Kontroversen der Ordnungspolitik [Reprint 2018 ed.] 9783486800982, 9783486251593

Luzide Darstellung und Erörterung streitiger Fragen und aktueller Themen der Ordnungspolitik.

124 53 13MB

German Pages 219 [220] Year 1999

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Inhaltsverzeichnis
0. Vorbemerkungen
1. Das ordoliberale Leitbild und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft
2. Das Planwirtschaftliche Modell und die Transformation
3. Sachverständige und ihre Kritiker
4. Die Ethische Verantwortung in der Marktwirtschaft
5. Ende der Erwerbsarbeit ?
6. Die Frage nach der Technik
7. Grenzen des Wachstums
8. Reichtum von unten ?
9. Die Wirtschaft als Teilsystem der Gesellschaft
10. Europäische Integration
11. Globalisierung und Marktwirtschaft
12. Schlußbemerkungen
Literaturverzeichnis
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Kontroversen der Ordnungspolitik [Reprint 2018 ed.]
 9783486800982, 9783486251593

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Kontroversen der

Ordnungspolitik Von Privatdozent

Dr. Helmut Woll

R.Oldenbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Woll, Helmut: Kontroversen der Ordnungspolitik / von Helmut Woll. - München : Wien : Oldenbourg, 1999 (Forum Wirtschaft und Soziales) ISBN 3-486-25159-7

© 1999 R. Oldenbourg Verlag Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Umschlagillustration: Hannes Weigert Druck: MB Verlagsdruck, Schrobenhausen Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-25159-7

Inhaltsverzeichnis 0. Vorbemerkungen

5

1. Das ordoliberale Leitbild und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

7

1.1 Grundlegende Prinzipien

7

1.2 Haftung

17

1.3 Die Macht des Eigentums

20

1.4 Hauswirtschaft und Ökologie

22

2. Das planwirtschaftliche Modell und die Transformation

29

2.1 Politische Begründung

29

2.2 Vom Plan zum Weltmarkt

32

3. Sachverständige und ihre Kritiker

39

3.1 Wirtschaftsliberalismus

39

3.2 Linkskeynesianismus

47

4. Die ethische Verantwortung in der Marktwirtschaft

53

4.1 Das Sozialwort der Kirchen

53

4.2 Umwertung der Werte und Effizienz

57

4.3 Die Rekonstruktion der Gemeinschaft

63

4.4 Was bedeutet Subsidiarität ?

70

4.5 Politischer Liberalismus

73

5. Ende der Erwerbsarbeit ?

79

5.1 Radikale Kritik

79

5.2 Leistung und Einkommen

82

6. Die Frage nach der Technik

89

6.1 Die Qualität der Technik

89

6.2 Der Sprung vom Rücken des Tigers

107

7. Grenzen des Wachstums

110

7.1 Wolkenkratzer-Wirtschaft und optimale Größe

110

7.2 Perspektiven des Wachstums

116

7.3 Ist die Gesamtwirtschaft berechenbar ?

123

8. Reichtum von unten ?

128

8.1 Chancen für die Kleinen

128

8.2 Existenzgründer

133

9. Die Wirtschaft als Teilsystem der Gesellschaft

139

9.1 Systemtheoretische Argumente

139

9.2 System oder Struktur ?

148

10. Europäische Integration

152

10.1 Europäische Identität

152

10.2 Das neue Geld Europas

157

10.3 Der Haushalt

160

10.4 Der Europäische Agrarmarkt

162

10.5 Die Wettbewerbs- und Sozialordnung

175

11. Globalisierung und Marktwirtschaft

180

11.1 Herausforderung oder Risiko ?

180

11.2 Standort Deutschland

184

11.3 Der flexible Mensch

195

12. Schlußbemerkungen

208

Literaturverzeichnis

212

0. Vorbemerkungen

5

0. Vorbemerkungen Die vorliegende Arbeit will sich unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten mit aktuellen Fragen der ökonomischen und sozialen Entwicklung kontrovers auseinandersetzen. Im Mittelpunkt steht die marktwirtschaftliche Ordnung und ihre spezifische Legitimierung. Aus diesem G r u n d e beginnt die Arbeit mit der Ausformulierung der Idee der Marktwirtschaft durch ihre Gründungsväter. Es werden zunächst die konstitutiven und regulativen Prinzipien der ordoliberalistischen Schule ausfuhrlich dargestellt und einer kritischen P r ü f u n g unterzogen. D i e vermeintliche Alternative zur Marktwirtschaft ist die Planwirtschaft. Heute hat sich diese Diskussion aus weltpolitischen Gründen verlagert. Es stehen nicht mehr die unterschiedlichen Allokations- und Distributionsvorstellungen im Vordergrund, sondern mehr sog Transformationsprobleme. Diese Fragestellungen sind relativ neu und bedürfen daher weiterer theoretischer Anstrengungen. Im Mittelpunkt in der ordnungspolitischen Diskussion der letzten Jahre stand die Auseinandersetzung zwischen angebotsorientierter und nachfrageorientierter Politik sowie die ethische Verantwortung in der Marktwirtschaft. Massenarbeitslosigkeit und Globalisierung haben die theoretischen Köpfe erhitzt über grundsätzliche Orientierungen. Es gibt gute Gründe dafür, daß die Erwerbsarbeit für die Menschen, die Arbeit haben, immer wichtiger wird und für die Menschen, die keine Arbeit haben, immer bedrohlicher. So daß zu Recht nach der Perspektive der Erwerbsarbeit und den Möglichkeiten, Arbeit und Einkommen zu trennen, gefragt werden muß Die Väter der Marktwirtschaft haben die technologischen Probleme kaum diskutiert. Sie gingen von einer relativ langsamen und gefahrfreien technischen Entwicklung aus. Diese Annahme hat sich nicht bestätigt. Der Wohlstand wuchs schneller als ursprünglich vermutet. Aber auch die Arbeitslosigkeit tauchte wieder auf, die doch bekämpft schien. Insofern muß sich eine moderne Ordnungstheorie wieder mit der Frage der Quantität und Qualität der Technik grundlegend auseinandersetzen und neu über Möglichkeiten und Grenzen des Wachstums nachdenken. A l s Alternative zum ungezügelten Wachstum gelten kleinere Wirtschaftseinheiten, regionale Räume und vernetzte Betriebe. Die Marktwirtschaft soll erneuert werden durch Existenzgründer, die mit Engage-

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0. Vorbemerkungen

ment und Elan persönliche Verantwortung übernehmen. Hier wird ein Widerspruch deutlich: Einerseits registrieren wir, trotz Wachstumskritik, eine Zunahme von anonymen Konzentrationsprozessen transnationaler Konzerne mit riesigen Beschäftigtenzahlen und Umsatzentwicklungen und anderseits sollen Existenzgründer ihre subjektiven Fähigkeiten zur Geltung bringen. Hier stellt sich die Frage, ob diese Extreme zusammenpassen und wie die Wirtschaft als ein Teilsystem der Gesellschaft funktioniert. Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion einschließlich der Osterweiterung sowie die Frage nach Chancen und Risiken der Globalisierung sind ordnungspolitisch gegenwärtig eine der wichtigen Problemstellungen. Europa verändert entscheidend die nationalen wirtschaftlichen Strukturen in allen Bereichen. Die gemeinsame Währung soll dabei die Klammer bilden. Doch ist die Herausbildung dieses neuen Wirtschaftsblockes eingebunden in die internationale Arbeitsteilung. Daraus ergeben sich nicht nur ökonomische Probleme, sondern auch neue Fragestellungen für das menschliche Verhalten. Ob sich ein neuer Menschentypus entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Die vorliegende Arbeit will die ordnungspolitische Diskussion nicht nur auf einer politisch distanzierten Ebene führen, sondern auch durch normative und ethische Wertungen subjektive Momente zur Geltung bringen. Aus diesem Grunde sind die einzelnen Kapitel in einer essayistischen Form abgefaßt. Sie soll es dem Leser ermöglichen, sich sowohl für einfache aber auch für tieferliegende ökonomische Fragestellungen zu interessieren. Dabei sind die folgenden Ausführungen auf den unterschiedlichsten Ebenen angesiedelt, ohne den Anspruch zu erheben, die Probleme umfassend und widerspruchsfrei behandeln zu können. So sind beispielsweise die Differenzen zwischen Leopold Kohr (Kap. 7.1) und Niklas Luhmann (Kap. 9.1) unübersehbar. Die Arbeit hat somit vor allem die Absicht klassische Kontroversen nachzuzeichnen, aber auch durch die Behandlung von Außenseiterpositionen neue Problemfelder aufzuzeigen. Ich danke dem Unternehmensberater Dr. Horst Henning-Arndt (Oldenburg) für seine Informationen über die Probleme von Existenzgründern in den Neuen Bundesländern, der Kunstkeramikerin Ingrid Ripke-Bolinius (Worpswede) für die Auskünfte über den Töpfermarkt, dem Taxiunternehmer Klaus Hißenkemper (Berlin) für die Diskussionen über das Taxigewerbe, Lutz Bolinius für das Lesen des Manuskriptes und Dipl. Ing. Hubertus Selent für die Hilfe bei der Textverarbeitung.

1. Das ordoliberale Leitbild und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

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1. Das ordoliberale Leitbild und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft 1.1 G r u n d l e g e n d e Prinzipien Nach 1945 wurde im westlichen Teil Deutschlands (BRD) die soziale Marktwirtschaft etabliert. Dieses Konzept wurde bereits während des zweiten Weltkrieges u.a. von Walter Eucken und Alfred Müller-Armack gegen die faschistischen, die liberalistischen, die sozialistischen und gegen die historisierenden Vorstellungen entwickelt. Vor allem der Freiburger Professor der Nationalökonomie -Walter Eucken- versuchte die Wirtschaftsordnung (Ordo) aus tiefgehenden philosophischen Überlegungen heraus zu begründen. Das Konzept grenzt sich nicht nur negativ von vier nichtgewollten Richtungen ab, sondern leistet in Anlehnung an die phänomenologische Methode Edmund Husserls eine Wesensbestimmung des Ökonomischen. Es ging Eucken nicht um eine Politische-, sondern um eine Theoretische Ökonomie. Damit sind zwei Erfolgskomponenten für die Nachkriegsentwicklung benannt. Erstens: Im Gegensatz zu den heutigen sog. Transformationsländern (Rußland, Ungarn, Polen etc.) verfügte der westliche Teil Deutschlands über ein eigenständiges, neues -deutsches- Konzept. Der Ordoliberalismus Walter Euckens ist quasi eine theoretische (positive) Erfindung, die in keinem anderen Land gelungen und angemessen ist. Zweitens: Der Ordoliberalismus begründet das Wirtschaftsleben philosophisch, dies kommt einerseits der deutschen Tradition entgegen, verändert aber andererseits das öffentliche Bewußtsein nachhaltig. In diesem Sinne war der Universitätsgelehrte, reine Wissenschaftler Walter Eucken ein „großer Volkserzieher" und Weltveränderer. Er hat den Westdeutschen das ökonomische Denken beigebracht und moralisch sowie wissenschaftlich legitimiert. Für diese galt bis 1945 das ökonomische Denken als zweitrangig hinter Kultur und Religion und wurde als „Händlergeist" mehr oder weniger abgelehnt. Eucken und seine Mitstreiter (Hayek, Müller-Armack, Adenauer, Erhard) haben mit phänomenologischen Argumenten die Menschen auf Wirtschaft umgepolt und die Gesamtenergie der Bevölkerung sehr stark auf den Wirtschaftsaufbau gelenkt. „Das Wirtschaftswunder" ist Ausdruck dieses Gesin-

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1. Das ordoliberale Leitbild u n d das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

nungswandels. Die westdeutsche Gesellschaft verlor ihre militärische Aggressivität und konzentrierte ihre Energie auf wirtschaftliche Problemlösungen. Während sich Walter Eucken als strenger, theoretischer Wissenschaftler verstand, wurde sein Werk politisch instrumentalisiert und ökonomisch interpretiert. Durch seine Zwitterstellung zwischen Ausbeuterkapitalismus und Sozialismus, zwischen Philosophie und Ökonomie, zwischen Historismus und Utopie war der Ordoliberalismus bzw. das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft sowohl für die westdeutsche Bevölkerung als auch für die westlichen Siegermächte - diese vertraten eher einen reinen Liberalismus - annehmbar. Den sozialistischen Staaten war die Differenzierung in Liberalismus und Ordoliberalismus mehr oder minder gleichgültig, es war für sie lediglich eine Variante innerhalb des verhaßten Kapitalismus. Aus seiner phänomenologischen Wesensschau kommt Walter Eucken zu acht unabdingbaren Merkmalen für eine sinnvolle Wirtschaftsordnung, die Freiheit und Autonomie des Einzelnen gewährleisten soll. Die Wirtschaft hat die Aufgabe die Knappheit zu überwinden, der Einzelne ist sich selbst verantwortlich und soll seine selbstgewählten Ziele verwirklichen können. Die Wirtschaft ist demnach nicht beliebig gestaltbar, sie bedarf einer Ordnung und einer klaren, systematischen Strukturierung. Die Freiheit des Einzelnen steht im Vordergrund, wirtschaftliche Macht ist unter allen Umständen zu verhindern: Vollkommener Wettbewerb, freie Preisbildung, stabile Währung, Privateigentum, offene Märkte, Vertragsfreiheit sowie das Prinzip der Haftung sollen dies gewährleisten. Diese sieben Prinzipien sind für Walter Eucken nicht zufallig, sondern unabdingbar, so daß das achte Prinzip lautet: alle sieben Merkmale müssen erfüllt sein. Wenn dies erreicht ist, wird sowohl ein soziales als auch ein wirtschaftliches Optimum erreicht. Der Staat soll die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft setzen und selber einem freiheitlichen Ordnungssystem unterliegen. Das phänomenologische Denken Euckens ging von einer mittelständischen Wirtschaft aus, die sich kontinuierlich entwickelt und die von verantwortungsbewußten Personen geleitet und steuerbar ist. Diese drei Voraussetzungen haben sich aber als falsch erwiesen. Die westdeutsche Wirtschaft organisierte sich trotz der Entflechtungsmaßnahmen durch

1. Das ordoliberale Leitbild und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

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die Alliierten schnell in Großunternehmen, die technische Dynamik beschleunigte in mehreren Schüben (Strukturwandel: Ablösung der Kohleindustrie, Vordringen der chemischen Industrie, Durchsetzung der Mikroelektronik) die wirtschaftlichen Verhältnisse und das personale wirtschaftliche Handeln wurde immer stärker anonymisiert. Walter Eucken unterscheidet in seinen 'Grundsätzen der Wirtschaftspolitik' (1952) zwischen konstituierenden und regulierenden Prinzipien als organisatorische Leitlinien und Basisideen für eine freiheitliche und zugleich ökonomisch gut funktionierende Wettbewerbsordnung. Dieses personalistische Mittelstandskonzept hat maßgeblich die bundesrepublikanische Diskussion geprägt und wurde vor allem in den 50er bis Mitte der 60er Jahre verwirklicht. Es wandte sich gegen einen übertriebenen Liberalismus, gegen planwirtschaftliche und faschistische Wirtschaftsvorstellungen. Eucken verstand sich als Gegenspieler der historischen Schule, da diese das wirtschaftliche Geschehen nicht systematisch erfaßt. Man kann ihn deswegen als einen theoretischen Nationalökonomen bezeichnen. Ihm ging es um systematische, prinzipielle Argumente. Vor diesem Hintergrund wird seine Einteilung in konstituierende und regulierende Prinzipien einer Wirtschaftsordnung plausibel. Die Industrialisierung fordere erstens ein Grundprinzip, das in einem funktionierenden Preissystem besteht. Es stellt den Mittelpunkt der Wettbewerbsordnung in einem positiven Sinne dar „Die Hauptsache ist es, den Preismechanismus funktionsfähig zu machen. Jede Wirtschaftspolitik scheitert, der dies nicht gelingt. Das ist der strategische Punkt, von dem aus man das Ganze beherrscht und auf den deshalb alle Kräfte zu konzentrieren sind" (Eucken 1975, S.255). Zweitens benötige die Wirtschaft einen währungspolitischen Stabilisator. Durch eine Stabilisierung des Geldwertes soll es möglich sein, in den Wirtschaftsprozeß ein brauchbares Lenkungsinstrument einzubauen. „Eine gute Währungsverfassung sollte jedoch nicht nur so konstruiert sein, daß sie den Geldwert möglichst stabil hält. Sie sollte darüber hinaus noch eine weitere Bedingung erfüllen. Wie die Wettbewerbsordnung selber sollte sie möglichst automatisch funktionieren; nicht einfach nur deshalb, weil die 'Systemgerechtigkeit' erfordert, Währungsverfassung und allgemeine Wirtschaftsverfassung auf demselben Prinzip aufzubauen, sondern auch vor allem, weil die Erfahrung zeigt, daß eine Währungsverfassung, die den Leitern der Geldpolitik

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1. Das ordoliberale Leitbild und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

freie Hand läßt, diesen mehr zutraut, als ihnen im allgemeinen zugetraut werden kann" (Eucken 1975, S.257). Gerade eine industrialisierte Wirtschaft brauche die monetäre Stabilität, obwohl die Instabilität des Geldes aufgrund der zunehmenden Bedeutung des Kredites ihr inhärent zu sein scheint. „Es entsteht also die große wirtschaftspolitische Frage, wie eine Geldordnung größerer Stabilität in die Wettbewerbsordnung eingebaut werden kann" (Eucken 1975, S.259). Drittens ist es für Eucken unabdingbar Offene Märkte zu schaffen. Sie sollen Konzentration und Machtansammlungen verhindern. Sie sollen ermöglichen, daß diejenigen, die wirtschaftliche Unternehmungen betreiben wollen, einen Zugang dazu finden. Gewerbefreiheit steht als Prinzip dahinter. „Zur Konstitution der Wettbewerbsordnung ist die Öffnung von Angebot und Nachfrage notwendig. Hiervon bestehen nur wenige Ausnahmen, wie die Gewährung eines ausschließlichen Privilegs der Notenemmission an eine Zentralbank" (Eucken 1975, S.266). Viertens ist das Privateigentum an den Produktionsmitteln ein unverzichtbarer Stützpfeiler einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung. Ein optimaler Betriebsablauf verlangt nach Eucken rasche Entscheidungen und ein dauerndes Herantasten an ein Problem. Dies kann nur dann verwirklicht werden, wenn die Unternehmer einen gewissen Freiheitsspielraum haben, um ständige spontane Prozesse zu steuern. Ein 'Fingerspitzengefühl' sei notwendig, um im Wettbewerb zu bestehen; das kann nach der ordoliberalen Vorstellung von einer Bürokratie nicht geleistet werden; deswegen gehört das Privateigentum an den Produktionsmitteln zu den Voraussetzungen der Wettbewerbsordnung. Das heißt nicht, daß der ein oder andere Betrieb nicht auch staatlich geführt werden kann. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln ist aber keine Garantie für ein funktionsfähiges System, es kann von Monopolisten oder unfähigen Entscheidern mißbraucht werden und auch zu unsozialen Verhältnissen führen. Das ebenso notwendige Prinzip der Konkurrenz schränkt aber den möglichen Mißbrauch ein. „Nur im Rahmen der Wettbewerbsordnung gilt der vielgenannte Satz, daß Privateigentum nicht nur dem Eigentümer, sondern auch dem Nichteigentümer Nutzen bringe. Das tut es in der Tat durch die große ökonomische Effizienz der Wettbewerbsordnung und dadurch, daß die verschiedenen Privateigentümer miteinander konkurrieren, die Arbeitsuchenden mehrere Chancen

1. Das ordoliberale Leitbild und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

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vor sich sehen und nicht etwa einseitig abhängig sind" (Eucken 1975, S.274). Das fünfte konstituierende Prinzip ist die Vertragsfreiheit. Sie ist eine Voraussetzung für das Zustandekommen des schon behandelten Prinzips Konkurrenz. Die Vertragsfreiheit ist allerdings ambivalent, weil sie auch dazu benutzt werden kann die Konkurrenz auszuschalten, was natürlich eine Fehlentwicklung bedeutet. „Das Prinzip der Vertragsfreiheit ist der Wettbewerbsordnung zuzuordnen. Es trägt zur Konstituierung der Wettbewerbsordnung bei und erhält - umgekehrt - im Rahmen der Wettbewerbsordnung seinen eigentlichen Sinn. Aber es darf nicht die Funktion erhalten, die Wettbewerbsordnung durch Bildung wirtschaftlicher Machtkörper zu sprengen oder die Ausübung wirtschaftlicher Macht und Machtmißbrauch zu schützen" (Eucken 1975, S.279). Das sechste Prinzip ist die Haftung. Jede Entscheidung birgt ein Risiko in sich; so daß der Grundsatz gelten soll: wer den Vorteil hat, muß auch den Schaden tragen. Haftung heißt also, daß derjenige, der für die Handlungen der Unternehmen oder Haushalte verantwortlich ist, haftet. Aus diesem Grundsatz heraus zeigt sich Eucken skeptisch gegenüber den Kapitalgesellschaften (GmbH, AG u.a.) und der damit verbundenen 'Entpersönlichung' der modernen Wirtschaft. In anonymen Unternehmen wird es schwierig den Entscheidungsträger persönlich zu lokalisieren und eine persönliche Haftung einzufordern. „Haftung ist nicht nur eine Voraussetzung für die Wirtschaftsordnung des Wettbewerbs, sondern überhaupt für eine Gesellschaftsordnung, in der Freiheit und Selbstverantwortung herrschen. Volle Klarheit muß vor allem über eines bestehen: Jede Beschränkung der Haftung löst eine Tendenz zur Zentralverwaltungswirtschaft ein" (Eucken 1975, S.285). Das siebte Prinzip bezieht sich auf die Rolle und Bedeutung der staatlichen Wirtschaftspolitik. Hier postuliert Eucken das Prinzip der Konstanz. Alle Wirtschaftsteilnehmer sollen möglichst langfristig wissen, welche Bedingungen für den Wirtschaftsprozeß gelten. Dauernde Gesetzesänderungen irritieren danach den wirtschaftlichen Prozeß. „Eine gewisse Konstanz der Wirtschaftspolitik ist nötig, damit eine ausreichende Investitionstätigkeit in Gang kommt. Ohne diese Konstanz wäre auch die Wettbewerbsordnung nicht funktionsfähig" (Eucken 1975, S.288).

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1. Das ordoliberale Leitbild und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

D a nach Eucken die Prinzipien miteinander zusammenhängen, formuliert er als achtes Prinzip die Zusammengehörigkeit der konstituierenden Prinzipien. Alle sieben Prinzipien müssen realisiert werden, damit der Wirtschaftsprozeß eine geregelte und sinnvolle Struktur erhält. Es kann auf kein Prinzip verzichtet werden, da sie eine Einheit bilden. Es sind aber auch keine weiteren Prinzipien notwendig. W e r nur einige Prinzipien verwirklichen will, wird nicht zu einem positiven Resultat kommen. „Die Zusammengehörigkeit der Prinzipien geht so weit, daß einzelne von ihnen bei isolierter Anwendung ihren Zweck völlig verfehlen. Wir sahen dies bei der Eigentumsfrage. Privateigentum an den Produktionsmitteln zu verlangen, wenn der Staat zugleich durch sein Vertragsrecht, durch Beschränkung der Haftung, durch seine H a n delspolitik, durch Investitionsverbote, durch sein Markenschutz-, P a tentrecht usw. die Konkurrenz zurückdrängt, ist problematisch. Aber in Verbindung mit der Anwendung der übrigen Prinzipien hat das Privateigentum einen wesentlichen, positiven Sinn" (Eucken 1975, S.291). F ü r Eucken sind diese acht konstituierenden Prinzipien unerläßlich. Aber da eine Vollkommenheit nie erreicht werden kann und immer Mängel auftreten, sind 'regulierende Prinzipien' notwendig, um die W i r t s c h a f t im Konkreten funktionsfähig zu halten. Das erste regulierende Prinzip ist die Monopolpolitik. Machtkonzentrationen können a u f t a u c h e n sowohl auf Arbeitgeberseite als auch auf Arbeitnehmeroder Verbraucherseite. Machtzusammenballungen bedrohen prinzipiell die Freiheit des Einzelnen. Eine Zentralbank ist nach Eucken unerläßlich. Hier stellt sich aber auch die Frage ihrer wirtschaftlichen Macht und die Bildung einer zureichenden Geldordnung. „Wirtschaftliche Macht übt aber auch eine Zentralnotenbank aus, die das ausschließliche Privileg der N o t e n a u s g a b e besitzt. Hier entsteht das schwierige Problem ihrer Kontrolle. Doch auch diese Machtbildung erfolgt zu dem Zweck, die Wettbewerbsordnung zu ermöglichen, und zwar durch Herstellung einer zureichenden Geldordnung" (Eucken 1975, S.291). Eine W i r t s c h a f t s - und Rechtspolitik ist nach Eucken notwendig, um der Konkurrenz zum Durchbruch zu verhelfen und Konzentration von vornherein einzudämmen. Verstaatlichung der Monopole sei keine Lösung, da diese eine noch größere Machtkonzentration zwischen W i r t s c h a f t und Politik schaffe. Der Vorschlag, daß Arbeitnehmerfunktionäre die Monopolaufsicht mit durchfuhren sollten, taugt nach Eucken eben-

1, Das ordoliberale Leitbild und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

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falls nichts, da die Arbeiter von Machtkonzentrationen der W i r t s c h a f t profitieren könnten. Statt dessen sei eine staatliche Monopolaufsicht notwendig. „Die Monopolaufsicht sollte also einem staatlichen M o n o polaufsichtsamt übertragen werden. Um es den stets gefahrlichen (wenn auch in der Wettbewerbsordnung geschwächten) Einflüssen der Interessen zu entziehen, sollte es ein unabhängiges Amt sein, das nur dem Gesetz unterworfen ist. Es darf also nicht etwa eine Abteilung des Wirtschaftsministeriums werden, die weit stärker dem Druck der Interessen ausgeliefert ist" (Eucken 1975, S.294). Die Monopolgesetzgebung und Monopolaufsicht sollten die T r ä g e r wirtschaftlicher Macht so beeinflussen, daß sie ein 'wettbewerbsanaloges' Verhalten praktizierten. „Indessen haben z.B. Angebotsmonopole im Streben nach der höchsten Reineinnahme die Tendenz, Preisdifferenzierungen für die gleiche W a r e oder Leistung von den einzelnen Schichten der Nachfrage zu verlangen. Diese Preisdifferenzierungen sind in der Wettbewerbsordnung zu verbieten" (Eucken 1975, S.296). Eine konsequente prophylaktische Monopolaufsicht solle eine M a c h t konzentration verhindern. Da Eucken sich sehr intensiv mit dem M o n o polproblem auseinandersetzt, geht er davon aus, daß das staatliche M o nopolamt kein Mammutgebilde mit großer Bürokratie sein wird. Das zweite regulierende Prinzip ist die Einkommenspolitik. Die Einkommen in der Wettbewerbsordnung bilden sich durch den M a r k t mechanismus und nicht nach ethischen Gesichtspunkten. Dies wird nach Eucken oft kritisiert, er hält diese Kritik für ungerechtfertigt und sieht die Verteilung aufgrund des Marktes trotz vieler Mängel als die gerechtere, weil am wenigsten manipulierbare, Lösung an. Ein Mangel besteht nach Eucken eher darin, daß unbedeutendere Bedürfnisse eher befriedigt werden als dringende Bedürfnisse. „Die Ungleichheit der Einkommen führt dahin, daß die Produktion von Luxusprodukten bereits erfolgt, wenn dringende Bedürfnisse von Haushalten mit geringem Einkommen nach Befriedigung verlangen. Hier also bedarf die Verteilung, die sich in der Wettbewerbsordnung vollzieht, der Korrektur" (Eucken 1975). Diese Problematik kann nach Eucken eine Steuerpolitik durch eine Steuerprogression begrenzen. Diese Progression darf allerdings nicht soweit gehen, daß sie die Investitionen vermindert. „Um also die Wettbewerbsordnung funktionsfähig zu erhalten, ist es nötig, die Progression zu begrenzen. So notwendig die Progression unter sozialem Gesichts-

