigens dafür bestimmten Vorgängen mit eigens dafür ausgebildetem Personal. Mit anderen Worten: Ein beträchtlicher Teil der Wissensvermittlung, einschließlich bestimmter Aspekte des Institutionswissens (z.B. in der politischen Bildung der heranwachsenden Bürger moderner Staaten) wird selbst institutionalisiert und institutionell spezialisiert und pädagogisiert.

10.2 Legitimierung von Problemlösungen Eine gewisse Routinisierung liegt schon der ursprünglichen Institutionalisierung des Handelns zugrunde und wird durch sie noch verstärkt. Je entfernter die Anfange der Institution liegen, umso routinehaft-selbstverständlicher werden auch die festgelegten Handlungsweisen (vom „So machen wir es" zum „So macht man

10.2 Legitimierung von Problemlösungen

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es" zum „So macht man es schon immer"). Allerdings treten dadurch die Lebensprobleme, für welche die tradierten Handlungsweisen Lösungen darstellten, in den Hintergrund; die auf sie bezogenen Bedürfnisse werden gewohnheitsmäßig abgedeckt. Je weniger sich die Probleme noch erkennen lassen und je weniger die betreffenden Bedürfnisse drängen, umso „sinnloser" können daher die Institutionen für spätere Generationen werden - sofern nicht ihre Bedeutung auf Leitideen hin objektiviert, versprachlicht, in einprägsame pädagogisierbare Formeln gefaßt und sorgsam zusammen mit den Handlungsregeln überliefert wird. Dieses Verständlichmachen des Sinns einer Institution stellt schon eine einfache Form der institutionellen „Selbst"-Begründung, der Legitimation dar. Ein Auf-Dauer-Stellen von einmal festgelegten Handlungsweisen schließt diese Minimalform der Legitimation von vornherein mit ein. In Gesellschaften, in denen die sekundäre Sozialisation (nach dem „Kindergarten" kommt die „Schule") stärkere Bedeutung hat, können neben den einfacheren Formen der Verständlichmachung auch schon weitaus stärker theoretisierte Legitimationen entwickelt werden mit deren Hilfe das Verständlichmachen des Sinns einer Institution in übergeordnete und kompliziertere Rechtfertigungen eingebaut wird. Solche Rechtfertigungen, nennen wir sie sekundäre Legitimation, entsprechen dem Erfordernis, nicht nur einzelne Handlungsweisen als notwendig verständlich zu machen und als althergebracht anzupreisen, sondern die verschiedenen Handlungsweisen ihrer Bedeutung nach miteinander zu verbinden und so einen Gesamtsinn der institutionellen Ordnung herauszuarbeiten. Auf allen Ebenen der Legitimation besteht die grundlegende Notwendigkeit einer gewissen Beständigkeit und einer gewissen Stimmigkeit untereinander. Eine gesellschaftliche Ordnung besteht in ihrem Handlungskern aus einer Struktur von Institutionen; diese insgesamt mit Sinn zu erfüllen, geht über das hinaus, was in der primären Legitimation geleistet wird. Entstehungsmythen, die in verschiedenen Versionen auftreten mögen, müssen vereinheitlicht werden. Sie und die Bedeutung der Rituale, die z.B. Herrschaftsübergabe begleiten, müssen aufeinander abgestimmt werden. Das bedeutet „Systematisierung" und „Theoretisierung"; diese Tätigkeiten werden immer mehr zur Aufgabe von Fachleuten. Von Lebenserhaltungstätigkei-

