Theorie der sozialen Ordnungspolitik [Reprint 2016 ed.] 9783110505184, 9783828202450


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German Pages 342 [352] Year 2003

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Table of contents :
Bernhard Külp zum 70. Geburtstag
Inhaltsverzeichnis
I. Sozialpolitik als Ordnungspolitik
Sozialpolitik als Technik? Die Entstehung einer ökonomischen Soziallehre und die Grenzen ihrer Anwendbarkeit – Lehren aus der Theoriegeschichte
Die Verfassung der Freiheit: Zum Verhältnis von Liberalismus und Demokratie
Die Ambivalenz des Staates – Zur Rechtfertigung öffentlicher Daseinsvorsorge
Europäisches Sozialrecht und Rechtsvergleich
II. Ordnungspolitik und soziale Marktwirtschaft
Die ethischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft
Soziale Marktwirtschaft als Verpflichtung
Reformstau in der Sozialpolitik – Ein Beitrag zur Strukturierung der Diskussion
Krise des Sozialstaates und die Nichtbeachtung ordnungsökonomischer Schranken
III. Soziale Ordnungspolitik und soziale Sicherung
Die Sozialhilfe zwischen Effizienz und Gerechtigkeit – wie kann der Spagat gelingen?
Eigenverantwortung in der Sozialhilfe: Einführung einer Beweislastumkehr bei der Hilfe zur Arbeit
Wie lassen sich mehr Wirtschaftlichkeit und Gerechtigkeit in der Sozialpolitik verwirklichen? Zur Notwendigkeit des Umbaus der Krankenversicherung
Zur Rolle der (ökonomischen) Politikberatung am Beispiel des Gesundheitswesens
Ökonomische Effekte der demographischen Entwicklung und Folgen für die Alterssicherung
IV. Arbeitsmarktordnung und Arbeitslosigkeit
Mehr Beschäftigung durch Bildungsreformen – vom Staats versagen zu mehr Wettbewerb
Regulierung statt Deregulierung – Die Crux deutscher Arbeitsrechtspolitik
Die Arbeitslosenversicherung zwischen Markt und Staat
V. Internationale Wirtschaftsordnung und Ordnungspolitik
Wieviel Vertrauen braucht der Kapitalismus?
Ausgewählte Aspekte der Finanzmarktethik
Die Rolle der Geldpolitik in Europa
Was hält eine Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung zusammen?
Verzeichnis der Autoren
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Theorie der sozialen Ordnungspolitik [Reprint 2016 ed.]
 9783110505184, 9783828202450

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Norbert Berthold / Elke Gundel (Hrsg.) Theorie der sozialen Ordnungspolitik

Theorie der sozialen Ordnungspolitik

herausgegeben von Norbert Berthold und Elke Gundel

®

Lucius & Lucius • Stuttgart

Anschrift der Herausgeber: Prof. Dr. Norbert Berthold JuHus-Maximilians-Universität Würzburg Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik, Sanderring 2 97070 Würzburg Dipl.-Volksw. Elke Gundel Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e. V. (BDA) Abteilung Arbeitsmarkt Breite Straße 29 10178 Berlin

Gefördert durch die Stiftung IMPULS des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e. V. (VDMA), Frankfurt a. M.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

ISBN 3-8282-0245-4 (Lucius & Lucius) © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2003 Gerokstr. 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung, Verarbeitung und Ubermitdung in elektronischen Systemen.

Druck und Einband: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany

Bernhard Külp zum 70. Geburtstag Am 10. April 2003 wird Bernhard Külp 70 Jahre alt. Die Glückwünsche allerdings mit der Vorstellung des Jubilars anhand einer Darlegung seiner Fachveröffentlichungen zu beginnen, verbietet sich angesichts eines so umfangreichen Werkes zwangsläufig — dies zeigt all zu deutlich das Veröffentlichungsverzeichnis in der Festschrift zu Ehren Bernhard Külps aus, dem Jahre 1998. Bernhard Külp ist neben zahlreichen anderen Veröffentlichungen vor allem durch seine BuchVeröffentlichungen „Verteilung: Theorie und Politik" „Grundlagen der Wirtschaftspolitik" und „Wohlfahrtsökonomik" bekannt geworden. Kennzeichnend für all seine Publikationen ist die Veranschaulichung des rationalen Umgangs mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen, die zunächst als Wissensvermittlung erscheint, zugleich aber die systematisch klärende Ordnung stiftet und mit weiterfuhrenden Impulsen verbindet. Bernhard Külp beherrscht — wie heute nur noch selten — die Kunst der Konzentration auf das Wesentliche. Sie läßt den Autor zum Diener seines Lesers werden, dessen Bedürfnisse und Verständnishintergrund die Richtschnur bilden, an die sich der Autor bindet. Betrachtet man die Vielzahl der Beiträge des Jubilars, wird deutlich, wie schwer es ihm gefallen sein muß, seine Lehrbücher im Interesse des Benutzers auf das Unverzichtbare zu beschränken und von Weiterem freizuhalten. Doch spiegelt dies auch die Person Bernhard Külps wider, die er stets bescheiden hinter dem Sachargument zurücktreten läßt. Es geht ihm stets um das beste verfügbare Wissen, nicht um eigene Eitelkeiten. Viele, die ihn als Lehrer und Wissenschafder erleben durften, konnten von seiner gesunden Kritikfähigkeit profitieren — er kann keinesfalls als wissenschaftlicher „Missionar" bezeichnet werden. Er gab uns Mitarbeitern jederzeit den Freiraum, eigene Wege zu denken. Jeder seiner Schüler durfte kennenlernen, was Freiheit heißt — aber auch: wie mit Freiheit umzugehen ist. Die politische Machbarkeit, die er nie aus den Augen verliert, vermittelte er stets als Richtschnur wissenschaftlicher Argumente. Als Maxime seines sozialpolitischen Werkes ist der bei Eucken (1990, S. 318) zitierte Satz von Katharina II. zu nennen: „Wir arbeiten nicht auf Papier, sondern auf der empfindlichen Menschenhaut". Die Autoren aus Wissenschaft, Wirtschaft, Kirche und Politik, die mit ihren Beiträgen Bernhard Külps wissenschaftliches Werk würdigen, zeigen, welche Bedeutung dem Gedanken einer Theorie der sozialen Ordnungspolitik in der heutigen Zeit zukommt. Sie weisen darauf hin, daß der Sozialstaat nur zu retten ist, wenn er gründlich umgebaut wird. Es wird vor allem deutlich, daß sich die dringend anstehenden Reformen einer ordnungspolitischen Grundentscheidung zugunsten marktwirtschaftlicher Steuerung verpflichtet fühlen müssen.

Unter sozialer Ordnungspolitik ist mehr als die „Idee der Freiheit" zu verstehen. Es ist ein Rahmen — eine „Freiheit unter dem Gesetz" — gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Handelns, zu dem wenigstens drei Elemente gehören: die Begrenzung der Macht (ihre Kontrolle, Verantwortlichkeit und zeitliche Befristung), die Ermutigung der Initiative von unten (die Bürgergesellschaft und das Unternehmertum, eben der freiwillige Sektor) und die Grundfreiheiten der Unversehrtheit der Person und der Meinungsfreiheit. Im engeren Sinn besteht dieser Ordnungsrahmen immer aus Rechten und den dazugehörigen Institutionen, also dem Rechtsstaat. Als in der Tradition der Freiburger Schule stehend und engagierter Verfechter einer ökonomisch fundierten Sozialpolitik, hat Bernhard Külp sich bereits mit Fragen der sozialen Ordnungspolitik beschäftigt, als dies in Deutschland kaum einen Ökonomen interessiert hat. Den Grundstein für diese Richtungsentscheidung legten seine „wissenschaftlichen Eltern", bei denen er als wissenschaftlicher Assistent tätig war, bei Elisabeth Liefmann-Keil in den Jahren 1955-1957 und bei Wilfried Schreiber in den Jahren 1961-1965. In den Jahren 1965 bis 2001 blieb immer ein Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit die Sozialpolitik. In der Zeit 1957-1961 lag ein mehrjähriger „Ausflug in die Praxis" als - zunächst stellvertretender — Geschäftsführer beim Bund Katholischer Unternehmer. Das Zusammenstellen eines solchen Bandes ist immer mit sehr viel Arbeit verbunden. Wir dürfen an dieser Stelle allen Autoren für die gute Zusammenarbeit, den Mitarbeitern des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, insbesondere Frau Karin Schmidt, der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und dem Verlag Lucius & Lucius für die Unterstützung dieses Vorhabens danken. Herzlicher Dank gebührt nicht zuletzt der Stiftung IMPULS des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e. V. (VDMA), ohne deren großzügige Förderung die Veröffentlichung dieser Festschrift nicht möglich gewesen wäre. Wir wünschen dem Jubilar und nicht zuletzt uns allen, daß er sich auch weiterhin in bewährter Weise seinem liebsten Hobby zuwenden wird: der Arbeit an und mit der sozialen Ordnungspolitik.

Würzburg, Berlin, im Januar 2003

Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis

I.

Sozialpolitik als Ordnungspolitik Gerold Bliimle / Nils Goldschmidt Sozialpolitik als Technik? Die Entstehung einer ökonomischen Soziallehre und die Grenzen ihrer Anwendbarkeit - Lehren aus der Theoriegeschichte

11

Viktor J. Vanberg Die Verfassung der Freiheit Zum Verhältnis von Liberalismus und Demokratie

35

Guy Kirsch Die Ambivalenz des Staates - Zur Rechtfertigung öffentlicher Daseinsvorsorge

53

Bernd von Maydell Europäisches Sozialrecht und Rechtsvergleich

67

II. Ordnungspolitik und soziale Marktwirtschaft Karl Liehmann Die ethischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft

83

Angela Merkel Soziale Marktwirtschaft als Verpflichtung

97

Karl Homann Reformstau in der Sozialpolitik - Ein Beitrag zur Strukturierung der Diskussion

107

Egon Görgens Krise des Sozialstaates und die Nichtbeachtung ordnungsökonomischer Schranken

119

III. Soziale Ordnungspolitik und soziale Sicherung Norbert Berthold / Sascha von Berchem Die Sozialhilfe zwischen Effizienz und Gerechtigkeit — wie kann der Spagat gelingen? Winfried Boecken Eigenverantwortung in der Sozialhilfe: Einfuhrung einer Beweislastumkehr bei der Hilfe zur Arbeit

137

159

Eckhard Knappe / Robert Arnold / Stefan Härter Wie lassen sich mehr Wirtschaftlichkeit und Gerechtigkeit in der Sozialpolitik verwirklichen? Zur Notwendigkeit des Umbaus der Krankenversicherung

173

Peter Oberender / Jochen Fleischmann Zut Rolle der (ökonomischen) Politikberatung am Beispiel des Gesundheitswesens

195

Ulrich Goppel Ökonomische Effekte der demographischen Entwicklung und Folgen für die Alterssicherung

215

IV. Arbeitsmarktordnung und Arbeitslosigkeit Lothar Funk / Hans-Peter KJös Mehr Beschäftigung durch Bildungsreformen — vom Staatsversagen zu mehr Wettbewerb

227

Manfred Löwisch Regulierung statt Deregulierung — Die Crux deutscher Arbeitsrechtspolitik

253

Elke Gundel / Christoph Kannengießer Die Arbeitslosenversicherung zwischen Markt und Staat

269

V. Internationale Wirtschaftsordnung und Ordnungspolitik Rainer Hank Wieviel Vertrauen braucht der Kapitalismus?

287

Jens Weidmann Ausgewählte Aspekte der Finanzmarktethik

301

Hans-Joachim Klöckers Die Rolle der Geldpolitik in Europa

315

Thomas Straubhaar Was hält eine Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung zusammen?

333

Verzeichnis der Autoren.

343

I. Sozialpolitik als Ordnungspolitik

Sozialpolitik als Technik? Die Entstehung einer ökonomischen Soziallehre und die Grenzen ihrer Anwendbarkeit - Lehren aus der Theoriegeschichte Gerold Bliimle / Nils Goldschmidt

1.

Is it all in Marshall? Die Genese der Neoklassik als sozialpolitisches Anliegen

„It's all in Marshall" — wohl selten ist einem Ökonomen eine umfassendere Würdigung zuteil geworden als mit diesem emphatischen Ausspruch von Arthur Cecil Pigou1, mit dem er die zentrale Bedeutung seines Lehrers Alfred Marshall als absolute Autorität der Wirtschaftswissenschaften unterstrich. Gleichzeitig hat Pigou aber durch seine spezifische Sichtweise auch eine Tradition der neoklassischen Lehre eingeleitet, die das Bild von Alfred Marshalls Denken in einer unzutreffenden Weise verkürzt hat, indem es „auch ganz ihre ethische Färbung, die so manchen neoklassischen Jünger gestört hatte"2 verlor. Damit trat Marshalls zentrale Zielsetzung fur die Wirtschaftswissenschaften, „the issue of the elimination of poverty"3, und somit auch der „andere Marshall"4 in den Hintergrund. Dieser Hintergrund erhellt sich jedoch, wenn zwei wesentliche Aspekte berücksichtigt werden, die Marshalls Verständnis von Sozialpolitik in eine englische theoriegeschichtliche Tradition stellen. Wie Adam Smith, der in „The Theory of Moral Sentiments" mit dem Prinzip der sympathy eine dem Menschen angeborene Fähigkeit, sich in Mitmenschen hineinzudenken, als zentrales Regulativ neben das Selbstinteresse stellte, so geht Marshall davon aus, daß der Einzelne weit mehr Uneigennützigkeit besitzt als er zumeist offenbart. Von hier aus ergibt sich für Marshall die Aufgabe des Ökonomen: ,,[T]he supreme aim of the economist is to discover how this latent social asset can be developed most quickly, and to account most wisely"5. Für Marshall ist somit „generosity of the human spirit and charity toward others ... a natural part of human evolution"6,

1

2 3 * s 6

Vgl. Cansier (1989), S. 231. Vgl. zur Relevanz des Diktums bis in die 20er Jahre hinein die Schilderung in der Keynes-Biographie von Robert Skidelsky (1992), S. 495. Rieter (1989), S. 150. Ganley (1998), S. 434. Rieter (1989), S. 152. Marshall (1890), S. 9. Ganley (1998), S. 436. Wobei sich Marshall hierbei eng an die biologischen Vorstellungen Herbert Spencers anlehnt; zum Überblick: Hodgson (1993), S. 99-108. Inwieweit dies jedoch als ein weiteres Argument für die neuerdings von Hodgson (2001), S. 103 postulierte

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Gerold Blümle/Nils Goldschmidt

deren Auswirkungen mit dem Wirtschaftswachstum an Bedeutung zunehmen und in diesem Zuge freiwillige soziale Aktivitäten gewissermaßen wie ein superiores Gut sozialpolitische Wirksamkeit erlangen würden. Mit Adam Smith teilt Marshall also eine optimistische Sicht der ökonomischen Entwicklung und wie Smith ordnet er auch der Bildung von Humankapital eine wichtige Bedeutung als staatliche sozialpolitische Aufgabe zu. Der zweite Bezug zu einer englischen Tradition Marshalls ist in Ideen der englischen Romantik zu sehen. Als „Richtung konservativer Sozialpolitik" kennzeichnet Paul Mombert 7 die Entwicklung der Sozialpolitik in England und geht als deren Hauptvertreter auf Thomas Carlyle (1795-1881) und John Ruskin (1819-1899) ein, dessen „Unto This Last" bei einer Befragung anläßlich der Gründung der englischen Labourparty 1906 von ihren Mitgliedern als einflußreichstes Werk - also einflußreicher als das „Kapital" von Marx — angegeben wurde. 8 Die Forderung von Marshall nach einem Unternehmertum, das ,bitterliche Tugenden"9 beherzigt, weist größte Ähnlichkeit mit Carlyles sozialaristokratischen Vorstellungen auf, in denen den Unternehmern als Führern der Entwicklung die Rolle von Nachfolgern der alten Feudalaristokratie zukommt 10 , eine Rolle, die Ruskin auch den „Captains"11 der Industrie zuweist. 12 Daß Marshall in dieser Tradition hinsichtlich der Methode aber eine weitere Sicht aufweist, als man sie einem reinen Neoklassiker 13 zuordnen möchte, zeigt sich auch darin, daß er am Anfang des dritten Kapitels der „Principles" unter Bezug auf das bekannte Schmollerzitat zur „Beidfußigkeit" der WirtschaftswisNähe zwischen Schmoller und Marshall taugt, kann hier nicht erörtert werden. Es ist jedoch nicht ohne Pikanterie, daß sich Hodgson in seinem Argument auf Pribram stützt, der sich an der angegebenen Stelle (Pribram, 1992, S. 415) auf die überaus kritische Einschätzung Schmollers durch Walter Eucken in dessen Aufsatz „Wissenschaft im Stile Schmollers" (1940, S. 471) beruft. 7 Vgl. Mombert (1927), S. 436. 8 Vgl. Kemp (1989), S. 39. ' Vgl. Rieter (1989), S. 153. i» Vgl. Mombert (1927), S. 438. » Ruskin (1860), S. 163. In Fn. 11 (ebd., S. 333) wird darauf verwiesen, daß Ruskin den Ausdruck „Captains of Industry" einer Kapitelüberschrift von Carlyles „Past and Present" entsprechend formuliert habe. 12 Hier ließe sich zugleich eine Parallele zu Schmoller ziehen, der eine ähnliche Rolle wie Ruskin für das ritterliche Unternehmertum für die Aufgabe des preußischen Staates sieht: „Daher wird man jedenfalls für Deutschland behaupten können: die Initiative zur sozialen Reform liege besser in den Händen einer weitblickenden Monarchie mit einem gesunden hochstehenden Beamtentum, das, über den kämpfenden Klassen stehend, mit ihnen .... die rechten Institutionen schaffen." Schmoller (1919), S. 367. Pointiert schließt Schmoller das 2. Kapitel des 4. Buches („Die Klassenkämpfe, die Klassenherrschaft und deren Rückbildung durch Staat, Recht und Reform") mit dem Ausdruck der Hoffnung: „Es würde ein im Staatsrat gesprochenes Wort von Kaiser Wilhelm II ... wahr, daß der preußische Staat, weil er die festeste monarchische Verfassung und Verwaltung habe, auch fähig sei, die soziale Reform am kühnsten in die Hand zu nehmen." Schmoller (1919), S. 647. 13 Auf diesem Verständnis beruht auch der Satz Frambachs (1999), S. 230: „Selbst den Neoklassikern Alfred Marshall (1842-1924) und Arthur Cecil Pigou (1877-1959) erscheint Arbeit in der ausschließlichen Betrachtungsweise als dissatisfaction zu eingeschränkt."

Sozialpolitik als Technik?

13

senschaften14 die Wichtigkeit der Induktion betont und danach auch der Hoffnung Ausdruck gibt, daß „these two schools will always exist"15. Auch bei der Erörterung von Methodenfragen16 und neueren Entwicklungen17 geht er sehr differenziert auf die historische Methode und die deutsche Nationalökonomie ein, während im Gegenzug Schmoller eine schroff ablehnende Position zu Marshalls Lehre einnahm.18 Das Ergebnis ist also ambivalent: Marshalls Ausgangspunkt ist zwar eine explizite Verknüpfung der ökonomischen Theorie mit sozialen Fragestellungen, die in den Hoffnungen auf eine Lösung der sozialen Probleme in einer liberalen englischen Tradition steht. Zugleich wird aber sein Optimismus hinsichtlich der langfristigen Entwicklung auch dazu beigetragen haben, daß sein Werk, insbesondere von seinen Epigonen, als eine in Analogie zur Physik entwickelte Mechanik der Ökonomie verstanden wurde — und somit ein Zurückdrängen sozialer Anliegen aus der wissenschaftlichen Ökonomik bzw. die Erwartung, diese mittels ökonomischer Analysen zu lösen, forcierte. Die Entwicklung in Deutschland, die letztlich zu einem ähnlichen Ergebnis zu Anfang des 20. Jahrhunderts führte, war indessen eine völlig andere. Die Aufnahme der klassischen Lehre führte aus zwei in diesem Zusammenhang interessierenden Gründen zu einer Sonderentwicklung.19 Zum einen bedingte die deutsche Kleinstaaterei ein längeres Nachwirken der merkantilistisch-kameralistischen Tradition mit dem entsprechenden Staatsverständnis. Die Bedeutung des Staates auch im Hinblick auf die soziale Frage war somit größer als in Großbritannien. Dies wurde durch den weiteren Aspekt verstärkt, daß die extrem individualistische schottische Philosophie, nach der der Staat ausschließlich Ausdruck und Diener individueller Interessen ist, in einem Spannungsverhältnis zum Idealismus Kantscher Prägung stand. Ein organisches Staatsverständnis läßt die Pflicht gegenüber der Gesellschaft neben die Verfolgung eigennütziger Ziele treten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte in Deutschland eine Aufwertung der geschichtlichen Methode (Leopold von Ranke 1795-1886; Theodor Mommsen 1817-1903) und es entwickelte sich eine Historische Rechtsschule (Friedrich von Savigny 1779-1861; Carl Friedrich Eichhorn 1781-1854), so daß sich insbesondere Wilhelm Georg Friedrich Roscher (1817-1894) bemüht, diese Ideen auf die Nationalökonomie zu übertragen. Mit Roscher beginnt >< Vgl. Marshall (1890), S. 29 mit Verweis auf Schmoller (1911), S. 478: „Das Schlußverfahren, das der Induktion zugrunde liegt, ist ... nichts als die Umkehrung des in der Deduktion verwendeten Syllogismus. Seit Jahren pflege ich den Studierenden zu sagen, wie der rechte und linke Fuß zum Gehen, so gehöre Induktion und Deduktion gleichmäßig zum wissenschaftlichen Denken." Vgl. hierzu auch nochmals die Darstellung bei Hodgson (2001), S. 100 f. « Marshall (1890), S. 30. >« Vgl. Marshall (1890), S. 774-779. " Vgl. Marshall (1890), S. 766-769. « Vgl. dazu Rieter (1989), S. 152. 19 Vgl. Brandt (1992), S. 162.

14

Gerold Blümle/Nils Goldschmidt

die ältere historische Schule 20 u. a. in der Forderung nach Anwendung historischer Methoden in der Nationalökonomie, in der Frontstellung gegen Individualismus, Utilitarismus und die Determiniertheit des ökonomischen Geschehens 21 sowie schließlich in der Betonung sozial-ethischer Beurteilungen der sozialen Frage, die wesentlichen Aspekte herauszubilden, die zur Zeit der jüngeren historischen Schule zu den beiden Methodenstreiten führten. In der wirtschaftpolitischen Kontroverse jener Jahre, in deren Verlauf 1871 der Journalist und Heidelberger Privatdozent Heinrich Bernhard Oppenheim die neue Richtung um Schmoller als „Kathedersozialismus" 22 bezeichnete, entwickelte sich die „Idee einer imperialistischen konservativen Sozialpolitik"23 in welcher, so Schmoller, die Vertreter des Staates, „diese einzig neutralen Elemente im sozialen Klassenkampf, die Initiative zu einer großen sozialen Reformgesetzgebung ergreifen" 24 . Im Unterschied zu England mit den Gewerkschaften als wesentlichem Träger der Sozialpolitik 25 , war Sozialpolitik in Deutschland im Wesentlichen Aufgabe des Staates.26 Obwohl Schmoller in der weiteren Entwicklung Deduktion keineswegs mehr ablehnte und auch im Rahmen der Sozialpolitik der Theorie eine gewisse Rolle zusprach 27 , charakterisiert der junge Schumpe-

20 Vgl. Brandt (1993), S. 52. Wobei festzuhalten bleibt, daß die Kritik naturgesetzlicher Gesetzmäßigkeiten für die Nationalökonomie die ältere historische Schule und insbesondere Bruno Hildebrand nicht davon abgehalten hat, in der Erkenntnis statistischer Zusammenhänge -wirkliche ökonomische Regelmäßigkeiten zu erblicken; vgl. Hildebrand (1866). Gottfried Eisermann zieht daraus den originellen Schluß, daß damit „dem Staat als Schutz der sozial und ökonomisch Schwachen die Rolle des wahrhaft liberalen Hüters des Volkswohlstandes zugewiesen" wurde, die bei Karl Knies dann zu der Idee auswuchs, „daß eine den faktischen sozialen und ökonomischen Möglichkeiten angepaßte Vielzahl von Theorien jeweils dem Staat als gestaltender und verantwortlicher Instanz die Mittel zur sinnvollen Interferenz an die Hand geben müßte." Eisermann (1998), S. 19. Eine Idee, die, wie sich zeigen wird, dann wieder zur Programmatik in der Debatte der 20er Jahre werden konnte, freilich ohne den Fokus auf das staatliche Handeln, sondern auf die Relevanz einzelner Theorien zu legen. 22 Vgl. Mombert (1927) S. 479 sowie zum Kontext Brandt (1993), S. 194. 23 Mombert (1927), S. 479. » Zit. nach Mombert (1927) S. 479. 25 Eine Position, die in Deutschland auch durch eine liberale Gruppe unter Führung Brentanos vertreten wurde. 26 Vgl. z. B. Schmidt (1997), S. 45. So betont Schmoller im „Grundriß": „Schon heute können wir sagen, die Monarchie nebst ihren Organen und die Arbeiterwelt stellten die lebendigsten politischen Kräfte in Deutschland dar." Schmoller (1919), S. 647. Noch das 1923 in der 11. Aufl. erschienene Lehrbuch von Johannes Conrad „Grundriß zum Studium der politischen Oekonomie. 1. Teil: Nationalökonomie - Allgemeine Volkswirtschaftslehre" - das Pribram (1992), S. 441 übrigens noch in seiner „Geschichte" besonders herausstellt - sieht die Instrumente der Sozialpolitik ausschließlich in den Händen des Staates. Entsprechend ist auch die Darstellung der Sozialpolitik im „2. Teil: Volkswirtschaftspolitik - Besondere Volkswirtschaftslehre", (Conrad, 1923a, S. 215-227) Ausdruck seiner organizistischen Vorstellungen. 27 Hierzu z. B. Schmidt (1997) und Prisching (1997). 21

Sozialpolitik als Technik?

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ter polemisierend die historische Schule als „economics without thinking"28. Jedoch - und dies fuhrt in das Zentrum der folgenden Überlegungen ein - war es wiederum Schumpeter, der knapp zwanzig Jahre später zur Verbindung von Marshall und Schmoller aufgerufen hat: „Der Vergleich mit Marshall drängt sich auf.... Auch er, für uns wie Schmoller Mann objektiver Wissenschaft und Lehrer positiver Leistung, hat seinen Impuls subjektiv aus seiner sozialen Sympathie empfangen und im sozialen Dienst den Sinn seines Arbeitens gesehen. ... Principles und Grundriß enthalten im Keim neunzig Prozent von dem, was heute und morgen geleistet werden kann."29 Dieses vermeintliche „Umschwenken" Schumpeters und seine Bedeutung für die Re-Interpretation des Schmollerprogramms ist Gegenstand von Abschnitt 2. In Abschnitt 3 wird aufgezeigt werden, daß die Versöhnung von „Grundriß" und „Principles" geradezu einen Grundzug der wirtschaftswissenschaftlichen Debatte in den 20er Jahren darstellte und einer ökonomischen Theorie der Sozialpolitik den Weg bereitet hat. Der Beitrag schließt mit einigen kritischen Überlegungen zum Verhältnis von Ökonomik und Sozialpolitik aus heutiger Sicht. Den Grundtenor des vorliegenden Beitrages hat jedoch bereits Paul Mombert 1927 — wenn auch im hegelianischen Duktus — zusammengefaßt: Da es, wie Mombert bei seiner Würdigung Schmollers schreibt, „dem Weltgeist gefallt, sich nach dem Prinzip des Gegensatzes zu entwickeln"30, kam es zu Beginn des Jahrhunderts zu einer Gegenbewegung: „Heute können wir, vornehmlich auch in Deutschland, den deutlichen Niedergang der historischen Schule, ein Wiedererwachen der theoretischen Forschung und des theoretischen Interesses beobachten. ... So würde sich also in dem, was sich hier anbahnt, die dialektische Entwicklung vollenden, um alsdann auf einer neuen Ebene wieder zu beginnen. Wenn dies der Fall ist — was heute noch nicht entschieden werden kann — dann hat auch die historische Schule der Nationalökonomie ihre Mission erfüllt."31

2.

Gustav von Schmoller und die Probleme von Schumpeter

Ob Schumpeter zur Abfassung seines Aufsatzes von 1926 „Gustav von Schmoller und die Probleme von heute" wirklich von Arthur Spiethoff, dessen Fürsprache er die Berufung auf den Bonner Lehrstuhl wohl weitestgehend zu verdanken hatte, „gedrängt" wurde, bleibt Spekulation32, Fakt ist jedoch, daß Schumpeters

» Zit. nach Kurz (1989), S. 13. 29 Schumpeter (1926), S. 387 f. Zur Würdigung Marshalls durch Schumpeter siehe auch seine Ausführungen in Schumpeter (1951), insb. S. 95. so Mombert (1927), S. 48. 51 Mombert (1927), S. 48. 32 So - mit Verweis auf den damaligen Bonner Fakultätsassistenten Alfred Müller-Armack die Einschätzung von Reginald Hansen (1993), S. 111, Fn. 4. In ähnlicher Weise könnte man einen Brief Schumpeters an Spiethoff vom September 1925 deuten, in dem sich

16

Gerold Blümle/Nils Goldschmidt

Beitrag für reichlich Verwirrung in der eigenen Zunft führte. Sprach der Schmoller-Schüler Carl Brinkmann noch eine Dekade später von der „schönen Würdigung Schmollers"33, fühlten sich die jungen Theoretiker jener Jahre von Schumpeter brüskiert: „Gewisse Charaktermängel", befand Alexander Rüstow, seien die „Kehrseite seiner Genialität" und Schumpeter sei sich „offenbar ganz und gar nicht bewußt gewesen", wie „sein Aufsatz bei der wissenschaftspolitischen und taktischen Lage innerhalb der Entwicklung der deutschen Nationalökonomie •wirken mußte"34. Tatsächlich muß es erstaunen, daß Schumpeter, im Kontrast zu seiner Suche nach Anschlußfahigkeit an die internationale Theorie und seiner zugleich kritischen Einschätzung der historischen Schule in „Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie" von 190835, nun im Aufsatz von 1926 Schmoller und dessen Forschungsprogramm ein günstiges Urteil ausstellt und betont, „wieviel er und seine Botschaft unserer Zeit bedeuten, eine wie lebendige Macht sein Gedankenkreis ist"36. Mit gleichem Pathos urteilt er in seinen Ausführungen zur Wirtschaftstheorie der Gegenwart in Deutschland, daß „die Werke von Schmoller, Sombart, M. Weber ... auf einem Niveau stehen, das sie jeder im einzelnen noch so treffenden Einwendung im Kern unerreichbar macht, und daß sie dem internationalen Fond von Einsicht etwas hinzugefügt haben, das nicht wieder verlorengehen kann"37. Diese scheinbare Kehrtwende im Werk Schumpeters ist aber weniger erstaunlich, wenn man — einer theoriegeschichtlichen Betrachtung angemessen — nicht lediglich auf die spezifische Wirkung einzelner Arbeiten und Aussagen eines Autors fokussiert, sondern die Überlegungen sowohl in den werkbiographischen als auch, wie es in Abschnitt 3 geschehen wird, in den personenübergreifenden Zusammenhang stellt.

Schumpeter für die verzögerte Einreichung des Aufsatz-Manuskriptes entschuldigt; Schumpeter (2000), S. 103 f. 33 Brinkmann (1937), S. 119. 34 Rüstow in einem Brief an Walter Eucken vom 2. Mai 1929. Zit. nach Janssen (2000), S. 36. 35 „Alle jene Beziehungen der reinen Ökonomie zu anderen Disziplinen, die sich in Vorworten und gelegentlichen Äußerungen breit machen, haben uns nur wenig zu geben — oder nichts. Im Interesse der Klarheit ist es geboten, ihre Nichtigkeit zu betonen und diesen Ballast über Bord zu werfen"; Schumpeter (1908), S. 553. Zum Kontext Swedberg (1994), S. 46 und Kurz (1989), S. 22 f. Anzumerken ist jedoch, daß Schumpeter der Wirtschaftsgeschichte und -beschreibung für die Erfassung der Dynamik in der wirtschaftlichen Entwicklung auch schon in diesem Frühwerk eine wichtige Rolle zubilligt; vgl. Schumpeter (1908), S. 617; dazu Ebner (2000), S. 364 f. Trotz dieses Bemühens von Schumpeter zeigen jedoch die Schriften des Vereins für Sozialpolitik jener Jahre (vgl. Boese, 1939), daß man sich in der theoretischen Diskussion zunächst mit Fragen der Profitrate, der Wert- und Preislehre beschäftigte. Vgl. auch Kurz (1989), S. 17-61. 36 Schumpeter (1926), S. 339. In gleicher Weise erscheinen Schumpeter seine Ausführungen im „Grundriss" (1914) als „unbefriedigend"; Schumpeter (1926), S. 355, Fn. 1. In seiner posthum erschienenen „Geschichte der ökonomischen Analyse" ist die Einschätzung ebenfalls wohlwollender; Schumpeter (1965), S. 991 ff. 37 Schumpeter (1927), S. 4 f.

Sozialpolitik als Technik?

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Wie insbesondere Richard Swedberg (1995) aufgezeigt hat, läßt sich das Programm Schumpeters bereits mit der „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" von 191138 als ein Programm bzw. eine Vision der Sozialökonomik39 beschreiben, das in der Anerkennung der Einsicht, dass „[n]iemals ... eine Tatsache bis in ihre letzten Gründe ausschließlich oder ,rein' wirtschaftlich"40 ist, ihren Ursprung hat. Zwar bleibt die Sozialökonomik für Schumpeter zeitlebens das zentrale Motiv, jedoch findet bei Schumpeter — folgt man den Überlegungen Swedbergs — zwischen der ersten (1911) und zweiten Auflage (1926) der „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" ein Wechsel in der argumentativen Stoßrichtung statt. Gilt es ihm 1911 als Aufgabe, ein „Gesamtbild der Volkswirtschaft"41 in der gesamten kulturellen Breite zu entwerfen, fokussiert Schumpeter später auf das spezifische Feld der Ökonomie und den Nutzen anderer Sozialwissenschaften für die ökonomische Analyse. Wie es in der „History" heißt, zielt sein Programm auf „(scientific) economics"42, eine Formulierung, die weit besser die Intention Schumpeters zum Ausdruck bringt als der in der deutschen Ausgabe allgemeine Begriff „Wirtschaftswissenschaften"43. D. h., Schumpeter geht es spätestens seit Mitte der 20er Jahre insbesondere um die Beantwortung ökonomischer Fragestellungen mittels klar ausgearbeiteter Werkzeuge, der wissenschaftliche Ökonom im Sinne Schumpeters zeichnet sich durch die „Beherrschung von Techniken"44 aus. Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine Interpretation des Schmoller-Aufsatzes von Schumpeter, die zentral für das Verständnis der Verbindungslinien von Schumpeter zur historischen Schule ist, aber insbesondere auch für die Probleme, die Schumpeter mit dem Anliegen des Schmollerprogramms gehabt hat. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: zwar teilt Schumpeter das Ziel der historischen 38

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Zurecht verweist Harry Dahms (1995, S. 7) auf die Bedeutung des Terms „sozial" schon in Schumpeter (1909). Der Begriff findet sich in systematischer Verwendung bereits den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bei Heinrich Dietzel (erstmals Dietzel, 1883, S. 566), wohl auf einen Vorschlag Adolph Wagners hin (Wagner, 1892, S. 265 f.). Dietzel selbst fuhrt den Begriff „Sozialökonomik" auf die „économie sociale" bei Jean-Baptiste Say im „Cours complet d'économie politique pratique" zurück. Zur Begriffsgeschichte vgl. ausfuhrlich Swedberg (1998), S. 177-179 sowie die entsprechenden Anmerkungen. Siehe auch Halbweiss (1983), S. 76. Auch für Max Weber gilt der Begriff wohl als „der modernste und beste Ausdruck"; so Hennis (1987), S. 124, Anm. 22. Zum Ganzen Goldschmidt (2002), S. 149, Anm. 52.

Schumpeter (1911), S. 1. So der Titel des siebten Kapitels der „Theorie" in der Edition von 1911. Bekanntlich fehlt dieses Kapitel in der zweiten Auflage wie auch in der englischen Übersetzung. Diese Exklusion begründet Schumpeter u. a. mit der Klage, daß das Kapitel „mitunter die Aufmerksamkeit des Lesers abgelenkt [hat] von den Problemen trockener ökonomischer Theorie"; Schumpeter (1926a), S. XIII. Die grundlegende Bedeutung dieses siebten Kapitels für die Analysen Schumpeters wurde vor allem von Shionoya (1990, 2000) herausgearbeitet. Zum Überblick vgl. neuerdings Peukert (2002). « Schumpeter (1954), S. 21. « Schumpeter (1965), S. 53. 44 Schumpeter (1965), S. 42. 41

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Schule, nämlich die notwendige Stärkung sozialpolitischer Maßnahmen, nicht jedoch die Mittel der bisherigen Vorgehensweise. An die Stelle einzelner, diskretionärer und zumeist staatlicher Maßnahmen tritt die systematische, ökomischtheoretische Fundierung von Sozialpolitik. D. h., auch wenn man Schmoller — wie gesehen - keineswegs theoretische Erklärungen für seine sozialpolitischen Überlegungen absprechen kann, zielt seine Sozialpolitik — „unzufrieden mit unsern bestehenden socialen Verhältnissen, erfüllt von der Notwendigkeit der Reform"45 - letztlich auf Elemente und Institutionen der sozialen Umgestaltung46, Schumpeter hingegen sucht eine Lösung der sozialen Frage durch die Erkenntnis ökonomischer Gesetzmäßigkeiten. Schumpeter schreibt: „Immer noch bleibt das soziale Ideal wissenschaftlichem Urteil entrückt, wenngleich nicht der rationalistische Teil seiner Begründung. Aber immer näher kommt die Zeit, in der das soziale Wollen einheitlich genug sein wird, um in jeder gegebenen Situation Zielsetzung mit den Mitteln der Wissenschaft möglich zu machen. Schon jetzt kann man auf vielen Gebieten ruhig mit den Kategorien ,falsch' und .richtig' operieren. ... In allen diesen Fragen ist das prinzipielle Bedenken viel weniger wichtig als das Maß von Sicherheit, mit dem man präzise Wirkungen der einzelnen Maßregeln voraussagen kann. Wenn nur die Wissenschaft in dieser Beziehung ausreichend weiterkommt, so braucht dieses Bedenken uns nicht zu viel Schmerzen machen."47 Und mit Blick auf Schmoller fährt Schumpeter fort: „Das ist auch der Sinn, in welchem Schmoller Werturteile ausgesprochen und Ziele gesetzt hat. ... Nur dass zu dieser Zeit eine Kunst war, was einmal eine Technik werden wird."48 Zwar hebt Schumpeter auf die zukünftigen Möglichkeiten eines „kultivierten", geradezu konsensualen Kapitalismus ab49 und tritt hiermit sicher in die Schmol-

Schmoller (1872), S. 94. Entsprechend ist Birger Priddat uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er schreibt: „Schmoller is not an apodictic theoretican of national economics. He is rather a protagonist of solving the social question through social means"; Priddat (1989), S. 48. Inwieweit Schmoller hierbei ein interventionistisches Staatsverständnis hatte, kann hier nicht weiter untersucht werden; vgl. zum Überblick Engelhardt (1996). 47 Schumpeter (1926), S. 351 f. « Schumpeter (1926), S. 352. 49 Einen gewissen Abschluß finden diese Gedanken in seinem späteren Werk „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" (engl., 1942), die später von Galbraith in die sogenannte Konvergenztheorie einbezogen wurden. Der reife Kapitalismus fuhrt nach Schumpeter zu dauernder Konzentration und zur Ausbildung großer planender Hierarchien („Autonomie der Technostruktur"; Galbraith (1968), S. 99). Daß wohl ausgerechnet der Schumpetersche dynamische Unternehmer diese Prognose seines „Erfinders" zunichte gemacht hat, ist wohl ein hübsches Apercu zu den Leistungen des Mannes, der mit denen seiner Fachkollegen nicht immer gnädig umgegangen ist. 45

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lerschen Fußstapfen50, in der Forderung nach einer Technik der Sozialpolitik (anstelle einer „intuitiven" Kunst bei Schmoller) liegt er jedoch weit näher an den Überlegungen Max Webers zu einer Ziel-Mittel-Analyse als vorrangiges Element einer sozialtechnologischen Forschungsaufgabe51 als an denen des Hauptes der jüngeren historischen Schule. Das Fehlen einer theoretisch fundierten ökonomischen Sozialtechnik ist dann auch der bleibende Kritikpunkt Schumpeters am Schmollerprogramm. „Unrecht", so schreibt Schumpeter, haben Schmoller und sein amerikanischer Nachfahre Mitchell „in der Unterschätzung der Bedeutung, welche die Bearbeitung der jeweils vorhandenen gedanklichen Mittel, des Apparats der Theorie ... hat"52, einer Theorie verstanden als „Anweisungen zu Problemlösungen"53. Mag Schumpeter sich als Erbe Schmollers verstehen, der „die Schulter dargeboten hat, auf der die realistische Forschung heute steht"54, für die Sozialpolitik hat er jedoch die Erbschaft ausgeschlagen und sich einer Ökonomisierung der Sozialpolitik zugewandt.

3.

Sozialpolitik als Wissenschaft. Die Debatte um die theoretische Fundierung der Sozialpolitik in den 20er Jahren

Begreift man Theoriegeschichte nicht als die Abfolge singulärer und autonomer Lehrmeinungen („Dogmen"), sondern als Darstellung der wissenschaftlichen Reflexion historisch gegebener, wirtschaftlicher Problemkonstellationen, ist einsichtig, daß Schumpeters Verständnis von Sozialpolitik kaum ein kontingentes

5» Vgl. Schumpeter (1926), S. 16 f., Fn. 1. Dazu Schellschmidt (1997), S. 163. Auch in „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" verweist Schumpeter (1942), S. 76 f. auf die Bedeutung Schmollers als Garanten für die Einsicht, daß die kapitalistische Entwicklung die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft zerstören werde: „Seine Exzellenz Professor von Schmoller ... hatte nicht viel vom Revolutionär an sich und neigte nicht sehr zu agitatorischen Gesten. Aber er stellte ruhig dieselbe Wahrheit fest. Das Warum und Wie ließ auch er ungesagt." 51 „Da wir (innerhalb der jeweiligen Grenzen unseres Wissens) gültig festzustellen vermögen, welche Mittel zu einem vorgestellten Zweck zu fuhren geeignet oder ungeeignet sind, so können wir auf diesem Wege die Chancen, mit bestimmten zur Verfugung stehenden Mitteln einen bestimmten Zweck überhaupt zu erreichen, abwägen und mithin indirekt die Zwecksetzung selbst ... als praktisch sinnvoll oder aber nach Lage der gegebenen Verhältnisse sinnlos kritisieren"; M. Weber (1922), S. 149. Zur Interpretation dieser Stelle im Kontext wissenschaftlicher Sozialpolitik vgl. z. B. Pagenstecher (1990), S. 75. Ähnlich merkt Swedberg (1994), S. 126 mit Blick auf die Wirtschaftssoziologie an, daß „Schumpeter ... gleichsam das Rad ein zweites Mal erfunden" habe. 52 Schumpeter (1926), S. 368. Reduktionismus und Abstraktion sind für Schumpeter geradezu die Wesenselemente der Sozialwissenschaften: „Wir müssen die Erscheinungen in ihre Elemente auflösen und jedes dieser Elemente für sich betrachten. Dann zeigt sich die sonst unsichtbare Gesetzmäßigkeit. So auch in den Sozialwissenschaften"; Schumpeter (1915), S. 558. Dazu Eisermann (1968), S. 63. 5J Schumpeter (1926), S. 365. 54 Schumpeter (1926), S. 384.

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Ereignis der Ökonomik gewesen ist, sondern im Kontext einer breiteren Debatte um die theoretische Fundierung der So2ialpolitik stehen muß. Die Tagung zum 50. Jubiläum des Vereins für Sozialpolitik im Jahr 1922 kann dabei als ein früher Kristallisationspunkt der Debatte gelten. Mit Zurufen „sehr gut" wurde Heinrich Herkner, Nachfolger Schmollers auf dem Berliner Lehrstuhl und im Vorsitz des Vereins55, gefeiert als er programmatisch in seiner Eröffnungsrede feststellt: „Ich möchte hier sofort die Bemerkung einschalten, daß mir, wenn man für eine stärkere Betonung der politischen Tätigkeit des Vereins sich entscheiden sollte, die Absonderung der Sozialpolitik von der Wirtschaftspolitik heute weniger denn je möglich erscheint. Eine erfolgreiche Produktions- und Valutapolitik ist unter gegenwärtigen Verhältnissen die weitaus beste Sozialpolitik, die überhaupt getrieben werden kann"56. In der Diskussion zum Referat Herkners konstatiert Götz Briefs einen „geistesgeschichtlichen Wendepunkt", und kommentiert die Äußerungen des Schmoller-Erben als „einen Kurswechsel, den Schmoller, wenn er ihn erlebt hätte, mit großem Erstaunen bemerkt hätte"57. Emil Lederer sprach von dem „erschütternden Eindruck" des Referats Herkners und anderer Redner, in denen letztlich „der Meinung Ausdruck gegeben [wurde], daß wir uns heute Sozialpolitik nicht mehr .leisten' können, daß Sozialpolitik Reichtum und Einkommen der Bevölkerung schmälere, die wirtschaftlichen Gesetze außer Acht lasse"58. Dieser Perspektivenwechsel wurde für Lujo Brentano schließlich zum Anlaß aus dem von ihm mitbegründeten Verein auszutreten, denn es „scheint die jüngere Generation der Nationalökonomen den Verein für Sozialpolitik in einen Verein gegen Sozialpolitik verwandeln zu wollen"59. Dieser „Zusammenbruch des Kathedersozialismus"60 findet einen Gutteil seiner Erklärung in der zeitgeschichtlichen Lage nach dem ersten Weltkrieg, einem Bruch der Kontinuität, die mit Schmoller ihren Repräsentanten des vergangenen Kaiserreiches hatte.61 Die damit einhergehende Distanz zum Staat als Exponenten sozialpolitischen Handelns manifestierte sich in denselben Jahren in der scharf geführten Diskussion um die Einführung des 8-Stunden-Tages. Dabei war es wiederum Heinrich Herkner, der mit seinem Aufsatz „Sozialpolitische Wandlungen in der wissenschaftlichen Nationalökonomie" den Stein ins Rollen brachte. Mit diesem Beitrag geißelte Herkner, dessen Monographie über die „Arbeiterfrage" aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts als „das" allgemeine Lehrbuch zur Sozialpolitik galt, auf das Schärfste die sozialpolitische Gesetzgebung der Nachkriegsjahre und das Verhalten der „machttrunkenen" Gewerkschaften, die die irrige Auffassung vertreten würden, daß „bei Konflikten zwischen sozialpolitischen Daß Herkner aber von Schmoller wohl kaum als sein unumstrittener Nachfolger angesehen wurde, verdeutlicht die Umbruchstimmung jener Jahre; vgl. Goldschmidt (2002a), S. 5-12. 56 Herkner (1923), S. 93. 57 Briefs (1923), S. 136. 58 Lederer (1923), S. 151. 59 Brentano (1923), Sp. 554. 60 Tönnies (1923), Sp. 659. 61 Vgl. zu dieser Einschätzung insb. Häuser (1994). 55

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und wirtschaftlichen Interessen ... die sozialpolitischen voranzugehen"62 haben.63 Diese Kehrtwende Herkners64 hin zu einer produktivitätsorientierten Sozialpolitik wurde von nicht wenigen Autoren begeistert aufgenommen, wollen sie doch - in einer frühen Formulierung Karl Pribams - „Sozialpolitik heute nur insofern gelten lassen, als sie mit der Produktivität der Wirtschaft nicht in Widerspruch tritt"65. So kann man hierzu die zwischen Wirtschaftspolitik und sozialer Fürsorge schwankende Idee der „Konsumentenpolitik", wie sie von der Assistentin Herkners, Charlotte Leubuscher, gefordert wurde66, zählen wie auch die Position des damaligen jungen Freiburger Dozenten Eduard Heimann, daß Wirtschaftspolitik Produktivitätspolitik sei, „Sozialpolitik aber ist ihr wichtigster Bestandteil"67. Im vorliegenden Kontext erscheint aber insbesondere eine Facette der Diskussion relevant, die eher eine konzeptionell-methodologische ist. In seiner viel beachteten Artikelserie über die „Krise in der Sozialpolitik" in der „Sozialen Praxis" von 1923 sah der damalige Leiter des Sozialen Museums in Frankfurt und spätere Professor für Sozialpolitik und Soziologie Heinz Marr in der „Glaubenskrise"68 der Sozialpolitik eine Chance, der „ständig wachsenden Divergenz zwischen sozialer Erkenntnis und sozialpolitischem Handeln"69 Herr zu werden. Genau diese Kluft gedanklich zu überbrücken, kann als das zentrale Anliegen der damaligen Theoretiker der Sozialpolitik angesehen werden. Leopold von Wiese formuliert bereits 1922 mit Blick auf die notwendige Reform des Vereins: „Die Aufgabe scheint mir darin zu bestehen: von einer unbeabsichtigt soziologischen Sozialpolitik zu einer mit Absicht methodologisch geordneten gesellschaftswissenschaftlichen Sozialpolitik voranzuschreiten"70. Dabei lassen sich in diesen Bestrebungen zwei grundlegende Tendenzen rekonstruieren, die von verschiedenen Autoren jener Jahre immer wieder in den Vordergrund geschoben worden sind. Erstens wird eine Rückbindung der Sozialpolitik an die allgemeine Wirtschaftspolitik gefordert. Vorbereitet durch die Überlegungen Werner Sombarts über die „Ideale der Sozialpolitik" als „Maßnahmen der Wirtschaftspolitik, die Erhaltung, Förderung oder Unterdrückung bestimmter Wirtschaftssysteme oder ihrer Bestandteile zum Zwecke oder zur Folge haben"71 und die schon damals

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Herkner (1923a). Zum Kontext vgl. die auch heute noch scharfsinnige Analyse von Briefs (1924). 64 Vgl. zu diesem Bruch in den Vorstellungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie zum Zusammenhang zur Forderung nach wertfreier Wissenschaft im Denken Herkners z. B. Backhaus/Hanel (1994), S. 165-172. « Pribram (1925), S. 262. « Leubuscher (1923), S. 388. " Heimann (1924), S. 60. « Marr (1923), Sp. 548. w Marr (1923), Sp. 571. ™ Wiese (1922), Sp. 1015. 71 Sombart (1897), S. 8. Gerhard Kleinhenz (1970), S. 47 billigt Sombart mit dieser Definition sogar die Idee einer „Wirtschaftsordnungspolitik" zu. Vgl. zur damaligen Diskussion um 63

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als klassisch angesehene Definition Otto von Zwiedineck-Südenhorsts von Sozialpolitik als „die auf Sicherung fortdauernder Erreichung der Gesellschaftszwekke gerichtete Politik"72, propagierte man nun Sozialpolitik als einen Teil im „Fundament der Volkswirtschaft"73: „Mehr denn je ist es bei der großen Verarmung Deutschlands allerdings notwendig, daß man sich bei allen politischen Maßnahmen, also auch bei der Sozialpolitik, über Ziele und Mittel so klar wie möglich wird. Es geht nicht an, für überflüssige Ziele Aufwendungen zu machen, und bei der Wahl der Mittel müssen wir stets und sorgsam an das ökonomische Prinzip denken"74. Die „Blüte der Wirtschaft"75 wurde also zum Zentralpunkt einer ökonomischer Sozialpolitik zur „Hebung der Arbeiterschaft und die Erweichung der Proletarität"76. Hiermit war aber zweitens auch eine wissenschaftliche Umorientierung geboten. Nochmals Adolf Weber: „Die unendlich große Fülle der sozialpolitischen Mittel unter volkswirtschaftlichem Gesichtspunkte auf ihre Möglichkeit und Zweckmäßigkeit zu untersuchen, wird die Aufgabe der Sozialpolitik bleiben müssen, die in unser Fachgebiet hineingehört".77 Die Ökonomisierung der Sozialpolitik wird also in ihrer wissenschaftlichen Ausprägung zugleich mit ihrer Rationalisierung verbunden. Der Weg aus dem Dilemma, in das sich die Sozialpolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Forderung Max Webers nach Werturteilsfreiheit einerseits und der Verhaftung in sozialpaternalistischen Vorstellungen in der historisch-ethischen Tradition andererseits manövriert hatte, schien nun mit einem Mal auffindbar. Sozialpolitisches Denken wurde dann wieder hoffähig, wenn es — eingebunden in das Konzept der Wirtschaftswissenschaften — dem methodischen Anspruch der Moderne genügte: wertfrei, rational, wissenschaftlich. Der in der klassischen Tradition stehende Franz Eulenburg führt dazu aus: „In Deutschland ist die Frage [der Werturteile, Anm. d. Verf.] gerade mit Rücksicht auf die Stellung der Sozialpolitik durch das Vorgehen Max Webers besonders lebhaft erörtert worden. Erkenntnistheoretisch ist sie heute überwiegend zugunsten der Wertfreiheit der Wissenschaft entschieden: wissenschaftliche Sozialpolitik ist nach dieser Auffassung nicht möglich. Das schließt jedoch ein Doppeltes nicht aus. Die Wissenschaft

Sombarts Ideen z. B. Pribram (1925), S. 240 f. und kritisch Amonn (1924), S. 160 f. und Amonn (1926). 72 Zwiedineck-Südenhorst (1911), S. 393. Folglich kann für Zwiedineck-Südenhorst (1924, S. 114) Sozialpolitik nur einen „neutralen Charakter" haben. 73 Ad. Weber (1923), S. 133. Ad. Weber (1925), S. 23. " Briefs (1926), S. 240. Briefs (1926), S. 240. 77 Ad. Weber (1925), S. 24. In ähnlicher Weise betont auch Herkner (1924), S. 218: „Ein Sozialpolitiker der nur Sozialpolitiker sein wollte, würde heute der Sozialpolitik zum Verhängnis werden. Mehr denn je verlangt unser Volk und unsere Zeit Männer, denen Wirtschafts- und Sozialpolitik keine voneinander getrennten Gebiete, sondern eine sich vollständig durchdringende Einheit bedeuten".

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und sie allein kann objektive Untersuchungen über die Wirkungen von Maßnahmen leiten und objektive Ergebnisse daraus ziehen. Sie kann ferner auf Grund von Erfahrungen und logischen Erwägungen die Mittel erörtern, die zu bestimmten Zielen fuhren, indem sie den komplizierten Ursachenzusammenhang aufdeckt. Sie verzichtet wohl darauf, von sich aus Ziele und Ideale der Sozialpolitik aufzustellen, sondern nimmt diese als gegeben an. Aber sie kann allerdings mit ihren Methoden die Lösungsmöglichkeiten bringen."78 Die Trennung von Zielen und Methoden und die Tendenz, soziales Denken mit der Idee der Effizienz zu verbinden, kann so als ein wesentliches Charakteristikum der deutschsprachigen nationalökonomischen Forschung in den 20er Jahren angesehen werden. Aus diesem Blickwinkel mag es dann auch nicht mehr verwundern, daß die wissenschaftliche Diskussion um die Wirtschaftskrise 1925/26 mit einer ähnlichen Attitüde geführt wurde. Die Debatte, die sich insbesondere an Gustav Cassels Vorstellungen zur „Verringerung der Arbeitslosigkeit und Notstandarbeiten" entzündete79, fand mit dem Beitrag Adolf Lampes unter dem Titel „Theorie contra Sozialpolitik" ein charakteristisches Pamphlet „Es ist grundsätzlich verfehlt", so Lampe, „die Analyse ökonomischer Kausalreihen mit ethischen Postulaten zu belasten"80. Und nicht weniger vehement fahrt er fort „Sozialökonomische Beweisführungen haben mit derartigen Wertkategorien schlechthin nichts zu tun. Sie müssen unbeirrt durch alle Wünsche, die zur Gestaltung unserer Gesellschaftswirtschaft geltend gemacht werden können, durchgeführt werden"81. Ohne die Diskussion hier weiter zu vertiefen82, kann man dem (späten) Pribram auch mit Blick auf die Sozialpolitik zustimmen, wenn er schreibt: „Die Veränderungen, die das ökonomische Denken in den ... Jahren der Zwischenkriegszeit in den westlichen Ländern erfuhr, berührten eher die allgemeine Behandlungsweise wirtschaftspolitischer Probleme und nicht so sehr die

7» 79

Eulenburg (1924), S. 420 f. Vgl. Cassel (1926). Cassel fordert darin als einzig mögliche Lösung zur Überwindung der Arbeitslosigkeit Lohnsenkungen. Jede soziale Maßnahme lehnt er ab. In der Zeitschrift „Soziale Praxis" wurde daraufhin eine Debatte zum Thema geführt. Vgl. zur Debatte Janssen (2000), S. 394-408. In einer Bemerkung Schumpeters (1926/27), S. 154 zur vorgebrachten Kritik an Cassel läßt sich nochmals deutlich die Position des Bonner Ordinarius sowie der jüngeren Theoretiker generell gut resümieren: ,,|Ich] bitte ... den Leser um zwei Dinge: Einmal um Aufmerksamkeit für eine Analyse, die nur dann einfach sein könnte, wenn sie falsch wäre. Sodann um einen Geist der Wissenschaftlichkeit, der nach der Wahrheit und nicht danach fragt, ob diese Wahrheit angenehm ist oder nicht. Wie notwendig diese Mahnung ist, beweist die Art, wie die bekannten Darlegungen Professor Cassels ... aufgenommen worden sind. Soviel ich sehe, hat man sein Argument moralisch missbilligt, als ultraliberal abgetan - wie wenn damit irgendetwas gesagt wäre - und nicht in einem einzigen Fall ernsthaft analysiert."

Lampe (1927), Sp. 261. «> Lampe (1927), Sp. 261. 82 Die vorgelegte Argumentation bestätigt sich auch in der Debatte um die Konjunkturtheorie in jenen Jahren, wie wir an anderer Stelle dargelegt haben; vgl. Blümle/Goldschmidt (2002). 80

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Grundzüge der vorherrschenden hypothetisch argumentierenden Lehren"83. Sozialökonomik bedeutete in jenen Jahren also vor allem die Anwendung der verloren geglaubten klassischen Traditionen und die Instrumentalisierung der jüngeren theoretischen Erkenntnisse auf die wirtschaftspolitische Praxis. Um es zusammenzufassen: Die Hoffnung der damaligen Zeit, ökonomische Gesetzmäßigkeiten und Beweisführungen zur Lösung konkreter wirtschaftlicher Mißstände und sozialer Probleme nutzen zu können, war letztlich die Hoffnung, in einer besseren Theorie auch eine bessere Therapie zu finden.

4.

Sozialpolitik oder ökonomisches Gesetz? Die Grenzen einer ökonomischen Sozialtechnik

Die Entwicklung einer rationalen Sozialpolitik und deren ökonomischtheoretische Fundierung, wie sie in den 20er Jahren ihren Ausgangspunkt nahm, fand mit dem Erscheinen des Werks „Ökonomische Theorie der Sozialpolitik" von Elisabeth Liefmann-Keil im Jahr 1961 einen fulminanten Höhepunkt, der als „Ereignis für die wissenschaftliche Sozialpolitik" und als „Anschluß an die internationale Diskussion" gefeiert wurde.84 In dem dort von Liefmann-Keil geforderten und ausgearbeiteten Programm — freilich unter dem spezifischen Aspekt der Einkommensverteilung — geht es darum, „Ziele und Forderungen, Instrumente und Maßnahmen, mögliche Wirkungen und Arten des jeweiligen Vorgehens in der Sozialpolitik unter ökonomischen Gesichtspunkten darzustellen"85. Dies bedeutet die Analyse der Sozialpolitik u. a. „unter dem Aspekt von Zielkonflikten, von rationalen Entscheidungen bei Knappheit der für die Erreichung von Zwecken verfügbaren Mittel und unter dem Aspekt der Wirkungen von Maßnahmen auf die Leistungsfähigkeit des Wirtschaftssystems"86. Der Entwurf von Liefmann-Keil wurde so zum Ausgangspunkt einer verstärkten Reintegration der Sozialpolitik in den Kanon der Wirtschaftswissenschaften, die zugleich auch die im angelsächsischen Sprachraum entwickelte formal-analytisch ausgerichtete Mikro- und MakroÖkonomik rezipierte. Jedoch — und hierin setzte Liefmann-Keil einen gewissen Kontrapunkt gegenüber den frühen nachkriegsdeutschen Konzeptionen von „Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik"87 — erfolgte

63 Pribram (1992), S. 771. 84 So Lampert (1992), S. 120 mit Verweis auf entsprechende Rezensionen. Zur Debatte um die Sozialpolitik während des Nationalsozialismus, auf die hier nicht gesondert eingegangen werden kann, vgl. Janssen (2000), insb. S. 265-289. 85 Liefmann-Keil (1961), S. VI f. so Lampert (1992), S. 120. 87 Achinger (1958). Zu Vertretern einer solchen Richtung können z. B. auch Wilfried Schreiber und Siegfried Wendt gezählt werden.

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zugleich bei zahlreichen Autoren eine Reduktion der Sozialpolitik auf einzelne Objektbereiche und deren ökonomisch-instrumentelle Handhabung.88 Eine theoriegeschichtliche Betrachtung muß hier enden. Die Leistungen und Defizite der in Folge von Liefmann-Keil herausgebildeten ökonomischen Theorie der Sozialpolitik in ihren verschiedenen Facetten darzulegen, zu bewerten sowie die Verlaufslinien der jüngeren Diskussion nachzuzeichnen kann kaum Aufgabe des vorliegenden Beitrages sein. Jedoch sind auch so die Lehren aus der Theoriegeschichte offensichtlich. Wenn - wie vor einigen Jahren geschehen Armin Gutowski und Renate Merklein den Mangel „einefr] der Marktwirtschaft adäquate[n] Theorie des Sozialen"89 beklagen und zugleich den Theoretikern der Sozialpolitik „wenig glanzvolle Rationalität und Logik"90 attestieren, zeigt sich, wie schwer es Ökonomen fallt, eine der gesellschaftlichen Entwicklung angepaßte Sichtweise einzunehmen. Zwar hat die Position von Gutowski und Merklein wiederholt und aus verschiedenen Lagern weitreichende Kritik erfahren91, jedoch liegt aus unserem Blickwinkel das Problem auf einer anderen als der bisher kritisierten Ebene. Es geht nicht um die Frage, ob es tatsächlich eine der Marktwirtschaft adäquaten Theorie des Sozialen gibt — dies ist die falsche Frage — es geht vielmehr um die Aufgabe, eine marktwirtschaftliche Konzeption und ihre Regeln so zu gestalten, daß sie den gesellschaftlichen Realitäten entspricht. Die richtige Frage lautet also: Wie muß eine dem Sozialen adäquate Theorie der Marktwirtschaft aussehen? Dies, zumindest, ist die Lehre, die aus den verschiedenen dargestellten Ansätzen gezogen werden kann — gleich ob sie in der Tradition von Marshall oder von Schmoller stehen. Daß dabei eine ökonomische Theorie der Sozialpolitik bedeutsam ist, ist unbestritten, Zielpunkt moderner Wirtschaftsund Sozialpolitik bleibt aber die gesellschaftliche Realität als „Benchmark". Es geht um marktwirtschaftliche Institutionen „um ihres sozialen Nutzens willen".92 Oder anders formuliert: Selbst wenn man mit Ingo Pies neuerdings „die zunehmende Desintegration zwischen (Theorie der) Wirtschaftspolitik und (Theorie der) Sozialpolitik"93 feststellen kann, ist ein Paradigma „Sozialpolitik für den Markt"94 kaum der geeignete Weg. Er bedeutet doch nur, daß dem sozialen Sektor eine ökonomische Strukturierung gegeben wird, die dann (lediglich) wirt-

Vgl. hierzu und zu den verschiedenen Definitionsstufen zur Sozialpolitik den prägnanten Überblick bei Schönig (2001), S. 29-33. Dort auch die Nennung einiger Gegenkonzepte. 89 Gutowski/Merklein (1985), S. 50. 90 Gutowski/Merklein (1985), S. 51. 91 Vgl. die frühe Kritik bei Lampert/Bossert (1997) sowie die Retrospektive in Pies (2000), Kap. 2. 92 Böhm (1973), S. 40. In dieser Tradition gilt für die Sozialpolitik die gleiche Feststellung um so dringlicher, die kürzlich Vanberg (2001), S. 57 f. für die Wettbewerbsordnung herausgestellt hat: „Was eine marktliche Wettbewerbsordnung ... legitimiert, sind nicht die von ihren Befürwortern zu Recht betonten positiven Funktionseigenschaften, sondern die freiwillige Zustimmung, die sie von den unter ihr lebenden Menschen erfahrt". » Pies (2000), S. 98. 9" Z. B. Homann/Pies (1996). 88

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schaftlich effiziente Ergebnisse hervorbringt. Die eigentliche Frage nach den Kriterien, anhand derer die aus einer ökonomisch rekonstruierten und gesellschaftlich reduzierten Sozialpolitik resultierenden Effizienzgewinne verteilt werden sollen — die eigentliche Kernfrage der Distribution — bleibt unbeantwortet bzw. wird einer „Anreizkompatibilität" untergeordnet. Statt diesen „Verlust an wirtschaftsethischer Substanz der Ökonomik"95 hinzunehmen, mögen Ansätze helfen, die der „Sphäre" des Sozialen ihre Eigenständigkeit (auch als Disziplin) zubilligen96 bzw. der historischen und institutionellen Entwicklung eine fundamentale Rolle für die Entwicklung einer „rationalen" Sozialpolitik zubilligen.97 Doch auch auf methodologischer Ebene mag eine theoriegeschichtliche Sichtweise, eine „historische Theorie ökonomischen Denkens"98, helfen, Engführungen zu vermeiden. Es geht nicht nur darum, daß ideen- und zeitgeschichtliche Aspekte zur Erklärung der Entstehung sozialpolitischer Theorien und Maßnahmen dienen, sondern, daß die Ideen- und Zeitgeschichte eingebunden werden muß in die sozialpolitische Forschung insgesamt. So bedarf es zunächst notwendig einer kulturell-historischen Betrachtung wirtschafte- und sozialpolitischen Handelns, wie sie sich in der Tradition der historischen Schule findet. Diese Forderung ergibt sich letztlich aus der Einsicht in die Fähigkeit des Menschen, „bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen", wie bereits Max Weber99 betont hat. Jedoch müssen nicht nur die Kulturbedeutungen für die jeweilige gesellschaftliche Realität, sondern auch die für „Wissenschaftserscheinungen", d. h. für die Entstehung einzelner Theorien und eben auch für ein adäquates Konzept der Sozialpolitik herausgearbeitet werden. Man ist verwiesen auf ein kulturwissenschafitliches Theorieverständnis -auch auf der Ebene der Theorie-Reflexion. Entsprechend ist also die Reflexion der Theorie und damit der Erkenntnisprozeß in der Wissenschaft gebunden an das jeweilige Subjekt in seinem kulturellen Umfeld. Folglich ist aber die Theorie selbst einem ständigen Prozeß ihrer Neu-Formulierung unterworfen — eine ausschließliche Verkürzung der Sozialpolitik auf eine der Marktwirtschaft adäquaten, aber stationären Technik ist defizitär100, gefordert ist vielmehr eine Sozialpolitik als dynamische Theorie und Politik. Es ist nicht eine Frage der Effizienz, sondern eine Frage des politischen und sozialethischen Wollens, ob auch die zukünftige Sozialpolitik gesellschaftliche Relevanz besitzen wird.

* Lampert (2001), S. 69. Vgl. hierzu die Argumentation von Lampert (1990), S. 16 f. sowie die daraus gefolgerte notwendige Interdisziplinarität in Lampert/Althammer (2001), S. 12. 97 Vgl. hierzu Schönig (2001) und Schönig (Hrsg.) (2001). 98 Zu diesem Konzept Goldschmidt (2002), Kap. 2. *> M. Weber (1922), S. 180. ioo Vgl. z u r Kritik einer solchen Sozialpolitik am Beispiel der Generaüonengerechtigkeit Glatzel/Goldschmidt (2000) und Berndt/Goldschmidt (2002). 96

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Die Verfassung der Freiheit: Zum Verhältnis von Liberalismus und Demokratie ViktorJ. Vanberg

1.