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1. Das ordoliberale Leitbild und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

punkt ist, so notwendig ist es zugleich, durch die Progression nicht die Investition zu gefährden" (Eucken 1975, S.301). Das dritte regulierende Prinzip ist die Wirtschaftsrechnung. Eine gesamtwirtschaftliche Rechnungslegung ist notwendig, um zu einer zureichenden Lenkung des Gesamtprozesses zu kommen. Eucken sieht hier schon sehr deutlich, daß Umweltprobleme in dieser Rechnungslegung nicht berücksichtigt werden, da Konkurrenzpreise die Rückwirkung auf die Natur außer acht lassen. Auch Unterbezahlungen von Arbeitnehmern sollten extra aufgedeckt werden. Bei auftretenden Mißständen im Umwelt- und Sozialbereich sollte die Planungsfreiheit allerdings begrenzt werden. Hier erwähnt Eucken ausdrücklich den Arbeiterschutz. „Obwohl im Falle der Konkurrenz auch zwischen den Arbeitgebern auf dem Arbeitsmarkt eine ganz andere Lage gegeben ist, als sie meist im 19. Jahrhundert vorhanden war, ist es doch nötig, durch Regelung der Frauen- und Kinderarbeit, Bestimmungen über die Länge der Arbeitszeit, Schutz gegen Unfälle und durch Gewerbeinspektion ein Schutz der Arbeiter durchzufuhren" (Eucken 1975, S.302/303). Das vierte regulierende Prinzip bezieht sich auf das anomale Verhalten des Angebotes. Aufgrund der Vermehrung der Bevölkerung kann ein Lohndruck entstehen, der die Löhne fallen läßt. Bei fallenden Löhnen würde aber aufgrund der steigenden Bevölkerungszahl das Arbeitsangebot steigen statt zu fallen. Eine Wettbewerbsordnung ermöglicht zwar generell, daß die Arbeitskräfte ausweichen können. „Wenn sich trotzdem das Angebot auf einem Arbeitsmarkt nachhaltig anomal verhalten sollte, würde die Festsetzung von Minimallöhnen akut werden" (Eucken 1975, S.304). Seine Argumentation kann im folgenden Schaubild veranschaulicht werden:

1. Das ordoliberale Leitbild und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

15

Ordoliberalismus Konstituierende Prinzipien • • • • • • •

Wettbewerbs- Preissystem Währungspolitischer Stabilisator Offene Märkte Vertragsfreiheit Haftung Konstanz der Wirtschaftspolitik Alle Merkmale müssen gelten

Regulierende Prinzipien • • • •

Monopolpolitik Einkommenspolitik Wirtschaftsrechnung Anomales Verhalten des Angebots

M A R K T

s T A A T

Bild 1

Das phänomenologische Denken Euckens ging von einer mittelständischen Wirtschaft aus, die sich relativ langsam entwickelt und die von verantwortungsbewußten Personen geleitet wird. Diese drei Voraussetzungen haben sich aber als falsch erwiesen. Die westdeutsche Wirtschaft organisierte sich trotz der Entflechtungsmaßnahmen durch die Alliierten schnell in Großunternehmen, die technische Dynamik' beschleunigte in mehreren Schüben (Strukturwandel: Ablösung der Kohleindustrie, Vordringen der chemischen Industrie, Durchsetzung der Mikroelektronik) die wirtschaftlichen Verhältnisse und das personale wirtschaftliche Handeln wurde immer stärker anonymisiert. Es muß allerdings auch gesagt werden, daß sich Eucken wahrscheinlich nicht vorstellen konnte, daß sich der Wohlstand in der Bundesrepublik so schnell entfalten würde.

1

Zur Technikfrage siehe auch: Kap. 6

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1. Das ordoliberale Leitbild u n d das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

In der öffentlichen Diskussion wurde hauptsächlich der Begriff Soziale Marktwirtschaft zur Charakterisierung der Wirtschaftsordnung verwendet. Er geht auf Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack zurück (vgl. Peters 1997, S.I54ff). Erhards Vorstellungen vom „Wohlstand für alle" stimmten in weiten Bereichen mit der Position Euckens überein. Für beide war die Marktwirtschaft von sich aus sozial und gerecht. Müller-Armack dagegen wollte mit seiner "irenischen Formel" das Soziale und das Wirtschaftliche stärker verbinden. Neben der Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung sollte die Wirtschaftspolitik ein eigenständiges Sozialsystem etablieren. Die Sozialpolitik sollte so auch eine Einkommensumverteilung ermöglichen. Fürsorgeleistungen, Renten- und Lastenausgleich, Wohnungsbauzuschüsse, Subventionen sollten den Bedürftigen zugute kommen können. Müller-Armack unterstellt permanentes Wirtschaftswachstum und Produktivitätssteigerungen. Der Ordoliberalismus ist zwar eine zentrale geistige Wurzel des Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft, betont aber neben der Wettbewerbsordnung die Notwendigkeit einer umfangreichen Sozialordnung. Heute treten die Konstruktionsfehler des Ordoliberalismus und der Sozialen Marktwirtschaft stärker ans Tageslicht. Vordergründig geht es dabei vor allem um die Bezahlbarkeit des Sozialstaates, doch liegen die Probleme tiefer: •

die technische Dynamik verstärkt die Arbeitslosigkeit;



die Anonymität des Wirtschaftslebens tendiert zur Vernachlässigung der persönlichen Verantwortung;



das erhoffte Wirtschaftswachstum bleibt aus oder verursacht ökologische Schäden;



Konzentrationsprozesse erschweren die wirtschaftliche Selbständigkeit des Mittelstandes;



das soziale Leben wird nicht wirtschaftlich (haushälterisch) gestaltet, sondern nach kurzfristigen -nicht nachweisbaren- Kosten/NutzenKalkülen;



der Wohlstand der Industrienationen wird entweder in instrumenteller Form von Ländern der Dritten Welt nachgeahmt oder wird auf Kosten der Dritten Welt und der Natur erbracht.

1. Das ordoliberale Leitbild und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

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Anstatt an den phänomenologischen Vorstellungen Walter Euckens anzuknüpfen und die Konstruktionsfehler der Sozialen Marktwirtschaft wissenschaftlich zu erkennen und an ihrer Überwindung zu arbeiten, wurde dieses Konzept auf die Wirtschaft der ehemaligen DDR übertragen. Der ökonomische Preis der Deutschen Einheit ist bekannt. Statt Wohlstand und soziale Sicherheit finden wir in den Neuen Bundesländern eher hohe Arbeitslosigkeit, Verschwendung von Ressourcen, Desorientierung. Die erhoffte politische und wissenschaftliche Freiheit entpuppt sich als ökonomische Freiheit der Stärkeren bzw. als zynisches Desinteresse. Die Vertreter der Säulen der Wirtschaftsordnung -Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Verbraucher (das magische Dreieck)- sind aufgefordert, diesen Prozeß neu zu durchdenken und zu gestalten. Die Wissenschaft hat im Sinne des Ordoliberalismus und der Korrektur seiner Konstruktionsfehler die Aufgabe, eine neue ordnungspolitische Diskussion zu führen. So beispielsweise über die Haftungsfrage bei anonymen Kapitalgesellschaften. Dazu nun ein aktuelles Beispiel.

1.2 Haftung Die deutsche Wiedervereinigung wird auch 1996 überschattet von großen wirtschaftlichen Problemen in Deutschland insgesamt und besonders in den neuen Bundesländern. Vor allem die Arbeitslosigkeit und die Verschuldung von Staat, Betrieben und Haushalten werden zu einem immer größeren Problem. Eine Ursachenanalyse wird immer schwieriger. Entweder hat die westdeutsche Wirtschaft zu Beginn des Einigungsprozesses die ostdeutschen Länder nicht beachtet oder ist mit großen Vorsätzen in Richtung Osten marschiert. Als Paradebeispiel f ü r ein sinnvolles Bemühen in den neuen Bundesländern galt Anfang der 90er Jahre die Schiffbauindustrie, allen voran der Bremer Vulkan. Dabei wurde 10 Jahre vorher die Bremer Schiffbauindustrie geschockt durch die Betriebsstillegung des Großkonzerns AG Weser. Tausende von Arbeitnehmern wurden entlassen. Die übrigen Werften wollten eine weitere Pleite in Bremen unter allen Umständen verhindern. Aus diesem Grunde wechselte auch Mitte der 80er Jahre der Bremer Wirtschaftsstaatsrat Dr. Friedrich Hennemann in den Konzern und übernahm relativ schnell die Führung der Geschäfte. Im Sinne des großen Ökonomen Joseph Schumpeter versuchte er sich zu einem dynamischen Unternehmer zu mausern. Er entwickelte eine großartige Zukunftsvision für die maritime

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1. Das ordoliberale Leitbild und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

Industrie. Die Ozeane sollten noch stärker als Verkehrs- und Transportwege erschlossen werden. Gute Wachstums- und Gewinnaussichten galt es zu verwirklichen. Die Deutsche Einheit war ein „Geschenk" für Friedrich Hennemann und seine visionäre Konzernpolitik. Er kaufte von der Treuhand Ostwerften auf und erhielt für die Modernisierung der Werften mehrere Milliarden DM an Subventionen aus Mitteln des Aufbau Ost (Bonn) und der Europäischen Union (Brüssel). Außerdem unterstützte das Bundesland Bremen seinen ehemaligen Wirtschaftsstaatsrat mit allen zur Verfugung stehenden Mitteln. Hennemann bedankte sich für diese Unterstützung, indem er die Konzernzentrale aus dem unbekannten Vegesack in die Bremer Innenstadt verlegte und den politischen Parteien großzügige Spenden übergab. Auch die Arbeitnehmer waren -bis auf eine kleine IG-Metall Oppositionsgruppe- sehr zufrieden mit ihrem Konzern. Die Arbeitsplätze waren relativ gesichert und die Löhne und Sozialleistungen recht hoch. Nebenbei kaufte Hennemann noch andere schiffbaufremde Betriebe auf, um einen leistungsstarken Hochtechnologiekonzern zu bilden, der auf dem Weltmarkt -vor allem der koreanischen Konkurrenz- Einhalt gebieten sollte. Mehr als 40 Firmen gehörten in der Endphase zum Bremer Vulkan Verbund mit einer unübersehbaren Zahl von Beschäftigten in aller Welt. Es entstand ein Großkonzern, der von einem ehemaligen Beamten in der Verquickung von politischen und ökonomischen Interessen im Stile eines Großgrundbesitzers geleitet wurde. Im Sommer 1995 geriet die Politik von Herrn Hennemann in eine schwere Krise. Es fehlten wieder einmal über 300 Mio. DM in der Kasse. Bei diesem „Problemchen" (Hennemann) verweigerten die Banken als Aufsichtsratsmitglieder die Gefolgschaft und entließen den Konzernchef Hennemann mit einer Millionenabfindung. Es stellte sich heraus, daß mehr oder minder alle Beteiligte einer Mißwirtschaft gefolgt waren. Der Nachfolger Hennemanns trat allerdings nicht unmittelbar sein Amt an, sondern erst einige Monate später im Februar 1996. Dies hat die Schwierigkeiten zusätzlich verschärft. In dieser Zeit häuften sich die Finanzprobleme des Bremer Vulkan zu einem Finanzgewitter. Es kam zum Vorschein, daß der Konzern pleite war und daß die Modernisierung der Ostwerften nicht richtig in Angriff genommen wurde, so daß die Europäische Union von einer Veruntreuung von Finanzmitteln in schwindelerregender Höhe spricht.

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Der Konzernverbund wurde umgehend aufgelöst, die Ostwerften wurden von den Westwerften abgetrennt. Zur Zeit versuchen die Konkursverwalter möglichst viele Arbeitsplätze in Bremen und Bremerhaven zu retten. Herr Hennemann muß sich vor einem ordentlichen Gericht verantworten. Die Wirtschaftsbeamten der Europäischen Union mißtrauen seitdem der westdeutschen Wirtschaft bei der Vergabe von Subventionen (siehe VW in Sachsen), die ostdeutschen Werftangehörigen schimpfen auf die kapitalistischen Westwerften. Die westdeutschen Werftangehörigen verlieren ihre Zukunftsperspektive und resignieren. Ein Paradebeispiel für ein gelungenes Zusammenwirken von staatsmonopolistischer Wirtschaft (Treuhandstelle), ostdeutscher Wirtschaft und Europäischer Union wird durch eine Implosion zerstört. Die deutsche Einheit und die Europäische Wirtschaftsunion erleiden eine schmerzhafte aber dringend notwendige Niederlage, Verschuldung und Arbeitslosigkeit steigen im Bundesland Bremen und in Mecklenburg-Vorpommern dramatisch. Das Mißtrauen in die Wirtschaft wächst. Walter Eucken hat immer wieder darauf hingewiesen, daß die Wirtschaft einer klaren Ordnung -Ordoliberalismus- bedarf. Neben der Vertragsfreiheit ist u.a. auch die Haftung eine Grundbedingung jeder Wettbewerbsordnung. Schon in den 50er Jahren aber muß Eucken eingestehen, daß durch verschiedene Gesellschaftsformen (AG, GmbH etc.) die persönliche Haftung und Verantwortung unterhöhlt wird. Nicht Friedrich Hennemann sondern Walter Eucken kann in Sachen Vulkan Verbund AG auf seine visionäre Einsicht verweisen. Zu einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung gehören sowohl Verantwortungsbewußtsein und Kontrolle als auch persönliche Haftung. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, bewegen wir uns in Richtung Mißwirtschaft. Zu den wenigen Personen, die bei der Bremer Vulkan Verbund AG zu den moralischen Gewinnern gehören, sind sicherlich die Kollegen der oppositionellen IG-Metall Gruppe zu zählen, die sich seit vielen Jahren für eine Neuorientierung der Konzernpolitik, für die Entwicklung eines ökologisch-sozialen Schiffes, d.h. für die Entwicklung von nützlichen Produkten (kein Militärschiffbau), unermüdlich einsetzen. Das öko-soziale Schiff soll einerseits mit ökologischen Produkten gebaut -Holz statt Plastik- und andererseits unter humanen Arbeitsbedingungen erstellt werden. Ihre positiven Vorschläge wurden bisher belächelt, als unwirtschaftlich abgetan. Diese Kollegen haben auch immer wieder vor den großspurigen „visionären" Entwürfen und der Geldverschwendung

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ihres Großkonzernchefs gewarnt. Es wäre zu hoffen, daß durch die schlechten Erfahrungen mit dem Bremer Vulkan wenigstens die Fragen nach Verantwortung und Haftung und die Frage über sinnvolle Produkte in der deutschen und europäischen Wirtschaft gestellt wird, daß Forschungsgelder bereitgestellt werden zur Konzeptionierung von ökologisch-sozialen Schiffen. Dabei müssen auch die Überlegungen von Walter Eucken in den Fragen von Haftung und Verantwortung ein Ausgangspunkt sein. Die Frage nach sinnvollen Produkten hat er sich allerdings nicht gestellt. Er ging davon aus, daß sich das Problem von alleine löst. Dies hat sich leider als ein Irrtum erwiesen.

1.3 Die Macht des Eigentums Weder die Soziale Marktwirtschaft noch der Sozialismus haben eine befriedigende Antwort auf die Eigentumsfrage gegeben. Während der Sozialismus behauptete, daß alle sozialen Probleme im pauschalen Privateigentum zu suchen seien und damit scheiterte, vertraut die Soziale Marktwirtschaft und der Wirtschaftsliberalismus auf das Privateigentum an den Produktionsmitteln und muß hilflos zusehen, wie die Arbeitslosigkeit eine ungeheure Größe angenommen hat und die Unterschiede zwischen arm und reich sich rapide vergrößern. Die westlichen Staaten haben sich in der letzten Zeit immer stärker vom physischen Eigentum gelöst und die Ökonomie wird sehr stark beeinflußt von großen anonymen Kapitalgesellschaften und von Finanzgesellschaften, die mit dem Geld anderer Leute Geschäfte machen. Die Grundlage unserer Wirtschaftsordnung, Grund und Boden, die Natur, der materielle Reichtum wird dabei vernutzt und gefährdet, das Eigentum beschädigt. „Die Unvernunft des Wirtschaftsliberalismus besteht in der aus dem Profitstreben, dem Kampf um den Markt resultierenden Überproduktion und den unberechenbaren 'Reibungsverlusten' durch Konkurrenz, sinnlose und nutzlose Produktion und Organisation. Kampf ist immer mit Verlusten verbunden. Der soziale Zweck, die Bedarfsdeckung, wird so zum Abfallprodukt des Gewinnstrebens" (Schweppenhäuser 1970, S.80). Der Staat soll sich wenig um die Wirtschaft kümmern und vor allem die öffentliche Sicherheit und das Eigentum garantieren. Schweppenhäuser hat zu Recht auf die Macht und die Willkür der großen Geldbeweger hingewiesen und herausgearbeitet, daß Eigentum nicht gleich Eigentum ist und einer genauen Betrachtung und Unter-

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Scheidung bedarf. So sind Grund und Boden den Menschen von der Natur geschenkt und sind damit natürliche, öffentliche Güter. Persönliches, häusliches Eigentum ist lebensnotwendig für den Menschen und Ausdruck seiner Individualität. Werkzeuge, Maschinen und Produktionsmittel sind Ergebnis von gesellschaftlicher Arbeit und gehören in einer gerechten Wirtschaftsordnung somit Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen. Kollektives Eigentum soll vor allem dem Gemeinwohl dienen. Rechtlich lassen sich nach Schweppenhäuser folgende Unterscheidungen treffen. Das Eigentum I. Ordnung ist das persönliche Eigentum. Sachen des Bedarfes und des Konsums, persönliche Werte, Gebrauchs- und Verbrauchsgegenstände. Hier besteht eine eindeutige Beziehung zwischen der Sache und der Person im Sinne der ursprünglich bonitarischen Komponente des römischen Eigentumsrechts. Das Eigentum II. Ordnung umfaßt das gemeinschaftliche oder genossenschaftliche Konsum- oder Gebrauchseigentum: öffentliche Einrichtungen, Versammlungsräume, Bibliotheken, Schulen. Hierbei kann sich jeder einzelne als Mitbesitzer fühlen. Seinem Wesen nach ist dieses gesellschaftliche Eigentum indifferent, konfliktlos, von Natur aus neutral. Das Eigentum III. Ordnung bezieht sich auf die Produktionsmittel in der Wirtschaft. Sie gehören den Menschen, die in gemeinsamer Arbeit diese Werkzeuge und Maschinen geschaffen haben. Eigentum im idealen Sinne bedeutet hier aber nicht einfach Nutzungseigentum im alten Sinne, sondern Souveränität für die Verwendung im Sinne der Produktionsidee und des Produktionszweckes. Dies ergibt sich aus der materiellen Rechtssubstanz des Werkzeugs als eines zweckbestimmten Mittels. Wird Eigentum nur als Nutzung verstanden, wird auf Dauer das Eigentum verbraucht und entwertet. In dieser Sichtweise sollte das Eigentum an die Menschen übertragen werden, die fähig sind es weiter zu entwickeln. Außerdem muß beachtet werden, daß die Gemeinschaft insgesamt ihr Wissen und ihre Bildung, die Sitten und Gebräuche, Ideen und Werte, Rechtsnormen und -empfinden der Produktionsmittelerstellung gewährt, ohne diese eine Gütererzeugung und Güterverteilung nicht möglich wäre. „Es handelt sich also um eine Wirtschaftsform, in welcher der darin Tätige die Bedürfnisse der Mitmenschen erfahrt und seinen Ehrgeiz einsetzt, diese durch Sach- und Fachkenntnis in rationeller

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Weise zu erfüllen. Dazu müßte ein aktives Kulturleben kommen, durch das der einzelne seine individuelle Freiheit und Menschenwürde erleben kann. Das dritte, das hinzukommen muß, ist das demokratische Prinzip" (Schweppenhäuser 1970, S.86). Die postmodernen Wirtschaftsfuhrer wollen von diesen Feinheiten und Unterscheidungen nichts wissen. Doch die ökologische Krise, die hohe Arbeitslosigkeit, die ungeheure weltweite Armut zeigen, daß an das Leitbild Soziale Marktwirtschaft erinnert werden muß und, daß es erneuerungsbedürftig ist. Zu dieser Erneuerung gehören auch gründliche Überlegungen zum Eigentum, zum Geld, zur Qualität von Lebensmitteln, zu sinnvoller Arbeit, zu umweltschonenden Produkten, zu einer Zivil- und Bürgergesellschaft. Je tiefsinniger diese Überlegungen sind, um so besser für alle. Wir müssen wieder zum Kern der Dinge vordringen. Wenn wir grundlos werden, treiben wir ziellos dahin. Das stärkt aber nur einen planlosen, wirtschaftlich teuren Konsum und eröffnet einen Teufelskreis von bunten Abartigkeiten. Der Sozialismus hat seinen Zusammenbruch erlebt, das westliche Wirtschaftssystem erweist sich nur scheinbar als beweglicher. Doch was geschieht, wenn die Massen nicht mehr mit Konsum und primitiver Unterhaltung befriedigt werden können? Um eine mögliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation zu verhindern, ist es sinnvoll, wenn sich die ökonomische Theorie auf ihre hauswirtschaftlichen Wurzeln besinnt.

1.4 Hauswirtschart und Ökologie Heutzutage versteht sich die moderne Ökonomie im Gegensatz zu Eukken viel strenger als Lehre vom effizienten Umgang mit knappen Ressourcen bei vorgegebenen Zielen (meistens Gewinnmaximierung). Diese Wesensbestimmung ist allerdings aus ökologischer Perspektive formal und einseitig. Sie beruht auf den mechanischen Vorstellungen kapitalistischer Unternehmungen. Da es um angebliche Sachzusammenhänge geht, spielen die realen Unternehmensleiter, die jeweiligen Arbeitnehmer und Verbraucher eine untergeordnete Rolle. Die generelle Hypothese lautet bekanntermaßen: Die (industriellen) Unternehmen sind die Motoren der Volkswirtschaft. Geht es den Unternehmen wirtschaftlich gut, geht es allen gut. Die Soziale Marktwirtschaft beruht auf den Leistungen der Unternehmen, die sich in angeblich abstrakten Märkten behaupten müssen. Moralisch gilt die Ethik der wirtschaftlichen Leistung, die

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Neutralität und Unbestechlichkeit des Marktes und die soziale Umverteilungsfunktion des Staates. Der Sozialstaat ist demnach abhängig von der Ertragslage der Unternehmen. Ist diese positiv, können hohe Löhne bezahlt werden, können hohe Steuern dem Staat für soziale und umweltgerechte Zwecke abgetreten werden. Da sich die Märkte immer internationaler organisieren und der Sozialstaat zu teuer geworden ist, versuchen Staat und Industrie staatliche Leistungen abzubauen, die Löhne zu senken, zu rationalisieren und zu privatisieren (lean production). Beim Umweltschutz hofft man vor allem auf umweltgerechte Technologien und Energieeinsparungen sowie auf den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. Die Ökonomie versteht sich dabei einerseits immer mehr als ökologische Volks- und Betriebswirtschaftslehre und andererseits immer stärker als neoklassische Optimierungslehre: in der Managementtheorie vor allem als Lehre von der richtigen Finanzierung, als Lehre von der optimalen, finanziellen Handhabung von Eigentumsrechten, unabhängig von konkreten wirtschaftlichen Gegebenheiten. Während sich früher die Ökonomie am Privateigentum an den Produktionsmitteln ausrichtete, genügen heute Nutzungsrechte über materielle und immaterielle Güter, Pachten, Mieten, Leasing, etc. Wichtig sind privatrechtliche Verträge, die getauscht und gehandelt werden können, die Erträge einbringen oder Kosten verursachen, die es zu minimieren gilt. Finanziert wird großteils über Kredite und Aktien. Aus diesem Grunde hat das Bank- und Börsengewerbe eine immer größere Bedeutung. Während Eucken versucht hat, das moderne Industriesystem zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu machen, wurde ursprünglich unter Wirtschaft die Hauswirtschaft -der Haushalt- verstanden. 1 Ökonomie wurde als Eigenversorgung, als Subsistenzwirtschaft begriffen. Sie ist ohne den Wirt und damit ohne den Menschen nicht denkbar. Die Ökonomie (griechisch oikos: Haus, und nomös: Gesetz) ist demnach die Lehre vom sinnvollen, verantwortungsbewußten Wirtschaften, die Lehre von den Gesetzmäßigkeiten der Hauswirtschaft und ein mögliches Abbild der Vorstellungswelt des Wirtes. Damit erhält jede Hauswirtschaft ihren individuellen Charakter. „Ökonomie ist, in einem Sinne, dem heute wenig Beachtung geschenkt wird, das Wirtschaftsgesetz des Hauses, ist

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Dazu hat auch immer die Landwirtschaft gehört.