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ten freigestellte, unter Umständen untereinander um Macht konkurrierende Gruppen von Fachleuten schaffen ganze, auf Institutionen bezogene Sinnwelten. Einfach strukturierte Gesellschaften können sich derartige Spezialisten nicht leisten. Erst mit Überschußproduktion, Abschöpfung des Überschusses und dessen Lagerung und Umverteilung (wie z.B. in der altägyptischen Tempelwirtschaft) wird die sozialstrukturelle Grundlage für theoretische Legitimation geschaffen. Diese Bedingungen waren im alten Ägypten und in Messopotamien gegeben, und dort bildete sich eine institutionelle Gesamtordnung um die Herrschaftsinstitution des Königtums.45 Die Auf-Dauer-Stellung eines zunächst noch nicht voll institutionalisierten Königtums und der Ausbau von dessen systematischer religiöser Abstiitzung (bei unterschiedlichen Graden der Sakralisierung des Königtums: in Ägypten ist der Pharao ein Gott, in Mesopotamien bleibt der König - gerade noch - Mensch) läßt sich schön nachzeichnen. Die Legitimation der gesellschaftlichen Ordnung als eines „von innen erleuchteten Kosmions"46 wird durch theologische Bearbeitung ihres herrschaftlich-sakralen Kerns zum „Religionsunterricht". Das gilt bis heute, wenn man den Begriff „Religion" weit faßt; sonst muß man das Wort in seiner Anwendung für die verschiedenen ideologischen Legitimationsanstrengungen nach der französischen Revolution mit Anführungsstrichen versehen. Noch eine Bemerkung zu den Anlässen, die zur Entwicklung sekundärer Legitimationsanstrengungen führen können. Neben der seit den frühen Hochkulturen wachsenden Komplexität der institutionellen Struktur und des auf sie bezogenen Sinns ist es, ganz allgemein, die Konfrontation einer gesellschaftlichen Ordnung mit einer anderen (z.B. des Christentums mit dem Islam zur Zeit der Kreuzzüge), die besondere legitimatorische Leistungen motiviert. Das „So macht man es" kann zu einem relativistischen „Bei uns macht man es so, auf der anderen Seite des Bergs aber anders" 45

HENRI FRANKFORT nennt das Königtum „The very heart of the oldest civilized societies", in: „Kingship and the Gods", Chicago 1978, S. IX.

46

Vgl. ERICH VOEGELIN, „Die neue Wissenschaft der Politik", München 1977.

10.3 Sanktionierung von Problemlösungen

165

werden. Zur Selbstverständlichkeit festgelegter Handlungsweisen gehört es, daß Alternativen den Handelnden nicht in den Sinn kommen. Wenn sich die Alternativen in fremden Gesellschaften verkörpern, wird die Reflexionsstufe bezüglich der eigenen institutionellen Ordnung angehoben, und normalerweise auch die Reflexionsstufe der Legitimationen. 47 An der Basis der institutionellen Ordnung wirkt natürlich weiterhin die grundlegende Legitimation einzelner Handlungsregeln - in mehr oder minder deutlichem Zusammenhang mit der symbolischen Sinnwelt der theoretisch angehobenen Legitimation. Sie wird im „Kindergarten" der primären Sozialisation in formelhaften Regeln, Handlungsmaximen, Sprichwörtern usw. geliefert. Die Grenzen zu den angehobenen sekundär vermittelten Legitimationen in der Form von Gebots- und Verbotslisten mit Erläuterungen, theologischen Kommentaren usw. sind fließend. Es lassen sich also verschiedene Grundstrategien der Legitimierung analytisch unterscheiden, obwohl sie empirisch meist miteinander verbunden sind. So fragt MAX WEBER in seinem Kapitel über soziologische Grundbegriffe (in „Wirtschaft und Gesellschaft") nach den Geltungsgründen der legitimen Ordnung und stellt fest, daß die ursprünglichste Form der Legitimierung auf der „Heilighaltung der Tradition" beruht.

10.3 Sanktionierung von Problemlösungen Wenn wir uns einen bestimmten hypothetischen Extremfall der Institution bzw. der institutionellen Ordnung vorstellen, wäre ein Teil dessen, was anfanglich schon zur Definition der Institution herangezogen wurde, überflüssig: die auf Zwang beruhenden Durchsetzungsmechanismen. Dieser Extremfall bestünde darin, daß die in der Institution verkörperte Problemlösung immer die objektiv beste wäre und daß dies von allen Menschen auch verständnisvoll eingesehen würde. Die Annahme der sozusagen wis47

Das ist eines der Probleme, mit denen sich die Wissenssoziologie beschäftigt. Genaueres darüber ist nachzulesen bei PETER BERGER/ THOMAS LUCKMANN, „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit", Frankfurt/M. 1969.