Einleitung

Das Verhältnis von Demokratie und Liberalismus ist nach gängiger Auffassung alles andere als spannungsfrei. Bei der Demokratie geht es um die Frage des wünschenswerten Verfahrens, durch das politische Entscheidungen getroffen werden sollten. Beim Liberalismus geht es um die Frage der wünschenswerten Grienten für politische Entscheidungen. Verfechter der Demokratie sehen in liberalen Forderungen nicht selten den Versuch, im Vorhinein fesdegen zu wollen, was der Autorität demokratischer Entscheidungsverfahren überlassen bleiben sollte. Und Verfechter des Liberalismus betrachten die Demokratie häufig mit Argwohn, weil demokratische Verfahren nur allzu oft Ergebnisse hervorbringen, die liberalen Grundsätzen zuwiderlaufen. Die historische Evidenz gibt zwar keinerlei Grund für die Vermutung, daß die Ideale des Liberalismus bei nicht-demokratischen Regimen besser aufgehoben wären als bei demokratischen. Doch kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Siegeszug des modernen demokratischen Wohlfahrts- und Sozialstaates mit einer deutlichen Einschränkung der Freiheitsrechte einhergegangen ist, für die sich die Vertreter des Liberalismus einsetzen. Im demokratischen Wettstreit der politischen Programme ist die liberale Position nur eine unter vielen Stimmen, dazu eine Stimme, die nur selten in grundsätzlicher Klarheit vertreten wird und der es kaum je gelingt, breitere Unterstützung in der Wählerschaft zu gewinnen. Muß man aus all dem folgern, daß die Ideale der Demokratie und des Liberalismus nur schwer, wenn überhaupt zu versöhnen sind? Anliegen dieses Beitrages ist es, diese Frage etwas näher in Augenschein zu nehmen. Ausgehend von den Überlegungen, die F. A. von Hayek dazu vorgetragen hat, werde ich zu zeigen versuchen, daß die beiden Ideale bei genauerer Prüfung nicht nur, wie Hayek argumentiert, miteinander kompatibel sondern komplementär zueinander sind, auf demselben normativen Grundprinzip, nämlich einem normativen Individualismus beruhen. Mein Vorschlag zur Interpretation des Verhältnisses von Liberalismus und Demokratie baut auf der Argumentation Hayeks auf, fuhrt diese Argumentation jedoch — wie ich meine, in konsistenter Weise — ein Stück weiter, als dies in Hayeks Werk geschehen ist.

36

2.

Viktor Vanberg

F. A. von Hayek zum Verhältnis von Demokratie und Liberalismus

Die Frage des Verhältnisses von Demokratie und Liberalismus ist eines der zentralen Themen des Hayekschen Werkes. Die Verfassung der Freiheit (1971) widmet ihm besondere Aufmerksamkeit, es steht im Zentrum des dritten Bandes der Trilogie Law, Legislation and Liberty (1979), 1 und es bildet den Gegenstand einer Reihe von Aufsätzen, die in den 1950er, 60er und 70er Jahren erschienen sind2. Liberalismus ist nach Hayek „gleichbedeutend mit der Forderung der ,rule of law' im klassischen Sinne"3, der Forderung nach Beschränkung der Zwangsgewalt des Staates auf die Durchsetzung einheitlicher, allgemeiner Regeln, die für alle in gleicher Weise gelten und „die eine klar umrissene Privatsphäre für jeden einzelnen sichern".4 Besonders nachdrücklich betont Hayek, daß dieser liberalen Forderung das Ideal einer nicht diskriminierenden, privilegienfreien Ordnung zugrunde liegt.5 „Der Grundgedanke des klassischen Liberalismus", so stellt er fest, „ist der, daß der Staat alle Menschen als gleich ansehen hat, so ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, und daß der Staat, wenn er das Handeln eines einzigen gleichgültig in welcher Weise beschränkt (oder unterstützt), in gleicher Weise, nach denselben abstrakten Regeln, das Handeln aller anderen beschränken (oder unterstützen) muß".6

Unter dem Titel „Die politische Ordnung eines freien Volkes" als dritter Teil in der einbändigen deutschsprachigen Ausgabe Recht, Gesetz und Freiheit (Hayek 2003, S. 305 ff.) enthalten. 2 Wiederabgedruckt in Hayek (2001) und Hayek (2002). 3 Hayek, (2002b), S. 74. 4 Hayek (2002b), S. 71. Hayek (2002e), S. 182: „Heutzutage wird selten verstanden, daß die Beschränkung jeglichen Zwanges auf die Durchsetzung allgemeiner Regeln rechten Verhaltens das Grundprinzip des klassischen Liberalismus war, ja ich möchte fast sagen, dessen Definition von Freiheit." - Hayek (1971), S. 245: „Wenn Zwang nur in der in allgemeinen Regeln niedergelegten Weise ausgeübt werden soll, wird es fiir die Regierung unmöglich, gewisse Aufgaben zu übernehmen. Daher ist es richtig, daß ,aller Hüllen entblößt, Liberalismus Konstitutionalismus ist, eine Herrschaft von Gesetzen und nicht von Menschen'". — Wie Hayek betont, schließt das liberale Ideal keineswegs aus, daß „der Staat ihm übertragene Mittel dazu verwenden (kann), verschiedene Leistungen zu erbringen, die abgesehen von der Mittelbeschaffung über Steuern, keinen Zwang erfordern" (Hayek, 2002c, S. 111). Siehe dazu auch Hayek (2002b), S. 71, S. 74 f. u. S. 87. 5 Hayek (1972), S. ix f.: „The essence of the liberal position, however, is the denial of all privilege, if privilege is understood in its proper and original meaning of the State granting and protecting rights to some which are not available on equal terms to others." - Hayek (1976, S. 45 f.): „Der Individualismus ist gegen verbriefte Vorrechte und lehnt jeden Schutz von Rechten, ob durch Gesetz oder Gewalt, entschieden ab, die nicht auf Gesetzen beruhen, die auf alle Personen gleichermaßen anwendbar sind." - Siehe dazu auch Hayek (1971), S. 201 ff. « Hayek (2003), S. 449. Hayek (2002c), S. 108: „Der Liberalismus fordert lediglich, daß ein Staat, der die Bedingungen setzt, unter denen die einzelnen Menschen handeln, auf alle dieselben formalen Regeln anwenden muß. Er wendet sich gegen alle rechtlichen Privilegien 1

Die Verfassung der Freiheit

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Durch seine „Forderung nach gleichen Rechten für alle und der daraus folgenden Ablehnung aller Privilegien"7 war der Liberalismus, wie Hayek erläutert, ursprünglich mit der demokratischen Bewegung und ihrer Forderung nach gleichen politischen Mitwirkungsrechten füir alle eng verbunden8 und im Kampf um eine verfassungsmäßige Regierung von dieser oft nicht zu unterscheiden, obschon beiden Lehren letztlich verschiedene Anliegen zugrunde liegen: „Der Liberalismus befaßt sich mit den Aufgaben des Staates und vor allem mit der Beschränkung seiner Macht. Die demokratische Bewegung befaßt sich mit der Frage, wer den Staat lenken soll".9 Die unterschiedlichen aber kompatiblen Anliegen des Liberalismus und der Demokratie gerieten, so Hayeks Diagnose, erst in dem Maße in Konflikt miteinander, in dem der Sieg der Demokratie über autoritäre Regierungs formen den Irrglauben nährte, „die Vorkehrungen, welche die Menschen einst mühsam ersannen, um den Mißbrauch der Regierungsgewalt zu verhindern, würden alle dann unnötig, wenn die Macht in die Hände des Volkes gelegt ist".10 Erst dieser Irrglaube hat nach Hayek einer Auffassung von Demokratie Vorschub geleistet, die er als „doktrinär" und „dogmatisch"11 kritisiert, der Auffassung, daß „die Meinung der jeweiligen Mehrheit als einziges Kriterium für Rechtmäßigkeit der Regierungsgewalt zu betrachten"12 sei, und „daß die jeweilige Mehrheit das Recht haben soll, zu bestimmen, welche Gewalt sie hat und wie diese auszuüben ist"13. Nicht dem eigentlichen Ideal der Demokratie, sondern seiner „heute vorherrschenden Interpretation"14 ist es nach Hayek zuzuschreiben, daß es zur Herausbildung jener „besonderen, heute als die einzig möglichen geltenden Formen demokratischer Organisation"15 gekommen ist, die er als unbeschränkte Demokratie charakterisiert, und denen er vorwirft, daß sie „eine progressive Ausdehnung der staatlichen Kontrolle des Wirtschaftslebens bewirken"16. Seine Kritik der zeitgeund gegen die Verleihung bestimmter Vorteile, die der Staat nur einigen, nicht aber allen gewährt." i Hayek (2002c), S. 110. 8 Hayek (1971) S. 125: „Gleichheit vor dem Gesetz fuhrt zu der Forderung, daß auch alle Menschen gleichermaßen an der Gesetzgebung beteiligt seien. Hier treffen der traditionelle Liberalismus und die demokratische Bewegung zusammen." 9 Hayek (2002c), S. 110. Siehe dazu auch Hayek (1971), S. 125 ff. 10 Hayek (2002d), S. 175. Hayek (2003), S. 309: „Die tragische Illusion lag in der Annahme, daß die Einführung demokratischer Verfahren alle anderen Beschränkungen staatlicher Macht entbehrlich mache." Siehe auch Hayek (1971), S. 487 f.; S. 202 f.; S. 205 f. » Hayek (1971), S. 125 f. i2 Hayek (2002c), S. 110. » Hayek (1971), S. 129. •4 Hayek (2001), S. 84: „Nach dieser Auffassung wird die Demokratie heute sogar manchmal ausdrücklich als eine Staatsform definiert, in der die Macht der Majorität der gewählten Volksvertreter - vielleicht abgesehen vom Schutz einiger aufgezählter Grundrechte — keinerlei Beschränkungen unterliegt." is Hayek (2002e), S. 110. i« Hayek (2002e), S. 110.

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Viktor Vanberg

nössischen demokratischen Institutionen will Hayek deshalb auch nicht als Kritik am „Grundideal der Demokratie" verstanden wissen,17 sondern als eine Empfehlung zur institutionellen Reform, hin zu einer wirksam beschränkten Demokratie.18 Hayek macht also einen deutlichen Unterschied zwischen dem grundlegenden Ideal der Demokratie, „daß alle Macht vom Volke ausgehen soll"19, und der heute vorherrschenden institutionellen Ausgestaltung dieses Ideals, der unbeschränkten Mehrheitsherrschaft.20 Das liberale Ideal „der Freiheit unter dem Gesetz"21 und das daraus folgende Prinzip „der notwendigen Beschränkung aller Macht dadurch, daß man den Gesetzgeber verpflichtet, sich an allgemeine Regeln zu binden",22 sieht er nicht durch die Demokratie schlechthin bedroht, sondern allein durch den Irrglauben, daß die „Allmacht der gesetzgebenden Vertretungskörperschaft notwendiges Attribut der Demokratie"23 sei.24 Nicht dem Gedanken der Volkssouveränität gelten seine Vorbehalte (sofern man darunter versteht, „daß alle vorhandene Macht in den Händen des Volkes sein sollte"25), sondern dem, was er als „konstruktivistischen Irrglauben von der Souveränität"26 bezeichnet, der Unterstellung, daß die nach dem Mehrheitsprin^ip entscheidende Vertretungskörperschaft unbeschränkte Entscheidungsautorität genießen soll.27

" Hayek (2003), S. 307; Hayek (2002f), S. 205: „In einer Bedeutung des Wortes Demokratie ich glaube der echten und ursprünglichen - erscheint sie mir als ein hoher Wert, zu dessen Verteidigung ich zu kämpfen bereit bin." - Mit kritischem Seitenblick auf „den antidemokratischen Hang des Konservatismus" (Hayek, 1971, S. 488) stellt Hayek fest: „Aber ich glaube, daß sich die Konservativen selbst täuschen, wenn sie die Übel unserer Zeit der Demokratie zuschreiben. Das Hauptübel ist eine unbeschränkte Regierung ... . Die Macht, die die moderne Demokratie besitzt, wäre in den Händen einer kleinen Elite noch unerträglicher" (ebd., S. 487). 18 Hayek (1971), S. 488: „Aber nicht die Demokratie, sondern eine unbeschränkte Regierung ist abzulehnen und ich sehe keinen Grund, warum die Menschen nicht lernen sollten, den Verantwortungsbereich einer Mehrheitsregierung ebenso zu beschränken wie den jeder anderen Regierungsform." Siehe dazu auch Hayek (2003), S. 317, S. 404. «9 Hayek (2001), S. 84. 20 Hayek (2001), S. 84: „Ich glaube zwar auch, daß alle Macht vom Volke ausgehen soll, aber ich glaube nicht, daß das bedeuten muß, daß diese Macht unbeschränkt sein muß." Hayek (1971), S. 185. 22 Hayek (2002e), S. 181. Wie Hayek (2002a, S. 47) erläutert, ist das liberale Ideal der „Rule of Law" in diesem Sinne als „eine Regel für den Gesetzgeber" zu verstehen. Hayek (2002e), S. 181. 24 Hayek (2002c), S. 110: „Liberalismus ist also unvereinbar mit unbeschränkter Demokratie, genauso wie mit jeder anderen unbeschränkten Macht. Er setzt eine Beschränkung der Macht auch für die Repräsentanten der Mehrheit voraus, indem er eine Bindung an Prinzipien verlangt, die ... die Legislative wirkungsvoll beschränken." Siehe dazu auch etwa Hayek (2003), S. 407, S. 409. 25 Hayek (2003), S. 340. 26 Hayek (2003), S. 340. 27 Siehe dazu Hayek (1971), S. 125 f., S. 129 f.; Hayek ( 2002c), S. 110 f.

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Wenn Hayek davon spricht, daß Liberalismus und Demokratie zwar miteinander kompatible aber nicht identische Ideale seien,28 so könnte man dies so verstehen, daß das liberale Anliegen allein der Beschränkung staatlicher Macht gilt, aber der Frage, wer diese Macht ausübt, im Prinzip neutral gegenübersteht, und daß umgekehrt das demokratische Anliegen allein auf die Frage gerichtet ist, in welchen Händen staatliche Macht liegt, aber nichts über das Problem der Grenzen der Regierungsmacht aussagt.29 Entgegen einer solchen Lesart werde ich im folgenden zu zeigen suchen, daß das Ideal des Liberalismus auf normativen Grundprinzipien beruht, die durchaus Implikationen für die Frage haben, wer Regierungsgewalt ausüben soll, und daß dem Ideal der Demokratie normative Prinzipien zugrunde liegen, die in der Frage der Begrenzung staatlicher Macht keineswegs neutral sind. Genauer gesagt, mein Argument wird sein, daß beiden Idealen ein normativer Individualismus zugrunde liegt, der sie zu systematisch miteinander verbundenen, komplementären und nicht nur kompatiblen Idealen macht. Ich werde ebenfalls zu zeigen suchen, daß Hayeks eigene Argumentation bei genauerem Hinsehen mit einer solchen Interpretation des Verhältnisses von Demokratie und Liberalismus in Übereinstimmung zu bringen ist. Bei meinem Vorschlag zur Interpretation des Verhältnisses von Demokratie und Liberalismus gehe ich aus von einer Unterscheidung zwischen den normativen Grundprinzipien, auf denen die beiden Ideale beruhen, und abgeleiteten Wertvorstellungen, die sich aus der Verknüpfung der normativen Grundprinzipien mit Annahmen über realweltliche Wirkungszusammenhänge ergeben. Unter den normativen Grundprinzipien von Liberalismus und Demokratie verstehe ich die Prinzipien, die die diversen spezifischeren Wertvorstellungen, die üblicherweise mit den beiden Idealen verbunden werden, in Kohärenz bringen. Darüber, worin die normativen Grundprinzipien von Liberalismus und Demokratie zu sehen sind, mag unter verschiedenen Interpreten durchaus Dissens bestehen. Doch kann die Frage der Haltbarkeit alternativer Interpretationen rational diskutiert werden, wenn man mögliche alternative Hypothesen über die normativen Grundprinzipien von Demokratie und Liberalismus daran mißt, wie gut sie in der Lage sind, die oben angesprochene Art von Kohärenz herzustellen.

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Hayek (2002b), S. 70: „Liberalismus und Demokratie sind zwar miteinander vereinbar, jedoch nicht identisch. Beim Liberalismus geht es um das Ausmaß der Regierungsgewalt, bei der Demokratie darum, wer diese Gewalt ausübt." Eine solche Interpretation wird nahegelegt, wenn Hayek die Unterscheidung zwischen der demokratischen und der liberalen Position mit den Worten erläutert: „Der Unterschied zwischen diesen beiden Standpunkten zeigt sich am deutlichsten, wenn wir ihre Gegenteile nennen: Das Gegenteil der Demokratie ist eine autoritäre Regierung; das Gegenteil eines liberalen Systems ist ein totalitäres System. Keines der beiden Systeme schließt das Gegenteil des anderen aus: Eine Demokratie kann totalitäre Gewalt ausüben und es ist vorstellbar, daß eine autoritäre Regierung nach liberalen Prinzipien handelt"; Hayek (1971), S. 125.

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Demokratie: Bürgersouveränität und Mehrheitsherrschaft

Hayek unterscheidet zwar ausdrücklich zwischen dem grundlegenden Ideal der Demokratie und seiner institutionellen Ausgestaltung, aber er äußert sich nicht ganz eindeutig dazu, wie er diese Unterscheidung genau verstanden wissen will. Unklarheit stiften in dieser Hinsicht vor allem manche seiner Bemerkungen zum Status des Mehrheitsprinzips. Wenn er etwa davon spricht, daß „das Wort,Demokratie' oft in einem weiteren und unbestimmteren Sinn gebraucht"30 werde, und er diese weitere Wortbedeutung von „der strengen Bedeutung zur Bezeichnung einer Regierungsform - nämlich der Herrschaft der Mehrheit"31 - abgrenzt, so könnte man diese Äußerung so verstehen, daß Hayek das Majoritätsprinzip als eine Sache der institutionellen Ausgestaltung und nicht als einen eigentlichen Bestandteil des grundlegenden Ideals der Demokratie betrachtet. Manche seiner Äußerungen lassen sich allerdings auch im gegenteiligen Sinne interpretieren, so etwa, wenn er feststellt: „Ließe sich zu Recht behaupten, daß die bestehenden Institutionen Resultate hervorbringen, die von einer Mehrheit gewollt oder gebilligt sind, so müßte, wer an das Grundprinzip der Demokratie glaubt, diese natürlich hinnehmen"32. Nun haben James M. Buchanan und Gordon Tullock (1962) in ihrem grundlegenden Beitrag zur konstitutionellen Ökonomik dargelegt, daß das Mehrheitsprinzip als Entscheidungsregel nicht selbstlegitimierend ist, sondern seine Legitimation allein daraus schöpft, daß die dieser Entscheidungsregel Unterworfenen ihre Einwilligung dazu geben, über ihre gemeinsamen Angelegenheiten nach dieser Regel zu befinden. Anders gesagt, sie haben gezeigt, daß das Majoritätsprinzip nicht selbst als das Grundideal der Demokratie gelten kann, sondern seine Autorität daraus herleitet, daß die Mitglieder demokratischer Gemeinwesen, also die Bürger, sich aus Klugheitserwägungen heraus auf diese Entscheidungsregel einigen können. Das Argument von Buchanan und Tullock beruht auf einer Vorstellung vom demokratischen Gemeinwesen als einer TSürgergenosenschaft oder, wie es John Rawls33 ausgedrückt hat, als einem „Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil". Demokratische Gemeinwesen sind mitgliederbestimmte politische Verbände. Die Mitglieder des Verbandes, also die Bürger, sind die „Eigentümer" des politischen Gemeinwesens als eines Territorialverbandes, sie sind die „Souveräne", von denen jegliche Autorität über Verbandsangelegenheiten zu entscheiden ausgeht. Der Umstand, daß der demokratische Staat ein Intergenerationenverband ist, in den die Mitglieder in der Regel durch Geburt und 30 Hayek (1971), S. 125. 31 Hayek (1971), S. 125. 32 Hayek (2003), S. 310. Siehe auch Hayek (2003), S. 312: „Wenn alle Zwangsgewalt sich auf die Meinung der Mehrheit berufen können soll, dann sollte sie auch nicht weiter reichen, als die Mehrheit sich wirklich einigen kann." 33 Rawls (1975), S. 105.

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nicht durch einen ausdrücklichen freiwilligen Beitrittsakt aufgenommen werden, unterscheidet ihn von sonstigen genossenschaftlichen Verbänden, ändert aber nichts daran, daß es auch für ihn keine andere Letzt-Legitimation geben kann als die Zustimmung der Mitglieder zur grundlegenden Verbandsordnung. Geht man von der skizzierten Sicht des demokratischen Staates als einem genossenschaftlichen, mitgliederbestimmten Verband — oder kurz: als einer Bürgergenossenschaft - aus,34 so kann man die Frage, worin die grundlegenden normativen Prinzipien der Demokratie zu sehen sind, von der Frage vinterscheiden, nach welchen Verfahrensregeln eine solche Bürgergenossenschaft unter realweltlichen Bedingungen „am besten", d. h. den Interessen seiner Mitglieder am förderlichsten, operieren kann. Das normative Grundprinzip muß man dann offenkundig darin sehen, daß das demokratische Gemeinwesen als ein „Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil" den Interessen aller Mitglieder zu dienen hat und diesen Auftrag um so besser erfüllt, je wirksamer es die gemeinsamen Iniemsen der Mitglieder verfolgt. Das so verstandene normative Grundprinzip der Demokratie kann man als Bürgersouveränität bezeichnen, und unterschiedliche institutionelle Ausgestaltungen demokratischer Verbandsordnungen kann man daraufhin vergleichen, wie gut sie - angesichts der realweltlichen Probleme kollektiver Entscheidungen — in der Lage sind, Bürgersouveränität sicherzustellen, also sicherzustellen, daß möglichst nur solche Verbandsentscheidungen getroffen oder -handlungen ausgeführt werden, die im gemeinsamen Interesse aller Bürger liegen, und Entscheidungen oder Handlungen vermieden werden, die den Interessen eines Teils der Bürgerschaft oder gar aller Bürger zuwiderlaufen. Das Kriterium der Bürgersouveränität besagt, daß das grundlegende demokratische Legitimationsprinzip im genossenschaftlichen Prinzip der freiwilligen Zustimmung aller Bürger gesehen werden muß, daß es aber — wie etwa Buchanan und Tullock gezeigt haben — Klugheitsgründe gibt, aus denen alle Bürger sich freiwillig darauf einigen können, auf Einstimmigkeit als Veifahrensregel zu verzichten und laufende Verbandsentscheidungen aufgrund von Mehrheitsregeln oder auf dem Wege der Delegation von Entscheidungsmacht zu treffen. Daß eine solche Sicht der Mehrheitsregel als einem abgeleiteten Verfahrensprinzip wohl auch der allgemeinen Logik des Hayekschen Ansatzes entspricht, kommt in verschiedenen seiner Äußerungen zumindest implizit zum Ausdruck. So betont Hayek wiederholt, daß alle demokratische Regierungsgewalt auf der „Zustimmung des Volkes" beruht35 und ihre Rechtfertigung darin liegt, daß „alle ein Interesse am Vorhandensein einer solchen Gewalt haben"36, und er stellt ausdrücklich fest, daß „sich die Gewalt der Mehrheit in letzter Linie von Grundsät-

m Ausführlicher dazu Vanberg (2000), insbes. S. 267 ff. 35 Hayek (2003), S. 309 f. m Hayek (2003), S. 346.

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zen ableitet, die auch die Minderheiten anerkennen, und daß sie durch diese Grundsätze beschränkt ist."37

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Liberalismus: Individualautonomie und Privatautonomie

Kann man auch beim Liberalismus, ebenso wie bei der Demokratie, zwischen Grundideal und abgeleiteten Prinzipien unterscheiden, und wie wäre diese Unterscheidung zu treffen? Ich möchte im folgenden die These begründen, daß die Idee der Privatautonomie zwar einen für den Liberalismus ganz zentralen Wert ausdrückt, daß sie aber nicht als dessen normatives Grundprinzip gelten kann, sondern als ein abgeleitetes Prinzip anzusehen ist, dem die Idee der Autonomie des Individuums oder der Individualautonomie vorgeordnet ist. Das liberale Ideal der „Freiheit unter dem Gesetz"38 findet seinen augenfälligsten Ausdruck in der Idee der Privatautonomie, dem Gedanken, daß die Einzelnen über einen rechtlich geschützten Bereich der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit verfügen, den sie nach eigenem Ermessen und in freiwilliger Abstimmung mit anderen gestalten können. So verstandene individuelle Freiheit bedeutet, wie Hayek es formuliert, „daß das, was wir tun dürfen, nicht von der Gutheißung irgend einer Person oder Behörde abhängt, sondern nur durch dieselben allgemeinen Regeln beschränkt ist, die gleichermaßen für alle gelten"39. Privatautonomie wird konstituiert und gleichzeitig begrenzt durch die Regeln des Privatrechts oder die Privatrechtsordnung, die die wechselseitige Kompatibilität der für alle gleichen Freiheiten sichern und den individuellen Freiheitsbereich vor staatlichem Eingriff schützen soll.40 Privatautonomie bedeutet Autonomie des Einzelnen im Rahmen der Regeln des Rechts. Privatautonomie ist also kein voraussetzungsloses Prinzip. Ihr Inhalt hängt von den sie konstitutierenden und begrenzenden Regeln des Privatrechts ab. Diese Regeln, die den Inhalt der Eigentumsrechte und die Grenzen der Vertragsfreiheit fesdegen, können unterschiedlich definiert sein.41 Dies wirft aber die 37

Hayek (1971), S. 129: „Für ihn (den Liberalen, Anm. d. Verf.) hat die Mehrheitsentscheidung ihre Gültigkeit nicht kraft eines Willensaktes von Seiten der augenblicklichen Majorität, sondern kraft einer weiterreichenden Übereinstimmung über allgemeine Grundsätze." m Hayek (1971), S. 185. » Hayek (1971), S. 187. 40 Indem es den Freiheitsbereich des Einzelnen vor Eingriffen anderer schützt, konstituiert das Privatrecht Freiheitsrechte der Einzelnen und legt gleichzeitig ihre Grenzen fest. 41 Hayek (1971), S. 295: „Die Entscheidung, sich auf freiwillige Verträge als dem Hauptinstrument für die Organisation der Beziehungen zwischen Individuen zu verlassen, bestimmt nicht, welchen speziellen Inhalt das Vertragsrecht haben soll; und die Anerkennung des Rechts auf Privatbesitz bestimmt nicht, was genau der Inhalt dieses Rechts sein soll, damit der Marktmechanismus so wirksam und so vorteilhaft wie möglich funktioniert." Hayek (1976), S. 32: „Aber wenn wir zu dem wesentlichen Schluß gekommen sind, daß eine individualistische Ordnung nicht auf der Erzwingung spezieller Anordnungen beruht,

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Frage nach dem normativen Kriterium auf, an dem die Angemessenheit der Regelordnung zu messen ist. Dieses Kriterium kann augenscheinlich nicht aus der Idee der Privatautonomie selbst gewonnen werden. Privatautonomie wird in ihrem Inhalt nicht nur durch die sie konstituierende Privatrechtsordnung definiert, sie findet ihre Grenze dort, wo Entscheidungsrechte der kollektiven Beschlußfassung durch den politischen Prozeß vorbehalten sind. Und auch diese Grenze, also die Abgrenzung von Privatrechtsgesellschaft und Staat, kann unterschiedlich gezogen werden. Dies wirft die Frage auf, nach welchem Kriterium zu entscheiden ist, wo genau diese Grenze verlaufen sollte. Auch dieses Kriterium kann nicht aus der Idee der Privatautonomie per se abgeleitet werden, selbst wenn man mit dieser Idee eine grundsätzliche Präferenz für private Entscheidungsfreiheit über kollektive Zwangsregelungen verbindet. Die liberale Idee der Privatautonomie beinhaltet das Ideal, daß das Prinzip der freiwilligen Vereinbarung das grundlegende soziale Koordinationsprinzip sein soll, und daß soziale Bindungen und Verpflichtungen ihre Legitimation allein daraus schöpfen können, daß sie von den so Gebundenen freiwillig eingegangen werden. Die auf der Privatrechtsordnung basierende Ordnung des Marktes42 ist in diesem Sinne für den Liberalismus eine paradigmatische Freiheitsordnung, weil der Markt als eine rechtlich gesicherte Arena freiwilliger Kooperation betrachtet werden kann,43 in der die Einzelnen durch freiwilligen Tausch und durch freiwillige Beteiligung an kollektiven Arrangements (Vereinen, Verbänden, Unternehmen etc.) wechselseitige Vorteile realisieren können. Dieser auf das interne Funktionieren der Privatrechtsordnung bezogene Gedanke der Legitimation sozialer Transaktionen und verbandlicher Ordnungen durch die freiwillige Zustimmung der beteiligten Individuen stellt, so mein Interpretationsvorschlag, das normative Grundprinzip des Liberalismus dar, das Prinzip der — wie ich es nennen möchte — Individualautonomie.44 Und dieses normative Grundprinzip läßt sich auf die Frage der Legitimation der die Privatautonomie konstituierenden Privat-

sondern auf der Erzwingung abstrakter Prinzipien, so läßt dies noch die Frage nach der Natur der allgemeinen Regeln offen, die -wir brauchen." 42 Das Komplementärverhältnis von „Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft" hat Franz Böhm (1966) in seinem gleichnamigen klassischen Aufsatz thematisiert. — Auf diesen Aufsatz bezieht sich Hayeks Bemerkung, Böhm habe „die liberale Ordnung ... sehr treffend Privatrechtsgsellschaß genannt"; Hayek (2002b), S. 78. « Dazu Vanberg (2001). 44 Die Vorstellung, daß die Individualautonomie das liberale Grundideal ist, bringt wohl auch Hayek (1952), S. 86 zum Ausdruck, wenn er feststellt: „Diese Anerkennung des Individuums als des obersten Richters über seine Ziele, die Überzeugung, daß es, soweit nur irgend angängig, in seinen eigenen Handlungen seinen eigenen Anschauungen folgen sollte, bildet den Wesensgehalt des Individualismus." Weiter heißt es dort bei Hayek (ebd.): „Diese Anschauung schließt natürlich die Anerkennung sozialer Ziele ... nicht aus, zu deren Erreichung die Menschen sich zweckmäßigerweise vereinigen. Aber nach dieser Auffassung ... sind die .sozialen Ziele' lediglich identische Ziele vieler Individuen - oder Ziele, zu deren Erreichung die Individuen ... beizutragen bereit sind."

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rechtsordnung ebenso anwenden wie auf die Frage der wünschenswerten Grenzziehung zwischen Privatrechtsgesellschaft und Staat. Wenn Hayek feststellt, daß „die Frage, ob es wünschenswert ist, den Bereich kollektiver Entscheidungen zu erweitern, aus anderen Gründen als dem Prinzip der Demokratie als solchem entschieden werden" 45 muß, so will er damit, wie ich meine, gewiß nicht unterstellen, daß es von den Wünschen der betroffenen Bürger unabhängige Kriterien dafür gibt, wo die Grenze zwischen Privatrechtsgesellschaft und Staat gezogen werden sollte. Mit „Prinzip der Demokratie" meint Hayek offenkundig das Mehrheitspriwgp und nicht das Grundideal der Bürgersouveränitätund in diesem Sinne verstanden ist sein Urteil ohne Frage berechtigt. Aus der Logik seines individualistischen Ansatzes wird man schwerlich zu einem anderen Schluß kommen können als dem, daß allein die freiwillige Vereinbarung unter den betroffenen Individuen das Kriterium dafür abgeben kann, welche Grenzziehung zwischen dem Bereich der Privatautonomie und dem Bereich öffentlicher Angelegenheiten als „wünschenswert" gelten kann. Und den gleichen Schluß wird man auch im Hinblick auf die Frage ziehen müssen, woran der wünschenswerte Inhalt der die Privatautonomie konstituierenden Regeln des Privatrechts zu messen ist. Sieht man, so wie ich dies hier vorschlage, das normative Grundprinzip des Liberalismus in dem Gedanken der Individualautonomie, also der Idee der freiwilligen Zustimmung der beteiligten Individuen als der letztendlichen Legitimationsquelle aller sozialen Transaktionen und Bindungen, so kann man der gängigen Vorstellung eines Privatrechtsliberalismus das Konzept eines konstitutionellen Liberalismus an die Seite stellen,47 der die Einzelnen nicht nur im Rahmen der Privatrechtsordnung als autonome Entscheidungsträger sieht, sondern sie auch auf der vorgelagerten konstitutionellen Ebene als Souveräne betrachtet, deren freiwilliger Zustimmung die Legitimationsquelle für die rechtliche Rahmenordnung darstellt, unter der sie leben. Für einen konstitutionellen Liberalismus kann die Frage, wie die Privatrechtsordnung zu gestalten und die Grenze zwischen Privatrechtsgesellschaft und Staat zu ziehen ist, nicht aufgrund externer, von den Einschätzungen der betroffenen Individuen unabhängiger Kriterien beantwortet werden.48 Vorschläge dafür, « Hayek (1971), S. 129. Hayek (1971), S. 129: „Der dogmatische Demokrat erachtet es als wünschenswert, daß möglichst viele Fragen durch Mehrheitsbeschluß entschieden werden, während der Liberale meint, daß es für den Bereich der Fragen, die so entschieden werden sollen, bestimmte Grenzen gibt." 47 Für eine ausführlichere Erläuterung des Konzepts eines konstitutionellen Liberalismus siehe Vanberg (2002). 48 Der konstitutionelle Liberalismus steht damit etwa in deutlichem Kontrast zu manchen Vertretern einer „libertären" Variante des Liberalismus, die meinen, mit Hilfe naturrechtlicher Argumentationsmuster ein von der Einschätzung der betroffenen Menschen gänzlich unabhängiges Kriterium dafür angeben zu können, wie die Privatrechtsordnung inhaltlich zu gestalten und in ihrer Reichweite zu bemessen sei. 46

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durch welche allgemeinen Regeln die Privatautonomie definiert werden sollte und wie eng der Bereich kollektiver, politischer Entscheidungsmacht zu begrenzen sei, sind vielmehr als Empfehlungen an die Mitglieder der jeweils in Frage stehenden Gemeinwesen zu verstehen, wie sie ihre gemeinsamen Interessen fördern können, und allein die freiwillige Zustimmung der betroffenen Individuen kann letztendlich den Maßstab dafür abgeben, was ihren gemeinsamen Interessen, so wie sie diese Interessen selbst sehen, förderlich ist.49

5.

Das Ideal privilegienfreier Ordnung und die Verfassung der Freiheit

Im Zentrum der Hayekschen Kritik an der Demokratie in ihrer vorherrschenden institutionellen Form steht der Vorwurf, daß die fehlende effektive Beschränkung der Herrschaft der Mehrheit notwendigerweise eine Politik zur Folge hat, die nicht den gemeinsamen Interessen der Bürger dient, sondern sich in das verstrickt, was man das Dilemma der Privilegienvergabe nennen könnte: Die jeweils regierende Mehrheit sieht sich um die Erhaltung ihrer Macht willen genötigt, Privilegien an Gruppen zu vergeben, auf deren Unterstützung sie angewiesen ist.50 Die wesentliche Bedrohung der Freiheit liegt für Hayek denn auch darin, „daß eine unbeschränkte Demokratie die liberalen Grundsätze aufgeben wird, um diskriminierende Maßnahmen zu Vorteil verschiedener Gruppen, welche die Mehrheit stützen, zu ergreifen".51 Nun verletzt die Vergabe von Sondervergünstigungen an einige auf Kosten anderer Mitglieder des Gemeinwesens aber offenkundig nicht nur das liberale Ideal privilegienfreier Ordnung und der Freiheit unter dem Gesetz, sie steht auch im Widerspruch zum individualistischen Grundprinzip der Demokratie als einer Bürgergenossenschaft, als einem „Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil" (Rawls). In diesem Sinne kann man sagen, daß Hayeks Kritik der unbeschränkten Demokratie auch besagt, daß eine solche Form der Demokratie

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Dies schließt natürlich nicht aus, daß Bürger aus falscher Einschätzung der relevanten Wirkungszusammenhänge Vorschlägen ihre Zustimmung versagen, die in Wirklichkeit in ihrem eigenen Interesse lägen. Dies kann für den konstitutionellen Liberalen aber nur ein Argument dafür sein, sich um weitere Aufklärung zu bemühen, nicht ein Argument dafür, das Ideal der Individualautonomie aufzukündigen, so Es sei, so stellt Hayek (2001), S. 85 fest, nur eine „scheinbar paradoxe Tatsache, daß je größer die rechtlichen Vollmachten sind, die die höchste Behörde des Staates besitzt, desto größer ihre tatsächliche Ohnmacht ist. Der Grund ist sehr einfach: Eine repräsentative Körperschaft, die legal Sonderinteressen begünstigen darf, muß es auch tun." Siehe dazu auch etwa Hayek (2002c), S. 137; (2002e), S. 180 f.; (2002f), S. 210. 51 Hayek (2002c), S. 111. Hayek (2002e), S. 183: „Sobald derartige Diskriminierung als legitim gilt, ist es aus mit all den Garantien individueller Freiheit, um die es der liberalen Tradition ging"

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gegen das Ideal der Bürgersouveränität verstößt, daß sie nicht den gemeinsamen Interessen der Bürger sondern speziellen Interessen dient.52 Im Hinblick auf Kritiker, die von der gegenwärtigen Demokratie gerne als „Massendemokratie" sprechen, stellt Hayek53 denn auch fest: „Aber wenn der demokratische Staat sich wirklich an das halten müßte, worüber die Massen einig sind, gäbe es wenig einzuwenden." Das, was man den „Willen der Mehrheit" nenne, habe aber, so Hayeks Urteil, wenig mit dem zu tun, was den Namen „Gemeinwille" verdiene54, es sei vielmehr „in Wirklichkeit ein Artefakt der bestehenden Institutionen"55, von Institutionen, die Bedingungen schaffen, unter denen „selbst ein Staatsmann, der sich ganz und gar dem gemeinsamen Interesse aller Bürger verschrieben hat, ständig genötigt ist, Sonderinteressen zu befriedigen"56. Die Forderung nach wirksamer Beschränkung der Macht der Mehrheit durch allgemeine Prinzipien, wie sie Hayek erhebt, ist also eine Forderung, die nicht allein aus dem liberalen Ideal der Sicherung individueller Freiheit folgt, sondern ebenso aus dem demokratischen Ideal der Sicherung von Bürgersouveränität. In effektiven Beschränkungen, die Regierung und Gesetzgeber die Möglichkeit zur Privilegienvergabe nehmen, sieht denn auch Hayek nicht nur die wesentliche Vorkehrung zur Sicherung der Freiheit, sondern auch die Voraussetzung dafür, daß „die Energie des Staates wieder für die Aufgaben frei wird, die wirklich im allgemeinen Interesse liegen"57. Zwar könne, so stellt Hayek58 fest, die Freiheit auch durch allgemeine, auf alle gleich anwendbare Regeln einschneidend beschränkt werden, doch sieht er die „hauptsächliche Sicherung" gegen diese Gefahr darin, „daß die Regeln sowohl für jene gelten, die sie erlassen, als auch für jene, die sie befolgen ... und daß niemand die Macht hat, Ausnahmen zu gewähren".59 Die Forderung, die Macht von Regierung und Gesetzgeber entsprechend zu beschränken, bedeutet dabei nach

Hayek (2002d), S. 175: „Es besteht überhaupt kein Grund zu der Annahme, daß eine allmächtige demokratische Regierung lieber den allgemeinen als den speziellen Interessen dienen wird. Eine demokratische Regierung, der es freisteht, besondere Gruppen zu begünstigen, ist darauf angelegt, von Koalitionen organisierter Interessen beherrscht zu werden." 53 Hayek (2003), S. 405. Hayek (2003), S. 307. ss Hayek (2002e), S. 181. 5« Hayek (2002e), S. 181. 5' Hayek (2001), S. 87. s« Hayek (1971), S. 186. 59 Hayek (1971), S. 186. Im Anschluß daran heißt es: „Wenn alles, was verboten oder vorgeschrieben ist, für alle ohne Ausnahme verboten und vorgeschrieben ist (außer die Ausnahmen folgen aus einer anderen allgemeinen Regel), und wenn auch die Behörden keine besonderen Gewalten haben, als die der Erzwingung der Gesetze, wird kaum etwas, was jemand vernünftigerweise zu tun wünscht verboten werden." Daß nicht immer offensichtlich sein mag, ob Regeln Privilegien begründen, also diskriminierend sind, und daß es dafür Prüfkriterien geben muß, ist ein Problem das Hayek ausdrücklich anspricht. Siehe dazu Hayek (1971), S. 185 f. 52

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Hayeks Diagnose keineswegs eine Schwächung, sondern vielmehr eine Stärkung des demokratischen Staates bei der Wahrnehmung seines eigentlichen Auftrages, die gemeinsamen Interessen der Bürger zu fördern.60 Es geht nicht darum, die Autorität der Bürgergenossenschaft zur Gestaltung ihrer öffentlichen Angelegenheiten durch ein ihr von außen vorgegebenes, „liberales" Prinzip einzuschränken, es geht vielmehr darum, dem demokratischen Entscheidungsprozeß Regeln zu geben, die im gemeinsamen Interesse der Bürger liegen.61 Die Forderung nach einer konstitutionellen Beschränkung staatlicher Macht dient dem demokratischen Ideal der Bürgersouveränität ebenso wie dem liberalen Ideal der Sicherung individueller Freiheit.62 Oder, wie Hayek es ausdrückt: „Der Liberale glaubt, daß die Grenzen, die sich zu setzen er von der Demokratie verlangt, auch die Grenzen sind, innerhalb derer sie mit Erfolg wirken und innerhalb derer die Mehrheit die Handlungen der Regierung wirklich lenken und kontrollieren kann"63. Die Vorschläge, die Hayek zur institutionellen Reform der Demokratie vorträgt, sind in diesem Sinne am angemessensten als Empfehlungen an die Bürger demokratischer Gemeinwesen zu verstehen, wie sie die Chancen verbessern können, daß der politische Prozeß Ergebnisse hervorbringt, die ihren gemeinsamen Interessen dienen, und wie sie der Gefahr vorbeugen können, daß eine Politik der Privilegienvergabe zur kollektiven Selbstschädigung fuhrt. Daß eine solche Deutung Hayeks eigenem Verständnis entsprechen dürfte, zeigt seine Feststellung: „Es scheint mir sogar, daß der Reformvorschlag, zu dem meine Kritik der bestehenden Institutionen der Demokratie fuhren wird, den gemeinsamen schauungen der Mehrheit darüber, was gerecht ist, in höherem Maße entsprechen würde, als die gegenwärtigen Vorkehrungen zur Befriedigung des Willens der verschiedenen Interessengruppen, die zusammen eine Mehrheit bilden."64

Hayek (2001), S. 87: „In der Demokratie ist ein Staat mit prinzipiell unbeschränkter Gewalt notwendig ein schwacher Staat, abhängig von den Forderungen von Interessengruppen, die gestellt werden, weil er sie befriedigen kann, und die die Regierung befriedigen muß, wenn sie sich eine regierungsfähige Majorität erhalten will. Ein solcher Staat wird bald ein funktionsunfähiger Staat, der sich die Zustimmung auch zu den wichtigsten Maßnahmen durch Zugeständnisse an Interessengruppen erkaufen muß." 61 Daß Hayek eine engere Verbindung zwischen den Grundidealen der Demokratie und des Liberalismus sieht, kommt zum Ausdruck, wenn es bei ihm heißt: „Aber während es ... fast sicher erscheint, daß eine unbeschränkte Demokratie die liberalen Grundsätze aufgeben wird, um diskriminierende Maßnahmen zum Vorteil verschiedener Gruppen ... zu ergreifen, ist es auch zweifelhaft, ob eine Demokratie langfristig überleben kann, wenn sie die liberalen Grundsätze aufgibt. ... Wenn eine Demokratie sich vom Liberalismus abkehrt, ist es nicht unwahrscheinlich, daß im Laufe der Zeit auch die Demokratie selbst verschwindet"; Hayek (2002c), S. 111. 62 Siehe dazu Buchanan (2001), insbes. S. 237: „The logic of the Situation suggests that general agreement among all Citizens should be within the possible here - general agreement on ... rules that limit the ränge of coercion that politics necessarily involves." « Hayek (1971), S. 141. " Hayek (2002f), S. 207. 60

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Den entscheidenden institutionellen Defekt der herrschenden Form der Demokratie sieht Hayek darin, daß ein und dasselbe Vertretungsorgan, das Parlament, mit zwei grundverschiedenen Aufgaben betraut wurde, nämlich einerseits allgemeine Gesetze zu erlassen, die die Spielregeln für das Handeln der privaten Akteure und für den politischen Prozeß fesdegen, und andererseits die laufenden Geschäfte und Maßnahmen der jeweiligen Regierung zu überwachen und mit zu tragen.65 Daß es zu dieser Aufgabenbündelung kam, machte, so Hayeks Argument, „die Unterscheidung zwischen Gesetzgebung und Regierung und folglich auch die Wahrung der Grundsätze der Herrschaft des Gesetzes und des Rechtsstaates praktisch unmöglich",66 und sie „wirkte sich notwendigerweise so aus, daß es der höchsten staatlichen Autorität fortan freistand, sich selbst jeweils die Gesetze zu geben, die ihr am besten halfen, die augenblicklich aktuellen Ziele zu erreichen"67. Der Umstand, daß eine Abgeordnetenversammlung, die mit der genannten Doppelaufgabe betraut ist, dazu tendieren wird, die Gesetzgebung, also die Gestaltung des allgemeinen Regelrahmens, in den Dienst kurzfristiger Bedürfnisse der laufenden Regierungstätigkeit zu stellen, statt sie an den langfristigen Funktionseigenschaften der zu wählenden Regeln auszurichten, ist nach Hayek auch die zentrale Ursache dafür, daß eine solche Abgeordnetenversammlung dem Druck von Interessengruppen ausgesetzt ist und dazu getrieben wird, „ihre Macht zur ... Förderung von Gruppeninteressen zu gebrauchen"68. Will man den Gesetzgebungsprozeß dem Einfluß von Interessengruppen entziehen und damit die Chancen verbessern, daß die Gestaltung des Regelrahmens im Sinne der langfristigen gemeinsamen Interessen der Bürger erfolgt, so wird es im Sinne der Diagnose Hayeks erforderlich sein, die Aufgabe der eigentlichen Gesetzgebung und die Aufgabe, die Regierungsgeschäfte zu leiten, voneinander strikt getrennten Vertretungsorganen zuzuordnen69 und die gesetzgebende Versammlung unter 65

Hayek (2002f), S. 208: „Die herrschende Form der Demokratie, in der die souveräne Vertretungskörperschaft sowohl das Gesetz niederlegt als auch die Regierung leitet, verdankt ihr Ansehen jedoch einer Illusion: dem Glauben, daß eine solche demokratische Regierung den Willen des Volkes ausfuhren würde." Hayek (2002e), S. 187 f.: „Nun wünschen wir, so glaube ich, zwar zu Recht, daß sowohl die Gesetzgebung im alten Sinne als auch die laufenden Regierungsgeschäfte demokratisch vor sich gehen. Ich halte es jedoch für einen verhängnisvollen ... Fehler, diese zwei verschiedenen Aufgaben ein und derselben Abgeordnetenversammlung anzuvertrauen. Das macht die Unterscheidung zwischen Gesetzgebung und Regierung und folglich auch die Wahrung der Grundsätze der Herrschaft des Gesetzes und des Rechtsstaates praktisch unmöglich."

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Hayek (2002e), S. 188. Hayek (2002b), S. 78: „Der Charakter solch allgemeingültiger Verhaltensregeln für den einzelnen, die der Liberalismus voraussetzt und die er soweit wie möglich vervollkommnen möchte, wurde durch die Vermengung mit jenen Gesetzen verdunkelt, die die Organisation der Regierung betreffen und die Verwaltung der ihr zur Verfugung stehenden Mittel regeln." Hayek (2003), S. 407. Hayek (2002e), S. 188. Hayek (2002e), S. 188: „Es sollte als naheliegende Lösung dieser Schwierigkeiten erscheinen, zwei verschiedene Vertretungsorgane mit verschiedenen Aufgeben zu haben, die eine

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Regeln zu stellen, die eine langfristige Orientierung bei der Regelwahl fördern.70 Der Vorschlag zur Verfassungsreform, den Hayek formuliert hat71, bietet dafür im Grundsatz eine Lösung, ungeachtet der Skepsis und Kritik, auf die er im Detail gestoßen ist.

6.

Schluß

Die von mir in diesem Beitrag vorgeschlagene Unterscheidung zwischen den grundlegenden Idealen und daraus abgeleiteten normativen Prinzipien von Demokratie und Liberalismus sind in der nachfolgenden Tabelle noch einmal zusammengefaßt. Unterscheidet man beim Liberalismus zwischen dem grundlegenderen Prinzip der Individualautonomie und dem daraus abgeleiteten Prinzip der Privatautonomie und ordnet bei der Demokratie dem Prinzip der Mehrheitsherrschaft das grundlegendere Konzept der Bürgergenossenschaft vor, so ergeben sich vier mögliche Kombinationen. Wie man das Verhältnis von Liberalismus und Demokratie beurteilt, wird entscheidend davon abhängen, auf welche der Kombinationen man den Blick richtet. Die von mir in diesem Beitrag vorgetragene Argumentation zielte darauf ab, die Aufmerksamkeit von den nachgeordneten Konzepten der Privatautonomie und der Mehrheitsherrschaft auf die ihnen jeweils zugrundeliegenden, allgemeineren normativen Prinzipien zu lenken.

\

Liberalismus

Demokratie als BürgerSouveränität als MehrheitsHerrschaft

als Individualautonomie

als Privatautonomie

Gemeinsame Grundlage: KomplementärNormativer Individualismus verhältnis Kompatibel, potentieller Konflikt

als echte gesetzgebende Körperschaft und die andere mit der eigentlichen Regierung befaßt." Wie Hayek betont, ist eine effektive und nicht bloß formale Trennung erforderlich, um zu verhindern, daß es zu einer „Kollision zwischen der gesetzgebenden und einer in gleicher Weise organisierten Regierungsversammlung ... (kommt und, Anm. d. Verf.) die gesetzgebende Versammlung die letztere jeweils mit den Gesetzen versorgt, die sie gerade für ihre augenblicklichen Zwecke benötigt"; Hayek (2002f), S. 213. 70

71

Hayek (2002e), S. 190: „Zweck des Ganzen wäre es natürlich, ein gesetzgebendes Organ zu schaffen, das nicht der Regierung dienstbar wäre und nicht zum Gesetz erklären würde, was immer sich die Regierung zur Erreichung ihrer augenblicklichen Ziele wünscht, sondern vielmehr eines, das mit dem Gesetz die bleibenden Grenzen der Zwangsgewalt des Staates abstecken würde." Vgl. Hayek (2003), Kap. 17.

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Viktor Vanberg

Wenn Hayek von Liberalismus und Demokratie als miteinander kompatiblen aber unterschiedlichen Idealen spricht, so trifft dies auf die Kombination „Demokratie als Mehrheitsherrschaft und Liberalismus als Privatautonomie" zu. Betrachtet man im Sinne meines Interpretationsvorschlages das Prinzip der „Bürgersouveränität" als das grundlegende Ideal der Demokratie und die Idee der „Individualautonomie" als das normative Grundprinzip des Liberalismus, so beruhen beide Konzeptionen auf einem normativen Individualismus?2 der es erlaubt, vom demokratischen Prinzip der Bürgersouveränität und dem liberalen Prinzip der Privatautonomie als nicht bloß kompatiblen sondern komplementären, einander ergänzenden Idealen zu sprechen. Das Prinzip der Bürgersouveränität wendet das Ideal der Individualautonomie auf den Bereich kollektiven, politischen Handelns an, das Prinzip der Privatautonomie drückt dieses Ideal für den Bereich der Privatrechtsgesellschaft aus.

Literatur Buchanan, J. M. (2001), Direct Democracy, Classical Liberalism, and Constitutional Strategy, in: Kyklos 24, S. 235 - 242. Hayek, F. A (1952), Der Weg zur Knechtschaft, 3. Aufl., Erienbach-Zürich. Hayek, F. A (1970), Die Verfassung der Freiheit, Tübingen. Hayek, F. A. (1972), Forword" zu The Road to Serfdom, Chicago, S. iii-xvi (entspricht dem „Preface to the 1965 Paperback Edition"). Hayek, F. A. (1976), Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 2. erw. Aufl., Salzburg. Hayek, F. A (1979), The Political Order of a Free People, Vol. 3 of Law, Legislation and Liberty, London, Henley. Hayek, F.A. (2001), Marktwirtschaft oder Syndikalismus, in: Wirtschaft, Wissenschaft und Politik - Aufsätze zur Wirtschaftspolitik, Band A 6 von F. A. von Hayek, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Tübingen, S. 83 - 88. Hayek, F. A. (2002), Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung - Aufsätze zur Politischen Philosophie und Theorie, Band A 5 von F.A. von Hayek, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Tübingen. Hayek, F. A. (2002a), Entstehung und Verfall des Rechtsstaatsideals, in: Hayek (2002), S. 39 - 62. Hayek, F. A (2002b), Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, in: Hayek (2002), S. 69 - 87. 72

Auf diese Gemeinsamkeit weist auch Hayek (1952, S. 45) hin, wenn er von der „Demokratie als einer im wesentlichen individualistischen Institution" spricht.

Die Verfassung der Freiheit

51

Hayek, F. A. (2002c), Liberalismus, in: Hayek (2002), S. 88 - 120. Hayek, F. A. (2002d), Die Sprachverwirrung im politischen Denken, in: Hayek (2002), S. 150 - 177. Hayek, F. A. (2002e), Wirtschaftsfreiheit und repräsentative Demokratie, in: Hayek (2002), S. 178 - 191. Hayek, F. A. (2002f), Wohin zielt die Demokratie?, in: Hayek (2002), S. 205 216.

Hayek, F. A. (2003), Recht, Gesetz und Freiheit - Eine Neufassung der liberalen Grundsätze der Gerechtigkeit und der politischen Ordnung, Bd. B 4 von F. A. von Hayek, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Tübingen. Mestmäcker, E.-J. (1975), Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, in: Sauermann, H. / Mestmäcker, E.-J. (Hrsg.), Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung - Festschrift fiir Franz Böhm zum 80. Geburtstag, Tübingen, S. 383 - 419. Rawls, J. (1975), Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. Vanberg V. J. (2000), Der konsensorientierte Ansatz der konstitutionellen Ökonomik, in: Leipold, H. / Pies, I. (Hrsg.), Ordnungstheorie und Ordnungspolitik Konzeptionen und Entwicklungsperspektiven, Stuttgart, S. 251 - 276. Vanberg V. J. (2001), Markets and the Law, in: Smelser, N. J. / Baltes, P. B. (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Amsterdam et al., S. 9221 - 9227. Vanberg V. J. (2002), Markets and Regulation: On the Contrast between FreeMarket-Liberalism and Constitutional Liberalism, in: ders. (Hrsg.): The Constitution of Markets — Essays in Political Economy, London, New York.

Die Ambivalenz des Staates - Zur Rechtfertigung öffentlicher Daseinsvorsorge Guy Kirsch

1. , Jedes Wort ist ein Vorurteil." Wie kaum anderswo dürfte die These Niet2sches in der wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung ihre Bestätigung finden. Kaum ein Wort, das hier gebraucht wird, das nicht — trotz allen Anscheins von Objektivität und Sachlichkeit — reich an normativen Konsonanzen und emotionalen Untertönen ist. Dies trägt gewiß zur Lebendigkeit, ja mitunter zur Leidenschaftlichkeit der Diskussion bei; der Klarheit der ausgetauschten Argumente und Gegenargumente ist es allerdings wenig förderlich. Entsprechend groß ist die Gefahr, daß sich die Teilnehmer an der Auseinandersetzung über das, was sie sagen, selbst nicht im klaren sind; entsprechend hoch ist auch das Risiko, daß sie sich dort, wo sie einander überzeugen sollten, allenfalls überreden können. Mehr noch: Weil die Diskussion mit emotional aufgeheizten und normativ aufgeladenen Begriffen geführt wird, besteht die Gefahr, daß in der politischen Praxis die Allokationseffizienz verpaßt wird. Auch ist kaum zu vermeiden, daß die verteilungspolitischen Folgen einer so geführten Auseinandersetzung über mehr oder weniger weite Strecken ein Reflex der Selbsttäuschung der Redenden und der Täuschung der Überredeten sein werden. Konfuzius hat schon recht: Auf die Frage, was man tun müsse, um Ordnung in das Reich zu bringen, antwortete er, man müsse die Begriffe klären. Es ist demnach eine alles andere als müßige Übung, sich eingangs der Vorurteilsbeladenheit der im Titel angesprochenen Begriffe „Staat", „öffentlich" und „Daseinsvorsorge" bewußt zu werden. Für alle drei gilt nämlich, daß sie geradezu reflexartig Urteile provozieren, die um so gefährlicher sind, als sie — wie dies für Vorurteile charakteristisch ist - als Sachaussagen angeboten, richtiger: unterschoben werden und durch Fakten kaum zu erschüttern sind.

2. So mag man vom Staat reden und sich — ohne zu merken und zu wissen, warum — nicht oder falsch verstehen: Während die einen — hegelianisch infiziert — im Staat den Ausdruck höchster Sittlichkeit bzw. — Rousseau folgend — die Institutionalisierung des „volonté générale" verehren, schrecken die anderen — hier ist Nietzsche noch einmal zu zitieren — vor dem Staat als dem „kältesten aller kalten Ungeheuer1' zurück. Die Gefahr ist groß, daß keine der beiden Seiten sich so recht bewußt ist, um was es ihr selbst zu tun ist; und beide müssen geradezu mißverstehen, um was

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es der Gegenseite geht. Zu sehr sind auf beiden Seiten positive Aussagen und normative Wertungen vermischt; zu wenig auch ist diese Mixtur als solche sichtbar. Im folgenden soll dies nach Möglichkeit vermieden werden. Deshalb an dieser Stelle — begrifflich voneinander getrennt und praktisch aufeinander verweisend — eine positive Aussage und eine normative Vorgabe. Die positive Aussager. Der Staat, jeder, also auch der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist ein Herrschafts- und Zwangsinstrument. Er erzwingt — mittels seines Repressionsapparates - von seinen Bürgern ein bestimmtes Verhalten und dies auf der Grundlage von Gesetzen, welche - die Wörter sind hier von Bedeutung — ohne Ansehen der Person Anwendung finden. Der Staat wendet allgemeine Gesetze auf — notwendigerweise immer — irgendwie unterschiedlich gelagerte Individualfalle an. Insofern ist er in dem, was er fordert, und da, wo er fördert, notwendigerweise von unpersönlicher Rücksichtslosigkeit. Und: So wie der Staat gleichsam in seinem „output" ein Herrschafts- und Zwangsinstrument ist, so ist er nur für einen „input" empfänglich, der in politischem Druck besteht. Der Staat reagiert auf menschliche Bedürfnisse, ja auf menschliches Elend nur und nur soweit, wie diese sich in politischem Druck äußern. Im günstigen Fall, also nicht unbedingt immer, wird dieser Druck im Rahmen von Recht und Gesetz ausgeübt. Es ist also vorerst festzuhalten: Der Staat ist in dem, was er nach außen abgibt, und in dem, was er von außen aufnimmt, eine unpersönliche Macht- und Herrschaftsveranstaltung. Gewiß ist es möglich, in einzelnen Gesetzen möglichst viele Spezialfälle zu berücksichtigen und zu versuchen, so den individuell je unterschiedlichen Situationen gerecht zu werden. Nur hat dies seinen Preis: Die Gesetze werden kompliziert und damit für jene, die sie, etwa als Beamte, anwenden sollen, schwer, wenn überhaupt zu handhaben; für jene aber, deren Verhalten sie regeln sollen, also für die Bürger, mögen die Gesetze im Extrem nicht einmal mehr durchschaubar sein. Letzteres verweist unmittelbar auf die normative Vorgabe, die den folgenden Darlegungen zugrunde liegt: Es ist der Wille der das souveräne Volk konstituierenden Bürger, der als Richtlinie und Kontrollmaßstab für die Tätigkeit des Staates gelten muß. Dies ist ein inzwischen banal-selbstverständliches Wertbekenntnis; nur hat es keineswegs banal-selbstverständliche Aspekte. Es bedeutet nämlich, daß der Staat wenigstens über so viel, aber nur über so viel Macht verfügt, also in dem Maße, aber nur in dem Maße Herrschafts- und Zwangsinstrument sein muß bzw. sein darf, wie er zur Erfüllung jener Aufgaben braucht, welche die Bürger gelöst sehen wollen, aber anderweitig nicht lösen können. Die Balance zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig an staatlicher Macht ist — wie die ordnungstheoretische Diskussion seit Jahrhunderten zeigt — schwer zu definieren und — wie die ordnungspolitische Praxis gleichfalls seit Jahrhunderten illustriert — schwer zu halten. Dabei ist beides wichtig; denn: „Si l'Etat est fort, il nous écrase; si l'Etat est faible, nous périssons." (Paul Valéry)

Die Ambivalenz des Staates

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Neben diesem quantitativen ist ein qualitativer Aspekt zu nennen: Der Staat hat seine Politik inhaltlich - vermittelt durch die Mechanismen der Verfassung - an den Präferenzen der Wähler auszurichten. Auch dies steht als normative Vorgabe außerhalb jeder Frage. Fraglich ist allerdings, ob dieser Vorgabe je entsprochen werden kann; vielmehr spricht so ziemlich alles dafür, daß auch in einem demokratisch-liberalen Rechtsstaat dieses Ziel durchwegs eher mehr als weniger verfehlt wird. Die Selbstherrlichkeit der politischen Klasse, die Eigenmächtigkeit der Verwaltung und die dunklen Korridore zwischen der Lobby und der Staatsmacht sind keineswegs bloße Erfindungen einer auf Umsturz sinnenden Systemkritik. Auch hier ist demnach eine Balance zu suchen und zu finden: Damit der Staat eine den Präferenzen der Bürger entsprechende Politik überhaupt betreiben kann, müssen ihm Mittel in die Hand gegeben werden. Allerdings: Es besteht die Gefahr, daß diese zur Manipulierung und zum Ignorieren der Bürgerpräferenzen eingesetzt werden. Damit erweist sich der Staat als ausgesprochen janusköpfiges Wesen: wünschenswerterweise wohlfahrts- und freiheitsfördernd und wahrscheinlich wohlfahrts- und freiheitsbedrohend. Dies ist allerdings nicht so zu verstehen, daß er — je nachdem, ob die oben genannte doppelte Balance verfehlt wird oder nicht — entweder das eine oder das andere ist. Er ist mal mehr das eine, mal mehr das andere; weil — wie die Erfahrung zeigt — nicht zu erwarten ist, daß die beiden Balancen je vollends erreicht und gehalten werden, ist er immer beides gleichzeitigUnd weil dem so ist, muß der Staat aus liberal-individualistischer Sicht als ein wohl notwendiges, aber nichtsdestoweniger als ein Übel angesehen werden. Entsprechend ist immer wieder der Nachweis einzufordern, ob, in welcher Form und in welchem Umfang der Staat wünschenswert oder gar notwendig ist. Die Beweislast liegt bei den Apologeten des Staates, nicht aber bei jenen, die ihm mit Vorbehalt begegnen. 3.

Letzteres muß man im Sinn behalten, wenn man sich dem zweiten im Titel angesprochenen Begriff — „öffentlich " — zuwendet. Er ist — in Deutschland wohl mehr als anderswo — deshalb irreführend, weil er nur zu oft mit gedankenloser Selbstverständlichkeit mit dem Beiwort „staatlich" gleichgesetzt wird. Beides aber ist zu unterscheiden; auch hier ist die Klärung der Begriffe angebracht: Wohl gehört der Staat zur Öffentlichkeit; doch ist nicht jede Öffentlichkeit staatlich. Die Öffentlichkeit definiert sich nämlich in der Differenz zum Privaten. Während im privaten Raum die Menschen mit sich und/oder mit anderen Menschen so umgehen, daß sie weder sich noch ihren jeweiligen Interaktionspartner als durch einen anderen Menschen ersetzbar ansehen, ist dies im öffentlichen Raum nicht der Fall. Im privaten Raum geht Peter mit Paul wandern, weil Paul sein Freund ist, also wenigstens in der momentanen Lebenssituation durch niemand anderes

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ersetzt werden könnte. Man denke hier an Montaignes Antwort auf die Frage, warum er mit La Boetie befreundet sei: „Parce que c'est lui et parce que c'est moi." In privaten Beziehungen verkehren demnach die Menschen miteinander nach Maßgabe dessen, was sie füreinander sind. Freund und Freund, Mann und Frau, Vater und Sohn, Schwester und Bruder. Anders im öffentlichem Raum. Hier verkehren die Menschen nicht miteinander, weil sie sich wechselseitig als einzigartige, nicht austauschbare Individuen etwas bedeuten, sondern weil sie sich — im Prinzip substituierbar durch andere — wechselseitig von Nutzen sind; und dies, weil und soweit sie etwas füreinander Wohlfahrtssteigerndes haben. Hier geht Peter mit Paul, mit Robert oder mit sonst jemandem wandern; Hauptsache, es begleitet ihn irgend jemand, der eine gute physische Kondition hat. Entsprechend geht hier Peter nicht mit dem unersetzbaren Freund Paul, sondern mit einem Kameraden aus dem Wanderverein. Hier backt ihm nicht seine Mutter einen Kuchen, weil er ihr Sohn ist, hier bäckt die Bäckerin einen Kuchen, um ihn in ihrem Laden an irgendeinen Kunden zu verkaufen, der Geld hat. Hier pflegt Peter nicht die geistig behinderte Maria, weil sie seine Schwester ist, sondern Peter betreut als Angestellter „Pflegefälle", die ihm im Rahmen der gesetzlichen Regelungen vom Sozialamt zugeteilt worden sind, also ein Anrecht auf Pflege haben. Die Beispiele klingen simpel, sind aber mit Bedacht gewählt; sie haben gemeinsam die Substituierbarkeit der Interaktionspartner; sie unterscheiden sich aber in dem, was sie zu Illustrationen der drei Segmente der Öffentlichkeit macht: Peters Wanderverein verweist auf die bürgergesellschaftliche Öffentlichkeit; die Bäckersfrau steht für die merkantile Öffentlichkeit; die gesetzlich vorgeschriebene und geregelte Pflege schließlich exempliziert die staatliche Öffentlichkeit. Es ist — wie gesagt — in Deutschland besonders wichtig, darauf hinzuweisen, daß der Staat und seine Politik wohl einen mehr oder weniger großen Teil des öffentlichen Raumes ausfüllen mögen, daß aber keineswegs die Öffentlichkeit mit dem Staat deckungsgleich sein muß: Wohl hat alles, was staatlich ist, öffentlich zu sein; doch ist nicht alles, was öffentlich ist, auch staatlich. Es ist vermutlich eine Nachwirkung Hegelscher Staatsmystik, daß die nichtstaatliche, also die bürgergesellschaftliche Öffentlichkeit in Deutschland immer wieder Gefahr läuft, vom Schatten der staatlichen Öffentlichkeit verdunkelt zu werden. Dies hat nicht nur zur Folge, daß die Öffentlichkeit der „civil society" in der ordnungstheoretischen Diskussion jedenfalls bis in die jüngere Gegenwart hinein eine allenfalls marginale Rolle gespielt hat. Es hat auch zur Folge, daß die Ordnungspolitik für die bürgergesellschaftliche Öffentlichkeit kaum günstige Rahmenbedingungen geschaffen hat; im Gegenteil: Es ist eher zu befürchten, daß die Ordnungspolitik über weite Strecken die Entfaltung und die Vitalität dieses Segments der Öffentlichkeit behindert, wenn nicht gar verhindert hat. Es ist ein schwacher Trost, daß — wie schon Alexis de Tocqueville im 19. Jahrhundert festgehalten hat — im Vergleich zu den Vereinigten Staaten in ganz Europa allgemein die Tendenz

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besteht, dort, wo sich Probleme nicht im privaten Raum lösen lassen, sie dem staatlichen, nicht aber dem bürgergesellschaftlichen Segment des öffentlichen Raumes zuzuweisen. 4. Ein drittes Reizwort steht im Titel: „Daseinsvorsorge". Wie die beiden andern klingt auch dieses nach distanziert-kühler Sachlichkeit. Doch wie die beiden anderen ist auch dieses in Tat und Wirklichkeit emotional aufgeheizt und normativ aufgeladen. In der Tat: Das Wort evoziert geradezu automatisch Vorstellungen von Schutz und Sicherheit; mehr noch: Es beschwört Bilder von sorgloser Geborgenheit inmitten einer ansonst durchaus besorgniserregenden Welt. Es ist verständlich, daß die Daseinsvorsorge allgemein a priori positiv konnotiert ist. Wer könnte auch und mit welchem Grund dagegen sein, daß in einer risikoreichen Welt für das Dasein, für die Belange des Lebens und des Wohllebens vorgesorgt wird, und so in der Zukunft gesichert ist, was in der Gegenwart als notwendig oder wenigstens als wünschenswert gilt? Allerdings: Problematisch ist es, daß jene, denen das Wort der „Daseinsvorsorge" leicht aus dem Herzen quillt und über die Lippen geht, offenkundig selten explizit die Frage stellen, wer für das Dasein von wem Vorsorgen soll. Gemeinhin wird das Wort „Daseinsvorsorge" mit dem Beiwort „öffentlich", mehr noch: mit dem Beiwort „staatlich" verbunden. Dabei wird geflissentlich übersehen, daß es einen beträchtlichen Unterschied ausmacht, wer wie Vorsorge trifft für das Dasein der Einzelnen. Es ist ein anderes, ob dies im Raum der privaten Beziehungen oder aber im öffentlichen Raum geschieht; und wenn letzeres, so macht es wiederum einen Unterschied, ob die Daseinsvorsorge im merkantilen, im bürgergesellschaftlichen oder aber im staatlichen Segment des öffentlichen Raumes gewährleistet werden soll. Nachdem das Wort „Daseinsvorsorge" gemeinhin Bilder der Geborgenheit des Einzelnen dank der Vorsorge anderer, insbesondere dank der Vorsorge durch den Staat evoziert, ist an dieser Stelle auf die Kehrseite besonders dieser Art von Daseinsvorsorge hinzuweisen. Einer der gefahrlichen Aspekte einer so verstandenen Daseinsvorsorge besteht, wie die Theorie lehrt und die Praxis zeigt, in dem Risiko der Entmündigung jener, für deren zukünftiges Dasein durch den Staat Vorsorge getroffen wird. Dies ist aber genau das Gegenteil dessen, was in einer liberal-individualistischen Gesellschaft anzustreben ist. Die Daseinsvorsorge soll nach Möglichkeit nicht zur Entmündigung der Einzelnen beitragen. Vielmehr hat in einer liberal-individualistischen Ordnung zu gelten, daß es das Recht und die Pflicht der Einzelnen ist, sich nicht von anderen, von wem auch immer, nach Maßgabe seiner Mündigkeit, d. h. nach Maßgabe seiner Möglichkeit, für sich selbst zu sorgen, die Vorsorge um das eigene Dasein abnehmen zu lassen. Und dort, wo der Einzelne für sein Dasein nicht Vorsorgen kann, ist — ehe denn andere für seine Daseinsvorsorge aufkommen sollen — zu prüfen, ob und wie er in die Lage versetzt werden kann, in eigener Regie und Verantwortlichkeit

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für sein Dasein Sorge zu tragen. Aus individualistisch-liberaler Sicht hat der Einzelne das Recht und die Pflicht, für sich, sein Leben und sein Wohlleben Sorge zu tragen. Nimmt man das individual-freiheitliche Engagement ernst, dann ergibt sich geradezu von selbst eine Rangliste, nach welcher die Daseinsvorsorge erst dann im öffentlichen Raum angesiedelt werden soll, wenn sie im privaten nicht gewährleistet werden kann. Und im öffentlichen Raum sollte die staatliche Daseinsvorsorge erst dann in Betracht gezogen werden, wenn die merkantile bzw. die bürgergesellschaftliche Öffentlichkeit überfordert sind. Ist dies aber richtig, dann erweist sich - wie oben dargelegt - die in Deutschland gängige Assoziation von „Daseinsvorsorge" und „öffentlich-staatlich" als ausgesprochen problematisch und irreführend: sie engt die theoretische Diskussion über die Daseinsvorsorge ungebührlich ein und lenkt die Politik in eine keineswegs von vorneherein wünschenswerte Richtung.