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Hauswirtschaft. Sie ist das Hausen des Menschen auf dieser Erde" (Jünger 1993, S.35). Haushalten bzw. Wirtschaften bedeutet, mit vorhandenen Mitteln eine gute Versorgung zu erreichen. Die vorhandenen Mittel sollen gepflegt und verbessert werden. Dabei wird zunächst von den natürlichen Mitteln und der natürlichen Fruchtbarkeit ausgegangen. Es werden vor allem Mittel für das tägliche Leben, sog. Lebensmittel erstellt. Dazu bedarf es vor allem einer fruchtbaren Natur. Die Fruchtbarkeit ist die größte Eigenschaft, zu der ein Lebewesen fähig ist. Wo diese schwindet, verfallt die Hauswirtschaft. Ein Teil der natürlichen Fruchtbarkeit ist die Bodenfruchtbarkeit. Sie ist die Basis für die Fruchtbarkeit der Pflanzen und Tiere und Basis für die ökonomischen und kulturellen Leistungen der Menschen. Die Bodenfruchtbarkeit ist kein Ding an sich, sondern Teil einer Ganzheit. „Die Fruchtbarkeit ist also ein Urphänomen im Sinne Goethes und wirkt bereits im Makromolekular- Bezirk, bei den kleinsten Einheiten des Lebendigen. Hier muß sie studiert werden, und hier werden wir den ersten gedanklichen Anhaltspunkt dafür finden, auf welchem Wege wir eine für alle Bereiche des Lebens gültige Lösung des Fruchtbarkeitsproblems zu entdecken Aussicht haben; denn so, wie eine jede Zelle eigentlich nichts anderes ist als eine Kongregation, eine Zweckvereinigung lebender Substanzen, Organismen eine Kongregation von Zellen, und so, wie trotzdem das Ganze, das wir fertig vor uns sehen, doch nur zusammengebaut ist mit den biologischen Potenzen der lebenden Substanzen, so ist auch die Fruchtbarkeit ganz gewiß eine Ureigenschaft lebender Substanzen und erscheint erst dort in ihrer reinsten, ursprünglichsten Form, wo die apparativen Sondereinrichtungen, die zur Organisation höherer Lebensformen notwendig sind, noch nicht nötig waren" (Rusch, 1985, S.47). Die Ökonomie muß in dieser emphatischen Betrachtung die Gesetze der Wirtschaft ausarbeiten und fruchtbar machen. Werden diese verletzt, so entsteht Mißwirtschaft. Der Ökonom ist in diesem ursprünglichen Sinne ein Hausvater bzw. eine Hausmutter der/die sich gemäß dem Nomos der Hauswirtschaft verhalten soll. Er/sie soll dafür sorgen, daß die Hauswirtschaft geordnet ist, daß sie Waren und Güter produziert, die den Lebensunterhalt der Hausbewohner einschließlich der Pflanzen und Tiere sichert und die lebendigen Substanzen schützt und aktiviert. Er soll Vorräte ansammeln und Vorsorge für die Zukunft betreiben. Die

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1. D a s o r d o l i b e r a l e Leitbild u n d d a s K o n z e p t d e r S o z i a l e n M a r k t w i r t s c h a f t

Substanz der Hauswirtschaft soll systematisch erhalten und ausgebaut werden. Wird die Substanz aufgebraucht und verzehrt, liegen entweder schlechte natürliche Bedingungen oder Unglücksfälle vor, oder aber es wird Mißwirtschaft betrieben. Wirtschaft setzt nicht nur den Menschen voraus, sondern auch die Natur. Sie bildet die unmittelbare Grundlage jeglichen Wirtschaftens. Der Mensch, der die Natur bearbeitet, Pflanzen anbaut und Tiere züchtet, muß darauf achten, daß er ihre Fruchtbarkeit nicht unterhöhlt, sondern verbessert. Dazu braucht er ein Wissen und ein Gefühl für das Klima, den Boden, die Saat, die Ernte, das Tier, die Tierhaltung und -futterung etc. Hauswirtschaft •

Sparsamkeit



Fruchtbarkeit



Ganzheitlichkeit



Wenig Technik



Nachhaltigkeit



Vorsorge

Bild 2

Bei der Einrichtung einer Hauswirtschaft wird von den spezifischen Standortbedingungen ausgegangen, und es werden dadurch die jeweiligen natürlichen und ökonomischen Erfordernisse berücksichtigt. „Das Ziel ist die Dauerfruchtbarkeit und Gesundheit aus eigenen Kräften des Hofes. Ein guter Ausgangspunkt hierfür ist die Humusersatzwirtschaft, die auf Tierhaltung, Düngerwirtschaft und Fruchtfolge beruht. Es sollen so viele Tiere gehalten werden, daß mit dem anfallenden Dünger Fruchtbarkeit und Leben der Böden erhalten und gesteigert werden kann. Je nach Lage und Klimaverhältnisse muß die richtige Zahl und Art der zu haltenden Tiere herausgefunden werden" (Sattler/ Wistinghausen 1985, S . l l ) . Nur durch Vermehrung und Pflege wird sich die Hauswirtschaft verbessern. Der Hausvater bzw. die Hausmutter ist deswegen ein Wirt in einem doppelten Sinne: er/sie ist Hauswirt und Landwirt zugleich.

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Diese fundamentalen Zusammenhänge gilt es zu beachten. Sie gelten praktisch unabhängig von den jeweiligen Wirtschaftsordnungen. Der Mensch muß durch seine tätige Arbeit Opfer bringen, dazu braucht er Ideen und Ziele, die in Einklang mit der Natur stehen oder diese kultivieren. Der Mensch kann zwar der Natur eigene Ideen zufügen, steht aber selber wiederum unter den Gesetzen der Natur. „An den großen Weidelandschaften, in denen die Kuh als wichtigstes Haustier gehalten wird, sehen wir, daß auch sie unter dem Lebensgesetz der Kuh stehen. Der Mensch, welcher die Kuh nutzt, kann sich diesem Gesetz nicht entziehen, weder in seiner Arbeit noch in seinem Denken noch in seiner täglichen Lebensweise, die ein Leben hindurch wiederkehrt. Die Kuh, die er sich unterworfen hat, unterwirft auch ihn, unterwirft ihn mit der Kraft der wiederkäuenden Sanftmut und Ruhe, die ihr eigen ist, sanft, aber unerbittlich. Er muß sie säubern, pflegen, melken, weiden, hüten; er ist der unzertrennliche Wärter und Begleiter des Tieres geworden" (Jünger 1993, S.37). Der Mensch kommt vom Tier nicht los und umgekehrt. Darin liegen Freuden und Leiden zugleich. Daraus wächst die Erkenntnis, daß es sich für Mensch und Tier lohnt, das Leben miteinander zu verbringen. Durch den pfleglichen Umgang des Menschen mit der Natur und mit sich selbst wird er und die Natur schöner, stärker und fruchtbarer. So entwickelt der pflegliche Umgang mit der Natur und des Menschen mit sich selbst die Hauswirtschaft, den Menschen selber und seine Kultur. Nutzung der Natur und des Menschen ohne Sorge und Pflege ist Raubbau. Zur Hauswirtschaft gehört nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch der Bau und die Bewirtschaftung des Hauses selber. Das Haus ist eine Urform menschlichen Lebens. Es ist Ausdruck der Kultur und eine sichere Stelle gegen die Unbilden der Natur und vor feindlichen Mächten. Die Hauswirtschaft wird ergänzt durch das Handwerk. Durch besondere Handfertigkeit und Geschicklichkeit werden in einem arbeitsteiligen Prozeß Einzelleistungen für einen vorgegebenen Auftrag erstellt. Außerdem sind Lehrer, Künstler, Wissenschaftler, Ärzte, Priester für die seelische und leibliche Vor- und Fürsorge tätig. Ihre -vor allem geistigenAktivitäten tragen zur Entfaltung der gesamten Hauswirtschaft bei. Ihr Bestreben unterliegt wiederum den Gesetzen der Hauswirtschaft. Eine moderne Hauswirtschaftstheorie hat von der Existenz und Entfaltung individueller Fähigkeiten und Fertigkeiten auszugehen, von der

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Vorstellung, sich von den Dingen belehren zu lassen, von einer Verantwortungsethik gegenüber der Natur und den nachfolgenden Generationen, vom Eigenrecht der Natur, von individuellen Freiheitsrechten: den Rechten auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Leben und körperliche Unversehrtheit. In einem arbeitsteiligen Prozeß soll das Leben so organisiert sein, daß das Individuum seine Fähigkeiten einbringen kann und gleichzeitig an die Hauswirtschaft als eine Einheit gedacht wird. Individuelle Interessen müssen nicht immer mit allgemeinen Interessen kollidieren. Die einzelne Einheit ist am Erfolg des Ganzen durchaus interessiert. Eine gemeinsame Schnittmenge von individuellen und gemeinschaftlichen Interessen ist die Erhaltung und Steigerung der lebenden Substanz. Diese befruchtet alle gleichermaßen. Die Fruchtbarkeit ist um so größer, je größer die Freiheitsgrade der Individuen und die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Haushalten ist. Die Hauswirtschaft ist gefährdet durch die ungeheure Ausdehnung der modernen Industrie und ihrer kapitalistischen und technologischen Ausrichtung. Industrielle Arbeitsmethoden, Verfahren, Bezahlung, Finanzierung, Spekulation, Organisation sowie industrielle Technik sollen in der Hauswirtschaft immer stärker angewendet werden. Daß dies nicht möglich ist, zeigt das Ausmaß der Umweltzerstörung und ist theoretisch leicht einsehbar, da die moderne Industrie die Existenz lebender Prozesse leugnet, sie beruht auf einem toten Modernisierungskonzept. Die Entwicklung kann nur umgekehrt verlaufen. Die moderne Industrie hat aufgrund der ökologischen Krise auch von der Hauswirtschaft zu lernen und ist von hier aus theoretisch zu befruchten. Literatur Erhard, Ludwig: Wohlstand für alle, Düsseldorf 1957 Eucken, Walter: Die Grundlagen der Nationalökonomie, 6. Aufl., Berlin/Göttingen 1950 Eucken, Walter: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 5. Aufl., Tübingen 1975 Hayek, Friedrich A. V.: Der Weg zur Knechtschaft, München 1971 Holzwarth, Fritz: Ordnung der Wirtschaft durch Wettbewerb, Entwicklung der Ideen der Freiburger Schule, Freiburg 1985 Horn, Karen Ilse: Moral und Wirtschaft, Tübingen 1996

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Jünger, Friedrich Georg: Die Perfektion der Technik, 7. Aufl., Ffm 1993 Müller-Armack, Alfred: Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Bern/Stuttgart 1974 Peters, Hans Rudolf: Wirtschaftssystemtheorie und Allgemeine Ordnungspolitik, 3. Aufl., München 1997 Quaas, Friedrun; Straubhaar, Thomas (Hg ): Perspektiven der Sozialen Marktwirtschaft, Bern/Stuttgart/Wien 1995 Rusch, Hans Peter: Bodenfruchtbarkeit. Eine Studie biologischen Denkens, 5. Aufl., Heidelberg 1985 Schweppenhäuser, Hans Georg: Macht des Eigentums. Auf dem Weg in eine neue soziale Zukunft, Stuttgart 1970 Sattler, Friedrich; Wistinghausen, Ekkard v.: Der landwirtschaftliche Betrieb. Biologisch-Dynamisch, 2. Aufl., Stuttgart 1985

2. D a s planwirtschaftliche Modell und die Transformation

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2. Das planwirtschaftliche Modell und die Transformation 2.1 Politische B e g r ü n d u n g Das planwirtschaftliche Modell basiert auf der sozialistischen Kritik am Liberalismus. Sie geht davon aus, daß die Lehre der drei Produktionsfaktoren eine Ideologie sei. Nicht Boden, Arbeit und Kapital schaffen in der Vorstellung der Kritiker den gesellschaftlichen Reichtum und haben ein Anrecht auf Entlohnung, sondern nur die Arbeit ist produktiv und soll entsprechend alleine den gesellschaftlichen Reichtum verteilen. Aufgrund der Arbeitswertlehre wird das Privateigentum an den Produktionsmitteln als Ursache von Ausbeutung, Konzentration in der Wirtschaft und gesellschaftlichen und individuellen Krisen interpretiert. Eine gerechte und menschenwürdige Gesellschaftsordnung müsse das Diktat der Ökonomie aufheben zugunsten einer politischen Ordnung. Sozialismus soll eine bessere Ökonomie organisieren aufgrund eines anderen politischen Verständnisses. Das planwirtschaftliche Modell ist deshalb nicht einfach mit dem marktwirtschaftlichen Modell vergleichbar, da es sich nicht ökonomisch, sondern politisch definiert. Im planwirtschaftlichen Modell werden Politik und Ökonomie vereint, im marktwirtschaftlichen Modell werden Politik und Ökonomie getrennt betrachtet. Der liberalistische Wettbewerb gilt in sozialistischen Vorstellungen als inhuman, das Haftungsprinzip, die Forderung nach offenen Märkten und die Vertragsfreiheit sind danach ideologische Verschleierungen. Die Wettbewerbsordnung wird ersetzt durch eine planwirtschaftliche Ordnung, die eine klassenlose Gesellschaft ermöglichen soll. Das Verfugungssystem der Planwirtschaft liegt in der Hand der Arbeiter bzw. des Staates. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln wird überfuhrt in Volkseigentum. Der Staat übt die wichtigsten Verfügungsrechte über die Produktion und Verteilung aus. Die Erarbeitung und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums geschieht durch die Arbeiter bzw. die Staatsorgane. Nach sozialistischer Vorstellung wird in der kapitalistischen Gesellschaft der Arbeitsprozeß vom Verwertungsprozeß dominiert. Der Arbeiter produziert nicht primär Gebrauchswerte, sondern Tauschwerte. Die Waren müssen am Markt einen Wert realisieren, Basis der Wertes ist die produktive Arbeitskraft. Sie ist alleine wertbildend. Sie wird im

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2. Das planwirtschaftliche Modell und die Transformation

Kapitalismus zur Ware und hat damit einen Gebrauchswert und einen Tauschwert. Aus der Differenz von Tauschwert und Gebrauchswert entspringt der Mehrwert. „Der absolute Wert der Ware ist dem Kapitalisten, der sie produziert, an und für sich gleichgültig. Ihn interessiert nur der in ihr steckende und im Verkauf realisierbare Mehrwert" (Marx 1969, S.338). Aufgrund des Privateigentums an den Produktionsmitteln besteht eine permanente Entfremdung der Ware Arbeitskraft. Sie verfügt nicht über den gesellschaftlichen Reichtum und steht im Gegensatz zur Natur. Der Arbeiter wird zum Objekt des Kapitals. Das Kapital hat ein permanentes Interesse die Kosten zu senken. Andererseits werden permanent Arbeitskräfte zur Mehrwerterzeugung benötigt. Dieser immanente Widerspruch begleitet nach sozialistischer Auffassung die kapitalistische Produktionsweise. Hier ist auch das Arbeitslosenproblem und das Konzentrationsproblem systematisch in der Gesellschaft angelegt. „Es ist dies nicht mehr einfache, mit der Akkumulation identische Konzentration von Produktionsmitteln und Kommando über Arbeit. Es ist Konzentration bereits gebildeter Kapitale, Aufhebung ihrer individuellen Selbständigkeit, Expropriation von Kapitalist durch Kapitalist, Verwandlung vieler kleineren in weniger größere Kapitale" (Marx 1969, S.654). Die wirklichen Verhältnisse sind im Kapitalismus verschleiert. Die Arbeiter sind nicht frei und unabhängig, sondern zur Lohnarbeit gezwungen, sie leben in entfremdeten Strukturen. Geld und Produktionsmittel sind nur scheinbar produktiv. Im Bewußtsein der Gesellschaft bildet sich ein Geld- und Kapitalfetisch Die Arbeiter werden zu ökonomischen Rollenträgern degradiert und müssen nach außermenschlichen Faktoren funktionieren. Sie sind nur Charaktermasken des Systems und nur bedingt für ihre Taten verantwortlich. Die Menschen werden zu Dingen und die Gegenstände verlebendigen sich. Die Waren erhalten somit magischen Charakter. Die Menschen und ihr Bewußtsein unterliegen im Kapitalismus den ökonomischen Sachgesetzmäßigkeiten. Diese basieren auf der Macht des Privateigentums und sind in sich widersprüchlich. Das Kapital beherrscht zwar den einzelnen Betrieb, unterliegt aber auch der gesellschaftlichen Konkurrenz. Die Gesellschaft wird beherrscht durch ökonomische Gesetzmäßigkeiten, denen sich alle zu fugen haben. Es ist das Gesetz der allgemeinen Durchschnittsprofitrate, das die Bedingungen setzt. „Die progressive Tendenz der allgemeinen Profitrate zum Sinken ist also nur ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlicher Ausdruck für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit" (Marx 1970, S.223).

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2. Das planwirtschaftliche Modell und die Transformation

Dieses Wertgesetz diktiert wie ein Naturgesetz die sozialen Bedingungen. D a s kapitalistische Konkurrenzsystem zwingt den einzelnen Unternehmer, seine Produktion auszudehnen, Arbeit durch Kapital zu ersetzen. Es findet also ein permanenter Rationalisierungsprozeß statt. Die Zunahme der toten über die lebendige Arbeit ist eine unumstößliche gesellschaftliche Tendenz. Das Wertgesetz führt zu einer krisenhaften Entwicklung und bildet Konjunkturzyklen heraus. „Es zeigt sich hier das schon früher entwickelte Gesetz, daß mit der relativen Abnahme des variablen Kapitals, also der Entwicklung der gesellschaftlichen P r o d u k tivkraft der Arbeit, eine wachsende größere Masse Gesamtkapital nötig ist, um dieselbe Menge Arbeitskraft in Bewegung zu setzen und dieselbe M a s s e Mehrarbeit einzusaugen" (Marx 1970, S.232). Arbeitslosigkeit ist somit eine ständig auftauchende Erscheinung. Ökonomische Krisen fördern den Konzentrations- und Zentralisationsprozeß des Kapitals. Lohnsenkungen und Massenentlassungen werden notwendig, um eine Bereinigung vorzunehmen. Nach sozialistischer Vorstellung kann nur eine Überwindung des Liberalismus eine gerechte W i r t s c h a f t s o r d n u n g ermöglichen. Die Unterschiede von Plan- und Marktwirtschaft im Bild:

Unterscheidungsmerkmale

Planwirtschaft

Marktwirtschaft

Verfugungssystem

Volkseigentum, gesellschaftl. Haftung

Privateigentum, Haftung, Vertragsfreiheit

Planungssystem

zentral

dezentral

Koordinierungssystem

Politische Preise, Pläne, staatl. Preise

Offene Märkte, Preissystem

Herrschaft

Kollektiv-politisches System

Individualistischwirtschaftliches System

Politische Ordnung

Einparteiensy stem

Parlamentarische Demokratie

Staatl. Einfluß

Lenkungsfunktion

Rahmensetzer, Rechtsordnung Bild 3

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2. Das planwirtschaftliche Modell und die Transformation

Das planwirtschaftliche Modell ist nur auf einem ideologischen Hintergrund verstehbar. Es ist Resultat einer scharfen Kritik am Kapitalismus. Es soll nicht einfach eine andere ökonomische Struktur aufbauen, sondern eine völlig neue Politik1 begründen. Entfremdung und Verdinglichung sollten beseitigt werden. Der Arbeiter sollte nicht mehr Ware sein, sondern sein menschliches Wesen ausbilden können. Voraussetzung sind die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Sicherung der Herrschaft der Arbeiter in der Gesellschaft, eine planwirtschaftliche Organisation der Ökonomie. Die ökonomischen Begriffe sollten eine völlig andere Bedeutung haben, als unter kapitalistischen Bedingungen. Im planwirtschaftlichen Modell wird vom Staat ein zentraler Rahmenplan aufgestellt. Er lenkt die Produktion und Verteilung der Güter. Die Preise bilden sich nicht am Markt, sondern werden von einer Preiskommission nach politischen Kriterien festgelegt. Die Betriebe sind staatlich organisierte Einheiten, die Arbeiter sind keine Lohnarbeiter, sondern Teil des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters.

2.2 Vom Plan zum Weltmarkt Durch den Fall des Eisernen Vorhanges im Jahre 1989 ist das Transformationsproblem entstanden. Ehemalige Planwirtschaften sollen sich mehr oder minder freiwillig in marktwirtschaftliche Systeme integrieren oder komplett umwandeln. Hier handelt es sich nicht einfach um rein ökonomische Veränderungsprozesse, sondern auch um die Veränderung der gesellschaftspolitischen Ausrichtung insgesamt. Das sozialistische Weltbild soll radikal ersetzt werden durch liberalistische Vorstellungen. Einfache ökonomische Begriffe wie Preise, Löhne, Rentabilität, Wohlstand etc. müssen neu erarbeitet werden. Basierten die planwirtschaftlichen Systeme auf der Kritik am Liberalismus, so müssen sie diese Kritik nun vergessen und ersetzen durch die Kritik des Liberalismus am Sozialismus sowie in der positiven Entwicklung liberalistischer und sozialstaatlicher Vorstellungen. Dabei spielt beispielsweise die Erarbeitung der konstituierenden und regulativen Prinzipien von Eucken ebenso eine Rolle wie die Aneignung einzelwirtschaftlicher Rentabilitäts- und Risikoüberlegungen. Dieser Vorgang ist kein rein theoretisches Interesse, sondern unmittelbar mit der praktischen Notwendigkeit verbunden, eine eigenständige Ökonomie aufzubauen und mehr oder minder stark in 1

Dieser Punkt wird in der Kritik des Ordoliberalismus meist vernachlässigt.

2. D a s p l a n w i r t s c h a f t l i c h e M o d e l l u n d die T r a n s f o r m a t i o n

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den Weltmarkt zu integrieren. Aus diesem Grunde spricht man von einer weichen oder harten Schocktherapie. Die Einfuhrung der Marktwirtschaft in den Neuen Bundesländern stellt historisch gesehen eine Sonderstellung dar, da die Alten Bundesländer ihre Rechtsordnung sowie Transferleistungen zur V e r f ü g u n g stellten. Es wurde außerdem eine Treuhandstelle gegründet, die die ehemals volkseigenen Betriebe in marktwirtschaftliche Betriebe u m w a n delte (vgl. Sturm 1995, S.MOff). a) U m s c h u l u n g e n Umfangreiche Bildungsmaßnahmen in den Neuen Bundesländern sollen marktwirtschaftliche Denkweisen transparent machen. Viele Lehrgänge haben beispielsweise eine Betriebswirtsausbildung zur Zielsetzung. Die vom Verfasser durchgeführte wissenschaftliche Begleitung eines Bildungswerkes der Deutschen Wirtschaft in N. erstreckte sich a u f den Zeitraum von vier Jahren. Begonnen wurde ein Jahr nach der Wende. Es waren Umschulungsmaßnahmen f ü r Akademiker. Finanziert wurden die Lehrgänge vom Arbeitsamt und der Europäischen Gemeinschaft. Die Vollzeitmaßnahmen dauerten zwischen einem Jahr und neun Monaten. Es wurden die üblichen wirtschaftswissenschaftlichen Fächer unterrichtet: Rechnungswesen, Marketing, Steuerlehre, Management, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre, Datenverarbeitung etc. Es wurden insgesamt 8 Lehrgänge mit knapp zweihundert Teilnehmern durchgeführt und wissenschaftlich begleitet. Es liefen parallel immer jeweils zwei selbständige Kurse mit einem oder auch zwei Dozenten, die meist aus den Alten Bundesländern kamen. Eine ordnungspolitische Auswertung kann in den folgenden Kernthesen zusammengefaßt werden. Der Übergang vom Plan zum Markt bzw. Weltmarkt kann in zwei Phasen charakterisiert werden. Die ersten Lehrgänge waren sehr stark gekennzeichnet durch Teilnehmer, die lernwillig und wißbegierig waren, aber in sehr hohem Maße das planwirtschaftliche Denken verinnerlicht hatten und den Liberalismus eher kritisierten als zu versuchen, ihn zu verstehen oder gar zu praktizieren. Es bestanden große Schwierigkeiten und Barrieren, sich auf die liberalistischen Begriffe und Denkgewohnheiten einzulassen Wenn aber eine erste Hürde genommen war, w a r die intellektuelle Aneignung in der Regel relativ rasch möglich. Allerdings bestand gegenüber dem neuen Wissen immer wieder eine gewisse Skepsis und eine Distanz. Kaum ein Teilnehmer dachte an eine spätere selb-

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ständige Berufspraxis. Man war mehr oder minder in den alten Strukturen eingebunden und wartete auf die Anweisungen der neuen Chefs oder auf das Auftauchen von westlichen Investoren, die die Richtung vorgeben sollten. Erschwerend kam hinzu, daß die wirtschaftliche Situation durch Unsicherheiten in der Eigentumsfrage gekennzeichnet war, alte Marktstrukturen zusammengebrochen waren und objektiv große Hindernisse für Existenzgründungen bestanden. Da die staatlichen Verwaltungen erst im Entstehen waren, war die Arbeitsplatzperspektive nach erfolgreichem Lehrgangsabschluß sehr schwierig. Je weiter die Wende entfernt lag, desto geringer wurde die Prägung durch die planwirtschaftliche Argumentation deutlich. Nun ließen sich die Teilnehmer eher auf das marktwirtschaftliche Denken ein, aber es fehlten eigene Erfahrungen mit den Begrifflichkeiten. Risiko, Haftung, Handhabung von Krediten wurde nun zwar theoretisch ausfuhrlich gelernt, aber die reale Bedeutung der Zusammenhänge war schwer vermittelbar. Auch war kaum deutlich zu machen, worin der Unterschied zwischen der Existenz als Angestellter und als Freiberufler liegt. Die Teilnehmer fühlten sich eher als Teil eines Kollektivs, das gerecht behandelt werden will, denn als risikobereite Individuen. Auch diejenigen Teilnehmer, die aus einer selbständigen Existenzgründung in Form eines Familienbetriebes kamen, betrachteten sich eher als Opfer der Einheit statt als reale Gewinner. Die ganze Problematik läßt sich an der Währungsfrage verdichten. Fast alle Teilnehmer waren sehr skeptisch zum Euro, da man mit der DM schon genug Probleme hatte und sich generell überfordert fühlte. Die Transformation vom Plan zum Markt erfordert eine Denk- und Verhaltensänderung in vielen Bereichen. Unternehmerisches Denken bildet die Ausgangsbasis, aber auch der Verbraucher und Arbeitnehmer muß sich neue Interessen und Gewohnheiten aneignen. b) Handwerkergründungen In den ersten Jahren nach der Wende passierte es zuhauf, daß an Unternehmensberatungsfirmen kompetente Handwerker herangetreten sind, um sich selbständig zu machen. Die Beratungsfirmen kommen aus dem Westen und haben meist in den Neuen Bundesländern eine Zweigstelle. So hat Herr K. als gelernter Facharbeiter mit guten Abschlüssen im Bereich Heizung und Sanitär 1990 an Fortbildungsmaßnahmen teilgenommen und 1991 im Rahmen von Übergangsregelungen die Genehmigung für eine selbständige handwerkliche Tätigkeit auf seinem Fachge-

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biet erhalten. Daraufhin gründete er eine GmbH. Die neue Wirtschaftsordnung rief dazu auf, die Belange selber in die Hand zu nehmen. Doch anders als in den Alten Bundesländern mit jahrzehntelanger Markterfahrung stand zunächst weniger die Kosten- und Umsatzseite einer Gründung im Vordergrund, also die wirtschaftliche Rentabilität und Rationalität, sondern die Frage, wie die früher so selbstverständlich staatlich garantierte soziale Sicherheit nunmehr durch eine selbst organisierte Sicherheit zu ersetzen sei. Die Gründung der GmbH erfolgte aus Sicherheitsgründen auf den Namen der Ehefrau und Herr K. ließ sich als der eigentliche 'Macher' der Firma als Meister und verantwortlicher Geschäftsführer einstellen, verbunden mit den üblichen Zahlungsverpflichtungen an die Sozialversicherungssysteme. Sollte es einmal dem Unternehmen schlechter gehen, hat Herr K. Anspruch auf Arbeitslosenbezüge. Die ersten Kunden kamen aus dem Bekanntenkreis der Handwerkertätigkeit zu DDR-Zeiten, so daß das Geschäft relativ schnell florierte und zwei weitere Gesellen eingestellt werden konnten. Nach zwei Jahren war der Bekanntenkreis erschöpft, doch es treten größere Firmen an ihn heran und er kann sich nun als Subunternehmer einbringen. Ein Jahr geht es gut, dann treten die ersten Schwierigkeiten auf. Die Konkurrenz hat zugenommen, Auftraggeber drücken die Preise. Schließlich muß Herr K. feststellen, daß seine eigene Kalkulation nicht mehr aufgeht. Die Fixkosten sind durch die Aufbauphase überproportional angestiegen und in keiner Weise hinreichend bei den eigenen Angeboten berücksichtigt. Reserven für umsatzschwächere Zeiten sind nicht aufgebaut. Fachlich hat er es geschafft, sich dem Niveau moderner westlicher Technik anzupassen, doch wirtschaftlich ist er nicht in der Lage, sich gegenüber den markterfahrenen Bauunternehmen der Altbundesländer mit angemessenen Preisen durchzusetzen. Diese Erfahrungen machen in diesen Jahren viele neugegründete Unternehmen. Sie bieten ihre Waren preiswert an, erhalten dadurch eine gute Auslastung bei gleichzeitig qualitativ guter Arbeit, werden aber dennoch durch zusätzlichen Preisdruck an den Rand der wirtschaftlichen Existenz gedrängt. Versuche der neu entstehenden Unternehmerverbände, hier aufklärend zu wirken und den Informationsfluß zu verbessern, bewirkten nur wenig.