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10. Handeln und Gesellschaft IV

senschaftlichen Rationalität der Institution und der universellen Vernünftigkeit der Menschen sind allerdings kontrafaktisch, sie schlagen den Tatsachen ins Gesicht. Aber auch schon rein logisch, vor aller historischen Wirklichkeit, gibt es mit diesen Annahmen gewisse unüberwindliche Schwierigkeiten. Erstens stellt sich die Frage: Die beste Lösung für wen? Wären die Lebensprobleme aller Menschen nicht nur immer die gleichen, sondern könnten sie auch ohne Kosten für andere gelöst werden, lägen die Dinge einfach - aber so ist es eben nicht. Wenn bei der Lösung „Kosten" anfallen, werden sie meist nicht von den Mächtigeren getragen. (Die Dinge sind in der historischen Wirklichkeit natürlich etwas verwickelter: Macht ist nicht immer eindimensional; Koalitionen sind möglich.) Immerhin läßt sich vermuten, daß sich bei der Festlegung institutionalisierter Handlungsweisen bei sonst gleichbleibenden Bedingungen - im Fall ungleicher Interessen die Interessen der Mächtigeren durchsetzen werden. Zweitens: Die subjektiven Relevanzsysteme der Menschen sind zwar im großen und ganzen von den objektiven Lebensbedingungen mitbestimmt, aber eben nur „im großen und ganzen" und nur /Mitbestimmt; verschiedene Erfahrungsansammlungen und Interessenperspektiven spielen mit hinein. Auch wenn wir kontrafaktisch annähmen, es gäbe eine beste Lösung für alle Probleme, ist noch lange nicht gesagt, daß sie dann auch von allen als die beste aller Lösungen angesehen würde. Wir brauchen diese abstrakten Überlegungen nicht weiter zu verfolgen. Klar ist, daß institutionelle Handlungsregelungen nicht ausschließlich aufgrund der Einsicht der Handelnden befolgt werden. Auch in Gesellschaften, in denen es keine auch nur im entferntesten verrechtlichten Institutionen gibt und die ohne Herrschaft und ohne Durchsetzungsstäbe auskommen, werden durch „Brauch und Sitte" Sanktionen gegen Regelbrüche ergriffen. Im Extremfall bestehen sie im Verstoß aus der Gemeinschaft. Ganz anders sieht es in komplexeren Gesellschaften aus. Die vorhin erwähnten sakralen Königtümer und erst recht die aus ihnen entstandenen vorderasiatischen Großimperien hat man mit gutem Grund als „orientalische Despotien" bezeichnet. Zur Durchsetzung der nicht mehr durch Brauch und Sitte zureichend legitimierten, von den Machtzentren nicht gerade zu ihrem Nachteil geregelten Handlungsweisen (Steuerabgaben, Zwangsarbeit, Kriegsdienst usw.) entwik-

10.3 Sanktionierung von Problemlösungen

167

kelten sich Erzwingungsstäbe mit faktischem oder angestrebtem Gewaltmonopol; der Zwang selbst wurde institutionalisiert. In solchen Gesellschaften, die zur Durchsetzung der Regeln legitim auf Zwang zurückgreifen können, wird ein diesbezügliches Wissen selbstverständlich zu einem bedeutsamen Bestandteil des Institutionswissens. Die Zwangsmaßnahmen brauchen nicht immer voll eingesetzt werden, wenn deren Androhung schon zugleich mit dem verinnerlichten Sinn der institutionellen Ordnung und der Bedeutung einzelner Institutionen mit durchschnittlichem Erfolg in die Sozialisation eingegangen sind. Man kann also sagen, daß zwischen einfachen und institutionell komplexeren Gesellschaften in der hier verwendeten Perspektive vor allem darin ein Unterschied besteht, daß in den letzteren die Traditionsübermittlung „pädagogisiert", die Legitimation „theologisiert" und die Sanktionierung „politisiert" wurde. Diese Bemerkung schließt an eine frühere Andeutung an: in einfachen Gesellschaften sind Institutionen multifunktional und bilden Institutionenbündel; mit ROBERT REDFIELD 48 könnte man von einer „primitiven Fusion" der Institutionen sprechen. In den alten Hochkulturen sondern sich spezifische Funktionen in bestimmten Institutionen ab und funktionsähnliche Institutionen beginnen eigene Bereiche auszubilden; die institutionelle Ordnung ist aber meist durch eine enge Verbindung politischer und religiöser Institutionen gekennzeichnet. Die moderne Gesellschaft schließlich entwikkelte sich zu einem „System", das sich aus institutionell spezialisierten „Subsystemen" zusammensetzt. Aber das ist eigentlich eine andere Geschichte.

48

Vgl. ROBERT REDFIELD, „Peasant Society and Culture", Chicago 1965.