5. Da nun aber die Diskussion auf diese Weise vorgeprägt ist, wollen wir im folgenden von diesem Verständnis der Daseinsvorsorge ausgehen und im weiteren dann wieder den Blick auf einen breiteren Horizont richten. Was ist unter öffentlich-staatlicher Daseinsvorsorge zu verstehen? Auch hier ist eine Klärung der Begriffe von praktischer Bedeutung. Und diese erfolgt zweckmäßiger in Anlehnung an den und in der Differenz zum Begriff der meritorischen Güter. Zur Erinnerung: Meritorische Güter sind Güter, für welche ein Markt besteht oder doch bestehen könnte und deren Konsum der Staat aus Gründen, die hier nicht zu interessieren brauchen, über jenes Maß hinaus steigern möchte, das erreicht worden wäre, wenn sich auf dem Markt Angebot und Nachfrage ohne staatliche Intervention begegnet wären. Mit den meritorischen Gütern hat nun die staatliche Daseinsvorsorge gemeinsam, daß es sich auch hier um einen staatlichen Eingriff in einen bestehenden oder doch möglichen Markt privater Güter handelt. Nur zielt im Falle der Daseinsvorsorge der staatliche Eingriff nicht auf eine Erhöhung des Konsums, sondern auf die Sicherstellung der Versorgung mit bestimmten Gütern und Dienstleistungen, für welche ein Markt besteht oder doch bestehen könnte. Es geht bei der staatlichen Daseinsvorsorge also nicht um die Steigerung des Konsums bestimmter Güter, sondern um die Sicherstellung des Angebots bestimmter Güter. Man mag mit gutem Grund darauf hinweisen, daß sich in der politischen Praxis die beiden Anliegen — Erhöhung des Konsums und Sicherstellung des Angebots — miteinander verschränken können. Dies ändert allerdings nichts daran, daß es zweckmäßig ist, beide — die meritorischen Güter und die staatliche Daseinsvorsorge — analytisch zu unterscheiden. Dies auch und besonders mit Blick auf deren jeweilige Begründung: So mag es im konkreten Fall gute Gründe für das eine geben, ohne daß auch das andere berechtigt wäre.

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6. Fragt man nun nach den Rechtfertigungsgründen für die staatliche Daseinsvorsorge, so konzentriert sich gemeinhin das Interesse auf die Gründe, die es angezeigt sein lassen, warum der Staat die Sicherstellung der Versorgung mit bestimmten durchaus marktfähigen Gütern und Diensdeistungen gewährleisten soll. Nun haben wir aber oben gesehen, daß es neben der staatlichen auch eine bürgergesellschaftliche Öffentlichkeit gibt. Im weiteren Verlauf werden wir deshalb wohl die Berechtigung der staatlichen, aber auch die Berechtigung und die Möglichkeit der bürgergesellschaftlichen Daseinsvorsorge ansprechen. Dabei wird man beachten wollen, daß diese Reihenfolge nur und ausschließlich gewählt wird, weil so der Anschluß an die gegenwärtige Diskussion leicht gelingt. Aus ordnungstheoretischer Perspektive gebührt — siehe oben — die Priorität der „civil society", nicht aber dem Staat. Was nun die Gründe für die staatliche Daseinsvorsorge betrifft, so kreisen sie zum einen um die Quantität und zum anderen um die Qualität der Bereitstellung bestimmter Güter und Dienstleistungen. So mag der Staat - erstens - bei der Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen tätig werden, wenn als Folge von asymmetrischer Information die Kunden die Qualität privat angebotener Güter und Diensdeistungen nicht (hinreichend) prüfen können, wenn der Staat die Qualität privat bereitgestellter Güter und Diensdeistungen nicht (hinreichend) prüfen und sicherstellen kann bzw. wenn Berufskorporationen — etwa Kammern — als Kontrollinstanzen eines Wirtschaftszweiges fehlen oder versagen. Dies sind gängige Argumente; sie klingen auch vorerst recht überzeugend; nur haben sie während der letzten Jahre einiges an Plausibilität verloren, weil auch der Staat als Garant qualitativ hochwertiger Güter und Dienstleistungen durch eine ganze Reihe von Skandalen einigermaßen in Verruf geraten ist. Man kann sich in diesem Kontext wenigstens fragen, ob die US-amerikanische Praxis der sehr weitgehenden Produzentenhaftung nicht doch einige Vorteile hat gegenüber der deutschen Qualitätssicherung durch Vorschriften und Auflagen für private Hersteller und durch die Bereitstellung von Gütern und Diensdeistungen durch die staatliche Daseinsvorsorge. Als weiteres Argument für den staatlichen Eingriff in die Bereitstellung von marktfähigen Gütern und Dienstleistungen wird - zweitens — angeführt, daß dort die staatliche Daseinsvorsorge gefordert ist, wo Teile der Bevölkerung keinen "Zugang %um bestehenden Markt für diese Güter und Dienstleistungen haben: Weil kleine und mittlere Unternehmen keinen oder doch einen erschwerten Zugang zum Kapitalmarkt haben, sollen etwa Landesbanken und Sparkassen als Institutionen der Daseinsvorsorge fungieren. Weil entlegene Bergdörfer von einer nur nach marktlichen Wettbewerbskriterien agierenden Post nicht oder doch nur zu Bedingungen, die aus verteilungs- oder strukturpolitischen Gründen unannehmbar sind, bedient würden, soll das Postwesen in dieser oder jener Form als Einrichtung der staatlichen Daseinsvorsorge betrieben werden.

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Das Argument hat in dem Maße einiges Gewicht, als die Berechtigung verteilungs- und strukturpolitischer Aspekte akzeptiert wird. Allerdings ist auch in diesem Fall zu fragen, ob Institutionen der öffentlichen Daseinsvorsorge jeweils die am ehesten geeigneten Instrumente sind, verteilungs- und strukturpolitische Ziele zu erreichen. Dies auch und besonders mit Blick auf die Tatsache, daß Unternehmen der öffentlichen Daseinsvorsorge insofern hybride Wesen sind, als sie einerseits den Imperativen des Wirtschaftssystems, andererseits den Direktiven des politischen Systems gehorchen sollen. Im Ergebnis fuhrt dies — wie die Erfahrung hinreichend lehrt — nur zu leicht und nur zu oft dazu, daß der politische Auftrag mit Hinweis auf das Diktat der Wirtschaft(lichkeit) unzureichend erfüllt und die schiere Unwirtschaftlichkeit mit den Zwängen des politischen Auftrages bemäntelt und entschuldigt wird. Neben diesen beiden Argumenten wird ein drittes zugunsten der staatlichen Daseinsvorsorge ins Feld gefuhrt: Wenn die Elastizität der Produktionsausweitung gering ist, dann besteht die Gefahr, daß im Falle einer abrupten Nachfragesteigerung das Angebot nicht hinreichend schnell reagiert. Dies kann dann von Bedeutung sein, wenn die Befriedigung dieser Nachfrage — etwa in Krisen- oder Kriegszeiten — aus politischen Gründen für wünschenswert oder gar für existenznotwendig gehalten wird. In diesem Fall — so das Postulat — ist es geboten, das der Staat ein Produktionspotential aufrecht hält, das über jenes Maß hinausgeht, das unter dem Aspekt der reinen Marktrationalität gerechtfertigt ist. Das Argument ist nicht ohne Gewicht; allerdings ist zu fragen, ob die Produktionselastizität der Privatwirtschaft durchgehend so gering ist, wie hier unterstellt wird. Jedenfalls haben die Erfahrungen der letzten Jahre mit Krisen - etwa Erdölschock, Lebensmittelskandale, Tierkrankheiten — gezeigt, daß die Privatwirtschaft recht flexibel zu reagieren vermag. Es ist zwar richtig, daß diese Krisenanpassungen mit Kosten und zum Teil unliebsamen Verteilungsverwerfungen verbunden sind; allerdings sind diese mit den gleichfalls realen Nachteilen und Kosten der staatlichen Daseinsvorsorge zu vergleichen. Es steht nicht a priori fest, daß der Vergleich in jedem Fall zugunsten der staatlichen Daseinsvorsorge ausfällt. Als viertes ist folgendes Argument zu nennen. Es spielt gegenwärtig auch und besonders im Kontext der Kulturpolitik eine nicht unbeträchtliche Rolle. Entsprechend soll es etwas genauer erörtert werden: Private Unternehmen stellen auf die Dauer nur solche Güter und Dienstleistungen her und bieten auf die Dauer nur solche Güter an, die tatsächlich nachgefragt und gekauft werden, mit welchen also tatsächlich ein Gewinn gemacht werden kann. Nun gibt es aber Güter und Diensdeistungen — die sog. „dispositionell goods" — deren Wert sich für den Einzelnen nicht nur realisiert, wenn er sie tatsächlich in Anspruch nimmt, sondern die für den Einzelnen schon allein dadurch wohlfahrtssteigernd sind, daß sie vorhanden, also verfügbar sind. Haben diese „dispositional goods" Kollektivgutcharakter, so versagt der Markt: Ein Opernhaus mit allabendlicher Aufführung ist für den Bewohner einer Stadt nicht nur dann wohlfahrtssteigernd, wenn er gerade mal selbst eine Aufführung besucht. Allein

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die Tatsache, daß - wenn ihn denn dazu die Lust ankäme - er in die Oper gehen könnte, ist für ihn wohlfahrtssteigernd. Für diese Art der Wohlfahrtssteigerung zahlt er nun aber keinen Preis; entsprechend wird ein privater Anbieter auch mit Blick auf diesen Nutzen keine Opernaufführungen anbieten. Konkret: Er wird nicht jeden Abend möglicherweise verlustbringend vor halbleeren Rängen eine Oper zur Aufführung bringen, damit die Leute in die Oper gehen können. Vielmehr wird er nur so viele Aufführungen über die Bühne gehen lassen, wie es der Zahl jener entspricht, die tatsächlich in die Oper gehen. Wenn nun aber die Allokationseffizienz verlangt, daß alle wohlfahrtsrelevanten Entscheidungsfolgen berücksichtigt werden, so haben wir es hier eindeutig mit einer Allokationsdefizienz als Folge eines Marktversagens zu tun. Entsprechend scheint sich eine staatlich-politische Initiative zur Bereitstellung dieses „dispositional good" zu rechtfertigen. Jedenfalls wird auf diese Weise das Kollektivgut „In-die-Oper-gehen-können" bereitgestellt. So weit, so gut. Aber eben nur so weit; denn: Man denke an eine große Stadt wie New York, in der eine Vielzahl und eine Vielfalt von Theatern auf ein potentielles Publikum bauen können, das so groß und in seinem Geschmack so breitgefächert ist, daß die Chance besteht, daß viele Theater vielleicht nicht an jedem Abend, aber mehr oder weniger häufig ein gewinnträchtig gut besuchtes Haus haben. Das Ergebnis wird sein, daß jeder New Yorker an jedem Abend irgendwo ins Theater gehen kann, und dies obschon im Zweifel keines der Theater an jedem Abend eine Vorstellung anbietet. Hier wird das Gut „Ins-Theater-gehenkönnen" als Nebenprodukt der privaten Güterbereitstellung angeboten. Ist dies der Fall, so besteht kein Grund, daß etwa das „dispositional good" durch die Gemeinde bereitgestellt wird. Entsprechend ist es ökonomisch nur rational, daß in New York der Theaterbetrieb (fast) ausschließlich durch private Anbieter sichergestellt wird; und dies auf einem beneidenswert hohen Niveau künstlerischer Qualität und in einer beeindruckenden Vielfalt. Entsprechend auch ist es ökonomisch nicht gerechtfertigt, die ausschließlich privatwirtschaftliche Ausrichtung des New Yorker Theater- und Musiklebens unbesehen auf andere, etwa deutsche Verhältnisse zu übertragen. Selbst Großstädte sind in Deutschland im Vergleich zu New York klein. Man müßte erwarten, daß hier ein rein privatwirtschaftliches Güterangebot dazu führen würde, daß entweder nur das eine oder andere Pop-Stück, das wahrscheinlich jeden Abend ein volles Haus einspielen wird, im Angebot ist; daß es sich nur an einer mehr oder weniger beschränkten Zahl von Abenden lohnt, eine Aufführung anzubieten. Und diese Zahl könnte gar so klein sein, daß sich ein eigener auf eine Stadt ausgerichteter Theaterbetrieb nicht lohnt, also nur durch Theater- und Konzertagenturen angebotene Auffuhrungen Zustandekommen; daß es sich überhaupt für einen privaten Anbieter in keiner Form lohnen wird, Aufführungen anzubieten.

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In letzterem Fall hätten wir es mit der Situation jener amerikanischen Kleinstädte zu tun, in denen es allenfalls „selbstgemachte" Theater- und Konzertabende gibt. Dies könnte man im Sinne der „civil society" als Vorteil empfinden; man könnte allerdings auch befürchten, daß dies zu einem eher „low-flying" Kulturleben fuhrt: Volkskultur - ja; Hochkultur - nein. Fazit: So sehr eine kommunale Das eins Vorsorge in Sachen Theater und Musik in New York nicht gerechtfertigt ist, so wenig wäre es auch unter anderen, etwa bundesdeutschen Verhältnissen a priori gerechtfertigt, sich nur auf eine merkantile Daseinsvorsorge zu verlassen. Allerdings: Wenn als Folge der sinkenden Kommunikations- und Mobilitätskosten der Radius, innerhalb dessen der Einzelne sich sein Angebot für die Gestaltung seiner Abende aussuchen kann, sinkt, dann kommt es im Zweifel auch in Deutschland nicht mehr darauf an, daß durch jede Stadt „dispositional goods" angeboten werden: Wenn man mühelos am Dienstag nach Düsseldorf in die Oper fahren kann, ist es — der Lokalpatriotismus sei mal dahingestellt — für den Kölner nicht weiter schlimm, wenn am Dienstag in Köln das Opernhaus keine Aufführung anbietet.

7.

Auch wenn die Diskussion um die Vor- und Nachteile der öffentlichen Daseinsvorsorge im wesentlichen um die staatliche Daseinsvorsorge kreist, so haben wir doch gesehen, daß der öffentlichen auch die bürgergesellschaftliche Daseinsvorsorge zuzuordnen ist. Daß hier, aber auch in der übrigen ordnungspolitischen Diskussion die „civil society" kaum, wenn überhaupt berücksichtigt wird, ist nicht nur darauf zurückzuführen, daß sie in der Praxis völlig bedeutungslos ist; ein Grund für diese relative Vernachlässigung mag auch darin ihre Ursache haben, daß es eine liberale Theorie der Wirtschaftsordnung und eine liberale Theorie der Demokratie gibt, die Diskussion über die „civil society" aber an einem theoretischen Defizit leidet. Was aber nicht auf den Begriff gebracht worden ist, läßt sich nur schwer in den Griff bekommen. In unserem Problemzusammenhang ist es deshalb nötig, sich auf das zu verständigen, was unter der Vokabel „civil society" bzw. Bürgergesellschaft angesprochen wird. Es ist möglich und zweckmäßig, dies dadurch zu tun, daß die „civil society" als Teil der Öffentlichkeit in der Differenz zu den beiden anderen Sektoren des öffentlichen Raums, also dem Markt und dem Staat, abgegrenzt wird. Obschon die bürgergesellschaftliche Öffentlichkeit wie die merkantile Öffentlichkeit auch auf dem Prinzip von wechselseitig freiwilligem Tausch von Leistung und Gegenleistung gründet, unterscheidet sie sich von dieser dadurch, daß ihr Code nicht im Haben bzw. Nichthaben von Geld bzw. von geldwerten Leistungen besteht: Wer etwa in einer Selbsthilfegruppe für spastisch Gelähmte aktives Mitglied ist, erbringt seine Leistungen in der Regel nicht in Geld, sondern in Informationen, im Zuhören, usw.; und für diese seine Leistungen wird er auch

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gemeinhin nicht in Geld bezahlt, sondern etwa dadurch, daß er in seinen Nöten und Sorgen Ansprechpartner hat, die ihn mit Rat und Tat, im Zweifel auch nur durch ihr einfaches Dasein unterstützen. Von der staatlichen unterscheidet sich die bürgergesellschaftliche Öffentlichkeit in folgendem: Der Zwang ist - siehe oben - ein konstitutives Merkmal des Staates; dies ist in bürgergesellschaftlichen Zusammenschlüssen von ihrer Konstruktionsidee her nicht der Fall: Die Exit- bzw. die Kö«?-Möglichkeiten sind im Vergleich zum Staat gemeinhin hoch und die Exit- bzw. die Voicekosten niedrig: Es ist leichter aus einer Selbsthilfegruppe oder aus einer dörflichen Blaskapelle auszuscheiden als einen Staat, dessen Bürger man ist, zu verlassen; und: In einer Selbsthilfegruppe bzw. in einer Blaskapelle verschafft man sich durchwegs leichter Gehör als dies selbst in einem demokratisch verfaßten Staat möglich ist. Darüber hinaus ist es eine zumindest plausible Hypothese, daß bürgergesellschaftliche Zusammenschlüsse flexibler und sensibler als der Staat auf die individuellen Befindlichkeiten und Belange jener eingehen, die als Leistungserbringer eine gewisse Daseinsvorsorge ermöglichen bzw. als Leistungsempfanger von ihr profitieren. Wenn nun aber richtig ist, daß das Zwangselement im bürgergesellschaftlichen Raum weniger ausgeprägt ist als in der staatlichen Öffentlichkeit, wenn auch zutrifft, daß der Austausch dort nicht wie in der merkantilen Öffentlichkeit auf Geld und geldwerte Leistungen beschränkt ist, und wenn schließlich richtig ist, daß eine bürgergesellschaftlich-öffentliche Daseinsvorsorge flexibler und feinfühliger auf individuelle Befindlichkeiten reagiert, dann lohnt sich die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die öffentliche Daseinsvorsorge im Rahmen der „civil society" gewährleistet werden kann. Oben ist dargelegt worden, daß einer der Rechtfertigungsgründe für die nichtprivate und nichtmerkantile Daseinsvorsorge in der Bereitstellung von „dispositional goods" besteht. Diese Bereitstellung kann, muß aber nicht unbedingt als staatliche Daseinsvorsorge gewährleistet werden. So mag jemand in einer Selbsthilfegruppe nicht deshalb mitmachen, weil er hier und jetzt Hilfe braucht, sondern damit er dann Hilfe bekommen kann, wenn er sie braucht. In diesem Fall wird ein „dispositional good" in der „civil society", nicht aber durch den Staat bereitgestellt. Wie wichtig in diesem Zusammenhang das immer wieder vorgebrachte Argument ist, im bürgergesellschaftlichen Raum würden — mangels staatlicher Qualitäts- und QualifikationsSicherung — dem Einzelnen beträchtliche Risiken erwachsen, kann nur im Einzelfall geklärt werden. Genau so, wie nur im Einzelfall, zu prüfen ist, ob nicht gerade eine in „normalen" Zeiten funktionierende „civil society" ein wichtiges Element zur Bewältigung der in Krisenzeiten zu erwartenden Allokations- und Distributionsprobleme sein mag. Die Frage ist also, wann eine öffentlich-bürgergesellschaftliche Daseinsvorsorge sinnvoll ist. Einige der bei der Beantwortung dieser Frage wichtigen Aspekte sind zu nennen.

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Guy Kirsch

Erstens: Sollen Allokationsineffizienz und Distributionsungerechtigkeit vermieden werden, so ist es nötig, daß der Kreis jener, die von der bürgergesellschaftlich erstellten Daseinsvorsorge profitieren, gegenüber jenen abgeschottet ist, die keinen Beitrag leisten; es müssen also kollektivexterne Effekte vermieden werden. Zweitenr. Der Kreis jener, die im bürgergesellschaftlichen Rahmen eine gewisse Art der kollektiven Daseinsvorsorge sicherstellen, muß relativ stabil sein; dies auch und besonders dann, wenn die technischen Anlagen, die im Dienste dieser Daseinsvorsorge errichtet und betrieben werden müssen, sich nur bei längerem Betrieb lohnen. Wenn es auch möglich ist, daß neue Teilnehmer sich durch eine besondere Eintrittsleistung gleichsam „einkaufen" können, so kann es nur begrenzt und wenn, dann unter entsprechenden Austrittskosten, zulässig sein, daß alte Teilnehmer sich verabschieden. Wenn es sich, drittens, bei der Bereitstellung eines „dispositional good" um die Bereitstellung eines Kollektivgutes handelt, muß ein entsprechendes Kollektiv gebildet werden; womit alle mit der Logik des kollektiven Handelns und der Evolution der Kooperation erörterten Probleme (und Möglichkeiten) angesprochen sind: Wie und unter welchen Bedingungen kommt es dazu, daß Einzelne, von denen jeder ein Interesse an der Bereitstellung eines bestimmten „dispositional good" hat, sich zusammenfinden, um das zu realisieren, was ein jeder von ihnen will? Viertens und schließlich muß, damit die Daseinsvorsorge bürgergesellschaftlich auf die Dauer möglich ist, die Inanspruchnahme des „dispositional good" so geregelt sein, daß es nicht zu einer Uberbeanspruchung des Gutes und einer Verweigerung bei dessen Bereitstellung kommt Dieses Problem besteht zwar auch bei der staatlich erstellten Daseinsvorsorge; nur verfugt der Staat als legitimer Inhaber des Gewaltmonopols über Möglichkeiten, die bürgergesellschaftlichen Zusammenschlüssen so ohne weiteres nicht zur Verfugung stehen. Mit der Folge, daß so mancher dieser Zusammenschlüsse — angesichts der Rücksichtslosigkeit eines Teils der Mitglieder — nur dank der Selbstausbeutung von anderen Mitgliedern überlebt. Allerdings kann dieses Problem in kleinen Zusammenschlüssen im Zweifel durch soziale Kontrolle und in großen Zusammenschlüssen durch eine entsprechende Ausgestaltung der Statuten wenigstens in Grenzen gehalten werden. Die Bedingungen für die Sicherung der Daseinsvorsorge in der „civil society" sind also verhältnismäßig eng. Entsprechend kann nicht die Rede davon sein, die öffentliche Daseinsvorsorge völlig zu entstaatlichen. Allerdings sind die Bedingungen auch wiederum nicht so eng, daß es sich nicht lohnen würde, nach Möglichkeiten der Entstaatlichung zu suchen. Und diese Suche beginnt wohl sinnvollerweise damit, daß sie ihr Augenmerk auf jene Hindernisse richtet, die eine in Institutionen geronnene, durch Gesetze gepanzerte und durch Partikularinteressen verteidigte staatliche Daseinsvorsorge einer „Verbürgerlichung" der Daseinsvorsorge in den Weg legt. Angesichts der Ambivalenz des Staates lohnt es sich auch, bei der öffentlichen Daseinsvorsorge nach Wegen zu suchen, wie man

Die Ambivalenz des Staates

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— wenigstens ein Stück weit — von der Verstaatlichung der Gesellschaft hin zu einer Vergesellschaftung der Öffentlichkeit kommt.

Europäisches Sozialrecht und Rechtsvergleich Bernd Barvn von Maydell

I.

Zum Thema

Bernhard Külp, dem dieser Beitrag zu seinem 70. Geburtstag gewidmet ist, hat sich in grundlegenden Arbeiten auch mit der Sozialpolitik befaßt und dabei stets die Einbettung der sozialen Sicherheit in die Gesamtwirtschaft herausgestellt und betont.1 Die aus dieser Einbindung folgenden Gebote für die Sozialpolitik sind in den vergangenen Jahren nicht hinreichend beachtet worden; die anhaltenden Schwierigkeiten der Systeme sozialer Sicherheit belegen dies nachdrücklich. Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik wirken nun nicht nur im nationalen sondern auch im europäischen Rahmen eng zusammen. Mit letzterem, dem europäischen Rahmen, soll sich dieser Beitrag befassen, wobei auf das Ergebnis der Sozialpolitik, das Sozialrecht, abgestellt werden soll.2 Das europäische Sozialrecht hat, obwohl über den Gegenstand und seine Abgrenzung manche Unklarheiten bestehen, in den letzten Jahren im Fachschrifttum erhebliche Beachtung erfahren.3 Es ist daher weder möglich noch nötig, das Thema in seiner vollen Breite zu behandeln. Vielmehr ist eine Konzentration auf einen Teilbereich notwendig. Dies soll der methodische Aspekt sein, wie und in welchem Umfange die Entwicklung des europäischen Sozialrechts durch Rechtsvergleichung beeinflußt und vorangetrieben werden kann. Dabei ist zu beachten, daß der Begriff des europäischen Sozialrechts zweideutig ist. Darunter kann das Sozialrecht der europäischen Staaten verstanden werden, das, etwa verglichen mit Amerika oder Asien, bestimmte Besonderheiten aufweist. Neben diesem territorialen Verständnis steht ein institutioneller Begriffsinhalt; danach gehört zum europäischen Sozialrecht alles das, was an sozialrechtlichen Regelungen durch die Europäische Union geschaffen worden ist.4 Rechtsvergleichung kann für beide begrifflichen Alternativen des europäischen Sozialrechts bedeutsam werden, wie nachfolgend im einzelnen zu untersuchen sein wird. Zuvor soll jedoch auf die Sozialrechtsvergleichung eingegangen werden, um zu zeigen, welche methodischen Möglichkeiten für die Entwicklung eines europäischen Sozialrechts dadurch geboten werden.

1 Vgl. Külp/Berthold (1987). 2 Vgl. Maydell (1988), S. 113 ff. 3 Vgl. etwa Eichenhofer (2001). 4 Nur in diesem Sinne verstehen Haverkate/Huster (1999) den Begriff europäisches Sozialrecht.

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Bernd von Maydell

II.

Sozialrechtsvergleich: Voraussetzungen - Möglichkeiten - Schwierigkeiten

1.

Aufgaben und Bedeutung des Rechtsvergleichs

Die Rechtsvergleichung hat sich in den letzten 100 Jahren zu einer ausdifferenzierten Wissenschaft mit einem Kanon von anerkannten Methoden entwickelt.5 Besonders bedeutsam ist die Erkenntnis, daß ein Vergleich einzelner Normen oder Institute nicht sinnvoll ist. Vielmehr ist ein funktionaler Vergleich vorzuziehen, der von einer Sachfrage ausgeht und untersucht, wie diese Sachfrage, z. B. die Sicherung des Einkommens bei Erwerbsunfähigkeit, in den jeweiligen zum Vergleich herangezogenen Rechtsordnungen geregelt ist. Ein solches Herangehen stellt sicher, daß nicht nur die Regelungen aus einem Rechtsgebiet, z. B. die des Sozialversicherungsrechts, herangezogen werden, denn es ist durchaus möglich, daß die Sachfrage durch Institute aus anderen Rechtsgebieten ganz oder teilweise beantwortet wird. So kann das Invaliditätsrisiko ganz oder zum Teil durch arbeitsrechtliche Regelungen abgesichert werden, wie dies etwa in den Niederlanden der Fall ist. In vielen Staaten, wie etwa Deutschland, wird das Arbeitsrecht aber nicht zum Sozialrecht gezählt.6 Eine auf das Sozialrecht begrenzte Betrachtung würde daher der tatsächlichen Lage nicht gerecht werden. Vielmehr ist es für einen umfassenden Vergleich notwendig, alle in Betracht kommenden Regelungen und Institute ganz unabhängig von ihrer fachlichen Einordnung in die Untersuchung mit einzubeziehen. Auch genügt es nicht, sich auf den Vergleich der gesetzlichen Regelungen zu beschränken; es muß auch gefragt werden, wie diese Regelungen jeweils in der Praxis umgesetzt werden. Der Rechtsvergleich kann sehr unterschiedlichen Zielen dienen. Diese Ziele können die Methoden beeinflussen, deren man sich bedienen muß. Auch die Validität der Aussagen kann sich unterschiedlich danach darstellen, zu welchen Zielen und Zwecken sie herangezogen werden. Rechtsvergleichung dient der besseren wissenschaftlichen Durchdringung eines Rechtsgebiets, sie vermittelt damit wissenschaftliche Erkenntnisse. Rechtsvergleichung kann im Rahmen der Rechtsanwendung herangezogen werden, um etwa Lücken im Normenbestand zu füllen. Ein Beispiel ist die Praxis des Europäischen Gerichtshofs, der das Fehlen eines Grundrechtsteiles in den europäischen Verträgen dadurch ausgleicht, daß er im Rahmen eines Rechtsvergleichs ermittelte, in den Mitgliedstaaten allgemein anerkannte Grundrechte auch im Rahmen der EU heranzieht. Rechtsvergleichung kann schließlich für rechtspolitische Zwecke eingesetzt werden.7 Rechtsvergleichende Untersuchungen können aufzeigen, welche

5 Siehe etwa Zweigert/Kötz (1969/71). s Dazu siehe Maydell (1994), S. 761 ff. 7 Speziell zu dieser Funktion vgl. Maydell (1999a), S. 553 ff.

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Lösungen für rechtspolitische Probleme entwickelt worden sind und welche Erfahrungen mit ihnen gemacht worden sind. So kann der Rechtsvergleich das Instrument des Experimentes, das dem Gesetzgeber im allgemeinen nicht zur Verfügung steht, weitgehend ersetzen. Rechtsvergleichung kann auch dafür eingesetzt werden, um zu einer internationalen Rechtsangleichung zu kommen, die z. B. zur Erleichterung des Welthandels erstrebenswert ist. Rechtsangleichung ist ein wichtiges Ziel auch in internationalen und supranationalen Zusammenschlüssen, wie etwa der Europäischen Gemeinschaft, die zahlreiche Materien harmonisiert hat und in anderen Bereichen eine Konvergenz anstrebt. Wichtigstes Instrument dafür ist ebenfalls die Rechtsvergleichung.

2.

Rechtsvergleich speziell im Sozialrecht8

Im Vergleich etwa zum Privatrechtsvergleich9, der am weitesten entwickelt ist, weist der Sozialrechtsvergleich Besonderheiten auf, die berücksichtigt werden müssen, wenn man zu aussagekräftigen Ergebnissen kommen möchte. Die Besonderheiten ergeben sich im wesentlichen daraus, daß das Sozialrecht als Teil des Öffentlichen Rechts nicht wie das Privat- und vor allem das Handelsrecht eine relative Distanz zum Staat aufweist, sondern durch die jeweilige Staatsgewalt unmittelbar geprägt wird. Es können nachfolgend nur einige Aspekte aufgeführt werden, die die Besonderheit des Sozialrechtsvergleichs prägen. (1) Die Sachprobleme, die das Sozialrecht zu lösen hat, betreffen die menschliche Existenz in der Gesellschaft, die sich nicht auf einen eng begrenzbaren Regelungsbereich beschränkt. (2) Demgemäß finden sich Antworten auf die sozialen Fragen nicht nur in einem Rechtsgebiet, das man — wie auch immer abgegrenzt — als Sozialrecht bezeichnen kann. Antworten finden sich vielmehr auch im Arbeitsrecht, im Familienrecht, im Privatversicherungsrecht, im Steuerrecht, um nur einige Regelungsbereiche aufzuzählen. (3) Die Regelungen, die eine Rechtsordnung für soziale Sachverhalte trifft, sind von den jeweiligen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. Sie müssen sich daher mit der Änderung dieser Rahmenbedingungen ebenfalls ändern. Bestimmend sind weiter die historischen und kulturellen Gegebenheiten in einem Staat. Es ist daher nicht verwunderlich, daß der Staat die Sozialgesetzgebung entscheidend prägt, woraus immer wieder die Folgerung

s Vgl. vor allem Zacher (1977) und Zacher (1978). 9 Dazu siehe vor allem Zweigert/Kötz (1969/71). •o Siehe etwa Maydell (1998a), S. 591 ff.

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gezogen wird, daß die Möglichkeiten für einen Sozialrechtsvergleich nur begrenzt sind. (4) Sosdalrecht als Gegenstand des Vergleichs ist keine allgemein anerkannte oder auch nur in den verschiedenen Staaten in ähnlicher Weise abgegrenzte Rechtsdisziplin. Das wird besonders deutlich in den Staaten, die sozialrechtliche Fragestellungen — nach deutschem Verständnis — im Rahmen des Arbeitsrechts behandeln. (5) Auch in den Staaten, die ein Sozialrecht, ein Sozialversicherungsrecht oder ein Recht der sozialen Sicherheit als eigenständige Rechtsdisziplin anerkennen, ist das Sozialrecht zumeist wissenschaftlich nur unzureichend aufbereitet, eine sozialrechtliche Dogmatik fehlt weitgehend. Daraus könnte die Folgerung gezogen werden, daß vor der Entwicklung einer Sozialrechtsvergleichung die Erforschung und dogmatische Durchdringung des nationalen Sozialrechts stehen müßte; ebenso läßt sich aber auch die Strategie vertreten, daß die Rechtsvergleichung hilfreich für die Entwicklung des Sozialrechts als Rechtssystem sein kann und daß sich gerade hier eine wichtige Aufgabe für den Sozialrechtsvergleich stellt. 3.

Wachsende Bedeutung des Sozialrechtsvergleichs

Sozialversicherungssysteme sind historisch stark national geprägt. Sie weisen z. B. Besonderheiten auf, die durch die jeweilige geschichtliche Entwicklung geprägt sind. Dieser Ausgangspunkt spricht zunächst einmal dafür, daß Entwicklungen im Ausland keine Beachtung geschenkt wird, weil die Bedeutung für die eigene Rechtsentwicklung nicht ersichtlich ist. Symptomatisch für diese ursprüngliche Situation ist der sogenannte Territorialitätsgrundsatz, der in seiner generellen Ausprägung besagt, daß die nationale Sozialordnung nur in den Grenzen des eigenen Staates wirksam werden kann und keine grenzüberschreitenden Wirkungen entfaltet. Auf dieser Grundlage könnte eine Rechtsvergleichung letztlich nur für die Wissenschaft bedeutsam werden, ohne konkrete Effekte für die Rechtspraxis und die Rechtspolitik zu entfalten. Die Reformbedürftigkeit der nationalen Sicherungssysteme zwingt jedoch die Staaten, neue Konzepte zu entwickeln. Dabei können ausländische Erfahrungen hilfreich sein. Neben dem innerstaatlichen Reformdruck gibt es auch internationale Elemente, insbesondere die Globalisierung, die einen Rechtsvergleich nahe legen.12 (1) Die Herausforderungen für die sozialen Sicherungssysteme (wie Arbeitslosigkeit, Demographie etc.) sind in den meisten Industriestaaten festzustellen, die Unterschiede sind nur graduell, nicht grundsätzlich. Diese Parallelität legt es » Zur Begriffsbildung vgl. Schmid (1981). 12 Dazu Maydell (1999a), S. 553 ff.

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nahe, daß die zu findenden Lösungen auch Ähnlichkeiten aufweisen können und man von den Nachbarn lernen kann. (2) Die Sachverhalte, für die es in Anbetracht der Globalisierung häufig keine befriedigende Lösung gibt, sind primär dadurch gekennzeichnet, daß sie grenzüberschreitend sind. Rein nationale Lösungen können daher nicht mehr angemessen sein. Das zeigt sich besonders deutlich am Koordinierungsrecht für Wanderarbeitnehmer, das schrittweise auf andere Migranten ausgedehnt wird. (3) Die Internationalität wird schließlich dadurch in das Sozialrecht getragen, daß es intra- und supranationale Normen gibt, die sozialrechtlichen Inhalt haben, oder sich auf das Sozialrecht auswirken. Zu erinnern ist an die internationalen Standards über einen sozialen Mindestschutz, wie sie etwa in dem ELOÜbereinkommen Nr. 102 über die Mindestnormen sozialer Sicherheit oder in der europäischen Charta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer enthalten sind. Aber auch sonstige inter- und supranationale Normen können sich — mittelbar — auf das Sozialrecht auswirken. Ein aktuelles Beispiel ist insoweit die Rechtsprechung des EuGH zu den Auswirkungen der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf den Markt von Gesundheitsleistungen.13 Diese internationalen Elemente, die in zunehmendem Maße auf die Systeme sozialer Sicherheit einwirken, begründen die Vermutung, daß eine auf der Internationalität des Rechts beruhenden Methode — die Rechtsvergleichung — hilfreich für die Vorbereitungen von Sozialreformen sein kann. 4.

Anwendungsfelder

Die Überlegungen zur Bedeutung des Sozialrechtsvergleichs haben nicht nur theoretische Relevanz, es gibt auch praktische Beispiele. Zwei Anwendungsfelder seien hier genannt: Die Transformation14 und die Konvergenzentwicklung in der Europäischen Union, auf die nachfolgend noch besonders einzugehen sein wird. Der tiefgreifende politische Wandel nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Herrschaftsstrukturen in Mittel- und Osteuropa hat alle Lebensbereiche erfaßt, mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auch die Systeme sozialer Sicherheit. Die Einordnung und Bewertung dieses Wechsels hat der Wissenschaft einige Schwierigkeiten bereitet, die bis auf den heutigen Tag anhalten. Das zeigt sich bereits an dem Begriff der Transformation, der sich zwar weilgehend eingebürgert hat, dennoch aber in seinem Inhalt nicht unumstritten ist. Mit dem Begriff „Transformation" soll zum Ausdruck gebracht werden, daß es um eine grundlegende Umwandlung ganzer Systeme und nicht nur einzelner Regelungen geht, eine Umwandlung, die auf einer tiefgreifenden Veränderung der Wirt-

•5 Grundlegend Karl (2003). 14 Siehe Maydell/Nußberger (2000).

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schafts-, Verfassungs- und Sozialstruktur beruht und sich über einen längeren, aber dennoch begrenzbaren Zeitraum erstreckt.15 Bei allen Gemeinsamkeiten, die die Rechts- und Wirtschaftsordnungen der sogenannten Transformationsstaaten aufweisen, ist doch nicht zu übersehen, daß auch erhebliche Unterschiede bestehen. Diese Unterschiede verstärkten sich im Umwandlungsprozeß erheblich, insbesondere in den Staaten, die im Zuge der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens neu entstanden. Diese Unterschiede betreffen die Sozialsysteme selbst, aber auch die sonstigen Bereiche der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Angefangen vom Lebensstandard, dem Grad der Industrialisierung, dem unterschiedlichen Bildungsstand, dem Vorhandensein einer ökonomisch und juristisch ausgebildeten Führungsschicht, vorhandenen oder fehlenden Kontakten zu marktwirtschaftlich organisierten Staaten und den dadurch bedingten Kenntnissen über moderne Entwicklungen dort bis hin zur unterschiedlichen Geschichte und dem Einfluß der Kirchen boten diese ehemals sozialistischen Staaten ein sehr differenziertes Bild, das einer pauschalierten Vorstellung vom Ostblock kaum entsprach. Diese Unterschiede sind stets im Blick zu behalten, wenn man versucht, die soziale Ausgangs Situation in den Staaten Mittel- und Osteuropas zu kennzeichnen. Dabei sollen nachfolgend nur stichwortartig einige gemeinsame Punkte aufgeführt werden: Auch das Sozialsystem war von dem Primat der Politik bestimmt, die nicht nur den Rang der Sozialpolitik insgesamt, sondern auch das Gewicht der einzelnen Bereiche sozialer Sicherheit bestimmte. Die zur Verfügung stehende Finanzmasse wurde durch die zentralen politischen Entscheidungen über die Verteilung des Sozialprodukts bestimmt. In diesem System wurde den Bürgern und seinen Verbänden kein staatsfreier Raum zuerkannt; das galt auch für die Gewerkschaften und die Unternehmen. Für die soziale Sicherheit war das Arbeitsverhältnis und der Beschäftigungsbetrieb der entscheidende Rahmen und Anknüpfungspunkt. Man kann insoweit von einem internalisierten System der Sicherung sprechen. In den sozialen Sicherungssystemen wurden die klassischen sozialen Risiken wie Alter, Hinterbliebenenschaft, Gesundheit, Unfall, Invalidität abgesichert. Andere Risiken und Bedarfslagen waren dagegen nicht berücksichtigt oder wurden stark vernachlässigt. Das gilt etwa für die Arbeitslosenversicherung, für die in Anbetracht des Fehlens einer offenen Arbeitslosigkeit kein Bedarf bestand. Auch die Fürsorge spielte nur eine geringe Rolle; ein Wohngeld als besondere Sozialleistung fehlte in Anbetracht der staatlich regulierten Wohnungswirtschaft ganz. 15

Zum fächerübergreifenden Ansatz bei der Erfassung von Transformationsprozessen vgl. Maydell (1998b), S. 5 ff.

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Von dem System sozialer Sicherheit wurde regelmäßig die gesamte Bevölkerung erfaßt, wobei es bei genauem Hinsehen in dem Ausmaß der Absicherung durchaus Differenzierungen gab. Organisatorisch war das Sozialsystem ein Teil der zentralisierten Staatsverwaltungswirtschaft, wobei die Unternehmen wichtige Aufgaben wahrzunehmen hatten. Bei den Sozialleistungen, die relativ wenige Differenzierungen aufwiesen, spielten die Sach- und Dienstleistungen eine große Rolle. Die Umwandlung der sozialen Sicherungs systeme, neben allen sonstigen notwendigen Reformen, stellte die Transformationsstaaten vor gewaltige Aufgaben, die sie mit einer neu aufzubauenden demokratischen Organisationsstruktur und einem unzureichenden Verwaltungsapparat bewältigen mußten. In dieser Situation lag es nahe, daß man — entgegen der sonstigen Praxis bei sozialpolitischen Reformen — auf ausländische Modelle und Beratungshilfe zurückgriff. Tatsächlich ist dies auch in dem vergangenen Jahrzehnt in weitem Umfange so geschehen. Beratungshilfe ist von anderen Staaten, von internationalen Organisationen, wie der Internationalen Arbeitsorganisation, der Weltbank, der Europäischen Union, dem Europarat etc. aber auch von privaten Institutionen geleistet worden. Daß dieser Prozeß nicht immer reibungslos verlaufen ist und die Reformstaaten bisweilen Mühe hatten, ihre nationale Selbstbestimmung zu verteidigen, ist sicherlich richtig. Dennoch dürfte die Beratungshilfe letztlich einen wichtigen Beitrag zu den Fortschritten geleistet haben, die in den vergangenen Jahren erzielt worden sind, allerdings auch zu manchen Fehlern. Ein wichtiger Aspekt dürfte vor allem darin liegen, daß die Beratungshilfe, die teilweise überreichlich angeboten worden ist, entscheidend zu der Herausbildung einer Schicht von Experten im sozialen Bereich beigetragen hat. Die Entwicklung der Transformationsprozesse hat deutlich gemacht, daß ein Bedarf besteht, die methodischen Grundlagen für eine wissenschaftliche Vorbereitung, Begleitung und Evaluierung der Umwandlung von Sozialrechtssystemen zu schaffen. Dies hat sich sehr deutlich schon zu Beginn des Transformationsprozesses gezeigt. Erkenntnisse darüber, welche Modelle für die Absicherung sozialer Risiken bestehen, welche Voraussetzungen für die Realisierung der jeweiligen Modelle notwendig sind und wie sich diese Modelle an das bestehende Wirtschafts- und Sozialsystem einpassen lassen, alle diese Überlegungen können hilfreich für einen umfassenden und wirkungsvollen Reformprozeß sein. Fehlen solche Grundüberlegungen, wie dies am Anfang des Transformationsprozesses der Fall war, so wird dadurch die Reformaktivität erheblich erschwert. Für Juristen bietet sich an, mit Hilfe des Sozialrechtsvergleichs an die Reformaufgaben in Transformationsstaaten heranzugehen. Mit Hilfe eines solchen Vergleichs von Sozialsystemen können die Modelle herausgearbeitet werden, die sich

16

Dazu Maydell/Hohnerlein (1993).

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in vergleichbaren Staaten zur Absicherung von sozialen Risiken herausgebildet haben. Man kann analysieren, wie sich diese Modelle in der Praxis bewährt haben. Allerdings ist dafür erforderlich, daß die Rahmenbedingungen für das Funktionieren des jeweiligen Modells präzisiert werden.

III. Vergleich der verschiedenen europäischen nationalen sozialen Sicherungssysteme: Europäisches Soziaimodell? Auf den ersten Blick weisen die Sozialsysteme der europäischen Staaten so viele Besonderheiten und historisch geprägte Details auf, daß man Zweifel haben könnte, von europäischen Gemeinsamkeiten zu sprechen. Vergleichende Untersuchungen haben jedoch gezeigt, daß man Gruppen von Systemen in Europa bilden kann, die gruppenspezifische Besonderheiten aufweisen. Die Kriterien für eine solche Gruppenbildung sind unterschiedlich. Teilweise wird an regionale Gemeinsamkeiten angeknüpft, etwa wenn die nordischen Staaten oder die kontinentaleuropäischen Länder als eine Gruppe herausgestellt und mit anderen Staaten verglichen werden. Das gruppenbildende Kriterium kann aber auch eine Systembesonderheit, wie das Vorherrschen der Sozialversicherung Bismarckscher Prägung oder das britische Beveridge-Modell sein. Die vergleichende Untersuchung fragt dann, welchen Einfluß das jeweilige Modell auf verschiedene Staaten ausgeübt hat. Eine solche Untersuchung bezüglich der Bismarckschen Sozialreformen und ihre Auswirkungen auf verschiedene Staaten ist anläßlich des 100-jährigen Jubiläums der kaiserlichen Botschaft durch das MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht in München vorgelegt worden.18 Ein Vergleich ist auch möglich zwischen den europäischen Staaten einerseits und Amerika und Asien andererseits. Arbeiten die sich mit diesem Vergleich befassen, haben Kriterien aufgezeigt, die die europäischen Staaten kennzeichnen, wie etwa der Bezug der Sozialsicherungssysteme zum Arbeitseinkommen.19 Man kann insoweit von einem europäischen Sozialmodell sprechen.20 Diese Analysen, die keinen unmittelbaren Bezug zur Europäischen Union haben müssen, sind dennoch offensichtlich bedeutsam für die Entwicklung eines europäischen Sozialrechts im engeren Sinne, worauf nachfolgend noch einzugehen sein wird. Die Rechtsvergleichung ist für diese Analysen ein unentbehrliches Instrumentarium.

17 Vgl. 2. B. Esping-Andersen (1990). 18 Siehe Köhlet/Zacher (1981); Köhler/Zacher (1983). w Vgl. Berghman (2002), S. 19 ff. 2« Siehe Berghman (2002), S. 19 ff.

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IV. Das Sozialrecht der Europäischen Gemeinschaften 1.

Bestandsaufnahme

Die Europäische Union hat ihren Ursprung in der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in der für die Gemeinschaft keine Kompetenzen zur Vereinheitlichung des Sozialrechts vorgesehen waren. Dabei ist es im Grundsatz bis auf den heutigen Tag geblieben. Gleichzeitig haben sich jedoch in der Union auch auf dem sozialpolitischen Feld Entwicklungen vollzogen, die dazu führen, daß man von einer entstehenden Sozialunion spricht.21 Welche Funktion einer gemeinsamen Sozialpolitik in der Gemeinschaft zukommt und zukommen soll, ist allerdings umstritten. Die Beurteilung dieser Frage wird dadurch erschwert, daß sehr unterschiedliche Faktoren einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik zu berücksichtigen sind.22 Von Anfang an enthielten die europäischen Verträge Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die durch gemeinschaftliches Sekundärrecht - die Verordnungen über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - konkretisiert wurden. Dieses Koordinierungsrecht stellt seit den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen zentralen — sozialrechtlichen — Bestandteil des supranationalen Rechts dar. Die Erweiterung der Gemeinschaft hat dazu gefuhrt, daß mehrmals neue soziale Sicherungssysteme in das Koordinierungssystem einbezogen werden mußten. Dies wirkte sich in einer fortschreitenden Komplizierung aus, die die immer intensivere Forderung nach Vereinfachung des Systems begründet. Der Gemeinschaftsvertrag spricht in verschiedenen Bestimmungen die Wohlfahrt und die Wohlfahrtsmehrung durch Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts als Zielvorgabe an und enthält einen im Laufe der Jahre erweiterten Abschnitt über Sozialpolitik, insbesondere Arbeitsschutz und Gesundheitspolitik. Die Organe der Gemeinschaft haben sich in einer Vielzahl von Aktivitäten, die allerdings regelmäßig keine Verbindlichkeit hatten, mit sozialpolitischen Fragen befaßt. Im Zuge des Umbaus der Gemeinschaft ist die Einbeziehung von sozialen Grundrechten in den Vertrag geplant.23 Abgesehen von dem Koordinierungsrecht gibt es kaum sekundäres Gemeinschaftsrecht sozialrechtlichen Inhalts. Ursprüngliche Pläne zur Harmonisierung des Sozialrechts sind sehr schnell aufgegeben worden. Statt dessen hat die Gemeinschaft durch verschiedene Strategien versucht, zu ei-

22 23

Vgl. Schmidt (1998), S. 246 ff.; siehe auch Stauner (1995). Dazu Maydell (1989), S. 1 ff. Vgl. Maydell (1990); siehe auch Bufldesministerium für Arbeit und Sozialordnung, MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht und Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, (2000/2001).

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net Annäherung der Sozialsysteme zu kommen. Man spricht heute insoweit von einer Konvergenzpolitik.24 Der unterschiedliche Grad der Vergemeinschaftung auf verschiedenen Politikfeldern, etwa im Wirtschaftsrecht einerseits und im Sozialrecht andererseits, fuhrt dazu, daß das fortgeschrittene Gemeinschaftsrecht — in Anbetracht der Interdependenz der Politikfelder — zur Auswirkung auf die in nationaler Kompetenz verbliebenen Bereiche führt. So entsteht auf der Grundlage der Grundfreiheiten des Vertrages, insbesondere der Warenverkehrsund der Diens tleis tungs freiheit, und des supranationalen Wettbewerbsrechts ein europäischer Markt für Gesundheitsleistungen, der Rückwirkungen auf die nationalen Gesundheitssysteme hat.25 Einen entscheidenden Beitrag zu dieser Entwicklung hat der Europäische Gerichtshof geleistet.26 2.

Der Beitrag der Rechtsvergleichung

Die Entwicklung des europäischen Sozialrechts ist ohne den Beitrag der Sozialrechtsvergleichung nicht denkbar. Dieser Beitrag ist allerdings für die vorstehend aufgezählten Sektoren unterschiedlich. Soweit es das Koordinierungsrecht anbelangt27, ist dieses Recht nicht genuin geschaffen worden. Es hat sich vielmehr an den bereits vorhandenen internationalen, aber auch nationalen Kollisionsnormen orientiert, die demgemäß vergleichend ausgewertet werden mußten. Ein Vergleich ist aber auch notwendig auf der Ebene des nationalen Sachrechts, das zu koordinieren ist. Die einheitlichen Kollisionsregeln müssen die Besonderheiten des nationalen Sozialrechts (Sachrechts) berücksichtigen, wenn eine wirksame Koordination erfolgen soll. Diese Notwendigkeit, den Zustand des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten im Auge zu haben, ergibt sich darüber hinaus in allen Fällen, in denen im Gemeinschaftsrecht eine Regelung geschaffen werden soll, sei es nun im primären oder im sekundären Gemeinschaftsrecht. Jede Konvergenzpolitik kann nur dann funktionieren, wenn jeder Staat bei seinen Sozialreformen die Regelungen in den anderen Mitgliedstaaten und die Reformpläne dort mit in die Untersuchung mit einbezieht. Andernfalls ist eine konvergente Orientierung nicht möglich. Die rechtsvergleichende Vorbereitung solcher Reformen gehört damit zu den gemeinschaftsrechtli-

" Dazu Göbel (2002). m Maydell (1999b), S. 3 ff. 26 Dazu Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht (2002); siehe auch Karl (2003). 27 Vgl. Schulte/Zacher (1991).

Europäisches Sozialrecht und Rechtsvergleich

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chen Verpflichtungen in der Union, die auf eine Konvergenzpolitik verpflichtet ist.28

V.

Mögliche weitere Entwicklung zu einer europäischen Sozialunion

Ob und wie nach den geplanten Beitritten neuer Mitglieder zur Europäischen Union im Jahre 2004 die Entwicklung zu einer europäischen Sozialunion weitergehen wird, ist gegenwärtig noch nicht abzusehen. Die Meinungen darüber, ob die soziale Dimension der Gemeinschaft ausgebaut werden soll, sind zudem geteilt. In Anbetracht der zentralen Rolle, die das Sozialsystem für einen modernen Staat spielt, wird man bei einem weiteren Ausbau der staatlichen Elemente der EU auch die soziale Dimension mitberücksichtigen müssen, zumal die Interdependenz der Politikfelder ein Verbleiben einzelner Felder, wie der Sozialpolitik, im nationalen Rahmen kaum zuläßt. Bejaht man das Ziel eines weiteren Ausbaus des europäischen Sozialrechts, so ist die weitere Frage, wie dieser Ausbau geschehen soll. Neben den Auswirkungen aus dem europäischen Wirtschaftsrecht, die auch in der Zukunft relevant sein werden, könnte man zunächst an eine verstärkte Harmonisierung denken. Auch wenn eine Angleichung in Einzelfragen durchaus möglich und sinnvoll sein kann, etwa um die Koordinierung zwischen den Sozialsystemen zu erleichtern, so überwiegen doch die Widerstände gegen eine Harmonisierung in größerem Stil. Die nationalen Sozialsysteme werden nach wie vor als Bestandteil der nationalen Identität angesehen, die man nicht bereit ist, für eine gemeinschaftliche Regelung zu opfern. Gleichzeitig sind die politischen Strukturen für eine gemeinschaftliche EU-Innenpolitik noch nicht hinlänglich entwickelt. Das Parlament hat nach wie vor nur sehr beschränkte Rechte. Parteien und Verbände, insbesondere die Sozialpartner, sind im wesentlichen auf nationaler Ebene organisiert, eine gemeinsame gemeinschaftsorientierte Willensbildung ist daher kaum möglich. Denkbar erscheint allerdings, daß im Rahmen der weiteren Entwicklung des Gemeinschaftsvertrages zu einer Verfassung der Gemeinschaft zentrale sozialpolitische Aussagen, etwa in Form von sozialen Rechten oder Institutionen, in den Vertrag aufgenommen werden. Dies würde dem Europäischen Gerichtshof die Möglichkeit geben, solche Rechte auszugestalten und damit Inseln eines Gemeinschaftssozialrechts zu schaffen. Die Konsequenz eines Verzichts auf eine sozialpolitische Harmonisierung ist, daß eine Annäherung in der Gemeinschaft insoweit auch in Zukunft durch die Mitgliedstaaten vermittelt werden muß, wie dies Grundlage des Konvergenzprozesses ist. Das moderne Instrument für diesen Prozeß ist die offene Methode der

28 Vgl. Maydell (2000), S. 739 ff.

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Koordinierung29, die nach einem Konsens der Mitgliedstaaten für einzelne sozialpolitische Fragen angewendet wird (etwa Alterssicherung, Gesundheit etc.). Die Methode beruht darauf, daß für die jeweiligen Fragen gemeinsame Ziele und Kriterien definiert werden, die dann als Meßlatte für die Analyse der Systeme in den Mitgliedstaaten herangezogen werden. Auch wenn keine Verpflichtung der Staaten besteht, die Ziele aktiv anzustreben, so wird ein Einfluß in diese Richtung durch ein solches Benchmarking dennoch ausgeübt. Dieses Verfahren der offenen Methode der Koordinierung beruht auf einer gründlichen rechtsvergleichenden Analyse der nationalen Systeme. Die Rechtsvergleichung wird damit zur zentralen Methode für eine sozialpolitische Annäherung in der Gemeinschaft. Daß dieser Weg sehr umständlich und langwierig ist, läßt sich kaum bestreiten. Es ist daher durchaus denkbar, daß er in einem späteren Stadium der Entwicklung durch eine schrittweise Harmonisierung ergänzt und vielleicht auch abgelöst werden könnte. Die Rechtsvergleichung bleibt auch insoweit wichtiges Instrumentarium zur Vorbereitung von Harmonisierungs schritten.

Literatur Berghman, J. (2002), The European social model and decision making on it, in: Boecken, W. / Ruland, F. / Steinmeyer, H.-D. (Hrsg.), Sozialrecht und Sozialpolitik in Deutschland und Europa, Festschrift für Bernd Baron von Maydell, Neuwied, S. 19 ff. Bundesministerium für Arbeit und So^ialordnung, Max-Planck-Institut fiir ausländisches und internationales Sosjalrecht und Akademie der Diözese ROttenburg Stuttgart (Hrsg.) (2000/01), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, http://www.bma. de/ de/europa/konferenz/inhalt/bernd_von_maydell.htm. Eichenhofer, E. (2001), Sozialrecht der Europäischen Union, Berlin. Esping-Andersen, G. (1990), The Three Worlds of Weifare Capitalism, Cambridge. Göbel, M. (2002), Von der Konvergenzstrategie zur offenen Methode der Koordinierung, EG-Verfahren zur Annäherung der Ziele und Politiken im Bereich des sozialen Schutzes, Baden-Baden. Külp, B. / Berthold, N. (1987), Rückwirkung ausgewählter Systeme der sozialen Sicherung auf die Funktionsfahigkeit der Marktwirtschaft, Sozialpolitische Schriften 47, Berlin. Haverkate, G. /Huster, S. (1999), Europäisches Sozialrecht: eine Einfuhrung, Baden-Baden.

29

Dazu insbesondere Göbel (2002).

Europäisches Sozialrecht und Rechtsvergleich

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II. Ordnungspolitik und soziale Marktwirtschaft

Die ethischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft Karl Lehmann

I. Man kennt Soziale Marktwirtschaft - für die einen ist sie die einzig akzeptable Wirtschaftsform, für die anderen bereits ein Mythos. Nicht wenige sehen in ihr so etwas wie eine Technik und Strategie des Wirtschaftens, die man gewissermaßen beliebig von einem Ort zum anderen weitergeben und anwenden kann. Besonders in der Wendezeit, als man in Osteuropa nach der sozialistischen Planungswirtschaft einen neuen Weg suchte, hat man regelmäßig die Soziale Marktwirtschaft empfohlen. Im Prinzip war dies zweifellos richtig, aber dies durfte ja nicht so verstanden werden, als ob man bloß eine Idee exportieren müßte, ohne nach den Voraussetzungen zu fragen, damit ein solches „System" funktionieren kann. Ähnliches gilt für die Länder in der Dritten Welt. In diesem Zusammenhang hat man gewiß mit Recht gefordert, daß es bestimmte Voraussetzungen für das Gelingen geben muß, wie z. B. Demokratie, und zwar nicht nur als formales Verfahren, sondern als anerkannte Lebensform. Es ist auch deutlich geworden, daß ein Minimum an Wertvorstellungen vorhanden sein muß. Hier wird es schon schwieriger. Es kann diesbezüglich nicht zuerst oder allein auf eine allgemeine Grundwerte-Debatte ankommen, sondern auf die Frage, welche spezifischen und konkreten Wertentscheidungen notwendig sind, damit so etwas wie Soziale Marktwirtschaft erfolgreich realisiert werden kann. Ich habe dieses Problem schon öfter angeschnitten1. Dabei möchte ich zunächst etwas auf die Ursprünge der Sozialen Marktwirtschaft zurückkommen. Sie könnten uns bei mancher Verwirrung zur Orientierung verhelfen und sind darum mehr als bloße Rückschau. Ich bin nämlich der Überzeugung, daß ein großer Teil der Väter der Sozialen Marktwirtschaft sich sehr viele Gedanken machte über ihre geistigen Fundamente. Dies ist bei den einzelnen Vertretern gewiß verschieden ausgeprägt, ja manchmal auch kontrovers. Aber es hat sie wohl sehr viel mehr beschäftigt als viele ihrer Rezipienten. Es scheint mir, daß die Rezeption der entsprechenden volkswirtschaftlichen Theorien weitgehend abgesehen hat von diesen, wie man wohl glaubte, entbehrlichen oder verzichtbaren weltanschaulichen, philosophischen oder religiösen 1

Vgl. vor allem „Vergiß nie die Armen und die Kranken, die Heimatlosen und die Fremden". Über den eigenen Auftrag der Kirche zwischen Wohlstand und Armut angesichts der heutigen Sozialstruktur und veränderter Lebenslagen. Eröffnungsreferat des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz zur Eröffnung der Herbst-Vollversammlung am 23.09.1996 in Fulda (unveröffentlicht).

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Voraussetzungen. Man hat jedoch, wie mir scheint, wenig darauf reflektiert, was an die Stelle dieser fundierenden Voraussetzungen treten könnte. Dieses Thema möchte ich gerne entwickeln, ohne den Anspruch auf besondere Originalität zu erheben. Ich bin als Theologe und Kirchenmann ja ein „Laie" in diesen Dingen, habe aber neben diesem großen Nachteil vielleicht den kleinen Vorteil, die Schriften der großen Urheber der Sozialen Marktwirtschaft mit einer philosophisch-theologischen Brille zu lesen, die vielleicht in der Fein-Einstellung auf diese Dimension etwas ins Gespräch einbringen kann, das zu vertiefen sich lohnt.

II.

Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft ist nicht einfach vom Himmel gefallen. In der Geschichte der Freiburger Widerstandskreise ist dies besonders deutlich zu greifen. Die Wirtschafts- und Sozialordnung ist ein gutes Beispiel dafür. Allen Beteiligten war klar, daß man in der Zeit nach Hitler zwischen einer liberalen und einer zentralgelenkten Konzeption einen neuen Weg suchen muß. Dies hat den Freiburger Bonhoeffer-Kreis2 mit den Bemühungen des Kreisauer Kreises eng verbunden. So heißt es etwa in den Leitsätzen des Kreisauer Kreises für den Aufbau der europäischen Volkswirtschaften nach dem Krieg - der EuropaGedanke spielt eine erstaunlich dominierende Rolle - in einer These, die von G. Schmölders stark beeinflußt ist: „Maßgebend sind nicht die eigennützigen Interessen der Produzenten, sondern die wohlverstandenen, der jeweiligen Kaufkraft entsprechenden Bedürfnisse der Konsumenten. Sie können nur am freien Markt ermittelt werden. So weit der am Markte unter Mitwirkung eines volkswirtschaftlich orientierten, aber freien Handelns auszutragenden Leistungswettbewerbs und die darauf fußende Preisbildung zur Wahrnehmung der volkswirtschaftlichen Interessen nicht genügt, hat der Staat für die erforderliche Ergänzung zu sorgen."3 Nicht zufällig werden hier auch Dezentralisation der industriellen Arbeit und Mitbestimmung gefordert. Inzwischen ist deutlich geworden, daß Alfred Delp die katholischen rechts- und sozialphilosophischen Grundlagen in die Überlegungen des Kreisauer Kreises für eine neue Ordnung Deutschlands in eben diesem Sinne eingebracht hat.4 Es ist erstaunlich, in welchem Maß gerade die Freiburger Denkschrift, an der Franz Böhm, Constantin von Dietze, Walter Eucken, Adolf Lampe, Gerhard Ritter, Erik Wolf - um nur die Freiburger zu nennen - beteiligt waren, sehr kräftige, religiös motivierte Akzente setzt. So heißt es zum Reichtum und zum Eigentum: „Auf jedem Eigentum liegt eine soziale Hypothek, die mich nicht nur an einem Mißbrauch zur Ausbeutung des Nächsten hindern soll, sondern zugleich verpflichtet, mit all meinem Hab und Gut der Gemeinschaft nützlich zu werden. Vgl. Thielicke (1979), S. 86 ff., S. 90 ff., S. 128 ff., S. 153 ff. 3 Bleistein (1987), S. 273. 4 Vgl. Operty (1994), S. 179 ff., vgl. auch S. 52 ff., S. 87 f. 2

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Auch Wettbewerb und freie Initiative, die in der hier empfohlenen Wirtschaftsordnung eine so große Rolle spielen, sind nicht ohne sittliche Gefahren. Jede freie Wettbewerbswirtschaft, auch die staatlich regulierte, bedarf starker sittlicher Gegenwirkungen gegen den Privat-Egoismus, damit dieser nicht überwuchert und den Gedanken des Dienstes am Ganzen nicht verschwinden läßt."5 Immer wieder wird um einen Ausgleich für eine neue Wirtschafts- und Sozialordnung gerungen. „Alle staatliche Sozialfürsorge kann zur Gefahr werden, wenn sie der Verantwortungsfreudigkeit der Wirtschaftenden Abbruch tut. Auf der anderen Seite widerspricht die Beschränkung öffentlicher Wohlfahrtspflege auf solche Volksteile, die noch irgendwie als Arbeitskräfte nutzbar gemacht werden können, allen Grundsätzen christlicher Nächstenliebe; sie ist weiter nichts als getarnter Hochmut. Die christliche Nächstenliebe macht nicht vor den Kranken, Schwachen und Hilflosen Halt, sondern nimmt sich gerade ihrer nach dem Vorbild ihres Meisters mit selbsdoser Liebe an."6 In diesem Sinne werden das Übel unverschuldeter Arbeitslosigkeit7 und die große Bedeutung der Familie als Aufgabe angesprochen. Die natürliche Grundlage des Sozialaufbaus ist trotz ihrer Gefahrdung nach wie vor die Familie8. Heute wissen wir,9 wie sehr die Freiburger Denkschrift nach dem Krieg weiterwirkte und wie vor allem Walter Eucken, Erwin von Beckerath und Franz Böhm dafür sorgten, daß die Grundentscheidungen unserer Verfassung den Raum für eine Soziale Marktwirtschaft offen hielten. Zwischen einem wirtschaftlichen Kollektiv und einer Wirtschaftsanarchie mußte ein neuer Weg gefunden werden. Ludwig Erhard hat immer wieder darauf hingewiesen, daß die unter seiner Führung und Verantwortung getroffenen politischen Entschlüsse von den Grundentscheidungen der „Freiburger" bestimmt gewesen seien. III. Es ist bekanntlich nicht leicht, Liberalismus, Neoliberalismus, Ordoliberalismus und Soziale Marktwirtschaft rein begrifflich voneinander ausreichend abzuheben. Ich möchte dies hier nicht im einzelnen versuchen.10 Es gibt jedenfalls aus unterschiedlichen, wenn auch mitunter zusammenhängenden Ausgangspunkten gemeinsame Perspektiven in Richtung der Sozialen Marktwirtschaft, die mit so verschiedenen Namen wie Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Walter Eucken und Alfred Müller-Armack verbunden sind.

s Thielicke (1979), S. 94. Thielicke (1979), S. 90. ? Vgl. Thielicke (1979), S. 92. 8 Vgl. Thielicke (1979), S. 88. 9 Vgl. dazu Blumenberg-Lampe (1973) und ihre späteren Studien, z. B. Blumenberg-Lampe (1986). 10 Vgl. dazu Dietzfelbinger (1998), S. 235 ff. 6

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Zum erstenmal scheint Müller-Armack unmittelbar nach dem Krieg 1946 den Namen Soziale Marktwirtschaft verwendet zu haben, wenn damit auch noch nicht feststeht, daß er wirklich der Schöpfer des Begriffes ist, obgleich er dies für sich in Anspruch nimmt. Der Name ist Programm. Deshalb schreibt MüllerArmack Soziale Marktwirtschaft immer groß, was vielleicht zu wenig beachtet wird. Müller-Armack geht jedenfalls von der Tatsache aus, daß das Soziale nicht nur eine allgemeine Beiordnung, sondern ein ebenbürtiges Prinzip darstellt. Jedenfalls erscheint der Begriff Soziale Marktwirtschaft bei Müller-Armack zum erstenmal in schriftlicher Form. Bis dorthin spricht er selbst von „gesteuerter Marktwirtschaft". Dabei muß man auch einräumen, daß ein vermittelnder Weg zwischen liberaler Marktwirtschaft und zentral gelenktem Sozialismus in der Nationalökonomie schon länger vorbereitet wurde. Die Automatik des Marktes kann keine soziale Ordnung allein schaffen. Sie kann auch nicht die Notwendigkeiten des staatlichen und kulturellen Lebens von sich aus berücksichtigen. Deshalb muß die Marktwirtschaft grundlegend sozial ausgerichtet sein, damit in ihr nicht nur dem Ideal der Freiheit, sondern auch dem der sozialen Gerechtigkeit entsprochen werden kann. Darum wehrt sich Müller-Armack auch gegen eine vermeintlich unabhängige Eigengesetzlichkeit marktwirtschaftlicher Strukturen.11 Bei der näheren Bestimmung der Sozialen Marktwirtschaft möchte ich ausgehen von der Überzeugung, daß Soziale Marktwirtschaft eine außerordentliche, nicht auflösbare Spannung enthält, der man sich stets bewußt bleiben muß. Markt und Lenkung werden zu einem komplementären Ausgleich geführt. Damit werden zwei Grundsätze, die weithin als unvereinbar erschienen, einander zugeordnet. Es genügt also nicht zu denken, Soziale Marktwirtschaft sei Marktwirtschaft plus Sozialpolitik. Manche ziehen daraus die Konsequenz, die Marktwirtschaft sei um so sozialer, je mehr umverteilt werde. Dies wäre aber ein Mißverständnis. Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft beinhaltet vorrangig die Grundsätze von Selbstverantwortung und Subsidiarität. Der Staat hilft dem Einzelnen, wenn dieser aus eigener Kraft nicht in der Lage ist. Umgekehrt heißt dies jedoch auch, daß die sozialpolitische Unterstützung bei einem steigenden allgemeinen Wohlstand nicht wachsen kann, sondern eher zurückgenommen werden muß. Zwei Extrempositionen wären so nach Müller-Armack im Konzept Sozialer Marktwirtschaft vermieden: Die Anfälligkeit der Marktwirtschaft, z. B. im Sinne eines schonungslosen Wettbewerbs, muß bewußt gemacht werden; auf der anderen Seite kann eine Uberbetonung des sozialen Gedankens mindestens langfristig in eine gelenkte Form der Wirtschaft fuhren. Entscheidend ist die gegenseitige Ergänzung. Es wird dadurch auch erkennbar, daß die Soziale Marktwirtschaft immer wieder des Ausgleichs bedarf. Sie darf nicht einseitig belastet werden. Dann bricht sie notwendigerweise zusammen. Jedes Testen der Belastbarkeit der Sozialen Marktwirtschaft ist in diesem Sinne gefährlich, wenngleich die Tarifjparteien beim,^Aushandeln" ihrer Positionen so etwas mit Augenmaß und gegensei-

» Vgl. Müller-Armack (1946), S. 107.