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Es treten neue, bisher nicht gekannte Probleme auf. In der ehemaligen DDR gab es in den seltensten Fällen Schwierigkeiten mit der Bezahlung einer in Anspruch genommenen Leistung. Ganz anders jedoch in der Marktwirtschaft. Waren und Dienstleistungen sind reichlich vorhanden, man kann wählen und ausprobieren und die Versuchung ist groß, zunächst einmal die Ware haben zu wollen und das Bezahlen auf später zu vertagen. Diese Erfahrung muß auch Herr K. machen. Als Subunternehmer für eine größere Bauunternehmung geht er in Vorleistung, bringt Arbeitsleistungen ein und baut auf eigene Rechnung die gelieferten Anlagenteile ein. Doch die Bezahlung läßt auf sich warten. Die Firma gerät in Schwierigkeiten, Herr K. muß einen Mitarbeiter entlassen. Zwei entscheidende Sicherheitsregeln (Fixkostenentwicklung und wirtschaftliche Kontrolle der Auftraggeber) hat Herr K. nicht beachtet, da er früher mit solchen Problemen nicht konfrontiert war. Doch Herr K. hat gelernt. Er überprüft nunmehr Auftraggeber auf ihre Kreditwürdigkeit, verlangt u.U. Bürgschaften. Er hat von der euphorischen Wachstumsphase Abschied genommen, beschränkt sich auf kalkulatorisch überschaubare regionale Projekte und festigt wieder seine Existenz als Selbständiger, obwohl noch Schulden aus der Krisenphase des Unternehmens abzutragen sind. c) Kapital ist (nicht) alles Ein Ehepaar S , er gelernter Koch und zu DDR-Zeiten über viele Jahre Gaststättenleiter und Ausbilder, sie gelernte Kellnerin, ebenfalls mit langjähriger Berufserfahrung erhalten 1991 das Angebot, ein ehemaliges DDR-Kulturhaus zu betreiben. Das Haus ist ein großräumiges Gebäude mit Speisesaal und großem Veranstaltungsraum und war früher ein gern besuchter Ort. Dem Ehepaar gelingt es innerhalb kurzer Zeit, das Haus wieder mit Leben zu füllen und zu einem gern besuchten Ort zu machen. Nach zwei Jahren erfolgt der Kauf und in den folgenden zwei Jahren eine Grundsanierung des gesamten Gebäudes. Die Sanierungskosten hängen nun aber wie ein Damoklesschwert über dem ganzen Unternehmen, so daß die Banken darauf drängen, das Unternehmenskonzept umzugestalten. Eine mittelfristige Planung zur Erhöhung des Umsatzes um 50 Prozent ist notwendig. Dies ist aber mit dem bisher regional ausgerichteten Konzept nicht erreichbar. Stattdessen geht es um Umstrukturierungen wie: Öffnung für den Massentourismus (Busse), Durchfuhrung z.B. von

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Verkaufsveranstaltungen (zur besseren Auslastung des Saales). Insgesamt soll die Organisation grundsätzlich geändert werden; statt eigener Küche künftig Teilfertiggerichte, Umstellung von individueller Bewirtung zu stärker standardisierter Massenfertigung. Trotz in den letzten Jahren gut funktionierender Betriebsstruktur erfordert der Markt (die Finanzierungsstruktur) gravierende Eingriffe. Der technisch gut funktionierende und in der Region gesellschaftlich angesehene Betrieb muß mittelfristig expandieren und die gerade aufgebauten Strukturen müssen beseitigt werden. Diese Erfahrung mußten viele Existenzgründer in den Neuen Bundesländern machen. Es fand in den ersten Jahren nach der Wende eine -an wirtschaftlichen Möglichkeiten gemessen- zu großzügige Kapitalausstattung statt und nun ist eine entsprechende Korrektur der Unternehmensstrategie erforderlich, die einen scharfen Einschnitt bedeutet. Das Ehepaar S. fühlte sich überfordert und wollte die geforderte Umstellung aus Sicherheitsgründen nicht durchführen. Es ist zu befurchten, daß die Erfolge der neuen Wirtschaftsordnung in vielen Bereichen erst f ü r die zweiten und dritten Gründergenerationen greifen. Auch diesmal frißt die Veränderung ihre Kinder. d ) M i t N a c h b a r s c h a f t s h i l f e in die M a r k t w i r t s c h a f t Die Bewohner der ehemaligen DDR waren großenteils bewundernswerte Strategen im Organisieren all dessen, was es eigentlich nicht gab. Dies ist einer der wesentlichen Gründe f ü r den relativen Wohlstand zur d a maligen Zeit. Die Fähigkeit zur Improvisation war f ü r viele auch die rettende Grundlage zum Einstieg in die neue Wirtschaftsordnung. Die ersten Ansätze privatwirtschaftlicher Selbstorganisation lebten von der unmittelbaren Nachbarschaft. Sie erforderten nur eine geringe Kapitalausstattung, brachten keine wesentlichen Kosten mit sich, ermöglichten aber gleichzeitig eine existenzsichernde Grundlage. Die vollständige Schließung von HO- und Konsum-Läden führte zur Umfunktionierung von Wohnräumen zu Einkaufsstätten, meist verbunden mit einem 'Getränkestützpunkt'. Existenzgründer dieser Art lernten die ersten Lektionen moderner Marktwirtschaft in einer wenig risikoreichen Variante. Und nach dem A u f b a u von Supermärkten in den Folgejahren waren diese Existenz-

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gründer häufig diejenigen, die dann dort als Marktleiter bzw. in Form eines 'Shop in Shop'- Systems weiterhin selbständig arbeiteten. Die Improvisationsfahigkeit hat in vielen Fällen dazu geführt, die eigenen handwerklichen Fähigkeiten aus früherer Ausbildung und Tätigkeit mit ersten Gehversuchen in der Marktwirtschaft erfolgreich zu verbinden und nach gelungenem Start den nächsten Schritt in eine größere Einheit zu wagen, z.B. als Franchisenehmer eine eigene Backstube, Pizzeria, Verkaufsgeschäft etc. aufzubauen. Die zu DDR-Zeiten angeeignete Improvisationsfähigkeit war immer auch verbunden mit einer Vielzahl von Kontakten und der Fähigkeit, sich Neuem gegenüber offen zu verhalten; diese Fähigkeiten führten auch dazu, sich mit Interesse und angemessenem Ausmaß für Risiken den neuen Marktmöglichkeiten zu stellen. Seit der Wende hat sich die ordnungspolitische Diskussion gründlich verschoben. Davor gab es einen erbitterten weltweiten Streit, um die Frage Kapitalismus oder Sozialismus. Heute geht es entweder um Transformationsprobleme oder um das Verhältnis von Liberalismus zu Keynesianismus.

Literatur Marx, Karl: Das Kapital, MEW 23 u. 25, Berlin 1969/70 Sturm, Roland: Politische Wirtschaftslehre, Opladen 1995

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3. Sachverständige und ihre Kritiker 3.1 Wirtschaftsliberalismus Seit seiner Gründung in den 60er Jahren hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Lage -die fünf Weisen, unabhängige Ökonomieprofessoren- im Sinne einer eigenwilligen Interpretation der Max Weberschen-Wertfreiheit eine angebotsorientierte, arbeitgeberfreundliche Gutachtertätigkeit a u f der Basis des Stabilitätsgesetzes nach bestem Wissen und Gewissen ausgeübt. Diese Haltung hat sich auch in den Gutachten der letzten Jahre fortgesetzt. A u f dieser liberalen Basis wird auch im letzten Gutachten vom November 1996 -wie auch in den letzten vorangegangenen Jahren- die wirtschafliche Lage in Deutschland als enttäuschend charakterisiert. „Das Jahr 1996 war zunächst abermals geprägt durch enttäuschte Erwartungen. Stärker als allgemein vorhergesehen wirkte die Abschwächung der gesamtwirtschaftlichen Aktivität fort, die zur Mitte des vergangenen Jahres eingesetzt hatte; die ungewöhnlich kalte Witterung tat im Baugewerbe und den baunahen Bereichen ein übriges...Auf das ganze Jahr gesehen blieb die gesamtwirtschaftliche Entwicklung mit einem jahresdurchschnittlichen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um VA v.H. indes unbefriedigend" ( S V R 1996, S . l ) . Eine echte Belebung am Arbeitsmarkt habe nicht stattgefunden, das wirtschaftliche Wachstum sei insgesamt zu schwach und würde auch bei stärkerer Steigerung infolge hoher Rationalisierungseffekte die Arbeitsmarktprobleme nicht entscheidend lösen. „Die wirtschaftliche Belebung kann nicht über die tieferliegenden Probleme der deutschen Volkswirtschaft hinwegtäuschen; sie zeigen sich darin, daß die Investitionstätigkeit schwach und die Lage auf dem Arbeitsmarkt katastrophal ist" ( S V R 1996, S . l ) . Die wirtschaftlichen Effekte -Arbeitslosigkeit auch bei wachsendem Sozialprodukt- seien historisch neu und erst in den 90er Jahren grundsätzlich aufgetreten. Die wirtschaftliche Misere wird erklärt durch eine Investitionsschwäche der Wirtschaft, durch zu hohe Lohnkosten und Lohnnebenkosten sowie ungünstigen Standortbedingungen, durch zu hohe Steuern für die Unternehmen und einen zu hohen Staatsanteil an der Wirtschaft sowie zu hohe Staatsschulden. Außerdem wirke sich die

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Überbewertung der D M -durch Verteuerung der Exporte und Verbilligung der Importe- negativ für die Konjunktur aus. Positiv werden die geringe Inflationsrate und die geringen Kapitalzinsen erwähnt sowie der hohe Export trotz Überbewertung der D M . Insgesamt befände sich die deutsche Wirtschaft in einer Anpassungskrise in bezug auf den Weltmarkt. Der Standort Deutschland sei insgesamt zu teuer, zu wenig innovativ und zu unflexibel. Eine Umorientierung aller am Wirtschaftsprozeß Beteiligten sei notwendig, wobei keine Wunder in nächster Zeit zu erwarten seien. Die M a ß s t ä b e für die zukünftige Entwicklung werden dabei vor allem vom W e l t m a r k t gesetzt. Dieser sei zwar f ü r viele eine Bedrohung, doch die Gutachter sehen in ihm auch eine Chance. „Der globale Wettbewerb wird vielfach als Bedrohung empfunden. Er erzeugt in der T a t starken Anpassungsdruck und erzwingt Strukturwandel. Einzelne Unternehmen, aber auch ganze Wirtschaftszweige, können auf der Verliererseite stehen;...Man muß aber auch sehen, daß der globale Wettbewerb Chancen eröffnet. Die Ausweitung von Handel und Arbeitsteilung in der Welt ermöglicht mehr Produktivität und mehr Wohlstand" (SVR 1996, S. 178). Die Vorteile entstehen nach dieser Vorstellung nur, wenn sich ein Land den Marktbedingungen anpaßt und seine komparativen Vorteile zur Geltung bringt. Aus diesem Grunde empfehlen die Autoren folgerichtig die Wirtschaftskrise dadurch zu mildern, daß die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft konsequent verbessert wird. Deswegen rät der Sachverständigenrat zu mehr Marktwirtschaft und einer verstärkten Deregulierungspolitik, d.h., daß sich der Staat nicht mehr wie bisher auch als Unternehmer versteht, sondern eher als klassischer Rahmensetzer. Die Staatsverschuldung soll rasch abgebaut werden, Löhne und Lohnnebenkosten sollen ganz langsam steigen bzw. reduziert werden. Eine drastische Steuerreform soll vor allem die Unternehmen entlasten, die Sozialversicherung soll stärker privatisiert werden, der Solidaritätszuschlag f ü r die Neuen Bundesländer sowie die Subventionen insgesamt sollen einschneidend vermindert werden. Die Staatsausgaben sollen reduziert werden und nicht durch Steuererhöhungen z.B. bei den Energiesteuern oder der Mehrwertsteuer ausgeweitet werden. Die Geldpolitik soll strenge Stabilitätskriterien wahren und Preisstabilität wie bisher sichern. Dieses Programm soll die W i r t s c h a f t s k r ä f te fördern und damit auch den Arbeitnehmern zu mehr Beschäftigung und sicheren Einkommen verhelfen. Allerdings müßte auch die

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Tarifpolitik liberalisiert werden u.a. durch stärkere betriebsbezogene Tarifabschlüsse und flexiblere Arbeitsverträge. Dabei wird die hohe Arbeitslosigkeit kaum abzubauen sein. „Von der N a c h f r a g e nach Arbeitskräften ist eine Verringerung der Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr nicht angelegt, vom Angebot allerdings auch nicht. Die Anzahl der Arbeitssuchenden wird sich nur wenig verändern, weil verstärkte Abgänge aus dem Arbeitsmarkt, insbesondere durch Frühverrentung, durch verstärkte Eintritte von Schul- und Studienabgängern sowie von Z u w a n d e rern ausgeglichen werden" (SVR 1996, S.170). Die Umweltpolitik wird vor allem dem Markt überlassen. Allerdings bekennen sich die fünf Weisen heute im Gegensatz zu f r ü h e r zu einem nachhaltigen Wachstum, das sie wie folgt definieren: „ W a c h s t u m darf nicht auf Kosten der Substanz gehen, ohne die der W a c h s t u m s p r o z e ß zum Ende kommen würde. Dies liegt nicht weit von einer Konzeption der nachhaltigen Entwicklung, die auf die Erhaltung des natürlichen und durch Menschen geschaffenen Kapitalstocks abstellt" (SVR 1996, S. 177). Dieses Zitat zeigt, daß auch sie aus der umweltpolitischen Diskussion der letzten Jahre ihre verspäteten Konsequenzen gezogen haben. Allerdings stehen die Autoren hier vor einem theoretischen Paradoxon von einzelwirtschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher Rationalität. Die Weltmarktkonkurrenz erfordert Rationalisierungen und Stillegungen von Betrieben (Einzelwirtschaft) sowie Kostensenkungen und damit N a c h frageverluste, damit wird aber der Standort (die Gesamtwirtschaft) -das deutsche und europäische Haus- sowohl effektiviert aber auch in seiner Substanz angegriffen und f ü r die internationale Konkurrenzfähigkeit geschwächt. So sind in den letzten Jahren ganze Industriezweige dezimiert worden. Man denke nur an den Schiffbau und die Stahlindustrie. Diese gelten bei uns als Altindustrien, obwohl in Südostasien in der letzten Zeit neue Kapazitäten aufgebaut wurden. Eigentlich müßte die Entwicklung umgekehrt verlaufen, durch einen systematischen A u f b a u des deutschen und europäischen Hauses müßten die Voraussetzungen geschaffen werden f ü r die Teilnahme a m Weltmarkt, mit dem P a r a doxon müßte anders umgegangen werden. Der A u f b a u des deutschen und europäischen H a u s e s wurde vom Sachverständigenrat in den letzten Jahren nur halbherzig diskutiert, auch er wurde von der Wende überrascht. Ein neues Wirtschaftskonzept f ü r die deutsche Einheit und die Verbindung der osteuropäischen Staaten mit den westlichen Staaten ist deswegen bisher nicht zu erkennen.

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Die Politiker bestimmten die Wendezeit, die Ökonomen paßten sich den Politikern an und mußten Währungsumstellungen begründen, die sie nie gewollt hatten und auch für falsch hielten. Gerade in der Wendezeit und bei der Ausarbeitung der Europäischen Währungsunion wurde das Dilemma der „neutralen" Sachverständigen deutlich, sie mußten Ziele von der Politik annehmen, die sie selbst nicht f ü r richtig hielten. Dies gilt sowohl f ü r die Höhe der Umtauschsätze von D D R Mark in D M und f ü r die zeitliche Einführung des Euro. Während sich die Gutachter früher, wie fast alle Ökonomen, skeptisch gegenüber dem Euro äußerten, will man heute eine strenge Auslegung der Maastrichter Kriterien verwirklicht sehen. Diese beurteilt man im Sinne der Wertfreiheit als gegebene politische Zielsetzung, die man als Fachwissenschaftler hinzunehmen habe. Auf dieser Basis plädieren dann die Autoren f ü r eine absolut exakte Auslegung der Maastrichter Kriterien. „Der Sachverständigenrat hat dafür geworben, die Kriterien ökonomisch streng zu interpretieren... Nur so kann die Währungsunion von einer möglichst soliden Basis aus starten, und nur so lassen sich die Interessenkonflikte nach Schaffung der einheitlichen Währung in Grenzen halten. An dieser Position halten wir fest" ( S V R 1996, S.217). Allerdings können sich die Gutachter im Gegensatz zur Bundesregierung auch eine Verschiebung des Zeitpunktes der Einführung der neuen W ä h rung vorstellen. „Es würde nicht, wie häufig behauptet, das Aus f ü r die Währungsunion bedeuten, wenn man den Starttermin verschiebt" (SVR 1996, S.217). Das Gutachten 1997 setzt die angebotsorientierte Argumentation fort. Die hohe Arbeitslosigkeit wird wiederum beklagt. Die Bundesregierung wird gerügt, daß sie das SVR-Konzept nicht konsequent genug in die Tat umsetzt. Z u m ersten Mal seit langer Zeit sieht sich der Rat genötigt, sein Konzept explizit zu begründen (vgl. SVR 1997, S.172178). Diese Rechtfertigung hat wohl ihren Grund darin, daß die Arbeitslosenzahlen immer noch sehr hoch sind und daß in der Öffentlichkeit die Angebotsorientierung von verschiedenen Gruppen und Experten scharf kritisiert wird. Der SVR macht deutlich, daß eine ordnungspolitische Umkehr wieder in früher praktizierte keynesianische Praktiken nicht zur Debatte steht. „Die N a c h f r a g e ist aus der Sicht der angebotsorientierten Konzeption nicht irrelevant. Es darf deswegen nicht vernachlässigt werden, daß angebotsorientierte Politik in vielen Fällen zunächst mit unmittelbar erkennbaren Effekten auf der Nachfrageseite verbunden ist. Aus

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dieser Sicht wird vielfach Kritik laut gegenüber einer auf Haushaltskonsolidierung gerichteten Finanzpolitik. Dem ist entgegenzuhalten: Aus einer Situation der Wachstumsschwäche und verhärteter Arbeitslosigkeit kommt man mit Nachfragepolitik nicht heraus. Der Ausweg ist vielmehr, darauf zu setzen, daß auf der Angebotsseite künftige Nachfrage antizipiert wird, die diese Antizipation auch bestätigt... Es entspricht historischen Erfahrungen, daß die Dynamik wirtschaftlicher Entwicklungsprozesse in erster Linie durch Angebotsaktivitäten, die auf künftige Märkte gerichtet sind, angetrieben wird" (SVR 1997; S.176). Der Wirtschaftsliberalismus im Vergleich zum Linkskeynesianismus (siehe 3.2) im Schaubild: Wirtschaftsliberalismus

Linkskeynesianismus

Angebotsorientiert

Nachfrageorientiert

Stärkung der Unternehmen

Stärkung der Arbeitnehmer, Verbraucher

Staat als Rahmensetzer

Interventionsstaat

Stabilisierung der Gewinne

Aktive Lohnpolitik

Flexible Märkte

Marktregulierung

Marktoptimismus

Steuerungsoptimismus

Bild 4

Allgemein läßt sich sagen, daß trotz der vorgeschlagenen liberalistischen, ordnungspolitischen Maßnahmen der Sachverständigenrat davon ausgeht, daß diese zwar für die deutsche und europäische Wirtschaft

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unumgänglich sind, weil sich sonst die wirtschaftliche Lage noch weiter verschlechtert, daß aber das Problem der Arbeitslosigkeit nicht ohne weiteres zu beseitigen oder zu reduzieren ist. Der Vorwurf, der häufig den Gutachten -vor allem von den Gewerkschaften- gemacht wird, daß sie gegen die Arbeitnehmerinteressen gerichtet sind, weisen die Autoren implizit zurück; indem die Gutachter behaupten, daß durch eine liberalistische Politik den Arbeitnehmern am besten gedient sei, da Lohnerhöhungen und bessere Sozialpolitik zwar optisch sozialer seien, diese aber den Arbeitnehmern letztlich schaden würden, da die Wirtschaft solche Sozialgeschenke nicht bezahlen könnte und demnach der Wohlstand aller gefährdet wäre. Dabei übersehen die fünf Weisen allerdings das berechtigte fachliche Argument, daß hohe Löhne und hohe Sozialleistungen -wie Keynes gezeigt hat- auch die Binnennachfrage stabilisieren. Dieses Argument steht quer zur liberalistischen Argumentation und ist entweder eine Selbstverständlichkeit oder kann in diesem Konzept nicht integriert gedacht werden und damit wirksam werden. Der Konflikt mit den Arbeitnehmern ist damit vorprogrammiert. Das gleiche gilt für das Problem, daß hohe Arbeitslosigkeit für die Gesellschaft Kosten verursacht durch Zahlung von Sozialleistungen und durch entgangene Wertschöpfung. Auch dieses Phänomen ist in einer angebotsorientierten Sichtweise unterbelichtet. Dies gilt noch stärker für die Verbraucherinteressen. Die Autoren fragen an keiner Stelle, ob die Versorgung der Gesellschaft mit Waren und Dienstleistungen ausreichend gewährleistet ist. Dies wird einfach unterstellt. D.h. wenn die Wirtschaft wächst, verbessert sich nach dieser Vorstellung automatisch die Versorgung der Gesellschaft sowohl quantitativ als auch qualitativ Diese These ist jedoch keine Selbstverständlichkeit. Der Sachverständigenrat versucht die wirtschaftliche Lage nüchtern und ohne Emotionen zu beschreiben. Politische Entscheidungen wie die Maastrichter Verträge und die Einführung des Euro werden als Setzungen hingenommen und darauf aufbauend werden Vorschläge gemacht. Man glaubt, man würde damit der Wertfreiheit von Max Weber genügen und hätte alle gesinnungsethischen Probleme sauber gelöst und bräuchte sich den Fragen nach dem Sinn der Wirtschaft und dem Sinn der Arbeit nicht zu stellen und könnte sich ruhigen Gewissens der Erfassung und Darstellung der Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrech-

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nung widmen. Statistik und Mathematik seien schließlich unzweifelhaft wertneutral. Diese Position übersieht allerdings, daß Fragestellung und Analyse immer aus einem bestimmten wertenden Blickwinkel entstehen und die Gutachten in einem politischen Raum benutzt und verwendet werden. Außerdem hat M a x Weber unter Wertfreiheit nicht einfach verstanden, daß von der Wissenschaft keine Wertungen vorgenommen werden dürfen, sondern, daß der Wissenschaftler die Pflicht habe zu werten, diese Wertungen aber kennzeichnen solle. Außerdem solle er zwischen einem Werturteil -Gesinnungsethik- und einem Sachurteil -Verantwortungsethik- trennen. Die Wissenschaft solle nicht nur edle Ziele verkünden, sondern sich vor allem um die Folgen von Handlungen kümmern. Erst wenn auch die Folgen von Zielen bedacht würden, sei erst eine Zielsetzung sinnvoll. D.h. die Wissenschaft solle sich nicht einfach nur ideale Ziele vornehmen und predigen und sich nicht mehr um die Auswirkungen der Predigten kümmern. Oder anders ausgedrückt: Es bestehe die Gefahr, daß der Verfechter von schönen Zielen in der Realität scheitert und dann seine edlen Ziele mit Gewalt und Schrecken verbreitet, d a f ü r gibt es j a in der Geschichte genügend Beispiele. Der Sachverständigenrat demgegenüber verzichtet deswegen von vornherein auf eigene wirtschaftliche und soziale Idealvorstellungen und will sich damit den Fanatismus, aber auch den politischen Ärger vom Hals halten. Das heißt aber auch, daß man das Ideal der Vollbeschäftigung des Stabilitätsgesetzes mehr oder minder aufgegeben und resigniert hat, da die Vollbeschäftigung -wie die Erfahrung zeigt- mit den herkömmlichen pragmatischen, liberalen Mitteln nicht zu erreichen ist. Nun kann man berechtigterweise einwenden, das läge in der N a t u r der Sache, das sei der Preis der Freiheit, dieses Phänomen sei ein weltweites Problem und nicht durch gesinnungsethischc Kraftakte zu lösen. Hier ist jedoch einzuwenden, daß es der Mühe wert sein könnte, neue Ideen zu entwickeln und zu überprüfen, um ein Querdenken gegen den liberalistischen, machtpolitischen Mainstream wieder in Gang zu setzen. Das gleiche gilt auch für die Frage der Gestaltung der Deutschen Einheit und der Europäischen Integration. Auch hier sind Zieldiskussionen innerhalb der Wissenschaft dringend geboten. Nachdem man jahrzehntelang M a x Weber nur als Verantwortungsethiker ausgelegt hat, wäre es an der Zeit, seine Forderung nach Gesin-

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nungsethik und Verantwortungsethik in der Wirtschaft wieder stärker zu berücksichtigen. Karl Jaspers hat in seinen ethischen Äußerungen über den Wert und Unwert der Atomwirtschaft den Begriff des Überpolitischen Ethos geprägt, dem der moderne Staatsmann seiner Meinung nach verpflichtet ist. D.h., daß die Politiker über ihre Parteigrenzen hinweg denken und im Sinne der Zukunft entscheiden sollen. So betrachtet könnte man die Analyse und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als ein Überfachliches Problem bezeichnen, an deren Lösung alle Experten arbeiten und nicht in ihren politischen und fachlichen Denkschablonen verharren sollten. Es darf hier an das Ethos der Wissenschaft nach Wahrheit und Humanität im Jasperschen Sinne (vgl. Jaspers 1956, S.277) erinnert werden. Dabei sollten Gesinnungsethik und Verantwortungsethik keine Gegensätze, sondern Ergänzungen sein, die notwendig sind um z.B. die menschliche und ökonomische Brisanz des Problems der Arbeitslosigkeit zu erkennen und an wissenschaftlichen Erklärungsversuchen zu arbeiten. So betrachtet wäre nicht nur eine wertfreie, emotionslose Analyse mit vielen Statistiken des Sachverständigenrates gefragt, sondern die Weberschen Tugenden wie Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß auch innerhalb der Wissenschaft. Der Kern des Arbeitslosenproblems liegt vor allem in der technologischen Entwicklung. Diese ist und wird immer teurer und bindet vergleichsweise immer weniger Arbeitskräfte. Fachlich gesprochen: es hat eine Entkopplung von Investitionen und Beschäftigung stattgefunden, statt einer Entkopplung von Arbeit und Einkommen. Außerdem werden zu viele Gelder in Finanzspekulationen verpulvert, die die Wirtschaft in Existenzkrisen stürzen. Die Industriestaaten leben in einem grundsätzlichen Dilemma: sie konzentrieren ihre Kräfte immer stärker auf die Entwicklung der Wirtschaft und verschärfen damit ihre wirtschaftlichen Probleme. Das Gleichgewicht zwischen Wertentwicklung und Wertvernichtung ist in unserer Wirtschaft in einer Schräglage. Die Forderung, noch mehr in der Wirtschaft zu investieren, macht aber keinen Sinn, es sei denn in Arbeit und in arbeitsintensive Bereiche, in Bereiche mit geringer Technologie. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß Maschinen, trotz ihrer Faszination, tote Gegenstände sind und damit die Wirtschaft nicht beleben können. Es gilt, den Menschen in der Wirtschaft nicht auszugrenzen, sondern ihn einzubinden. In diesem Sinne ist die vollautomatische Fabrik keine sinnvolle Zielsetzung.