Literaturhinweise

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Einführende Literatur zu Edmund Husserl (Angaben zur Primärliteratur im Text, Kapitel 1.3): Diemer, Alwin: Edmund Husserl. Versuch einer systematischen Darstellung seiner Phänomenologie, Meisenheim 1965 Pivcevic, Edo: Von Husserl zu Sartre. Auf den Spuren der Phänomenologie, München 1972 Spiegelberg, Herbert: The Phenomenological Movement. A Historical Introduction, Den Haag 1972, besonders 69-165

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Miller, Geoge A. und Eugene Galanter: Strategien des Handelns, Pläne und Strukturen des Verhaltens, Stuttgart 1973 Thomae, Helmut: Konflikt, Entscheidung, Verantwortung. Ein Beitrag zur Psychologie der Entscheidung, Stuttgart 1974

Literaturhinweise

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Glossar

Das Glossar führt nur einige, für das Verständnis notwendige Begriffe an. Für genauere Angaben verweisen wir die Leser auf die einschlägigen Wörterbücher und auf die zitierte Literatur.

Aufklärung Geistige und gesellschaftspolitische Bewegung vom Ende des 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts in Europa, die im wesentlichen vom Bürgertum getragen wurde. Sie setzte ein mit der Krise von Staat und Kirche, ihr Ziel war die Emanzipation von Autoritäten im gesellschaftlichen Bereich und die Ablösung der Metaphysik in den Wissenschaften.

Behaviorismus Auf B. WATSON zurückgehende Forschungsrichtung der Psychologie, die das Verhalten von Lebewesen als Reaktionen auf Einflüsse der Umwelt untersucht. Der Behaviorismus beschränkt sich ausschließlich auf die Analyse äußerer, beobachtbarer und meßbarer Verhaltensweisen und lehnt die Methode des Verstehens anderer und ihrer Motive ausdrücklich ab.

Evolutionstheorie Naturphilosophische Entwicklungslehre, wonach aus einfachen Formen kompliziertere Lebewesen hervorgehen. Auch die Menschheitsgeschichte wird nach diesem natürlichen und kontinuierlich ablaufenden Prinzip beschrieben. Selbst das historische Geschehen wird von der auf Kultur und Gesellschaft übertragenen Evolutionstheorie als notwendiger Ereignisprozeß angesehen.

Glossar

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Herrschaft Begriff zur Analyse der Gesellschaftsstruktur. Bezeichnet ein Verhältnis der Über- und Unterordnung, das sich nicht auf Personen, sondern auf die von ihnen eingenommenen sozialen Positionen bezieht. Legitime Herrschaft beruht auf der Einsicht der Beherrschten in die Nützlichkeit und Berechtigung der Herrschaft. Die Legitimation von Herrschaft kann in Situationen des sozialen (Werte-) Wandels erschüttert werden. MAX WEBER unterschied in seiner bekannten Typologie rationale, charismatische und traditionelle Herrschaft.

Idealtypus Der Idealtypus ist, nach MAX WEBER, ein Gedankenbild, welches nicht der historischen oder der „eigentlichen" Wirklichkeit entnommen ist (im Gegensatz zum REALTYPUS, der empirische Sachverhalte klassifiziert), sondern auf sie übertragen wird zum besseren Verständnis empirischer Phänomene. Ideologie Eine mehr oder minder systematisierte Weltansicht, deren Anwendung oder Verteidigung, zur Durchsetzung und/oder Verheimlichung der Interessen einer gesellschaftlichen Gruppe, insbesondere einer sozialen Klasse oder eines Standes, dient. Konstitution Vorgang des (stufenweisen) Aufbaus eines Phänomens, der in der Konstitutionsanalyse systematisch aufgedeckt wird. Kultur Die miteinander zusammenhängenden Sinnstrukturen (Symbolsysteme, Sprache, Deutungsmuster) einer Gesellschaft.