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tiger Rücksicht versuchen müssen. Gemeint ist ja eher ein mutwilliges, rücksichtsloses, letztlich ideologisches Testen und Belasten. Man sollte nicht vergessen, daß die Idee der Sozialen Marktwirtschaft als freiheitliche und menschengerechte Alternative nicht nur zur zentral geplanten staatlichen Zwangsverwaltungswirtschaft, sondern ebenso zum reinen Laisser-faireKapitaüsmus erdacht und verwirklicht worden ist. Sie entstammt der durchaus kritischen und von Anfang an mit einer ethischen Fragestellung versehenen Grundfrage, wie denn der modernen Industriegesellschaft eine funktionsfähige und zugleich menschenwürdige Ordnung gegeben werden könnte. Dieser Ansatz ist wichtig, weil mit Sozialer Marktwirtschaft keineswegs das liberalistische Freibeutertum einer vergangenen Epoche, auch nicht das naiv vorgestellte „freie Spiel der Kräfte" gemeint ist, sondern eine Form des Wirtschaftens, die das einzelne Individuum mit seinen Fähigkeiten und seiner Verantwortung zur Geltung kommen läßt, aber auch die soziale Gerechtigkeit unseres Gemeinwohls nicht aus dem Auge läßt. Die Soziale Marktwirtschaft gründet sich auf souverän handelnde Menschen, deren freie Entscheidungen in der Eigenverantwortlichkeit begründet sind. In diesem Zusammenhang ist es darum wichtig, daß die Soziale Marktwirtschaft eigentlich gar nicht ein „System" im engeren Sinne darstellt, das eine bestimmte gesellschaftliche Ordnving gewährleistet. Marktwirtschaft in diesem Sinne ist sehr viel mehr ein offenes Gefuge von wirtschaftlichen Verhaltensweisen, entspricht viel eher einem „Stil" des Umgangs mit der wirtschaftlichen Realität.12 Darum ist es auch konsequent, daß die geistigen Väter der „Sozialen Marktwirtschaft" nicht nur die ethische Dimension wirtschaftlichen Handelns deutlicher herausgestellt haben, sondern sie wußten um das sich gegenseitig bedingende Geflecht von Sozialer Marktwirtschaft und Demokratie, von individueller Anstrengung und sozialer Verantwortung, von Privateigentum und seiner Sozialpflichtigkeit. Die Begründer der Sozialen Marktwirtschaft setzten hier von ihrer Kultur und Humanität her Verhaltensweisen voraus, die man gewiß nicht als „Sekundärtugenden" relativieren darf. Es sind gerade Voraussetzungen, die heute relativ wenig thematisiert werden. Im Umkreis der Marktwirtschaft braucht es nämlich auch vernünftige Lebensplanung, Familiensinn, feste moralische Bindung, mehr Selbstverantwortung, Achten auf die Rangordnung der Werte und Subsidiarität mit der notwendigen Solidarität. Dies läßt sich leicht aus den Schriften der Gründerväter ablesen. Bei allem sozialen Wandel, der inzwischen eingetreten ist, wird man nicht behaupten dürfen, diese angeforderten Verhaltensweisen seien unauflösbar mit einem überholten Gesellschaftsstatus verquickt. In der konkreten Ausgestaltung muß sich sicher jede Generation hier um eine eigene Prägung bemühen, aber dies gilt nicht für die grundsätzliche Intention und das Erfordernis eines solchen Verhaltens überhaupt. Gerade Ludwig Erhard hat den Sinn der

12

Vgl. Schefold (1994), S. 93-110. Ich übergehe an dieser Stelle die intensive Auseinandersetzung zwischen Eucken und Müller-Armack um das Verständnis des Begriffs „Stil"; vgl. dazu Dietzfelbinger (1998), S. 219 ff.

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Sozialen Marktwirtschaft darin gesehen, dem einzelnen Menschen reichere und bessere Lebensmöglichkeiten und damit überhaupt neue Perspektiven der Lebensführung zu eröffnen. „Wohlstand für alle" ist die Kurzformel dafür.

IV. Vielleicht kann diese Struktur und besonders die ethischen Grundlagen nochmals näher im Blick auf den Markt erläutert werden. Markt und Ethik werden heute rasch als unversöhnliche Gegensätze dargestellt. Man wittert die Raffgier eines rücksichtslosen Marktes, der sich nach dem Recht des Stärkeren durchsetzt. In dieser Hinsicht werden dem Markt ethisch oft nur negative Eigenschaften zugeschrieben: Er kennt nur die eigenen Interessen, er gefährdet oder zerstört Solidarität, er geht nur vom Eigennutz aus, er ist blind. In dieser Hinsicht scheint mir ein mannigfaches Umdenken notwendig zu sein. Der Eigennutz ist nämlich nicht nur eine mächtige Triebfeder wirtschaftlicher Dynamik, die man als schrankenlosen Egoismus oder zügellose Selbstsucht verstehen dürfte. Zweifellos gibt es immer wieder Anarchisten aller Schattierungen, die im Namen des Eigeninteresses absolute Freiheit fordern und Gemeinsinn sowie Ordnung leugnen. Der wahre Ausgangspunkt ist einfach: Der Einzelne will seine Existenz sichern sowie sein Los und seinen Platz in der Gemeinschaft materiell und ideell verbessern. In diesem Sinne gehört das Streben nach Existenzsicherung, Wohlstand und Anerkennung gewiß zur menschlichen Realität. Dies ist nicht möglich ohne Wettbewerb. Dieser fördert auch Innovationen, weil sich auch der Erfolgreiche nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen kann. Ein solches Selbstinteresse darf nicht einfach mit einer verwerflichen egoistischen Selbstliebe identifiziert werden. Alle Versuche, eine intakte und lebensfähige Gemeinschaft nur auf dem Prinzip des blanken Altruismus aufzubauen, müssen scheitern, wenn nicht das Eigeninteresse des Menschen klug und nüchtern mitbedacht und eingesetzt wird. Selbstinteresse und Gemeinsinn verschränken sich miteinander und sind beide Grundelemente des menschlichen Verhaltens. Der Mensch ist unglaublich fähig, wenn er sich dieser Dynamik bedient. Wir haben hier gewiß in der deutschen Intellektuellensprache ein Problem. Es scheint mir, daß man dem Denken von Adam Smith und seinem Verständnis von Eigennutz wenig gerecht wird, indem man von vornherein ihre mögliche ethische Qualifikation leugnet oder herabsetzt. Märkte haben gewiß auch ethische Konsequenzen. Sie veranlassen z. B. die Teilnehmer, die Interessen anderer Menschen zu berücksichtigen. Wer diese Interessen überhaupt nicht beachtet, kann auf die Dauer nicht erfolgreich sein. Der Markt bestraft darum auch Faulheit und Leistungsverweigerung. Man darf ethische Triebkräfte im Marktgeschehen nicht übersehen. Der Markt setzt, wenn alles sich darauf einläßt, ungewöhnliche Kräfte frei und gibt einen mächtigen Anreiz. Freilich muß hinzukommen, daß viele Anbieter und viele Nachfrager sich möglichst unabhängig gegenüberstehen und eine wirkliche freie Marktwirtschaft erreicht wird. Dann müssen alle die Preise hinnehmen. Man kann sie weniger manipulieren.

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Nebenbei darf ich darauf aufmerksam machen, daß die Enzyklika „Centesimus annus" von Papst Johannes Paul II. diese Struktur der menschlichen Realität, zu der auch Eigennutz und Eigeninteresse gehören, durchaus sieht und annimmt, wenn auch zugleich begrenzt: „Wo nämlich das Interesse des einzelnen gewaltsam unterdrückt wird, wird es durch ein belastendes System bürokratischer Kontrolle ersetzt, das die Quellen der Initiative und der Kreativität versiegen läßt. Wenn Menschen meinen, sie verfugen über das Geheimnis einer vollkommenen Gesellschaftsordnung die das Böse unmöglich macht, dann glauben sie auch, daß sie für deren Verwirklichung jedes Mittel, auch Gewalt und Lüge, einsetzen dürfen."13 Dies ist bemerkenswert, denn die klassische kontinentaleuropäische ethische Reflexion tut sich schwer mit der ethischen Würdigung einer mehr angelsächsisch konzipierten Ethik.14 Aber dies ist natürlich nur eine Seite und ein unvollständiges Bild. Es wäre eine Täuschung anzunehmen, der Markt reguliere sich ethisch total von selbst. Es gibt — wie gerade erwähnt — zwar in begrenztem Rahmen Selbstheilungskräfte, aber sie funktionieren nur, solange das „System" selbst zum Ausgleich und zur Balance fähig ist und bereit bleibt. Man darf die ethische Gefährdung des Marktes nicht übersehen. Monopole und Oligopole verzerren und manipulieren die Preise. Die Märkte können freilich auch von der Nachfrageseite her Machtstrukturen ausgeliefert werden, wie z. B. in der Rüstungsindustrie offenkundig wird, wo es nicht selten nur einen Nachfrager gibt. Der Markt zwingt uns auch nur dazu, den Interessen kaufkräftiger Nachfrager zu dienen. Er schaut nicht auf alle Bedürftige. Wer nicht kapitalkräftig ist, interessiert mindestens jetzt nicht oder interessiert sehr viel weniger. Für seltene Krankheiten wird weniger geforscht. Es ist deshalb sehr schwierig, daß der Markt an ihm selbst Unbeteiligte ins Auge faßt oder gar berücksichtigt. Es hat durchaus auch im diakonischen Handeln, wo es um extrem Bedürftige geht, einen gewissen Sinn, bis zu einem bestimmten Grad stärker marktwirtschaftliche Gesichtspunkte und auch Elemente des Wettbewerbs einzuführen, aber es würde scheitern, wenn es sich nur nach diesem Denken ausrichten würde. Man muß immer auch auf diejenigen schauen, die auf dem Markt nicht mithalten können, obgleich sie nicht das ganze System bestimmen dürfen. Die Märkte dürfen sich nicht selbst überlassen werden, denn in der reinen Marktwirtschaft bedrohen Konzentration und Mißbrauch wirtschaftlicher Macht die Freiheit des einzelnen. Außerdem liefert der Markt weder öffentliche Güter noch Einkommen für diejenigen, die nicht am Erwerbsleben teilnehmen können.

13

14

Enzyklika Centesimus annus Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II., hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn o. J. (1991) (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 101), Art. 25, S. 29. Vgl. dazu den in dieser Hinsicht viel zu knappen Artikel „Eigennutz" von Reimer (1972), S. 34-335.

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Hier muß man nach zwei Seiten kämpfen. Auf der einen Seite gibt es ein immer wieder ungeheures Mißtrauen gegen die Freiheit, die sonst überall schnell in Anspruch genommen wird. Wir können den Mißbrauch der Freiheit nicht ausschließen, wir können sie aber deshalb auch nicht grundlegend beschränken. Es braucht ein Vertrauen, daß die Freiheit im Ganzen mehr Dynamik zum Guten als zum Schlechten auslösen wird.15 Dennoch muß unserem freien, zunächst unbegrenzten Streben immer auch die sozial-ethische Verantwortung eingeimpft werden. Die Zügellosigkeit der Interessen ist nicht bloß ein Märchen. Es ist nach wie vor eindrucksvoll, daß gerade Ordoliberale wie Walter Eucken und Wilhelm Röpke sich des ständigen Vorgehenmüssens gegen alle Machtstrukturen bewußt waren. Gerade deswegen fordert Walter Eucken stets wieder den „vollständigen Wettbewerb". Hier setzt die Verantwortung des Staates ein. Dieser soll freilich wirtschaftliches und gesellschaftliches Handeln nicht behindern, sondern die freie Entfaltung des einzelnen gewährleisten. Der Staat soll nicht die Produktion lenken, sondern die Rahmenbedingungen setzen, die die Freiheit des Marktes erst ermöglichen. Der Staat kann die Zukunft nicht planen, sondern muß Rahmenbedingungen gestalten, mit denen eine ungewisse Zukunft bewältigt werden kann. Es muß eine Offenheit für verschiedene, alternative Gestaltungsmöglichkeiten geben. In diesem Sinne darf man die Marktwirtschaft freilich auch nicht für Fehlentwicklungen verantwortlich machen, die gerade nicht aus ihr selbst, z. B. aus dem Walten von Angebot und Nachfrage, sondern im Gegenteil eklatanten Verstößen gegen dieses Prinzip entspringen, man vergleiche z. B. die lähmende Wirkung vielfältiger Regulierungen. Das Gelingen der Sozialen Marktwirtschaft hängt sehr entscheidend davon ab, wie wir mit der Freiheit umgehen und welchen Gebrauch wir konkret von ihr machen. Das Aushalten der damit beschriebenen Gegensätze und das immer wiederholte Ringen um einen Ausgleich ist eine eminente geistige und ethische Aufgabe. Es scheint mir, daß diese Dimension in der Rezeption der Sozialen Marktwirtschaft, wie sie die Gründungsväter konzipiert haben, eher zu kurz gekommen ist. Damit wird aber auch der Ordnungsgedanke verfehlt. Walter Eucken16 verweist in diesem Zusammenhang auf den Ordo-Begriff, der eine bessere und gerechtere Ordnung anzeigt. Die antike Ethik hat von Aristoteles bis Augustinus immer wieder, besonders in Notlagen, diesen Begriff entfaltet. Er ist vor allem auch durch Maß und Gleichgewicht bestimmt. „Schon die antike Philosophie ... suchte in der Mannigfaltigkeit der Dinge den verborgenen architektonischen Gestaltungsplan der Welt ... Er bedeutet die sinnvolle Zusammenfügung des Mannigfaltigen zu einem Ganzen.... Heute lebt diese Idee wieder auf angesichts der dringenden Notwendigkeit, für die industrialisierte Wirtschaft die fehlende funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung der Wirtschaft, der Gesellschaft, des

« Vgl. Hayek (1971), S. 40. >« Vgl. Eucken (1989), S. 239.

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Rechtes und des Staates zu finden."17 Ordnungspolitisches Denken ist also nicht ein beliebiges, durch politische Taktik bestimmtes Dekretieren, sondern ist ein verantwortungsvolles Gestalten nach Normen, die deshalb vorgegeben sind, weil sie dem Menschen entsprechen. „Die Gesamtordnung sollte so sein, daß sie den Menschen das Leben nach ethischen Prinzipien ermöglicht."18 Soziale Marktwirtschaft gibt es so nur als Konzept einer ständigen Ausgleichsbemühung, die den Gedanken der Solidarität und der Subsidiarität verpflichtet ist. Wir sprechen viel von den ökonomischen Rahmenbedingungen unserer Wirtschaft, aber wohl zu wenig von den humanen und damit auch ethischen Rahmenbedingungen gerade der Sozialen Marktwirtschaft. Wir dürfen darum die Probleme der Sozialen Marktwirtschaft nicht abkoppeln von einem tragfähigen Menschenbild, einer funktionierenden Demokratie und der Gültigkeit verläßlicher Grundwerte in einem Gemeinwesen und im Staat. Soziale Marktwirtschaft ist gewiß äußerst leistungsfähig. Man kann sie jedoch nicht einfach als ein in sich stehendes System auffassen und beliebig verpflanzen. Sie beruht in vieler Hinsicht auf sehr verletzlichen Voraussetzungen, die stets gepflegt und weiterentwickelt werden müssen.

V.

Unter den geistigen Vätern der Sozialen Marktwirtschaft hat Alfred MüllerArmack wie kaum ein anderer den Zusammenhang zwischen Religion und ökonomischen Ordnungen untersucht.19 Müller-Armack geht dabei weit über Max Weber hinaus, der die Religion als einen unter mehreren Faktoren gesellschaftlicher Dynamik zu begreifen versucht. Müller-Armack hebt den Rang des religiösen Bekenntnisses außerordentlich hervor. Er sieht in der abendländischen Geschichte einen zunehmenden Abfall des Menschen vom konkreten Glauben. Es werden Idolbildungen und Ersatzmetaphysiken ausgebildet. Der Mensch kompensiert den metaphysischen Verlust durch diesseitige Befriedigungen. MüllerArmack vertritt die Meinung, den Folgen von Glaubensabfall in Form von Normen- und Werteverlust nur durch eine Wiederbelebung der christlichen Überzeugungen begegnen zu können. Eine wirtschaftliche Erneuerung ist für ihn ohne eine Wiederbelebung des Glaubens nicht möglich.20 „Eine Rehchristianisierung unserer Kultur ist ... die einzige realistische Möglichkeit, ihrem inneren Verfall in letzter Stunde entgegenzutreten. In ihren Zeichen vereinigt sich die Wahrheit des Wortes mit den letzten Kräften der europäischen Tradition und den geistigen Überzeugungen unserer Gegenwart, wie den wenigen, aber unverrückbaren Richtmaße zu geben, deren wir im irdischen Dasein bedürfen."21

17 Eucken (1989), S. 239; Eucken (1990), S. 372 ff. 1« Eucken (1990), S. 199; dazu Lüpke (2001), S. 1188-1192. 1» Vgl. Müller-Atmack (1981). 20 Vgl. Müller-Armack (1948); auch in Müller-Armack (1981), S. 371-512. 21 Müller-Armack (1948), S. 182.

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Das „Jahrhundert ohne Gott" ist etwas mehr als 50 Jahre alt. Ähnlich wie R. Guardinis Entwürfe einer Situation der Gegenwart „Das Ende der Neuzeit" und „Die Macht" gehören sie zu den großen Ortsbestimmungen der Gegenwart nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Auch wenn wir heute manches im theologischen Bereich differenzierter sehen22, so bleiben doch die Grundfragen bestehen, woher wir nämlich für unser Zusammenleben und angesichts der sich steigernden pluralistischen Wertsetzungen unverrückbare Maßstäbe erhalten, die möglichst alle verpflichten. Diese Aufgabe kann ich im Rahmen dieses Beitrags nur noch nennen, ohne die Themen im einzelnen ausfuhren zu können, was freilich an anderer Stelle oft geschehen ist. Wir spüren die Defizite in den Fundamenten unserer Gesellschaft. Die sicher unzureichende Wertediskussion zeigt mehr Verlegenheiten als Lösungen. Immer wieder wird der „Ruck" angemahnt, der durch unsere Gesellschaft gehen soll. Nicht selten schielt man auf die Kirchen und mahnt ihren Beitrag an. Dies geschieht sicher mit Recht. Aber genauso gewiß ist, daß dies eine Aufgabe aller gesellschaftlichen Kräfte ist, nicht nur der Kirchen allein. Mit meinem Beitrag wollte ich wenigstens aufzeigen, wie diese Aufgaben bei den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft noch sehr deutlich im Bewußtsein ist. Nicht selten empfinden heute viele diese Ausfuhrungen der geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft als zeitbedingten, letztlich ideologischen Ballast, den man auch übergehen kann. Nun will ich gewiß nicht leugnen, daß man diese Ausführungen, sofern sie auch Philosophie und Theologie betreffen, zweifellos radikal vertiefen muß, aber es bedeutet auf keinen Fall eine Lösung, diese Probleme einfach zu eliminieren. Es entsteht dadurch ein falscher Eindruck des Konzepts von Sozialer Marktwirtschaft. Sie leistet in concreto dann auch nicht das, was von ihr erwartet wird. Sie ist kein in sich funktionierender Regelkreis, sondern das Leitbild einer offenen Gesellschaft, die immer wieder neu Maß nehmen muß auch an anthropologischen und ethischen Prinzipien. Dies ergibt auch eine eigentümliche Offenheit der Sozialen Marktwirtschaft. Alfred Müller-Armack hat die Soziale Marktwirtschaft nicht zu der „freiheitlichen Lebensordnung schlechthin" hochstilisiert, sondern hat in ihr bei allen notwendigen ethischen Voraussetzungen so etwas wie ein Organisationsmodell und eine Zweckmäßigkeitsstruktur gesehen, die instrumenteilen Charakter trägt. Sie ist nicht selber Ziel. Müller-Armack war überhaupt grundsätzlich offen für eine ständige Korrektur der Sozialen Marktwirtschaft. So hat er sich 194623 gefragt, ob die Soziale Marktwirtschaft nicht besonders für eine Zeit geschaffen sei, die eine langfristige Güterknappheit befürchten müsse. Die Soziale Marktwirtschaft sei in der Lage, solche Knappheitserscheinungen in der Nachkriegszeit ziemlich schnell zu überwinden. Wenn sich jedoch nach Jahren das Problem des Güterüberflusses stelle, müsse man neu nach einer markt-

22 Zu Müller-Atmack vgl. Dietzfelbinger (1998), 168 ff. 23 Vgl. Müller-Atmack (1946), S. 74.

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wirtschaftlichen Ordnung fragen. Ähnlich hat er im Jahr 1960 von einer „zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft" gesprochen.24 So hat er z. B. auch auf erhebliche Mängel der realisierten Ordnung hingewiesen und neue Defizite genannt: Die mangelnde Rücksicht der produktionell-technischen Entwicklung auf Umweltschäden, vermehrte Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten, institutionelle Sicherung von Vollbeschäftigung. Immer wieder hat er nach einem Leitbild gefragt und gesucht. Dieses muß jedoch auch von innen her als erstrebenswertes Ziel bejaht werden. „Nur so kann das Vakuum ausgefüllt werden, das im Innern unserer Gesellschaft so deutlich spürbar ist. Wir stehen vor der Aufgabe einer inneren Integration unserer Gesellschaft. Diese ist nur von einem Fundament gemeinsamer Werte und Uberzeugungen her möglich.... Die Sicherung unserer freien Ordnung kann daher politisch und geistig nur dann erfolgen, wenn wir auch den wirtschaftlichen und sozialen Bereich im weitesten Umfang als Ausdruck eines bestimmten geistigen Leitbildes umgestalten."25 So geschrieben 1960. Wir wissen es also schon lange. Nur daran wollte ich erinnern, damit wir die Aufgabe nicht länger verdrängen. Ganz gewiß gibt es heute über diese schon erstaunlich hellsichtigen Erkenntnisse Müller-Armacks hinaus ganz neue Herausforderungen. Die entscheidende Bewährungsprobe ist zweifellos die Globalisierung in der Weltwirtschaft. Dies ist ein eigenes Thema, das ich hier im Rahmen der zur Verfügung stehenden Zeit nicht mehr behandeln kann26. Ich bin jedoch davon überzeugt, daß die Soziale Marktwirtschaft, wenn sie ihre ersten ethischen Grundlagen, die gleichsam zu ihrer Geburtsstunde gehören, reaktiviert, auch dieses Phänomen bewältigen kann. Aber gewiß ist dies kein „Automatismus", sondern verlangt besonders in der internationalen Ordnung des Welthandels und anderer politischwirtschaftlicher Beziehungen einen hohen Einsatz für das Wohl aller Menschen. Zugleich sind mit einem Rückgriff auf die ethischen Ursprünge der Sozialen Marktwirtschaft auch die Kriterien entwickelt für das, was heute „Neue Soziale Marktwirtschaft" genannt wird.27 Dieses Maß ist auch deshalb notwendig, weil diese „Neue Soziale Marktwirtschaft" nicht unter der Hand verwechselt werden sollte mit einer starken Imprägnierung der ursprünglichen Sozialen Marktwirtschaft durch einen kräftigen Schuß des Neoliberalismus. Entsprechenden Veränderungen ist sorgfaltig nachzuspüren. So fiel mir z. B. auf, daß die bekannte Formulierung von Alfred Müller-Armack, die sich auch bei Ludwig Erhard findet, es gehe der Marktwirtschaft darum, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden"28, nun im eben erwähnten 24 Müller-Armack (1966), S. 267-291; auch in Müller-Armack (1976), S. 267-291. m Müller-Armack (1966), S. 288. 26 Vgl. meinen Vortrag „Globalisierung und Soziale Marktwirtschaft. Vortrag beim Unternehmertag 2000 der Landesvereinigung Rheinland-Pfalzischer Unternehmerverbände am 23.05.2000 in Mainz, auszugsweise mehrfach gedruckt, vgl. Lehmann (2001), S. 11. 27 Vgl. das gleichnamige Diskussionspapier der CDU Deutschlands, Berlin, 27. August 2001, 146 Seiten, hrsg. von der CDU-Bundesgeschäftsstelle. 2« Erhard (1956), S. 390.

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Programm der Neuen Sozialen Marktwirtschaft leicht umformuliert worden ist. Dort heißt es über die Soziale Marktwirtschaft: „Sie ist ein dynamisches Modell, im stets neu zu bestimmenden Spannungsverhältnis zwischen größtmöglicher Freiheit und dem Auftrag sozialem Ausgleich und Gerechtigkeit - 1957 wie 2001."29 Es ist viel von Freiheit, ja von einer neuen Stufe der Freiheit30 die Rede, aber vom Sinn dieser Freiheit sollte wohl mehr die Rede sein. Man kann sich darüber nur eine intensive Diskussion wünschen.

Literatur Bleistein R. (Hrsg., 1987), Dossier: Kreisauer Kreis. Dokumente aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. Blumberg-Lampe, Chr. (1973), Das wirtschaftspolitische Programm des "Freiburger Kreises, Berlin. Blumberg-Lampe, Chr. (1986), Der Weg in die Soziale Marktwirtschaft, Stuttgart. Diettfelbinger, D. (1998), Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsstil. Alfred MüllerArmacks Lebenswerk, Gütersloh (= Leiten, Lenken, Gestalten 3). Erhard, L. (1956), Soziale Marktwirtschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Tübingen. Eucken W. (1989), Grundlagen der National-Ökonomie, 9. Aufl., Berlin. Eucken, W. (1990), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl., Tübingen. Hayek, F. A. von (1971), Die Verfassung der Freiheit, Tübingen u. a. Lehmann, K (2001), Noch fehlen Regeln, in: Rheinischer Merkur, 13. April 2001, Nr. 15, S. 11. Lüpke, J. von (2001), Ordnung, in: Evangelisches Soziallexikon, Neuausgabe, Stuttgart. Müller-Armack, A. (1946), Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, Bern, in: ders.: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 2. Aufl., Stuttgart 1976. Müller-Armack, A. (1948), Das Jahrhundert ohne Gott. Zur Kultursoziologie unserer Zeit, Münster. Müller-Armack, A. (1966), Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur europäischen Integration, Freiburg.

29 30

Diskussionspapier Neue Soziale Marktwirtschaft, S. 11. Vgl. Diskussionspapier Neue Soziale Marktwirtschaft, S. 14.

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Müller-Armack, A. (1981), Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, 3. Aufl., Bern. Operty, M. (1974), Alfred Delp SJ Im Kreisauer Kreis = Veröffentlichung der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen, Band 63, Mainz. Reimer, H. (1972), Eigennutz, in Historisches Wörterbuch der Philosophie II, Basel. Schefold, B. (1994), Wirtschaftsstile I, Frankfurt a. M. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferen% (Hrsg., 1991), Enzyklika Centesimus annus Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II, Bonn o. J. (= Verlautbarungen des Heiligen Stuhls 101). Thielicke, H. (1979), In der Stunde Null, Tübingen.

Soziale Marktwirtschaft als Verpflichtung Angela Merkel

Die Grundwerte, die seit 1948 die Soziale Marktwirtschaft ausmachen, sind auch für das 21. Jahrhundert unerläßlich. Noch immer bilden sie die gemeinsame Wurzel, die Wirtschafts- und Sozialordnung zusammenhält. Die freiheitliche Ordnung der westlich geprägten Demokratien und die freiheitliche Marktordnung einer globalen Ökonomie sind zwei Seiten derselben Medaille; auch und gerade, weil Freiheit und Wohlstand keine Selbstverständlichkeiten sind. Wirtschaftliche und politische Freiheit dürfen wir auch nach 1989 nicht einfach als gegeben hinnehmen. Denn Freiheit kann auch zerstört werden, zum Beispiel durch zu viel Regulierung, durch das Verhindern von Wettbewerb. Wettbewerb und Freiheit gehören untrennbar zusammen. Daher kommt dem Wettbewerb in der Sozialen Marktwirtschaft eine ganz wesentliche Rolle zu. Denn die Freiheit jedes Einzelnen ist Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft. Zukunftsfähige Politik befähigt die Menschen, in einem sinnvollen Ordnungsrahmen selbstständig Entscheidungen zu treffen. Privates und sozial verpflichtetes Eigentum ist deshalb ein Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft. Es gibt dem einzelnen mehr Entscheidungsmöglichkeiten und erhöht damit seine persönliche Freiheit. Nur eine Politik, die Selbständigkeit im umfassenden Sinne fördert, qualifiziert die Menschen und auch sich selbst für die Zukunft. Wie wir leben und wie wir arbeiten, wie wir unser Gemeinwesen und unseren ökonomischen Austausch organisiert haben, ist Ausdruck unseres Verständnisses vom Menschen. Der Mensch ist zwar frei. Deshalb darf ihm der Staat nicht aufzwingen, wie er zu leben hat. Der Mensch ist frei, aber er ist nicht autonom. Auch der Stärkste kann morgen auf die Hilfe der anderen angewiesen sein. Diese Grundeinsicht fuhrt zu der Idee, daß Freiheit nicht absolute Freiheit sein kann. Sie muß verantwortete Freiheit sein. Und genau das ist der Kerngedanke der Sozialen Marktwirtschaft. Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ist dabei stets mehr gewesen als die Schaffung eines institutionellen Rahmens. Sie ist eine ethisch begründete Ordnung, der es gelingt, Eigennutz und Gemeinnutz zusammenzuführen sowie Verteilungsgerechtigkeit herzustellen. Deshalb ist Soziale Marktwirtschaft auch kein System, keine Ideologie, sondern ein freiheitlicher Ordnungsrahmen für Wirtschaft und Gesellschaft. Er hat den einzelnen Menschen im Blick, das Potential an Talenten, das jeder mitbringt und das er entfalten kann.

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Angela Merkel

Die Soziale Marktwirtschaft schafft und erhält Freiräume, sie traut den Menschen etwas zu. Sie belohnt Fleiß und Einsatz, sie setzt Anreize für die Leistungsbereitschaft der Menschen. Und sie spricht die Solidarität der Menschen an, ihre Bereitschaft, alle am Wohlstand teilhaben zu lassen. Sie ermöglicht und fördert eine florierende Wirtschaft, aber sie ist kein reines Wirtschaftskonzept. Sie ist Teil einer ebenso erfolgreichen wie menschlichen Gesellschaft. Sie vereint Markt und Menschlichkeit. Deswegen kann sie eine unglaubliche Wachstumsdynamik entfalten — eine Wachs tumsdynamik, die Chancen für alle schafft. Zur Zeit Ludwig Erhards stand Deutschland am Scheideweg. Der Mangel nach dem Krieg war furchtbar. Es gab viele, die damals eine Planwirtschaft befürworteten. Aber das Vertrauen in Markt und Wettbewerb hat sich durchgesetzt — und es hat Früchte getragen. „Wirtschaftswunder" ist eines der wenigen deutschen Worte, die Eingang gefunden haben in den Sprachschatz vieler Länder. Heute, gut ein halbes Jahrhundert später, ist Erhards Wort vom „Wohlstand für alle" in einem Maße Realität geworden, das viele damals für reine Utopie gehalten hätten. Doch wenn man die bisherigen deutschen Wachstumsdaten im europäischen Vergleich betrachtet, dann sehen wir auch: Selbstverständlich ist das nicht. So kann die negative Entwicklung der letzten Monate in Deutschland auch nicht allein mit der Entwicklung der Weltwirtschaft begründet werden. Solche Erklärungsansätze führen nur dazu, daß sich diejenigen, die die Verantwortung für die Bedingungen in Deutschland haben, aus dieser Verantwortung stehlen. Aber so einfach darf man es sich nicht machen, denn im europäischen Vergleich wird auch deutlich, daß unsere heutige Performance viel besser sein müßte als sie es tatsächlich ist. In Deutschland wird derzeit eine Politik gemacht, die ungeeignet ist, Wachstumskräfte zu stärken und Wachstumspotentiale frei zu setzen. Oftmals muß man den Eindruck haben, als werde hier einer der Kernbegriffe der Sozialen Marktwirtschaft, nämlich jener der „Ordnungspolitik", bewußt mißverstanden und mißinterpretiert. Schließlich ist mit Ordnungspolitik nicht gemeint, alles und jedes mit Vorschriften und Bürokratie, mit Paragraphen und Regulierungen zu überziehen. Der Ruf nach dem Staat zur Korrektur unbefriedigender Marktergebnisse ist ein falsches wirtschaftspolitisches Signal und verringert mittelfristig die Fähigkeit, unternehmerische Antworten im Markt selbst zu finden. Kurzfristiger Aktionismus nützt nichts. Deutschland braucht eine Politik, die die Wachstumskräfte langfristig stärkt. Hauptaufgabe der Politik bleibt die Ausgestaltung eines einheitlichen Regelwerkes und die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen, damit es sich für die Unternehmen rentiert, in Deutschland zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Deutschland braucht eine neue Ordnungspolitik: Klare, verläßliche Regeln, die dem Wettbewerb einen sinnvollen Rahmen geben — aber die heilsamen und ermunternden Kräfte des Wettbewerbs zugleich mobilisieren. In den letzten Jahren ist dagegen ein ganz anderes Prinzip propagiert und kultiviert worden, das uns

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aber nicht weiter gebracht hat. Das ist der Gedanke, man könne alles durch Moderation und Konsens lösen. Konsens hilft weiter, wenn alle entschlossen sind, sich für gemeinsame Ziele einzusetzen. Aber die Suche nach Konsens kann Entscheidungen nicht ersetzen. Diese Binsenweisheit hat sich seit 1998 nur allzu offensichtlich bestätigt. Es ist falsch zu glauben, man könnte Ordnung durch Konsens ersetzen. Denn dieser ist Gift für den Wettbewerb und damit ein klarer Verstoß gegen die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft. Ordnungspolitik heißt: Es ist Aufgabe des Staates, Ziele zu setzen und für Leitplanken zu sorgen. Aber es nicht Aufgabe des Staates, den Weg zum Ziel vorzuschreiben. Ordnungspolitik vertraut darauf, daß die Menschen selber dazu in der Lage sind, im Wettbewerb der Ideen, Konzepte und Produkte herauszufinden, welches die beste Lösung ist. Die Geschichte hat uns gezeigt: Der Mut zum Wettbewerb zahlt sich aus. Deshalb sollten wir ihn auch heute wieder haben. Lange Jahre waren die Unternehmen, die Arbeitnehmer und auch die Politik in der Bundesrepublik verwöhnt. Immer üppigere soziale Sicherungssysteme, immer weiter steigende Abgabenbelastung, immer weiter steigende Staatsquote und ein eingefleischtes Besitzstanddenken waren die Folge. Spätestens seit Ende der 90er Jahre haben wir es nicht mehr ausreichend vermocht, den elementaren Zusammenhang von Freiheit und sozialem Ausgleich, von Wohlstand und Solidarität deutlich zu machen. Tragfähige Reformen sind ausgeblieben. Ich bin überzeugt davon, daß wir mehr aus Deutschland machen können und auch machen müssen. Wir leben in einer „globalisierten", einer interdependenten und vernetzten Welt. Deutschland ist schon seit vielen Jahren ein wichtiger Teil der weltweiten Wirtschaftsordnung. Auch innenpolitisch kann das nicht folgenlos sein. Denn entgegen gewissen Meinungsströmungen der letzten Jahre — vor allem in der Wirtschaft — steht für mich eindeutig fest: Wirtschaft und Politik sind aufeinander angewiesen, in der vernetzten Welt von heute mehr denn je. National und international findet kontinuierlich ein weitreichender Strukturwandel statt. Er ist unverzichtbar für eine moderne Volkswirtschaft, die im weltweiten Wettbewerb bestehen will. Wir werden unseren Spitzenplatz im internationalen Wettbewerb nur erfolgreich verteidigen und ausbauen können, wenn unsere Güter und Dienstleistungen Spitzenprodukte sind — innovativ, technologisch führend und von hervorragender Qualität Die Soziale Marktwirtschaft des 20. Jahrhunderts hat eine nahezu ideale Antwort auf die offenen Fragen der Industriegesellschaft gegeben. Die gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist heute dieselbe. Aber die Ausgangsbedingungen haben sich verändert. Dies ist ein Grund dafür, daß das bekannte politische Instrumentarium immer mehr an seine Grenzen gelangt. Das 21. Jahrhundert stellt an uns andere Anforderungen als das 20. Jahrhundert. Das heißt: Wir müssen die Soziale Marktwirtschaft angesichts des fundamentalen Wandels, der auf vielen Feldern

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sichtbar ist, auf eine neue Stufe heben. Wir müssen neue Prioritäten setzen, neue Instrumente und Mechanismen anwenden. Dazu brauchen wir den Mut, angesichts der vielfältigen und tiefgreifenden Umbrüche, die wir erleben, jetzt neue Weichenstellungen vorzunehmen. Dazu brauchen wir Unternehmer, die die Chancen der zunehmenden Globalisierung für mehr Arbeitsplätze in Deutschland nutzen. Nur so kann sich die Soziale Marktwirtschaft selber immer wieder von unten her verjüngen: mit neuen Personen, mit neuen Gedanken, mit neuen Techniken. Der Strukturwandel sollte jedoch den Kräften des Marktes überlassen werden, um erfolgreich vollzogen zu werden. Die Unternehmen müssen sich offensiv auf den Weltmärkten der Konkurrenz und dem internationalen Strukturwandel stellen. Mehr als 40 Jahre sozialistische Planwirtschaft haben gezeigt, daß staatliches Wirtschaftsienken dazu nicht in der Lage ist. Interventionistische Eingriffe müssen auf wenige Ausnahmen beschränkt bleiben. Dies bedeutet jedoch nicht, daß der Staat aus seiner Verantwortung für die Unternehmen entlassen wird. Die Aufgabe staatlicher Strukturpolitik ist es nämlich, die Anpassungsfähigkeit von Unternehmen und Beschäftigten durch die Förderung von Investitionen, Ausbildung und den Ausbau der Infrastruktur zu fördern. Wie wir in Deutschland lernen, studieren und forschen, wo der Staat investiert, wie wir unseren Arbeitsmarkt regeln, wie wir unsere sozialen Sicherungssysteme gestalten — all diese Fragen können wir heute nicht mehr aus der deutschen Innensicht beantworten. Die großen Trends der Veränderung erfassen die ganze Welt; in ihnen muß sich unser Land bewähren. Einer dieser großen Trends ist die digitale Revolution und ihre Folgen. Wissen ist ein immer wichtigerer Teil der Wertschöpfung. Das weltweit verfügbare Wissen wächst immer schneller, es ist überall abrufbar; gleichzeitig sinkt seine Halbwertszeit — es veraltet oft ebenso schnell wie es entstanden ist. Dank der digitalen Revolution verbreitet sich Wissen rasend schnell weltweit. Zusammenarbeit über Kontinente hinweg in Echtzeit ist für viele Menschen heute gang und gäbe. Wenn wir wollen, daß Deutschland auch in Zukunft ein führendes Industrieland bleibt, dann müssen wir erkennen, daß Wissen unser wichtigster Rohstoff ist. Die digitale Revolution ist die vielleicht wichtigste treibende Kraft hinter dem zweiten großen Trend, nämlich jener Vernetzung und Verknüpfung nicht nur der Wirtschaftsprozesse, für die sich der Begriff Globalisierung eingebürgert hat. Globalisierung heißt Vergleichbarkeit und Wettbewerb nicht nur für Waren und Diensdeitungen, sondern auch für Regionen und Länder. Darauf muß die deutsche Politik sich einstellen. Das heißt, der Staat muß flexibler und unbürokratischer werden. Er muß in der Lage sein, schneller Entscheidungen zu fallen. Weit schwieriger ist es, mit dem dritten großen Trend politisch umzugehen. Denn die nun schon jahrelang geringe Geburtenrate ist von der Politik kaum zu beeinflussen. Sie ist wesentlich Folge der veränderten Einstellung zu Werten und insbesondere der hohen Individualisierung westlicher Gesellschaften. Wir müs-

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sen damit rechnen, daß die Bevölkerungszahl nicht nur in Deutschland, sondern in Europa insgesamt, deutlich zurückgeht. Solidarität zu organisieren, ist eine Grundaufgabe der Sozialen Marktwirtschaft. Angesichts der Bevölkerungsentwicklung müssen wir uns neu orientieren. All diese Veränderungen in der Welt stellen konkrete Handlungsanforderungen an uns. Die Menschen in Deutschland müssen vorbereitet sein auf die Wissensgesellschaft. Wir müssen unsere Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit sicherstellen, wir müssen mehr und neue Arbeitsplätze schaffen und wir müssen unsere Solidarsysteme so umbauen, daß sie zukunftsfähig sind. In der Wissensgesellschaft werden nur die Gesellschaften erfolgreich bestehen, die aus ihren intellektuellen Ressourcen und Fertigkeiten das Beste machen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß möglichst allen Bürgern ein umfassender Zugang zu Bildung, zu Wissen und Informationen eröffnet wird. Unsere Systeme für Bildung, Wissenschaft und Forschung müssen deshalb inhaltlich und methodisch für die dynamischen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts fit gemacht werden. Wir dürfen uns mit Mittelmaß nicht abfinden. Wir müssen den Mut haben, Spitzenleistungen anzustreben und auch zu erreichen. Treibende Kraft auf dem Weg dahin kann nur der Leistungswettbewerb sein. Auch hier gilt: Wettbewerb belebt das Geschäft und schafft die besseren Lösungen. Er bringt füir Lehrende und Lernende mehr Motivation. Die Hochschulen und Schulen, aber auch die Schüler beziehungsweise ihre Eltern, brauchen dafür mehr Gestaltungs Spielräume. Das Bekenntnis zu Leistungseliten und die Weiterentwicklung der Lernbedingungen für alle muß sich dabei ergänzen. Somit ist auch der Bereich Aus- und Weiterbildung ein wichtiges Thema. Hier sind neben dem Staat insbesondere auch die Tarifpartner gefordert, die Bürger für die Notwendigkeit lebensbegleitenden Lernens in allen Lebensphasen zu sensibilisieren. Weiterbildung liegt im Interesse von Unternehmen und Arbeitnehmern. Deswegen sollten auch beide in diese Weiterbildung Zeit und Geld investieren. Bei der Stärkung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, ist es eine der Hauptaufgaben, ein neues Vertrauensverhältnis zwischen Bürger und Staat zu begründen. Das wird nur gelingen, wenn die Menschen ihren Staat als transparent und nachvollziehbar empfinden und wenn ihnen der Staat größtmögliche Gestaltungsspielräume eröffnet — finanziell und rechtlich. Auch in der neuen Sozialen Marktwirtschaft wird der Staat seinen politischen Gestaltungsauftrag wahrnehmen. Aber er muß auf überzogene Lenkungsansprüche verzichten. Gerade beim Steuersystem geht es um eine faire Balance zwischen den Steuern und Abgaben, die der Bürger für die Leistungen des Staates abführt, einerseits und den Einkünften, die dem Einzelnen zur individuellen Verfugung verbleiben, andererseits.

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Hierfür brauchen wir eine grundlegende Neuordnung des Steuerrechts, die die Belastungsgerechtigkeit wiederherstellt und eine deutliche Senkung der Einkommensteuersätze für alle Steuerpflichtigen ermöglicht. Oberstes Prinzip auch des sozialen Ausgleichs — muß dabei die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit sein. Das heißt, daß das Arbeitseinkommen alleine nicht mehr die Grundlage der Steuerbemessung sein kann. Die faire Balance bei Steuern und Abgaben werden wir dann erreichen, wenn wir die maximale Belastung aller Bürger und Unternehmen auf weniger als die Hälfte ihrer Einkünfte bzw. Erträge zurückzufuhren. Auf diese Weise wird die Steuergesetzgebung ein Beitrag für eine dynamische volkswirtschaftliche Entwicklung. Zu unserem Verständnis eines modernen, innovations- und wettbewerbsfähigen Staates gehört aber mehr. Er darf seine Bürger nicht über Gebühr belasten. Aber sein Handeln muß eben auch geprägt sein durch ein Höchstmaß an Transparenz und Bürgernähe. Deswegen müssen Zuständigkeiten, Verantwortungsbereiche und Finanzierungsstrukturen klar definiert sein. Wo immer möglich, muß auf staatliche Intervention verzichtet und statt dessen auf die Eigenverantwortung und Organisationsfähigkeit der jeweils kleineren Einheit oder des Einzelnen gesetzt werden. Was die Soziale Marktwirtschaft im 20. Jahrhundert geschafft hat, will die neue Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert erreichen, nämlich Wohlstand für alle und Teilhabe für alle. Auch in Zukunft ist der Zugang zu Erwerbsarbeit elementare Bedingung für Teilhabe. Das Ziel, Arbeit für alle zu ermöglichen, verfolgen wir deshalb weiter. Trotz der hohen Arbeitslosigkeit fehlt bislang der Mut in Deutschland, das enorme Beschäftigungspotential für gering oder niedrig qualifizierte Arbeitnehmer zu nutzen. Ein notwendiger Impuls ist die Senkung der Lohnnebenkosten für niedrige Einkommen. Verschiedene Modellvorhaben, Erfahrungen aus dem Ausland sowie wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Untersuchungen zeigen, daß solch strukturelle Maßnahmen außerordentlich beschäftigungswirksam sind. Zu den Impulsen für die Wirtschaft müssen die Motive für die Menschen kommen. Verläßlichkeit ist unerläßlich, wenn es um die Solidarsysteme in der Sozialen Marktwirtschaft geht. Eben deshalb müssen sie wirksam reformiert werden, wenn sich Bevölkerungsaufbau und Arbeitswelt so drastisch ändern, wie wir es derzeit erleben. Wir müssen vor allem aber alles tun, um den Anteil der Beitragszahler aus den „aktiven" Jahrgängen zu steigern. Aus Arbeitslosen müssen deshalb wieder Arbeitnehmer und Beitragszahler werden. Auch die Lebensarbeitszeit in Deutschland muß in Zukunft besser ausgeschöpft werden. Dies kann dadurch gelingen, indem wir die Ausbildungszeiten ohne Qualitätsverlust verkürzen und indem das durchschnittliche effektive Renteneintrittsalter wieder näher an das gesetzliche Renteneintrittsalter herangeführt werden.

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Wenn wir am Generationenvertrag festhalten wollen, müssen Familien mit Kindern wieder ins Zentrum der Politik rücken. Dabei ist Geld allein nicht ausschlaggebend. Hinzukommen muß, daß Kindererziehung und Erwerbstätigkeit in Zukunft besser vereinbar sind. Es liegt im eigenen Interesse der Gesellschaft, für den besonderen Schutz und für die besondere Förderung von Ehe und Familie einzutreten, denn Familien mit Kindern tragen mehr als jede andere Lebensformen zur Zukunft der gesamten Gesellschaft bei. Die Soziale Marktwirtschaft hat den Anspruch, Wirtschafts- und Sozialordnung zu sein. Doch in der vernetzten, globalisierten Welt kann kein Gesamtkonzept mehr allein innerhalb der Grenzen eines Nationalstaates funktionieren. Diese Tatsache unterstreicht noch einmal, daß wir wirklich eine neue Soziale Marktwirtschaft brauchen. Denn es greift zu kurz, wenn man über Sicherheit nur im Sinne sozialer Sicherheit spricht. Internationale Zusammenarbeit ist mehr denn je das Gebot der Stunde. Dazu gehört auch, diejenigen, die im Zuge der Globalisierung bislang zu kurz gekommen sind, zu gleichberechtigten Partnern zu machen. Dafür ist die Schaffung bzw. Weiterentwicklung eines internationalen Ordnungsrahmens eine zentrale Aufgabe. Die Chancen der globalen Ökonomie müssen für möglichst viele Menschen greifbar werden. Staaten mit hohen ökologischen oder sozialen Standards dürfen diese anderen Ländern nicht aufdrängen. Wir müssen unterschiedliche Ausgangsbedingungen respektieren. Ein internationaler Ordnungsrahmen muß aber beispielsweise Vorschläge enthalten zum Abbau gewerblicher Zölle, zum Austausch weltweiter Dienstleistungen, zu grundlegenden Wettbewerbsregeln, zum öffentlichen Auftragswesen und zu Handelserleichterungen sowie zur besonderen Berücksichtigung der am wenigsten entwickelten Länder und zum Erlaß ihrer Schulden. Das ist ein komplexes Vorhaben. Aber es gibt schon viele Vorstöße in diese Richtung, etwa den Rio-Prozeß, die WTO, die Menschenrechtsdiskussionen, internationale Finanzinstitutionen und das Gesamtwirken der Vereinten Nationen. Wichtig ist jetzt, die Kohärenz zwischen den einzelnen globalen Prozessen bzw. Institutionen zu sichern. Dann kommen wir dem Ziel näher, Marktwirtschaft, Demokratie, Menschenrechte und ein menschenwürdiges Maß an Wohlstand in möglichst vielen Ländern zu verwirklichen. Dies sind jedoch langfristige Prozesse. Wir müssen dazu beitragen, was immer wir können. Vor allen Dingen müssen wir aber dafür sorgen, daß die Ordnung in unserem Land zukunftsfähig ist. Deshalb werbe ich dafür, daß wir Deutschland auf eine neue Stufe der Sozialen Marktwirtschaft bringen. Sie schafft durch Wettbewerbsfähigkeit die Spielräume, die wir wollen und die wir brauchen, um unser Zusammenleben nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Und das heißt nach wie vor, daß jeder Einzelne einen Anspruch darauf hat, seine Talente und Fähigkeiten zu entfalten. In diesem Sinne müssen wir in der Sozialen Marktwirtschaft vor dem Hintergrund der Veränderung das Verhältnis von Bürger und Staat in

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all seinen Facetten neu austarieren, ob bei der Bildung, bei den Steuern, in den Solidarsystemen. Denn nur wenn wir Teilhabe sichern, sichern wir Wohlstand. Und nur wenn wir diese beiden Ziele — Teilhabe und Wohlstand — in den Vordergrund stellen, können wir das große historische Verdienst der Sozialen Marktwirtschaft für die Zukunft sicher machen. Denn was Erhard gelang, nämlich die alten gesellschaftlichen Klassen und den Gegensatz von Kapital und Arbeit zu überwinden, ist kein ewiger politischer Besitzstand, sondern eine Leistung, die wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder neu zu erbringen haben. Jetzt müssen wir dafür sorgen, daß sich in Deutschland keine neuen Klassen bilden. Denn mit ihnen entstünden auch neue Konflikte; Konflikte, die die Soziale Marktwirtschaft im 20. Jahrhundert gelöst hat. Sie hat damit die Grundlage für einen sozialen Frieden geschaffen, der zu den wichtigsten Standortfaktoren unseres Landes gehört und ein wichtiger Beitrag zu seiner hohen Lebensqualität ist. Deshalb brauchen wir heute eine neue Soziale Marktwirtschaft. Diese nimmt die neuen Anforderungen, die dieses neue Jahrhundert an uns stellt, an. Und sie schafft dadurch die Grundlage, die notwendig ist, um Sicherheit und Teilhabe auch für die Schwächeren zu gewährleisten. Wie das Verhältnis von Bürger und Staat heute wie damals in unserer Offenen Gesellschaft im Grundsatz aussehen muß, hat Ludwig Erhard in seinem Buch „Wohlstand für alle" 1957 formuliert: „Ich will mich aus eigener Kraft bewähren. Ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge Du, Staat, dafür, daß ich dazu in der Lage bin." Dieser Formulierung folgt die neue Soziale Marktwirtschaft. Denn aus diesem Verständnis leitet sich her, was wir als Forderungen und Maßnahmen erarbeitet haben. Es ist an der Zeit, daß das Verhältnis der Gegenseitigkeit, das Erhard umrissen hat, auch den Stil der Politik bestimmt. Gegenseitigkeit braucht Partnerschaft. Gegenseitigkeit braucht klar umrissene Verantwortung und klar definierte Aufgaben für die eine und die andere Seite. Diese Partnerschaft zwischen Bürger und Politik braucht gegenseitiges Vertrauen. Grundlage dafür ist, daß jeder weiß, was er von dem anderen erwarten kann. Beide Seiten müssen wissen, worauf sie beim anderen bauen können. Wir wollen einen neuen Politikstil, dessen Maßstab Glaubwürdigkeit und Gegenseitigkeit sind. Damit durchbrechen wir den Kreislauf von Versprechungen, Erwartungen und Enttäuschungen. Anstatt auf bloße Ankündigungen und Versprechungen setzen wir auf faire Partnerschaft. Gerade in der sich ändernden Welt brauchen wir die Ethik der Sozialen Marktwirtschaft und ihre integrierende Kraft. Wir brauchen die zentralen Elemente Wettbewerb, Subsidiarität, sozialer Ausgleich und Nachhaltigkeit. So kann die Soziale Marktwirtschaft ihre integrative Wirkung entfalten. Sie steht für die Verzahnung von wirtschaftlicher Dynamik und sozialer Fairneß. Nicht nur in Deutschland. Nicht nur in Europa. Sondern als Ordnungsmodell für ein freiheitliches Leben und Wirtschaften in der von Globalisierung geprägten Welt.

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Kernstück unserer Verpflichtung für die Zukunft ist die neue Soziale Marktwirtschaft. Kernstück der neuen Sozialen Marktwirtschaft sind die fundamentalen Werte und Ziele der menschenwürdigsten und erfolgreichsten Wirtschafts- und Sozialordnung, die die Geschichte gesehen hat. Wenn wir es richtig machen, dann eröffnen sich für uns in der vernetzten, in der globalisierten Welt von heute und morgen ganz neue Chancen. Es wird neue Wirtschaftswunder geben, wenn wir die Soziale Marktwirtschaft in ihren Prinzipien, nicht unbedingt in ihrem eingefahrenen institutionellen Rahmen, lebendig erhalten. Das ist unsere eigentliche Aufgabe. National wie international.

Reformstau in der Sozialpolitik - Ein Beitrag zur Strukturierung der Diskussion Karl Homann

Eine grundlegende Reform der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland ist unabweisbar: Darin stimmen alle Fachleute gleich welcher politischer Couleur überein. Aber es passiert nichts: Deutschland scheint zu Reformen nicht fähig oder nicht bereit zu sein. Damit rückt die Suche nach den Ursachen der Stagnation in den Vordergrund. Niemand wird ernsthaft einer monokausalen Verursachung der Politikblockaden in diesem Feld das Wort reden. Auch ich werde in diesem Beitrag nur einen einzigen Aspekt diskutieren, der mir allerdings wichtig erscheint und der in der Diskussion zu wenig, wenn überhaupt, beachtet wird. Gemäß der Devise „Ideas Matter" führe ich die Politikblockaden auf Theotieblockaden in Form verfehlter Problemexpositionen, unzweckmäßiger Kategorien und unreflektierter Hintergrundvorstellungen zurück: Es fehlt bis heute eine tragfähige, konsistente und realisierbare Konzeption von Sozialpolitik1. Daher nimmt es nicht wunder, daß sich die Sozialpolitik im Verlauf der Jahrzehnte in ein Dickicht inkonsistenter Einzelmaßnahmen verirrt hat, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Es fehlt an Orientierung, an Theorie — sogar in dem Land, das mit der Sozialen Marktwirtschaft ein weithin beachtetes, eindrucksvolles „Wirtschaftswunder" hervorgebracht hat. Es soll in diesem Beitrag vor allem um die theoretische Strukturierung der Diskussion gehen. Es geht darum, unterschiedliche, letztlich unvereinbare Argumentationen zu identifizieren und ihre theoretischen und politischen Implikationen zu explizieren. Die Hoffnung des Autors geht dahin, auf diese Weise zu mehr methodischer Klarheit und Transparenz beizutragen und die Diskussion rationaler Kritik zugänglich zu machen — ein Unternehmen, dem der mit dieser Festschrift geehrte Jubilar seine ganze Arbeitskraft gewidmet hat2.

1

2

Vgl. dazu Pies (2000), bes. S. 63-134 (Kapitel 2), hier auch weitere Literatur. Pies nimmt den Ausdruck „Sozialpolitik für den Markt" ebenfalls auf. Vgl. bes. das Standardwerk zur Wohlfahrtsökonomik Külp (1975/1976).

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1.

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Eine Typologie sozialpolitischer Konzeptionen

Nach meiner Auffassung lassen sich vier Typen sozialpolitischer Konzeptionen unterscheiden3. Dabei ist mir bewußt, daß Typologien ihre eigenen methodischen Probleme haben. Erstens kommen die theoretisch konstruierten Typen in der Realität niemals in reiner Form und überschneidungsfrei vor; die Typologie kann daher nur den Sinn haben, auf Inkonsistenzen in der Diskussion aufmerksam zu machen und methodische Klarheit einzufordern. Dafür ist es zweckmäßig, mit einfachen, aber klaren Argumentationsstrukturen zu operieren. Weil eine Typologie — zweitens — immer von dem, der sie verwendet, konstruiert wird, ist es kaum möglich, den Teilnehmern der Diskussion in jeder Hinsicht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es kann vielmehr nur darum gehen, in gewisser Unabhängigkeit von einzelnen Autoren und ihren differenzierten Meinungsäußerungen grundlegende Argumentationsmuster, die in empirischen Diskussionen oft in unterschiedlichen Mischungen vorkommen, idealtypisch herauszupräparieren. Ich hege die Hoffnung, daß ein solcher Beitrag der Transparenz und methodischen Klarheit dienlich sein kann. Die Sozialpolitik ist in ihrer modernen Form in Deutschland im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstanden. Sie war eine Reaktion auf die „soziale Frage", die aus der schnellen Einführung von Markt und Wettbewerb im damaligen Deutschland resultierte. Historisch und systematisch konstruiere ich daher die vier Typen von der leitenden Frage her, wie das Verhältnis von Sozialpolitik und Markt gesehen wird. Aus dieser Perspektive unterscheide ich vier Typen von Konzeptionen der Sozialpolitik. 1. Die liberale bzw. libertäre Position vertritt paradigmatisch die Auffassung, daß eine gute, auf das Funktionieren der Märkte gerichtete Wirts chaftspolitik nicht nur die beste, sondern die einzig legitime, weil auf Freiheit gegründete, Form von Sozialpolitik ist. Ich bezeichne diesen Typ als: Sozialpolitik durch den Markt. 2. Die (epigonalen) Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft und der „alten Sozialdemokratie"4 weisen der Sozialpolitik die Aufgabe zu, die Wunden zu heilen oder zu lindern, die Markt und Wettbewerb schlagen: Sozialpolitik gegen den Markt. 3. In der Konstitutionenökonomik von James M. Buchanan5 ist Sozialpolitik Teil des productive State, sie wird aufgefaßt als postkonstitutionelle Gegenleistung für die konstitutionelle Vorleistung der „Armen": Sozialpolitik vor dem Markt.

3 4 5

Erstmals in wenig entwickelter Form Homann (2002 a). Diesen Terminus übernehme ich von Giddens (1998/1999), S. 19 ff. Vgl. Buchanan (1975/1984), S. 50-105 (Kapitel 3 und 4).

Reformstau in der Sozialpolitik

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4. Eine moderne Konzeption, die etwa von H.-W. Sinn6 und A. Giddens vertreten wird, sieht die Aufgabe der Sozialpolitik darin, den Markt richtig in Schwung zu bringen: Sozialpolitik fiir den Markt. Um die Unterschiede zwischen diesen vier Typen deutlich herausarbeiten zu können, erscheint es zweckmäßig, ihre jeweilige Positionierung bezüglich identischer Problemkreise abzufragen. Ich arbeite hier mit vier zentralen Problemen. 1. Es ist die Frage, auf welche Gruppen die Sozialpolitik fokussiert wird. Ich spreche von der Zielgmppe. 2. Es ist die Frage, als was Sozialpolitik in ihrem systematischen Kern aufgefaßt wird: Verständnis von Sozialpolitik. 3. Es ist die Frage, welche Diagnose und welche Therapie für den gegenwärtigen Sozialstaat vorgeschlagen werden: Diagnose/Therapie.

4. Schließlich ist die Frage, von welchem allgemeinen Politikverständnis die Diskussion geleitet ist: Politikverständnis7. Indem die vier Typen nach vier zentralen Fragestellungen unterschieden werden, erhält man in schematischer Darstellung eine Matrix mit 16 Feldern, die am Ende von Abschnitt 6 wiedergegeben wird und die ich im Folgenden in der gebotenen Kürze — und unter Inkaufnahme von Verkürzungen — erläutere.

2.

Sozialpolitik durch den Markt

Die Zielgruppe der Argumentation in dieser Konzeption sind die „Reichen" und die „ A r m e n " : Erstere sollen durch Politik in die Lage versetzt werden, ihre Freiheit und Leistungsfähigkeit zur vollen Entfaltung zu bringen, weil dies über Markt und Wettbewerb — nicht über Transfers — auch den „Armen" zugute kommt. Die „Armen" sollen unter Druck gesetzt werden, alle Kräfte zur Selbsthilfe zu mobilisieren. Transfers werden im Grunde abgelehnt; die Empfanger von Transfers gelten als „Täter", die die Wirtschaft in Ineffizienzen bringen. Das Verständnis von Sozialpolitik ist dadurch gekennzeichnet, daß sie als freiheitsund effizienzeinschränkender Konsum aufgrund von Umverteilung eingestuft wird, was zur Schwächung der Wachstumspotentiale und der Anreize führt. Die Diagnose der gegenwärtigen Probleme lautet entsprechend: Die Ausgaben für die Sozialpolitik sind zu hoch. Folglich läuft die Therapie paradigmatisch auf Ab-

« Vgl. Sinn (1986); Sinn u. a. (2002). Zum Politikverständnis vgl. im Einzelnen Homann (1999), wiederabdruckt in Homann (2002 b).

7

110

Karl Homann

bau, Kostenentlasttang einerseits und Stärkung der Wachstumskräfte andererseits hinaus. Das Politikverständnis dieser Konzeption, wird am besten durch den Titel des Buches von Okun 1975 ausgedrückt: „Equality and Efficiency. The Big Tradeoff' 8 . Gedacht wird also im Schema von zwei Polen - Werten, Gruppen etc. - , und Politik wird als Verschiebung auf der Trade-Off-Kurve gedacht, wobei die Liberalen eine Verschiebung weg von „sozialer Gerechtigkeit" hin zu mehr Freiheit und Effizienz fordern.

3.

Sozialpolitik gegen den Markt

Die Zielgruppe in dieser Argumentation sind praktisch ausschließlich die „Armen", denen aus übergeordneten ethischen Gründen ein menschenwürdiges Leben zu garantieren ist: Sie sind „Opfer", z. B. der Verhältnisse, der Unternehmer, der Arbeitsplatzbesitzer, der Globalisierung usw. Die „Reichen" kommen nur als Quelle der Umverteilungsmasse vor. Dem grundlegenden Verständnis nach ist Sozialpolitik auch hier Konsum; sie zielt auf Umverteilung, wie bei den Liberalen, nur daß hier die Umverteilung normativ gefordert wird, während die Liberalen sie ablehnen. Die Diagnose der gegenwärtigen Diskussion — wenn hier überhaupt von einer Krise gesprochen wird — lautet auf exogene Schocks (Arbeitslosigkeit, Demographie, Globalisierung). Als Therapie fallt Vertretern dieser Konzeption oft nicht mehr ein als eine Verbreiterung der Finanzierungsbasis (Beamte, Selbständige). Das Politikverständnis, in dem hier durchweg argumentiert wird, ist — wiederum wie bei den Liberalen — vom Trade-Off-Schema beherrscht, nur daß diese Konzeption geltend macht, Politik dürfe auch unter Globalisierungsbedingungen den zweiten Pol, den zweiten „Wert", nicht vergessen, die „soziale Gerechtigkeit", die Familien mit Kindern (H. Lampert, F. X. Kaufmann, P. Kirchhof). Wo das faire, menschenwürdige „Gleichgewicht" einer ausgewogenen Politik genau zu justieren ist, wird anhand einer Feststellung eines „Bedarfs" durch Ethik festgelegt.

4.

Zwischenbetrachtung

Als Zwischenergebnis läßt sich festhalten, daß die Typen eins und zwei, politisch gesprochen: Liberale und Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft bzw. der „alten" Sozialdemokratie, hinsichtlich des Politikverständnisses dasselbe Trade-OffSchema zugrunde legen und sich nur dadurch unterscheiden, daß die einen für mehr Freiheit und Effizienz, die anderen für eine gleichberechtigte Beachtung der sozialen Gerechtigkeit plädieren. Das Problem wird als Werteproblem aufs Vgl. Okun (1975).

Reformstau in der Sozialpolitik

111

gemacht, das eine Entscheidung auf normativer Grundlage verlangt: soziale Gerechtigkeit versus Freiheit, equality and efficiency. Der zentrale Kritikpunkt an diesen Konzeptionen soll bereits hier formuliert werden: Im Trade-Off-Schema kann man nicht denken, daß es Aufgabe von Politik ist, beide Pole, Werte, Gruppen etc. besser zu stellen, also Paretosuperiore Verbesserungen (auf der Regelebene) anzustreben oder eine Verschiebung der Trade-Off-Kurve vorzunehmen. Das Trade-Off-Schema produziert - rein konzeptionell — permanent „Verlierer", weil ein Mehr der einen Seite ein Weniger der anderen Seite impliziert. Dies ist dem Denkschema geschuldet, nicht unmittelbar der Realität. Die Frage, warum die „Reichen", die „Nettozahler", bei diesem Arrangement mitspielen sollten, bleibt, besonders unter Bedingungen der Globalisierung mit zahllosen Ausweichmöglichkeiten, unbeantwortet und unbeantwortbar: Der Nationalstaat kann die Durchsetzung sozialpolitischer Maßnahmen nicht mehr garantieren, auch die EU kann das nicht. Die beiden folgenden Konzeptionen versuchen, dieses — durch Verwendung unzweckmäßiger Kategorien selbst geschaffene - Problem zu vermeiden.

5.

Sozialpolitik vor dem Markt

Die Zielguppe in der liberalen Begründving von Sozialpolitik durch J. M. Buchanan sind die „Reichen" und die „Armen": Die - späteren - „Reichen" können ihr Spiel Marktwirtschaft nur spielen, wenn sie den — später — „Armen" deren Zustimmung zum fiktiven Gesellschaftsvertrag durch sozialpolitische Garantien „abgekauft" haben. Dem grundlegenden Verständnis nach ist Sozialpolitik nicht mehr als Umverteilung, sondern als Tausch mit Vorteilen fiir beide/alle Tauschpartner zu begreifen: Nur für eine Gegenleistung sind diejenigen, die in einer Marktwirtschaft — dauerhaft oder vorübergehend — wenig leistungsfähig sind, bereit, die anderen dieses Spiel spielen zu lassen: Deswegen haben auch die „Nettozahler" Vorteile aus diesem Arrangement. Sozialpolitik ist systematisch eine Art Duldungsprämie und — zumindest in diesem durchaus noch eingeschränkten Sinne — eine Investition, ein Prvduktivitätsfaktor. Der 11. September 2001 hat manifest gemacht, daß dieser Aspekt auch in einer modernen globalen Sozialpolitik-Konzeption zu beachten ist. Die Diagnose lautet, daß der Staat aufgrund der Wiederwahlinteressen der Politiker sich immer mehr durch einfache Gesetzgebung über konstitutionelle Beschränkungen hinweggesetzt hat. Als Therapie zielt Buchanan auf zwei Punkte: Um die exzessive Bedienung von Interessengruppen durch die Politiker (rent seeking) zu unterbinden, sollten dem politischen Prozeß verfassungsmäßige Beschränkungen auferlegt werden. Und die konkreten sozialpolitischen Maßnahmen sollten ökonomisch, d. h. auf ihre Anreizwirkungen hin, untersucht werden — eine Betrachtungsweise, die von den Normativisten insbesondere unter den Theoretikern der Sozialen Marktwirtschaft und der „alten" Sozialdemokratie mehr oder weniger kategorisch abgelehnt werden: Hinter Ethik und Gerechtig-

112

Karl Homann

keit müssen nach deren Auffassung ökonomische Wirkungsanalysen zurückstehen, moralische Forderungen gelten „unbedingt". Buchanans Politikverständnis ist nicht mehr durch das Trade-Off-Schema charakterisiert. Vielmehr konzipiert er Sozialpolitik im Schema der „mutual gains from trade", illustriert durch das Gefangendilemma der Spieltheorie. Es geht um Kooperationsgewinne für beide, für „Reiche" und „Arme", für Nettozahler und Transferempfanger — sonst macht jeweils eine Gruppe nicht mit, zum Schaden auch der vermeintlich „Begünstigten"9. Die Konzeption Buchanans von 1975 ist aus heutiger Sicht noch defensiv. Seine m. E. bedeutendste Leistung besteht im Wechsel des Paradigmas, des Denkschemas: vom Trade-Off zu Kooperationsgewinnen für alle (Paretosuperiorität der Regeln, des institutionellen Arrangements), von Umverteilung zu Tausch, von Sozialpolitik als Konsum zu Sozialpolitik als Investition.