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3.2 Linkskeynesianismus Gegen die Vernachlässigung der Massenarbeitslosigkeit durch den Sachverständigenrat hat jahrelang (seit 1978) vor allem die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik" in ihren jährlichen Gegengutachten gewettert. Sie hat eine andere Zielorientierung als die Fünf Weisen. Statt die Arbeitgeber und die Regierung zu stützen, sollen die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften mit Sachverstand versorgt werden. Statt neutraler Wissenschaft (Sachverständigenrat) fordern die Gegengutachter eine Parteinahme für die Arbeitnehmer. Der Sachverständigenrat schreibt seit über dreißig Jahren sein jährliches Gutachten im gesetzlichen Auftrag, die Memorandumgruppe verfaßt ihr jährliches Gegengutachten seit etwa zwanzig Jahren aus eigener Initiative und auf eigene Rechnung. In Anlehnung an Marx und Keynes fordern die gewerkschaftlich orientierten Ökonomen staatliche Beschäftigungsprogramme, Arbeitszeitverkürzung, eine Öko-Steuer sowie eine zeitliche Verschiebung bei der Einfuhrung der neuen Währung: Euro. „Wir fordern daher ein mittelfristiges Modernisierungs- und Beschäftigungsprogramm mit einem jährlichen Volumen von 100 Mrd. DM und den Schwerpunkten: infrastrukturelle Begleitung des ökologischen Umbaus im Bereich der Verkehrs- und Energiesysteme, Förderung moderner sozialverträglicher Technologien und Innovationen, Abbau ökologischer Altlasten, ein Programm f ü r sozialen Wohnungsbau. Zur Finanzierung schlagen wir vor: Abbau von Steuersubventionen, kontrollierte Besteuerung der Zinserträge im Rahmen der Einkommensteuer, konsequente B e k ä m p f u n g von Steuerhinterziehungen und Wirtschaftskriminalität sowie Besteuerung der Vermögen ab einer Freigrenze" (Memo 96, S.35). Weiterhin wird gefordert: um eine nachhaltige Beschäftigung zu erzielen, soll die W o chenarbeitszeit mit möglichst vollem Lohnausgleich gesenkt werden. Die Überstunden sollen drastisch abgebaut werden, das Wochenende darf nicht zur Regelarbeitszeit werden, die 35-Stunden Woche kann keine allgemeine Richtschnur werden, die Arbeitnehmer sollen ihre Arbeitszeit im Sinne einer Zeitsouveränität selbst bestimmen. Eine ökologische Steuer muß auf Energie erhoben werden. Die Preise f ü r fossile Brennstoffe sollen durch eine Öko-Steuer in den nächsten zehn Jahren verdoppelt werden. Regenerative Energiequellen - wie Wind-, W a s s e r - und Solarkraft sowie Biomasse- dürfen nicht besteuert werden. Die Mineralölsteuer soll drastisch erhöht werden, so daß der Benzinpreis pro

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Liter in den nächsten Jahren auf 5 DM ansteigen soll. Weiter sollen Geund Verbote die Umweltverschmutzung begrenzen. Den Arbeitnehmern ist nicht zuzumuten, auf Löhne und Sozialleistungen zu verzichten, außerdem stabilisieren sie die gesamtwirtschaftliche Nachfrage (Keynes) nach Waren und Dienstleistungen und halten damit die Wirtschaft in Gang Diese Linie wird auch im Gegengutachten 1997 fortgesetzt. Dadurch, daß in letzter Zeit die Zahl der Arbeitslosen noch einmal sprunghaft auf über 4 Millionen gestiegen ist, fühlen sich die Gegengutachter mehr als bestätigt. Sie fordern nun vor allem eine Europäische Beschäftigungspolitik und die Einrichtung eines „Öffentlichen Beschäftigungssektors," der vom Staat finanziert wird. Die generelle Argumentation wird auch im Memo 98 wieder aufgegriffen. Schwerpunkt dieses Gegengutachtens ist wiederum eine scharfe keynesianische Kritik an der Angebotsorientierung und ein Plädoyer f ü r mehr Beschäftigung und einer deutlichen Arbeitszeitverkürzung. „Die Bedeutung von Arbeitszeitverkürzung ergibt sich unmittelbar aus der Erkenntnis, daß die Wachstumskräfte, denen in der Vergangenheit zumindest phasenweise eine erträgliche Situation auf dem Arbeitsmarkt zu verdanken war, zunehmend schwächer werden. Wenn aber Wachstum nach den Erfordernissen des Arbeitsmarktes nicht mehr herstellbar ist, somit unter bestehenden Arbeitszeitverhältnissen kein zur Vollbeschäftigung notwendiges Arbeitsvolumen mehr geschaffen werden kann, bleibt nur die tendenzielle Anpassung individueller Arbeitszeiten an das vorhandene Arbeitsvolumen" (Memo 98, S. 156). In diesem Sinne werden die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der französischen Regierung im Jahre 1997/98 als vorbildlich dargestellt. Frankreich stärkt die Massenkaufkraft durch die Steigerung des gesetzlichen Mindestlohnes, durch Erhöhung der Unterstützungszahlung für Schulanfänger und der Senkung der Krankenkassenbeiträge für Arbeitnehmer bei gleichzeitig höherer Besteuerung von Kapitalerträgen. Ein öffentlich finanziertes Beschäftigungsprogramm und die Verabschiedung von Gesetzen für die Verminderung der gesetzlichen Regelarbeitszeit auf 35 Stunden sollen die Arbeitslosenzahlen drastisch nach unten drücken. Das Memo lehnt eine amerikanische Beschäftigungspolitik durch mehr Wachstum ab. Sie sei unsozial und die Verhältnisse seien nicht übertragbar. „Wachstum allein ist demnach keine Garantie für steigenden gesellschaftlichen Reichtum, hierfür bedarf es zugleich einer gleichmäßigeren Beteiligung

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der gesamten Bevölkerung. Kann man von den USA lernen, daß makroökonomische Politik möglich ist, so ist von Europa vielleicht zu lernen, daß gesellschaftlicher Zusammenhalt ohne entwickelten Sozialstaat nicht zu haben ist. Dies ist freilich eine Lektion, die auch innerhalb Europas erst wieder begriffen werden muß, weil dessen sozialstaatliche Institutionen fast zwei Jahrzehnte lang zurückgestutzt wurden, -anstatt sie weiterzuentwickeln" (Memo 98, S.231). Ohne Zweifel sind die von der Memorandumgruppe vorgeschlagenen Rezepte von hohem sozialen Engagement geprägt und sie berücksichtigen vor allem Interessen der sozial Schwachen. Suchen wir aber den Verbraucher oder die Dritte Welt als eigenständigen Begriff in diesem Modell, werden wir kaum fündig. Das Verbraucherinteresse nach haltbaren und qualitativen Waren zu bezahlbaren Preisen wird vernachlässigt; der Austausch mit der Dritten Welt nicht thematisiert. Sinn und Ziel der Wirtschaft wird einseitig auf die beschäftigten Arbeitnehmer und a u f den Umweltschutz in einem quantitativen Sinn fixiert: mehr Arbeitsplätze, mehr Bezahlung, weniger Arbeitszeit, mehr Umwelttechnologie. Die Arbeitgeberargumente werden als Täuschungsmanöver abqualifiziert. Auch ist es wenig sinnvoll, einfach nur gegen die Vermögen der Reichen zu polemisieren und ihnen mit Steuerzahlungen zu drohen. Diese pauschalen Attacken vernachlässigen, daß es auch darauf ankommt, w o f ü r Besserverdienende ihr Geld ausgeben. So unterhält der Millionär Jan Philip Reemtsma ein produktives privates Institut f ü r Sozialforschung. Das Beispiel soll zeigen, daß ökonomische Fragen auch immer eine personale Seite und Verantwortung haben, die ebenfalls gesehen werden muß. Ansonsten werden mechanische, bürokratische Gesetze und Verordnungen erlassen, die den wirtschaftlichen Prozeß abwürgen und behindern. Dabei hat eine flächendeckende Einführung der 35-Stunden-Woche f ü r die Arbeitnehmer und die Wirtschaft nicht nur gute Seiten. Sie kann sehr leicht zu einer Verdichtung der Arbeit und zu einer weiteren Ausdehnung der neurotischen Erlebnis- und Freizeitgesellschaft führen. Die vorgeschlagene Erweiterung der Teilzeitarbeit wird wahrscheinlich auf Druck der Arbeitgeber nur mit massiven Lohnsenkungen eingeführt. Dies kann aber dazu führen, daß der Einzelne mehrere Teilarbeitsplätze ausführen muß und nur noch einem hektischen Arbeitsdruck ausgesetzt

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ist. Die Ausdehnung der Teilzeit ist dann lediglich eine Verschönerung der Arbeitslosenstatistik. Außerdem haben Teilarbeitsplätze den Nachteil, daß sie die Anonymität steigern, da sich für Kunden und Produzenten die Ansprechpartner ständig ändern. Dies fuhrt dann zu Kostensteigerungen und Qualitätsverlusten. Das versprochene Paradies der Gleichen erweist sich dann schnell als Falle. Die Forderung eines Beschäftigungsprogrammes durch den Staat übersieht die staatliche Verschuldung und stärkt die Bürokratie. Dieser Irrweg wird noch verstärkt, wenn die Gegengutachter eine Europäische Wirtschafts- und Sozialordnung fordern. Eine Umsetzung dieser Forderung würde die europäische Bürokratie erst richtig zur Durchsetzung bringen. Bisher verfügt die Europäische Union über ein relativ geringes Budget, 1995 etwa 146 Mrd. DM. Der Bundeshaushalt in Bonn beträgt dagegen etwa 477 Mrd. DM pro Jahr. Eine Europäische Wirtschaftsund Sozialpolitik bräuchte ein Vielfaches der Bonner Mittel. Das würde bedeuten, daß die Bürger die Bürokratie in Bonn und in Brüssel bezahlen müßten. Dieser Tatbestand wird von den Gegengutachtern in ihrer Staatsfixiertheit einfach unterschlagen. Dagegen erscheint eine Öko-Steuer auf Energie und die Anhebung des Mineralölpreises auf 5 DM zunächst sinnvoll. Dabei ist aber auch das Verhalten der Wirtschaftssubjekte, vor allem ihre Opferbereitschaft zu berücksichtigen. Das Konzept kann nur funktionieren, wenn alle Wirtschaftssubjekte auch bereit sind, für den Umweltschutz Nachteile in Kauf zu nehmen, ansonsten werden diese auf einzelne Gruppen überwälzt. Das heißt z.B., daß die Unternehmen die Steuererhöhungen auf die Preise aufschlagen und der Verbraucher einseitig bezahlen muß. In der jetzigen Situation besteht außerdem die Gefahr, daß eine Öko-Steuer einfach dazu benutzt wird, um Haushaltslöcher zu stopfen. Die Gegengutachter begehen den Fehler, daß sie die wirtschaftlichen Fragen in polemischer Weise politisieren und die Probleme damit nicht phänomenologisch, sondern ideologiekritisch betrachten und immer wieder auf den Staat und die Gewinnung der staatlichen Macht verweisen. Die Entwicklung der geistigen und seelischen Fähigkeiten und das moralische Verantwortungsbewußtsein des Einzelnen werden somit in diesem Konzept vernachlässigt. Wirtschaftliche Fragen werden vorschnell (parteipolitisch) politisiert. Eine entstaatlichte Wirtschaft jen-

3. S a c h v e r s t ä n d i g e u n d ihre K r i t i k e r

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seits des Liberalismus kann man nicht denken. Man braucht sogar den Liberalismus als Popanz, um sich auf billige Weise abgrenzen zu können. Das klassische Ideal, Arbeit und Einkommen 1 zu trennen, ist kein Gegenstand der Auseinandersetzung. Die Natur als ein wertvolles Geschenk für den Menschen und die sich daraus ergebene Verpflichtung ist kein Thema. Deswegen wird im Gegengutachten f ü r mehr Umweltschutztechnologie, für mehr Lohn und weniger Arbeit verbalradikal und mit allen Mitteln gekämpft und nicht mehr nach dem Sinn und Zweck der Arbeit und die Verantwortung f ü r das Gemeinwohl und die Welternährung gefragt. Einen philosophischen Sinn der Arbeit im Sinne Hegels -Arbeit als Menschwerdung- gibt es hier nicht mehr. Einen emphatischen Naturbegriff kann man sich nicht vorstellen. Man glaubt nur an pragmatische Ideen. Arbeitsteilung, Haftung, Verantwortung sind dabei nicht Ziele an sich, sondern nur Mittel zum Einkommenserwerb oder zum Konsum. Es ist schade, daß die Gegengutachter vor einer vorurteilsfreien Betrachtung der Gesellschaft und vor allem des Individuums zurückschrecken. Sie sind zu stark auf die Nützlichkeit ihrer Argumente fixiert. Dafür können sie aber darauf verweisen, daß sie im tagespolitischen Machtkampf nicht untergegangen sind. Die Diskussion zwischen den Experten findet erst in den letzten Jahren statt. Allerdings muß gesagt werden, daß beide Parteien einen in sich geschlossenen Argumentationsmechanismus vortragen, der es fast verunmöglicht, daß man voneinander lernt, oder daß die Experten von den 'Dingen belehrt werden'. Das eigentliche Schicksal der Arbeitslosen interessiert kaum. Auf die wirklichen Verhältnisse läßt man sich ungern ein. Sowohl der Sachverständigenrat als auch das Gegengutachten vernachlässigt so beispielsweise, daß das Arbeitslosenproblem in der technologischen Entwicklung liegt und daß daraus radikale Konsequenzen gezogen werden müssen. Der Maschinen- und Robotereinsatz wird immer teurer und bindet vergleichsweise immer weniger Arbeitskräfte. Fachlich gesprochen: es hat eine Entkopplung von Investitionen und

1

Siehe hierzu auch: Kap. 5.2

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3. Sachverständige und ihre Kritiker

Beschäftigung stattgefunden, statt einer Entkopplung von Arbeit und Einkommen. Der Sachverständigenrat und seine Kritiker beleuchten unzureichend die moralische und ethische Dimension der Marktwirtschaft. Dies geschieht aber verstärkt außerhalb der Wissenschaft, beispielsweise in kirchlichen Kreisen. Literatur Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 96/97/98, Köln 1996/97/98 Jahresgutachten 1996/97 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Nov. 1996, Drucksache 13/6200 Jahresgutachten 1997/98 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Nov. 1997, Drucksache 13/9090 Jaspers, Karl: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 1956

4. Die ethische Verantwortung in der Marktwirtschaft

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4. Die ethische Verantwortung in der Marktwirtschaft 4.1 Das Sozialwort der Kirchen Im Frühjahr 1997 hat der Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands und die Katholische Deutsche Bischofskonferenz das gemeinsame 'Kirchenwort' „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" herausgegeben. Dreieinhalb Jahre ist daran verhandelt, gefeilt und geschmiedet worden. Dabei wird das Leitbild „Soziale Marktwirtschaft" zur gemeinsamen Orientierung. Für manche Katholiken war dies nicht einfach zu akzeptieren. Das vorgelegte Sozialwort enthält folgende Reformbereiche: •

die Kontrolle und Ergänzung staatlichen Handelns durch die Zivilgesellschaft;



den strukturellen Umbau zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft - die sozialen Sicherungssysteme, die armutsfest zu machen sind;



ein neues Arbeitsverständnis, durch das die Fixierung auf die Erwerbsarbeit aufgebrochen wird.

Das Sozialwort hat keinen politischen Ort. Es schwebt zwischen Himmel und Erde. Im Gegensatz zu den ökonomischen Experten betont das Sozialwort stärker die christliche Begründung der Sozialen Marktwirtschaft. Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Solidarität, Gerechtigkeit, Subsidiarität und Nachhaltigkeit werden zu ethischen Stützpfeilern der Wirtschaft. Auch wird die Verantwortung des Einzelnen, die soziale Sicherung von Frauen, die Bedeutung der Familie und die Ausbildung einer Zivilgesellschaft herausgestellt. Ansonsten liest sich das Sozialwort wie ein Alternativgutachten oder ein sozialorientiertes Sachverständigenratsgutachten. Die Kirchen sehen es nicht als ihre Aufgabe an, klare politische und ökonomische Empfehlungen zu machen, oder in politische Streitfragen einzugreifen bzw. zu schlichten. Sie wollen, eher gestützt auf das christliche Verständnis vom Menschen, auf die biblische Botschaft und die christliche Soziallehre für das eintreten, was dem solidarischen Ausgleich und zugleich dem Gemeinwohl dient. Auf dieser geistigen

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4. Die ethische Verantwortung in der Marktwirtschaft

Basis wollen die beiden großen Kirchen ihren Beitrag leisten zu der notwendigen Neuorientierung der Gesellschaft und zur Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft. Ihr Wunsch ist es, zu einer Diskussion über Gegenwart und Zukunft einer humanen, freien, gerechten und solidarischen Ordnung von Staat und Gesellschaft ihren spezifischen Beitrag zu leisten. Zwei Begriffe stehen für die Kirchen im Vordergrund: Zukunftsfahigkeit und Nachhaltigkeit. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik soll sich vor allem an den Bedürfnissen der heutigen und zukünftigen Generation ausrichten. Solidarität und Gerechtigkeit seien notwendiger denn je, da sonst noch stärkere Risse zwischen Armen und Reichen entstehen. Nicht Egoismus und partielle Gruppeninteressen sollen sich durchsetzen, sondern Verantwortung für die Gemeinschaft. Einstellungen und Verhaltensweisen sollen sich verändern: Arme, Benachteiligte und Machtlose, sowie die kommende Generation und die stumme Kreatur sollen stärker beachtet werden. Die Soziale Marktwirtschaft wird als ordnungspolitisches Leitmotiv bejaht. Sie soll auf den Säulen Markt und sozialer Sicherung beruhen. Es geht um eine soziale, ökologische und global verpflichtende Erneuerung der Marktwirtschaft. Dabei soll der Eigennutz in eine gemeinwohlverträgliche Gestalt eingebettet werden. Diese erneuerte Marktwirtschaft ist moralisch als sehr anspruchsvoll zu verstehen: man denke nur an Steuerehrlichkeit oder Verteilungsgerechtigkeit. Die Kirchen fühlen sich in der Tradition des Erbarmens, diese ist die Grundlage für das Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe. Die Säulen der sozialen Sicherung haben sich nach Ansicht der Kirchen seit hundert Jahren bewährt und sollen angepaßt und erhalten werden. Neue Fragen sind zu beantworten wie die Knappheit der Mittel, die soziale Sicherung bei Nichterwerbsarbeit, die Überalterung der Bevölkerung mit ihren Folgen. Wichtigste Gemeinschaftsarbeit sei der Abbau der Massenarbeitslosigkeit, die Integration von Frauen in den Beruf und die Erhöhung des Angebotes an Teilzeitbeschäftigung. Der soziale Ausgleich ist ein integrales Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, wobei an der Sozialverpflichtung des Eigentums festgehalten werden soll. Breite Vermögensstreuung und neue Investivlohnmodelle sind unbedingt zu berücksichtigen. Die Lasten der Sparpolitik sollen gerecht verteilt werden.

4. Die ethische Verantwortung in der Marktwirtschaft

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Eine neue Sozialkultur soll die staatliche Sozialpolitik ergänzen durch: Eigenverantwortung der Individuen und Familien, assoziative Netzwerke, Bürgerbewegungen, Ehrenämter. Das Subsidiaritätsprinzip soll noch verstärkter angewendet werden. Subsidiarität heißt Eigenverantwortung befördern, es heißt nicht den einzelnen mit seiner sozialen Sicherung alleine lassen. Die unterschiedlichen Lebensbedingungen in Deutschland Ost und West sollen möglichst bald überwunden werden. Beide Teile sollen sich verändern. Die Ressourcen sind nicht unbegrenzt, deswegen ist eine ökologische Politik der Nachhaltigkeit notwendig. Dies setzt aber eine Änderung des Lebensstils voraus. Die Kirchen nehmen die Herausforderung der Globalisierung an; sie verstehen ihre Botschaft für alle Menschen, deswegen geht es auch immer um eine weltweite Gerechtigkeit. Sie verstehen ihren Aufruf nicht als ein letztes Wort, sondern als Anregung zur kritischen Auseinandersetzung. Das Kirchenwort ist -wie die Darstellung gezeigt hat- insgesamt moderat und diplomatisch formuliert. So vermißt der kritische Leser beispielsweise eine Kritik an der Gehälterexplosion im Sport- und Showbereich, an der zunehmenden Verschwendung von Geldern in niveaulosen Filmen, Freizeitparks und anderen Masseninszenierungen. Die Folgewirkungen des technischen Wandels und des Börsenwesens werden verharmlost. Das Anwachsen der kostspieligen, egoistischen Ein-PersonenHaushalte bleibt unerwähnt. Es fehlen nicht nur individualitäts- und gesellschaftskritische Argumente, sondern auch eine Darstellung von wirtschaftlichen Modellprojekten, die dem Leser eine Orientierung geben könnten. Insgesamt hofft man immer noch, daß ein starker Staat die wirtschaftliche Entwicklung maßgeblich beeinflussen soll. Die Frage nach der Ethik der Marktwirtschaft' ist so alt wie das Konzept der Marktwirtschaft selber. Die Vertreter der Marktwirtschaft sehen den Markt als eine ethische Institution an. Ethik und Ökonomie müssen keine Gegensätze sein. Die Kritiker bestreiten dies. Sie wollen die Ethik zusätzlich meist über den Staat realisieren. Das folgende Bild dokumentiert schlagwortartig die wesentlichen Problembereiche: 1

Siehe hierzu auch: Horn 1996

4. Die ethische Verantwortung in der Marktwirtschaft

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Ethikfragen

• E t h i k des M a r k t e s : Leistungsgerechtigkeit • E i n k o m m e n s g e r e c h t i g k e i t , Verteilungsgerechtigkeit • Subsidiarität • M a r k t und Gemeinsinn • Staat als überpolitische Instanz • Zukunftsgerechtigkeit • E t h i s c h e s Verhalten aller W i r t s c h a f t s u b j e k t e

Bild 5

In der öffentlichen Meinung ist das Sozialwort sehr positiv aufgenommen worden. Alle sind damit zufrieden: die Wissenschaft, die Parteien, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Kirchen selbst. Wie läßt sich dieser überraschende Konsens in einer streitsüchtigen Welt erklären? Ganz einfach. Bereits 1953 hat der ordoliberale Professor Franz B ö h m ' die Richtung angegeben. In seinem Aufsatz „Marktwirtschaft von links und rechts" hat er die inhaltliche Basis des Konsenses beschrieben. Danach bildet die Soziale Marktwirtschaft eine solch breite Basis, daß sie sowohl f ü r die linksorientierten Gewerkschaften und die S P D als auch f ü r die Arbeitgeber und die CDU akzeptabel erscheint. Dies war keine Selbstverständlichkeit, da vor allem die Linkskräfte mit der Planwirtschaft sympathisierten. Da Franz Böhm betont, daß in der Sozialen Marktwirtschaft auch Fehler immer enthalten sind, lautet die Kompromißformel: die einen betonen die Rolle des Marktes, die anderen sehen eher die Fehler und plädieren für eine staatliche Sozial- und Umweltpolitik.

1

Diese Interpretation läßt sich auch auf die Kontroverse zwischen dem SVR und der Memogruppe anwenden.

4. Die ethische Verantwortung in der Marktwirtschaft

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Eine große Zahl von Menschen nimmt nach Böhm an der Marktwirtschaft nicht teil: Kinder, Hausfrauen, Invalide, Beamte, Lehrer etc. Für diese Gruppen muß vom Staat Einkommen zur Verfügung gestellt werden. Außerdem seien eine Reihe von Problemen in der Marktwirtschaft ungelöst: die Konjunkturanfalligkeit und die Monopolisierungstendenzen. Auch hier sei der Staat gefordert. Für Böhm ist die Marktwirtschaft ein Rahmen, den sowohl die bürgerlichen Kräfte als auch die Arbeiterbewegung gestalten sollten. Der Spielraum sei immens. Man dürfe auf keinen Fall eine wichtige Gruppe ausschließen. „Was also könnte uns Besseres widerfahren als ein Wetteifer zwischen 'bürgerlichen' Parteien und Arbeiterparteien um die reine Lehre, um die beste und sozialste Verwirklichung der Marktwirtschaft? Marktwirtschaft von links kontra Marktwirtschaft von rechts -das wäre noch lange nicht das Schlechteste, was sich in unserem Land ereignen könnte. Wahrscheinlich ist das sogar der einzige Weg, bei dem das herauskommen kann, was man sich wünscht, nämlich eine gute Marktwirtschaft" (Böhm 1953, S.438). Damit wurde die Marktwirtschaft für links und rechts eine Grundlage. Diese Formel war dann auch die Basis des bundesrepublikanischen Wohlstandsmodells in der Nachkriegszeit. Auf dieser Formel baut das Kirchenwort unbewußt auf. Doch dieser Impuls ist schon vierzig Jahre alt. Er wird heute noch einmal beschworen. Dies ist löblich. Doch darf nicht übersehen werden, daß er für die Zukunft kaum tragfahig sein wird, da die wirtschaftlichen Spannungen und Probleme heute viel größer sind als früher. Außerdem muß gesehen werden, daß das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft mühselig unter faschistischen Bedingungen erarbeitet wurde und daraus u.a. seine Kraft und Dynamik erhielt. Dagegen ist das Kirchenwort unter lauen Wohlstandsbedingungen zusammengetragen worden. Es mußte nicht gegen die Gesellschaft erkämpft werden. Im Umfeld der Diskussion um das Kirchenwort fand eine energische Diskussion statt zwischen Norbert Walter und Michael Ramminger über den ethischen Gehalt der Marktwirtschaft. Hier wurde auf weitere Details der Wirtschaftsethik eingegangen.