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Glossar

Kulturanthropologie Bezeichnung für eine grundlegende Sozialwissenschaft, die sich als soziologisch, linguistisch und psychologisch beeinflußte Anthropologie insbesondere in England (Social Anthropology) und in den Vereinigten Staaten von Amerika (als Cultural Anthropology) entwickelt hat. Die Kulturanthropologie untersucht die Sozialstruktur, die Handlungsweisen und Wissenssysteme einzelner Völker; sie erlaubt damit Vergleiche unterschiedlicher Völker hinsichtlich der anthropologischen Konstanten wie auch der sozialen Formbarkeit menschlichen Lebens. Legitimation Prozedur, in deren Verlauf die Rechtfertigung und Anerkennung von Institutionen und Herrschaft gesichert wird. Macht Nach M A X W E B E R S bekannter Definition „die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht". Methodologischer Individualismus Bezeichnung für verschiedene sozialwissenschaftliche Richtungen, die alle das Individuum als Ausgangspunkt haben und den Aufbau gesellschaftlicher Wirklichkeiten als Ergebnis der gesellschaftlichen Interaktion menschlicher Individuen begreifen. Ontogenese Die durch biologische und durch (soziale) Umwelteinflüsse bewirkten körperlichen und geistigen Entwicklungen eines Organismus im Verlauf seiner Lebensgeschichte von der Geburt bis zum Tod.

Glossar

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Ontologie Die allgemeine Lehre vom Seienden oder vom Sein, sofern es Wirklichkeit ist. Früher bildete die Ontologie einen Hauptzweig der Philosophie, für den neuzeitlichen Subjektivismus ist sie nicht mehr akzeptabel. Die Lehre vom wirklichen Sein erhält in der deskriptiven Phänomenologie E D M U N D HUSSERLS eine neue Gestalt. Persönliche Identität Allgemein: die Lebensform des Menschen. Die persönliche Identität eines Einzelnen entwickelt sich in der Ontogenese; sie fungiert als ein Steuerungsprinzip, nach dem sich die Wünsche, Pläne, Handlungen und Beziehungen eines Subjekts ausrichten. Phylogenese Bezeichnung für die biologische Stammesgeschichte von Lebewesen. Die Phylogenese des Menschen ist mit dem Auftreten des Homo Sapiens abgeschlossen. Reduktionismus Sammelbezeichnung für unterschiedliche theoretische Ansätze, die - im Falle der Sozialwissenschaften - für die gesamte soziale Welt ein grundlegendes theoretisches Erklärungsprinzip ansetzen. So zum Beispiel der Behaviorismus, der das Reiz-ReaktionsModell als Erklärungsprinzip verabsolutiert. Reziprozität Bezeichnung für die Wechselseitigkeit der Orientierung von Menschen aufeinander. Sanktion Stellungnehmende Reaktion der sozialen Umwelt auf eine Eigenschaft oder das Verhalten einer Person. Man unterscheidet negative Sanktionen, die den Betroffenen Güter (aller Art, z.B. auch

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Glossar

Anerkennung) entziehen, und positive Sanktionen, die ihm ebensolche einbringen.

Scholastik Sammelbezeichnung für die philosophischen und theologischen Lehren der zweiten Hälfte des Mittelalters. Die scholastische Erkenntnis beruft sich auf die Antworten von Autoritäten (Bibel, Kirche, Aristoteles). Sie ordnete sich selbst der Theologie unter, ihr Ziel war es, die Grundsätze des christlichen Glaubens für die Vernunft einsichtig zu machen.

Sozialisation Prozeß, in dessen Verlauf der Mensch zu einem Mitglied der Gesellschaft und Kultur wird, in dem er persönliche Identität entwickelt. Die erste Phase, in der das Kleinkind Handlungsfähigkeit, Relevanzmuster und Sprache erwirbt (meistens in der Familie), w i r d als PRIMÄRE SOZIALISATION b e z e i c h n e t . In d e r SEKUNDÄREN

SOZIALISATION lernt das handlungsfähige Subjekt bestimmte gesellschaftliche Rollen hinzu (z.B. den Beruf).

Sozialstruktur Die miteinander zusammenhängenden Institutionen (Handlungsnormierungen) einer Gesellschaft und die soziale Schichtung ihrer Mitglieder.

Strukturfunktionalismus Auf TALCOTT PARSONS zurückgehende Theorie, die soziale Handlungen als selbstregulierende Systeme in ihrem strukturellen Stellenwert und ihrer Funktion nach für das personale, kulturelle oder soziale System untersucht.