6.

Sozialpolitik für den Markt

Diese Konzeption kann man als Verallgemeinerung der Grundideen von J. M. Buchanan betrachten. Insofern sind die Unterschiede zwischen Typ drei und Typ vier nicht so groß wie zwischen den anderen Typen. Als Zielgruppe gelten auch in dieser Konzeption „Arme" und „Reiche", versicherungstechnisch: Schadensfälle und Nichtschadensfälfc. Beide müssen gewinnen. Wenn eine Seite keine Vorteile sieht, wird sie nicht mitspielen, zum Nachteil auch der anderen Seite, der vermeintlich Begünstigten. Um so wichtiger ist es, das Denkschema so umzugestalten, daß nicht schon aufgrund des Schemas dauernd „Verlierer" produziert werden. Kurz: Die Kategorie „Umverteilung", an die wir uns gewöhnt haben und die schon Brennan und Buchanan als unangemessen zurückgewiesen hatten10, muß systematisch vermieden werden. Das Verständnis von Sozialpolitik ist nach dieser Konzeption durch die drei folgenden Begriffe zu kennzeichnen: Duldungsprämie, Investition und Versicherung (Risiko als Produktivitätsfaktor). Eine klug geschnittene Sozialpolitik soll die Menschen bereit machen, risikoreicher in Sach- und Humankapital zu investieren, als sie dies ohne soziale Absicherung tun könnten. In den angelsächsischen Ländern ist die Formel vom „aktivierenden" Sozialstaat gefunden worden. Das bedeutet, daß der Fokus in der volkswirtschaftlichen Betrachtung weniger auf die Schadensfälle zu richten ist als auf die Nichtschadensfalle und ihre durch soziale Sicherung induzierten produktiven Verhaltensänderungen. Daß bei sozialpolitischen Maßnahmen auch Fehlanreize entstehen können, wird durch diese paradigmatische Aussage nicht geleugnet; vielmehr wird die explizite Thematisierung Vgl. dazu den kleinen Aufsatz Buchanan (1995): Der „Sklavenhalter" bleibt hinter seinem eigenen Optimum zurück, wenn er dem „Sklaven" keine Anreize zu intelligenter und motivierter Arbeit gibt, ihm also keine Vorteile in Aussicht stellt. 1" Vgl. Brennan/Buchanan (1985/1993), S. 149-176 (Kapitel 8), bes. S. 175. 9

Reformstau in der Sozialpolitik

113

der Anreizwirkungen einzelner sozialpolitischer Maßnahmen zur Bedingung ihrer Legitimation gemacht. Eine allein ethische Begründung reicht nicht aus. Die Diagnose dieser Konzeption lautet: Der Wohlfahrtsstaat gegenwärtiger Prägung enthält viel zu viele Fehlanreize und wird dadurch ineffizient, was jetzt heißt: Er schadet den „Reichen" und den „Armen". Folglich lautet die Therapie. Reformvorschläge sind konsequent aus der Perspektive zu entwickeln, wie die Anreize der Einzelnen erhöht werden können, sich als aktive Spieler (wieder) in die Interaktionszusammenhänge der modernen Wirtschaft einzubringen. Damit wird auch die leidige, verquere Diskussion um die „Kosten" der Sozialpolitik, die letztlich dem Konsum-Paradigma der Sozialpolitik zugehört, überwunden: Bei Investitionen geht es nie um Kosten allein, sondern immer um die „Kosten" in Relation zu den erwarteten Gewinnen, also um die Rendite, auch wenn die in Einzelfällen und besonders in unserem Zusammenhang schwer zu quantifizieren ist. Das leitende Politikverständnis ist hier das Schema der mutual gains firom trade, das Schema der Paretosuperiorität von Regeln, das Schema der Dilemmastrukturen (Gefangenendilemma)11. Nur in diesem Schema wird kategorial die Möglichkeit vorgesehen, durch Reformen eine Besserstellung beider/aller zu denken. Das zwingt methodisch zur systematischen Suche in Forschung und Politik nach Vorteilen für alle, und es erleichtert die Implementierung an der alle Normativisten scheitern. Das Schema der Kooperationsgewinne verpflichtet methodisch dazu, den vermeintlichen „Verlierern" ihre Vorteile zu zeigen und den im Status quo vermeintlich Begünstigten, die ihren „Besitzstand" wahren wollen, ihre (drohenden) „Verluste" zu verdeutlichen, z. B. ihnen klar zu machen, daß unter den gegenwärtigen Bedingungen im Gesundheitswesen die einkommensabhängige Rationierung längst allgemeine Praxis ist. Zwei Hinweise dazu: Ganz ohne vernünftige Rendite war die Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg wohl nicht, denn trotz der jetzt bestehenden Schwierigkeiten ist der von liberalen Ökonomen seit Jahrzehnten immer wieder vorausgesagte Bankrott der Wirtschaft in Deutschland bisher nicht eingetreten. Und mikroökonomisch anhand eines Beispiels argumentiert: In die Auto-Haftpflichtversicherung habe ich seit fast 30 Jahren ein kleines Vermögen eingezahlt und nie auch nur eine D-Mark oder einen Euro zurückbekommen. Entgegen dem Anschein bin ich auch als „Nettozahler" zugleich „Gewinner": Ich konnte all die Jahre schneller fahren, als ich das ohne Versicherung hätte riskieren können. Es handelt sich bei diesem Typ um eine ökonomische Konzeption von Sozialpolitik. Dennoch ist die Ethik, die Normativität, aus der das System der sozialen Sicherung in Deutschland historisch entwickelt worden ist, nicht eliminiert: Wir brauchen in diesem — letztlich konstitutionenökonomischen — Konzept die Zu11

Allgemein und methodologisch zum Schema Dilemmastrukturen vgl. Homann/Suchanek (2000), S. 35 ff. und S. 404 ff.

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Karl Homann

Stimmung aller, so daß die Interessen aller Berücksichtigung finden. Die so verstandene, so aufgemachte Ökonomik steht nicht in Opposition zur Ethik, sie ist vielmehr zu begreifen als die Fortsetzung der Ethik mit anderen, mit besseren Mitteln12. Schematisch lassen sich die Ausführungen in folgender Matrix zusammenfassen:

\

Differenzierungs\ kriterien

Zielgruppe

Verständnis von Sozialpolitik

Diagnose /Therapie

Politikverständnis

„Reiche" und „Arnie"

Konsum mittels Umverteilung

Kosten zu hoch/Abbau

Trade-off

Sozialpolitik gegen den Markt (soziale Marktwirtschaft, ältere Sozialdemokratie)

„Arme"

Konsum mittels — ethisch legitimierter Umverteilung

Exogene Entwicklungen/Verbreiterung der Finanzierungsbasis

Trade-off

Sozialpolitik vor dem Markt 0-MBuchanan)

„Arme" und „Reiche"

Tausch in Form einer Duldungsprämie

Rent seeking society/konstitut. Beschränkungen und Anreizanalyse

Mutual gains from trade, Paretosuperiorität (von Regeln)

Duldungsprämie, Investition, Versicherung

Ineffizienzen aufgrund von Fehlanreizen/ Aktivierung der Bürger zum Mitspielen in der Marktwirtschaft

Mutual gains from trade, Paretosuperiorität (von Regeln)

KonzepX. tionen der Sozialpolitik Sozialpolitik durch den Markt (Liberale)

Sozialpolitik für den Markt (H.-W. Sinn, A. Giddens)

„Arme" und „Reiche"

Abbildung 1: Konzeptionen der Sozialpolitik

12

Vgl. dazu Homann (2001); wiederabdruckt in Homann (2002 b).

Reformstau in der Sozialpolitik

7.

115

Perspektiven der Sicherungssysteme unter Bedingungen der Globalisierung

Die Befürchtung, Deutschland könne seinen Sozialstaat infolge des Standortund Steuerwettbewerbs nicht aufrecht erhalten13, lebt letztlich von Paradigmen, die die Sozialpolitik als „Konsum" betrachten, den wir uns nicht länger leisten können. Demgegenüber braucht eine im Investitions- bzw. Versicherungsparadigma gedachte und entsprechend ausgestaltete soziale Sicherung — grundsätzlich - diese Befürchtung nicht zu hegen, weil den „Kosten" auch „Erträge" (bei den Nichtschadensfallen) gegenüberstehen, auch wenn es schwierig ist, diese zu quantifizieren. Natürlich erfordert die Globalisierung einen Umbau der Sozialsysteme; eine zweite Quelle für die Notwendigkeit eines Umbaus sind Fehlentwicklungen (Fehlanreize), die im politischen Prozeß — meist unter Verwendung des normativistischen Paradigmas — stattgefunden haben. Im Zentrum eines solchen Umbaus hätte die Wirkungs-, besonders die Anreizanalyse, von Maßnahmen zu stehen, die von den Normativisten nicht selten perhorresziert wird, weil sie einen unbedingten Vorrang der Ethik reklamieren. Selbst liberale US-amerikanische Ökonomen wie J. M. Buchanan und G. S. Becker14 gewinnen staatlich geforderten — nicht staatlich angebotenen — Versicherungsarrangements einen guten ökonomischen Sinn ab. Die Dynamik des sozialen Wandels im Globalisierungsprozeß mit der Folge veränderter Erwerbsbiographien verlangt u. U. sogar höhere Ausgaben als bisher. Dies sollte uns jedoch nicht schrecken: Wenn die Erträge stimmen, ist das Geld gut angelegt. Es ist auch damit zu rechnen, daß soziale Sicherungssysteme weniger etatistisch ausgestaltet werden: Dies entspricht dem Subsidiaritätsgedanken, der wiederum seine ökonomische Rechtfertigung in der höheren Anreizkompatibilität findet. Wenn durch eine entsprechende Reform alle besser gestellt werden können, gibt es keinen Grund mehr, den ganzen Komplex der „Daseinsvorsorge" staatlich zu organisieren (Renten, Schulen, Gesundheit etc.). Auf diese Weise wird mehr Wettbewerb unter den (Teil-)Systemen der sozialen Sicherung (in verschiedenen Ländern) entstehen — zum Wohl der Betroffenen. Der unabdingbare „Umbau" der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland bekommt Orientierung und Konsistenz nur durch eine Konzeption, die die Grundgedanken von Typ 4 (und 3) aufnimmt und weiterentwickelt. Demgegenüber erscheinen die undifferenzierte „Deregulierung" der Liberalen und die „soziale Gerechtigkeit" der Normativisten gleichermaßen als Ideologien ohne ökonomisches Fundament.

13 So in verschiedenen Publikationen auch H.-W. Sinn, dem ich hier nicht folge. '•» Vgl. etwa Becker, Murphy in Becker (1996), S. 197-216.

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Karl Homann

Dieses Paradigma der mutual gains from trade hat außerdem den Vorzug, alle Seiten zur „bereitwilligen Mitarbeit"15 bei einem solchen Arrangement bewegen zu können — weil es keine dauerhaften „Verlierer" gibt. Wo demgegenüber kategorial permanent „Verlierer" produziert werden, etwa durch die Rede von „Umverteilung", wird das konzeptionslose Herumdoktern auf Dauer gestellt — zum Schaden der „Reichen" und der,¿Armen".

Literatur Becker, G. S. (1996), Familie, Gesellschaft und Politik - die ökonomische Perspektive, übersetzt von M. Streissler, hrsg. von Ingo Pies, Tübingen. Brennan, G. / Buchanan J. M. (1985/1993), Die Begründung von Regeln. Konstitutionelle Politische Ökonomie, übersetzt von M. Vanberg, mit einer Einleitung hrsg. von Chr. Watrin, Tübingen. Buchanan, J. M. (1975/1984), Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan, dt. Tübingen. Buchanan, J. M. (1995), Individual Rights, Emergent Social States, and Behavioral Feasibility, in: Rationality and Society 7, S. 141 - 150. Giddens, A. (1998/1999), Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, übersetzt von B. Engels und M. Adrian, Frankfurt a. M. Homann, K. (1999), Zur Grundlegung einer modernen Gesellschafts- und Sozialpolitik: Das Problem der „sozialen Ordnung", in: Blum, U. u. a. (Hrsg.), Soziale Marktwirtschaft im nächsten Jahrtausend. 3. Dresdner Kolloquium an der Fakultät Wirtschaftswissenschaften der Technischen Universität Dresden, Stuttgart, S. 119 - 148 (Wiederabdruck in Homann 2002 b). Homann, K (2001), Ökonomik: Fortsetzung der Ethik mit anderen Mitteln, in: Siebeck, G. (Hrsg.), Artibus ingenuis. Beiträge zu Theologie, Philosophie, Jurisprudenz und Ökonomik, Tübingen, S. 85 — 110 (wiederabdruckt in Homann 2002b). Homann, K (2002a), Perspektiven für die soziale Sicherung, in: die Ersatzkasse, Heft 1, S. 23 - 26. Homann, K. (2002b), Vorteile und Anreize. Zur Grundlegung einer Ethik der Zukunft, hrsg. von Chr. Lütge, Tübingen. Homann, K / Suchanek, A. (2000), Ökonomik. Eine Einfuhrung, Tübingen. Külp, B. (1975,1976), Wohlfahrtsökonomik, 2 Bände, Tübingen. Okun, A. M. (1975), Equality and Efficiency: The Big Tradeoff, Washington D. C.

15

Rawls (1971/1979), S. 124.

Reformstau in der Sozialpolitik

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Pies, I. (2000), Ordnungspolitik in der Demokratie. Ein ökonomischer Ansatz diskursiver Politikberatung, Tübingen. Rawls, J. (1971/1979), Eine Theorie der Gerechtigkeit, übersetzt von Hermann Vetter, Frankfurt a. M. Sinn, H.-W. (1986), Risiko als Produktionsfaktor, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 201, S. 557 - 571. Sinn, H.-W., u. a. (2002), Aktivierende Sozialhilfe. Ein Weg zu mehr Beschäftigung und Wachstum, ifo-Schnelldienst, Sonderausgabe, 14. Mai 2002.

Krise des Sozialstaates und die Nichtbeachtung ordnungsökonomischer Schranken Egon Görgens

So sehr das Prinzip des Sozialstaates allgemein akzeptiert zu sein scheint, so umstritten ist die erforderliche Reichweite wirtschafte- und sozialpolitischen Handelns zu dessen Realisierung. Wenn in Deutschland der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt (Sozialquote) von 1960 bis 2000 um 50 Prozent (von 21,9 Prozent auf 31,8 Prozent) gestiegen ist, so deutet dies auf eine extensive Interpretation des Sozialstaatsprinzips hin. Angesichts des wachsenden Wohlstands in diesem Zeitraum hätte ein relativer Bedeutungsrückgang erwartet werden können. Schlagworte wie „Krise des Sozialstaates" signalisieren die möglichen Konsequenzen sozialpolitischer Ausuferungen, ohne daß hiermit freilich die tieferen Ursachen der Fehlsteuerungen geklärt wären. Bei allen gewichtigen Schwierigkeiten in den Einzelbereichen des Sozialsystems ist nicht zu übersehen, daß es sich bei der „Sozialstaatskrise" um eine konzeptionelle Krise in dem Sinne handelt, daß die verschiedenen Interpretationen des grundgesetzlichen Sozialstaatsgebots und dessen Beanspruchung in der Sozialpolitik zu wenig die ökonomischen Ordnungszusammenhänge berücksichtigen. Es war insbesondere Walter Eucken, der die allseitige Verbundenheit sozialer Erscheinungen betonte und deshalb ein „Denken in Ordnungen" anstatt punktueller Vorgehensweisen postulierte. Es gilt also das Spannungsfeld ein wenig auszuleuchten, das sich einerseits durch dem Sozialstaatsgebot entlehnte sozialpolitische Eingriffe und andererseits aus den Funktionsbedingungen der (marktwirtschaftlichen) Wirtschaftsordnung ergibt. 1.

U n bestimmtheit des Sozialstaatsgebots

Art. 20 GG normiert die Bundesrepublik Deutschland als „demokratischen und sozialen Rechtsstaat" und dehnt die Gültigkeit dieses sogenannten Sozialstaatsprinzips auf die Länderverfassungen aus (Art. 28 GG). Eine Präzisierung der Sozialstaatsklausel erfolgt im Grundgesetz nicht. Es gibt zwar eine umfangreiche Diskussion über mögliche Gestaltungsprinzipien für die Umsetzung des Sozialstaatsgebots (Versicherungs-, Versorgungs-, Fürsorgeprinzip) wie auch über sozialethische Grundlagen (Solidaritäts-, Subsidiaritätsprinzip), die einer willkürlichen Interpretation Einschränkungen auferlegen könnten, von einer eindeutigen Auslegung der Verfassungsnorm kann aber nicht die Rede sein. Das Inter-

120

Egon Görgens

pretationsspektrum reicht von einer Linderung extremer Notlagen bis zur umfassenden Steuerung des gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftslebens1. Die Beliebigkeit läßt sich eingrenzen, wenn man den Verfassungsgrundsatz der Rechtsstaatlichkeit berücksichtigt. Beschränkt man sich nicht - wie in der Weimarer Republik — auf die rechtspositivistische Position, die für Rechtsstaatlichkeit lediglich verlangt, daß Handlungen dem Gesetz entsprechen, sondern verbindet man damit die ethisch-politische Maxime des 18. Jahrhunderts, so geht es um die Setzung eines Rechtsrahmens, innerhalb dessen sich die Bürger frei, also ohne staatliche Bevormundungen bewegen können. Das Menschenbild des freien Bürgers, das im Zentrum rechtsstaatlicher Ideen steht, kommt in den Freiheitsrechten des Grundgesetzes zum Ausdruck. Nun läßt sich aber nicht kategorisch von der Existenz oder der Nicht-Existenz dieser Individualrechte sprechen. Vielmehr haben wir in der Realität vielfältige Beschneidungen von Verfügungsrechten, indem — demokratisch legitimiert und im Namen des Sozialstaatsprinzips — den Wirtschaftssubjekten Planungs- und Steuerungskompetenzen entzogen und bei staatlichen Stellen angesiedelt werden. Da rechtliche Grenzen der Vereinbarkeit von sozialstaatlichen Interventionen und individuellen Freiheitsrechten jenseits der Extremfälle nicht bekannt sind, gibt es praktisch keine Schranken für beliebige Umverteilungsstrategien2. Für den Parteienwettbewerb besteht somit ein großer Spielraum zur Auffindung und Beseitigung von „Sicherheits-" und „Gerechtigkeitslücken", wobei in jüngerer Zeit die Produktion des Gutes „Gerechtigkeit" für „benachteiligte" Bevölkerungsgruppen zunehmend an Bedeutung gewonnen hat.3 Diese Entwicklung wurde im Rahmen eines weiteren Verfassungsgrundsatzes, dem der Demokratie, möglich. Diesem Grundsatz entspricht es, daß auch sozialpolitische Regelungen dem demokratisch organisierten politischen Prozeß unterworfen sind. „Das Sozialstaatsprinzip stellt also dem Staat eine Aufgabe, sagt aber nichts darüber, wie diese Aufgabe im einzelnen zu verwirklichen ist — wäre es anders, dann würde das Prinzip mit dem Prinzip der Demokratie in Widerspruch geraten."4. Im politischen Willensbildungsprozeß ist zu erwarten, daß die nur mit einem zeitlich befristeten Mandat ausgestatteten Gesetzgebungsorgane zwecks Stimmenmaximierung ihrer Wählerklientel Besserstellungen bei sozialen

Diese Intetpretationsfiille läßt erkennen, „daß das sozialstaatliche Prinzip es mit sich bringt, funktionell ohne Grenzen zu sein. In ihm können mühelos neue Staatsaufgaben zur Sozialgestaltung verortet werden. ... Es kann für jede politische Initiative herhalten, es ist die Aufgabenbegründungsnorm und Gemeinwohlklausel par excellence" (Stern, 1984, S. 909). 2 Hierzu hat möglicherweise die vom Bundesverfassungsgericht behauptete und von Juristen weithin rezipierte „wirtschaftspolitische Neutralität" des Grundgesetzes nicht wenig beigetragen. Sieht man mit Rupp (1982), S. 143 f., die grundgesetzlich gebotenen Freiheitsrechte in der dem Ökonomen geläufigen Perspektive ihrer funktionalen Bedeutung und nicht nur — wie bei Juristen vorherrschend — als individuelle Abwehrrechte, erscheint die „wirtschaftspolitische Neutralität" nicht haltbar und dient eher als interventionistischer Freibrief. 3 Berthold (1991), S. 146. « BVerfGE 59, zitiert bei Thuy (1999), S. 107. 1

Krise des Sozialstaates

121

Leistungen anbieten. Zwar gestattet das demokratische Verfahren auch die Möglichkeit, auf bislang beschrittenen Wegen umzukehren. Spürbare Vorteile einerseits, weniger wahrnehmbare, diffundierende Belastungen andererseits haben den politischen Prozeß bislang jedoch sich auf einer Einbahnstraße bewegen lassen. Die Gefahr ist nicht zu leugnen, daß „die Demokratie den freiheitlichen Grundgehalt von Staat und Gesellschaft verzehrt"5 und für die sozialen Errungenschaften als Preis die „Krise des Sozialstaats" zu zahlen ist. 2.

Zunehmende Belastungen des Sozialsystems

Die wachsenden Belastungen des Sozialsystems und deren Folgen sind vielfaltig benannt und diskutiert worden und sollen hier nicht detailliert wiederholt werden. Aufmerksam gemacht werden soll jedoch auf zwei Dimensionen, und zwar auf die — im Vordergrund der Diskussion stehendenden — zunehmenden quantitativen Belastungen einerseits und die qualitativen andererseits. Mit der quantitativen Dimension sind Entwicklungen gemeint, die letztlich auf steigende finanzielle Belastungen hinauslaufen. Hierzu zählen Ausdehnung der Reichweite der Sozialpolitik, demographische Entwicklungen, Wechselwirkungen mit anderen Teilmärkten und problemverstärkende Verhaltenssteuerung. Hausgemacht ist die sozialpolitisch gewollte Expansion der sozialen Sicherung. Zu denken ist an die Einbeziehung immer weiterer Bevölkerungskreise in die Solidargemeinschaft sowie die Öffnung der Rentenversicherung für Landwirte, Handwerker und Selbstständige. Hinzukommen Erweiterungen von Anrechnungszeiten, also von Beitragszeiten ohne Beiträge. Sozialpolitisch gewollte Expansion findet sich auch in anderen Zweigen der Sozialversicherung wie Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung. Da die damit einhergehenden finanziellen Belastungen immer weniger von höheren Einkommen allein getragen werden können, werden sie zunehmend den begünstigten mittleren Einkommensschichten selbst aufgebürdet6. Külp (1975) hat diese transaktionskostenträchtige Entwicklung treffend als Umverteilung zugunsten der nicht ganz Armen und zu Lasten der nicht ganz Reichen charakterisiert. Eine Herausforderung für das Sozialsystem stellt auch die demographische Entwicklung der deutschen Bevölkerung dar. Bevölkerungsprognosen zufolge7 wird der Bevölkerungsanteil der 65-Jährigen und älteren Personen von etwa 14 % im Jahre 2000 auf über 20 Prozent im Jahre 2030 steigen. Dies bedeutet, daß die Relation von Erwerbstätigen zu Nicht-Erwerbstätigen drastisch sinken und der für die Sozialversicherung wichtige Altersquotient (65-Jährige und Ältere in Prozent der 15 bis 64-Jährigen) sich von rund 24 Prozent (2000) auf etwa 43 Prozent (2030) erhöhen wird. Bei diesen Relationen ist das hier angenomme-

5 Thuy (1999), S. 109. 6 Vgl. Rösner (1999), S. 61. 7 Vgl. Institut der deutschen Wirtschaft (2002), S. 7.

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Egon Görgens

ne Verrentungsalter noch viel höher als das tatsächliche. Gleichwohl ist augenfällig, was die prognostizierte Entwicklung für die Rentenhöhe bei gleichbleibenden Rentenversicherungsbeiträgen bzw. für die Rentenversicherungsbeiträge bei gleichbleibenden Rentenansprüchen bedeuten würde8. Zudem ist zu berücksichtigen, daß aufgrund der steigenden Lebenserwartung die Häufigkeit von (chronischen) Krankheiten und Pflegefallen sehr stark ansteigen und zu entsprechender Ausgabenentwicklung der betroffenen Sozialversicherungseinrichtungen fuhren wird. Ebenfalls nur vermerkt seien einige Wechselwirkungen des Sozialsektors mit dem Arbeitsmarkt. Die Probleme des Sozialsystems sind auch Ergebnis der langandauernden hohen Arbeitslosigkeit, belastet sie doch die Einnahmeseite gleichermaßen wie die Ausgabenseite. Bei einer konjunkturellen Arbeitslosigkeit und damit einem kurzfristigen Phänomen könnten die sozialstaatlichen Konsequenzen vernachlässigt werden. Die derzeitige Arbeitslosigkeit in Deutschland ist aber nur zu einem geringen Teil konjunkturell, sondern vornehmlich „strukturell" bedingt. Vielfältige Regulierungen auf den Güter- und Faktormärkten beeinträchtigen die erforderliche Anpassungsflexibilität auf diesen Märkten und lassen sich nicht durch geld- und fiskalpolitische Nachfragebelebung beheben. Die Inflexibilitäten auf den Arbeitsmärkten und die mangelnde Re-Integration von Arbeitslosen sind ihrerseits aber in nicht unwesentlichem Umfang Ergebnis sozialpolitischer Maßnahmen. Beispielhaft sei an die lange Bezugsdauer von Arbeitslosengeld erinnert, die die Suchintensität von Arbeitslosen mindert. Im Niedriglohnbereich kann der Bezug des „Mindesdohnes" in Form von Sozialhilfe die günstigere Einkommensalternative gegenüber regulärem Arbeitseinkommen sein. Die Dämpfung des Arbeitsangebots wird verstärkt, wenn ein die Sozialhilfe ergänzendes Arbeitseinkommen praktisch mit einem Grenzsteuersatz von 100 Prozent belegt wird. Da die Sozialversicherungsbeiträge sich in den sogenannten Lohnnebenkosten niederschlagen, beeinträchtigen sie die Arbeitsnachfrage. Der rapide Anstieg der Lohnnebenkosten treibt zudem einen Keil zwischen Produzenten- und Konsumentenreallohn, wodurch die Tarifauseinandersetzung verschärft wird9. Der Keil durch den Anstieg der Lohnnebenkosten geht tendenziell stärker zu Lasten der unteren Einkommensbezieher. Dies bedeutet aber, daß die weniger qualifizierten und vergleichsweise niedrig endohnten Arbeitnehmer (auch) sozialpolitisch bedingt ein höheres Arbeitsplatzrisiko tragen. Die Adressaten wohlfahrtsstaatlicher Leistungen müssen insoweit selbst die Zeche zahlen.

8

9

Die „Riester-Rente", die immerhin ein Lichtblick in Richtung gebotener Umsteuerung vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren ist, kämpft mit derartigen Akzeptanzproblemen, daß bereits ihre Meritorisierung gefordert wird. Im Zeitraum der Jahre 1995 bis 2001 erhöhten sich die realen Bruttolohnkosten (einschließlich Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung) um insgesamt 12,1 Prozent. Die realen Nettoverdienste der Arbeitnehmer stiegen im gleichen Zeitraum lediglich um 4,6 Prozent; siehe Franz (2002), S. 5.

Krise des Sozialstaates

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Außer den bereits erwähnten Verhaltensreaktionen auf die Ausgestaltung einzelner sozialpolitischer Regelungen wie Verringerung der Suchintensität und des Arbeitsangebots, die wiederum belastend auf das Sozialsystem zurückwirken, sei noch auf einige Selbstverstärkungseffekte hingewiesen, die in einen circulus vitiosus einmünden. Da die individuelle Inanspruchnahme sozialer Leistungen, Allmende-Gütern gleich, nicht dem marktlichen Preisausschluß unterliegt, wird der „kostenlosen" Übernutzung Vorschub geleistet. Zugleich „legitimieren" hohe Beiträge subjektiv die maximale Inanspruchnahme — was durch nachfrageerhöhende Verhaltensweisen von Leistungsanbietern (Ärzte, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen) noch verstärkt werden kann. Es wird eine BeitragsAnspruchs-Spirale eröffnet.10 Die vermehrte Inanspruchnahme sozialer Leistungen fuhrt zu steigenden Beitragssätzen, die wiederum ein „Recht auf höhere Ansprüche" begründen. Die gegenseitige Ausbeutung zieht noch weitere Kreise, da über steigende Lohnnebenkosten und Arbeitslosigkeit ein weiterer Teufelskreis begründet wird: steigende Beiträge fuhren zu höheren Lohnnebenkosten, diese wiederum zu vermehrter Arbeitslosigkeit und wegen der Einnahmeaus falle und Ausgabenmehrungen zu einem Anziehen der Beitragssätze.11 Die zuletzt angeschnittenen Moral-Hazard-Phänomene betreffen mit ihren finanziellen Konsequenzen die quantitative Dimension, sie stellen aber zugleich ein ethisches Problem dar, sind also Teil der qualitativen Dimension. Eucken12 befürchtete, daß mit zunehmender Uberantwortung der Lösung der „sozialen Frage" an den Staat eine Umwandlung des Menschen bewirkt werde. Je mehr der Personenkreis über die Industriearbeiter hinaus auch auf Bauern, Handwerker, Händler und freie Berufe ausgedehnt werde, desto mehr nehme die zentralverwaltungswirtschafitliche Lenkung des Wirtschaftsprozesses zu und bringe einen Menschentypus hervor, der vermaßt und vom Staat abhängig nicht mehr Herr seiner selbst ist. Man mag diese Formulierung für überspitzt halten13, zu verkennen ist jedoch nicht, daß mit der Ausdehnung der Leistungsarten und des Personenkreises Kontrollen und Bevormundungen sowie Offenbarungen gegenüber staatlichen und halbstaatlichen Instanzen wachsen. Zudem reicht die staatliche Einmischung weiter, indem sie die Einkommenserzielungschancen der Bürger schlechthin verändert. Die der liberalen Tradition folgende Trennung von Staat und Gesellschaft wird zunehmend durch gegenseitige Durchdringung abgelöst. „Es tritt sowohl eine „Verstaatlichung der Gesellschaft" als auch eine „Vergesellschaftung des Staates" ein".14 Einerseits büßen die Bürger Möglichkeiten der Selbstbestimmung wie auch der Selbstverantwortung ein und werden abhängig

10 Vgl. Oberender (1994), S. 1. " Vgl. Görgens (1999), S. 168 f. 12 Vgl. Eucken (1948), S. 116. 13 Interessanterweise findet sich die inhaltlich gleiche Kritik am Wohlfahrtsstaat in der Päpstlichen Enzyklika „Centesimus annus" von 1991, also in der Enzyklika, mit der nach Lehmann (2002), S. 14 f., die Aussöhnung zwischen Katholischer Soziallehre und Sozialer Marktwirtschaft stattgefunden hat. " Streit (1995), S. 366.

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von fürsorglicher staatlicher Betreuung. Andererseits geraten auch die um ihre (Wieder-)Wahl kämpfenden politisch Verantwortlichen unter den Druck der Verbandsvertreter, die ihre Gruppen mobilisieren können. Eine verstärkende Rolle in diesem Wechselspiel fallt der Exekutive zu, der die Kontrolle, Betreuung, Fürsorge, Bevormundung übertragen wird. Von der Bürokratie ist nicht zu erwarten, daß sie Deregulierung und staatlichen Rückzug unterstützt, wäre dies doch in aller Regel mit rückläufigen Budgets und damit Minderungen von Macht, Prestige und Karrieremöglichkeiten verbunden. So entsteht „die Dreiheit von Verteilereliten, Versorgungsbürokratien und Sozialklientel"15. Ist angesichts der beobachtbaren Expansion des Sozialstaats und der Spannungen, die zwischen den Prinzipien des Sozialstaats und des freiheitlichen Rechtsstaats bestehen, nicht einfach der Schluß einer unüberbrückbaren Antinomie zu ziehen? Verfassungsrechtler wie E. Forsthoff 16 sehen in der Tat einen unvereinbaren Gegensatz zwischen den im Grundgesetz auf Freiheit angelegten Rechtsgarantien und dem auf Teilhabe ausgerichteten Sozialstaat. Da sich in demokratischen Prozessen letzterer (in Deutschland) als zugkräftiger herausgestellt hat, läge es nahe zu resignieren und abzuwarten, bis der Sozialstaat sich selbst ruiniert hat. Diese Entwicklung ist zwar nicht auszuschließen, aber nicht wegen einer unabänderlichen Zielantinomie. Im Lichte der umfangreichen ordnungstheoretischen Arbeiten liberaler Ökonomen, die analysieren, wie Freiheit und Soziales sich vereinen lassen, ist die Antinomie-These vielmehr höchst problematisch. Hier soll nur das ordnungsökonomische Umfeld des Ordoliberalismus und sodann die marktwirtschaftliche Konzeption etwas näher beleuchtet werden, die wohl unstrittig die stärkste Verzahnung von Marktwirtschaft und Sozialpolitik beinhaltet: die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft.

3.

Sozialpolitik und marktwirtschaftliche Ordnung

Machtkonzentration und offenkundige soziale Probleme während der Zeit des Laissez-faire-Liberalismus auf der einen Seite und auf der anderen Seite weitgehende Abschaffung des Preismechanismus und umfangreiche Regulierungen während der nationalsozialistischen Planwirtschaft, die das Interesse der Bevölkerung an legalen ökonomischen Aktivitäten verkümmern ließen, waren ausschlaggebende Erfahrungen für den neuen Weg des Ordo-Liberalismus der Freiburger Schule. Die zentrale Frage, die sich Eucken, Böhm und andere OrdoLiberale stellen, ist die nach einer menschenwürdigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung 17 . Diese sahen sie weder in wirtschaftspolitischer (einschließlich ordnungspolitischer) Abstinenz des Staates, noch in allumfassender staatlicher Lenkung. Im Zentrum ihrer Ordnungsvorstellungen steht vielmehr die Schaffung und Sicherung der Wettbewerbsordnung. Der Staat hat in einer freiheitli-

•5 Watrin (1977), S. 20. i« Vgl. Forsthoff (1961), S. 8. " Vgl. Blümle/Goldschmidt (2000), S. 32.

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chen politischen Ordnung den Wettbewerb zu sichern und das Entstehen wirtschaftlicher Macht zu verhindern, eben um die Freiheit zu erhalten. Für die Realisierung der Wettbewerbsordnung formulierte Eucken18 konstituierende und regulierende Prinzipien. Im Vordergrund stehen die konstituierenden Prinzipien, die neben verschiedenen Dimensionen der Freiheit eine stabile Währung und Konstanz in der Wirtschaftspolitik einfordern. Mit der Sicherung der Wettbewerbsordnung verknüpft: Eucken die Erwartung, daß hiermit zugleich die soziale Frage bewältigt werden könne. Bei Realisierung der von ihm favorisierten „vollkommenen Konkurrenz" existieren keine Machtpositionen, und der Wirtschaftsprozeß auf den Güter- wie Faktormärkten wird auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet. Der wettbewerbsgesteuerte Preismechanismus sorgt von selbst für den sozialen Ausgleich. Soziale Ungerechtigkeiten sind darauf zurückzuführen, daß der Staat wirtschaftlichen Ungleichbehandlungen und Vermachtungstendenzen nicht durch ein Regelwerk zur Schaffung und Erhaltung der Wettbewerbsordnung Einhalt geboten hat. Einen sozialpolitischen Korrekturbedarf sah Eucken bei der Einkommensverteilung, da auch bei vollkommenem Wettbewerb nicht ausgeschlossen werden kann, daß einzelne Gesellschaftsmitglieder ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen nicht in der Lage sind. Ein progressiver Steuertarif zur Änderung der Primärverteilung und Finanzierung der Sekundärverteilung kann hier Abhilfe schaffen. Läßt man die Problematik von Euckens Wettbewerbsmodell beiseite und unterlegt ihm eine dynamische Perspektive, kann als Quintessenz festgehalten werden, daß die wettbewerbliche Marktwirtschaft wegen ihrer besonderen Leistungsfähigkeit und höchstmöglichen Berücksichtigung individueller Präferenzen zugleich auch sozial ist. Sicherung der Wettbewerbsordnung ist auch Sozialpolitik19, sofern man die Aufgabe der Sozialpolitik nicht auf die Schaffung materialer Verteilungsgerechtigkeit verengt. Die Funktionalität der freiheitlichen Wettbewerbswirtschaft für das Soziale dürfte Allgemeingut liberaler Ökonomen sein. Angesichts unseres defizitären Lenkungswissens und dies nicht zuletzt in bezug auf soziale Ziele, gilt auch für von Hayek die Priorität der Ordnungspolitik. Freilich faßt von Hayek die Marktwirtschaft als spontane und nicht als bewußt gestaltete bzw. zu gestaltende Ordnung auf. Die besondere Leistungsfähigkeit ergibt sich aus der Nutzung des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren. Die spontane Ordnung wird jedoch gestört, wenn unter (dem Deckmantel) der Maxime der Verteilungsgerechtigkeit vom Staat Korrekturen der Einkommensverteilung vorgenommen werden. Nicht bestimmte (Verteilungs-) Resultate, sondern allein allgemeine und abstrakte Verhaltensregeln können nach seiner Meinung als „gerecht" oder „ungerecht" befunden werden. Gleichwohl gilt auch für von Hayek — „mit einem bedauerlich hohen Maß von ad hoc Begründungen"20 —, daß " Vgl. Eucken (1990). 19 „Richtigverstandene Sozialpolitik ist universeller Art. Sie ist identisch mit der Politik zur Ordnung der Wirtschaft und der Wirtschaftsverfassungspolitik"; Eucken (1990), S. 313. » Streit/Wohlgemuth (2000), S. 488.

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ein Minimum für die sicherzustellen ist, die dies am Markt nicht zu erzielen vermögen. 4.

Sozialpolitischer Anspruch der Sozialen Marktwirtschaft

Sehr weitgehende Ubereinstimmung mit den erwähnten Grundüberzeugungen liberaler Ökonomen findet sich auch bei den Vertretern der Sozialen Marktwirtschaft. Diese ordnungspolitische Konzeption, die insbesondere mit den Namen Müller-Armack und Erhard, aber auch mit Röpke und Rüstow zu verbinden ist, geht auch davon aus, daß eine die wettbewerbliche Marktwirtschaft sichernde Ordnungspolitik zugleich Sozialpolitik ist. Neben der Ordnungspolitik kommt als weiteres wichtiges wirtschaftspolitisches Aktionsfeld, das zugleich als Sozialpolitik angesehen wird, die Stabilisierungspolitik hinzu.21 Mit der Eindämmung von Konjunkturausschlägen durch vorzugsweise geldpolitische Maßnahmen verbinden sie die Erwartung einer auch sozialpolitisch erwünschten Dämpfung von Preisniveau- und Beschäftigungsschwankungen. Der sozialpolitische Handlungsbedarf wird jedoch weiter gesteckt, was freilich nicht bedeutet, daß die bei allen Bundesregierungen anzutreffende Inanspruchnahme der Sozialen Marktwirtschaft für die eigene Wirtschaftspolitik im Lichte der ursprünglichen Konzeption begründet wäre22. Das Anliegen der Sozialen Marktwirtschaft ist nach Müller-Armack „auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden".23 Dieser Leitgedanke, der die Komplementarität von wettbewerblicher Marktwirtschaft und sozialer Sicherheit betont, war zugleich als Stilgedanke und als irenische Formel gedacht.24 Mit der Einbeziehung ethisch-moralischer Kategorien in die Marktwirtschaft sollte sie vor der Fehlinterpretation eines platten Ökonomismus bewahrt werden. Bei einer Konzeption für die Praxis, die gegenüber zukünftigen Entwicklungen und Erfordernissen wandlungsfähig bleiben will und deren Architekten und maßgebliche Vertreter in die praktische Politik mit ihren Möglichkeiten, aber auch Zwängen eingebunden waren, ist mit Fehlinterpretationen und interessengeleiteter Indienstnahme zu rechnen. Ebensowenig ist zu übersehen, daß das

2' Vgl. Erhard (1962), S. 8; Müller-Armack (1976), S. 162 ff.; Röpke (1979), S. 337 ff. 22 Wenn auch als Verhaltensbeschreibung der politischen Akteure zutreffend, so doch im Sinne einer zulässigen Interpretation reichlich fragwürdig, ist hier die Bemerkung von Rürup (1996), S. 15: „Sowohl die liberal-konservative Ordnungspolitik der CDU (von 1948 bis 1965) als auch die sozialdemokratisch-keynesianische Prozeßpolitik der Globalsteuerung (1965-1980), die angebotstheoretisch inspirierte Politik der Jahre 1982-1990 und neuerdings auch die Vorstellungen einer „sozialökologischen Marktwirtschaft" lassen sich unter dem Etikett der Sozialen Marktwirtschaft anbieten". 23 Müller-Armack (1956), S. 390. * Vgl. Müller-Armack (1974), S. 99, S. 120, S. 151.

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Ziel „sozialer Fortschritt" Interpretationsspielräume eröffnet. Dies bedeutet aber nicht, eine ins Beliebige gehende Expansion der Sozialpolitik als mit der Konzeption kompatibel erklären zu können. Eine wichtige Begrenzung ergibt sich schon daraus, daß soziale Fortschritte durch die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft erreicht werden sollen. Sozialpolitisch motivierte Eingriffe in das Marktgeschehen kommen daher nur als unumgängliche Ausnahme in Frage. Geboten hingegen erscheinen nachträgliche Korrekturen durch Einkommensumverteilung zugunsten der Personen, die nicht am Marktgeschehen teilnehmen können und im Sinne des Subsidiaritätsprinzips hilfsbedürftig sind. Eine darüber hinausgehende Redistributionspolitik wäre möglicherweise geeignet, zur gesellschafitlichen Befriedung beizutragen. Da gegenüber der freiheitlichen Ordnung der Marktwirtschaft ein verbreitetes Mißtrauen besteht, könnten Umverteilungen zugunsten der Schlechtergestellten die Zustimmung zu dieser Ordnung erhöhen und damit ihnen und den Bessergestellten die Chance auf einen höheren Lebensstandard eröffnen. Die Grenze so begründbarer Umverteilung auszutarieren, ist jedoch ein schwieriges Unterfangen, zumal in der politischen Öffentlichkeit die Neigung unverkennbar ist, die Verantwortung für ökonomische Fehlentwicklungen angeblich inhärenten Mängeln des marktwirtschaftlichen Systems anzulasten. Die gesellschaftliche Befriedung heischende Ausdehnving der Sozialleistungen droht dann schließlich ein Faß ohne Boden zu werden. Der herausgestellte Befriedungsgedanke, der primär als Gegenposition zu marxistischen Klassenkampfvorstellungen zu verstehen ist25, hat aber möglicherweise ungewollt die sozialstaatliche „Schlagseite" begünstigt, indem sehr weitgehend auf konfliktäre Auseinandersetzungen im Dienste eines — kostspieligen — sozialen Friedens verzichtet wurde. Gleichwohl bleibt als wichtiger Kern, daß sozialpolitische Befriedungen die allgemeine Akzeptanz und damit auch die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft erhöhen können. In die gleiche Richtung zielen sozialpolitische Maßnahmen, die eine allgemeine Teilhabe der Bevölkerung an Schulbildung und am politischen Leben ermöglichen und damit das Humankapital verbessern. Wird hier die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft durch günstigere Wachstumsvoraussetzungen gefördert, so können ähnliche Effekte auch der Risikominderung zugeschrieben werden. Das Wissen um soziale Sicherheit im Falle wirtschaftlicher oder persönlich bedingter und nicht aus eigener Kraft zu bewältigender Notlagen kann sehr wohl als Produktivitätsbeitrag verstanden werden. In allen diesen Fällen wird Sozialpolitik durch die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft möglich und umgekehrt trägt die Sozialpolitik zur Verbesserung ihres wirtschaftlichen Fundaments bei. Freiheitliche Marktwirtschaft und sozialer Ausgleich schließen sich aus dieser Sicht (der Sozialen Marktwirtschaft) nicht aus; sie sind komplementär.

25 Vgl. Müller-Armack (1974), S. 239 ff.

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Diese gegenseitige Bedingtheit markiert aber zugleich auch die ordnungsökonomischen Grenzen der Sozialpolitik. Dem Streben nach sozialer Sicherung und sozialem Ausgleich erwächst dort eine Grenze, wo es die marktwirtschaftlichen Lenkungs- und Anreizmechanismen gefährdet. Die Grenze ist nicht erst das Außerkraftsetzen des marktlichen Steuerungs- und Koordinationsverfahrens, sondern sie ist früher zu ziehen, und zwar wenn Freiheit, Selbstverantwortung und Leistungsbereitschaft der Individuen erkennbar eingeschränkt werden. Ordnungsinkonformität führt schließlich zu Zielinkonformität. Es sind nicht nur die rein finanziellen Konsequenzen für Zahler und Empfänger, sondern auch die Freiheitsbeschränkungen und Beeinträchtigungen der Leistungsbereitschaft auf beiden Seiten in die Waagschale zu werfen. Die schwierige - und deshalb ständig zu überprüfende - Balance zwischen marktwirtschaftlicher Freiheit und sozialem Ausgleich könnte zwar auch durch die Begünstigung eines schonungslosen Wettbewerbs zerstört werden. Tatsächlich wurde jedoch mit zunehmender Aushöhlung marktwirtschaftlicher Freiheiten zugunsten der sozialpolitischen Bindungen aus einer (konzeptionellen) Komplementarität ein Zielkonflikt. Als Gegengewicht bleibt das - auch von der Sozialen Marktwirtschaft rezipierte - Subsidiaritätsprinzip noch die geeignetste Richtschnur: Die Sozialpolitik hat sich danach auf den Personenkreis zu beschränken, der aus eigener Kraft ein zur Lebensführung ausreichendes Einkommen nicht zu erzielen vermag26. So unstrittig für die Soziale Marktwirtschaft die Notwendigkeit ist, Hilfsbedürftigen ein menschenwürdiges Leben zu sichern, so wichtig ist festzuhalten, daß der Staat Solidarität der Bürger rechtlich und institutionell nur nach Maßgabe der Subsidiarität einfordern darf27. Eigenverantwortung und Eigenvorsorge als Ausdruck individueller Freiheit, aber auch individueller Verpflichtungen haben Vorrang. In erster Linie ist deshalb an Maßnahmen „sozialer Ordnungspolitik"28 zu denken, d. h. an die Hebung individueller Leistungspotentiale durch Beseitigung von Hemmnissen und Förderung persönlicher Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft. Das dem Subsidiaritätsprinzip zugrundeliegende Menschenbild ist ein individualistisches und insoweit korrespondiert Subsidiarität mit Wettbewerb. Da eine Wettbewerbsordnung nur in einer Marktwirtschaft realisiert werden kann, ist eine subsidiäre Wirtschaftsordnung eine Markt- und Wettbewerbsordnung.29 Da nicht auszuschließen ist, daß größere Teñe der Bevölkerung in Erwartung staatlicher Fürsorge eine hinreichende Eigenvorsorge vinterlassen, ist zum Schutze der Gesellschaft eine Meritorisierung in der Form einer allgemeinen Versicherungspflicht angezeigt. Diese Versicherungspflicht hat sich als Mindestsicherung

Im Dienste des marktwirtschaftlichen Leistungsprinzips sollten die Transfers zudem nur Ergänzungscharakter haben, nicht nur zur Belastungsbegrenzung der Beitragszahler, sondern auch zur Erhaltung des Selbstwertgefiihls und des Humankapitals oder auch zur Vermeidung schattenwirtschaftlicher Aktivitäten. 27 Vgl. Sutor (1995), S. 116. m Zohlnhöfer (1990), S. 203. 29 Vgl. Dichmann (1994), S. 199, S. 205 f. 26

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auf alle Lebensrisiken, die mit Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter einhergehen, zu erstrecken. Eine weitergehende Absicherung wie etwa die des erreichten Lebensstandards ist private Angelegenheit. Zur Mindestsicherung ist eine staatliche Veranstaltung nicht erforderlich. Aus dem Blickwinkel der Ordnungskonformität ist vielmehr die Übertragung auf konkurrierende private Versicherer mit Kontrahierungszwang und Diskriminierungsverbot vorzuziehen. Verbleibende existenzielle Risiken, die der Einzelne nicht alleine tragen kann, müssen durch die Solidargemeinschaft abgesichert werden30. Die Frage der Ordnungskonformität stellt sich nicht nur isoliert für spezielle Sozialpolitiken, sondern sie ist auch im Verbund von Sozialpolitik mit anderen Wirtschaftspolitiken zu sehen. Lohn-, Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik werden in nicht geringem Umfang in den Dienst der Sozialpolitik gestellt — und umgekehrt. Mit einer dem Subsidiaritätsgedanken entsprechenden Markt- und Wettbewerbsordnung ist nicht vereinbar, daß die autonomen Arbeitsmarktverbände die Beschäftigungsfolgen ihrer Vereinbarungen auf den Staat abwälzen bzw. der Staat mit sektoraler und regionaler Strukturpolitik, mit Arbeitsmarktpolitiken des Arbeitsförderungsgesetzes oder mit speziellen sozialpolitischen Schutzmaßnahmen (letztlich erfolglose) Reparaturversuche unternimmt.

5.

Ordnungsökonomie und politische Willensbildung

Bis heute fehlt es nicht an teilweise massiver Kritik und Fehlinterpretationen der Sozialen Marktwirtschaft. Für von Hayek und sich auf ihn beziehende Neoliberale ist die Soziale Marktwirtschaft eben keine Marktwirtschaft. Anderen ist die Einbeziehung des Sozialen eine Bestätigung ihrer Überzeugung, daß die „freie", „kapitalistische" Marktwirtschaft Quelle allen Übels ist, das es — im Namen einer ,jo%ialen Marktwirtschaft" - radikal zu beseitigen gilt. Die praktische Sozialpolitik wurde vor allem seit Ende der 60er Jahre offenbar von der letztgenannten Fehlinterpretation inspiriert. Die lautstark geäußerte Unzufriedenheit einzelner Interessengruppen mit der eigenen sozialen Situation drängt den Staat zur Ausdehnung der Sozialleistungen, wodurch wiederum Unzufriedenheit nicht bedachter Gruppen hervorgerufen wird. Schaffen von „Gerechtigkeit" bewirkt „Ungerechtigkeit", die überwunden werden muß. Gewiß kann man Grenzziehungen im Sinne des Subsidiaritätsprinzips (der Sozialen Marktwirtschaft) Unschärfen vorhalten. Diese sind bei qualitativen Kategorien unvermeidlich. Die Prinzipien erscheinen jedoch robuster, als daß mit ihnen beobachtbare Entwicklungen zum Versorgungsstaat, der für alle Wechselfälle des Lebens Rechtsansprüche auf staatliche Hilfen garantiert, vereinbar wären. Der Versorgungsstaat, dem das Leistungskriterium abhanden gekommen ist, stößt zwar an finanzielle Grenzen, er kennt aber keine ordnungsökonomischen.

30

Hierbei gebietet die Ordnungskonformität direkte Geldtransfers an die Betroffenen anstatt Realtransfers. Letztere beschneiden die Entscheidungsfreiheit mündiger Bürger und sind nicht selten versteckte Subventionen für dahinter stehende Unternehmen.

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Statt einer wohlstandsbedingt möglichen und von Müller-Armack schon 1960 eingeforderten Rückführung der Sozialpolitik und „Konzentration auf die echten Fälle der Hilfsbedürftigkeit"31 wurde die gegenteilige Richtung eingeschlagen. „Durch zu großzügig ausgefallene Leistungen des Sozialstaates (wurde) bei vielen Bürgern eine Vollkasko-Mentalität, eine Scheu vor der Übernahme von Risiken und eine Neigung zum frühen Ruhestand herausgebildet"32. Anspruchsdenken und Abholmentalität sind sozialpolitisch begünstigt worden und lassen sich nicht kurzfristig im Sinne einer pflichtgemäßen Mindestsicherung überwinden. Zudem ist zu bedenken, daß durch Einzahlungen in das bestehende Sozialsystem auch für Nicht-Bedürftige Rechtsansprüche erwachsen sind, die nicht einfach beiseite geschoben werden können. Inkonforme Entwicklungen gelten nicht nur für die Sozialpolitik im engeren Sinne, sondern auch für die eng mit ihr verwobenen Lohn-, Arbeitsmarkt- und Strukturpolitiken. Zentrale Tarifverhandlungen und Allgemeinverbindlichkeitserklärungen lassen wenig Raum für die eigenverantwortliche Ausgestaltung von Löhnen, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen auf Betriebsebene. Aktive und passive Arbeitsmarktpolitik laufen Gefahr, Arbeitlose zu „verwahren", Anreize zur Arbeitsaufnahme zu dämpfen und so den gewerkschaftlichen Lohndruck zu erhöhen. Die Strukturpolitik hat sich sehr weitgehend als kostspielige Konservierungspolitik herausgestellt, die nicht zuletzt auch sozialpolitisch begründet die ökonomische Basis der Sozialpolitik unterminiert. Müller-Armack33 und Erhard34 haben frühzeitig vor den beobachtbaren Fehlentwicklungen gewarnt und ihre Unvereinbarkeit mit der Sozialen Marktwirtschaft betont. Vergeblich. Man wird schwerlich allokative und distributive Mängel - oder gar deren Zunahme - als Erklärung für die rasante Ausdehnung des Sozialsystems bemühen können.35 Daß „die Kriterien der Systemkonformität und der Subsidiarität nicht ausreichend waren, um den sozialstaatlichen Leviathan zu zähmen"36, ist im Sinne einer prinzipiellen Unzulänglichkeit ebenfalls zu bezweifeln. Bei aller Schwierigkeit, solche Kriterien trennscharf zu formulieren, man wird die mehr als Verdoppelung der Beitragssätze zur Kranken- und Rentenversicherung in den letzten fünfzig Jahren bei gleichzeitig drastischer Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenzen wohl nicht ernsthaft als dem Subsidiaritätsprinzip geschuldet erklären können. Der Hauptgrund für die Fehlentwicklungen dürfte im Prozeß der politischen Willensbildung, in den Funktionsmechanismen der parlamentarischen Demokratie liegen. Dies nicht genügend bedacht zu haben, kann man durchaus als ein Staatstheoriedefizit der Ordoliberalen und

« Müüer-Aamck (1974), S. 141. 32 Schlecht (2001), S. 43. » Vgl. Müller-Armack (1974), S. 141. 34 Vgl. Erhard (1988), S. 18. " Vgl. Berthold (1991), S. 174 f. » Oberender/Okruch (1997), S. 476.

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der Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft verstehen.37 Unterschätzt wurden wohl die Verhaltensweisen der Wähler und die daran ausgerichteten stimmenmaximierenden Strategien der Politiker. Denen kommt nicht entgegen, das Soziale angemessen im freiheitlichen Sinne zu interpretieren. Mit den Segnungen spezieller Sozialpolitiken lassen sich Wähler mobilisieren, während die Sicherung der marktwirtschaftlichen Ordnung der Produktion eines öffentlichen Gutes gleichkommt. Die positive Wählerwirksamkeit von Umverteilungsmaßnahmen ist aber wohl nicht nur Niederschlag verbreiteter Renten-Suche. Sie dürfte auch in der Unsicherheit des eigenen sozialen Status begründet sein. Ein heute Bessergestellter kann morgen zu den Schlechtergestellten gehören oder ein aktuell Belasteter langfristig zu den Begünstigten zählen.38 Die Umsetzung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft, die Sozialpolitik ordnungspolitisch einzubinden, ist in der politischen Praxis mißlungen. Umverteilungspolitik ist - vor allem bei unsicheren politischen Mehrheitsverhältnissen — attraktiver als abstrakte Ordnungsßin'itärkerer Einbau plebiszitärer Elemente in die demokratischen Wahlverfahren könnte den Hang zu sozialpolitischen Wahlgeschenken dämpfen, wenn vorher durch korrekte Information über Leistungen einerseits sowie über finanzielle und nicht-finanzielle Konsequenzen andererseits die Ignoranz der Wähler verringert würde. Unter den Funktionsbedingungen unbeschränkter Demokratie mit den Einflußmöglichkeiten von Interessengruppen, nicht zuletzt über ihre personale Repräsentanz in Parlamenten, sollten die Hoffnungen auf Informationsverbesserungen nicht zu hoch geschraubt werden. Der erbitterte Widerstand gegen die Abschaffung der Sozialbeiträge der Arbeitgeber und Verlagerung auf die Arbeitnehmer — bei entsprechender Lohnkompensation — hat auch eine wichtige Wurzel darin, die wahren Arbeitskosten bzw. die tatsächliche Höhe der Sozialabgaben zu verschleiern. Nimmt man die rechtliche „Grenzenlosigkeit" des Sozialstaates hinzu, bleiben letztlich wohl nur eine globale Deckelung der Sozialquote und das Vertrauen darauf, daß in den nächsten Jahrzehnten zunehmende private Vermögen für Eigenvorsorge zur Verfügung stehen.

" Vgl. Oberender/Okruch (1997), S. 476 f. eingehend hierzu Külp (1994), S. 229 ff.

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III. Soziale Ofdnungspolitik und soziale Sicherung

Die Sozialhilfe zwischen Effizienz und Gerechtigkeit - wie kann der Spagat gelingen? Norbert Berthold / Sascha von Berchem

1.

Einleitende Bemerkungen

Gesamtwirtschaftliche Effmenz und Gerechtigkeit — scheinbar unversöhnlich stehen sich diese beiden Ziele gegenüber. Es besteht ein breiter Konsens, daß der Staat in gewissem Umfang Einkommen und Vermögen von Reich zu Arm umverteilen sollte. Dafür sprechen auch allokative Gründe. Auf dem Weg vom Transfergeber zum Transferempfanger geht über die verschiedensten Kanäle aber ein beachtlicher Teil der Umverteilungsmasse verloren. Die meisten Ökonomen nehmen als gegeben an, daß alleine aus diesem Grund ein Mehr an Gerechtigkeit naturgesetzgleich mit einem Verlust an ökonomischer Effizienz zu erkaufen sei. Es soll nicht bestritten werden, daß aus allokativer Sicht ein gewisser Zielkonflikt besteht. Doch die Höhe der ökonomischen Effizienzverluste, die eine Volkswirtschaft durch staatliche Bemühungen für mehr Gerechtigkeit — was immer genau darunter verstanden wird — in Kauf nehmen muß, ist keinesfalls gegeben oder lediglich abhängig vom realisierten Umverteilungsvolumen. Es besteht vielmehr ein erheblicher Spielraum, wie groß die hinzunehmenden Ineffizienzen einer Umverteilungspolitik bei jedem gegebenen Transfervolumen letztlich sind. Daher ist es ein lohnendes Unterfangen, ein gesellschaftlich erwünschtes staatliches Transfersystem so auszugestalten, daß derartige Effizienzverluste möglichst gering ausfallen. Dieser Beitrag möchte eine kleine Hilfestellung geben, daß die Bewertung der gegenwärtigen Umverteilungssysteme und die Herleitung realisierbarer Verbesserungsvorschläge vor diesem Hintergrund möglichst systematisch erfolgen können. Im Zentrum soll dabei die staatliche Bereitstellung einer Grundsicherung, für Deutschland namentlich die Sozialhilfe, stehen.

2.

Okuns „leaky bücket"

Eines der bekanntesten Werke, in dem der Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit diskutiert wird, ist Arthur Okuns „Equality and Efficiency: The Big Tradeoff" aus dem Jahre 1975.1 Okun geht mit seinen Ausführungen davon aus, daß der Konflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit unvermeidbar ist. Unabhängig davon, ob sich die Umverteilungsaktivitäten per se überhaupt öko-

Vgl. Okun (1975).

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nomisch rechtfertigen lassen oder nicht, schlägt sich jeder Euro, der von einem reicheren zu einem ärmeren Individuum transferiert wird, in einem Einkommenszuwachs beim Empfanger nieder, der definitiv kleiner ist als dieser eine Euro. Das Geld muß in einem „löchrigen Eimer" (leaky bücket) von den Reichen zu den Armen transportiert werden. Einiges geht auf dem Weg dorthin verloren, und die Armen erhalten daher stets weniger als den Reichen weggenommen wurde. Es bleibt letztlich Okuns Lesern vorbehalten, für sich zu entscheiden, wie viel Verlust man akzeptieren kann, ohne das umverteilende SteuerTransfer-System als Ganzes abzulehnen. Diese werturteilsbehaftete Diskussion wird von Okun nicht weiter gefuhrt, vielmehr identifiziert er vier Hauptgründe für die Löcher im Eimer: administrative Kosten der Umverteilung, induzierte Veränderungen des individuellen Arbeitseinsatzes, induzierte Änderungen im Spar- und Investitionsverhalten und schließlich Einstellungsänderungen in der Gesellschaft aufgrund der Umverteilungsaktivitäten. Im Ergebnis führt all dies dazu, daß staatliche Umverteilung unausweichlich zu einem geringeren gesamtwirtschaftlichen Einkommen und einer weniger effizienten Verwendung vorhandener Ressourcen führt. Administrative Kosten fallen auf der einen Seite beim Staat im Zuge der Steuererhebung und -Verteilung an. Auf der anderen Seite entstehen den Steuerzahlern dadurch administrative Kosten, daß sie sich über die für sie relevante Steuergesetzgebung informieren, eventuell einen Steuerberater finanzieren müssen und dergleichen mehr. Diese Kosten werden in der Gesamtheit als weniger gewichtig angesehen, zumal die marginalen administrativen Kosten der Besteuerung für Umverteilungszwecke eher gering sind, wenn ohnehin schon ein Steuersystem vorhanden ist, um andere, nicht-distributive, Staatsausgaben zu finanzieren. Wesentlich bedeutsamer sind die zusätzlichen administrativen Kosten, die dadurch entstehen, daß in jedem Einzelfall geprüft werden muß, ob potentielle Transferempfänger tatsächlich auch im intendierten Sinne transferberechtigt sind. Im Falle der Sozialhilfe betrifft dies vornehmlich die Prüfung der objektiven und subjektiven Bedürftigkeit sowie der Arbeitsfähigkeit und -bereitschaft des Antragstellers. Mit einer staatlichen Umverteilungspolitik sind stets auch mehr oder weniger gewichtige Veränderungen des individuellen Arbeitseinsatzes sowohl der Steuerzahler als auch der Transferempfänger verbunden. Potentielle Steuerzahler werden bei höheren Steuersätzen ihren Arbeitseinsatz eher einschränken, so der Substitutionseffekt den Einkommenseffekt überwiegt. Dem Aufwand in Form von weniger Freizeit und einem höheren Arbeitsleid steht ein geringerer Ertrag gegenüber, der Anreiz, die volle Leistung zu bringen, geht zurück. Das Ausmaß dieses negativen Effektes staatlicher Umverteilungsmaßnahmen ist dabei zumindest von zweierlei abhängig: erstens von dem Verhältnis der Steuerzahler zu den Transferempfängern, zweitens davon, welcher Anteil der Steuerzahlungen insgesamt den direkt umverteilenden Maßnahmen zugerechnet werden kann.2 Die 2

Vgl. Blank (2002), S.10.

Die Sozialhilfe zwischen Effizienz und Gerechtigkeit

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durch die Besteuerung induzierten Verhaltensänderungen der Steuerzahler sollten geringer ausfallen, wenn die zusätzliche Steuerlast durch die Redistributionsmaßnahmen für den einzelnen Steuerschuldner relativ gering ist, d. h. die Gesamtheit der Steuerzahler groß, die der Transferempfänger klein ist. Weiterhin ist die zusätzliche Verhaltensänderung davon abhängig, wie groß der Anteil der Steuerzahlungen ist, der für umverteilende Zwecke benötigt wird. Wird der Großteil des staatlichen Budgets für nicht-redistributive Zwecke verwendet, so ist die zusätzliche Verhaltensänderung aufgrund der marginalen Steuerzahlungen für staatliche Umverteilungsmaßnahmen eine relativ kleine Komponente der gesamtwirtschaftlichen Folgekosten der Besteuerung insgesamt. Nicht nur die notwendige Beschaffung der Umverteilungsmasse über ein mehr oder weniger differenziertes Steuersystem induziert Verhaltensänderungen bei den faktischen Transferzahlern, auch bei den Empfängern staatlicher Transfers besteht stets die Gefahr induzierter und gesamtwirtschaftlich ineffizienter Verhaltensänderungen. Der Bezug staatlicher Transfers etwa im Falle von Arbeitslosigkeit und/oder Armut kann die Investitionen in marktverwertbares Humankapital, die Arbeitsbereitschaft oder die Bemühungen zur Selbsthilfe negativ beeinflussen. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auf die ambivalenten Effekte der amerikanischen Earned Income Tax Credits verwiesen, die auf der einen Seite auch für Geringverdiener Arbeit finanziell lukrativ machen, auf der anderen Seite jedoch negative Arbeitsanreize für Verdiener mittlerer Einkommen im Phase-Out-Bereich schaffen und darüber hinaus nur sehr bedingt zu Investitionen in Humankapital anregen.3 Letztlich liegt es an der konkreten Ausgestaltung der staatlichen Transferprogramme, wie groß die induzierten und ungewollten Verhaltensänderungen bei den Empfängern sind. Was den Arbeitseinsatz betrifft, so gilt sowohl für Steuerzahler als auch für Transferempfänger, daß der staatliche Steuer-Transfer-Plan nicht nur die absolute Höhe des Arbeiteinsatzes beeinflussen, sondern darüber hinaus auch dazu anregen kann, vermehrt Arbeitseinsatz in die Schattenwirtschaft zu verlagern. Neben administrativen Kosten und den induzierten Verhaltensänderungen bei Steuerzahlern und Transferempfängern schlägt sich eine staatliche Umverteilungspolitik ebenso im Spar- und Investitionsverhalten der Akteure einer Volkswirtschaft nieder. Die privaten und sozialen Erlöse von Ersparnis und Investitionen weichen ebenso wie die von Arbeit mehr und mehr voneinander ab, wenn in starkem Maße Einkommensumverteilung vorgenommen wird. Im Ergebnis haben insbesondere Volkswirtschaften mit generösen sozialen Sicherungssystemen und einem hohen Maß an Umverteilung mit negativen Konsequenzen für die Akkumulation von Sach- und Humankapital zu rechnen. Das Wachstum der (Arbeitsproduktivitäten und der Wirtschaft als Ganzes gerät in Mitleidenschaft.4 Schließlich nennt Okun als vierte Begründung für die Löcher im Eimer

Vgl. beispielsweise Burtless (1986) und Ochel (2000); zum Earned Income Tax Credit grundsätzlich siehe etwa Hotz/Scholz (2001). < Vgl. etwa Bibbee/Leibfiatz/Thronton (1997) und Lindbeck (1998). 3

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Einstellungsänderungen in der Gesellschaft aufgrund der Umverteilungsaktivitäten. Zumindest auf längere Sicht können ökonomische Anreize, die durch das Steuer-Transfer-System generiert werden, Angewohnheiten, Einstellungen und soziale Normen nachhaltig beeinflussen. Das Untergraben von Leistung und Eigenverantwortung, nachlassende Motivation, selbständig in das eigene Humankapital zu investieren oder das vorschnelle Rufen nach staatlicher Hilfe — all dies kann durch eine generöse und bevormundende Umverteilungspolitik gefördert werden. Die sozialen Normen und gesellschaftlichen Werturteile sind jedoch nicht nur potentielles Ergebnis der staatlich geschaffenen rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen, sie bestimmen im politisch-demokratischen Entscheidungs findungsprozeß gleichzeitig auch darüber, ob und wie sich diese Bedingungen verändern. Mit anderen Worten, es besteht stets die Gefahr eines Teufelskreislaufs aus zunehmenden Umverteilungsaktivitäten und der Erosion leistungsbejahender sozialer Normen. Im Weiteren sei insbesondere auf die induzierten Verhaltensänderungen der Transferempfänger abgestellt. Die induzierten Verhaltensänderungen der Steuerzahler hängen letztlich in starkem Maße davon ab, wie groß die Umverteilungsmasse ist, die notwendig ist, um - im konkreten Fall der Sozialhilfe - Armut zu vermeiden5, d. h. auch davon, wie effektiv und anreizkompatibel die Transfers an die Bedürftigen ausgestaltet sind. Ebenso sind das Ausmaß der induzierten Änderungen des Spar- und Investitionsverhaltens, die hinzunehmenden administrativen Kosten und der mögliche schleichende Wandel der gesellschaftlichen Normen und Werturteile zum großen Teil in der konkreten Ausgestaltung der Transfers begründet.