4.2 Umwertung der Werte und Effizienz Die Frage nach der Ethik und der Moral unseres Wirtschaftssystems wird seit dem Erscheinen des „Wohlstands der Nationen" und der „Theorie der ethischen Gefühle", den beiden Hauptwerken von Adam

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4. Die ethische Verantwortung in der M a r k t w i r t s c h a f t

Smith, mit schöner Regelmäßigkeit gestellt. Gerade in den letzten Jahren bei der Diskussion um die Erhaltung des Sozialstaates und der Globalisierung ist diese Grundfrage der Ökonomie erneut entbrannt. Der Beitrag von Norbert Walter (1995) ist erschienen in einem Sammelband (Baader 1995) von „Freidenkern der Gegenwart", die „eine Wohlfahrtsdiktatur" beklagen. Der Sozialstaat entmündige die Bürger und führe zu Effizienzverlusten. Er verstelle die Sicht auf die eigentliche Not in der Bevölkerung, zerstöre den Willen zur Hilfe und verschütte die Fähigkeit zur Hilfe (Baader 1995, S.9-11). Walter benutzt für seine Analyse die Begriffe von Max Weber: Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Der Sozialstaat basiere auf der Gesinnungsethik und lasse wenig Verantwortungsethik erkennen. Aufgrund der gesinnungsethischen Argumentation sei es zu einem Sozialstaat gekommen, der aber meist mißbraucht wird. Außerdem beruhe die herrschende Ethik der Intellektuellen auf der Ablehnung des Marktes und auf der Vorstellung, der Staat sei die moralisch bessere Institution. Dagegen wettert Norbert Walter. Er fragt (S.69ff): •

Führt nicht eine Einkommensumverteilung zu einer Verschlechterung der Bedingungen der Armen, da der Motor der Wirtschaft erlahmt?



Ist es nicht unmoralisch, nur nach Bedürfnisgerechtigkeit und nicht nach Leistungsgerechtigkeit zu fragen?



Können sich höherrangige Bedürfnisse nicht erst dann entfalten, wenn die existentiellen Bedürfnisse gedeckt sind?



Raubt der Sozialstaat dem Empfänger nicht ein Stück Selbstverwirklichung und Eigenanstrengung?



Werden die Leistungsträger nicht ausgegrenzt und haben wir nicht eine Diktatur der Mehrheit über die Minderheit?



Gefährden Staatseingriffe nicht die Spontaneität der Teilnehmer?

Nach der Gesinnung zu fragen ist nach Walter im kleinen, familiären Kreis möglich, eine moderne Gesellschaft dürfe nur die Ergebnisse betrachten, nicht die Absichten. Verantwortungsethik sollte die Basis unserer Entscheidungen sein, nicht Gesinnungsethik. Walter baut seine Argumentation auch auf dem Gleichnis des barmherzigen Samariters auf. Er stellt dabei besonders heraus, daß der Hilfsbedürftige durch die Hilfe träge gemacht wird. Das Samariter-Dilemma ist für Walter offen-

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sichtlich und beschreibt die Probleme des Sozialstaates: er sei zu teuer, bequem und vermindere die Eigenanstrengung. Statt dessen solle man Heber den Leistungsträgern in ihrem Bemühen helfen und sie nicht ständig kritisieren. Statt mehr Bedürfnisgerechtigkeit fordert er mehr Leistungsgerechtigkeit. Walter nennt vier Streitfelder (S.73/74): •

Er fragt: Warum ist das Individuum egoistisch, das Kollektiv aber altruistisch?



Er behauptet: Gesinnung schadet meistens unseren Mitmenschen, weil sie nicht realisierbar ist!



Er stellt fest: Gute Gesinnung durch große Institutionen korrumpieren!



Er konstatiert außerdem: Gesinnung ist ein Mittel um Macht zu erlangen.

Nicht kostenlose Speisung, staatliche Vollbeschäftigung, Sozialwohnungen, Bildung zum Nulltarif, nicht Subventionen und verdeckte Finanzhilfen sind moralisch sinnvoll, sondern die objektiven Gesetze des Marktes sorgen für die optimale Produktion und für ein gerechtes Einkommen. Die Vertreter des Sozialstaates trauen nach Walter (S.74ff) den Individuen und karitativen Verbänden zu wenig zu, sie wollen alles vom Staat besorgt haben. Hilfe zur Selbsthilfe ist aber das Gebot der Stunde. Basis der Wirtschaft ist nach Walter das Selbstinteresse: Streben nach Existenzsicherung, Wohlstand und Anerkennung. Es kann zu Egoismus und zur Trägheit fuhren. Deswegen braucht es (Selbstinteresse) der Läuterung; d.h. das Mitgefühl, die ethischen Normen, die Gesetzgebung und der Wettbewerb sorgen dafür, daß das Selbstinteresse nicht entartet. Wettbewerb hat nach Walter nichts mit Sozialdarwinismus zu tun, sondern mit dem antiken Wettlauf. Diesen Wettlauf gilt es in Gang zu setzen. Behinderungen der Konkurrenz widerstreben aber der menschlichen Natur. Marktwirtschaft fuhrt nach Walter zu höchster Effizienz und vollkommenem Interessenausgleich, wenn die agierenden Subjekte selbstverantwortlich handeln. Das Konzept des Sozialstaates ist nach Walter nicht motivationsfördernd und entspricht nicht dem Bild einer aufgeklärten, selbstverantwortlichen Gesellschaft. Marktwirtschaft sollte nach Walter bescheiden sein und von den Unzulänglichkeiten des Menschen

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ausgehen. Man solle nicht nach Vollkommenheit suchen, sondern nach jener Verfassung, die von den geringsten Unzulänglichkeiten begleitet ist. „Diese Bescheidenheit hinsichtlich des Urteils über die Machbarkeit von Dingen, speziell der wirtschaftlichen Entwicklung, ist etwas, w a s seit Keynes verlorengegangen ist. Keynes schien die Wirtschaftswissenschaft aus der 'dismal science' herausgeführt zu haben. Insbesondere nach dem offenkundigen Scheitern der keynesianischen Wirtschaftspolitik dürfte es jedoch nicht wichtig sein, daß Ökonomen Thesen hervorbringen, die sie bei Politikern und Bürgern beliebt machen. Wichtiger ist es, daß die Vorschläge, die sie machen, die Welt -im Urteil der Bürgeretwas weniger unzulänglich werden lassen" (Walter 1995, S.85). Unzulänglichkeiten der Marktwirtschaft sind für ihn vor allem, daß die Umweltschäden nicht genügend internalisiert werden. Dazu bedürfe es eines starken Staates. Eine andere Grenze der Marktwirtschaft sei die Schwierigkeit, für alle Marktteilnehmer gleiche Startchancen zu gewährleisten. „Nicht alle Bürger haben den Eindruck, sie hätten eine faire Chance, ihre Fähigkeiten und Wünsche in das System einzubringen. Offensichtlich unabänderlich ist die Verschiedenheit der Begabungen nach Art und Umfang. Die Frage der Startungleichheit bezüglich der Ausstattung mit Sachkapital ist nach wie vor Gegenstand von Kontroversen" (Walter 1995, S.83). Michael Ramminger versucht in seinem Aufsatz „Die neoliberale Umwertung der Werte" eine unmittelbare Auseinandersetzung mit den Thesen von Norbert Walter. Er bedient sich dabei der ideologiekritischen Methode der 'Frankfurter Schule' und wendet diese auf die aktuelle Globalisierungsdiskussion an. Er bezieht sich dabei auch auf Thesen des englischen Soziologen Anthony Giddens; eine linke Kritik sei nach ihm trotz Globalisierung notwendig. Ramminger kritisiert Walter's Verweis und Interpretation des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. Er wirft ihm vor, daß er das Gleichnis auf den K o p f stellt, wenn er Barmherzigkeit für die Leistungsträger und nicht für die Schwachen fordert. „In der Interpretation Walters wird zur Bedingung für den Eintritt in das Reich Gottes also gerade die Verweigerung von Barmherzigkeit und Solidarität für die Armen, zum wahren Samariter dagegen derjenige, der den Staat dereguliert und Sozialleistungen kürzt... Die wirklichen Hilfsbedürftigen in der neoliberalen Interpretation sind die 'Leistungsträger' dieser Gesellschaft, die sowohl in ihrer Leistungsbereitschaft durch die (Steuer- und Lohnne-

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benkosten) Ansprüche des Sozialstaates gegängelt werden, als auch letztlich ihrem Bedürfnis (im verantwortungsethischen Sinne) helfen zu wollen, nicht nachkommen können, weil der Wohlfahrtsstaat produktive Investitionen in Arbeitsplätze verhindert" (Ramminger 1997, S.202). Ramminger führt diese Fehlinterpretation vor allem auf falsche Interpretationen Walters zum Gemeinwohl, Eigeninteresse und Mitgefühl zurück, letztendlich auf ein problematisches Menschenbild. „Obwohl Walter neben Existenzsicherung und dem Streben nach Wohlstand das Bedürfnis nach Anerkennung -also nach sozialer Beziehung- als Ausdruck der Eigenliebe bzw. des Selbstinteresses festhält, kann dies doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die neoliberale Anthropologie zutiefst davon überzeugt ist, daß der Mensch letztlich ein egoistisches Wesen ist, f ü r den der andere nur Rivale und Feind sein k a n n " (Ramminger 1997, S.202). Nach Ramminger ist die Selbstliebe 1 ein natürliches Geschehen, der natürliche Selbsterhaltungstrieb. Die Eigenliebe setze gesellschaftliche Beziehungen voraus. Die Selbstsucht ist dann Produkt bestimmter gesellschaftlicher Beziehungen. Das Streben des Menschen nach Macht ist nicht im Wesen des Menschen begründet, sondern nach Ramminger Ergebnis gesellschaftlicher Verhältnisse. Er wirft dem Neoliberalismus vor, diese Differenzierung nicht vorzunehmen und das Machtstreben als ein natürliches und nicht als ein gesellschaftliches Bedürfnis zu interpretieren. Nach Ramminger hat Walter ein defätistisches Menschenbild, nach dem Mitleid und Anerkennung nicht in der Lage seien, die Gesellschaft zu steuern und nur f ü r kleine Gruppen gelte. „Allerdings verdeckt der Neoliberalismus seine Moral hinter dem utilitaristischen Argument, daß in hochkomplexen und individualisierten Gesellschaften das Mitleid und Anerkennung nicht in der Lage sei, gesellschaftliche Beziehungen zu strukturieren, und daß andere Mechanismen wesentlich besser geeignet seien" (Ramminger 1997, S.203). Nach Walter führe der Markt den Egoismus in die Zivilisation. „Hier wird wohl die ganze irrationale Dimension neoliberaler Konzeption deutlich: Der Markt hat in ihr nicht nur eine moralische Dimension, 1

Hier müßte der Egoismusbegriff von Adam Smith näher beleuchtet werden. Vgl. Woll 1994, S. 16ff

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sondern er ist allein in der Lage, diese erst zu schaffen" (Ramminger 1997, S.204). D e r Kritiker geht auch auf das Staatsverständnis von Walter ein. Der Staat soll im Neoliberalismus auf seine klassischen Funktionen reduziert werden. „Hinter dem demokratischen Deckmäntelchen des Neoliberalismus verbirgt sich die Mandevillsche Vision, daß die ungehemmte Profitmaximierung auch ausreichend Wohlstand f ü r die Armen zu schaffen in der Lage ist" (Ramminger 1997, S.204). Gegen Ende des Artikels wird die Kritik noch einmal verschärft: Der Neoliberalismus sei eine kleine Sekte, deren Wählerpotential kaum f ü n f Prozent ausmachen dürfte. Er begründe mit Scheinargumenten Sozialleistungskürzungen. Er scheitere sowohl praktisch politisch als auch in seiner Anthropologie. Das Menschenbild denunziere den Menschen. Ramminger versucht ein 'humanistisches Menschenbild' dem Neoliberalismus entgegenzuhalten. Es sei notwendig, die Ressource ' S o lidarität' zurückzuerobern. „Die Bereitschaft und Fähigkeit des Menschen, Leid nicht einfach sein zu lassen, läßt sich anthropologisch als Schwäche, moralisch als Gesinnungsethik, psychologisch als 'Helfers y n d r o m ' oder ideologisch vor dem Ende der Geschichte als potentiell totalitäre (und darin eurozentrische) Allmachtsphantasie denunzieren. Und trotzdem gibt es sie, wenn auch als gefährdete Wirklichkeit. Sie zu ignorieren, bedeutet, diese Wirklichkeit zu vernichten" (Ramminger 1997, S.205). Nicht Scheinrationalität solle unser Handeln bestimmen, sondern die aus dem ethischen Traditionsbestand hervorgehenden Anliegen. Basis sollen universale Menschenrechte sein, die quer zu aktuellen ideologischen Plausibilitäten oder vermeintlichen Praxis- und Relevanzbedürfnissen liegen. Die Arbeitslosen, die Kranken und die Hungernden fordern ihr Recht auf Mitleid ein. Und wir haben darin unsere Chance, den Blick des anderen zu erwidern 'einfach um als Menschen überleben zu können.' Hier handelt es sich nicht nur um eine wissenschaftliche Debatte, sondern auch um einen ideologischen Nahkampf. Walter weist zu Recht a u f den hohen Staatsanteil hin und sieht die Hauptschuldigen in den Ausnutzern des Sozialstaates. Er vernachlässigt aber eine keynesianische Begründung des Sozialstaates. Danach ist der Sozialstaat nicht nur aus sozialen Gründen, sondern auch aus konjunkturellen Gründen notwendig: Denn im Sozialstaat können die sozial Schwachen als N a c h f r a -

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ger die Konjunktur stabilisieren. Walters Interpretation des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter geht von dem Sonderfall aus, daß der Helfer ausgenützt wird. Es gibt aber auch Gegenbeispiele. Diese bleiben unberücksichtigt. Außerdem spielt Walter die Leistungsgerechtigkeit gegen die Bedürfnisgerechtigkeit aus; daß sie zusammen gedacht werden können, bleibt außerhalb seines Horizontes. Weiterhin ist die Gesinnungsethik nicht nur eine familiäre Angelegenheit, sondern auch eine notwendige Voraussetzung eines jeden Wirtschaftssystems und alle Formen der Gesinnungsethik müssen prinzipiell möglich sein und der Freiheit des Einzelnen überlassen bleiben. Somit blendet Walter wichtige Argumente aus seiner Betrachtung einfach aus und betont die Ausnutzung des Sozialstaates über. Ramminger hingegen stellt Walter einseitig dar. Er vermutet ein Menschenbild, das Walter nicht ausspricht und kann dessen Wertehorizont und positive Moralvorstellung nicht genau verorten. Man kann auch Walter als Ordoliberalen, als Schüler Walter Euckens deuten und nicht als einen radikalen Neoliberalen. Dafür spricht seine Deutung des fairen Wettbewerbs und seine Betonung der Subsidiarität sowie der Eigenverantwortung. Außerdem gesteht Walter, wie oben ausgeführt, Schwächen der Marktwirtschaft im Umweltschutz und in der Chancengleichheit ein. Diese Selbstkritik wird einfach übersehen. Rammingers Kritik ist deswegen ungeheuer pauschal und polemisch. Er propagiert ein positives Menschenbild und schiebt negative Entwicklungen einfach auf die Verantwortung der Gesellschaft. Außerdem kann er nicht zeigen, wie ein moderner Sozialstaat aufgebaut und finanziert werden soll. Allerdings weist er zu Recht darauf hin, daß das Spannungsfeld zwischen Eigeninteresse und Gemeinsinn theoretisch und praktisch im Liberalismus -unabhängig von speziellen Strömungen- unbefriedigend gelöst ist. Während in Deutschland vor allem zwischen Liberalen und Keynesianer gestritten wird, wird in der amerikanischen Diskussion die Debatte mehr oder minder innerhalb des Liberalismus geführt.

4.3 Die Rekonstruktion der Gemeinschaft In den 90er Jahren tritt in den USA als Reaktion auf den Liberalismus eine neue Theorie und Bewegung auf, die sich Kommunitarismus1 ' Vgl. auch: Sennett im Kap. 11.3

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nennt. Dieser Begriff ist nicht eindeutig definiert und versucht unterschiedliche Ideen zu bündeln. Er ist eine Mischung aus politischen, moralischen, religiösen und ökonomischen Auffassungen. In ihm sind sowohl konservative als auch linksliberale Ideen enthalten. Einer der Hauptvertreter ist der seit mehr als dreißig Jahren international bekannte Soziologe ('The Active Society') und Autor, Amitai Etzioni. Er trat als Berater der amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter und Bill Clinton in eine breitere Öffentlichkeit. Er lehrt an der George Washington - University und an der Harvard Business School und ist Direktor des Center for Political Research. Ansatzpunkte des Kommunitarismus sind steigende Jugendbrutalität, wachsende Scheidungsraten, soziale Isolierung, zunehmende Verarmung etc. Dagegen wird gefordert, daß die Gesellschaft moralisch erneuert werden soll, daß wieder mehr Gemeinschaftsbewußtsein ausgebildet wird, daß die Eigenverantwortung verbessert werden soll. Familie, Gemeinde, Schule, Vereine, Bürgerinitiativen sollen wieder zu einer Zivilgesellschaft entwickelt werden. Man wendet sich gegen einen übertriebenen Liberalismus, da dieser zu einer Verödung des ökonomischen und sozialen Lebens führen würde. Die Gesellschaft entwickele sich immer stärker in Richtung Egoismus, der Einzelne sehe nur seine Rechte und vernachlässige seine Pflichten. „Eine kommunitaristische Perspektive erkennt, daß individuelle Freiheit nur durch die Stärkung der zivilgesellschaftlichen Institutionen zu bewahren ist, in denen wir lernen, andere und uns selbst zu achten; in denen wir das Gefühl für persönliche und staatsbürgerliche Pflichten bekommen und zugleich unsere eigenen Rechte und die anderer kennen und schätzen lernen; in denen wir die Gewohnheiten der Selbstverwaltung entwickeln und lernen, anderen zu dienen - nicht nur unserem Ich" (Programm 1991). Die Vertreter des Kommunitarismus sind unterschiedlicher Ansicht, wie dies geschehen kann. Einig ist man sich, daß nicht nur die Rechte, sondern auch immer die Pflichten berücksichtigt werden sollen. Die Menschen sollen wieder stärker erkennen, daß sie nicht nur Individuen sind, die sich selbst verwirklichen, sondern auch soziale und politische Wesen, die die Aufgabe haben, die Gemeinschaft weiterzuentwickeln. Es geht deswegen um eine Rekonstruktion der Gemeinschaft, um die Wiederherstellung der Bürgertugenden und auch um eine moralische Stärkung der Gesellschaft. In den ehemals kommunistischen Staaten

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gehe es um die Ausdehnung der Freiheitsrechte des Einzelnen und in den westlichen Demokratien um die Stärkung des Gemeinschaftsgedankens. Man wendet sich dagegen, daß der Einzelne seine Freiheitsrechte mißbraucht. So könnten beispielsweise Busfahrer und Piloten nicht beliebig viel Alkohol und Drogen zu sich nehmen, sondern hätten auch eine Verantwortung für ihre Fahrgäste Bei Alkoholmißbrauch dürfe die Gesellschaft nicht wie bisher tatenlos zusehen und es als Begleiterscheinung einer freiheitlichen Gesellschaft interpretieren, sondern aktiv dagegen vorgehen. „Man könnte Piloten, Schulbusfahrer und alle anderen, denen Menschenleben anvertraut sind, zu Drogen- und Alkoholtests verpflichten" (Etzioni 1998, S.2). Diese seien keine autoritären Mittel, sondern legitime Maßnahmen einer freiheitlichen Gesellschaft. Es gäbe zu viele Rechte in der Gesellschaft und es sollten in naher Zukunft keine neuen mehr dazukommen, sondern es sollte vielmehr an die Pflichten des Einzelnen appelliert werden. So sei beispielsweise eine höhere Schulbildung wieder als ein Privileg anzusehen und nicht einfach wie bisher als ein Recht. Sicherheitsgurt- und Helmpflicht für Autofahrer bzw. Motorradfahrer sind ebenfalls Beispiele für diese neue Gesinnung. Die Menschen könnten nicht tun und lassen was sie wollten, wie dies ein überzogener Liberalismus meint, sondern müßten auf die Auswirkungen ihrer Taten achten. Was für unsere natürliche Umwelt gelte, das gelte auch für unsere moralischen, sozialen und politischen Belange. „Daher müßten die glühendsten Befürworter alter und neuer Rechte auch die ersten sein, die für ein neues Pflichtbewußtsein streiten" (Etzioni 1998, S. 12). Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Rekonstruktion der Moral. Die Kritik in früheren Zeiten an der Gesellschaft und an den Institutionen sei vielleicht berechtigt gewesen, heute herrsche aber eine völlige Verantwortungslosigkeit und eine moralische Verwirrung, die entschieden bekämpft werden sollte. Etzioni wendet sich dagegen, daß man versucht die Vorstellungen der Kommunitaristen in eine konservative oder fundamentalistische Ecke abzudrängen. Er versteht sich weder links noch rechts, sondern als Vertreter des Gemeinsinns, die in allen politischen Lagern gebraucht werden. Ansonsten bekämpft er den traditionellen und autoritären Konservatismus und die Radikal - Individualisten. „ Was Amerika heute braucht, ist eine große soziale Bewegung mit dem Ziel, die soziale Verantwortung und öffentliche und private Moral zu stärken und das Gemeinwohl zu fördern" (Etzioni 1998, S.23).

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Obwohl es viele Werte gebe, die in der Gesellschaft umstritten sind, gibt es nach Auffassung der Kommunitaristen genügend gemeinsame Übereinstimmungen: Gewaltverbot, Drogenächtung, Toleranz, bürgerliche Freiheiten. Nur müßten die Bürger auch aktiv für diese Übereinstimmungen einstehen. Die gemeinsame Basis könnte der kategorische Imperativ von Kant sein: 'Was du nicht willst, daß man dir tu, das fug auch keinem andern zu'. „So müssen wir Steuern zahlen, ist Fahren ohne Führerschein sowie Kindesmißhandlung verboten. Die Vorstellung, es jedem selbst zu überlassen, ob er nun einen Führerschein macht oder nicht, wieviel Steuern er wohl bezahlt und dergleichen mehr, ist völlig realitätsfern und weder durch Moral noch Gesetz gestützt" (Etzioni 1998, S.59). In diesen Fragen dürfe es keinerlei Liberalität geben, sondern sozialen und staatlichen Zwang. Ein wichtiger Baustein kommunitaristischen Denkens ist die Überzeugung, daß die Familie der zentrale Ausgangspunkt der Gesellschaft ist. Diese Grundauffassung wurde vom Liberalismus in den letzten Jahren vernachlässigt zugunsten der Verherrlichung der Wünsche des Einzelnen und der Abwertung des Kindes. Vor allem die Kinder bräuchten eine starke Familie, am besten mit beiden Elternteilen. Die häusliche Erziehung müsse deswegen gestärkt werden. Beide Elternteile hätten gleiche Verantwortung bei der Kindererziehung. Scheidungen sollten erschwert werden. „ Man sollte die Scheidung zwar nicht verbieten oder verdammen, wohl aber erschweren. Eine leichte Scheidung liegt weder im Interesse der Kinder und Gemeinschaft noch, wie wir sehen werden, im Interesse der Eltern" (Etzioni 1998, S.90). Geschiedene Eltern sollten sich auch nach der Scheidung weiterhin aktiv um die Kinder kümmern. Dies gelte vor allem für die Väter, die sich meist relativ schnell absetzten. Die Ehe müßte insgesamt gestärkt werden durch gemeinsame Rituale und Verhaltensweisen. Wer Kinder in die Welt setze, hat eine soziale Verpflichtung auch für ihre moralische Erziehung. Die Eltern sollten ihre Karriere- Konsuminteressen zurückstellen und sich insgesamt mehr um ihre Kinder kümmern. Die Gemeinschaft sollte dieses Unterfangen finanziell und durch großzügige Arbeitszeitregelungen unterstützen. Diese moralischen Ansprüche werden auch für die Schule, vor allem für die staatliche, postuliert. Im Vordergrund sollte eine Charakterbildung und moralische Erziehung stehen mit der Selbstdisziplin als Schlüsselbegriff. Nicht eine autoritäre Erziehung sei gefordert, sondern

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eine selbstgesteuerte Disziplin. Die Schule soll außerdem moralische Defizite der familiären Erziehung ausgleichen. Etzioni wendet sich gegen den liberalistischen Einwand, daß die Werte zu unterschiedlich seien. Er geht dagegen davon aus, daß es genügend Werte gibt, die von allen Bevölkerungsgruppen geteilt werden. „Wir haben dabei die zahlreichen, von der Gemeinschaft geteilten Wertvorstellungen im Auge -etwa die Ablehnung von Rassismus, sexueller Diskriminierung und Gewalt sowie Nächstenliebe und gegenseitige Achtung. Wenn wir den Schülern auch nur diese gemeinsamen Werte vermitteln, würde unsre Welt von Grund auf besser werden" (Etzioni 1998, S. 114). Die Schule sollte nicht nur kognitives Fachwissen vermitteln, sondern stärker als Erfahrungsraum genutzt werden. Dabei soll auch sehr stark berücksichtigt werden, was in der Schule selbst zwischen den Schülern und Lehrern geschieht. „Wenn die Schüler bewaffnet in den Unterricht kommen, Drogen verkaufen und ihre Lehrer terrorisieren, verdient das höchste Aufmerksamkeit - erst wenn man dagegen etwas unternommen hat, kann man sich den subtileren Fragen der moralischen Erziehung zuwenden" (Etzioni 1998, S. 123). Ein soziales Dienstjahr könnte der Höhepunkt der Erziehungserfahrungen der Schüler bilden. Es könnte im sozialen Bereich oder im Umweltschutz abgeleistet werden. „Die Schulmisere verdankt sich vielen Faktoren. Am leichtesten überwindbar ist wohl die egozentrische Mentalität. So sollten wir hier ansetzen, um die Schule als Erziehungsinstitution

zu rekonstruieren,

als O r t der

Selbstdisziplin

fördern. Ohne eine solche Erneuerung wird sie weder ihren Schülern noch der Gemeinschaft gerecht, deren moralische Infrastruktur sie j a mitzutragen hat" (Etzioni 1994, S. 136). Der drohende Zerfall der Gemeinschaft sollte mit aller Energie bekämpft werden. Früher hätte man das Stadtleben verherrlicht und die Kleinstadt als Tristesse abgewertet. Hier sei ein Umdenkungsprozeß notwendig. Kleinere Gemeinschaften im beruflichen und sozialen Bereich sollten aktiviert und verbessert werden. „Man trete einem kirchlichen Verein bei, übernehme ein Ehrenamt oder treffe sich mit anderen Paaren zum Fischen oder Bowling. Da viele ganztägig arbeiten und wenig Zeit zum Kochen haben, lädt man Freunde oder Bekannte heute nicht mehr so oft zum häuslichen Mahl; dafür genießt die kommunitäre Mahlzeit (zu der jeder etwas vorbereitet) wachsende soziale Akzeptanz" (Etzioni 1998, S.146). Insgesamt soll das soziale Leben aktiviert werden. Hierfür sind auch architektonische Veränderungen in den Städten und Wohnviertel notwendig. Vor allem aber ein Bewußtsein der Bevöl-