Symbolischer Interaktionismus A u f GEORGE HERBERT MEAD a u f b a u e n d e r F o r s c h u n g s a n s a t z , d e r

davon ausgeht, daß der Mensch zugleich in einer natürlichen und in einer symbolisch vermittelten Umwelt lebt. Als Mitglieder einer

Glossar

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gemeinsamen Kultur teilen Menschen mit jeweils bestimmten Bedeutungen behaftete gemeinsame Symbole (Gesten, Wörter usw.), die sowohl die Definition von Situationen als auch die in Situationen ablaufenden Interaktionen (Rollenübernahmen), insbesondere in der Sozialisation (Erwerb des „Me"), regulieren.

Transzendenz Seit KANT die philosophische Bezeichnung für alles, was die Erfahrung überschreitet.

Utilitarismus A u f JEREMY BENTHAM u n d J O H N STUART M I L L

zurückgehende

sozialphilosophische Lehre, die im „Nützlichen" den Maßstab für sittliches und moralisches Handeln erkennt. Grundlegende Prämisse: Jeder Mensch handelt von Natur aus so, daß er den größtmöglichen subjektiven Nutzen mit dem geringsten Kostenaufwand erhält.

Verstehende Soziologie Sammelbegriff f ü r verschiedene Theorietraditionen in der Soziologie. Die verstehende Soziologie findet ihren Ausdruck in der programmatischen Erklärung MAX WEBERS, daß die Erklärung von Handlungen das Verstehen des subjektiv gemeinten Sinns der Handelnden voraussetzt. Der Begriff geht zurück auf WILHELM DILTHEYS Unterscheidung von „erklärenden" Naturwissenschaften und „verstehenden" Geisteswissenschaften.

Wert(Urteils)Freiheit Auf MAX WEBERS wissenschaftstheoretische Arbeiten zurückgehender Begriff, der die Forderung nach Objektivität und interesselosen Wirklichkeitsbehauptungen für die Wissenschaft aufstellt. Wissenschaftler haben - solange sie Wissenschaft treiben und nicht zum Beispiel Politik - streng zwischen persönlicher Wertung und evidenter Aussage zu unterscheiden. Das heißt jedoch nicht, daß Werte nicht zum rechtmäßigen Gegenstand der Sozialwissenschaften werden könnten.

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Glossar

Wissenssoziologie Ein soziologischer Ansatz, der sich mit dem Verhältnis von Wissensformen (vom Alltagsverstand bis zur Wissenschaft und Ideologie) und Gesellschaftsstruktur (von archaischen Gesellschaften bis zum modernen Kapitalismus) beschäftigt. Der Ansatz hat eine Vorgeschichte, die mindestens bis zu MONTESQIEU zurückreicht, verdankt aber die wichtigsten Anstöße dem französischen Materialismus, den Enzyklopädisten des 1 8 . Jahrhunderts und der M A R X schen Auffassung von Sein und Bewußtsein im 19. Jahrhundert. Bedeutende Vertreter dieser Richtung im 20. Jahrhundert sind M A X SCHELER und K A R L M A N N H E I M . Eine gewisse Spaltung in Wissenssoziologie einerseits und Ideologiekritik andererseits erfolgte seit den vierziger und fünfziger Jahren.

Wissensvorrat gesellschaftlicher

-

Theoretischer Begriff, der die Gesamtheit des in einer Gesellschaft vorhandenen Wissens bezeichnet. Bedeutsam für den Wissensvorrat einer Gesellschaft ist die gesellschaftliche Verteilung von Fertigkeiten, Rezeptwissen und Sonderwissen, darin Inbegriffen die von Experten getragenen „höheren Wissensformen". Die Elemente des gesellschaftlichen Wissensvorrats entspringen den Vorgängen des subjektiven Wissenserwerbs; die Struktur des gesamten Wissensvorrats ist bestimmt von den institutionellen Vorgängen der Wissensvermittlung und entspricht der gesellschaftlichen Verteilung des Wissens. subjektiver

-

Gesamtheit der aufgrund subjektiver Relevanzstrukturen sedimentierten subjektiven Erfahrungen, die zum Teil unmittelbar gemacht, zum Teil aber auch vermittelt wurden. Viele Elemente des subjektiven Wissensvorrats sind versprachlicht, sie entstammen also den Taxonomien und Kategorien des gesellschaftlichen Wissensvorrats. Die Struktur des subjektiven Wissensvorrats ist durch

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die Vorgänge des (teilweise institutionalisierten) subjektiven Wissenserwerbs bestimmt.