3.

Kriterien effizienter Umverteilung

Interdependente Nutzenfunktionen, das Streben nach innerer Sicherheit und sozialem Frieden sowie das begründete Interesse an einer Versicherung gegen ungünstige Realisationen des Zufalls sorgen dafür, daß die Bereitstellung, einer Grundsicherung gesellschaftlich erwünscht ist. „Adverse selection"-Phänomene und potentielles „free rider"-Verhalten verhindern jedoch eine hinreichende private Absicherung gegen das Risiko Armut. Es ist daher notwendig, daß der Staat selbst die Versicherung des Einkommensrisikos durch eine Grundsicherung vornimmt und dies über Steuermittel finanziert.6 Allerdings lassen sich gesamtwirtschaftliche Effizienzverluste nur dann gering halten und ist nur dann mit positiven Effekten auf das Wirtschaftswachstum (auch durch die generell als 5

Unstrittig ist, daß die durch Umvefteilungsaktivitäten induzierten negativen Effekte auf Seiten der Steuerzahler hierzulande gegenwärtig beträchtlich sein dürften. Die Umverteilungsmasse ist enorm, die hohe Zahl der Transferempfanger schlägt sich in einem großen Umverteilungssteueranteil nieder. Die Bruttosozialausgabenquote, der Anteil der Ausgaben für soziale Sicherung am Bruttoinlandsprodukt, beträgt in Deutschland mittlerweile rund 28 Prozent; vgl. Eichhorst/Profit/Thode u. a. (2001), S. 242. Vgl.

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kann. In Bezug auf die jüngsten Entwicklungen ist in diesem Zusammenhang Horst Siebert30 zuzustimmen: „It is not sufficient to reduce taxes for firms: the high marginal and average tax and mandatory contribution rates to the social security system (of 60 per cent and more in quite a few countries) that workers have to pay must also come down. ... [They pose] a high tax wedge and a disincentive for human capital formation (as well as effort)." Drittens erfordert eine effiziente Humankapitalbildung eine Beschränkung der Staatstätigkeit auf die Rolle als „Service-Unternehmen im Dienste gemeinsamer Bürgerinteressen", bei dem Politiker und Staatsbedienstete „Agenten im Auftrag und zum Nutzen der Prinzipale, der Bürger"31 sind. Dies impliziert eine Beschränkung in erster Linie auf Ordnungs- statt Prozeßpolitik auch deshalb, weil eine größere Stabilität der Wirtschaftspolitik verteilungspolitisch selbst zu wünschenswerten Ergebnissen beiträgt.32 Auch aus bildungsökonomischer Sicht ist eine zurückhaltende Staatstätigkeit angeraten: „Die Gefahr, während einer Rezession den Arbeitsplatz zu verlieren, vermittelt Firmen wie Arbeitnehmern Anreize, ihr Human- bzw. Sachkapital ständig zu erneuern und zu verbessern, um die zyklische' Fitneß zu steigern. Eine aktivistische Politik mit Hilfe von öffentlichen Aufträgen erhöht zwar vermeintlich die Arbeitsplatzsicherheit. Ein solches Programm schwächt aber den Anreiz, sich mittels Investitionen in Aus- und Weiterbildung vor den Folgen einer Rezession zu schützen"33. Viertens ist ein flexibler Arbeitsmarkt Bedingung eines effizienten Humankapitaleinsatzes. Der Strukturwandel zur Diensüeistungs- und Wissensgesellschaft stellt wachsende Anforderungen nicht nur an die Bildungsinstitutionen selbst, sondern auch an den Arbeitsmarkt und das flankierende Sozialsystem. So kann sich in erster Linie Humankapital, das an schrumpfende Wirtschaftszweige gebunden ist, oft nicht schnell genug an veränderte Bedingungen anpassen. Deshalb ist eine stärkere Lohnspreizung als bisher zwischen jenem Humankapital, dessen Wert steigt oder zumindest erhalten bleibt, und der im Strukturwandel an Wert verlierenden Einfacharbeit erforderlich, wenn die Arbeitslosigkeit nicht weiter steigen soll. Letztlich kann die Qualifizierung am Arbeitsplatz — als ein Aspekt der Humankapitalbildung — durch Lohnzurückhaltung und differenziertere Löhne für wenig qualifizierte Beschäftigte erleichtert werden. Zudem gibt es Indizien dafür, daß eine gestauchte Lohnstruktur deshalb ein negativer Anreiz für Bildungsinvestitionen ist, weil auch die beim Übergang zu höheren Ausbildungsabschlüssen erzielbaren Bildungsrenditen niedriger ausfallen.34

so Vgl. Siebert (2001), S. 5. Vanberg, (2002). 32 vgl. Külp, (1994b). 33 Deilas (2002). 34 Vgl. OECD (1999).

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Der reibungslose Humankapitaleinsatz erfordert fünftens einen für mehr Beschäftigungsanreize sorgenden Umbau der Sozialsysteme. Lohnersatzregelungen etwa in der Arbeitslosenversicherung, die sich vor allem an der Höhe des letzten Bruttoeinkommens orientieren und eine lange Bezugsdauer zulassen, können etwa für entlassene Industriearbeitnehmer in eine Arbeitslosigkeitsfalle fuhren, weil sie Anreize dazu bieten, eher vor den Toren gut zahlender, aber nur wenig einstellender Industrien auszuharren, als auf einen zunächst schlechter bezahlten, aber zukunftsfahigen Arbeitsplatz im expandierenden Dienstleistungssektor zu wechseln oder sich für neue Beschäftigungsfelder zu qualifizieren. Statt dessen wären Brücken in den Arbeitsmarkt über eine stärker aktivierende Sozialpolitik zu suchen.35 Alles in allem kommt es also in einer Volkswirtschaft darauf an, beruflich nutzbares Humankapital in Umfang und Struktur vorausschauend zu bilden und über einen funktionierenden Arbeitsmarkt in volkswirtschaftlich optimale Verwendungszwecke zu lenken. Wichtigste Voraussetzung einer erfolgreichen Bewältigung des stetigen Strukturwandels ist die Fähigkeit einer Volkswirtschaft, Datenänderungen möglichst friktionsfrei zu verarbeiten. Dabei kann die Anpassung an gegebene Anpassungslasten unterschiedlicher Art um so reibungsloser und schneller erfolgen, je größer die Anpassungskapazität einer Volkswirtschaft ist.36 In der Praxis hängt dies vom Ausmaß der Flexibilität relativer Preise und der unternehmensinternen und -externen Mobilität der Produktions faktoren Kapital und Arbeit ab, jedoch auch von einer systematischen Anwendung von Wettbewerbsprinzipien ebenfalls im Bildungssystem. 5.2

Die ordnungspolitische Antwort: Wettbewerb, Autonomie und Nachfragerorientierung

Wie kann eine Konkretisierung dieser allgemeinen Erwägungen aussehen? Läßt man einmal die Vermutung außen vor, daß sich das deutsche Bildungs- und vor allem das Hochschulsystem gleichsam naturwüchsig und relativ unabhängig vom Tempo der den organisierten Interessen unterworfenen Reformkarawane aus sich heraus weiterentwickeln wird, gibt es derzeit drei große Reformperspektiven, die sich in ihrer Konkretisierung sehr wohl durch Politik gestalten lassen:37

ss Vgl. hierzu Klös/Peter (2001). * Vgl. Külp (1979). 37 Eine sehr überzeugende Auffacherung dieser drei Grundsätze bietet Weiß (2002) in seiner Reformagenda für mehr Wettbewerb im Bildungswesen. Er plädiert für die Definition von Leistungsstandards, die Herstellung von Leistungstransparenz durch Überprüfung der Output-Qualität von Bildung (System-Monitoring), die größere Autonomie von Bildungseinrichtungen, eine nachfrageorientierte Bildungsfinanzierung durch Studiengebühren sowie die Flexibilisierung des öffentlichen Dienstrechts.

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(1) Wettbewerb: Staatliche Bildungsanbieter, vor allem Universitäten, verlieren ihre Monopolstellung in der Wissenslandschaft. Hauptkonkurrenten in der Hochschulausbildung werden zunehmend Corporate Universities der Unternehmen sowie deutsche und internationale Privatuniversitäten mit Dependancen und virtuellen Angeboten werden. In der schulischen Ausbildung gibt es bereits eine Vielzahl von privaten Angeboten; dieser Trend wird sich weiter verstärken. Staatliche Gelder werden mehr und mehr leistungsbezogen vergeben. Der weltweite Wettbewerb um Drittmittel wird sich aufgrund anhaltender Haushaltsengpässe verschärfen. Zur Erweiterung der Finanzressourcen wird es einen weltweiten Wettbewerb um Abnehmer von Wissensprodukten und Diensdeistungen geben. Der Wettbewerb um Studenten und Schüler wird einsetzen, weil es aufgrund der demographischen Entwicklung in wenigen Jahren auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene das Werben um die besten Köpfe oder gar die Köpfe überhaupt geben wird. Zudem wird sich aufgrund der Haushaltslage der Trend zur nachfrageorientierten Bildungsfinanzierung weiter verschärfen. Daraus folgt zwingend auch mehr Wettbewerb um die beste Lehrqualität. (2) Autonomie: Es wird zu einer Neudefinition des Verhältnisses Staat-SchuleHochschule, zu neuen Rechts formen (z. B. von der Staatsanstalt zur Universitäts-GmbH, e. V. oder Stiftung) kommen. Eine wirkliche Finanzautonomie wird ebenso nötig sein wie die Fähigkeit zur Vermögensbildung. Die Schulen und Hochschulen werden mehr Personalhoheit bekommen und eine Profilbildung über eine Definition der spezifischen Ziele einer Schule oder Universität betreiben. (3) Nachfragerorientierung: Die Nähe zu den Nachfragern nach Wissen (Schüler, Studierende, Unternehmen) und damit den Kunden des Unternehmens Schule/Weiterbildung/Universität wird zur vitalen Frage für deren Uberlebensfahigkeit. Deshalb wird der Praxis- und Arbeitsmarktbezug z. B. der berufsnäheren Ausbildung durch Kooperationen gesichert werden müssen (z. B. Duale Studiengänge). Es wird zur Etablierung eines permanenten Dialogs mit der Wirtschaft kommen. Public Private Partnership wird zu einem strategischen Ziel vor allem der Universitäten, zunehmend aber auch der Schulen. Das schlechte Abschneiden Deutschlands bei internationalen Bildungsvergleichen ist nicht in erster Linie mit zu wenig Geld für die Bildung zu erklären, sondern ist vielmehr systembedingt und Ausdruck einer Fehlsteuerung und einer ineffizienten Ressourcennutzung. Mehr Geld allein — so berechtigt die Forderung angesichts des Zustands vieler Bildungseinrichtungen zweifellos auch ist — reicht daher nicht aus, um eine Wende zum Besseren einzuleiten. Notwendig ist vielmehr eine Reform des Steuerungssystems. Dazu bedarf es einer verbindlichen Vorgabe von Leistungsstandards vor allem in Schulen. Hinsichtlich der Uberprüfung der Outputqualität von Bildung muß deshalb systematisch als prinzipielle Alternative zu einer Überprüfung der Leistungen durch eine staatliche Instanz eine Qualitätskontrolle durch die Abnehmer des Systems Schule treten. Dort, wo der Wettbewerbsdruck durch die Abnehmer allerdings nicht oder nur einge-

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schränkt ausgeübt werden kann, erfordert die Qualitätskontrolle durch den Wettbewerb zudem drei weitere Weichenstellungen: Eine Voraussetzung für mehr nachfirageseitigen Wettbewerb ist es, die Schülerleistungen zu erfassen. Nach wie vor eignen sich Schulleistungen sehr gut zur Vorhersage der beruflichen Einfadelung. Die vielfach behauptete Entkoppelung zwischen Schule und Beruf läßt sich empirisch nicht bestätigen. Die Bewertung von Schülerleistungen muß in Deutschland systematisch weiterentwickelt werden. Ohne eine Erfassung der Lehrerleistungen wird es keine angebotsseitige Wettbewerbsintensivierung geben. Die Performanzorientierung kann deshalb nicht bei den Schülern stehen bleiben, sondern gilt auch für die Lehrenden. Nach der pädagogischen Forschung haben Schülerangaben zum Unterricht noch immer die beste Prognosefahigkeit für das Ergebnis der Ausbildung. Zudem ist die Reputation eines Faches auch abhängig von der Reputation der Lehrenden. Es müssen also Vorkehrungen für einen Reputationswettbewerb der Anbieter von Bildungsleistungen getroffen werden. Eine international vergleichende Erhebung zu Lehrerleistungen (PITA) weist deshalb in die richtige Richtung. Eine zentrale Funktion im Hinblick auf die Schaffung von mehr Wettbewerb nimmt dabei das öffentliche Dienstrecht ein.38 Das derzeitige Dienstrecht ist mit dem Anspruch auf mehr Autonomie und Wettbewerb im Bildungswesen nicht vereinbar und muß deshalb reformiert werden. Zudem weist im Unterschied zu anderen Ländern die Lehrerbesoldung in Deutschland kaum leistungsorientierte Bestandteile auf. Auch hier bieten internationale Erfahrungen Anlaß zum Umsteuern. Deutschland braucht mehr Autonomie von Bildungseinrichtungen. Die Erfahrungen aus anderen Ländern lehren, daß eine größere Autonomie von Bildungseinrichtungen und zentrale Standards sich tendenziell leistungssteigernd auswirken. Ebenso wichtig ist aber ein erhöhtes Maß an Selbständigkeit sowohl für Bildungseinrichtungen als auch für Lernende. Bildungseinrichtungen müssen deshalb die Möglichkeit haben, ihr spezifisches Angebotsprofil zu entwickeln, Einfluß auf die Auswahl der Lernenden zu nehmen, die Lehrenden selbst auszuwählen, den Ressourceneinsatz zu planen und den Lehrbetrieb eigenständig zu organisieren. 5.3

Konkretisierung am Beispiel der Hochschule

Wie könnte eine Konkretisierung dieser Reformlinien für den Hochschulbereich aussehen? Auch am Hochschulstandort Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren bereits relativ viel geändert (z. B. Fernstudiengänge, virtuelles Studium, international ausgerichtete Studiengänge mit einer Mindestanzahl von Semestern an einer ausländischen Partnerhochschule mit doppelten Abschlüssen, 38 Vgl. Weiß (2002).

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Gradmertenkollegs). Dennoch gibt es für die öffentlichen Hochschulen noch keine umfassende Grundsatzreform. Deshalb sollen abschließend einige systematische Überlegungen, die auf den empirischen und theoretischen Erkenntnissen aufsetzen, für drei wesentliche Reformbaustellen im Sinne der Prüfung relevanter Alternativen vorgestellt werden:39 (1) Auswahlverfahren beim Hochschulzugang: Das heute praktizierte Verfahren des Hochschulzugangs ist international nicht mehr konkurrenzfähig. Prüfung und Feststellung der Hochschulzugangsberechtigung erfolgen — ohne direkte Einbindung der Hochschulen — durch die Schule als entsendende, nicht durch die aufnehmende Institution. Zudem erfolgt die Vergabe von immer mehr Studienplätzen seit vielen Jahren durch ein zentralistisches, auf rein formale Kriterien und Kapazitätsberechnungen gestütztes Verfahren, das ursprünglich nur als kurzfristige Ubergangslösung gedacht war. Dieses System der alleinigen Berechtigungen durch abgebende Institutionen sollte deshalb konsequent reformiert und auf die Eigenverantwortung der Hochschulen für die Entscheidung über die Zulassung von Studienbewerbern ausgerichtet werden.40 In der Konsequenz muß dies eine Abschaffung der ZVS zur Folge haben, denn nur so kann der Wettbewerb zwischen den Hochschulen gefördert und dem Interesse der Studenten an einer Profilbildung des Studienangebots mit dem Ziel einer Qualitätssteigerung in der Lehre gedient werden. Die - auf einen verbindlichen Fächerkanon gestützte — allgemeine oder eingeschränkte Hochschulreife als Eignungsfeststellung wäre bei Auswahlverfahren der Hochschulen dann nur noch eine nach wie vor notwendige, aber für sich allein nicht mehr hinreichende Grundvoraussetzung für ein bestimmtes Studium im gewünschten Fach am gewünschten Ort. Die Bewerberauswahlverfahren sollte die einzelne Hochschule entsprechend ihrer jeweiligen fachlichen Schwerpunktsetzung und dem Leistungsgrad ihres Studienangebotes durchführen. Bei der Bewerberauswahl ergibt sich für die einzelnen Fachbereiche ein breiter Gestaltungsspielraum (z. B. durch eine differenzierte Auswertung der Reifeprüfung, ergänzende Fähigkeitstests, Kenntnistests, Fremdsprachenprüfungen und Auswahlgespräche). Dabei ist eine hinreichende Transparenz und Objektivität der Auswahlverfahren und der zugrundeliegenden Auswahlkriterien sicherzustellen. Die Offenlegung von Studienanforderungen und von Auswahlkriterien unterstützt zum einen das Ziel der vergleichenden Qualitätsentwicklung in der Lehre. Entsprechende Auswahlverfahren fördern zum anderen gleichzeitig die rechtzeitige Orientierung von Studieninteressenten und beugen einem späteren Studienabbruch, Fachwechsel, Prüfungswiederho» VgL Foders (2001); Konegen-Grenier (2003); Straubhaar (1988) und Stuchtey (2001). 40 In der letzten Novellierung des Hochschulrahmengesetzes (HRG) ist erstmals die Einführung einer Leistungsquote für bis zu 25 Prozent der Studienplätze vorgesehen, die sich auf die von den Hochschulen im Ortsverteilungsverfahren zu vergebenden Plätze bezieht (§31 (2) HRG). Dabei sollen Bewerber mit den besten Abiturnoten, die nicht im Einzugsbereich der Hochschule wohnen, den Wohnsitz-Bewerbern vorgezogen werden. Darüber hinaus wird den Hochschulen das Recht eingeräumt, 20 Prozent der Studienplätze in Numerusclausus-Fächern selbst zu vergeben (§ 32(3)2b HRG); vgl. Foders (2001), S. 86.

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lungen und vor allem überlangen Studienzeiten vor. Bei einer Neuregelung des Hochschulzugangs muß in jedem Fall ausgeschlossen sein, daß die Studierfähigkeit erst an der Hochschule selbst vermittelt wird. (2) Innere Studienreform: Auch wenn inzwischen an einigen Universitäten Dissertationen in einer fremden Sprache eingereicht werden können, sind der internationale Bekanntheitsgrad und die Akzeptanz deutscher Abschlüsse im Ausland nach wie vor gering. Auch die Aufteilung der Hochschulen in Fachhochschulen und Universitäten sorgt im Ausland eher für Verwirrung.41 Die in § 19 HRG enthaltene Öffnung der Fachhochschulen und Universitäten für international weit verbreitete Bachelor- und Mastergrade ist deshalb ein überfälliger Schritt gewesen, weil der internationale Vergleich das Fehlen von mittellangen, drei bis maximal fünf Jahre dauernden Studienangeboten im wissenschaftlich orientierten Tertiärbereich A augenfällig macht, daß erst für 1,8 Prozent der Studienanfänger Bachelorstudiengänge existieren.42 Auch Teilzeitstudienangebote — in anderen Ländern längst Standard — fehlen so gut wie ganz. Bislang stehen Studieninteressenten in Deutschland mithin vor der Alternative „keine akademische Qualifikation" oder „eine in sechs Jahren".43 Die Einfuhrung von Studiengebühren würde mit hoher Wahrscheinlichkeit beschleunigend auf den Ausbau kurzer Bachelorstudiengänge wirken. Die Akzeptanz ließe sich noch weiter steigern, wenn eine Verbindung von Teilzeittätigkeit und modular aufbereitetem Studium in großem Umfang verfügbar wäre. Den entscheidenden Rahmen für eine auf Dauer angelegte innere Studienreform bildet jedoch eine transparente Evaluation der Lehrleistungen. Was in leistungsorientierten Unternehmen zur allgemeinen Praxis geworden ist (Vorgesetztenund Mitarbeiterbeurteilung im Qualitätsmanagement) und an ausländischen Hochschulen bis in den Besoldungs- und Karrierebereich hineinreicht (zwei Drittel aller Hochschuleinrichtungen des anglo-amerikanischen Hochschulsystems legen bei der Einstellung des Personals Priorität auf die Lehrqualität der Bewerber) muß auch Einzug in die bundesdeutsche Hochschullandschaft halten. Eine moderne Evaluation beinhaltet in diesem Sinne die Überprüfung einer adressatengerechten Lehre, eine bedarfsorientierte Betreuung, ein differenziertes und praxisnahes Angebot sowie den Einsatz zeitgemäßer Lehr- und Lernmittel. (3) Hochschulfinanzierung: Die Schwächen des deutschen Hochschulsystems treten schließlich vor allem auf dem Gebiet der Finanzierung zutage.44 Zwar fordert das HRG in § 5 eine leistungsorientierte Hochschulfinanzierung, wonach die Zuweisung staatlicher Mittel nicht weiter allein nach politischen Vorgaben erfolgen soll. Allerdings sind bisher weder die Abhängigkeit der Hochschulen vom Staatshaushalt verringert noch Anreize für eine effizientere Mittelverwendung geschaffen worden. Abgesehen von eher technischen Verfahrensänderun« Vgl. Foders (2001), S. 87. "2 Vgl. Konegen-Grenier (2003). « Vgl. Egeln (2002), S. 440. 44 Vgl. Foders (2001), S. 88.

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gen (z. B. mehr Finanzautonomie durch Globalhaushalte oder durch kaufmännische Rechnungslegung) müssen deshalb vor allem neue Wege bei der Einnahmenerzielving beschritten werden. Die Einwerbung von Drittmitteln wird für die Hochschulen ein größeres Gewicht als in der Vergangenheit erlangen. Das wichtigste Instrument zur additiven Einnahmenerzielung sind naturgemäß Studiengebühren. Das staatliche Finanzierungssystem kann zwar wohl nicht vollständig auf Studiengebühren umgestellt werden, vielmehr muß es zunächst um eine ergänzende Einfuhrung gehen. Bei der Gestaltung der Studiengebühren sind nach Studiengängen differenzierte Systeme — etwa durch nutzungsabhängige Gebühren in rivalisierenden und nutzungsunabhängige Beiträge in nichtrivalisierenden Studiengängen45 — einheitlichen Gebühren vorzuziehen. Studiengebühren wiederum können ihre wettbewerbssteigernden Wirkungen nur entfalten, wenn die Hochschulen die Studierenden selbst auswählen dürfen. Unerwünschte verteilungspolitische Auswirkungen von Studiengebühren lassen sich über flankierende Maßnahmen vermeiden. In jedem Fall erfordert eine gesicherte Studienfinanzierung aber den Aufbau eines allgemein zugänglichen Kreditierungs- und Versicherungssystems für Bildungsinvestitionen, indem staatliche Bürgschaften es ermöglichen, die Finanzierung von Humankapitalinvestitionen auf der Basis privatrechtlicher Verträge abzuwickeln. Wichtig ist dabei vor allem der Aufbau eines Stipendiensystems für besonders Befähigte aus einkommensschwachen Familien. Relativ weit entwickelte Vorschläge für Studiendarlehensmodelle liegen vor.46 Für den größten Teil der Studierenden dürften Finanzierungsinstrumente ausreichend sein, die weitgehend ohne Subventionsanteil auskommen. Ferner könnten auch finanzielle Anreize für die Forschungs- bzw. Lehrkräfte hilfreich sein, um den Drittmittelanteil zügig zu erhöhen. Dies gilt explizit auch für die Verwertung des Wissenstransfers in die Wirtschaft. Die Öffnung der Hochschulen für marktrelevante Forschungsergebnisse im Wege der Patentierung von Forschung durch die Novellierung des § 42 des Arbeitnehmererfindergesetzes im Jahr 1997 ist daher zu begrüßen. Die Hochschulen werden ferner künftig zusätzliche Einnahmen aus der wissenschaftlichen Weiterbildung von Hochschulabsolventen erzielen können.47 Dieser Bildungsbereich läßt hohe Zuwachsraten erwarten, da der technische Fortschritt die Akademiker ebenso wie andere Berufstätige dazu zwingt, sich dem lebenslangen Lernen nicht zu verschließen. Die akademische Weiterbildung könnte immer dann stattfinden, wenn die Hochschuleinrichtungen von den traditionellen Studiengängen nicht beansprucht werden (Semesterferien, Wochenende und Abendstunden).

« Vgl. Stuchtey (2001), S. 205. « Vgl. Straubhaar (1998); Stuchtey (2001). « Vgl. Foders (2001) und Konegen-Grenier (2003).

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6.

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Ausblick

Die Qualifikation der Arbeitskräfte in Deutschland zählt noch immer zu den positiven Standortfaktoren. Allerdings ist die Spitze im internationalen Vergleich schmal und der „Mittelbau" hat an Breite verloren. Die Ursachen dafüir reichen bis in die vorschulische Betreuung zurück, setzen sich als Defizite in der Vermittlung von elementaren sowie von mathematisch-naturwissenschaftlichen Kenntnissen in den Schulen fort, fuhren zu hohen Abbrecherquoten in der schulischen wie dualen Ausbildung, reichen bis weit in wenig wettbewerbsfähige Universitätsstrukturen hinein und münden in eine sehr stark auf jüngere Jahrgänge konzentrierte berufliche Weiterbildung, die mit zunehmendem Alter stärker als anderswo in der Welt zurückgeht. In der Summe steht damit das gesamte dreigliedrige Schulsystem ebenso auf dem Prüfstand wie die akademische Bildung sowie Teile der betrieblichen Aus- und Weiterbildung. Angesichts des demographischen Trends einer zunächst alternden und dann schrumpfenden Bevölkerung werden sich jedoch die Defizite in der Humankapitalbildung schneller und gravierender bemerkbar machen als ohne diese Entwicklung. Schon jetzt sind — selbst in konjunkturell nicht überschäumenden Zeiten — Kräfteengpässe am Arbeitsmarkt zu beobachten, die sich negativ auf die Wachstums- und Beschäftigungsbilanz Deutschlands auswirken. Deshalb sollte eine Runderneuerung des deutschen Bildungssystems ganz nach oben auf die politische Agenda gerückt werden. Orientierungsmarken für die nötigen Maßnahmen bietet ein internationales Benchmarking. Institutionelle Faktoren (zentrale Prüfungen und Standards, dezentrale Autonomie der Schulen in Personal- und Finanzangelegenheiten, Nachfragerorientierung und Wettbewerb mit privaten Bildungseinrichtungen) bestimmen sehr viel stärker den Bildungserfolg als finanzielle Inputfaktoren. Daraus folgen abschließend einige gleichsam generalisierende ordnungspolitische Leitsätze für eine Bildungsreform: Die individuelle Verantwortung für Lehrende, Lernende und Bildungsinstitutionen muß betont werden; Kompetenz und Haftung gehören zusammen. Deshalb müssen die Motivation und Gestaltungsmöglichkeiten der Lehrenden gestärkt werden. Die Verwirklichung einer Bildungsreform setzt eine zielgerichtete Reform der Anreize sowie der Aus- und Weiterbildung der Lehrenden voraus. Dabei ist aber deren Notwendigkeit zur Rechenschaftslegung zu erhöhen, eine interne und externe Evaluation systematisch einzuführen und sowohl national wie international ein Benchmarking und Lernen von den Besten zu praktizieren. Es sind Ubergänge zwischen den einzelnen Schulformen, aber auch zwischen den einzelnen Phasen in der Erwerbsbiographie zuzulassen, vor allem bei der Weiterbildung.

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Die Lebenswirklichkeit sollte in Unterricht, Studium und Weiterbildung berücksichtigt werden und auch auf die Gründung selbstständiger Existenzen in allen Bildungsbereichen ausgelegt werden. Die Finanzausstattung ist systematisch zu überprüfen, sollte aber aus den föderalen Verflechtungsfallen befreit werden. Der föderale Wettbewerb muß gerade im Bildungssystem gestärkt werden, darf aber nicht zentralen Qualitätsstandards im Wege stehen.

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Mehr Beschäftigung durch Bildungsreformen

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Regulierung statt Deregulierung - Die Crux deutscher Arbeitsrechtspolitik Manfred Uimsch

I.

Die Entwicklung der Arbeitsrechtspolitik seit den Anfängen bis heute

1.

Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Regulierung

Das Arbeitsrecht steht von je her unter dem Spannungsbogen von Autonomie und Regulierung. Auf der einen Seite geht seit der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund von 1869 auch das Arbeitsrecht vom Prinzip der Vertragsfreiheit aus. Andererseits regulieren Gesetzgeber, Gerichte und Tarifvertragsparteien die Arbeitsverhältnisse und die Organisation der Betriebe und Unternehmen, in denen gearbeitet wird. Die heutige Fassung der Gewerbeordnung spiegelt dieses Spannungsverhältnis wieder, wenn sie in ihrem § 105 formuliert: ,^Arbeitgeber und Arbeitnehmer können Abschluß, Inhalt und Form des Arbeitsvertrages frei vereinbaren, soweit nicht zwingende gesetzliche Vorschriften, Bestimmungen eines anwendbaren Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung entgegenstehen."

2.

Von 1839 bis 1982: Unablässig fortschreitende Regulierungsverdichtung

Die Geschichte des Arbeitsrechts ist eine Geschichte des Fortschreitens von die Vertragsfreiheit einschränkenden Regulierungen. Ging es im 19. Jahrhundert noch im wesentlichen um den Arbeitsschutz im engeren Sinne (Preußisches Fabrikregulativ von 1839 gegen Kinderarbeit; Jugendarbeitsschutz, Mutterschutz und Arbeitsordnung in der Novelle zur Gewerbeordnung von 1891), wurde das Arbeitsrecht in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg erstmals in voller Breite geregelt. Eckpunkte des kollektiven Arbeitsrechts waren damals die Tarifvertragsverordnung von 1918 und das Betriebsrätegesetz von 1920, welches den Betriebsräten eine Reihe von Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechten und ein Einspruchsrecht gegen Kündigungen einräumte und auch schon die Entsendung von ein oder zwei Betriebsratsmitgliedern in die Aufsichtsräte bestimmter Unternehmen vorsah. Der Arbeitnehmerschutz wurde durch die Einführung des 8-Stunden-Tages in den Arbeitszeitverordnungen von 1918 und 1919, durch das Mutterschutzgesetz von 1927, das Ladenschlußgesetz von 1929, das Nachtbackverbot von 1918, den

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Kündigungsschutz bei Massenentlassungen in der Stillegungsverordnung von 1920 und das Schwerbeschädigtengesetz von 1923 weiter ausgebaut. Eine eigenständige Arbeitsgerichtsbarkeit wurde durch das Arbeitsgerichtsgesetz von 1926 eingeführt. Der Nationalsozialismus brach zwar mit dem kollektiven Arbeitsrecht — aber nicht zugunsten von mehr Vertragsfreiheit, sondern zugunsten staatlicher Regelungen durch Tarifordnungen und Betriebsordnungen. Das Arbeitnehmerschutzrecht entwickelte sich auch in dieser Zeit fort: Durch die Arbeitszeitordnung von 1934 wurde die 48-Stunden-Woche und ein Anspruch auf Mehrarbeitszuschlag eingeführt. Der Jugendarbeitsschutz wurde im Jugendschutzgesetz von 1938 geregelt. Auch die Rechtsprechung, insbesondere des Reichsarbeitsgerichts, sorgte, gestützt auf die Auffassung des Arbeitsverhältnisses als eines „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses" und durch den Ausbau der „Fürsorgepflicht" für weitere Regulierungen. Etwa sah sie die Pflicht zur Urlaubsgewährung als Konkretisierung der Fürsorgepflicht an, entwickelte anhand der Gratifikation den Gleichbehandlungsgrundsatz und stellte Grundsätze zur betrieblichen Ruhegeldregelving auf. Nach dem Ende des Nationalsozialismus, Beginn der Bundesrepublik Deutschland, ist das kollektive Arbeitsrecht alsbald wiederhergestellt und verfeinert worden, einerseits durch das Tarifvertragsgesetz von 1949 und andererseits durch das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 und die Mitbestimmungsgesetze für den Montanbereich. Auch das Arbeitnehmerschutzrecht entwickelte sich rasch weiter. Zu nennen sind das Heimarbeitsgesetz und das Kündigungsschutzgesetz von 1951, das Mutterschutzgesetz von 1952, das Schwerbeschädigtengesetz von 1953, das Ladenschlußgesetz von 1956, das Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeitnehmer im Krankheitsfall von 1957, das Gesetz über die Arbeitnehmererfindungen von 1957, das Jugendarbeitsschutzgesetz von 1960 und das Bundesurlaubsgesetz von 1963. Weitere Schübe erhielt die Regulierung in der Zeit der großen Koalition von 1967 bis 1969 durch das Lohnfortzahlungsgesetz für Arbeiter, das Berufsbildungsgesetz, die Neufassungen des Mutterschutzgesetzes und des Kündigungsschutzgesetzes mit der Einführung des besonderen Änderungskündigungsschutzes sowie die Regelungen über die Kündigungsfristen im sogenannten 1. Arbeitsrechtsbereinigungsgesetz von 1969. Auch die sozial-liberale Koalition baute das Arbeitsrecht weiter aus, im Bereich des Kollektivrechts durch das neue Betriebsverfassungsgesetz von 1972 und das Mitbestimmungsgesetz von 1976, im Individualarbeitsrecht durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz von 1972, das Arbeitssicherheitsgesetz von 1973, das Gesetz über die betriebliche Altersversorgung von 1974 und die Novellierung des Jugendarbeitsschutzgesetzes von 1976. Anstöße kamen dabei auch durch die Europäische Gemeinschaft (EG), die sich in Artikel 118a, heute Artikel 136, des EG-Vertrages auf Harmonisierung des Arbeitsrechts „bei gleichzeitigem Fortschritt", also gewissermaßen zu einer Stan-

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255

dardisierung nach oben, verpflichtet hat. Ich verweise nur auf die acht Arbeitsschutzrichtlinien und die Regelung des § 613a BGB über den Übergang des Arbeitsverhältnisses im Falle der Betriebsveräußerung. Die Rechtsprechung hat das Ihre zur weiteren Regelungsverdichtung getan. Vor allem hat sie den Kündigungsschutz immer weiter differenziert, verfeinert und durch einen Weiterbeschäftigungsanspruch ergänzt, eine rigide Kontrolle der Befristung von Arbeitsverhältnissen eingeführt und § 613a BGB einen weiten Anwendungsbereich gegeben.

3.

1982 bis 1998: Ansätze zur Deregulierung

Die Einsicht der liberalen Seite der sozialliberalen Koalition, daß die fortschreitende Regulierung des Arbeitsrechts mitverantwortlich war für die zunehmende Verkrustung des Arbeitsmarkts und die mangelnde Flexibilität der Arbeitsbedingungen war eine der Ursachen für den Sturz der Regierung Schmidt im Jahr 1982. Man kann das in dem heute schon fast vergessenen Scheidebrief, dem sogenannten „Lambsdorff-Papier" nachlesen. Dementsprechend ist es unter der Rßgierung Kohl von 1982 bis 1998, erst recht zögerlich, dann etwas mutiger, zu Deregulierungen des Arbeitsrechts gekommen. Nachdem schon das Vorruhestandsgesetz 1984 ein erstes Signal gesetzt hatte, war das Beschäftigungsförderungsgesetz 1985 der erste wesentliche Schritt. Es ließ bei Neueinstellungen die einmalige Befristung von Arbeitsverhältnissen auf 18 Monate zu, ohne — wie bis dahin die Rechtsprechung — das Vorliegen eines besonderen Sachgrundes für die Befristung und deren Dauer zu fordern. Auch schränkte es die Sozialplanpflichtigkeit von Betriebsänderungen stark ein, ja schloß sie für neugegründete Unternehmen in den ersten vier Jahren nach der Gründung sogar aus. Damit wurde die Anpassung des Personalbestandes an einen schwankenden Bedarf erheblich erleichtert und zugleich das mit Einstellungen verbundene Risiko vermindert. Das Gesetz übte so eine beschäftigungsfördernde Wirkung aus. Auch die in dem Gesetz enthaltenen Regelungen der Teilzeitarbeit kamen dem Bedürfnis nach Flexibilität insofern entgegen, als sie für diese Arbeitszeitform eine feste Rechtsgrundlage schufen und es damit ermöglichten, beginnend mit dem Kündigungsschutzgesetz bei den Schwellenwerten für das Eingreifen arbeitsrechtlicher Gesetze, Teilzeitarbeitnehmer nach und nach nur mehr entsprechend dem Umfang ihrer Arbeitszeit zu berücksichtigen. Im übrigen wurde die gesetzgeberische Kraft der christlich-liberalen Koalition in ihrer ersten Legislaturperiode im wesentlichen durch die Neuregelung des Neutralitätsparagraphen für die Bundesanstalt für Arbeit in Arbeitskämpfen aufgezehrt. Immerhin ist damals eine Änderung erreicht worden, die das Gleichgewicht der Tarifvertragsparteien, insbesondere der Metallindustrie, einigermaßen wieder hergestellt hat, so daß der Regulierungsdruck von Seiten der Gewerkschaften geringer geworden ist.

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Wesentliches arbeitsrechtliches Ereignis der folgenden Legislaturperiode war der Erlaß des Sprecherausschußgesetzes vom 20. Dezember 1988 und damit verbunden eine Reihe von Änderungen des Betriebsverfassungsgesetzes. Das Sprecherausschußgesetz muß man insofern als einen Schritt zur Flexibilisierung des Arbeitsrechts einordnen, als es den Druck zur Einbeziehung der leitenden Angestellten in die Betriebsverfassung aufhob und zugleich das Modell einer Arbeitnehmerbeteiligung schuf, die organisatorisch vieles in die Entscheidung der Betroffenen selbst legt und den Weg für die Beteiligung nicht in formalisierten Mitbestimmungsrechten mit einem Letztentscheidungsrecht der Einigungsstelle, sondern in Informations- und Beratungsrechten sucht. Das Betriebsverfassungsgesetz wurde, Anmahnungen des Bundesverfassungsgerichts für die Personalvertretungen folgend, dadurch aufgelockert, daß die Teilnahme von Minderheiten an Betriebsratswahlen erleichtert und ihre Rechte bei der Betriebsratsarbeit (Ausschüsse, Freistellungen) durch Einfuhrung der Verhältniswahl verbessert wurden. Im übrigen wurde in dieser Legislaturperiode die Deutsche Einheit arbeitsrechtlich bewältigt - im Sinne einer Erstreckung des Arbeitsrechts der Bundesrepublik Deutschland auf das Beitrittsgebiet; bei dieser Gelegenheit Deregulierungsschritte zu gehen, hätte den Gesetzgeber wohl überfordert. 1990 bis 1994 ist es dann zu zwei beträchtlichen Deregulierungsschritten gekommen: Nach langen Auseinandersetzungen konnte 1994 das Arbeitszeitgesetz in Kraft treten, das eine weitreichende Flexibilisierung der Arbeitszeiten ermöglichte, teils auf arbeitsvertraglicher Ebene, teils unter der Verantwortung der Tarifvertragsparteien und der Betriebsparteien. Es ist bemerkenswert, daß sich die Tarifvertragsparteien diesem Auftrag meist nicht verschlossen haben, sondern zu flexibleren Regelungen, etwa bei der Samstagsarbeit gelangt sind. Das zweite wesentliche Ereignis war die ebenfalls nach langer Vorbereitungszeit erfolgende Verabschiedung der Insolvenzprdnung vom 5. Oktober 1994, die in ihren §§113, 120-128 für den Insolvenzfall beträchtliche, in manchem geradezu revolutionär anmutende Deregulierungen enthielt. Ich nenne nur die Beschränkung der Kündigungsfristen auf drei Monate, die Möglichkeit der Kündigung von Betriebsvereinbarungen, die Möglichkeit einer gerichtlichen Zustimmung zur Durchführung von Betriebsänderungen, die Begrenzung des Umfangs des Sozialplans und vor allem die Möglichkeit, in einem, mit dem Betriebsrat vereinbarten Interessenausgleich die Arbeitnehmer, die entlassen werden müssen, namentlich zu bezeichnen, mit der Folge, daß die Betriebsbedingtheit der Kündigung vermutet wird und die Sozialauswahl nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden kann. Die letzte Legislaturperiode der Ära Kohl ist arbeitsrechtlich in erster Linie durch das arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 13. September 1996 geprägt gewesen. In ihm waren kräftige Schritte der Deregulierung enthalten: Um dem gewachsenen Bedürfnis kleinerer Betriebe nach verwaltungsmäßiger und wirtschaftlicher Endastung und nach Vermeidung von Rechtsrisiken entgegenzukommen, wurde der für die Geltung des allgemeinen Kündigungsschutzes zu überschreitende Schwellenwert von fünf auf 10 Arbeitnehmer heraufgesetzt. Die Sozialauswahl wurde in Anlehnung an die Regelung der Insolvenzordnung auf die

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Grunddaten der Dauer der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters und der Unterhaltspflichten begrenzt. Insbesondere die sehr schwierig zu beurteilende Frage nach den Chancen der Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt verlor so ihre Relevanz. Zugleich wurde festgelegt, daß Arbeitnehmer in die Sozialauswahl nicht einzubeziehen waren, „deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes im berechtigten betrieblichen Interesse liegt." Der Arbeitgeber konnte sich so mit dem Anliegen durchsetzen, nach Durchfuhrung eines Personalabbaus über eine nach Leistungsstärke und Altersstruktur gleichwertige Belegschaft zu verfugen. Neu eingefugt wurde in das Kündigungsschutzgesetz eine Vorschrift, nach der ein in einer Richtlinie nach § 95 Betriebsverfassungsgesetz enthaltenes Schema der Sozialauswahl nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden konnte. Nach dem Vorbild der Insolvenzordnung wurde allgemein festgelegt, daß bei einer Betriebsänderung nach § 111 Betriebsverfassungsgesetz die Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, in einem Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat namentlich bezeichnet werden konnten, auch hier mit der Folge, daß vermutet wurde, daß die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt war und eine Nachprüfung der Sozialauswahl nur auf grobe Fehlerhaftigkeit möglich war. befristete Arbeitsverträge wurden weiter erleichtert, insbesondere dadurch, daß eine Befristung ohne besonderen Grund bis zur Dauer von zwei Jahren (statt bis dahin 18 Monaten) möglich und eine allgemeine Klagfrist von drei Wochen für die Geltendmachung der Unwirksamkeit einer Befristung eingeführt wurde. In der Betriebsverfassung wurde, wiederum in Anlehnung an die Vorschriften der Insolvenzordnung, bestimmt, daß der Unternehmer im Falle von Betriebsänderungen den Interessenausgleich dann in ausreichendem Maße versucht hat, wenn er den Betriebsrat beteiligt hat und nicht innerhalb von zwei Monaten nach Beginn der Beratungen oder schriftlicher Aufforderung zur Aufnahme der Beratungen ein Interessenausgleich zustande gekommen ist. Auf diese Weise wurde die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gegenstandslos, nach der eine Betriebsänderung sanktionslos erst durchgeführt werden konnte, wenn alle im Gesetz vorgesehenen Verfahrensschritte für Betriebsänderungen durchlaufen waren, insbesondere auch das Verfahren vor der Einigungsstelle abgeschlossen war. Beträchtliche Verzögerungen an sich unabweisbarer Betriebsänderungen, zu denen es immer wieder gekommen ist, konnten auf diese Weise verhindert werden — eine Erleichterung, die von den betroffenen Unternehmen und ihren Beratern lebhaft begrüßt worden ist. Weitere wichtige Deregulierungen betrafen die Entgeltfort^ahlung im Krankheitsfall und das Urlaubsrecht Bei der Entgeltfortzahlung wurde eine Wartezeit von vier Wochen eingeführt, so daß der Arbeitgeber von den Kosten der Entgeltfortzahlung entlastet wurde, wenn ein gerade erst eingestellter Arbeitnehmer krankheitsbedingt ausfiel. Vor allem wurde die Entgeltfortzahlung auf 80 Prozent des bisherigen Arbeitsentgelts abgesenkt, mit einer entsprechenden Absenkung auch des Krankengeldes und der Möglichkeit der Kürzung von Sondervergütungen.

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Im Urlaubsrecht wurde dem Arbeitgeber die Möglichkeit gegeben, von je fünf Tagen, an denen der Arbeitnehmer infolge einer Kur an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, die ersten zwei Tage auf den Erholungsurlaub anzurechnen. Zur Seite zu stellen ist dem arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetz die Neuregelung des Arbeitsförderungsrechts durch das Sozialgesetzbuch III vom 24. März 1997. Es hat nicht nur eine gewisse Begrenzung der Leistungen an Arbeitslose gebracht und die Zumutbarkeitskriterien verschärft, sondern auch flexible Instrumente der Arbeitsförderung zur Verfügung gestellt, etwa die Möglichkeit der Flankierung von Sozialplänen durch die Bundesanstalt für Arbeit, den Eingliederungsvertrag, Trainingsmaßnahmen und eine flexiblere Gestaltung der Arbeitsverhältnisse im Rahmen von Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen. Nicht zu vergessen sind schließlich die Ende 1997 erfolgten Änderungen des Gesetzes über die betriebliche Altersversorgung und dort vor allem die Begrenzung der Verpflichtung zur laufenden Anpassung von Betriebsrenten auf jährlich ein Prozent. Man kann in dieser Ära auch vorsichtige Deregulierungsschritte der Rechtsprechung beobachten. Etwa hat das Bundesarbeitsgericht unabhängig von der Gesetzgebung versucht, den Spielraum des Arbeitgebers bei der Sozialauswahl im Rahmen betriebsbedingter Kündigungen zu erweitern und die Kontrolle der Befristung einzelner Bedingungen des Arbeitsvertrages, etwa von Zulagen oder bei der Zuweisung eines Arbeitsplatzes auf Zeit, zu begrenzen. Auch hat das Bundesarbeitsgericht, wiederum unabhängig von der durch das arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz eingeführten Regelung, eine Befugnis des Arbeitgebers anerkannt, Sondervergütungen bei Arbeitnehmern, die im Verlaufe des Kalenderjahres länger krank sind, zu kürzen. Auf der anderen Seite gab es auch neue Regulierungen, vornehmlich veranlaßt durch Richtlinien der EG. Das Nachweisgesetz vom 20. Juli 1995, nach dem bei allen Arbeitsverhältnissen die Arbeitsbedingungen schriftlich zu dokumentieren sind, ist dafür ein besonders fragwürdiges Beispiel.

4.

1998 bis 2002: Restauration und Neu-Kreation von Regulierungen

Der sozialpolitische Kernsatz der Koalitionsvereinbarung der 1998 an die Macht gekommenen rot-grünen Koalition lautete: „Die neue Bundesregierung wird umgehend dafür sorgen, daß unsoziale Einschnitte bei den Arbeitnehmerschutzrechten korrigiert werden". Als „Fehlentscheidungen" in diesem Sinne wurden unter anderem Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und die Chancengleichheit der Tarifvertragsparteien genannt.

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Folgerichtig war das erste arbeitsrechtliche Gesetz der rot-grünen Regierung ein Gesetz zu „Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte". Im Kündigungsrecht wurde der Schwellenwert für das Eingreifen des Kündigungsschutzgesetzes wieder auf fünf Arbeitnehmer gesenkt. Die Beschränkung der Sozialauswahl auf die sozialen Grunddaten: Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhaltspflichten wurde wieder aufgelöst. Nach dem Korrekturgesetz gilt nunmehr wieder die alte Formel, daß eine Kündigung trotz Betriebsbedingtheit dann sozial ungerechtfertigt ist, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers „soziale Gesichtspunkte" nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat. Der Gesetzgeber hat diese Rückkehr zur Generalklausel mit der nicht weiter belegten und angesichts der Kürze der Zeit, in der die Neufassung gegolten hatte, auch gar nicht belegbaren Behauptung begründet, die Begrenzung der Auswahlkriterien habe das Ziel, mehr Rechtssicherheit herzustellen und Kündigungen besser berechenbar zu machen, nicht erreicht. Umformuliert wurden auch wieder die betrieblichen Bedürfnisse, die den Arbeitgeber zur Durchbrechung der Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten berechtigten. Insbesondere die ausgewogene Personalstruktur ist nicht mehr genannt, so daß selbst zweifelhaft ist, ob der Arbeitgeber wenigstens darauf achten kann, daß die Alters struktur der Belegschaft auch im Fall eines notwendig werdenden umfangreichen Personalabbaus erhalten bleibt. Gestrichen wurde auch die Möglichkeit, in einem Interessenausgleich die Arbeitnehmer namentlich zu benennen, deren Entlassung unvermeidbarerweise erfolgen muß. Lediglich die Möglichkeit, Richtlinien für die Sozialauswahl in einer Betriebsvereinbarung mit der Folge festzulegen, daß die Sozialauswahl nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden kann, ist erhalten geblieben. Bei der Entgeltfortvphlmg im Krankheitsfall wurde zwar die Wartezeit von vier Wochen und die Möglichkeit der Kürzung von Sondervergütungen beibehalten. Im Kern ist man aber zum alten Recht zurückgekehrt. Insbesondere bestimmt § 4 des Entgeltfortzahlungsgesetzes wieder, daß dem Arbeitnehmer sechs Wochen lang 100 Prozent des ihm bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts fortzuzahlen ist. Auch die alte Fassung des § 10 Bundesurlaubsgesetz ist wieder hergestellt worden. Danach dürfen Kuren nicht mehr auf den Urlaub angerechnet werden, soweit ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung besteht. Gestrichen hat das Korrekturgesetz auch die Ziveimonatsfiistfiirdas Interessenausgleichsveifahren. Die schönfärbende Begründung lautet, daß bei Betriebsänderungen im Rahmen von Umstrukturierungsmaßnahmen, die sehr komplex sind mit weitreichenden Auswirkungen auf die Arbeitnehmer verbunden sein können, die zwei- bzw. dreimonatige Frist für das gesamte Interessenausgleichsverfahren einschließlich der Anrufung und Verhandlung vor der Einigungsstelle in aller Regel nicht ausreiche. Ausgeblendet worden ist damit der andere Gesichtspunkt, daß Interessenausgleichsverfahren vom Betriebsrat auch in die Länge gezogen und so als Druckmittel benutzt werden können, um Sozialplanleistungen durchzusetzen, die über den gesetzlichen Rahmen hinausreichen.

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Keine Änderung hatte der Gesetzgeber nur an den arbeitsrechtlichen Regelungen der Insolvenyordnung vorgenommen - mit dem fragwürdigen Ergebnis, daß die Insolvenz infolge des beträchtlichen Gefälles der Regulierungen inzwischen arbeitsrechtliche Attraktivität entfaltet. Unabhängig von der Korrektur der Deregulierungen der Kohl-Ära hat die Regierung Schröder in den vergangenen Jahren eine Reihe neuer Regulierungen eingeführt. Als erste Schritte zu nennen sind die Bestimmungen zu einem neuen Beschäftigtenbegriff im Sozialrecht und die Beschränkungen der Möglichkeit geringfiigiger und kurzfristiger Beschäftigung. Diese werden, ganz abgesehen von ihren Komplikationen, mit zunehmender Geltungsdauer und zunehmender Inflation immer spürbarer: Da der Höchstbetrag des Entgelts in beiden Fällen auf 325 Euro festgeschrieben ist, verengt sich der Spielraum solcher Beschäftigungen immer mehr. Er dürfte heute schon, gerechnet in Preisen von 1999, unter 300 Euro liegen. Ein zweiter Regulierungsschritt war die Einführung des Schriftformerfordernisses für Kündigungen, Aufhebungsverträge und Befristungen durch ein am 1. Mai 2000 in Kraft getretenes Gesetz. Den eigentlichen Regulierungsschub aber hat das Teilzeit- und Befristungsgeset% vom 21. Dezember 2000 gebracht. Es schränkt die Möglichkeit der Befristung von Arbeitsverträgen ohne besonderen Grund beträchtlich ein, indem es sie ausschließt, wenn mit demselben Arbeilgeber „bereits zuvor" ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat. Selbst wenn man der herrschenden Meinung nicht folgt, die für das „zuvor" ausreichen läßt, daß irgendwann einmal, und sei es auch vor 30 Jahren, zwischen demselben Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer ein Arbeitsvertrag geschlossen war, und statt dessen etwa auf die Verjährungsfristen abhebt, bleiben doch viele Fälle, in denen bisherige flexible Arbeitsvertragsgestaltungen ausgeschlossen werden. Dies gilt insbesondere für Nebenbeschäftigungen, etwa solche, die von der noch bestehenden Sozialversicherungsfreiheit im Bereich kurzfristiger Beschäftigungen Gebrauch machen. Gravierender noch sind die neuen Teil^eitarbeitsregelungen, vor allem der Anspruch auf Teilzeitarbeit und der Anspruch von Teilzeitbeschäftigten auf Verlängerung ihrer Arbeitszeit: Nach § 8 des Gesetzes kann jeder Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate bestanden hat, verlangen, daß seine vertragliche Arbeitszeit verringert wird. Irgendwelche Begrenzungen dieses Rechts dem Umfange nach sind nicht vorgesehen. Der Arbeitnehmer muß nur die gewünschte Verteilung der Arbeitszeit angeben. Zwar kann der Arbeitgeber die Verringerung der Arbeitszeit verweigern, wenn betriebliche Gründe entgegenstehen. Aber er muß das schriftlich begründen und muß bei einer Ablehnung einer gerichtlichen Auseinandersetzung über die Verkürzung entgegensehen. Auch können die Gründe für die Ablehnung Gegenstand tariflicher Regelungen und damit auch Gegenstand tariflicher Auseinandersetzungen werden. Auf der anderen Seite können Arbeitnehmer nach § 9 des Gesetzes nunmehr den Wunsch nach einer Verlängerung ihrer vertraglichen vereinbarten Arbeitszeit

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dem Arbeitgeber anzeigen, mit der Folge, daß sie bei der Besetzung eines entsprechenden freien Arbeitsplatzes bei gleicher Eignung bevorzugt zu berücksichtigen sind, wenn nicht dringende betriebliche Gründe oder Arbeitszeitwünsche anderer teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer entgegenstehen. Die Möglichkeit, freie Vollzeitarbeitsplätze mit externen Bewerbern zu besetzen, wird dadurch stark eingeschränkt. Schon fast einen Sprung in mehr Regulierung stellt das BetriebsveifassungsrechtsReformgeset^ vom 23. Juli 2001 dar. Zuerst enthält es eine Reihe von Erweiterungen der Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte des Betriebsrats: Neu mitbestimmungspflichtig sind nach § 87 Nr. 13: „Grundsätze über die Durchßhrung von Gruppenarbeit'. Gruppenarbeit liegt danach vor, wenn im Rahmen des betrieblichen Arbeitsablaufs eine Gruppe von Arbeitnehmern eine ihr übertragene Gesamtaufgabe im wesentlichen eigenverantwortlich erledigt. Mit diesem Mitbestimmungsrecht soll der Betriebsrat die Möglichkeit erhalten, gegen Gruppendruck, Selbstausbeutung und Ausgrenzung leistungsschwächerer Arbeitnehmer vorzugehen. Gegenstand der zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber, notfalls von der Einigungsstelle, zu treffenden Vereinbarungen sollen etwa eine Gruppensprecherwahl, Gruppengespräche, Konfliktlösungsmechanismen und Schutz leistungsschwächerer Arbeitnehmer sein. Das Mitbestimmungsrecht zielt nicht nur auf Projektgruppen und Steuerungsgruppen, sondern auch auf Arbeitsabläufe, die in teamorientierter Arbeit zusammengefaßt werden. Ob teamorientierte Arbeit unter diesen Umständen für Unternehmen und Führungskräfte attraktiv bleibt, muß man bezweifeln. Die neue Vorschrift des § 92a gibt dem Betriebsrat ohne Rücksicht auf die Größe des Betriebes ein Vorschlagsrecht für Maßnahmen der Beschiifiigungssicherung. Er kann Vorschläge zur flexiblen Gestaltung der Arbeitszeit, der Förderung von Teilzeitarbeit und Altersteilzeit, neue Formen der Arbeitsorganisation, Änderungen der Arbeitsverfahren und der Arbeitsabläufe, Qualifizierung der Arbeitnehmer, Alternativen zur Ausgliederung von Arbeit oder ihrer Vergabe an andere Unternehmen sowie zum Produktions- und Investitionsprogramm machen. Für diese Vorschläge besteht zwar kein Mitbestimmungsrecht, wohl aber eine Beratungspflicht des Arbeitgebers, wobei er oder der Betriebsrat auch einen Vertreter des Arbeitsamts oder des Landesarbeitsamts zuziehen kann. Zusätzlich wird der Arbeitgeber in Betrieben mit mehr als 100 Arbeitnehmern verpflichtet, schriftlich zu begründen, wenn er die Vorschläge des Betriebsrats für ungeeignet hält. Nach einem neuen § 97 Abs. 2 steht dem Betriebsrat nunmehr bei einer Änderung technischer Anlagen, Arbeitsverfahren, Arbeitsabläufe oder Arbeitsplätze, die dazu führt, daß sich die Tätigkeit der betroffenen Arbeitnehmer ändert und ihre bisherigen beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht mehr ausreichen, dem Betriebsrat ein auch als Initiativrecht aufzufassendes Mitbestimmungsrecht bei der Einfiihrung von Maßnahmen der Berufsbildung zu. Wenn eine Einigung nicht zustande kommt, entscheidet auch hier die Einigungsstelle. Ob dieses Mitbestimmungsrecht auch die Freistellung der Arbeitnehmer für solche Bildungs- und Umschulungsmaßnahmen sowie deren Kosten meint, ist streitig. Ein Vorbehalt,

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daß die Arbeitnehmer vorrangig oder anteilig andere Qualifikationswege nutzen müssen, etwa solche, die das Arbeitsamt anbietet, wird jedenfalls nicht gemacht. Dieses Mitbestimmungsrecht ist auch beschäftigungspolitisch nicht unproblematisch. Denn es kann dazu fuhren, daß ein Unternehmen statt einer Teiltechnisierung bestimmter Arbeitsabläufe eine auch mögliche Volltechnisierung wählt, wenn diese angesichts der Kostenbelastung aus dem Mitbestimmungsrecht finanziell günstiger erscheint. Nach § 99 Abs. 2 Nr. 3 gilt als Nachteil, dessentwegen der Betriebsrat die Zustimmung zu einer Einstellung verweigern kann, nunmehr auch die Nichtberücksichtigung von bislang befristet Beschäftigten bei unbefristeten Einstellungen. Der Betriebsrat kann so künftig die Einstellung externer Bewerber auf freie Arbeitsplätze blockieren, wenn befristete Aushilfen oder 630-Mark-Kräfte unbefristete Einstellung verlangen. An sich entspricht es unter Kundigen allgemeiner Meinung, daß die zunehmende Beschleunigung der Abläufe der Wirtschaft zu einer Beschleunigung auch der Mitwirkungs- und Mitbestimmungsprot^esse in der Betriebsverfassung drängt. Insbesondere geht es nicht an, daß mit Maßnahmen, die der Mitbestimmung unterliegen, auch in ganz dringenden Fällen einfach zugewartet werden muß, bis notfalls eine Einigungsstelle entschieden hat. Bislang fehlen aber zeitliche Befristungen der Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte und die Befugnis des Arbeitgebers, in dringenden Fällen vorläufige Regelungen zu treffen. Vor einigen Jahren sind die Bertelsmann- und die Böckler-Stiftung in einer groß angelegten Untersuchung zu dem Ergebnis gekommen, daß die an sich wünschenswerte Einbeziehung von Klein- und Mittelbetrieben in die Betriebsverfassung nur gelingen kann, wenn der Gesetzgeber für diese eine ihrer Struktur angepaßte Organisationsform zur Verfugung stellt und bei ihnen das Schwergewicht der Beteiligungsrechte von den Mitbestimmungsrechten auf die Mitwirkungsrechte verlagert. Diesen Ansatz einer differenzierten Betriebsverfassung negiert das Reformgeset% Man muß sogar sagen, daß es eher zur Einebnung der Abstufung beiträgt, die bisher noch durch die Schwellenwerte von 20 Arbeitnehmern bei der Mitbestimmung, bei Einstellungen und Versetzungen und bei der Mitwirkung und Mitbestimmving bei Betriebsänderungen bestehen. Einmal wird der Anknüpfungspunkt für diese Mitbestimmungsrechte weg vom Betrieb auf das Unternehmen verlagert, so daß Unternehmen mit mehreren kleinen Betrieben von diesen Vorschriften künftig erfaßt werden, wenn sie insgesamt die Zahl von 20 Arbeitnehmern überschreiten. Zum anderen muß man an die weitere Ausbreitung der Teilzeitarbeit denken: Das Betriebsverfassungsgesetz stellt bei den erwähnten Schwellenwerten auf die Zahl der Köpfe ab, so daß Teilzeitbeschäftigte, ja geringfügig Beschäftigte, gleichviel zählen wie Vollzeitbeschäftigte. Mehr Teilzeitbeschäftigung führt deshalb zu einer schleichenden Einebnung dieser Schwellenwerte. Dabei kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß der erwähnte Teilzeitanspruch in Grenzfällen gezielt eingesetzt wird, um die Schwellenwerte zu überschreiten.

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Daß das Betriebsverfassungs-Reformgesetz durch die Vermehrung der Zahl der Betriebsräte und die Vermehrung der Freistellungen zu weiteren Kostenbelastungen fuhrt, die besonders mittlere Unternehmen treffen, ist im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens bereits vielfach diskutiert worden. Aufmerksam gemacht werden muß auf eine weitere Vorschrift, die eine zusätzliche kostenträchtige Regulierung enthält: Nunmehr kann der Betriebsrat in Unternehmen mit mehr als 300 Arbeitnehmern bei jeder Betriebsänderung einen Berater, etwa einen Wirtschaftsprüfer oder Rechtsanwalt, aber auch einen Gewerkschaftsfunktionär zuziehen. Diese Personen werden selbstverständlich nicht umsonst, sondern nur gegen Vergütung tätig. Man erörtert in der Literatur schon, inwieweit die Gebührenordnungen für Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer usw. anzuwenden sind. War es bisher so, daß im Falle von Betriebsänderungen nur ausnahmsweise, nämlich, wenn es zu einem Einigungsstellenverfahren kam, zusätzliche Verfahrenskosten anfielen, wird das künftig die Regel sein. Einzig die Insolvenzverwalter haben ein kleines Gegenmittel: Sie können darauf hinweisen, daß die Kosten des Beraters auch das Drittel der Insolvenzmasse schmälern, das für den Sozialplan zur Verfügung steht. Das Betriebsverfassungs-Reformgesetz hat auch den Kündigungsschutz erweitert. Die ordentliche Kündigung von Betriebsratsmitgliedern und Wahlvorstandsmitgliedern war bekanntlich schon bisher für bestimmte Zeiträume nicht möglich. Jetzt ist auch die ordentliche Kündigung der Arbeitnehmer ausgeschlossen, die zu einer Wahlversammlung einladen oder die Bestellung eines Wahlvorstands beim Arbeitsgericht beantragen. Dieser Kündigungsschutz läuft bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses und, wenn es zu einem Wahlergebnis nicht kommt, für einen Zeitraum von drei Monaten. Geschützt werden die ersten drei in der Einladung oder Antragstellung aufgeführten Arbeitnehmer. Dabei ist es auch nicht ausgeschlossen, daß nacheinander oder nebeneinander mehrere solche Einladungen oder Antragstellungen erfolgen. Praktisch kann so in kleineren Betrieben die ordentliche Kündigung eines beträchtlichen Teils der Arbeitnehmer unmöglich gemacht werden. Das Reformgesetz erweitert die Möglichkeiten tarifvertraglicher Tkegelung der Organisation der Betriebsverfassung erheblich. Nach der Neufassung des § 3 BetrVG können andere Arbeitnehmervertretungsstrukturen geschaffen werden, soweit dies aufgrund der Betriebs-, Unternehmens- oder Konzernorganisation oder aufgrund anderer Formen der Zusammenarbeit von Unternehmen zweckmäßig ist. Weiter sind zusätzliche betriebsverfassungsrechtliche Gremien (Arbeitsgemeinschaften) möglich, die der unternehmensübergreifenden Zusammenarbeit von Arbeitnehmervertretungen dienen. Die Gesetzesbegründung versteht das dahin, daß durch Tarifvertrag Arbeitnehmervertretungen entlang der Produktionskette und regionale Vertretungen geschaffen werden können. Letzteres kann dazu führen, daß für kleinere Unternehmen einer Branche in einer Region zusätzlich zu den bestehenden Betriebsräten eine Art Gesamtbetriebsrat geschaffen wird. Die Arbeitgeberverbände werden sich darauf einstellen müssen, daß in künftigen Tarifverhandlungen entsprechende Betriebsverfassungstarifverträge gefordert und

264

Manfred Löwisch

durchgesetzt werden. Das ist um so gravierender, als die Bremse, die für solche Tarifverträge bislang dadurch bestand, daß diese der staatlichen Zustimmung bedurften, aufgegeben worden ist. Das erwähnte Korrekturgesetz hat das schon von der Vorgängerregierung geschaffene Arbeitnehmerentsendegeset^ verschärft. Nach ihm können inzwischen in der Bauindustrie die Arbeitsentgelte der Bautarifverträge per Rechtsverordnung für alle Unternehmen, auch ausländische, für allgemeinverbindlich erklärt werden. Dem zur Seite zu stellen ist der Plan, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, die es ermöglicht, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge (nicht nur von Bauaufträgen!), dem Unternehmer eine sogenannte Tariftreueerklärung abzuverlangen, die ihn verpflichtet, die am Arbeitsort geltenden tariflichen Arbeitsbedingungen zu übernehmen. Das entsprechende Gesetz ist im Bundesrat vorerst gescheitert. An der immer dichteren Regulierung hat auch die Hart^-Kommission kaum gerührt. Ihre Vorschläge sparen das Arbeitsrecht weitgehend aus. Erleichterung geringfügiger Beschäftigungen im Bereich privater Haushalte, Tariföffnungsklauseln im Recht der Arbeitnehmerüberlassung und erleichterte Befristung von Arbeitsverträgen mit über 52jährigen sind die einzigen Stichworte, die man findet. Vollends dem arbeitsrechtlichen Immobilismus verschrieben hat sich die Koalitionsvereinbarung der knapp wiedergewählten rot-grünen Bundesregierung vom 16. Oktober 2002. Deren Abschnitt „Arbeit" nennt kein Einziges arbeitsrechtlichen Gesetzesvorhaben.

II.

Regulierung und wirtschaftlicher Wandel

Die Abkehr der Schröder-Regierung von den Deregulierungsschritten der KohlRegierung und noch mehr das Einschlagen eines Pfades vermehrter Regulierungen, wie er insbesondere am Teilzeit- und Befristungsgesetz und am Betriebsverfassungs-Reformgesetz deutlich wird, steht im seltsamen Kontrast dem wirtschaftlichen Wandel, dem sich die deutsche Wirtschaft gegenübersieht: Technisierungsgrad, fortschreitende Arbeitsteilung, Intensivierung des Kapitaleinsatzes, Anstieg der Produktivität und die Verlagerung zu den Diensdeistungen erfordern ein hohes Maß an betriebsinterner und unternehmensinterner Flexibilität, das zu erreichen starre und dichtere gesetzliche Regulierungen nicht erleichtern, sondern erschweren. Noch weniger paßt ein Mehr an Regulierungen zum Wandel der Märkte. Das moderne Transportwesen und die einfachen und schnellen Kommunikationsmittel machen Güter, Dienstleistungen und Informationen weltweit verfügbar. Sie sind damit auch leicht auszutauschen und miteinander zu verknüpfen. Dem daraus folgenden Druck auf eine Öffnung der Märkte trägt deren Ordnung inzwischen weitgehend Rechnung. Der Güter- und Diensdeistungsverkehr in der Europäischen Union ist heute praktisch frei. Die gemeinsame europäische Währung hat eines der letzten praktischen Hemmnisse aus dem Weg geräumt. Aber auch in

Regulierung statt Deregulierung

265

der Weltwirtschaft besteht heute ein früher nicht gekanntes Maß an Freiheit des Güter- nnd Dienstleistungsverkehrs. Güter und Diensdeistungen sind damit weitgehend dem globalen Wettbewerb ausgesetzt. Wollen sie Erfolg haben, müssen sie qualitativ und preislich konkurrenzfähig sein. Ob sie solche Konkurrenzfähigkeit erreichen, hängt wesentlich auch von Qualität und Kosten der Arbeit ab. Dem muß sich der nationale Arbeitsmarkt elastisch anpassen können. Auch der Wettbewerb um die Standorte von Produktion und Diensdeistungen ist heute in der Europäischen Union und darüber hinaus in der ganzen Welt im wesentlichen frei. In der Europäischen Union herrschen rechtlich Niederlassungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit. Aber auch die Volkswirtschaften außerhalb der Europäischen Union sind nicht mehr, wie das früherer, vom Autarkiegedanken getragener Mentalität entsprach, auf Abschottung gegen, sondern vielmehr auf Anziehung ausländischer Unternehmen angelegt. Und der Kapitalverkehr als weitere Voraussetzung des Standortwettbewerbs ist ohnehin auch weltweit im wesentlichen frei und entwickelt sich rasch. Zudem ist die heutige Wirtschaft von einem starken Konzentrationsprozeß geprägt. Nationale und internationale Unternehmenszusammenschlüsse sind an der Tagesordnung. Rationalisierungsreserven und Synergieeffekte sollen auf diese Weise ausgeschöpft werden. Auch diese Phänomene erfordern flexible, von Regulierungen möglichst freie Reaktionsmöglichkeiten. Nicht zuletzt muß sich die deutsche Betriebsverfassung den Vergleich mit den Organisationsformen wirtschaftlichen Handelns in anderen Ländern gefallen lassen. Dabei begegnen die ausgeprägten Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte und die damit verbundenen, unter Umständen langwierigen, Verfahren beträchtlicher Zurückhaltung, zumal die Erfahrung in anderen Ländern zeigt, daß betriebliche Zusammenarbeit auch ohne institutionalisierte Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte funktionieren kann. Wirtschaftspolitisch gesehen ist der von der Arbeitsrechtspolitik eingeschlagene Weg weiterer Regulierungen deshalbfalsch. Diese Erkenntnis ist durchaus verbreitet. Es sei nur darauf verwiesen, daß der Deutsche Juristentag 2000 in Leipzig ein Konzept weiterführender Deregulierungen verabschiedet hat. Der Gesetzgeber hat dieses Konzept bislang freilich kaum zur Kenntnis genommen, jedenfalls bislang keinen einzigen Vorschlag aufgegriffen, sondern ist unbeirrt den Regulierungsweg weitergegangen. Das ist um so mehr zu kritisieren, als Deutschland inzwischen ein deutlich niedrigeres Wirtschaftswachstum aufweist als andere vergleichbare Länder. Die Frage, ob dieses Hinterherhinken nicht auch mit der im Vergleich zu anderen Ländern stärkeren Regulierung zusammenhängt, darf nicht einfach ausgeblendet werden, zumal auch Forschungsinstitute und internationale Institutionen immer wieder mehr Elastizität für den deutschen Arbeitsmarkt fordern. Ich verweise nur auf den Bericht der OECD aus dem Jahre 2001, der in diesem Zusammenhang ausdrücklich die neuen Teilzeit- und Befristungsregelungen kritisiert hat.