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kerung für den anderen. Das individuelle soziale Engagement für die Gemeinschaft soll gestärkt werden. Beispiele wären Telefonhilfe für Lebensmüde oder Ausreißer, Arbeit in Küchen und Kliniken, Obdachlosenbetreuung, Patenschaften für Kinder am Rande der Gesellschaft usw. Das Kulturleben in den Gemeindeschulen müßte belebt werden. Weiterhin bräuchte die Gesellschaft eine bürgernahe Polizei, eine Unterstützung der Ortskirche und des Stadtmuseums. Die Stadt sollte den Bürgern näher gebracht werden, einschließlich der sozialen Gefahrenherde. Ein Umdenken bei der Verbrechensbekämpfung sei notwendig. „Gewaltlose Straftäter (Postdiebe, Betrüger) zu gemeinnützigen Arbeiten, vom Laubrechen bis zum Müllsammeln, zu verurteilen, beugt kriminellen Rückfällen vor, ist für die Öffentlichkeit billiger und hilft der Gemeinschaft unmittelbar" (Etzioni 1998, S. 165). Straftäter müßten wieder an den Pranger gestellt werden. „Eine öffentliche Anprangerung dagegen ist schnell, kostet nicht viel, bewahrt den Straftäter vor dem Umgang mit anderen Kriminellen und erlaubt ihm die Reintegration in die Gemeinschaft, die er ja gar nicht verlassen muß" (Etzioni 1998, S.166). Nicht die Umverteilung von unten nach oben und damit das Hoffen auf staatliche Aktivitäten sei das Gebot der Stunde, sondern eine Bewußtseinsänderung. Zunächst hat jeder die „moralische Pßicht, sich nach besten Kräften selbst zu helfen" (Etzioni 1998, S.169). Danach stehen die Nächsten, Verwandten und Freunde in der Verantwortung. Sie sollen helfen, wenn der Einzelne mit seinen Problemen nicht klar kommt. Desweiteren ist die Gemeinschaft gefordert sich zu engagieren. Etzioni setzt sich auch sehr intensiv mit der These der multikulturellen Gesellschaft auseinander. Hier gibt es für ihn zwei Extrempositionen, die 'Eurozentristen' und die 'ethnischen Separatisten'. Die einen wollen beispielsweise die Schüler und Studenten mit den großen Werken ihrer Kultur vertraut machen, die anderen wollen die Tradition ihrer Minorität vermitteln. Etzioni vertritt in dieser schwierigen Frage eine dritte Position. „Aber der Kommunitarismus verweist auf die dritte Möglichkeit, die uns eine Reihe gemeinsamer Werte bietet und zugleich den einzelnen ethnischen und rassischen Gemeinschaften die Chance gibt, ihr spezifisches Erbe als wichtige, ja bereichernde Subkultur zu begreifen und zu würdigen" (Etzioni 1998, S.175). Man kann sagen, daß er eine gemäßigte multikulturelle Position vertritt. Ihm ist es wichtig, daß die Gesellschaft nicht in Teilgruppen zerfällt und daß generell von allen Demokratie, Toleranz und Moral gepflegt werden. Er plädiert

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f ü r einen Pluralismus in der Einheit: statt Multikulturalismus eine Regenbogengesellschaft. Ein grenzenloser Pluralismus sei abzulehnen, da er die Gesellschaft in eine Vielzahl verfeindeter Stämme verwandelt. Den moralischen Verfall in der Politik sieht Etzioni vor allem in der Ausdehnung von Korruption und Interessenpolitik. Die einzelnen Abgeordneten seien nicht mehr finanziell unabhängig und seien beispielsweise in ihren Wahlkämpfen auf private Geldgeber angewiesen und von ihnen abhängig. Außerdem würden in der Politik immer weniger die gesamtstaatlichen Interessen verfolgt, sondern die kurzfristigen egoistischen Ziele von einzelnen Gruppen. Die Politiker müßten wieder mehr der Gemeinschaft dienen und ungerechtfertigte Unterstützungen und Subventionen müßten radikal gekürzt werden. „Was fehlt ist die allgedie Wurzel unserer Systemmeine Einsicht, daß die Interessengruppen probleme sind. Erst dieser Konsens befähigt uns, ihnen die Legislative zu entreißen" (Etzioni 1998, S.258). Die Kommunitaristen plädieren f ü r einen generellen Bewußtseinswandel in der Gesellschaft und für eine Abkehr vom übertriebenen Liberalismus und Individualismus. Sie gehen davon aus, daß eine Veränderung möglich ist durch das Verhalten des Einzelnen und durch das Erstarken von sozialen Bewegungen. Bürgerrechts- , Frauen- sowie ökologische Bewegungen werden hier genannt. „Sie stützen sich auf starke gemeinsame Werte, richtungsweisende Symbole. Sie haben Kader, die die Basis für jede geforderte Aktion mobilisieren" (Etzioni 1998, S.265). Außerdem sollen die traditionellen Institutionen wie Familie, Kirche, Gemeinde, Verbände und politische Parteien gestärkt werden. Die Kommunitaristen argumentieren meist auf einer politisch-moralischen Ebene. Mit dem Liberalismus setzen sie sich nicht sehr intensiv auseinander. So trennen sie nicht zwischen praktischen Problemen und liberalistischer Theorie. Negative soziale Erfahrungen in der Schule und in der Gesellschaft wie Chaos und Kriminalität werden vorschnell der liberalistischen Theorie in die Schuhe geschoben. Auch scheint die Absetzung vom Konservativismus konstruiert. Auch hier wird sehr stark mit einfachen Zerrbildern gearbeitet. In der Frage der Bekämpfung der Verwahrlosung scheinen die Argumente plausibel zu sein, aber auch sehr schwer diskutierbar, weil man das Gefühl hat, daß das Werturteil relativ früh schon festliegt. Die Stärkung der Gemeinschaft ist sicherlich ein guter Gedanke. Es müßte

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aber gezeigt werden, wie ein Gemeinsinn heute entwickelt werden kann. Die Frage nach der Gemeinschaft wird in der europäischen Diskussion unter dem Schlagwort Subsidiarität gefuhrt.

4.4 Was bedeutet Subsidiarität ? Der Begriff 'Subsidiarität' wird heute wieder öfter benutzt, wenn es darum geht zentralistische Prozesse abzufedern. Subsidiarität (abgeleitet von lat. subsidium = Hilfe) wird meist von völlig verschiedenen theoretischen und politischen Richtungen verwendet. Auch ist nicht vollständig geklärt, in welchem Zusammenhang der Begriff entstanden ist. Am meisten wird der Begriff mit der katholischen Soziallehre und der Sozialenzyklika von Papst Pius XI. 'Quadragesimo anno' in direkte Verbindung gebracht. „Es muß allzeit unverrückbar jener oberste (resp. hochbedeutsame) sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nichts zu rütteln noch zu deuten ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende f ü h ren können, f ü r die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist j a ihrem Wesen nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen und aufsaugen" (zitiert nach Waschkuhn 1995, S.26/27). Dieser Gedanke wird wiederum aufgegriffen in der Enzyklika 'Centesimus Annus' (1991) von Papst Johannes Paul II Dort heißt es zum allgemeinen Verhältnis von Staat und Wirtschaft bei der Frage der Respektierung der Persönlichkeit des Arbeiters in der Wirtschaft: „Zur Verwirklichung dieser Ziele muß der Staat, sei es unmittelbar oder mittelbar, seinen Beitrag leisten. Mittelbar dadurch, daß er nach dem Prinzip der Subsidiarität möglichst günstige Voraussetzungen f ü r die freie Entfaltung der Wirtschaft bietet, die damit ein reiches Angebot an Arbeitsmöglichkeiten und einen Grundstock für den Wohlstand schafft. Unmittelbar leistet der Staat seinen Beitrag, wenn er nach dem Prinzip der Solidarität, zur Verteidigung des Schwächeren Grenzen setzt, die über Arbeitsbedingungen entscheiden, und wenn er dem beschäftigungslosen Arbeiter das Existenzminimum garantiert" (Johannes Paul II. 1991, S.42).

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Einige Autoren (vgl. Waschkuhn 1995, S.33ff) gehen davon a u s , daß Subsidiarität eher einem protestantischen Denken entspricht. Der Protestantismus wird dabei mit dem Kampf gegen zentralistische Gewalt verbunden, mit der Skepsis gegen Gigantonomie und mit der Aufsplitterung von politischer Macht. „Das Prinzip ist die Grundlage des calvinistischen Kirchenrechts und wurde schon auf der Emdener Synode 1571 sanktioniert" (Waschkuhn 1995, S.35). Unabhängig von der Urheberschaftsfrage ist unbestritten, d a ß das Kirchenwort 'zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland' (1997) - eine Erklärung beider Konfessionen- das Prinzip explizit ausfuhrt. Subsidiarität und Solidarität werden als eine Einheit betrachtet. „Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft ist es, die Verantwortlichkeit der einzelnen und der kleinen Gemeinschaften zu ermöglichen und zu fördern. Die gesellschaftlichen Strukturen müssen daher g e m ä ß dem Grundsatz der Subsidiarität so gestaltet werden, daß die einzelnen und die kleineren Gemeinschaften den Freiraum haben, sich eigenständig und eigenverantwortlich zu entfalten. Es muß vermieden werden, daß die Gesellschaft, der Staat oder die Europäische Union Zuständigkeiten beanspruchen, die von nichtstaatlichen Trägern oder auf einer unteren Ebene des Gemeinwesens ebenso gut oder besser wahrgenommen werden könnten. Auf der anderen Seite müssen die einzelnen wie die kleinen Gemeinschaften aber auch die Hilfe erhalten, die sie zum eigenständigen, selbsthilfe- und gemeinwohlorientierten Handeln befähigt" (Kirchenwort 1997, S.48/49). Der Begriff hat hier eine mehrfache Bedeutung: es geht um den Freiraum von kleinen Gruppen, um eine funktionelle Gliederung, um unmittelbare Hilfe und um Hilfe f ü r die Helfenden. „Das Prinzip der Subsidiarität ernstzunehmen bedeutet, Abschied zu nehmen von dem W u n s c h nach einem Wohlfahrtsstaat, der in paternalistischer Weise allen Bürgerinnen und Bürgern die Lebensvorsorge abnimmt. Demgegenüber gilt es, Eigenverantwortung und Eigeninitiative zu fördern. Es gilt, in den Betrieben wie in der Gesellschaft die vorhandenen Fähigkeiten, Ideen, Initiativen und sozialen Phantasien zum Tragen zu bringen und die Erneuerung der Sozialkultur zu fördern" (Kirchenwort 1997, S.4). Es geht also um eine Einschränkung des vormundschaftlichen Staates, der den einzelnen unmündig macht. Aber nicht um die Beseitigung des Sozialstaates. „Anderseits entspricht es nicht dem Sinn des Subsidiaritätsprinzips, wenn man es einseitig als Beschränkung staatlicher Zu-

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ständigkeit versteht. Geschieht dies, dann werden den einzelnen und den kleineren Gemeinschaften, insbesondere den Familien, Lasten a u f g e b ü r det, die ihre Lebensmöglichkeiten im Vergleich zu anderen Gliedern der Gesellschaft erheblich beschränken. Gerade die Schwächeren brauchen Hilfe zur Selbsthilfe. Solidarität und Subsidiarität gehören also zusammen und bilden gemeinsam ein Kriterienpaar zur Gestaltung der Gesellschaft im Sinn der sozialen Gerechtigkeit" (Kirchenwort 1997, S.49). Zuerst kommt also die Selbsthilfe, dann die Nachbarschaftshilfe und erst an dritter Stelle die Fremdhilfe. Subsidiarität steht also zwischen Individualismus und Kollektivismus und betont nicht nur die gegenseitige Hilfe, sondern auch - was meist zu wenig betrachtet wird - die angemessene Tätigkeit. Die Arbeit soll von demjenigen verrichtet werden, der sie am ehesten eigenverantwortlich ausfuhren kann. Es sollen die Ebenen gewählt werden, die dem Problem am nächsten liegen. Subsidiarität kommt im Grundgesetz in vielfacher Weise zum T r a gen. Am deutlichsten wird sie in der föderativen Struktur (Art. 30, 70, 83 GG), in den spezifischen Aufgabenstellungen von Bund, Ländern und Gemeinden. Der Begriff Subsidiarität ist in den letzten Jahren vor allem durch die Maastrichter Verträge (1992) ins öffentliche Bewußtsein gerückt. Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion kann als eine stärkere Zentralisierung der europäischen Wirtschafts- und Geldpolitik angesehen werden. Als Gegenpol wird immer wieder auf die Subsidiarität hingewiesen. So ist schon in der Präambel zu lesen: Die Vertragspartner sind: „Entschlossen, den Prozeß der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuf u h r e n . " Und im Teil Grundsätze lesen wir im Artikel 3b: „Einzelermächtigung: Subsidiarität. Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen M a ß n a h m e n auf Ebene der Mitgliedsstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer W i r kung besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Die M a ß nahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der

4. D i e e t h i s c h e V e r a n t w o r t u n g in der M a r k t w i r t s c h a f t

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Ziele dieses Vertrages erforderliche Maß hinaus" (Maastrichter Vertrag). Aufgrund dieses Vertrages wurde der Artikel 23 des Grundgesetzes geändert. Der 'Europa Artikel' über die europäische Integration (23 GG) hat in seinem ersten Absatz folgenden Wortlaut: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Absätze 2 und 3" (zitiert nach Waschkuhn 1995, S.140). Der Subsidiaritätsgedanke steht in der Gefahr, von unterschiedlichen Interessen gebraucht und mißbraucht zu werden. Außerdem wäre zu fragen, ob es sinnvoll ist, zentralistische Prozesse voranzutreiben und hinterher nach Subsidiarität zu rufen. 4.5 Politischer Liberalismus Die immer wiederkehrende Frage nach den Grundsätzen ethischen Verhaltens (Kant) hat in der letzten Zeit u.a. der Politische Liberalismus, auch in Abgrenzung zum Kommunitarismus, gestellt. Charles Larmore, Professor für Philosophie in New York, gilt als einer der führenden Vertreter des Politischen Liberalismus (1987). Der Liberalismus beschäftigt sich seit dem sechzehnten Jahrhundert mit zwei Grundfragen, die die einzelnen liberalistischen Strömungen unterschiedlich beantworten. Die erste Frage beschäftigt sich mit der Notwendigkeit, die Allmacht der Regierung moralisch zu begrenzen. Die Regierung habe ein allgemeines Gutes anzuerkennen und zu fördern. Die zweite Frage beschäftigt sich mit dem Problem, daß die Menschen völlig unterschiedliche Auffassungen darüber haben, was ein gutes Leben ausmacht. Um beiden Problemen gerecht zu werden, fragt Larmore nach der minimalen moralischen Konzeption des Staates. „Es muß vernünftige politische

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4. Die ethische Verantwortung in der Marktwirtschaft

Prinzipien geben, die eine Idee des gemeinsamen Guten ausdrücken. Allerdings darf diese moralische Konzeption nicht so umfassend sein wie die unter vernünftigen Menschen umstrittenen Auffassungen des guten Lebens. Sie muß, genauer gesagt, von möglichst vielen Menschen anerkannt werden, und zwar trotz der unumgänglichen Differenzen bei der Bewertung unterschiedlicher Lebensweisen" (Larmore 1993; S.133). Neutralität. Diesen Anspruch beschreibt der Autor mit dem Begriff der Dieser Begriff besagt nicht, der Liberalismus sei keine moralische Konzeption, sondern 'moralisch neutral'. Er meint dagegen, daß der Liberalismus gegenüber den unterschiedlichen Auffassungen zum guten Leben neutral sein will. Der liberale Staat handelt nach einer eingeschränkten Moralität, auf die sich viele Strömungen leicht einigen können. Üblicherweise wird diese Haltung utilitaristisch begründet. Danach haben W e r t e einen gemeinsamen Nenner im Geld. Individuen wollen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Präferenzen sind unterschiedlich. Hier geht es nun darum, die unterschiedlichen Bewertungen gegenseitig zu akzeptieren und eine optimale Strategie zu entwerfen. Larmore folgt nicht dieser Argumentation, da für ihn sich nicht alle Werte in Währung ausdrücken. „Mehr Erfolg verspricht ein Ansatz, wonach die neutralen Prinzipien diejenigen sind, die wir ohne Rückgriff auf die umstrittenen und von uns zufällig vertretenen Auffassungen des guten Lebens rechtfertigen können. Selbstverständlich muß die neutrale Grundlage, a u f die wir argumentieren, weiterhin einen moralischen Gehalt aufweisen. Ansonsten vermöchte sie der Rolle des Staates keine moralischen Grenzen zu setzen. Solange wir diese Punkte im Auge behalten, scheint ' N e u t r a l i t ä t ' der geeignetste Ausdruck zur Beschreibung der minimalen moralischen Konzeption des Liberalismus zu sein" (Larmore 1993, S. 134). Damit muß der Liberalismus nach eigenem Selbstverständnis nicht durch den Skeptizismus motiviert sein. Es wird nun die Frage gestellt, wie das Neutralitätsprinzip zu begründen sei? Larmore folgt nicht der Lösung von Kant und Mill, die a u f die Ideale der Autonomie und der Individualität zurückgreifen, da diese Begriffe bis zum heutigen Tage umstritten sind. Auch will er einer romantischen Begründung nicht folgen, die die Werte in der Gewohnheit und Tradition verankert sieht, da diese auch mit unmenschlichen E r f a h rungen verbunden sein können. Larmore will eine neue Begründung liefern, da die bisherigen unbefriedigt seien. Er nennt seinen Ansatz in Übereinstimmung mit John Rawls 'politischen Liberalismus'. Dieser versteht sich als ein Mittelweg zwischen Kant/Mill und der romanti-

4. Die ethische V e r a n t w o r t u n g in der Marktwirtschaft

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sehen Argumentation. Es geht dabei um die Ausarbeitung einer allgemein möglichen Kernmoralität. „Wir müssen nach einer Kernmoralität Ausschau halten, die eine möglichst breite gemeinsame Grundlage bildet. Es wäre zu optimistisch zu erwarten, daß diese moralische Grundlage völlig kontrovers bleiben wird. Aber sie muß hinreichend neutral ausfallen, um auch jene zufriedenzustellen, die Zugehörigkeit und Gewohnheit hochhalten" (Larmore 1993, S.141). Für Larmore sind die beste Rechtfertigung der liberalen Neutralität die Begriffe 'rationaler Dialog' und 'Respekt'. Diese Begriffe würden von allen liberalen Denkern akzeptiert; außerdem läge ihr Vorteil in der Minimalität. Nur so könne eine Kernmoral entwickelt werden. Die Norm des rationalen Dialogs: Bei der Diskussion um die Lösung eines Problems sollten die Beteiligten bei Meinungsverschiedenheiten mit einem Rückzug auf einen neutralen Grund reagieren bzw. auf die von allen geteilten Grundüberzeugung. Ziel sei es, entweder die Meinungsverschiedenheiten durch zusätzliche Argumente zu beseitigen, oder die Meinungsverschiedenheiten zu übergehen und eine Problemlösung a u f der Grundlage der Gemeinsamkeiten zu suchen. Der erste Teil der Norm beruht auf der Unterscheidung von Beweis und Rechtfertigung. „Während ein Beweis einfach aus den logischen Beziehungen zwischen gewissen Aussagen besteht, ist eine Rechtfertigung ein an Andersdenkende gerichteter Beweis, der ihnen zeigen soll, weshalb sie unseren Überzeugungen beipflichten sollen. Sie vermag diese pragmatische Aufgabe nur zu erfüllen, wenn sie sich auf Dinge beruft, von denen die anderen bereits überzeugt sind, d.h. von denen wir alle gemeinsam ausgehen können" (Larmore 1993, S. 142/143). Der zweite Teil der Norm kommt dann zum Tragen, wenn die Chancen zunächst als gering erachtet werden, daß sich die Kontrahenten einigen. „Im öffentlichen Bereich können wir versuchen, die anderen vom Wert unserer A u f f a s sung vom guten Leben zu überzeugen, in der Hoffnung, daß sie sich der gemeinsamen, vom Staat geförderten Bindung anschließen; so vermag unser gemeinsamer Grund zu wachsen -manchmal sogar entgegen anfanglicher Erwartungen. Öffentliche Diskussionen müssen jedoch beachten, daß der Staat bei fortwährenden Meinungsverschiedenheiten neutral bleiben m u ß " (Larmore 1993, S.143). Der rationale Dialog liefert aber noch keine hinreichende Neutralität. Eine Gewaltanwendung der Kontrahenten wäre ebenfalls noch denkbar. Deswegen schlägt Larmore eine zweite Norm vor: der gegenseitige Re-

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4. Die ethische Verantwortung in der Marktwirtschaft

spekt. Hier knüpft er an Kant's Überlegung an, daß wir andere M e n schen nicht bloß als Mittel f ü r unseren Willen mißbrauchen dürfen. „ W a s die Norm des gegenseitigen Respekts hingegen verbietet, ist das Erzielen einer Einwilligung auf der alleinigen Grundlage von Zwang. W e n n wir versuchen, Einmütigkeit über ein moralisches Prinzip allein durch Drohungen herbeizuführen, so behandeln wir Menschen lediglich als Mittel, als Objekte einer Nötigung" (Larmore 1993, S.144). Der politische Liberalismus sieht einen Konflikt zwischen dem Ideal des guten Lebens und der Norm des gegenseitigen Respekts und gibt im Zweifelsfall dem Respekt den Vorrang. „Nun gehören die konstitutiven Ideale des guten Lebens zwar zu unserem ureigensten Verständnis des Wertvollen, zur Grundlage unserer Entscheidungen; das hindert uns jedoch nicht daran, sie der Norm des gegenseitigen Respekts unterzuordnen, falls diese auch eine konstitutive Verpflichtung ist" (Larmore 1993, S.146). Die Norm des rationalen Dialogs und des gegenseitigen Respekts basieren in der Regel auf dem Individualismus. Es geht um die Rechte und Pflichten des Einzelnen. Diese müssen aber nicht das ganze soziale Leben erfassen. Der politische Liberalismus stellt allerdings die Normen des rationalen Dialogs und des gegenseitigen Respekts an die oberste Stelle der Werte. Er will, daß wir die 'Kultur der Ganzheit' aufgeben und eine Differenzierung akzeptieren, damit postuliert er eine Konzeption des allgemeinen Individualismus und geht davon aus, damit das Prinzip der politischen Neutralität hervorzubringen. „Die liberale Theorie richtet sich an ein Volk, dessen gemeinsames Leben gegen tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten nicht gefeit gewesen ist. In der Regel erscheint sie nur in einer Gesellschaft, die eine homogene Kultur hinter sich gelassen und unter der Gewalttätigkeit der politischen Versuche, dies wieder einzuführen, gelitten hat" (Larmore 1993, S.149). Der politische Liberalismus versucht eine allgemeingültige Antwort a u f Probleme der westlichen Kultur zu geben, er fragt nach der Möglichkeit eines freiheitlichen Zusammenlebens bei unterschiedlichen W e r t a u f f a s sungen. Er will dabei einen moralischen Anspruch nicht aufgeben, aber eine f ü r ihn sinnlose Debatte über den Sinn des Lebens bewußt vermeiden. „Der Liberalismus verkörpert die Hoffnung, daß wir trotzdem bei Fragen von größter Bedeutung einen Weg des Zusammenlebens finden können, der ohne Zwangsherrschaft auskommt. Es ist seine Überzeugung, daß wir uns über eine Kernmoralität einigen können, auch wenn wir unterschiedliche Konzeptionen des guten Lebens vertreten. Letztlich

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könnte sich diese Überzeugung als haltlos erweisen" (Larmore S. 156).