266

III.

Manfred Löwisch

Regulierung und Freiheitsgedanke

Gerade in einer Bernhard Külp gewidmeten Festschrift muß auf einen weiteren Aspekt hingewiesen werden: Regulierungen in Form zwingender Gesetzesbestimmungen, aber auch in Form der Uberantwortung von Entscheidungen an außerbetriebliche Entscheidungsinstanzen, wie die Einigungsstelle oder die Tarifvertragsparteien, stehen in einem Spannungsverhältnis zum Freiheitsgedanken, der nach den Ordnungsvorstellungen der Freiburger Schule, aber letztlich auch nach den Ordnungsvorstellungen des Grundrech tskat^logs unserer Verfassung auch die Wirtschaft prägen soll. Natürlich bedarf das Arbeitsrecht zum Schutz der Arbeitnehmer der zwingenden Vorschriften. Aber zwingendes Recht darf es nur soweit geben, wie dieser Schutz wirklich notwendig ist und wie nicht die Freiheit der Arbeitnehmer selbst wie die der Unternehmer unverhältnismäßig beeinträchtigt wird. Diese verhältnismäßige Zuordnung von Freiheit und Schut£ verfehlt die Arbeitsrechtspolitik der letzten Jahre: Zu aller erst geht sie an dem sich wandelnden Selbstverständnis der Arbeitnehmer vorbei. Diese wollen die von ihnen zu leistende Arbeit mitgestalten und über die Bedingungen ihrer Tätigkeit selbst bestimmen. Es gibt, besonders deutlich in Fragen der Arbeitszeit, ein Bedürfnis nach Individualisierung der Arbeitsbedingungen und damit einhergehend eine Skepsis gegenüber Reglementierungen durch Tarifvertragsordnung, Betriebsverfassung und Gesetz. Dem wird vor allem das Betriebsverfassungs-Reformgesetz nicht gerecht. Ich erinnere nur an die geschilderte geradezu ängstliche Gängelei gegenüber teamorientierter Arbeit. Warum sollen durch den Betriebsrat Gruppensprecherwahlen, Gruppengespräche und Konflikdösungsmechanismen verordnet werden können, und wird es nicht den Arbeitnehmern überlassen, sich selbst zu organisieren? Warum wird der Versuch gemacht, auf allen nur denkbaren Wegen die Bildung von Betriebsräten durchzusetzen und damit der Belegschaft die Freiheit zu nehmen, sich gegen die Wahl eines Betriebsrats zu entscheiden? Warum müssen neue Organisationsformen durch Tarifverträge vorgeschrieben und dürfen nicht von den Belegschaften selbst entwickelt werden? Daß sich in den letzten Jahren das Selbstverständnis der Betriebsräte weiterentwickelt hat, ihre Einsicht in technische und wirtschaftliche Abläufe gestiegen und ihre Verantwortungsbereitschaft gewachsen ist, honoriert der Entwurf des Betriebsverfassungs-Reformgesetzes auch nur sehr beschränkt. Größere Freiheitsspielräume erhalten die Betriebsräte nur gegenüber dem Arbeitgeber, etwa durch das Initiativrecht in Fragen der Beschäftigungssicherung und der Berufsbildung. An ihrer Nachordnung hinter die Tarifvertragsparteien soll sich nichts ändern. Deren Organisationsentscheidungen sollen denen der Betriebspartner nach wie vor vorgehen. Auch bei der Regelung der Arbeitsbedingungen bleiben ihnen die Hände gebunden, selbst wenn ein Tarifvertrag aktuell gar nicht gilt. Nicht einmal die Verantwortung für ein Kostenbudget traut man dem Betriebsrat zu. Immer noch muß er jede kostenwirksame Aktion einzeln mit dem Arbeitgeber abrechnen, obwohl doch ein einmal im Jahr zu vereinbarendes Budget unendlich viel einfacher zu handhaben wäre.

Regulierung statt Deregulierung

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Die Freiheit lebt auch von der Freiheit der im Wettbewerb stehenden Unternehmer. Dabei ist ein angesichts der weithin mittelständisch geprägten Struktur der deutschen Wirtschaft besonders wichtiges Kapitel die Unternehmelfreiheit kleinerer und mittlerer Unternehmen. Auf sie nimmt die Regulierungspolitik keine Rücksicht. Auch sie werden den neuen Befristungsregelungen und ab einer Betriebsgröße von 15 Arbeitnehmern dem Teilzeitanspruch unterworfen. Das differenzierte, bis in die Einzelheiten ausgeformte, auf Großbetriebe und Großunternehmen zugeschnittene Modell des Betriebsverfassungsgesetzes, das noch ausgebaut wird, bleibt ihnen übergestülpt.

IV. Fazit So lautet das Fazit: Die deutsche Arbeitsrechtspolitik ist ordnungspolitisch gesehen nicht auf der Höhe der Zeit. Sie wird dem Bedürfnis nach freierer Gestaltung der Wirtschaft und größerer Verantwortlichkeit der in ihr Tätigen nicht gerecht. Sie hat damit auf ein konstituierendes Element wirtschaftlichen Fortschritts verzichtet und ohne Not den Freiheitsgedanken aus einem wesentlichen Bereich menschlichen Handelns ausgesperrt. Das wird auf die Dauer nicht gut gehen.

Die Arbeitslosenversicherung zwischen Markt und Staat E/ke Gundel / Christoph Kannengießer1

„Die Hauptsache muß als Hauptsache behandelt werden. Vermeidung der Arbeitslosigkeit ist ein zentrales Problem der Wirtschaftspolitik auch im Hinblick auf die Erhaltung der Freiheit — heute ganz besonders."2 Wie kaum zuvor müßte die Aussage Euckens aus dem Jahr 1952 im Mittelpunkt der Reformen des Arbeitsmarktes stehen. Nach über 50 Jahren sozialer Marktwirtschaft und über 30 Jahren treppenförmigen Anstiegs der Arbeitslosigkeit zeigt sich überdeutlich, daß die Institutionen des Arbeitsmarktes nicht ausreichend dazu beitragen, die Beschäftigungsprobleme zu lösen und, da sie den Interessen der Marktbeteiligten nicht mehr Rechnung tragen, nicht mehr legitimiert sind.3 Wir gehen davon aus, daß die Verfassung des Arbeitsmarktes seine Leistungsfähigkeit bezüglich der Vermeidung und/oder des Abbaus von Arbeitslosigkeit entscheidend bestimmt. Eine Analyse der gegenwärtigen Arbeitsmarktordnung zeigt, daß der Arbeitsmarkt mittels staatlicher Interventionen immer stärker zu einem wettbewerblichen Ausnahmebereich in der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnving gemacht wurde.4 Die Folge der jahrzehntelangen Kollektivierung individueller Risiken auf dem Arbeitsmarkt ist der immer lauter zu vernehmende Ruf nach einer HandlungsVerpflichtung des (Wohlfahrtsstaates. „Gerade dies gilt auch für die Ideen, welche die heutige Wirtschafts- und Sozialpolitik beherrschen ... Es bewegt sich also [... die] Wirtschaftspolitik der Sozialisierung und Verstaatlichung in eine Richtung, welche die Abhängigkeit und Unfreiheit vergrößert und hiermit unsere heutige soziale Frage noch ernster macht."5 Entsprechend ist die Geschichte der Arbeitslosenversicherung eine Geschichte der Expansion sowohl hinsichtlich des Versichertenkreises als auch der übertragenen Aufgaben und der Finanzmasse, welche durch diese bewegt wird.6

1 Dieser Beitrag gibt ausschließlich die Meinung der Autoren wider. 2 Eucken (1990), S. 323. 3 Vgl. ausfuhrlich Görgens (1997), S. 385 ff.; Geue/Weber (1998), S. 288 f. 4 Vgl. bereits die Ausfuhrungen bei Eucken (1990), S. 321 ff. Mit Eucken ist jedoch der zentrale Ausgangspunkt darin zu sehen, daß die menschliche Arbeit, -wie jede andere (Dienst)Leistung, eine tauschbare Leistung ist: „Der Arbeiter verkauft sich nicht als Person, er verkauft seine Leistung." Demnach ist das „Ob" des marktlichen Tausches von Arbeit nicht zu bestreiten, sondern um das „Wie" der richtigen Ordnung zu ringen; zitiert nach Rieble (2000), S. 199. s Eucken (1948), S. 120 ff. « Vgl. Amann (1993), S. 1.

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Elke Gundel/Christoph Kannengießer

Zentral ist die Erkenntnis, daß der Arbeitsmarkt seine Anpassungsfähigkeit an externe und interne Veränderungen größeren Ausmaßes verloren hat. Hierfür gibt es vielfältige Ursachen.7 Sie reichen von der hohen Regulierungsdichte über den Einfluß staatlicher Verteilungsmechanismen auf das Marktverhalten der Akteure bis hin zum Lohnfindungsprozeß. Bei der Gestaltung der Arbeitsmärkte muß indes eine solche Ordnung gefunden werden, welche die Anpassungsfähigkeit wieder deutlich erhöht. Es liegt auf der Hand, daß sich mit Einzelmaßnahmen allein Vollbeschäftigung nicht wieder herstellen läßt.

1.

Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland

In den 60er Jahren war — nach einer hohen kriegsbedingten Arbeitslosigkeit in der Anfangsphase der Bundesrepublik Deutschland — die Arbeitslosenquote auf unter 1 Prozent gesunken, was den Sachverständigenrat unter Herbert Giersch veranlaßte, erst dann von Vollbeschäftigung zu sprechen, wenn die Arbeitslosenquote geringer als 0,8 Prozent ist.8 Zuvor sprach man bereits von Vollbeschäftigung, wenn die Arbeitslosenquote die 3-4 Prozentmarke unterschritt. Mitte der 70er Jahre überstieg die Arbeitslosenzahl erstmals die Millionengrenze, sank jedoch konjunkturbedingt wiederum auf 800 000 zu Beginn der 80er Jahre, um dann 1983 bereits die Zwei-Millionen-Grenze zu erreichen. Seither fiel die Arbeitslosigkeit auch in Zeiten der Hochkonjunktur nur geringfügig, sie verharrte auf hohem Niveau und stieg in Zeiten der Rezession bis nahezu 3 Millionen in den westlichen Teilen Deutschlands an. Im gesamten Bundesgebiet stieg sie 1998 sogar zeitweise auf über 4,8 Millionen und seit Ende 2002 wieder weit über die Vier-Millionen-Grenze. Dominierte zu Beginn der 70er Jahre noch die konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit, nahm die Bedeutung der strukturellen Arbeitslosigkeit bereits im Verlauf der 70er Jahre deutlich zu. Heute bestimmt diese in erster Linie die Arbeitslosigkeit in Deutschland: Jeder Konjunkturzyklus weist eine höhere durchschnittliche Arbeitslosigkeit auf als der vorherige. Nach der Wiedervereinigung gab es zwar einen Niveausprung für das gesamte Bundesgebiet, der Trend zeigt aber auch für die alten Bundesländer unverändert nach oben.9 Dementsprechend kann über den gesamten Zeitraum auch ein signifikanter Anstieg des Anteils der Langzeitarbeitslosen beobachtet werden: Die Quote verläuft ähnlich wie die Entwicklung der gesamten Arbeitslosenquote (vgl. Abb. I).10

7

Einen eindrucksvollen Überblick gab hierfür die Abschiedsvorlesung von Prof. Dr. Külp jrArbeitsmarktungleichgewicht: Diagnose - Therapie" am 05. Februar 2001 in Freiburg. 8 Vgl. Sachverständigenrat (1967/68), S. 128. 9 Vgl. Külp (1996); Knappe (1998), S. 168 ff.; Glismann/Schrader (2000), S. 1. Böckenförde (1991), S. 112.

296

Rainer Hank

der Gesellschaft reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben." 21 Der liberale Staat garantiert den Rahmen für funktionierende Märkte. Rechnet er etwa mit der Gefahr, daß die Akteure mit Kartellen und Monopolen den Wettbewerb zu Lasten des Verbrauchers behindern, kann er mit seiner Autorität eine Kartellbehörde einrichten, damit der Wettbewerb ungehindert in Gang kommt. Aber eine Vertrauensbehörde? Das wäre ein Widerspruch, eben weil Vertrauen nicht erzwingbar ist. Der Staat — schon gar nicht der Markt — kann von sich aus das Vertrauen in seine Regeln — in seine Grammatik — begründen. Die moralischen Institutionen müssen somit endehnt werden. Von woher? Neben der Familie (s. o.) kommt die Religion in Frage. Denn es gehört zum Glaubensbestand aller großen monotheistischen Religionen, daß Gott mit dem Vertrauen angefangen hat: durch seine Schöpfung. Nur mit einer solchen anfanglichen Vertrauens-Setzung, so die theologische Sprache, kommt Geschichte (religiös gesprochen: Heilsgeschichte) überhaupt in Gang. Weil Gott sich über die spieltheoretischen Bedenken David Humes hinwegsetzt, kann der Mensch dieses Vertrauen erwidern. Nach christlichem Glauben ist Gott sogar ein zweites mal bereit, mit dem Vertrauen anzufangen - nachdem die Menschen Vertrauen verspielt haben. Schöpfung und Erlösung sind die weltgeschichtlichen Anfänge einer Vertrauensdynamik. Die Dynamik der Reziprozität ist damit in Gang und Vertrauen, "im Prinzip", möglich. Mit anderen Worten: Am Beginn moralischer Institution steht die Religion. Die Grammatik des kapitalistischen Wirtschaftens hat religiöse Wurzeln.

6.

Beide Welten

Die theologische Voraussetzung einer auf Vertrauen gründenden Marktgesellschaft wurde längst camoufliert und seine manifesten religiösen Ursprünge verschleiert. Vertrauen hat seinen religiösen Ursprung verwischt. Es überlebt indessen als Säkularisat. John Maynard Keynes hat — ausweislich der Tagebücher seiner BloomsburyFreundin Virginia Woolf — scharfsinnig beschrieben, welchen Vorteil eine nachchristliche Gesellschaft von solchen Säkularisaten zieht. In ihrem Tagebuch notiert Virginia Woolf am 19. April 1934 unter dem Stichwort Moralität: „Keynes sagte, er werde einen Teufel tun, das Christentum zu zerstören. Denn ohne Christentum gebe es auch keine Moral. 'Ich fange an zu erkennen, wieviel unsere Generation, Ihre und meine, der Religion unserer Väter schulden. Die Jungen, die ohne sie aufgewachsen sind, werden nie mehr soviel vom Leben haben. Sie

Böckenförde (1991), S. 113; vgl. Egle (2002).

Wieviel Vertrauen braucht der Kapitalismus?

297

leben trivial, wie Hunde mit ihren Trieben. Wir aber hatten das Beste beider Welten: Wir zerstörten das Christentum und behielten seine Wohltaten."22 Der Hinweis auf die theologischen Ursprünge der Grammatik des Kapitalismus mag auf den ersten Blick überraschen. Denn Ökonomie und Religion sind einander fremde Welten. Die Ökonomie der Moderne (Adam Smith) ist ein Kind der Aufklärung. Diese Aufklärung (Locke, Hume) hatte es sich zum Ziel gesetzt, den irrationalen Gehalt des religiösen Glaubens zu enttarnen. Aufgeklärte, rationale Menschen konnten, nach der Überzeugung der Aufklärung, nicht zugleich religiöse Menschen sein. Anders als Keynes war die Aufklärung der Uberzeugung, daß das moralische Erbe der Religion für Wachstum und Wohlstand nur schädlich, nicht förderlich sei. Die Geschichte kam dem entgegen: Im Prozeß von Säkularisierung und Urbanisierung ging die Religiosität zurück. Empirisch zeigte sich überall: Im Maß des wirtschaftlichen Fortschritts geht zugleich die Religiosität der Menschen zurück. Entwickelte Industriegesellschaften sind säkulare Gesellschaften. Dadurch entstand der Anschein, als ob nicht nur ein historischer, sondern auch ein logischer Zusammenhang bestünde: Religion hält die Menschen vom Diesseits ab und lenkt ihr Interesse auf das Jenseits. Sie hält sie vom Arbeiten ab und bringt sie zum Beten. Alles keine wachstumsfördernden Tätigkeiten: Religion behindert den wirtschaftlichen Erfolg. Daß es ganz so einfach nicht ist, hat schon Max Weber (1904) gezeigt. Zumindest die protestantische Ethik war dem Geist des Kapitalismus außerordentlich zuträglich. Neuere Forschungsprojekt23 knüpfen jetzt wieder an Weber an. Dabei zeigt sich, daß Wirtschaftswachstum und Religiosität durchaus positiv korrelieren. Gläubigkeit ist kein Hindernis für unternehmerisches Engagement. Die Civilreligion der Vereinigten Staaten - sie nimmt zu und nicht ab - ist der Beweis des Gegenteils. Dabei ist nach Barro freilich die praktizierte Religion ("belonging") weniger wachstumsfördernd als die überzeugte Gläubigkeit ("beliefing"). Die Begründung ist interessant: Glaube setzt ein hohes Maß an Abstraktion voraus. Dazu fähig ist aber nur, wer auch ein höheres Maß an Bildung und Erziehung mitbringt oder aber zumindest dazu in der Lage sind. Glaube im 21. Jahrhundert ist eine ziemlich komplexe intellektuelle Leistung. Wer zu solchen Leistungen fähig ist, bringt zugleich auch beste Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Erfolg mit.24 Religiöser Glaube trägt somit, nach den Forschungsergebnissen von Barro, auch zum wirtschaftlichen Wachstum bei.

22 Zit. bei Bronk (1998), S. 231. 23 Vgl. Barro (2002). 24 Vgl. Iannaccone (1998).

298

7.

Rainer Hank

Glaube und Vertrauen

Der religiöse Glaube weist somit eine dem Vertrauen verwandte Struktur auf. Beidemal handelt es sich um komplexe intellektuelle Strategien zur Bewältigung der Zukunft unter den Bedingungen der Unsicherheit. Beidemal handelt es sich um Institutionen (der Moral oder der Religion), die einen positiven Bezug zum wirtschaftlichen Wachstum vorweisen. Glaube und Vertrauen werden durch vermehrten Verbrauch nicht verzehrt, sondern vermehrt. Beide sind auf Reziprozität angelegt, verlangen aber eine Vorleistung: Einer muß anfangen, ohne daß er die Sicherheit möglicher Erwiderung hätte. Ohne daß er die Zurückweisung sanktionieren könnte. Vertrauen erweist sich somit als Säkularisat des religiösen Glaubens. Es formuliert — wie der Glaube — ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen Vorleistung und Erwiderung, hat sich aber der religiösen Begründung für seine Geltung (Gottes vorgängiges Vertrauen) entledigt. Es ist auch nicht nötig, sich seiner Genese zu erinnern, solange Vertrauen "im Prinzip" funktioniert. Erst im Kontext einer radikalen Störung von Vertrauen zeigt es sich, daß auch der Markt (und nicht nur der Staat) auf Voraussetzungen beruht, die er selbst nicht garantieren kann. Inzwischen sind ökonomische Aufklärung und Religion keine Gegensätze mehr; beides setzt die Gebildeten unter den Verächtern voraus. Vertrauen offenbart sich als Ressource, die für erfolgreiches Wirtschaften verantwortlich ist und Wachstum unterstützt. Wachstum ist maßgeblich abhängig von Institutionen.25 Doch sollte der Blick dabei nicht ausschließlich auf Institutionen des Rechts fallen. Ebenso wichtig sind Institutionen der Moralität, die — wie das Vertrauen — die Grammatik des Marktes bestimmen. Das Pathos von George W. Bush ist so deplaziert nicht: Wenn Vertrauen gestört ist, sind die Fundamente der Marktwirtschaft bedroht. Damit ist nicht gesagt, ob theoretisch nicht eine Wirtschaftsordnung möglich wäre, die ausschließlich auf der Rule of Law beruht, bar jeden Vertrauens. Faktisch und historisch erweist Vertrauen sich als anthropologische Konstante, freilich unterschiedlicher Stabilität oder Fragilität und deshalb auch mit entsprechenden Konsequenzen für wirtschaftliches Wachstum. Die liberale Wirtschaft und Gesellschaft lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Es sind dies — auch — religiöse Voraussetzungen, wie sich an der Herkunftsgeschichte des Vertrauens zeigt. Die Vertrauenskrise des Kapitalismus nach der Jahrhundertwende hat auch ein Gutes: sie gibt Anlaß, diese Wurzeln freizulegen.

25 Vgl. Barro (1997).

Wieviel Vertrauen braucht der Kapitalismus?

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Ausgewählte Aspekte der Finanzmarktethik Jens Weidmann

1.

Einleitung

Das öffentliche Vertrauen in die Aktienmärkte ist nach den Bilanzmanipulationen von Unternehmen wie MCI Worldcom, Tyco oder Enron durchgreifend erschüttert und die professionellen aber auch ethischen Standards der Unternehmensführungen rückten abermals in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Vielfach werden Profitmaximierung, die Orientierung am ShareholderValue und Marktliberalismus sogar ganz allgemein für einen Verfall moralischer Standards verantwortlich gemacht.1 Aber nicht nur das Funktionieren der Aktienmärkte steht im Zentrum einer neuen „moralischen Kritik", sondern auch das der Devisenmärkte und der Kreditmärkte. Die Diskussion ethischer Aspekte der Devisenmärkte gestaltet sich allerdings insofern äußerst vielschichtig, als sie zumeist von entwicklungspolitischen Aspekten überlagert wird. Der institutionelle Rahmen soll, nach den Vorstellungen einiger Protagonisten, gleichzeitig ethisch begründet und damit auch im volkswirtschaftlichen Sinne effizient sein und der Verwirklichung entwicklungspolitischer Ziele dienen. So soll beispielsweise mit der jüngst durch das im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erstellte Gutachten von Spahn2 erneut in das öffentliche Blickfeld gerückten Devisentransaktionssteuer nicht nur das Ziel einer Stabilisierung der Währungsrelationen verfolgt werden, sondern es sollen auch fiskalische Erträge generiert werden, die für entwicklungspolitische Aufgaben zu verwenden seien.3 In der zugrunde liegenden ethischen Bewertung der Marktprozesse im Allgemeinen und der globalisierten Finanzmärkte im Besonderen zeigen sich deutliche Parallelen zur Diskussion der Schuldenkrise der Entwicklungsländer in den 80er Jahren und der darauf aufbauenden Debatte um die ethische Dimension der Weltwährungsordnung und der Rolle des Internationalen Währungsfonds (IWF) beziehungsweise den durch seine Kreditvergabe ausgelösten Problemen des moralischen Risikos (Moral Hazard). Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die öffentlich-wissenschaftliche Auseinandersetzung zu diesem Thema vor wenigen Jahren im Bericht der sogenannten Meitzer-Kommission, die - allerdings aus primär ökonomisch orientierten Gründen — forderte, die IWF-Kreditvergabe auf die Überbrückung kurzfristiger Liquiditätsengpässe zu beschränken und die 1 2 3

Siehe z. B. Soros (2002). Vgl. Spahn (2002). Siehe auch Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (2002).

302

Jens Weidmann

Schulden reformwilliger Entwicklungsländer gegenüber den multilateralen Finanzinstitutionen zu erlassen — eine Forderung, die vor dem Hintergrund theologischer und moralischer Argumente auch von Vertretern der verschiedenen Kirchen unterstützt wird.4 Jüngste Ausprägung der Debatte um moralisches Risiko und ethische Standards auf den internationalen Kredit- und Kapitalmärkten ist die Diskussion um die Einfuhrung einer internationalen Insolvenzordnung zur „fairen" Lösung von Schuldenkrisen souveräner Staaten. Der vorliegende Beitrag versucht sich nicht in einem umfassenden Überblick der ethischen Dimension der Finanzmärkte. Weitaus weniger anspruchsvoll sollen vielmehr einzelne finanzmarktrelevante ethische Fragestellungen in der durch das Format dieser Veröffentlichung gebotenen Kürze dargestellt werden. Nach einer begrifflichen Abgrenzung und einem Uberblick über die Fragestellungen der ökonomischen Ethik werden insbesondere die ethischen Aspekte des Kreditmarkts im Zusammenhang mit dem Zinsverbot und der Frage nach den ethischen Aspekten der internationalen Kreditbeziehungen mit Entwicklungsländern erörtert. Abschließend wird kursorisch die aktuelle Diskussion um eine internationale Insolvenzordnung aufgenommen.

2.

Begriffliches

Zunächst ist zu klären, wann ein Verhalten moralisch ist und welchen ethischen Anforderungen Institutionen genügen müssen, um einen Rahmen für moralisches Handeln zu setzen. Was ist Moral? Nach der allgemeinen Definition ist Moral ein konsensualer Kanon von Regeln, die — im Allgemeinen auf einem Gerüst gesellschaftlicher Werte aufbauend - Handlungen als zulässig oder unzulässig beurteilen. Allerdings versteht sich die Ethik als Lehre von den gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen in ihrer normativen Ausprägung in der Regel auch als Moral, weshalb im Folgenden beide Begriffe weitgehend synonym verwendet werden. Moral beruht zwar auf universalisierbaren Urteilen, die vom persönlichen Standpunkt des Betrachters abstrahieren, läßt sich aber weder zeitlich noch räumlich verallgemeinern, wie im Folgenden am Beispiel der ethischen Bewertung der Zinsnahme gezeigt wird. Aufgrund der fehlenden Universalisierbarkeit bezüglich Zeit und Raum fehlt ein eindeutiger und zuverlässiger ethischer Kompaß, an dem ökonomisches Handeln gemessen werden könnte: „very little in ethics is completely uncontroversial, and very little can be said about economics that relies on only uncontroversial premises."5 Erschwerend kommt hinzu, daß bei der Beurteilung einer konkreten Handlung auch der zugrunde liegenden Absicht eine Bedeutung zukommen kann. So kann ein und dieselbe Handlung moralisch sein oder auch unmoralisch, je nachdem,

Vgl. IFIAC (2000). Einen Überblick über ethische Probleme der Weltwährungsordnung bietet Sautter (1994). 5 Hausman/McPherson (1993). 4

Ausgewählte Aspekte der Finanzmarktethik

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ob die hinter ihr stehenden Intentionen im Einklang mit dem gesellschaftlichen Wertekanon stehen. Damit läßt sich in diesem deontologischen Ansatz die Einhaltung moralischer Normen durch die Beobachtung einzelner Handlungen apriori nicht eindeutig überprüfen, wenn keine Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden Intentionen gezogen werden können. Aufgrund dieses mangelnden empirischen Gehalts wird im Weiteren auf eine konsequentialistische Ethik rekurriert, die Handlungen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer Konsequenzen beurteilt. Freilich stellt dies eine enge Definition des Moralbegriffes dar, die sich zwar aus Gründen der Umsetzbarkeit anbietet, jedoch bereits selbst eine normative Festlegung darstellt, denn „commitments to value only outcomes [...] are neither neutral nor uncontroversial."6 Innerhalb der konsequentialistischen Ansätze wird für die folgenden Betrachtungen insbesondere der auf Jeremy Bentham und John Stuart Mill zurückgehende Utilitarismus herangezogen. Handlungen werden dementsprechend danach bewertet, ob sie im Vergleich zu anderen Handlungsalternativen die größte Menge positiver, nicht-moralischer Werte, z. B. Glück, Reichtum und Gesundheit, generieren. Oder mit den Worten von Rawls7 ,,[d]as Gute wird unabhängig vom Rechten definiert, und dann wird das Rechte als das definiert, was das Gute maximiert." Der utilitaristische Ansatz und seine Nutzen- bzw. Wohlfahrtsmaximierung sind in der Ökonomik allgegenwärtig. Institutionen werden danach bewertet, ob sie einen Rahmen setzen, der zu moralischem Handeln in den Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder untereinander fuhrt und das Gesellschaftswohl maximiert. Von Nell-Breuning8 folgend muß daher „die Funktionsfahigkeit jeder menschliche Regelung oder Ordnung [...] daran gemessen werden, wieviel Gelegenheit sie zu eigennützigem, gemeinwohlschädlichem Handeln bietet, insbesondere in welchem Grade sie Menschen [...] in Versuchung fuhrt, ihre Macht auf Kosten des Gemeinwohls [...] zu mißbrauchen." Eine moralische Anforderung an die Ordnung der Wirtschaft und an ihre Institutionen ist demnach, daß sie den Konflikt zwischen Einzelinteressen und Gesamtinteresse, der sich auftun kann, lösen hilft.9 Abgesehen vom Problem der Kommensurabilität wird gegen den Utilitarismus eingewandt, er widerspreche akzeptierten moralischen Auffassungen, die sich etwa mit dem ethisch zentralen Begriff der Gerechtigkeit verbinden, insbesondere in bezug auf den Grundsatz der gerechten Behandlung jedes einzelnen Menschen. Von größerer praktischer Relevanz ist daher der Regelutilitarismus, der die Frage nach den Folgen der allgemeinen Ausfuhrungen von Handlungen stellt. In der Folge wird die Beurteilung der einzelnen Handlung auch von ihrer Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Handlungsregeln abhängig macht und so beispielsweise auch um gesellschaftlich nicht akzeptierte Präferenzen (z. B. Hausman und McPherson (1993). i Rawls (1975). 8 Nell-Breuning (1980). 9 Vgl. hierzu auch Suchanek (2001). 6

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Sadismus) korrigiert. Eine Handlung ist dann richtig, wenn sie mit den Handlungsregeln übereinstimmt und im Vergleich zu anderen Handlungsregeln den größten Nutzen generiert. Rieh10 beschreibt die Spezifität der Sozialethik entsprechend etwas allgemeiner als die Verbindung des Sachgemäßen mit dem Menschengerechten, womit er zum Ausdruck bringt, daß die ethische Zielsetzung Handeln gemäß ökonomischen Prinzipien bedingt, Ethik und Wirtschaft jedoch gleichzeitig in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Für Koslowski 11 ist entsprechend ,,[d]as Ethische nicht ein Gegensatz gegenüber dem Effizienten und Zweckmäßigen, sondern es ist die Integration des Wirtschaftlichen im Sinne des Effizienten, des Gerechten [im Tausch und in der Preisbildung] als dem der Regel gerecht Werdenden und des Guten." Effizienz impliziert vor diesem Hintergrund nicht automatisch die moralische Legitimität einer Ordnung oder Institution. Akzeptiert man jedoch die den Wirtschaftswissenschaften zugrunde liegende Prämisse von im Eigeninteresse handelnden Individuen und erkennt dieses Handeln — sofern es nicht zum Schaden anderer ist — als moralisch legitim an und akzeptiert man ferner die Rahmenbedingungen einer entwickelten, arbeitsteiligen und weitgehend anonymisierten Gesellschaft, ergibt sich, daß eine marktwirtschaftliche Ordnung ethisch begründet ist, sofern Individuen frei entscheiden können und Betroffenheit, Verantwortung und Entscheidungskompetenz im wirtschaftlichen Handeln zusammenfallen, das heißt externe Effekte internalisiert werden.12

3.

Kreditmärkte und die Stigmatisierung des Zinses

Einen natürlichen Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit der Ethik der Finanzmärkte bildet die Verurteilung des Zinses durch Aristoteles, deren Relevanz für aktuelle Fragestellungen nicht nur historischer Natur ist, findet sich ihre Essenz doch in manchen aktuellen Stellungnahmen wieder.13 In Politik bezeichnet Aristoteles das Kreditgeschäft, die Erzeugung von „Geld vom Gelde" als Wucher und naturwidrige Art der Einkommenserzeugung. Aristoteles sah in der Verleihung von Geld gegen Zinsen einen Ausdruck von Habgier (Ploenexia). E s 10 Vgl. Rieh (1984). » Koslowski (1997). , 2 Siehe beispielsweise Sautter (1992) oder Noll (2001). Die Prämisse von lediglich auf ihren eigenen Vorteil bedachten Individuen und damit das Menschenbild in der Ökonomie stehen vielfach in der Kritik und die daraus hervorgehende Kunstfigur des homo oeconomicus wird als einseitig und egoistisch gesehen. Entscheidend ist jedoch, daß eine Wirtschaftsordnung zwar Altruismus akzeptieren und eventuell sogar fördern sollte, jedoch auch unter der „Mindestanforderung" des homo oeconomicus ein ethisch akzeptables Ergebnis wirtschaftlichen Handelns sicherstellen sollte. Die moralische Akzeptanz des Eigeninteresses bedeutet folglich auch nicht den Ausschluß anderer, nicht ausschließlich am Eigeninteresse orientierter, individueller Verhaltensmuster. i3 Vgl. im Folgenden Born (1994) und Issing (1993).

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bedeutete für ihn, Geld, das man offenbar selber nicht braucht, anderen nur zu dem Zweck zu leihen, mehr Geld wieder zu bekommen, das man ebenfalls nicht brauchen wird. Allerdings scheinen sich Aristoteles moralische Einwände gegen den Zins mehr auf die Einstellung der Gesellschaft zum Geld zu beziehen als auf das Wesen des Geldes bzw. des Kredites selbst. Bis ins 16. Jahrhundert hinein hat auch das Christentum die Zinsnahme als unsittlich abgelehnt. Ausgehend von der Bergpredigt verhängte das Konzil von Nicaea im Jahre 325 ein Zinsverbot für Kleriker, das Karl der Große Anfang des 9. Jahrhunderts auch auf Laien ausdehnte. Im Mittelalter erhielt die moralische Verurteilung der Zinsnahme dann philosophische Unterstützung durch Albertus Magnus und seinen Schüler Thomas von Aquin, die — in Anlehnung an Aristoteles — den Darlehenszins als Raub und Diebstahl geißelten. Grundlage dieser Ansicht war die „Verletzung der Wertgleichheit im Tausche", da eine Endohnung des Faktors Arbeit bei einem Darlehen entfällt, die neben den Kosten für Rohstoffe, Waren und Transport alleiniger Inhalt eines gerechten Preises nach scholastischer Lehre sein darf. Somit konnte es sich bei Zinszahlungen nicht um einen gerechten Preis handeln, bei dem Leistung und geforderte Gegenleistung im Gleichgewicht standen. Die andauernde faktische Umgehung des Zinsverbots, so durch die Überlassung des Kreditgeschäfts an gesellschaftliche Außenseiter oder die Deklaration des Zinses als „Geschenk", sowie die wirtschaftlichen Sachzwänge machten eine Lockerung des Zinsverbots unausweichlich. Diese wurde durch das Konzil von Trient formalisiert, das nun lediglich Zinssätze über 5 Prozent als Wucherzinsen und damit unsittliche Handlung brandmarkte. Der maximale Zinsfuß orientierte sich am kirchlich gebilligten Geschäftsgebaren der „Montes Pietatis", karitativer Leihhäuser für Handwerker und kleine Gewerbetreibende, die während des 15. Jahrhunderts entstanden. Erst während der Aufklärung finden sich erste volkswirtschaftlich ausgerichtete Analysen der Kreditmärkte, die Darlehen als zentrales Element einer funktionierenden Wirtschaftsordnung begreifen und in der Höhe des Zinssatzes die Kräfte des Angebots und der Nachfrage sehen, die sich insbesondere auch am Risiko eines Kredits messen lassen müssen. Montesquieu sieht aber auch das Zinsverbot und zahlreiche politische Eingriffe zu Lasten der Gläubiger selbst als Ursache hoher Zinsen, die ihrerseits wiederum die gesellschaftliche Ablehnung des Geldverleihs erklären: [L] 'usure [...] augmente donc à proportion du péril de l'insolvabilité. [...] Le peuple, comme un débiteur décrédité, ne tentait à lui prêter que par de gros profits : d'autant plus que, si les lois ne venaient que de temps en temps, les plaintes du peuple étaient continuelles, et intimidaient toujours les créanciers. Cela fit que tous les moyens honnêtes de prêter et d'emprunter furent abolis à Rome; et qu'une usure affreuse, toujours

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foudroyée et toujours renaissante, s'y établit. [...] Les lois extrêmes dans le bien font naître le mal extrême."14 Auch heute noch ist in den westlichen Ökonomien die Zinsnahme mit einem moralischen Stigma versehen, schließlich wurde das Zinsverbot erst 1983 aus dem Kirchengesetzbuch gestrichen. In islamischen Volkswirtschaften verbietet die Scharia weiterhin Geschäfte mit einem festen, im Voraus bestimmten Zinssatz. Allerdings begeben islamische Staaten wie Iran, Pakistan oder Sudan trotz Zinsverbot zinstragende Anleihen und zudem halten islamische Finanzhäuser teilweise festverzinsliche Aktiva in ihren Beständen. Interessanterweise entspricht außerdem bei Geldanlagen gemäß der Scharia, die dem Anleger zinsunabhängigen Gewinn versprechen, der Gewinnanteil oft recht genau den im Westen üblichen Zinssätzen. Die Sehnsucht nach einer zinslosen Wirtschaft ist in einer entwickelten Volkswirtschaft nicht erfüllbar. Anders gewendet: Eine solche Ökonomie erfüllte zwar einen spezifischen Anspruch der Gerechtigkeit des Tausches, aber eben nicht die Bedingung der Sachgerechtigkeit und der Effizienz. Der Zins ist der Preis für die Bereitstellung von Kapital. Von der Angebotsseite des Marktes betrachtet stellt der Zins eine Kompensation für den vorübergehenden Verzicht auf Kaufkraft dar, während er dem Kreditnehmer realwirtschaftliche Investitionen erlaubt, deren Rentabilität die Bedienung des Kredits ermöglicht. Somit ist der Zins nicht „Geld vom Gelde" wie es Aristoteles formulierte, sondern der Ertrag des durch die Kreditgewährung finanzierten Produktionskapitals. Ohne realwirtschaftliche Investitionen am Ende der Trans forma tionskette der Geldanlage ist keine Zinszahlung möglich. Und ohne Zins als Knappheitsindikator keine Zuführung des knappen Kapitals zu seiner produktivsten Verwendving. Die grundlegende Einsicht der Notwendigkeit des Zinses für eine effiziente Ressourcenallokation, findet sich bereits bei Montesquieu15: „Pour que le commerce puisse se bien faire, il faut que l'argent ait un prix, mais que ce prix soit peu considérable. S'il est trop haut, le négociant, qui voit qu'il lui en coûterait plus en intérêts qu'il ne pourrait gagner dans son commerce, n'entreprend rien; si l'argent n'a point de prix, personne n'en prête, et le négociant n'entreprend rien non plus. [...]" 4.

Finanzbeziehungen mit Schwellen- und Entwicklungsländern

Eine Renaissance erlebte die moralische Kritik an der Zinsnahme in Zusammenhang mit der Schuldenproblematik der Entwicklungs- und Schwellenländer an der vielfach unter dem Rubrum „reiche Länder werden reicher und arme ärmer" auch ganz allgemein die vermeintliche Unmoral des Systems marktwirtschaftli14 15

Montesquieu, De l'Esprit des lois, Livre XXII (1758). Montesquieu, De l'Esprit des lois, Livre XXII (1758).

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eher Finanzbeziehungen festgemacht wurde. Abgesehen von der Tatsache, daß die globale Einkommensverteilung unter Berücksichtigung unterschiedlicher Lebenshaltungskosten und der unterschiedlichen Gewichte der einzelnen Länder während der letzten 20 Jahre nicht ungleicher geworden ist,16 übersieht diese Betrachtung, daß vor allem die institutionellen Defizite in den Entwicklungsländern selbst als Ursache für die nicht länger tragfahige Verschuldungssituation und einen ineffizienten Ressourceneinsatz gesehen werden können.17 Im Rahmen einer ethischen Beurteilung ist es zunächst hilfreich, zwischen privaten und öffentlichen Kapitalströmen zu unterscheiden, da sich beide Kategorien sowohl hinsichtlich ihrer Volumina als auch ihrer Motive deutlich unterscheiden. Der wesentliche Teil des Bestands an langfristigen Auslandsschulden von Entwicklungsländern geht auf die — überwiegend konzessionäre — Kreditvergabe einzelstaatlicher oder multilateraler Institutionen zurück oder ist zumindest öffentlich garantiert. Private Schuldner hielten im Jahr 2001 zwar rund 60 Prozent der ausstehenden Auslandsschulden, jedoch war nur rund ein Viertel nicht staatlich garantiert. Die Stromgrößen verhalten sich prinzipiell entsprechend, wenngleich die Nettoströme in die Entwicklungsländer insbesondere aufgrund der privaten Kapitalbewegungen während der letzten Jahre deutlich gesunken sind,18 was sicherlich auch eine Reaktion auf den starken Anstieg der Verschuldung visà-vis privater Gläubiger in den 90er Jahren darstellt. Private, nicht-konzessionäre Kapitalströme in Entwicklungsländer sind grundsätzlich nicht anders zu bewerten als die weiter oben diskutierten Kreditbeziehungen: Jeder Versuch, die Kapitalströme ohne den Anreiz angemessener Renditeerwartungen steuern zu wollen, fuhrt zu einem Versiegen privater Kapitalzufuhr und „verweist [die Entwicklungsländer] auf das im Vergleich dazu dürftige Rinnsal öffentlicher Entwicklungshilfe"19. Somit gilt auch hier, daß das Gerechte und das Gute ohne das Sachgerechte ethisch nicht begründbar sind. Allerdings kann es auch bei rein privatwirtschaftlich ausgerichteten Kreditbeziehungen vorkommen, daß der Zins als Preis des Kredites das Ausfallrisiko nicht adäquat erfaßt und damit zu einer ineffizienten Kapitalallokation führt. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn der Gläubiger damit rechnet, für einen Kreditausfall zumindest teilweise von staatlicher Seite kompensiert zu werden. Auf der internationalen Ebene wird dieses Problem als besonders akut angesehen und die Kreditvergabepolitik des Internationalen Währungsfonds und das damit einhergehende „Bailing Out" privater Gläubiger für moralisches Risiko und nicht risikoadäquate Kreditbedingungen verantwortlich gemacht. Unter den momen-

" Vgl. Sala-i-Martin (2002). " Vgl. Sautter (1994). « Vgl. Weltbank (2002). 19 Issing (1993).

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tanen Rahmenbedingungen leiden die derzeitigen „Bailing-In"-Strategien 20 auch darunter, daß erstens im Falle von Solvabilitätsproblemen neue Kreditgeber nur dann hinzutreten, wenn ihren Forderungen Vorrangstatus eingeräumt wird und zweitens sich die ursprünglichen Gläubiger einem kollektiven Handlungsproblem ausgesetzt sehen und zwar besonders dann, wenn ihre Zahl groß ist. Einzelne Gläubiger sind versucht, ihre Ansprüche zu Lasten der übrigen Gläubiger vorrangig gerichtlich zu sichern. Die derzeit diskutierten Lösungsansätze zielen darauf ab, das moralische Risiko bei der Kreditvergabe an Entwicklungs- und Schwellenländer zu reduzieren und zwar über das durch die bereits praktizierten „Bailing-In"-Strategien erreichte Maß hinaus. Der erste Ansatz, der Einschluß kollektiver Handlungsklauseln in Staatsanleihenkontrakte, stellt ein vertragliches Regelwerk für ein geordnetes Umschuldungsverfahren dar, dessen Kernelemente die mehrheitliche Einigung der Gläubiger und die Gleichbehandlung der Forderungen sind. Der zweite Ansatz, die Etablierung allgemein gültiger Regeln für ein internationales Insolvenzverfahren ist im wesentlichen vom nationalen Konkursrecht inspiriert. Dieser Ansatz sieht vor, daß Staaten in Zahlungsschwierigkeiten beim IWF ein Insolvenzverfahren beantragen können, der dann die Zahlungsunfähigkeit des souveränen Schuldners erklären und ein Zahlungsmoratorium ausrufen kann. Auch hier würden zwar die Entscheidungen über Umschuldungsmaßnahmen mehrheitlich gefallt, doch spielte der IWF als internationaler Insolvenzverwalter und durch die mit dem Verfahren einhergehende Überwachung der Wirtschaftspolitik des Schuldnerlandes nach Erklärung der Zahlungsunfähigkeit eine weitaus größere Rolle. Prinzipiell sind sowohl kollektive Handlungsklauseln als auch ein internationales Insolvenzverfahren geeignet, den privaten Sektor stärker marktkonform in die Krisenbewältigung einzubeziehen und damit auch zu einem risikobewußteren Finanzierungsverhalten zu führen. Während sich die von insbesondere den Banken favorisierten kollektiven Handlungsklauseln mit einigen Ubergangs- und Implementierungsproblemen konfrontiert sehen,21 greift das im wesentlichen vom IWF propagierte internationale Insolvenzverfahren tiefer in die Rechte der Gläubiger und der Schuldner ein. In der Praxis sollten sich daher beide Lösungsansätze ergänzen. Werden die kollektiven Handlungsklauseln nicht freiwillig

20

21

Hierzu zählt beispielsweise die Verknüpfung einer erneuten Mittelvergabe durch den Internationalen Währungsfonds an die Bereitstellung zusätzlicher Mittel durch die übrigen Gläubiger. So halten Befürchtungen über steigende Finanzierungskosten derzeit Schuldnerländer von der Emission von Anleihen mit kollektiven Handlungsklauseln ab. Desweiteren ergeben sich Rangfolgeprobleme, falls Anleihen mit und ohne kollektive Handlungsklausel parallel existieren, denn die implizite Vorrangigkeit der alten Verbindlichkeiten ohne kollektive Handlungsklauseln wirkt ebenfalls einer raschen Einfuhrung der kollektiven Handlungsklauseln entgegen; vgl. Sachverständigenrat (2002), Ziffer 591 ff. Eine Lösung dieses Anreizproblems bestünde darin, die Vergabe bilateraler oder multilateraler öffentlicher Kredite an die Emission von Anleihen mit kollektiven Handlungsklauseln zu binden.

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implementiert oder gelingt eine rasche Umschuldungslösung im Krisenfall trotz kollektiver Handlungsklauseln nicht, muß ein internationales Insolvenzverfahren greifen. Die Aussicht auf ein Insolvenzverfahren unter der Ägide des IWF dürfte zudem für die Gläubigerstaaten die Anreize zum Einschluß von kollektiven Handlungsklauseln in ihre Anleihen verstärken. Anders verhält es sich hingegen mit der bilateralen oder multilateralen Vergabe öffentlicher Finanzmittel zu konzessionären Bedingungen oder mit Zuschüssen. Sautter22 begründet diese Form der Finanzbeziehungen zum einen mit der Institutionenethik der Kooperation und zum anderen mit der auf Rawls23 zurückgehenden Ethik des Teilens. Nach der Ethik des Teilens besteht auch in der globalen Gesellschaft für die Bürger reicher Staaten eine moralische Verpflichtung zur Linderung der Armut in Entwicklungsländern, die die Individuen auf den Staat als ihren Agenten übertragen. Die Institutionenethik der Kooperation leitet sich aus den ethisch reflektierten Eigeninteressen von Staaten ab, die zum beiderseitigen Vorteil eine kooperative Verwirklichung ihrer Ziele wählen. Typisierend kann beispielsweise angenommen werden, daß alle Länder das ethisch legitime Ziel der Wohlstandsmehrung verfolgen, was im Fall der Entwicklungsländer mit dem vorgelagerten Ziel der Initiierung beziehungsweise Unterstützung eines nachhaltigen Entwicklungsprozesses angestrebt wird und im Fall der Industrieländer beispielsweise auch vom Erhalt globaler Kollektivgüter abhängt, weshalb eine nachhaltige Entwicklung in den Entwicklungsländern auch im Interesse der Industrieländer liegt. Neben der Bereitstellung finanzieller Mittel zu konzessionären Bedingungen umfaßt die Kooperationsleistung der „reichen" Länder zum Beispiel auch die Öffnung ihrer Produktmärkte, während sich die einzubringende Leistung der „armen" Länder auf die Schaffung institutioneller Rahmenbedingungen für Wachstum aber auch für eine effiziente Mittelverwendung konzentriert. Burnside und Dollar24 belegen empirisch, daß die Wachstumseffekte von Entwicklungshilfe in entscheidender Weise von den Politiken im Empfängerland determiniert werden und positive Wirkungen ausländischer Hilfe auf solche Länder beschränkt sind, die eine „gute" Fiskal-, Geld- und Handelspolitik aufweisen. Konzessionäre Kredite und Zuschüsse sind aber ohne das Sachgemäße ethisch nicht begründet. Relevant sind in diesem Zusammenhang insbesondere Probleme des moralischen Risikos, die letztlich dazu führen können, daß die Eigenanstrengungen des Empfangerlandes nachlassen (Samariter-Dilemma) und von Entwicklungshilfe ausgehende negative Effekte auf die institutionellen Rahmenbedingungen. Svensson25 weist daraufhin, daß Entwicklungshilfe, ebenso wie andere „Windfall

22

Vgl. » Vgl. 24 Vgl. « Vgl.

Sautter (2002). Rawls (1975). Burnside/Dollar (1997). Svensson (2000).

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Gains", Korruption Vorschub leisten kann und damit das Wachstum schädigt.26 In bezug auf die Niedrigeinkommensländer stellt Sautter27 zusammenfassend fest, daß es bislang nicht gelungen ist „die institutionellen Voraussetzungen für eine effiziente Nutzung der zugeflossenen Mittel zu schaffen" und insofern die Kooperationsleistung sowohl von der Empfängerseite, wie auch von der Geberseite (durch deren teilweise protektionistische Handelspolitik) nicht erfüllt wurde. Auf der Suche nach einer verbindlicheren Grundlage der Entwicklungskooperation fällt der Blick schnell auf die Bindung der Kreditvergabe beziehungsweise der Entwicklungshilfeleistungen an die Umsetzung von Strukturreformen in den Empfängerländern (Konditionalität). Allerdings finden Burnside und Dollar28 in den bisherigen Finanzbeziehungen keinen empirischen Zusammenhang zwischen Entwicklungshilfeleistungen, definiert als Zuschüsse und „Zuschußanteil" konzessionärer Kredite, und „guter" Politik. Die beiden Autoren folgern, daß „any tendency for aid to reward good policies has been overwhelmed by donors' pursuit of their own Strategie interests." Durch die im Jahr 1996 angestoßene und im Jahr 1999 auf dem Kölner Weltwirtschaftsgipfel erweiterte Initiative zur Schuldenreduzierung und Armutsbekämpfung in hochverschuldeten, armen Länder (HIPC-Initiative) wurde die Konditionalität in den Finanzbeziehungen zwischen Geberländern und Entwicklungsländern auf eine neue Basis gestellt. Die HIPC-Initiative kann grundsätzlich zur Verringerung des moralischen Risikos beitragen. Schuldenerlaß und weitere Finanzmittel, beispielsweise aus der „Poverty Reduction and Growth Facility" des IWF, sind an eine Periode solider Wirtschaftspolitik und die Ausarbeitung einer Armutsbekämpfungs Strategie gebunden. Insofern die HIPC-Initiative zu einer verbesserten Kooperationsleistung der Entwicklungsländer fuhrt ist sie zu begrüßen, allerdings bleiben Zweifel in Bezug auf die Fortsetzung der Armutsbekämpfungsstrategien nach dem Umsetzungszeitpunkt. Gleichzeitig wird durch die Ausgestaltung des Schuldenerlasses eine in der Vergangenheit unsolide Finanzpolitik belohnt, während umgekehrt Entwicklungsländer mit einer nachhaltigen Finanzpolitik die HIPC-Initiative nicht in Anspruch nehmen können und so durch die Gebergemeinschaft „bestraft" werden.29 Bei einer Antizipation dieser Politik in bezug auf das zukünftige Verhalten der Geberländer könnte dies sogar langfristig die Anreize zur empfängerseitigen Erbringung der Kooperationsleistung reduzieren.

Zum Konnex zwischen Windfall Gains, Korruption und Wachstum siehe auch Leite/ Weidmann (2003). 27 Sautter (2002). » Vgl. Burnside/Dollar (1997). 29 Siehe Sautter (2002). 26

Ausgewählte Aspekte der Finanzmarktethik

5.

311

Schlußfolgerungen

Die Zinsnahme und die Beziehungen zwischen Gläubigern und Schuldner sahen sich bereits seit der Antike, lange bevor ein umfassendes ökonomisches Verständnis für die Funktion der Kredit- und Kapitalmärkte aufkam, einer moralischen Kritik ausgesetzt, die auch noch in heutigen Stellungnahmen ihren Widerhall findet. Eine moralische Anforderung an die Institution der Finanzmärkte ist aber gerade, daß sie das im ökonomischen Sinne Sachgemäße mit dem Gerechten und Guten verbinden. Insofern ist die Zinsnahme und die Bildung des Zinses auf den Kreditmarkt als Preis des Kredites bei der Abwesenheit externer Effekte ethisch begründet. Auf der internationalen Ebene stehen insbesondere die Finanzbeziehungen mit Entwicklungsländern im Zentrum der moralischen Kritik. Bei einer moralischen Bewertung ist jedoch nach den Motiven der Finanzbeziehungen zu differenzieren, also zwischen nicht-konzessionären und konzessionären, im Allgemeinen öffentlichen, Kapitalströmen zu unterscheiden. In beiden Fällen kann jedoch moralisches Risiko das Sachgemäße konterkarieren. Im ersten Fall vor allem durch das Bailing Out privater Gläubiger durch den IWF, im zweiten Fall durch nachlassende Eigenanstrengungen des Empfängerlandes insbesondere auch in Hinblick auf die institutionellen Rahmenbedingungen, die einer effizienten Mittelverwendung im Wege stehen können. Bezüglich der nicht-konzessionären Kreditvergabe versprechen jüngste Bemühungen um eine Neuordnung der Umschuldungsverhandlungen mit Hilfe von kollektiven Handlungsklauseln und einer internationalen Insolvenzordnung ein risikoadäquateres Kreditvergabeverhalten und damit weniger allokative Verzerrungen. Bezüglich der konzessionären Finanzbeziehungen hat die HIPC-Initiative neue Regeln zwischen den Gläubigerländern und hochverschuldeten Entwicklungsländern etabliert, die im Prinzip auch die Konditionalität der Mittelvergabe verstärken. Allerdings ist offen, ob die HIPC-Initiative zu auch langfristig besseren Rahmenbedingungen für eine effiziente Mittelverwendung in den Empfängerländern führt.

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Die Rolle der Geldpolitik in Europa Hans-Joachim KIöckersx

1.

Geldpolitik und soziale Ordnungspolitik

GeldwertstabiHtät ist eine unabdingbare Voraussetzung für das effiziente Funktionieren der Marktwirtschaft.2 Dies ist eine der fundamentalen Überzeugungen der Freiburger Schule und eine Auffassung, die heute weltweit geteilt wird. Die Stabilität des Preisniveaus fördert die optimale Ressourcenallokation in einer Marktwirtschaft, da sie es den Wirtschaftsakteuren erlaubt, relative Preisänderungen zu erkennen und auf diese zu reagieren. Preis Stabilität ist die Grundlage für die Kalkulierbarkeit von langfristigen Investitionen und Sparentscheidungen, eine wesentliche Voraussetzung für Eigeninitiative, Selbstverantwortung und individuelle Vorsorge. Preisstabilität verringert Unsicherheit und damit Risikoprämien an den Finanzmärkten und ist daher ein bedeutsamer Beitrag zur Vergrößerung des Wachstumspotentials einer Volkswirtschaft.3 Preisstabilität hat auch eine wichtige soziale Komponente: Sie schützt die Geldsparer, insbesondere diejenigen, die sich nicht gegen Inflation abzusichern wissen. Die Erfahrungen mit Phasen exzessiver Inflation, die mit nachhaltigem sozialem Unfrieden einhergingen, haben nicht nur in Deutschland zu der Auffassung gefuhrt, daß Preisstabilität unverzichtbar ist für den Erhalt der freiheitlichen Ordnung.4 Ludwig Erhard sah Geldwertstabilität sogar als ein „demokratisches Grundrecht" an.5 Das Primat der Preisstabilität ist daher ein zentraler Bestandteil sozialer Ordnungspolitik. In Europa ist die Betonung dieses Ziels heute Kern des wirtschafte- und währungspolitischen Kapitels des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Nicht nur, weil die Änderung dieses Vertrages der Einstimmigkeit aller Ratsmitglieder, einschließlich der Ratifizierung in allen Mitgliedstaaten, bedarf, sondern auch, weil heute in Europa ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die Bedeutung des Zieles der Preisstabilität besteht, ist Preisstabilität als primäres Ziel der Geldpolitik ein fest verankerter Bestandteil des europäischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems.

1

2 3 " s

Die Ansichten in diesem Beitrag sind die des Autors und nicht notwendigerweise die offizielle Position der EZB. Der Beitrag wurde im November 2002 abgeschlossen. Vgl. Eucken (1952). Vgl. Herreroetal. (2001). Vgl. Müller-Armack (1981), S. 284 ff.; Röpke (1968) oder Tietmeyer (2000). Erhard (1964), S. 15.

316

Hans-Joachim Klöckers

Die Übertragung der europäischen Geldpolitik auf die Europäische Zentralbank (EZB) am 1. Januar 1999 bedeutete nicht nur den Wegfall nationaler geldpolitischer Instrumente. Sie bedeutete für Europa den Eintritt in eine dauerhafte und unwiderrufliche Stabilitätsgemeinschaft, die es ermöglichen soll, die Vorteile der marktwirtschaftlichen Ordnung in einem großen Währungsgebiet, frei von nationalen Grenzen, möglichst effizient auszuschöpfen. Dieser Beitrag gibt in Abschnitt 2 zunächst einen Überblick über den institutionellen Rahmen der Geldpolitik in Europa. Er zeigt auf, daß der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft einen effizienten Rahmen für die Geldpolitik geschaffen hat. Die darauf folgenden Abschnitte befassen sich mit der Art und Weise, -wie die EZB in diesem Rahmen agiert. Abschnitt 3 erläutert die grundsätzliche geldpolitische Ausrichtung (oder „Strategie") der EZB. Abschnitt 4 beschäftigt sich mit einigen Sonderfragen, die im Hinblick auf die europäische Geldpolitik häufig gestellt werden. Diese Fragen beziehen sich auf die Rolle der Geldmenge innerhalb der geldpolitischen Strategie der EZB, das Zusammenspiel von Geld- und Fiskalpolitik in der Währungsunion und die Frage, wie regionale Ungleichgewichte in einer Währungsunion bestmöglich behoben werden können. Abschnitt 5 enthält einige abschließende Bemerkungen.

2.

Der institutionelle Rahmen der europäischen Geldpolitik

Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) enthält eine wohl durchdachte Festsetzung der Ziele der europäischen Geldpolitik.6 Die Kernaussage des Art. 105 im Kapitel über die Währungspolitik lautet, daß es das primäre Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) ist, „Preisstabilität zu gewährleisten". Der Vertrag führt fort, daß das ESZB, „soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist", die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft unterstützen soll. Der Vertragstext beruht auf dem fundamentalen ökonomischen Prinzip, daß Geldpolitik (abgesehen von dem generellen — bereits erwähnten — wohlfahrtssteigernden Effekt, der von der Verfolgung des Ziels der Preisstabilität ausgeht) langfristig nur Einfluß auf nominale — nicht auf reale — makroökonomische Größen haben kann. Der Vertragstext überfrachtet die Geldpolitik also nicht mit Zielen, die sie nicht erreichen kann, sondern sichert das uneingeschränkte Primat der Preisstabilität. Gleichzeitig betont der Vertragstext das Selbstverständliche, nämlich daß das ESZB nicht in einem Vakuum operiert, sondern sich bei der Verfolgung des Ziels der Preisstabilität mit den übrigen Zielen der Gemeinschaft in Einklang befinden muß. Diese Aufforderung kann zum Beispiel so verstanden

6

Einen guten Überblick zu den wichtigsten Bedingungen des Vertrags bieten Scheller (2000); Schill (1998) sowie Zilioli/Selmayr (2001).

Die Rolle der Geldpolitik in Europa

317

werden, daß die EZB bei der Verfolgung des Ziels der Preisstabilität unnötige Schwankungen im Wachstum des Sozialprodukts vermeiden sollte. Ein weiterer Eckpfeiler des EG-Vertrags ist die Sicherung der Unabhängigkeit der EZB bei der Verfolgung ihrer Ziele. Historische Erfahrungen belegen, daß die Unabhängigkeit der Zentralbank ein wesentlicher Garant der Glaubwürdigkeit des Ziels der Preisstabilität ist. Unterliegt die Zentralbank politischen - von Wahlzyklen geprägten - Kalkülen, kann es schnell zu einer „stop and go'VPolitik kommen, bei der kurzfristigen Wachstumserfolgen - kurzsichtigerweise - Vorrang vor dem mittelfristigen Ziel der Preisstabilität gegeben wird. Erfahrungsgemäß trägt eine solche Politik nicht nur zur Verstärkung der Konjunkturzyklen bei, sondern geht auch regelmäßig mit einem schleichenden Inflationsprozeß einher. Durch die Übertragung des Ziels der Preisstabilität auf eine unabhängige Institution wurde nicht nur die Wahrscheinlichkeit, daß dieses Ziel erreicht werden kann, erheblich erhöht, sondern es wurde auch von Beginn an die Grundlage dafür geschaffen, daß die Geldpolitik Glaubwürdigkeit genießt. Ein hohes Maß an öffentlichem Vertrauen ist für die Wirksamkeit der Geldpolitik wichtig. Denn nur wenn die Zentralbank Glaubwürdigkeit genießt, kann sie einen positiven Einfluß auf die langfristigen Inflationserwartungen in der Volkswirtschaft ausüben. Gelingt es der Zentralbank, langfristige Inflationserwartungen niedrig zu halten, sollte sich dies in den Verträgen an den Kapitalmärkten, in der Preissetzung auf den Gütermärkten und auch in den Lohnabschlüssen an den Arbeitsmärkten bemerkbar machen. Eine glaubwürdige Zentralbank hat daher eine einfachere Aufgabe als eine, bei der die geldpolitische Ausrichtung Zweifeln unterliegt. Aus diesem Grund hat der institutionelle Rahmen des EGVertrags mit dem Primat der Preisstabilität und der Gewährleistung der Unabhängigkeit der EZB einen bedeutenden Beitrag zur Effizienz der Geldpolitik geleistet. Die Unabhängigkeit der EZB bedeutet aber gleichzeitig auch die Verpflichtung zu Transparenz und Rechenschaft. Die EZB sieht es als eine ihrer Kernaufgaben an, die Öffentlichkeit ständig über ihre Einschätzung der Wirtschaftslage und der Aussichten für die Preisstabilität auf dem Laufenden zu halten. Transparenz hinsichtlich der Analyseprozesse und Entscheidungsvorgänge der Zentralbank ist in der Strategie der EZB ein wichtiger Beitrag zur Stützung ihrer Glaubwürdigkeit — die Öffentlichkeit und insbesondere die Märkte müssen nachvollziehen können, wie die Zentralbank denkt, um beurteilen zu können, ob die Zentralbank ihr Ziel auch tatsächlich verfolgt oder nicht.7 Weitere Eckpfeiler der europäischen Stabilitätsverfassung sind die fiskalpolitischen Bestimmungen des EG-Vertrags — unterstützt durch die Ausführungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Die Tatsache, daß es gemeinsame Regeln für den wichtigsten makroökonomischen Parameter der nationalen Fiskalpolitik — die Defizitquote — gibt, trägt erheblich zur Disziplinierung der Fiskalpolitik auf 7

Europäische Zentralbank (2002).

Hans-Joachim Klöckers

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nationaler Ebene bei. Dies — zusammen mit dem vertraglich gesicherten Verbot der Zentralbankfinanzierung öffentlicher Haushalte sowie dem Verbot des bevorzugten Zugangs öffentlicher Haushalte zu Finanzinstitutionen — sind wirksame Bestandteile eines institutionellen Rahmens, der die geldpolitische Aufgabe der EZB erleichtert und damit ihre Glaubwürdigkeit stärkt. Zu erwähnen ist auch, daß der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft hinreichenden Schutz bietet, damit die stabilitätsorientierte Geldpolitik der EZB nicht durch Interventionsverpflichtungen an den Devisenmärkten unterlaufen werden kann. Artikel 4.2 des Vertrages besagt, daß auch die einheitliche Wechselkurspolitik vorrangig das Ziel der Preisstabilität verfolgen muß. Ähnlich stellt Artikel 111.2 des Vertrags klar, daß etwaige allgemeine „Orientierungen für die Wechselkurspolitik" das vorrangige Ziel der Preisstabilität nicht beeinträchtigen dürfen. Auch die Ausgestaltung des Wechselkursmechanismus in der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Tatsache, daß es allein die EZB ist, die im Euro-Währungsgebiet über die Durchfuhrung von Devisenmarktinterventionen entscheidet, tragen dazu bei, daß etwaige Devisenmarktinterventionen in der Währungsunion nicht mit dem Ziel der Preisstabilität in Konflikt geraten sollten. Schließlich enthält der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auch den wichtigen Passus, daß das ESZB „in Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" handeln soll (Art. 105). Diese ordnungspolitische Grundorientierung stellt eine wichtige Prämisse für die Effizienz der Geldpolitik in einer Marktwirtschaft dar.

3. 3.1

Die geldpolitische Strategie der EZB Allgemeine Überlegungen

Der EG-Vertrag hat also einen Rahmen geschaffen, der alle wesentlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Geldpolitik beinhaltet. Es ist die Aufgabe der EZB, diesen Rahmen erfolgreich auszufüllen. Einen wichtigen Beitrag hierzu liefert die Formulierung einer geldpolitischen Strategie. Die Strategie der EZB macht deutlich, wie die EZB ihr Mandat interpretiert und wie sie es zu verfolgen gedenkt. Die EZB hat ihre Strategie bereits im Jahr 1998 veröffentlicht.8 Als neue Institution hatte sie keinen „track record". Es bestand erhebliche Unsicherheit an den Märkten und in der Öffentlichkeit darüber, wie die neue Zentralbank ihr Handeln im geldpolitischen Alltag gestalten würde. Daher galt es für die EZB, möglichst überzeugend bereits vor Beginn der dritten Stufe der Wirtschafts- und

8

Vorarbeiten zur Konzeption der geldpolitischen Strategie der EZB lieferte das Europäische Währungsinstitut, vgl. z. B. Europäisches Währungsinsltitut (1997); vgl. auch Rey (1999).

Die Rolle der Geldpolitik in Europa

319

Währungsunion die geldpolitische Konzeption festzulegen, auf deren Basis der EZB-Rat später seine Entscheidungen treffen würde. Die Formulierung der geldpolitischen Strategie der EZB konnte sich hierbei nicht auf eine einfache Kopie bestehender Strategien europäischer Zentralbanken - etwa der früheren Bundesbank-Strategie - beschränken. Die Strategie mußte in Bettacht ziehen, daß sie auf einen anderen Währungsraum als den der Bundesrepublik Deutschland anzuwenden sein würde. Dabei hatte sie insbesondere mit der Schwierigkeit umzugehen, daß die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten in dem Währungsgebiet nur teilweise bekannt waren, und zudem möglicherweise auch einem raschen Wandel unterlagen. All dies sprach dafür, von Anfang an eine Strategie zu entwickeln, die in einer robusten Weise mit diesen Unsicherheiten umzugehen vermochte.9

3.2

Die quantitative Definition der Preisstabilität

Der Kern der geldpolitischen Strategie, wie sie vom EZB-Rat im Oktober 1998 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde,10 ist eine quantitative Definition der Preisstabilität. Diese Definition ist ein entscheidender Beitrag im Dienste der Rechenschaftspflicht der EZB — ohne eine solche Definition wäre eine sachgemäße Beurteilung des Erfolgs der EZB großen Unschärfen ausgesetzt. Die EZB sieht Preisstabilität als gewährleistet an, wenn der „Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex für das Euro-Währungsgebiet unter 2 Prozent gegenüber dem Vorjahr" liegt. Gleichzeitig hat die EZB betont, daß Preisstabilität über die mittlere Frist erreicht werden soll. Mit dieser Definition hat der EZB-Rat den Marktteilnehmern von Anfang an Klarheit über seine geldpolitische Ausrichtung verschafft und damit auch einen wesentlichen Beitrag zur Steuerung mittel- und langfristiger Inflationserwartungen geleistet. Die von der EZB gewählte Definition der Preisstabilität steht im Einklang mit der allgemeinen Erkenntnis, daß die allokativen Vorteile der Preisstabilität am größten sind, je näher Preisveränderungsraten an 0 Prozent liegen. Aus zwei Gründen hat die EZB allerdings davon abgesehen, Preisstabilität als „0 Prozent Inflation" zu definieren. Erstens gibt es keine Klarheit über mögliche Meßfehler im Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) für das Euro-Währungsgebiet. Studien für andere Volkswirtschaften oder andere Preisindizes haben regelmäßig zu dem Ergebnis geführt, daß Preismaße aufgrund statistischer Probleme die wahre Inflationsrate überzeichnen. Für den Harmonisierten Verbrauchetpreisindex, der erst Mitte der 90er Jahre konzipiert wurde, gibt es bislang keine verläßliche Studie über Meß-

9 10

Vgl. Issing (1999) sowie Issing et. al. (2001). EZB-Pressenotiz, „Eine stabilitätsorientierte geldpolitische Strategie für das Europäische System der Zentralbanken", Oktober 1998. Siehe auch Europäische Zentralbank (1999a) sowie Europäische Zentralbank (2001).

320

Hans-Joachim Klöckers

Verzerrungen. Solange dies der Fall ist, erscheint es angemessen, die etwas unscharfe Formulierung „Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex" (von unter 2 Prozent) zu verwenden. Diese Formulierung gibt nicht explizit eine Untergrenze von 0 Prozent an, sondern macht lediglich klar, daß negative Wachstumsraten des HVPI nicht mit Preis Stabilität vereinbar sind. Zweitens sollte die Definition auch einen ausreichenden Puffer bieten, um das Risiko von Deflation im Währungsgebiet gering zu halten. Wegen der de facto Untergrenze von 0 Prozent für den Nominalzins ist Deflation von Zentralbanken generell schwieriger zu bekämpfen als Inflation. Die Definition läßt daher explizit kleine positive Inflationsraten zu, nämlich Inflationsraten von unter 2 Prozent, und hält damit die Gefahr einer Abwärtsspirale im Preisniveau hinreichend im Zaum.11 3.3

Die Analyse von Risiken für die Preisstabilität

Der zweite Bestandteil der geldpolitischen Strategie ist der Analyserahmen, den der EZB-Rat benutzt, um abzuschätzen, ob Risiken für die Wahrung der Preisstabilität existieren oder nicht. Bei der Bestimmung dieses Analyserahmens mußten zwei wichtige Aspekte berücksichtigt werden. Der erste besteht darin, daß die Geldpolitik das Preisniveau nur mit einer erheblichen Wirkungsverzögerung und nur sehr unpräzise steuern kann. In der Regel haben geldpolitische Maßnahmen nach etwa 2-3 Jahren ihren größten Effekt auf das Preisniveau, ein Tatbestand, der von den Entscheidungsträgern verlangt, eine vorausschauende und vorbeugende PoEtik zu betreiben. Der zweite Aspekt ist, daß die Geldpolitik in Bezug auf die zukünftige Preisentwicklung aufgrund der Komplexität der wirtschaftlichen Zusammenhänge immer mit einer großen Unsicherheit operiert. Wie bereits angedeutet, ist diese Unsicherheit für das Euro-Währungsgebiet möglicherweise ausgeprägter als für andere Währungsgebiete. Die EZB versucht, diesen beiden Aspekten der geldpolitischen Strategie Rechnung zu tragen, indem sie für geldpolitische Entscheidungen erstens einen äußerst breit gefächerten Analyserahmen verwendet und zweitens betont, daß die Geldpolitik eine mittelfristige Ausrichtung verfolgt. 3.3.1

Der Analyserahmen

Ein breit gefächerter Analyserahmen ist wichtig, um zu gewährleisten, daß der EZB-Rat alle entscheidungsrelevanten Informationen systematisch erhält. Um eine Struktur in diese Informationen zu bringen, aber auch um zu verdeutlichen,

11

Zur Erläuterung der EZB-Definition siehe auch die Briefe des EZB-Präsidenten Wim Duisenberg an die Vorsitzende des Ausschusses des Europaparlaments für Wirtschaft und Währung, Christa Randzio-Plath, vom 16. Oktober 2001 und vom 13. Dezember 2001 (www.ecb.int).

Die Rolle der Geldpolitik in Europa

321

daß es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, Inflationsprozesse zu interpretieren und zu analysieren, hat die EZB ihre Strategie auf zwei Säulen gestellt.12 Die erste Säule spiegelt wider, daß Inflation immer eine monetäre Seite hat. Sie weist der Analyse der Geldmengenentwicklung eine prominente Rolle zu, basierend auf der Beobachtung, daß es in den Ländern des Euro-Währungsgebiets historisch gesehen einen engen Zusammenhang zwischen Inflation und Geldmengenentwicklung gibt, und daß normalerweise die Geldmenge ein guter vorlaufender Indikator für zukünftige Inflationsprozesse ist. Die zweite Säule der Strategie stellt dann sicher, daß auch andere Faktoren, die einen Bezug zur Inflationsentwicklung haben, in die Analyse mit einfließen. Innerhalb dieser zweiten Säule nimmt die Analyse von gesamtwirtschaftlichem Angebot und Nachfrage breiten Raum ein, unterstützt durch eine detaillierte Analyse der Faktoren, die die Güterpreise in der kurzen Frist beeinflussen können. Die zweite Säule trägt dabei der Tatsache Rechnung, daß auch eine mittelfristig orientierte Zentralbank kürzerfiristige Inflationsprozesse berücksichtigen muß, da immer die Gefahr besteht, daß anfänglich einmalige Faktoren oder Geschehnisse Einfluß auf die Inflationserwartungen der Wirtschaftsakteure haben und damit auch mittelfristig zur Gefährdung der Preisstabilität beitragen können.13 Der Kern des Zwei-Säulen-Ansatzes ist es, zu gewährleisten, daß beiden Sichtweisen des Inflationsprozesses ständig und systematisch Rechnung getragen wird. Die zwei Säulen sind dabei als komplementär zu verstehen, sie dienen der wechselseitigen Überprüfung von Auffassungen über die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Inflationsprozesse. Die ständige Konfrontation der Entscheidungsträger mit zwei verschiedenen Analyserahmen ist letztlich ein Mittel, die ökonomischen Analysen zu vertiefen und die Basis für geldpolitische Entscheidungen zu verbessern. Die Erfahrungen in den ersten vier Jahren europäischer Geldpolitik zeigen, daß die zwei Säulen einen sehr wichtigen Beitrag dazu leisten, die Wirtschaftsentwicklung im EuroWährungsraum umfassend zu verstehen und die Risiken für die zukünftige Preisentwicklung so gut wie möglich abzuschätzen.

12 13

Europäische Zentralbank (2000). Ein fester Bestandteil der Vorlesungen Bernhard Külps zur Konjunktur- und Wachstumspolitik der 80er Jahre war die Dreiteilung der Inflationstheoiien in Quantitätstheorie, nachfrageorientierte Inflationstheorie und angebotsorientierte Inflationstheorie. (Ähnliche Unterscheidungen finden sich bei Issing, 2001.) Während die erste Säule der geldpolitischen Strategie der EZB sicherlich einen quantitätstheoretischen Hintergrund hat, läßt sich die zweite Säule mit den anderen beiden Inflationstheorien verbinden.

322 3.3.2

Hans-Joachim Klöckers

Die Ausrichtung auf die mittlere Frist

Hinsichtlich der Ausrichtung auf die „mittlere Frist" in der Geldpolitik sind zwei Aspekte zu unterscheiden. Erstens, ex post, möchte die EZB klarstellen, daß der Erfolg ihrer Politik nur über die mitdere Frist abgeschätzt werden kann und daher auch soll. Geldpolitik kann kurzfristige Preisschwankungen nicht ausgleichen — wegen der angesprochenen Verzögerungen im Transmissionsprozeß kann nur eine „Grobsteuerung" des künftigen Preispfades erfolgen. Dies muß bei der Beurteilung der Politik der EZB immer berücksichtigt werden. Zweitens hat die Ausrichtung auf die mittlere Frist auch eine ex-ante-Perspektive. Die EZB hat bewußt davon abgesehen, den Horizont für die Geldpolitik auf eine bestimmte Zahl von Jahren, z. B. zwei Jahre, festzulegen. Ein Grund hierfür ist, daß der Transmissionsprozeß der Geldpolitik vielen Unsicherheiten unterliegt und sich im Zeitablauf — über mehrere Jahre — erstreckt. Ein weiterer Grund für die etwas unscharfe Formulierung der „mitderen Frist" ist, daß eine stabilitätsorientierte Geldpolitik unterschiedlich auf verschiedene Formen von Störungen des Preisbildungsprozesses reagieren soll. Beispielsweise kann eine Geldpolitik im Regelfall weitaus gelassener auf eine temporäre Ölpreissteigerung reagieren als auf Anzeichen eines Inflationsdrucks, der von einer konjunkturellen Überhitzung oder von steigenden Inflationserwartungen im Lohnfindungsprozeß der Tarifpartner ausgeht. Je nach Situation und Art der Störung des Konjunkturprozesses kann es daher Unterschiede im optimalen Timing und der optimalen Dosierung geldpolitischer Maßnahmen geben. Die Formulierung der „mittleren Frist" erlaubt es anzuzeigen, daß all dies im geldpolitischen Entscheidungsprozeß berücksichtigt wird. Die Ausrichtung auf die mitdere Frist erlaubt es dabei auch, in adäquater Weise auf das Zusammenspiel von Inflation und Konjunkturzyklen einzugehen. Eine Politik, die sich den Spielraum offen hält, auf Angebots- und Nachfragestörungen in der Volkswirtschaft unterschiedlich zu reagieren, sollte — wenn sie erfolgreich umgesetzt wird — auch einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung des Wirtschaftswachstums leisten. 3.4

Die geldpolitischen Instrumente

Der strategische Rahmen der EZB wird ergänzt durch ein ausgesprochen flexibles System geldpolitischer Instrumente. Dieses System ist streng am Prinzip der Marktorientierung ausgerichtet. Die EZB ist in der Regel nur einmal wöchentlich zur Bereitstellung von Liquidität am Geldmarkt. Aufgrund der Existenz eines effizienten Mindestreservesystems, das es den Banken erlaubt, kurzfristige Schwankungen im Liquiditätsbedarf im Monatsverlauf auszugleichen, reicht der wöchentliche Eingriff der EZB in der Regel aus, um den kurzfristigen Marktzins sehr nahe an dem vom EZB-Rat gewünschten Niveau zu halten.

Die Rolle der Geldpolitik in Europa

323

Dieses nicht-aktivistische System hat dazu beigetragen, daß sich im Euroraum bereits zu Beginn der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion ein sehr effizient funktionierender Interbankenmarkt herausgebildet hat. Dies ist auch daran abzulesen, daß die Einlage- und Kreditfazilitäten der EZB, die den Banken täglich zur Verfügung stehen, kaum genutzt werden. Aus ökonomischer Sicht ist zudem hervorzuheben, daß die Volatilität der kurzfristigen Marktzinsen im Eurogebiet mit zu den niedrigsten weltweit gehört. Letzteres trägt wesentlich dazu bei, daß die geldpolitischen Signale des EZB-Rats von den Märkten stets klar verstanden werden können.

4. 4.1

Einige Sonderfragen Die Rolle der monetären Analyse in der Strategie der EZB

Eine Frage, die gelegentlich zur Strategie der EZB gestellt wird, ist: Warum widmet die EZB der Untersuchung monetärer Aggregate so viel Aufmerksamkeit, warum gibt es eine separate „erste Säule" in der Strategie, warum werden nicht einfach alle Informationen, einschließlich der Informationen über monetäre Aggregate, in einer einzigen Inflationsprognose gebündelt? In diesem Zusammenhang wird regelmäßig auf das Beispiel anderer Zentralbanken verwiesen, die eine Strategie des ,Inflation targeting" verfolgen und bei ihren geldpolitischen Entscheidungen den Blick ausschließlich auf Inflationsprognosen richten. Die Diskussionen über den Vergleich der EZB-Strategie mit der Strategie des ,Inflation targeting" greifen in der Regel viel zu kurz. In allen großen Zentralbanken der Welt fließen komplexe Informationen in den geldpolitischen Entscheidungsprozeß ein. Zu diesen Informationen zählt immer und überall auch die Geldmenge. Die Unterschiede, die sich hier zwischen Zentralbanken feststellen lassen, beruhen zumeist auf zwei Faktoren: Erstens gibt es empirische Differenzen in den Indikatoreigenschaften verschiedener Variablen in unterschiedlichen Währungsgebieten. Dies trifft insbesondere auf die Geldmenge zu, denn in manchen anderen Währungsgebieten ist es weitaus schwieriger, eine stabile Nachfrage für ein Geldmengenaggregat empirisch nachzuweisen oder einem Geldmengenaggregat Vorlaufeigenschaften für das Preisniveau zu attestieren. Derartige Eigenschaften sind im Eurogebiet jedoch gegeben, was die besondere Aufmerksamkeit, die die EZB der Geldmengenentwicklung widmet, rechtfertigt.14 Eine zweite Differenz besteht in unterschiedlichen Sichtweisen und Traditionen in der Kommunikationspolitik. Obwohl alle großen Zentralbanken intern ausführliche Diskussionen über die Geldmengenentwicklung führen, haben sich einige Zentralbanken dazu entschlossen, ihre Kommunikation zu simplifizieren

14

Für eine Übersicht und Hinweise auf weiterführende Studien vgl. Biand/Gerdesmeier/ Roffia, (2002).

324

Hans-Joachim Klöckers

und all ihre Analysen in einer Inflationsprognose zu bündeln und diese zum Zentrum ihrer geldpolitischen Entscheidungen zu machen.15 Die EZB hat aus verschiedenen Gründen davon abgesehen, die Geldpolitik allein auf Inflationsprognosen zu stützen. Erstens ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, eine einheitliche Prognose zu erstellen, die sich sowohl auf monetäre als auch auf andere Modelle bezieht. Will man eine solche Prognose bilden, muß man die verschiedenen Modelle intern immer gewichten, um sie aggregieren zu können. Eine solche Gewichtung ist jedoch stets willkürlich, beruht auf subjektiven Präferenzen und ist wahrscheinlich für Außenstehende nicht nachvollziehbar. Es ist transparenter, der Öffentlichkeit die Vielzahl der Analyseprozesse in der Zentralbank umfassend darzulegen, anstatt zu suggerieren, man könne alle Faktoren, die in geldpolitische Entscheidungen einfließen, in einer Zahl, nämlich einer Inflationsprognose, zusammenfassen.16 Aus diesem Grund, aber auch wegen der besonderen empirischen Bedeutung als Indikator im Währungsgebiet, hat sich die EZB dazu entschlossen, in ihrer Strategie die Geldmengenanalyse als eine separate Säule zu präsentieren. 4.2

Das Zusammenspiel von Geld- und Fiskalpolitik

In der öffentlichen Diskussion wird verschiedentlich auch die Frage angesprochen, ob es nicht einer engeren Koordination des „Policy-Mix" zwischen Geldund Fiskalpolitik in der Währungsunion bedürfe.17 Die Argumentation basiert hier zumeist auf theoretischen Modellen, die belegen, daß unter bestimmten Bedingungen eine diskretionäre Abstimmung zwischen Geld- und Fiskalpolitik ein inflations freies Wachstum effizienter verfolgen kann als eine Politik weitgehend geteilter und regelgebundener Verantwortlichkeiten, wie sie im EG-Vertrag bestimmt ist. Prüft man jedoch diese theoretischen Modelle näher, so sieht man schnell, daß ihre Annahmen in der Wirklichkeit nicht erfüllt sind. Ein Problem in diesem Zusammenhang ist, daß es eine Vielzahl von mehr oder weniger plausiblen Modellen der Volkswirtschaft gibt und die Handlungsanweisungen für den optimalen Policy-Mix von Modell zu Modell stark variieren können. In der Praxis werden sich politische Entscheidungsträger kaum mit solchen Fragen beschäftigen können und eher dazu neigen, einfache Kompromisse zu schließen und damit suboptimale Lösungen zu verfolgen.

Siehe die Beiträge verschiedener Zentralbankvertreter zu einem EZB-Workshop in Klökkers/Willeke (2001). " Vgl. Klöckers (2001). 15

17

Vgl. die Äußerungen des EU-Kommissionsmitgliedes Pedro Solbes in einer Rede mit dem Titel „Economic policy coordination: the way forward", gehalten am 2. Mai 2002.

Die Rolle der Geldpolitik in Europa

325

Ein weiterer Punkt ist, daß die Modellannahmen über die Präzision, mit der die Fiskal- und die Geldpolitik die Wirtschaftssituation einschätzen und durch ihre Instrumente beeinflussen können, in der Praxis nicht gegeben sind. De facto eignen sich weder Fiskal- noch Geldpolitik zur Feinsteuerung der Konjunktur und können nur zur Verfolgung mittel- bis langfristiger Ziele effektiv eingesetzt werden. Schließlich scheint eine zu zentrale Annahme vieler Modelle zum Policy-Mix zu sein, daß verschiedene Akteure unterschiedliche, nicht kompatible Ziele verfolgen. Es ist nicht verwunderlich, daß in einer solchen Modellwelt Ergebnisse abgeleitet werden können, in denen die soziale Wohlfahrt durch Kooperation der Politikakteure gehoben werden kann. Aber letztlich greifen solche Analysen immer zu kurz: Die Koordinierung auf der Zielebene, d. h. das Setzen kompatibler Ziele, ist immer einem System vorzuziehen, in dem versucht wird, den Politikprozeß durch Absprachen über den Mitteleinsatz zur Verfolgung konfligierender Ziele zu steuern.18 Abgesehen hiervon gibt es jedoch auch klare Anreiz- und Durchsetzungsprobleme, sobald man damit beginnt, Politikverantwortlichkeiten zu vermischen. Kollektiviert man die Verantwortlichkeit, hat jeder Entscheidungsträger einen Anreiz, vom vereinbarten Politikpfad abzuweichen. Dies fuhrt angesichts mangelnder Durchsetzungsmöglichkeiten der Politikvereinbarung letztlich zu schlechteren ökonomischen Ergebnissen als eine Politik, bei der die Zuordnung zwischen Ziel und Entscheidungsträger klar erfolgt. Schließlich gelten hier auch alle Argumente, die für die Unabhängigkeit der Geldpolitik sprechen, insbesondere die Notwendigkeit, die Geldpolitik dem kurzfristig orientierten politischen Einfluß zu entziehen. Vor diesem Hintergrund haben die Autoren des EG-Vertrags eine weise Entscheidung getroffen, als sie jegliche diskretionäre Koordinierung der Geldpolitik und anderer Wirtschaftspolitiken ausgeschlossen haben. Die vertragliche Ausgestaltung sorgt dafür, daß die Zentralbank einen klaren Anreiz hat, das Ziel der Preisstabilität zu verfolgen. Gleichzeitig sind alle nationalen fiskalpolitischen Entscheidungsträger im Euroraum den klaren Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes unterworfen, die Versuchen einer diskretionären Konjunktursteuerung klare Grenzen setzen und damit die Bedeutung der Fiskalpolitik als ein auf die lange Frist ausgerichtetes Instrument zur Förderung des Wirtschaftswachstums hervorheben. Am Rande sei angemerkt, daß die meisten der genannten Argumente gegen eine aktive Koordinierung von Geld- und Fiskalpolitik auch auf Fragen der Koordinierung anderer Politikbereiche, wie z. B. der Geldpolitik auf internationaler Ebene, zutreffen. In allen Fällen gibt es klare Informations- und Anreizprobleme, die dafür sprechen, den Entscheidungsträgern einen eigenen Verantwortungsbereich zuzuweisen, statt Verantwortungen zu vermischen und damit An18

Vgl. Masuch/Brand (2002).

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326

reize für Fehlverhalten zu schaffen. Es ist ein besonderes Verdienst Bernhard Külps, in all seinen Werken zur Wirtschaftspolitik immer auf diese Aspekte des „Politikversagens" hingewiesen zu haben.19 4.3

Nationale Divergenzen in einer Währungsunion

Die Zentralisierung der Geldpolitik auf europäischer Ebene impliziert, daß die EZB nur ein Ziel verfolgen kann, nämlich Preisstabilität im Währungsraum als Ganzem. Durch die Währungsunion gibt es einen einheitlichen, durch die EZB gesteuerten Geldmarktzins im Euro-Währungsgebiet; es gibt keine Möglichkeiten mehr für Wechselkursanpassungen zwischen den teilnehmenden Ländern und auch keine Spielräume für die Geldpolitik, auf nationale Sonderentwicklungen Rücksicht zu nehmen. Der Wegfall der nationalen Währungssouveränität ist der Preis für die Teilnahme an der Währungsunion. Diesen Preis zu zahlen lohnt sich für ein Land nur dann, wenn es davon ausgehen kann, hinreichend konvergente Wirtschaftsentwicklungen mit dem Durchschnitt der anderen teilnehmenden Länder zu haben. Gleichzeitig gilt auch umgekehrt, daß es für alle teilnehmenden Länder — aus ökonomischer wie aus politischer Sicht — bedeutsam ist, daß die Divergenzen zwischen den einzelnen Volkswirtschaften nicht zu groß werden und insbesondere, daß sich die Entwicklungen aller Einzelstaaten grosso modo im Einklang mit der Stabilitätsorientierung der Währungsunion als Ganzer bewegen. Die Konvergenzkriterien, die den Zugang einzelner Länder zur Währungsunion regeln und bei deren Interpretation besonderes Augenmerk auf die Erfüllung der Nachhaltigkeit gelegt werden muß, sowie der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der das Verhalten der Fiskalpolitik nach dem Eintritt in die Währungsunion bestimmt, dienen dazu, volkswirtschaftliche Divergenzen innerhalb der Währungsunion gering zu halten. Ganz eliminieren lassen sich realwirtschaftliche Divergenzen in einer Währungsunion jedoch nie. Es kann immer wieder zu sektorspezifischen Schocks kommen, die die teilnehmenden Staaten in unterschiedlicher Weise treffen. In der europäischen Währungsunion gibt es eine Vielzahl von Mechanismen, um solche Schocks abzufedern. Die Währungsunion ist in eine marktwirtschaftliche Ordnung eingebettet, in der sich Güter- und Faktorpreise an lokale Gegebenheiten anpassen können. Zudem fördert der europäische Binnenmarkt die Mobilität der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit zur Anpassung an veränderte regionale Gegebenheiten. Im Prinzip sollten diese Anpassungsmechanismen ausreichen, um regionale und nationale Divergenzen in einer Währungsunion in Grenzen zu halten.

» Vgl. z. B. sein Lehrbuch „Sektorale Wirtschaftspolitik" (1984).

Die Rolle der Geldpolitik in Europa

327

Kritiker der Währungsunion weisen allerdings zu Recht darauf hin, daß die marktwirtschaftlichen Anpassungsprozesse in der europäischen Währungsunion zumindest bislang nicht voll zum Zuge kommen können. Es gibt zum Ersten zu viele Regelungen (und möglicherweise auch Verhaltensmuster), die Mengenanpassungen an Schocks sowie die Wanderung von Produktionsfaktoren erschweren. Zum Zweiten gibt es zu wenig Flexibilität bei den Preisen, insbesondere bei den Preisen des Produktionsfaktors Arbeit. Aus diesem Grund fuhren in Europa ungünstige regionale Schocks schnell zu regionaler Arbeitslosigkeit, ohne daß es zu einer raschen marktmäßigen Anpassung kommt. Besteht deshalb die Notwendigkeit anderer Anpassungsinstrumente? Theoretisch steht hier zum Ersten das Instrument der Fiskalpolitik zur Verfügung, das ja in nationaler Verantwortlichkeit erhalten geblieben ist. Im Bereich der Fiskalpolitik wirken die sogenannten „automatischen Stabilisatoren" und helfen, nationale Schocks abzufedern. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt läßt das Wirken solcher automatischer Stabilisatoren ausdrücklich zu, indem er vorsieht, daß Länder normalerweise einen ausgeglichenen Haushalt oder einen Haushaltsüberschuß aufweisen sollten. Dies gibt den teilnehmenden Ländern hinreichend Spielraum, bei einem Wirtschaftsabschwung die automatischen Stabilisatoren spielen zu lassen, ohne Gefahr zu laufen, die vom EG-Vertrag vorgesehene Obergrenze für öffentliche Haushaltsdefizite von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu überschreiten. Skepsis ist jedoch angebracht hinsichtlich der Effizienz weiter gehender fiskalpolitischer Versuche, die Konjunktur zu stabilisieren. Die Erfahrungen mit diskretionärer Fiskalpolitik haben gezeigt, daß eine solche Politik erstens schwer zu dosieren und daher nicht effizient und zweitens auch schwer umkehrbar ist und damit letztlich nur zu einer höheren Staatsverschuldung fuhrt. Darüber hinaus ist immer wieder der Vorschlag zu hören, daß es mehr EU-weite sozialpolitische Instrumente geben sollte, um die Kosten starker nationaler Schocks abzumildern. Gewisse Elemente solcher Instrumente sind bereits im EU-Regelwerk vorhanden, z. B. durch die Existenz der Kohäsions- und Strukturfonds. Da die hier zur Verfügung stehenden Beträge allerdings begrenzt sind, gibt es immer wieder Stimmen, die die Ausweitung der europäischen Transfersysteme fordern. Hinsichtlich der gesamtwirtschaftlichen Effizienz solcher Vorschläge sind allerdings große Zweifel angebracht. Letztlich lähmen interregionale Transfersysteme immer nur die notwendigen realwirtschaftlichen Anpassungen an strukturelle regionale Schocks, da sie die Anreize zur Mengen- oder Preisanpassung für die Betroffenen vermindern. Gleichzeitig führt die Finanzierung solcher Transfersysteme auch zu verminderten Leistungsanreizen bei denjenigen, die die Finanzierung zu tragen haben. Dies sind Aspekte, die Bernhard Külp in seinen Arbeiten

328

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zum Zusammenspiel von Sozialpolitik und marktwirtschaftlicher Ordnung immer wieder betont hat.20 Die Problematik diskretionärer Fiskalpolitik und überbordender sozialer Transfersysteme verdeutlicht, daß die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion letztlich auf marktwirtschaftliche Anpassungsmechanismen setzen muß, um regionale Ungleichgewichte abzumildern. Die EZB hat daher seit Beginn ihrer Tätigkeit Fortschritte beim Abbau von Rigiditäten auf den Arbeits-, Kapital- und Gütermärkten angemahnt. Letztlich kann die Währungsunion nur in einem Umfeld funktionierender und flexibler Märkte ihre Effizienz voll entfalten und bestmöglich zur Wohlfahrt der Bürger Europas beitragen.

5.

Schlußbemerkungen

Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft hat einen effizienten Rahmen für die europäische Geldpolitik geschaffen. Dieser Rahmen, der durch die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts noch weiter gestützt wird, erlaubt eine eindeutige Ausrichtung der europäischen Geldpolitik auf das Ziel der Preisstabilität und enthält hinreichend klare Regeln, um Konflikte zwischen Geld- und Fiskalpolitik im Zaum zu halten. Der Erfolgsausweis nach den ersten Jahren europäischer Geldpolitik ist äußerst positiv. Das Euro-Währungsgebiet hatte in den ersten vier Jahren einen ausgesprochen hohen Grad an gesamtwirtschaftlicher Stabilität zu verzeichnen (siehe Abb. 1). Auch wenn es einige nicht vorhersehbare größere Preissteigerungen im Energie- und Nahrungsmittelbereich gegeben hat, so ist es der EZB doch gelungen, zu verhindern, daß diese Einmaleffekte in steigende Inflationserwartungen oder gar einen akzelerierenden Inflationsprozeß umgeschlagen sind. Mit dem Ubergang zur Währungsunion konnte damit im Eurowährungsgebiet nahdos an die erfolgreiche Stabilitätstradition in der Bundesrepublik Deutschland angeknüpft werden.

Zeitraum

Euro-Währungsgebiet

Deutschland

...

2,7

1968-1998

6,0

3,4

1999-September 2002

2,0

1,7

Juni 1949-1998

Abbildung 1: Langfristige Daten zur Verbraucherpreisentwicklung (in Prozent p. a.; Durchschnittswerte)

Quelle: EZB

20

Vgl. Külp (1984) oder Berthold/Külp (1987).

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329

Der Lohn dieser Stabilitätspolitik ist sichtbar in deutlich gefallenen Risikoprämien an den Finanzmärkten. Die durchschnittlichen Realzinsen im Euroraum liegen weit unter denen früherer Zeiträume (siehe Abb. 2). Dies spiegelt zu einem großen Teil den Rückgang der Inflationsunsicherheit im Eurogebiet wider. Zudem reflektiert es die deutlichen strukturellen Verbesserungen der öffentlichen Haushalte in vielen Ländern im Vorfeld der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion. Selbst wenn zwischen 1999 und 2002 im Euro-Währungsgebiet im Durchschnitt noch keine ausgeglichenen Haushalte erreicht wurden, so war die Situation der öffentlichen Haushalte doch weitaus besser als zu Beginn der 90er Jahre.

Reale Kurzfristzinsen2) Zeitraum

Reale Langfristzinsen3)

Euro-Währungsgebiet

Deutschland

Euro Währungsgebiet

Deutschland

Juni 1949-1998')

4,3

4,0

4,8

4,8

1968-19981)

4,8

3,8

5,4

4,5

1999-September 20021)

1,7

3,0

Abbildung 2: Reale Zinssätze (in Prozent p. a.; monatliche Durchschnittswerte) Quelle: EZB 1) Deflationiert mit der durchschnittlichen Inflation über den Zeitraum 2) Dreimonats-Interbankensätze. 3) Rendite zehnjähriger Staatsanleihen.

Und schließlich sind die gesunkenen Risikoprämien auch eine Folge des Wegfalls des Wechselkursrisikos zwischen den teilnehmenden Ländern der Währungsunion. Es ist noch gut in Erinnerung, wie viele der heutigen Mitgliedstaaten bis Ende der 90er Jahre teils erhebliche Zinsaufschläge an den Finanzmärkten zahlen mußten, um Investoren gegenüber dem Risiko der Abwertung der einheimischen Währung abzusichern.21 Insgesamt hat die Währungsunion durch die Schaffung höherer wirtschaftlicher Stabilität zu einer erhöhten Sicherheit für Sparer und deutlich verbesserten Finanzierungsmöglichkeiten für Investitionen im Euro-Währungsgebiet geführt. Dies sind bedeutsame Beiträge zu einem höheren Wachstumspotential und einer Stärkung des sozialen Fortschritts in Europa.

21

Vgl. Europäische Zentralbank (1999b).

330

Hans-Joachim Klöckers

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Was hält eine Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung zusammen? Thomas Straubhaar1

In den Worten von Bernhard Külp2 hieße es, „Eulen nach Athen tragen", ausgerechnet in seiner Festschrift dem Meister von Verteilungstheorie und -politik neue Antworten zur „sozialen Frage"3 geben zu wollen. Zu beeindruckend umfangreich hat sich Bernhard Külp in voller Breite zu Verteilungs fragen geäußert. Deshalb beschränke ich mich auf einen ganz engen Bereich der Verteilungspolitik. Es geht mir um die Frage, was Solidargemeinschaften zusammenhält in einem Zeitalter, in dem die (sozio-)ökonomischen Kosten der Abwanderung gesunken sind und sich Menschen relativ einfach aller sozialer Pflichten entziehen können. Külp4 schrieb dazu: „Bei den Einrichtungen der Sozialen Sicherheit hat die Solidargemeinschaft die Leistungen der sozialen Sicherheit zu finanzieren, wobei diese Einrichtungen weitgehend vom Äquivalenfyrinvgp getragen werden. Es muß deshalb auch sichergestellt werden, daß diese Solidargemeinschaft nicht dadurch in ihrer Existenz bedroht wird (die Leistungen also unfinanzierbar werden), daß es ausländischen Arbeitnehmern erlaubt wird, die Leistungen dieser Einrichtungen ohne entsprechende Beitragsverpflichtungen in Anspruch zu nehmen." Im Folgenden geht es mir weniger um die Problematik des Sozialtransfers von Einheimischen an Zuwandernde5 als vielmehr um die Umkehrung: Mich interessiert die Abwanderung als Reaktion auf eine Verletzung des Äquivalenzprinzips — wenn also Menschen, die mehr in die Sozialkassen bezahlen müßten, als sie Ansprüche geltend machen können, ihrem Mißfallen durch Abwanderung Ausdruck geben. Mit anderen Worten geht es mir um den „Kitt" in einer modernen Gesellschaft. Was hält eine Solidargemeinschaft zusammen, wenn die Leistungsträger(innen) — also insbesondere — die Netto-Zahler(innen) problemlos weggehen können? „Bleiben" in einer offenen Gesellschaft, hat — so meine These — im allgemeinen etwas zu tun mit den Abwanderungskosten und hängt im speziellen zusammen mit etwas, was ich ,.Loyalität" nennen werde.

Der Beitrag entstand im Rahmen des HWWA-Schwerpunktes „Internationale Mobilität von Unternehmen und Arbeitskräften". Külp (1996), S. 6. Külp (2000), S. 155. Külp (1994), S. 409. Vgl. hierzu Sinn (2000); Sinn et al. (2001) und Straubhaar (2000).

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1.

Thomas Straubhaar

Ökonomik der Loyalität

Ob am Morgen der Weg ins Büro, am Abend der Weg nach Hause, ob im Urlaub die Reise in den Süden oder der kurze Abstecher ins nächste Schwimmbad: Menschen stehen tag-täglich und immer wieder vor einem einfachen mikroökonomischen Entscheidungskalkül: "Should I Stay or Should I Go?". Das Optimierungsmodell unter verschiedenen Nebenbedingungen und Restriktionen dürfte in der Regel (auch intuitiv und ohne Taschenrechner!) dazu führen, daß jene Alternative gewählt wird, die den höchsten Netto-Gegenwartswert unter Einschluß aller Transaktions- und Transportkosten verspricht. Genauso dürften Menschen dorthin wandern und an jenem Ort leben, wo sie sich am weitest gehenden "selbst verwirklichen" können (oder wo sie das höchste Einkommen erzielen). Technologische Fortschritte und politische Prozesse haben in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts gleichermaßen zu einem Abbau natürlicher und künstlicher Distanzkosten geführt. Menschen sind dadurch wesentlich mobiler geworden. Sie können in wenigen Stunden für immer weniger Geld jeden beliebigen Ort der Welt erreichen. Die sinkenden Kosten der Raumüberwindung und der Informationsübermittlung verschieben das Optimierungskalkül in Richtung auf "Go". Früher relativ immobile Menschen werden mobiler. "Gehen" wird attraktiver als "Bleiben". Was aber hält im Zeitalter der Individualisierung der Gesellschaft und der Globalisierung der Wirtschaft eine Gemeinschaft noch zusammen?6 Um diese Frage zu beantworten, will ich den Begriff der Loyalität verwenden. Noch hat eine eigentliche „Ökonomik der Loyalität" in der Literatur kaum Spuren hinterlassen. Der Begriff Loyalität spielt in der ökonomischen Analyse eine untergeordnete Rolle. Zur Definition muß eine breitere sozialwissenschaftliche Literatur aus verschiedenen Sachgebieten wie Soziologie und Psychologie herangezogen und in wirtschaftswissenschaftliche Termini „übersetzt" werden.7

6

7

Der Zukunftsforscher Opaschowski (2002, 2002a) kommt zum Schluß: „Die Antwort auf die Sinnfrage, was uns zusammenhält, lautet ganz einfach: Es tut gut, gebraucht zu werden. ... Sozial verantwortliches Handeln sorgt für die eigene soziale Sicherheit und garantiert zugleich auch künftigen Generationen ein lebenswertes Leben." (Opaschowski, 2002a, S. 19) Um hier eine Idee des Begriffs Loyalität zu geben, wird lediglich aus der International Encyclopedia of the Social Sciences (Sills, 1968, S. 484) zitiert: „"Loyalty can be defined as a feeling of attachment to something outside of the self, such as a group, an institution, a cause, or an ideal. The sentiment carries with it a willingness to support and act in behalf of the objects of one's loyalty and to persist in that support over an extended period of time and under conditions which exact a degree of moral, emotional, or material sacrifice from the individual." Da hier von „multiple loyalties" ausgegangen wird, die ein Mensch auf sich vereinigt, kann es auch zu „conflicting loyalties" kommen: „Conflicts of loyalty are especially important during times of rapid social change and when the state feels threatened from within and without. During such times, individuals are uncertain of the intentions and the reliability of others, and the old patterns of belief and affiliation conflict with the new

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Der aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht fundamentale Beitrag zur „Ökonomik der Loyalität" stammt von dem Soziologen Albert O. Hirschman (1970). In seinem Buch „Exit, Voice and Loyality (Responses to Décliné in Firms, Organizations, and States)"* definiert er Loyalität als Kraft, „die durch Aufschiebung der Abwanderung den Widerspruch verstärkt und dadurch Firmen und Organisationen vor den Gefahren übermäßiger und voreiliger Abwanderung bewahren kann"9. Im Gefolge von „Abwanderung und Widerspruch" kam es zu einer breiten Analyse der „Exit"- und „Voice"-Bedingungen. Allerdings standen dabei mehr die Kundentreue oder die Arbeitsplatztreue im Vordergrund. Vergleichsweise wenig bis überhaupt nicht wurde die Frage von „Abwanderung, Widerspruch und Loyalität" mit Blick auf die Zugehörigkeit zu Staaten analysiert (die ja explizit als dritte Ebene im englischen Originaltitel angesprochen war). Bemerkenswerte Ausnahmen hierzu lieferten Hirschman10 selber sowie Tietzel und Weber11. In jüngerer Zeit erhält die Literatur zu „Abwanderung" und „Widerspruch" Zulauf aus der wirtschaftspolitischen Ecke. Als Folge des wachsenden Unmuts gegen die Reformblockade in Deutschland und angesichts der eben durchgeführten Bundestagswahl im Herbst 2002, die wohl für vier Jahren die politischen Verhältnisse festschreiben dürfte, was einen Widerspruch gegen eine wenig überzeugende Wirtschaftspolitik der Regierung wenig wirkungsvoll werden läßt, sehen viele für die Option „Auswanderung" die Wahrscheinlichkeit steigen.12 Zusammengefaßt, zeigt die von Hirschman angestoßene Diskussion, daß Abwanderung und Widerspruch nicht nur in einem disjunktiven (substitutiven), sondern auch in einem komplementären Zusammenhang stehen. Je kostengünstiger ein „Exit" erfolgen könnte, desto ernsthafter muß ein System (Firma, Organisation, Staat) die Option „Voice" nehmen, um nicht tatsächlich die Abwanderung zu provozieren.13

patterns that are emerging." Und weiter: „Loyalty is equated with conformity, cridcism with disloyalty." 8 Bezeichnenderweise ist in der deutschen Übersetzung „Abwanderung und Widerspruch" (Hirschman, 1974) die „Loyalität" im Titel verlorengegangen! Wieso wohl Heerscharen deutscher Intellektueller nur das Konzept „Abwanderung und Widerspruch" zitierten und das eigentliche Kernelement der Loyalität mißachteten? » Hirschman (1974), S. 78. io Vgl. Hirschman (1978), Hirschman 1993). » Vgl. Tietzel/Weber (1993). 12 Vgl. beispielsweise Hank (2002). 13 Hier sei am Rande angeführt, daß Machthaber durchaus auch ein Interesse an der Abwanderung oppositioneller Gruppen haben können. Die Abschiebung von Regimegegnern aus dem ehemaligen Ostblock oder aus Kuba liefert hierfür ebenso Anschauungsunterricht, wie die folgende Unterhaltung zwischen dem damaligen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas, Mao Tse-tung, und Henry A. Kissinger (damals noch Sicherheitsberater Präsident Nixons) vom 17. Februar 1973, der anekdotischer Wert zukommt. In seinen Memoiren beschreibt Kissinger (1982), S. 84, daß Mao gesagte habe: "Sie wissen, China ist ein sehr armes Land". ... "Wir besitzen nicht viel. Was wir im Überfluß haben, sind Frauen." ...

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2.

Thomas Straubhaar

Ein paar Anwendungen

Für den Ökonomen hat Loyalität etwas mit Kosten der Untreue zu tun. Demgemäß sind Menschen so lange treu, als sie daraus Vorteile ziehen können. Treue schafft Vertrauen. Vertrauen erleichtert die Zusammenarbeit und das Zusammenleben. Man kennt sich. Künftige Handlungen sind berechenbar. Es muß nicht jedes Mal viel Aufwand betrieben werden, um zuverlässige Erwartungen über das Verhalten in bestimmten Situationen zu erhalten. Vielmehr kann auf Erfahrung der Vergangenheit aufgebaut werden. Diese informelle Wissensbasis ist ein gewichtiger Vorteil, gerade wenn alles im Flusse ist und unbekannte Veränderungen Unsicherheit erzeugen. Mit Blick auf das in Abschnitt 1 angesprochene Entscheidungskalkül hat Loyalität zunächst einmal etwas mit Bleiben zu tun. Menschen können einer ökonomit sehen oder sozialen Beziehung treu bleiben, obschon viele gute Gründe eigentlich für einen Wechsel sprechen würden. Stammwähler sind enttäuscht, weil ihre Partei einer „neuen" Politik folgt, die sie nicht gut finden. Wer parteitreu ist, muß deswegen noch nicht zum Wechselwähler werden. Arbeiter sind frustriert, daß ihre Gewerkschaft nicht höhere Lohnabschlüsse durchgesetzt hat. Trotzdem zahlen sie weiterhin ihre Beiträge. Wer an Gott glaubt, mag ihn in den Kirchen nicht wiederfinden. Ein Austritt aus der Glaubensgemeinschaft scheint aber doch eine eher drastische Reaktion zu sein. Ein Seitensprung kann eine Ehe aufs Schwerste belasten. Muß die Konsequenz aber gleich die Scheidung sein? An der Stelle erweist sich Loyalität als wirkungsvolle Migrationsbarriere. Loyalität fuhrt dazu, daß Menschen selbst dann bleiben und durch Widerspruch versuchen, eine mißliebige Situation zu ändern, wenn eigentlich alle individuellen Faktoren für eine Abwanderung sprechen. Es kann dann sogar zu einem „Paradoxon der Immobilität" kommen. Je glaubwürdiger Menschen mit der Abwanderung drohen (um aber faktisch zu bleiben!), um so wirkungsvoller ist ihr Widerspruch und um so erfolgreicher werden sie in ihrer Firma, Organisation oder Heimat ihre Ansprüche durchsetzen können. Die Drohung auszuwandern, hat dann einen Wert, der mit dem wahr machen der Ankündigung verloren ginge. Die Präferenz zugunsten des Bleibens kann dann besonders ausgeprägt sein, wenn die Abwanderung mit hohen sozio-ökonomischen Strafen sanktioniert wird. „Ein solcher Preis kann sich vom Verlust lebenslanger Freundschaften und Bindungen bis zum Verlust des Lebens selbst erstrecken, wobei zwischen diesen "Wenn Sie sie haben wollen, können wir Ihnen ein paar überlassen, vielleicht einige zehntausend". ... "Wenn Sie sie aufnehmen", "dann werden sie bei Ihnen eine Katastrophe herbeifuhren, aber Sie könnten uns wesentlich damit entlasten." ... "Wollen Sie unsere chinesischen Frauen haben? ... Wir können dafür sorgen, daß sie in Ihrem Land alles durcheinander bringen und Ihnen schweren Schaden zufügen." Später wurde Kissinger bedeutet, "daß die Lage in China durchaus nicht so stabil sei, wie es den Anschein hätte; mit den Frauen sei Maos Ehefrau Tschiang Qing, die Führerin des radikalen Flügels der Kommunistischen Partei, gemeint. Sie habe China in Unruhe versetzt und die gegenwärtige Politik in Frage gestellt."

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beiden Extremen noch Repressalien wie Exkommunikation, Diffamierung und Entzug des Lebensunterhalts liegen. Die Abwanderung unter so hohe Strafe zu stellen vermögen sowohl die ältesten menschlichen Gruppen wie Familie, Stamm, Religionsgemeinschaft und Nation als auch modernere Erfindungen wie die Gangsterbande und die totalitäre Partei"14. Loyalität kann also auch erzwungen werden und dazu dienen, sozio-ökonomische Sanktionskosten zu vermeiden. Zusammengefaßt, sollten die Beispiele eines veranschaulichen. Treue ist ein Faktor, der für Bleiben und gegen Gehen wirkt. Loyalität ist somit ein Mobilitätshindernis. Sie verhindert, daß Menschen eine einfache oder auch mehrfache Bindung zu rasch aufgeben. Loyalität sorgt dafür, daß Menschen auf eine mißliebige Veränderung in ihrem sozio-ökonomischen Umfeld nicht mit Weggehen reagieren, sondern bleiben und sich zu wehren beginnen, um innerhalb des alten Sozialsystems wieder zu einem befriedigenden Zustand zurückzukehren. Loyalität ist somit für das langfristige Uberleben eines sozioökonomischen Systems unabdingbar. Sie ist ein Regulierungsmechanismus, der immer wieder dafür sorgt, daß Unzufriedenheit nicht gleich zu Abwanderung und einem Zusammenbrechen des Systems führt.

3.

Sinkende Exitkosten

Am Anfang des 21. Jahrhunderts stehen Regierungen und Machthaber weltweit vor dem Problem, daß ihre Bürgerinnen) unabhängiger geworden sind. Die „Globalisierung" — also die technologisch ermöglichte ökonomische Verkürzung räumlicher und zeitlicher Distanzen — hat Transport- und (Tele-)Kommunikationsleistungen billiger werden lassen. Sie hat damit die ökonomischen Mobilitätskosten nachhaltig gesenkt. Die voranschreitende Individualisierung der Gesellschaft verringert die sozialen Kosten des Weggehens. Beide Prozesse schränken Macht und Willkür politischer Entscheidungsträger ein und machen eine Androhung von Strafen weniger glaubwürdig. Die Staatsgewalt wird schwächer. Die Menschen werden mündiger. Es wird immer leichter möglich, soziale Fesseln abzustreifen und sich von politischem Zwang zu lösen. Am stärksten betroffen sind von den sinkenden Exitkosten wohl jene Bereiche, bei denen der Staat von seinen Angehörigen nicht nur Steuern und Abgaben erzwingt, sondern Naturalleistungen abverlangt, vor allem wenn diese Opfer neben unangenehmen Pflichten und Zeitkosten auch Lebensgefahren verursachen. Dann erhält der oft irrtümlich Bertolt Brecht zugeschriebene Spruch immer stärker Gültigkeit: „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin."15 Das »« Hirschman (1974), S. 82. 15 Christoph Rind (2001) verweist darauf, daß das „Brecht"-Zitat eigentlich aus dem Roman „The People, Yes" des US-Schriftstellers Carl Sandbmg (1878-1967) stammt. Dort sage ein Mädchen, als es eine Truppenparade beobachtet: „Sometime, they'll give a war and nobody will come". Der „Schweizer Soldat" habe dann die Überschrift „Stell dir vor, es ist Krieg,

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Zitat verdeutlicht ein Grundproblem heutiger — Zwangs- und Hoheitsgewalten. Wenn der Ernstfall droht, kann es sein, daß die Soldaten zu Hause bleiben oder sich ins Ausland absetzen und nicht bereit sind, ihr Leben für ihr Vaterland aufs Spiel zu setzen. Natürlich waren Auswanderung oder Fahnenflucht auch früher möglich. Sie waren aber in aller Regel äußerst kostspielig: ökonomisch, weil es teuer war, alles hinter sich zu lassen und anderswo bei null zu beginnen; sozial, weil Desertion als Verrat an der Gesellschaft galt und entsprechend geächtet wurde; juristisch, weil damit alle Rechte einer Staatsangehörigkeit verloren gingen und oft sogar Todesstrafen drohten. Also hatten Obrigkeit und Machthaber relativ leichtes Spiel. Wer nicht freiwillig in den Krieg zog, konnte unter glaubwürdiger Androhung harter Sanktionen gezwungen werden, hinzugehen. Aber nicht nur Armeen sind von einem Befreiungskampf ihrer Angehörigen betroffen. Viele andere staatstragende Institutionen der Vergangenheit werden auf die Probe gestellt. Politische Parteien verlieren ihre Anhänger. Gewerkschaften leiden genauso unter Mitgliederschwund wie Arbeitgeberverbände. Die Kirchen bleiben leer. Und selbst das Band der Ehe hält nicht mehr ewig. Wurden in Deutschland 1960 gut 70 000 Ehen geschieden, waren es 1980 bereits 140 000 und im Jahr 2000 kaum viel weniger als 200 000. Fast 2 von 5 Ehen werden früher oder später durch den Scheidungsrichter getrennt. Von Treue kann somit nicht einmal mehr in einer einfachen Zweierbeziehung die Rede sein. Wie sollte dann eine Loyalität in einem viel komplexeren Spannungsfeld ganzer Gesellschaften erwartet werden dürfen? Wo werden in einer globalisierten und individualisierten Welt die Menschen noch jene emotionalen Beziehungsnetze finden, für deren Schutz und Bestand sie sogar bereit wären, ihr Leben hinzugeben? Ist dies noch der Nationalstaat, oder werden Religionsgemeinschaften, Sekten, Vereine, Selbsthilfegruppen und Interessenorganisationen jene überschaubaren emotionalen Auffangbecken, bieten, die dem Nationalstaat durch die Globalisierung verloren gehen? Immer weniger fallt das menschliche Zusammengehörigkeitsgefühl mit nationalstaatlichen Grenzen zusammen. Nicht mehr im sozialen, geschweige denn im wirtschaftlichen Bereich bildet der Nationalstaat eine Solidaritätsgesellschaft. Zusammengefaßt, zeigt sich, daß in der Wissens- und Diensdeistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts traditionelle gesellschaftliche, politische oder ökonomische Klammern ihre Bindekraft verlieren. Politische Landesgrenzen fallen durch internationale Abkommen. Wirtschaftliche Unternehmensidentitäten gehen durch einen raschen Wechsel der Besitzer und des Managements verloren. Gesellschaftliche Verantwortungsbereiche verschwimmen.

und keiner geht hin" dem Brecht-Gedicht „Wer zu Hause bleibt, wenn der Krieg beginnt / Und läßt andere kämpfen für seine Sache ..." vorangestellt (zitiert nach Christoph Rind, Hamburger Abendblatt vom 13.11.2001, S. 29).

Was hält eine Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung zusammen?

4.

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Von der erzwungenen (vererbten) zur (freiwillig) erworbenen Zugehörigkeit

Im Zeitalter der Globalisierung werden funktionale Beziehungsnetze wichtiger als nationale Klammern. Dies gilt nicht nur in der globalisierten Wirtschaft, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich. Menschen werden sich jene soziale Gemeinschaft als Identifikationsgruppe aussuchen, die ihren individuellen Wünschen am besten entspricht. Sie werden dort „Loyalität" zeigen und das Entstehen neuer emotionaler Abwanderungs- oder gruppenspezifischer Sanktionskosten des Exit in Kauf nehmen, wo sie von der Zugehörigkeit einen „Return on Investment" erwarten dürfen. Die durch Zufall erworbene Nationalität wird dabei zunehmend von einer selbstbestimmten Wahlentscheidung überlagert. Neue soziale und lokale Bewegungen (Grüne, Graue Panther, Esoteriker, Sekten, Quartiervereine) werden wichtiger als (historische) nationale Gemeinsamkeiten. Rationales Kalkül verdrängt emotionale Nationalgefuhle. Weniger die Frage, ob Inland oder Ausland bzw. Inländer oder Ausländer, wird entscheidend sein, als vielmehr die faktische Antwort, ob gemeinsame Probleme effizient gelöst werden. Ein typisches Beispiel hierfür liefern die Netzwerke der Nichtregierungsorganisationen (NGO), die problemorientiert, aufgabenbezogen, meist ohne klassische demokratische Legitimation und oft in eigendefinierter Verantwortung losgelöst von territorialen oder hoheitlichen Zwängen tätig werden. In Zukunft werden sich Systeme (Firmen, Organisationen und Staaten) ähnlich wie „Klubs" verhalten müssen.16 Klubs sind Zweckgemeinschaften. Die Mitglieder finden sich freiwillig zusammen, um gemeinsam ein oder mehrere "Klubgüter" zu schaffen.17 Loyalität ist ein typisches Klubgut. Eine Rivalität besteht nicht. Ein Ausschuß ist möglich. Loyalität läßt sich auf die Mitglieder beschränken. Nicht-Mitglieder können ausgeschlossen werden. Zugehörigkeit (mit allen Rechten und Pflichten) ist die Nachfrageseite, Loyalität gegenüber dem Klub

16

Meine Klubanalogie geht zurück auf James Buchanan (1965) und Paul Samuelson (1954, 1969). Demzufolge wollen "Klubangehötige" ihr Lebensglück (Wohlbefinden) optimieren, indem sie ein gemeinsames Klubgut produzieren und nutzen und zwar so, daß die Klubbeiträge (Nutzergebühren, Abgaben, Beiträge) zusätzlicher Nutzer gerade den von ihnen verursachten Grenzkosten (in Form von Ballungs- oder Agglomerationskosten) der übrigen Klubmitglieder entspricht. Das Optimierungskalkül reduziert sich im Kern auf ein „Inclusion"- versus „Exclusion"-Problem. Die Mitgliedschaft zum Klub läßt sich an verschiedene Bedingungen knüpfen, wie Geburt, Zutrittsgesuch, Einkauf, Auslese, Wahl, u. a. m.

17

Vgl. hierzu z. B. Buchanan (1965) aber auch Kindlebergers (1986) Presidential address vor der American Economic Association vom 29.12.1985. Ein Überblick zur Theorie des Klubs findet sich im Grundsatzartikel von Sandler/Tschirhart (1980) oder bei Schäfer (1998). Klubgüter sind einerseits Güter, deren Konsum bis zu einem gewissen Grad nichtrivalisiert (d. h. der Konsumnutzen am Klubgut durch Individuum A reduziert vorerst den Konsumnutzen anderer Individuen am selben Klubgut nicht). Andererseits ist das Ausschlußprinzip auf deren Nutzung anwendbar. Typische Klubgüter sind Sportanlagen, Nationalparks, Radio- und Fernsehsendungen, Verkehrsanlagen u. a. m.

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Thomas Straubhaar

(Gemeinschaft) ist die Angebotsseite der Klubmitglieder (Staats- oder Gemeinschaftsangehörige). Heutige Nationalstaaten können zunehmend als Institutionen gesehen werden, die ein Bündel öffentlicher Güter (oder eben besser: Klubgütern) anbieten, dessen Nutzung sie an gewisse Bedingungen koppeln18. Soweit Nicht-Gruppenmitglieder (Ausländer) von der Nutzung bestimmter durch die Alteingesessenen gemeinsam erbrachter öffentlicher Leistungen ausgeschlossen werden können, entsprechen die gemeinsam produzierten öffentlichen Leistungen "Klubgütern". Die Staatsbürgerschaft wird somit zu einer Klubmitgliedschaft und Loyalität wird zu einer gemeinsamen Klammer. Zusammengefaßt stehen Gemeinschaften (Staaten) heute und in Zukunft immer stärker vor ähnlichen Fragestellungen wie "Vereine" oder "Klubs". Zugehörigkeit erlaubt, teilzuhaben am gemeinsamen Inventar von Klubgütern. Dazu gehören auch Traditionen, Normen und Spielregeln. Loyalität des Einzelnen der Gemeinschaft gegenüber und Zugehörigkeit werden somit zu Bestandteilen eines erweiterten Äquivalenzprinzips für eine offene Gesellschaft.

5.

Konsequenzen

Wer Gemeinschaften eher als freiwillige Klubs und weniger als Zwangsverbünde versteht, wird es leichter haben, Loyalität von den Angehörigen einzufordern. Treue ist dann weniger ein emotionales Gefühl als ein rationales Kalkül. Im Kern einigen sich Menschen auf gemeinsame Spielregeln, die sie dann Verfassung, Grundgesetz oder Rechtssystem nennen. Sie sind bereit, durch ihre Steuern und Abgaben gemeinsame Klubgüter und -dienstleistungen (Straßen, Krankenhäuser, Kraftwerke) und auch ein bestimmtes Maß an Umverteilung und Unterstützung zugunsten Schwächerer zu finanzieren. Loyalität ist dann Teil der individuellen Gegenleistung für die Teilhabe an allen Klubgütern (wozu auch Rechtstaatlichkeit, sozialer Frieden, innere Sicherheit) zählen. Entsprechend sorgsam wachen die Klubangehörigen darüber, wer Mitglied ist, werden darf und wer ausgeschlossen bleiben soll. Zugehörigkeit ist dann nicht eine Zufälligkeit der Geburt, sondern ein freiwilliges Bekenntnis zu einer Zweckgemeinschaft. In einer offenen Gesellschaft wird es in der langen Frist zur rational begründeten Klub-Loyalität keine Alternative geben!

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Zwar ist zweifelsfrei richtig, daß Nationen nicht unbedingt entstanden sind, weil sich einzelne Menschen freiwillig zusammengeschlossen haben, um gemeinsam ein "Klubgut" zu produzieren und zu nutzen. Natürlich legitimieren auch machtpolitische, politologische, kulturelle, gesellschaftliche und ethnologische Faktoren die Existenz von Staaten. Ebenso ist richtig, daß Nationen nicht nur ein einzelnes Klubgut produzieren, sondern ein ganzes Bündel sehr unterschiedlicher Leistungen erbringen (sollten). Aber letztlich sind diese Hinweise auf die historische Entstehungsgeschichte und auf die Komplexität nationalstaatlicher Aufgaben doch nur graduelle Vorbehalte gegenüber der Klub-Analogie.

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341

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Verzeichnis der Autoren

Dipl.-Volksw. Robert Arnold, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität Trier, Fachbereich IV: Volkswirtschaftslehre, Schwerpunkt Services Administration & Management, Universitätsring 15, 54286 Trier Dipl.-Volksw. Sascha von Berchem, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik, Sanderring 2, 97070 Würzburg Prof. Dr. Norbert Berthold, Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik, Sanderring 2, 97070 Würzburg Prof. em. Dr. Gerold Blümle, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Allgemeine Wirtschaftsforschung, Platz der Alten Synagoge 1, 79085 Freiburg i. Br. Prof. Dr. Winfried Boecken, LL.M., Universität Konstanz, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit, Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe, Universitätsstraße 10, 78464 Konstanz Dipl.-Volksw. Jochen Fleischmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität Bayreuth, Volkswirtschaftslehre IV: Wirtschaftstheorie, Universitätsstraße 30, 95447 Bayreuth Dr. Lothar Funk, Leiter des Referats Arbeitsbeziehungen und Gewerkschaftsökonomie in der Hauptabteilung Bildung und Arbeitsmarkt, Institut der Deutschen Wirtschaft Köln, Gustav-Heinemann-Ufer 84, 50968 Köln Prof. Dr. Egon Görgens, Universität Bayreuth, Volkswirtschaftslehre II: Wirtschaftspolitik, Universitätsstraße 30, 95447 Bayreuth Dr. Nils Goldschmidt, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Walter Eucken Institut, Goethestraße 10, 79100 Freiburg Dipl.-Volksw. Elke Gundel, Abteilung Arbeitsmarkt, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Breite Straße 29,10178 Berlin Dr. Rainer Hank, Leiter der Wirtschaftsredaktion, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Hellerhofstraße 2-4, 60327 Frankfurt a. M. Dipl.-Volksw. Stefan Härter, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität Trier, Fachbereich IV: Volkswirtschaftslehre, Schwerpunkt Services Administration & Management, Universitätsring 15, 54286 Trier Prof. Dr. Dr. Karl Homann, Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Philosophie und Ökonomik, Ludwigstraße 31, 80539 München Rechtsanwalt Christoph Kannengießer, Geschäftsführer, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Breite Straße 29,10178 Berlin

Dr. Hans-Joachim KJöckers, Direktor des Bereichs Geldpolitik, Europäische Zentralbank, Kaiserstraße 29, 60311 Frankfurt a. M. Dr. Hans-Peter KIös, Leiter der Hauptabteilung Bildung und Arbeitsmarkt, Institut der Deutschen Wirtschaft Köln, Gustav-Heinemann-Ufer 84, 50968 Köln Prof. Dr. Eckhard Knappe, Universität Trier, Fachbereich IV: Volkswirtschaftslehre, Schwerpunkt Services Administration & Management, Universitätsring 15, 54286 Trier Prof. Dr. Dr. Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, Bischofsplatz 2a, 55116 Mainz Prof. Dr. Dr. h. c. Manfred Löwisch, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Direktor des Instituts für Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialversicherungsrecht, Abteilung II: Arbeitsrecht, Wilhelmstraße 26, 79098 Freiburg Prof. em. Dr. Bernd Baron von Maydell, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht, Amalienstraße 33, 80799 München Dr. Angela Merkel, MdB, Vorsitzende der CDU Deutschlands, Klingelhöferstraße 8,10785 Berlin Prof. Dr. Peter Oberender, Universität Bayreuth, Institut für Volkswirtschaftslehre IV: Wirtschaftstheorie, UniversitätsStraße 30, 95447 Bayreuth Dr. Ulrich Roppel, Lehrbeauftragter der Universität Trier, Direktor, Die Bundesknappschaft, Pieperstraße 14-28, 44781 Bochum Prof. Dr. Thomas Straubhaar, Universität Hamburg, Institut für Volkswirtschaftslehre insb. Wirtschaftspolitik, Präsident des Hamburgischen Welt-WirtschaftsArchivs (HWWA), Neuer Jungfernstieg 21, 20347 Hamburg Prof. Dr. Viktor J. Vanberg, Albert-Ludwigs-Universität, Institut für Allgemeine Wirtschaftsforschung, Abteilung für Wirtschaftspolitik, Platz der Alten Synagoge 1, 79085 Freiburg Dr. Jens Weidmann, Generalsekretär, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Statistisches Bundesamt, GustavStresemann-Ring 11, 65180 Wiesbaden

ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Band 53 Herausgegeben von Hans Otto Lenel, Helmut Gröner, Walter Hamm, Ernst Heuß, Erich Hoppmann, Ernst-Joachim Mestmäcker, Wernhard Möschel, Josef Molsberger, Peter Oberender, Alfred Schüller, Viktor Vanberg, Christian Watrin, Hans Willgerodt 2002. XVI/528 S. gb. € 78,- / sFr 132,-. ISBN 3-8282-0209-8

Inhalt Hauptteil Walter Hamm Finanzpolitik für die kommende Generation Manfred E. Streit Wirtschaftspolitik im demokratischen Wohlfahrtsstaat - Anatomie einer Krise Egon Görgens Europäische Geldpolitik: Gefährdungspotentiale — Handlungsmöglichkeiten — Glaubwürdigkeit Hans Willgerodt Markt und Wissenschaft - kritische Betrachtungen zur deutschen Hochschulpolitik Alfred Schüller Sozialansprüche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem Wernhard Möschel Funktionen einer Eigentumsordnung Verena Veit-Bachmann Unsere Aufgabe Friedrich A. Lutz (1901 - 1975) zum hundertsten Geburtstag Gerd Habermann Ordnungsdenken - eine geistesgeschichtliche Skizze

LUCIUS "LUCIUS

Guido Bünstorf Über den Wettbewerb als allgemeines Aufdeckungs-, Ordnungs- und Erkundungsverfahren Roland Vaubel "Das Wunder der europäischen Musik" und der Wettbewerb Roland Kirstein/Dieter Schmidtchen Eigennutz als Triebfeder des Wohlstands - die invisible hand im Hörsaal-Experiment sichtbar gemacht Sven L. Eisenmenger Der Netzzugang als Blockademittel in der Stromwirtschaft — zugleich ein Diskussionsbeitrag zur Einführung einer staatlichen Regulierungsbehörde in der Elektrizitätswirtschaft Dieter Fritz-Aßmus/Egon Tuchtfeldt Insolvenzen in Deutschland: Entwicklung und ordnungspolitische Perspektiven Frank Daumann/Mathias Langer Zur staatlichen Förderung von SportGroßveranstaltungen Cornelia Storz Zum Wandel der japanischen Unternehmensorganisation: Innovationsfähigkeit zwischen Diskontinuität und Stabilität

Ordnungspolitik als konstruktive Antwort auf wirtschaftspolitische Herausforderungen Herausgegeben von Hans-Friedrich Eckey, Dieter Hecht, Martin Junkernheinrich, Helmut Karl, Nicola Werbeck und Rüdiger Wink 2001. X/543 S. geb. € 69,- / sFr 118,50 ISBN 3-8282-0167-9 Dieser Band enthält im ersten Teil Beiträge zum räumlichen Wirtschaften. Im zweiten Themenkomplex "Umwelt und Nachhaltigkeit" werden die seit den 70er Jahren immer stärker wahrgenommenen umweltpolitischen Herausforderungen behandelt. Die Themengebiete "Innovation, Arbeit und Soziales" sowie "Recht und Politik" sind Gegenstand der abschliessenden Kapitel.

Das Staatsbild Franz Böhms von Tamara Zieschang 2003. IX/273 S., geb. € 29,- / sFr 51,-. ISBN 3-8282-0240-3 (Marktwirtschaftliche Reformpolitik Bd. 5; Schriftenreihe der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft) Der Liberalismus klassischer Prägung ist gekennzeichnet von seinem Einsatz für die Freiheit des Individuums und der Bekämpfung ihrer Einschränkungen, unabhängig davon, ob diese vom Staat oder von Privaten ausgehen. Aus klassisch liberaler Sicht erscheint der Staat als notwendiges Übel. Der Ordoliberale und Mitbegründer der Freiburger Schule, Franz Böhm, weist dem Staat eine ordnungssichernde Funktion zu. Ihm fällt die Aufgabe zu, der Beschränkung von Freiheit durch private Macht in Wirtschaft und Gesellschaft wirksam entgegenzutreten. Dabei soll der Staat Hüter des Rechts unter dem Gesetz sein. Die freiheitsschützende Funktion des Staates einerseits und die Begrenzung seiner freiheitsbedrohenden Macht andererseits wird nach Franz Böhm allein im Zusammenspiel von drei Ordnungssystemen verwirklicht der Wettbewerbsordnung, der Privatrechtsgesellschaft und dem Rechtsstaat. Dabei setzt Franz Böhm die Trennung von Staat und Gesellschaft als Grundlage jeder freiheitlichen Ordnung voraus. Die Autorin skizziert die Grundvorstellungen der Freiburger Schule, erläutert Franz Böhms Konzepte für eine freiheitliche Wirtschafts-, Gesellschafts- sowie Staatsordnung und analysiert deren Interdependenzen.

LUCIUS "LUCIUS

Ordnungstheorie und Ordnungspolitik Konzeptionen und Entwicklungspef spektiven Herausgegeben von Helmut Leipold und Ingo Pies Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft Band 64 (Hrsg. von G. Gutmann, H. Hamel, K. Pleyer, A. Schüller und H. J. Thieme) Mit Beiträgen von Dieter Cassel, Diemo Dietrich, Gerhard Engel, Ulrich Fehl, Heinz Grosseketder, Carsten Herrmann-Pillath, Karl Homann, Corinne Kaiser, Wolfgang Kerber, Helmut Leipold, Martin Leschke, Christian Müller, Notburga Ott, Ingo Pies, Andreas Renner, Carsten Schreiter, Alfred Schüller, Manfred Tietzel, Viktor Vanberg, Stefan Voigt, Uwe Vollmer, Dirk Wentzel 2000. 466 S. kt. € 42,- / sFr 74,20. ISBN 3-8282-0145-8 Nach dem Niedergang der sozialistischen Zentralplanwirtschaften konzentriert sich das forschungsleitende Interesse der Ordnungstheorie auf die Frage, wie die Ordnungspolitik in und zwischen Marktwirtschaften zu gestalten ist Was leisten hierbei traditionelle ordnungstheoretische und -politische Konzeptionen? Welche Erkenntnisse vermitteln neuere ökonomische, insbesondere institutionenökonomische Ansätze? Im vorliegenden Band ziehen Teilnehmer des 33. Forschungsseminars Radein kritisch Bilanz und zeigen Perspektiven für eine Neukonzipierung von Ordnungstheorie und Ordnungspolitik auf.

Ordnungsprobleme der Weltwirtschaft herausgegeben von Alfred Schüller und H. Jörg Thieme Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft Band 64 (Hrsg. von G. Gutmann, H. Hamel, K. Pleyer, A. Schüller und H. J. Thieme) 2002. VIII/524 S., kt. € 42,- / sFr 73,-. ISBN 3-8282-0231-4 Die Internationalisierung wichtiger Lebensbereiche findet unter der Bezeichnung "Globalisierung" wachsende Aufmerksamkeit Sie berührt einen Komplex von brisanten Aspekten und Fragen, die Gegenstand einer ordnungsökonomischen Analyse im Rahmen des 35. Radeiner Forschungsseminars waren. Die Ergebnisse werden in diesem Band veröffentlicht. Im Kern geht es darum, die Zusammenhänge zwischen nationalen und internationalen Güter-, Faktor- und Finanzmärkten einerseits und den verschiedenen Ausprägungen der supranationalen Wirtschafts- und Währungspolitik andererseits systematisch bewußt zu machen. Geprüft wird auch, warum ordnungsökonomisches Denken und Handeln notwendig, ja unverzichtbar sind, wenn wohlstandsbestimmende Einflußfaktoren, Konflikte und Perspektiven der internationalen Integrationsprozesse erklärt und neue Anforderungen für die Wirtschafts- und Währungspolitik aufgezeigt werden sollen.

LUCIUS "LUCIUS

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