1993,

Der politische Liberalismus richtet sich auch gegen den Kommunitarismus. Ihm wird moralisches Hegemoniestreben vorgeworfen und die Vernachlässigung des gegenseitigen Respekts. Damit werden sicherlich zwei neuralgische Punkte angesprochen. Allerdings gibt der politische Liberalismus keine befriedigende Lösung. Die zentralen Kriterien rationaler Dialog und gegenseitiger Respekt sind zu formal gedacht. Dies mag zwar die Verwendbarkeit dieser Kriterien ungeheuer erhöhen, aber die inhaltliche Ausfüllung dieser Merkmale unterbleibt. Aus diesem G r u n d e scheinen Konflikte und Mißverständnisse vorprogrammiert zu sein. Die Frage, ob die Marktwirtschaft moralisch akzeptiert wird, hängt nicht nur von einer überzeugenden Antwort auf die Fragen von Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit ab und der Stichhaltigkeit von Normenbegründungen, sondern in sehr hohem Maße auch von der Zukunft der Arbeit, vor allem der Erwerbsarbeit und der Einkommensbildung. Literatur Baader, Michael (Hg.): Wider die Wohlfahrtsdiktatur. Zehn liberale Stimmen, Gräfeling 1995 Böhm, Franz: Marktwirtschaft von links und von rechts (1953), in: Wolfgang Stützel u.a. (Hg ), Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, Stuttgart/New-York 1981, S.433-438 Das kommunitaristische Programm. Rechte und Pflichten (1991), in: Amitai Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens, F f m 1998, S.281-299 Etzioni, Amitai: Die Entdeckung des Gemeinwesens. Das P r o g r a m m des Kommunitarismus, Ffm 1998 Europäische Union - Europäische Gemeinschaft. Die Vertragstexte von Maastricht, Bonn 1996 Hengsbach, Friedhelm, u.a.: Reformen fallen nicht vom Himmel. W a s kommt nach dem Sozialwort der Kirchen? Freiburg 1997 Horn, Karen Ilse: Moral und Wirtschaft, Tübingen 1996 Larmore, Charles: Patterns of Moral Complexity, New-York 1987

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Larmore, Charles: Politischer Liberalismus, in: Kommunitarismus Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, (Hg.) Axel Honneth, Ffm/New-York 1993, S. 131-157 Papst Johannes Paul II.: Über die Arbeit. Enzyklika „Laborem Exercens", Leutesdorf 1981 Papst Johannes Paul II.: Die soziale Sorge der Kirche. Enzyklika „Sollicitudo rei socialis" vom 30. Dez. 1987, Leutesdorf 1988 Papst Johannes Paul II: Zum hundersten Jahrestag von „Rerum Novarum". Enzyklika „Centesimus Annus" vom 1. Mai 1991, Leutesdorf 1991 Ramminger, Michael: Die neoliberale Umwertung der Werte, in: Orientierung, Nr. 19, 61. Jg., Zürich 15.10.1997, S.201-205 Walter, Norbert: Ethik+Effizienz=Marktwirtschaft, in: Michael Baader (Hg ), Wider die Wohlfahrtsdiktatur, Gräfeling 1995, S.67-86 Waschkuhn, Arno: Was ist Subsidiarität ? Ein sozialphilosophisches Ordnungsprinzip: Von Thomas von Aquin bis zur 'Civil Society', Opladen 1995 Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Hannover/Bonn 1997

5. Ende der Erwerbsarbeit?

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5. Ende der Erwerbsarbeit ? 5.1 Radikale Kritik Unter dem reißerischen Titel „Der Terror der Ökonomie" hat die in Paris lebende Schriftstellerin Viviane Forrester (geb. 1927) eine Streitschrift über die aktuellen wirtschaftlichen Zustände veröffentlicht. Die Autorin ist Essayistin und Literaturkritikerin fur Le Monde, Le Nouvel Observateur und Quinzaine littéraire. Ihre wichtigsten Veröffentlichungen sind: „La violence du calme" (1980), „Van Gogh ou l'enterrement dans les blés" (1983), „Le jeu des poignards" (1987), „ M a i n s " (1988), „Ce soir, après la guerre" (1992). Das aktuelle Buch über die Massenarbeitslosigkeit, den Zynismus der Weltwirtschaft und die Lethargie und die Ohnmacht der Politiker und der Betroffenen hat in der deutschen und französischen Öffentlichkeit wegen seiner intellektuellen Scharfzüngigkeit eine starke Beachtung erfahren. Arbeit ist nach der Auffassung des modernen Menschen auf das Intimste mit dem Wesen des Menschen, seiner Identität und Geschichte verbunden. Eine Krise der Arbeit gilt deswegen auch als eine Krise der gesamten Kultur. Der Begriff Arbeit kommt aus dem Mittelhochdeutschen (arbeyd) und bedeutet Mühsal, Not. Arbeit ist nach dieser Auffassung also eine mühselige Angelegenheit. Üblicherweise wird Arbeit begriffen als 'das bewußte Handeln zur Befriedigung von Bedürfnissen, darüber hinaus als ein Teil der Daseinserfullung des Menschen'. Wenn wir spielerisch tätig sind, künstlerisch arbeiten, so ist das in diesem Sinne - im Sinne von zielgerichtet, zweckgerichtet- keine Arbeit, sondern Muße, Kunst etc. Heute wird der Begriff Arbeit meist im banalen Sinne gebraucht: Bewußte Tätigkeit heißt dann rationelle Tätigkeit und Bedürfnisbefriedigung wird gleichgesetzt mit materieller Bedürfnisbefriedigung, so daß die automatische Fabrik bei hohen Löhnen und mit viel Freizeit gewissermaßen die Verkörperung des modernen Arbeitsbegriffes ist. Arbeit wird so zur rastlosen Tätigkeit. In engem Zusammenhang damit muß das Problem des sog. Wertewandels gesehen werden. Soziologen haben in den 80er Jahren festgestellt, daß die Menschen nicht mehr so einfach auf Arbeit und a u f ein quantitatives Einkommen festzulegen sind, daß vielmehr stärker nach dem Sinn der Arbeit gefragt wird. Diese Diskussion wird in den 90er Jahren durch die hohe Arbeitslosigkeit radikal in Frage gestellt. S o daß

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5. Ende der Erwerbsarbeit?

wir heute eher ein Bedürfnis-Mix antreffen, das aus dem Wunsch und aus der Kritik an Arbeit besteht. Während in den 60er Jahren die Linksintellektuellen insbesondere die 'entfremdete Arbeit' einer radikalen Systemanalyse unterzogen und für eine 'Befreiung der Arbeit' kämpften, wird heute festgestellt, daß die 'entfremdete Arbeit' immer weniger wird und dadurch das soziale System bedroht. Forrester beschäftigt sich in diesem Sinne mit der Erwerbsarbeit. Diese wird ihrer Meinung nach zwar immer noch als die Grundlage der Gesellschaft und der Kultur angesehen, diese Voraussetzung stimme heute allerdings nicht mehr. „Ein Arbeitsloser ist heute nicht mehr Objekt einer vorübergehenden Ausgliederung aus dem Wirtschaftsprozeß, die nur einzelne Sektoren betrifft, nein, er ist Teil eines allgemeinen Zusammenbruchs, eines Phänomens, das mit Sturmfluten, Hurrikans oder Wirbelstürmen vergleichbar ist, die auf niemanden abzielen und denen niemand Widerstand entgegensetzen kann. Er ist Opfer einer globalen Logik, die die Abschaffung dessen erfordert, was 'Arbeit' genannt wird, das heißt die Abschaffung der Arbeitsplätze" (Forrester 1997, S.12). Durch Technisierung und Anonymisierung entschwindet der Sinn und die identitätsstiftende Kraft der Arbeit und außerdem wird die Arbeitslosigkeit ein nie enden werdendes Dauerthema. Die Versprechen von Politik und Kapital, diese zu bekämpfen, seien ein einziges großangelegtes Täuschungsmanöver. Ein eigenes Kapitel widmet sich der Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich, die in ihrer ganzen Verwahrlosung der jüngeren Generation ausgeleuchtet wird. Das Buch geht in seinen hoch moralisch vorgetragenen Kernaussagen davon aus, daß die Gesellschaft und die Politik die wahren Zusammenhänge der Erwerbsarbeit verharmlosen und verschleiern, daß auf diesem Gebiet getäuscht und gelogen wird. Die Marktwirtschaft und das Profitstreben beherrschten die Welt, die neuen Herrscher dächten nicht einmal im Traum daran, die Lage der Erwerbsarbeiter und der Arbeitslosen zu verbessern, im Gegenteil. Geld und Technik machten die Menschen immer schneller funktionslos und erzeugten Anonymität und soziales Elend. „Dieses System hat aus dem natürlichen Raum einen virtuellen Raum gemacht, es hat die absolute Vorrangstellung des Marktes und seiner Schwankungen etabliert und äußerst geschickt jeglichen Reichtum konfisziert und ihn außer Reichweite gebracht oder in Form von Symbolen abgewertet, die zu Knotenpunkten des abstrakten Geldund Güterverkehrs wurden und nur noch rein virtuellen Austauschbezie-

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hungen zur Verfugung stehen" (Forrester 1997, S.61). Die Arbeit verliert ihre ursprüngliche kulturstiftende Funktion, dadurch wird der Gesellschaft und dem Einzelnen die vertraute Basis entzogen. Diese G e f a h ren würden zu wenig von der kritischen Öffentlichkeit erkannt. „ F ü r die zahlreichen Unternehmensgruppen, Verbände und Finanzmakler sieht das allerdings ganz anders aus. Die Firmendirektoren haben aus ihrer Sicht allen Grund, sich zu beglückwünschen und einen ihnen adäquaten Lebensstil zu fuhren, was j a als durchaus legitim gilt" (Forrester 1997, S.72). Die Bevölkerung sei viel zu harmonisch eingestellt und könnte sich die drohende Barbarei kaum vorstellen. Alternativen zu dieser Entwicklung hätte es genügend gegeben. Viviane Forrester betont inbrünstig, endlich die Erwerbsarbeit als sinnvolle Kategorie fallen zu lassen. Sie bringe nur unnötige Opfer, Arbeitslosigkeit und sei insgesamt überholt. Mit diesem fatalen 'Einheitsdenken' müsse radikal gebrochen werden, da es in Z u k u n f t die Barbarei und Kolonialisierung weiterhin verursache. Die Autorin plädiert, diesen Gefahren schonungslos ins Auge zu blicken und sich mit den modernen Technologien und der globalisierten Profitwirtschaft auseinanderzusetzen, um die Humanität zu sichcrn. „Das wichtigste Argument, dargeboten als ewiger Refrain; das ständig wiederkehrende und jedesmal aufs neue magisch wirkende Versprechen von der ' S c h a f f u n g neuer Arbeitsplätze'. Man weiß, daß es sich dabei um eine leere, längst abgedroschene Formel handelt, aber trotzdem kommen wir nicht an ihr vorbei. Wollte man aufhören zu lügen, so würde man auch bald aufhören, an derlei Formeln zu glauben. Dann würde man endlich erwachen und begreifen, daß man sich in einem Alptraum befindet, der nichts mehr mit dem bisherigen Schlummer zu tun hat: Man müßte der brutalen Wirklichkeit, der unmittelbaren Gefahr ins Auge sehen" (Forrester 1997, S.74). Ihre scharfe Analyse stützt sich vor allem auf zeitgenössische französische Wissenschaftler und Intellektuelle: Baudrillard, Finkielkraut, Gorz, Michel, Levy, Toffler, Touraine u. v. a. Sie drückt damit sicherlich die Stimmung vieler Menschen -vor allem in Frankreich- aus, die sich immer ohnmächtiger fühlen gegenüber der Informationsflut über Massenarbeitslosigkeit, Spekulationsgewinnen, Börsenbewegungen und Technikneuerungen. „Erst wenn wir alle fiktiven Lösungen los sind, haben wir vielleicht eine Chance, endlich die wahren Probleme wahrzunehmen und nicht die, mit denen man uns ständig ablenken will" (Forrester 1997, S.79).

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5. Ende der Erwerbsarbeit?

Viviane Forrester gibt in ihrem Buch keine Lösung an, wie die drohende Katastrophe abzuwenden sei; der Ausstieg aus der Erwerbsgesellschaft bleibt eine emotional und engagiert vorgetragene Utopie. Die Radikalität des Buches ist zunächst sympathisch, sie erzeugt aber auch eine manipulative Gefahr, Urteile werden schnell zu Pauschalurteilen. Der Leser übersieht leicht, daß die Autorin vor allem ihre Verstandeskräfte mobilisiert und wenige Argumente immer wieder gnadenlos präsentiert. Erwerbsarbeit ist dabei immer nur Betrug und Ausbeutung. „In jeder Rede wird uns mehr 'Beschäftigung' angekündigt, der angekündigte Zustand tritt jedoch nicht ein, ja er wird nie eintreten. Redner und Zuhörer, Kandidaten und Wähler, Politiker und Publikum wissen alle, sie haben sich um eine Zauberformel geschart und miteinander verbündet, um aus den verschiedensten Gründen dieses Wissen zu vergessen und zu leugnen" (Forrester 1997, S.204). Eine polare Sicht der Dinge wird damit nicht gefördert. Widersprüche werden dadurch geglättet und Einseitigkeiten werden verstärkt. Der ungeheure Reichtum Europas wird negiert. Wohlmeinende Personen in der politischen und ökonomischen Klasse gibt es hier nicht. Die Armen sind von vornherein die besseren Menschen. Der Generalthese der Autorin, daß die Erwerbsarbeit in einer tiefen Krise stecke und eine humane Vollbeschäftigung in weite Ferne gerückt sei, kann ohne weiteres zugestimmt werden. Die Verbesserung und Ablösung der Erwerbsarbeit kann aber nur dann gelingen, wenn die wirtschaftliche Lage möglichst objektiv beschrieben wird und nicht eine neue 'Einheitsmeinung' entsteht. Außerdem sollte eine Veränderung der Verhältnisse auf Vertrauen gegenüber den Menschen und der Welt beruhen, obwohl die wirtschaftliche und politische Situation uns eher Mißtrauen einflößen. 5.2 L e i s t u n g und Einkommen Die marktwirtschaftliche industrielle Ordnung beruht auf einer klaren Zuordnung von Leistung und Einkommen 1 . Leistungsträger sind Unternehmer, Arbeitnehmer und Bodenbesitzer. Sie haben aus ihrer Tätigkeit ein Anrecht auf ein leistungsbezogenes Entgelt. Der Faktor Arbeit erhält Lohn, der Boden Pacht und das Kapital den Zins. Dies wird auch als primäre Einkommensverteilung bezeichnet. Da es sich um die Verteilung gemäß der Produktionsfaktoren handelt, wird dies auch als funk1

Siehe hierzu auch die Position des Ordoliberalismus in Kap. 1.1

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5. Ende der Erwerbsarbeit?

tionale Einkommensverteilung bezeichnet. Bei nicht am Produktionsprozeß Beteiligten gilt stärker das Bedarfsprinzip; sie erhalten als Kranke, Rentner, Studierende Gelder aus der Sozialversicherung oder andere Transfers vom Staat. Die Sozialversicherung selber wiederum beruht auf dem Lohnarbeit- und Kapitalgesichtspunkt. Somit gibt es eine Problematik von Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit. Wobei die Leistungsgerechtigkeit in der Marktwirtschaft als das dominierende Prinzip gelten soll. „Das Postulat der Bedarfsgerechtigkeit zielt auf die effektive Gleichheit des Grades der Deckung der Bedürfnisse verschiedener Menschen ab. Die Vorstellung von effektiver Gleichheit setzt allerdings eine (zwangsläufig als paternalistisch zu wertende) obrigkeitliche Bedarfsschätzung voraus. Die Leistungsgerechtigkeit hingegen steht allein für Chancengleichheit und für die Anerkennung und Rechtmäßigkeit der selbsterworbenen Ansprüche. Diese Vorstellung vernachlässigt jedoch systematisch die nicht selbstverantwortete Ungleichheit der individuellen Ausgangsbedingungen" (Horn 1996, S.40). Die Startchancen der einzelnen Produktionsfaktoren sind also sehr unterschiedlich. Der direkte Zusammenhang von Leistung und Einkommen zeigt folgendes Bild: Verbindung von Leistung und E i n k o m m e n Produktionsfaktoren

Einkommensberechtigung

Kapital

4

^

Zinc

Arbeit

4—



Lohn

Boden

*

*

Rente Bild 6

Es muß aber auch gesehen werden, daß die über hundert Jahre alte Lehre von den drei Produktionsfaktoren 1 und den damit verbundenen drei Einkommensarten durch die wirtschaftliche Entwicklung überholt ist. Der dispositive Faktor und der Faktor Information sind auf jeden Fall hinzugekommen. Es müßten demgemäß zwei neue Einkommensar-

' Die Lehre von den Produktionsfaktoren trennt den Ordoliberalismus von der Planwirtschaft in zwei Lager.

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5. Ende der Erwerbsarbeit?

der Theorie eingeführt werden. Dies ist bis heute allerdings noch nicht erfolgt. Würde man dies tun, stände man vor dem Problem, den Faktor Information abzugrenzen und zu quantifizieren. Dies ist jedoch ein kaum lösbares Problem. Hier wird deutlich, daß die Lehre von den Produktionsfaktoren und den damit verbundenen Einkommensarten durch die historische Entwicklung brüchig wird. Die Existenz und Bedeutung des Produktionsfaktors Arbeit ist sowieso immer strittig gewesen. Seine Problematik hat dabei sogar zugenommen. Die Lehre der Produktionsfaktoren versetzt die Arbeit in eine mehrfache konfliktorische Position. In der Unternehmung ist die Arbeit einerseits Leistungsträger, aber andererseits ein Kostenfaktor. Aus der Perspektive des Leistungsträgers braucht der Betrieb viele und motivierte Fachleute, aus der Kostenperspektive soll möglichst wenig für die Arbeit bezahlt werden. Gesamtwirtschaftlich betrachtet ist es aus Gründen der volkswirtschaftlichen Nachfrage sinnvoll, daß möglichst viele Arbeitnehmer über gute Einkommensbedingungen verfugen und der Konsum gestärkt wird. Aus der Perspektive des einzelnen Arbeitnehmers ist Arbeit sowohl Mühe und Opfer als auch eine Möglichkeit, seine Fähigkeiten zu entwickeln und darzustellen. Wichtig dabei ist außerdem, daß Arbeit den Lebensunterhalt sichern muß. Die Erwerbsarbeit wird somit zum Drehund Angelpunkt der Argumentation. Diese Argumentation wird brüchig, wenn der dispositive Faktor und der Faktor Information immer wichtiger werden und Einkommen einfordern. Diese Lesart wird fragwürdig, wenn hohe Arbeitslosenzahlen die Gesamtstruktur gefährden. Diese Konstruktion wird problematisch, wenn, wie in den USA, ein Arbeitsplatz nicht mehr genügend Einkünfte zum Lebensunterhalt ermöglicht. Diese Argumentation wird brüchig, wenn das Verhältnis von Mühe und Fähigkeitsentfaltung nicht mehr stimmt. Betrachten die Arbeitnehmer ihre Arbeit nur als reinen Broterwerb, als Fremdbestimmung, als Belastung, sinkt die Produktivität der Arbeit und eine nachhaltige Entwicklung wird gefährdet. Generell sieht es so aus, daß bei der Annahme von fünf Produktionsfaktoren die Verknüpfung von produktiv sein und deswegen Einkommen zu beanspruchen nicht mehr so ohne weiteres durchgehalten werden kann. Hält man diese Dinge strikt auseinander, so müßte auch die Trennung von Arbeit und Einkommen erfolgen. Dann würde Arbeit nicht

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5. Ende der Erwerbsarbeit?

mehr als ein widersprüchlicher Produktionsfaktor betrachtet werden. Das Ergebnis des Paradigmenwechsels wird im folgenden Bild aufgezeigt:

Trennung von Leistung und Produktionsfaktoren Produktionsfaktoren

Einkommen nach Leistung für:

Kapital

Zukunft

Arbeit

Individuelle Anstrengung

Boden

Qualifikation

Dispositiver Faktor

Familienstand

Information

Arbeitsfähigkeit Bild 7

Der weltweit bekannte Soziologe, Jeremy Rifkin, hat sich eingehend mit dem 'Ende der Arbeit und ihrer Zukunft' beschäftigt. Er geht in seiner bekannten Analyse der Arbeitsgesellschaft davon aus, daß die Arbeitslosigkeit aufgrund der Produktivität in der Industrie ein langandauerndes Problem sein wird für alle westlichen Industriestaaten. Es bildet sich seiner Meinung nach neben dem Staat und dem marktwirtschaftlichen Sektor immer stärker ein Dritter Sektor heraus. Rifkin plädiert dafür, daß dieser Sektor gestärkt werden soll, da er in der Lage ist eine Menge Arbeitskräfte zu absorbieren. Der Staat solle diesen Sektor ausbauen und unterstützen. Freiwillige Arbeitsstunden in gemeinnützig anerkannten Organisationen sollten beispielsweise durch Steuererleichterungen gefördert werden. Ein solches 'Schatteneinkommen' würde Millionen freiwillig Arbeitender anlocken. Der Staat würde Gelder für Sozialprogramme einsparen. „Durch die Förderung von freiwilligen Arbeiten direkt vor Ort würde der Staat die Ausgaben für ganze Behörden sparen, die für die Verwaltung örtlicher Programme nötig wären. Außerdem würden verbesserte Lebensbedingungen für Millionen Menschen auch auf die Wirtschaft in Form von mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und verstärkter Kaufkraft zurückwirken, was wiederum das Steueraufkommen erhöhen würde" (Rifkin 1997, S.192).

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5. Ende der Erwerbsarbeit?

Auch sollte ein 'Sozialeinkommen' eingeführt werden für Arbeitslose, die sich für den Dritten Sektor umschulen lassen. Für gelernte und hochqualifizierte Angestellte sollte ebenfalls ein 'Sozialeinkommen' im Dritten Sektor bezahlt werden, um sie in diesen Bereich aus dem marktwirtschaftlichen Sektor zu locken. „Um den Dritten Sektor zum Funktionieren zu bringen, werden nicht nur anzulernende Beschäftigte gebraucht, sondern auch Leute, die Führungsaufgaben übernehmen können. Die Organisationen des Dritten Sektors sollten eine ähnliche Abstufung von Berufen, Qualifikationen und Einkommen einführen wie es sie in der Wirtschaft gibt. Sie können sich dann aus dem Heer der Arbeitslosen die richtige Mischung von ungelernten, gelernten und höherqualifizierten Arbeitskräften zusammenstellen, die sie für eine erfolgreiche Tätigkeit brauchen" (Rifkin 1997, S.193). Die traditionelle Verknüpfung von Arbeit und Einkommen soll im Dritten Sektor aufgebrochen werden. Ein von der Erwerbsarbeit unabhängiges Einkommen soll den Lebensunterhalt garantieren. „Da der Wirtschaftssektor aufgrund des technischen Fortschritts immer weniger Menschen beschäftigen wird, können die freigesetzten Arbeitnehmer nur über den Weg eines wie auch immer gearteten staatlich garantierten Mindesteinkommens zu ihrem Anteil an den Produktivitätszuwächsen kommen. Dieses Einkommen an eine gemeinnützige Arbeit zu koppeln, würde zu einer Weiterentwicklung der Gesamtwirtschaft beitragen und langfristig den Übergang zu einer gemeinschafts- und dienstleistungsorientierten Gesellschaft erleichtern" (Rifkin 1997, S. 197/198). Der Autor sieht also eine Lösungsmöglichkeit für das Arbeitslosenproblem vor allem in der Stärkung und dem Ausbau des Gemeinschaftslebens durch die Stärkung des Dritten Sektors verbunden mit einem Mindesteinkommen. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der technologisch verursachten Arbeitslosigkeit wird dabei nicht geleistet. Es wird allenfalls empirisch ein langfristiger Arbeitslosentrend in allen westlichen Industriestaaten beschrieben. Danach bewirken Automation und Globalisierung Massen an freigesetzten Arbeitern und Angestellten.„Um der drohenden Sturmflut der technologischen Veränderungen und ihren Folgen etwas entgegenzusetzen, werden wir den Dritten Sektor zu einem gut befestigten Auffangbecken ausbauen müssen. Die Mittel dafür müssen von den Produktivitätszuwächsen, die die Dritte Industrielle Revolution dem Marktbereich beschert, abgezweigt werden" (Rifkin 1997, S.210).

5. Ende der Erwerbsarbeit?

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Eine ähnliche Argumentation liefert auch Ulrich Beck (1998) bei seiner Auseinandersetzung um die Globalisierung. Sein Modell gegen die Erwerbsarbeit nennt er 'Bürgerarbeit.' „Bisher ehrenamtlich geleistete Arbeit für alte Menschen, Behinderte, Obdachlose, Aids-Kranke, Analphabeten, Ausgeschlossene, ökologisches Engagement und vieles mehr sollte ökonomisch sichtbar gemacht, also bezahlt werden (z.B. in Form eines Bürgergeldes, dessen Höhe etwa der Sozialhilfe entspricht)" (Beck 1998, S.236). Freiwilligkeit bzw. Selbstorganisation und öffentliche Finanzierung sollen die Bürgerarbeit zu einer Ergänzung der Erwerbsarbeit werden lassen. Die Bürgerarbeit wird neben der ökonomischen Argumentation von Beck durch eine demokratietheoretische Begründung ergänzt. Die Bürgerarbeit soll eine demokratische Zivilgesellschaft herausbilden. „Dies setzt ein Politikverständnis voraus, das mit dem Politikmonopol des politischen Systems bricht. Es muß eine neue Macht- und Arbeitsteilung zum Beispiel zwischen staatlicher Systempolitik und (trans)-lokaler Bürgergesellschaft gefunden und austariert werden" (Beck 1998, S.237). Nun wissen wir aber auch, daß gerade die Verkopplung von Arbeit und Einkommen eine große Wohlstandsdynamik entfaltet hat und moralisch als Leistungsgerechtigkeit legitimiert und gesellschaftlich akzeptiert war. Eine Entkopplung von Arbeit und Einkommen würde diese Dynamik gefährden und eine neue Gerechtigkeitsdiskussion erfordern. Eine Gesellschaft, die hauptsächlich von Mindesteinkommen, Bürgergeldern und Subventionen leben würde, würde sehr schnell erlahmen und permanente Streitigkeiten über die Höhe der Transfers auslösen. Eine bewußte Entkopplung von Arbeit und Einkommen, die Überwindung der Erwerbsarbeit macht nur einen Sinn, wenn gezeigt werden kann, daß eine neue Dynamik entstehen kann und ein neuer Gerechtigkeitsbegriff entwickelt ist. Die Identifikation mit der Arbeit und mit den menschlichen Fähigkeiten könnte der Motor sein. Das bedeutet aber, daß eine Überwindung der Erwerbsarbeit nur möglich wird f ü r eine Gesellschaft, die ein emphatisches Verhältnis zur Arbeit entwickelt. Mit der Arbeit eng gekoppelt ist die Technik. Die Automatisierung drängt die körperliche Arbeit massiv zurück. Sinn und Identifikation mit der Arbeit hängen sehr eng mit der technischen Entwicklung zusammen. Dies gilt sowohl für die Quantität als auch für die Qualität der Technik. Diese Fragen gehen weit über den engen Horizont der Fachökonomie hinaus und werden die Zukunft der Ordnungspolitik aber entscheidend

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5. Ende der Erwerbsarbeit?

beeinflussen. Man denke nur an die aktuelle Debatte um den Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Nur eine interdisziplinäre Bearbeitung kann einen Beitrag zu diesen Fragen leisten. Aus diesem Grunde wird im folgenden Kapitel eine Argumentation entwickelt, die primär von einem Schriftsteller erarbeitet wurde. Literatur Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben, 7. Aufl., München 1994 Beck, Ulrich: Was ist Globalisierung? Ffm 1998 Forrester, Viviane: Der Terror der Ökonomie, Wien 1997 Gorz, André: Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, Berlin 1994 Henry, Michel: Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg 1994 Horn Karen Ilse: Moral und Wirtschaft, Tübingen 1996 Rifkin, Jeremy: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Ffm 1997

6. Die Frage nach der Technik

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6. Die Frage nach der Technik 6.1 Die Qualität der Technik a) Die Illusion Die ökonomische Diskussion behandelt die Technik nur als eine Restgröße. Die hohe Arbeitslosigkeit weist aber immer wieder auf den technologischen Wandel hin. Außerdem ist durch die Diskussion um die Kernenergie die Frage nach der Qualität der Technik nicht mehr wegzuschieben, da von der Lösung dieser Frage entscheidend die Zukunft unserer Wirtschaftsordnung abhängt. Dichter und Philosophen haben sich schon früh dieser Frage angenommen. So ist nach Friedrich Georg Jünger 'die Perfektion der Technik' ein Grundmerkmal der modernen Zeit. Dieser Fragestellung hat er einen Großteil seiner schriftstellerischen Arbeit gewidmet. Er hat ohne Übertreibung gesprochen, die Diskussion um die Technik -stärker implizit- in der bundesdeutschen Nachkriegsentwicklung neben anderen wesentlich mit geprägt. Man denke nur an die Diskussion über die Atombombe in den 50er Jahren oder die Frage nach Technik und Herrschaft in den 70er Jahren. Man denke nur an Autoren wie Karl Jaspers und sein Buch zur Atombombe, an Günther Anders' Antiquiertheit des Menschen, an Robert Jungk und seinen Atomstaat, an Martin Heidegger mit seiner Technik und die Kehre, an Otto Ullrich's Technik und Herrschaft, an die Megamaschine von Lewis Mumford, an Ivan Illich's Selbstbegrenzung, an Peter Bulthaup's Kritik an den Naturwissenschaften, an Joseph Weizenbaum's Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, an die Frage der Brüder Dreyfus, was Computer nicht können. Jüngers Position führte Anfang der 70er Jahre unmittelbar zur Gründung der Zeitschrift 'Scheidewege', einer Zeitschrift für skeptisches Denken, die er neben Max Himmelheber mitbegründete und die die Technikfrage grundsätzlich beleuchten wollte und dies immer noch tut. Im Frühjahr und Sommer 1939 schrieb Jünger ein Buch, das zunächst unter dem Titel „Illusion der Technik" angekündigt wurde. Aus Kriegsgründen und durch glückliche Umstände konnte das Buch doch noch 1946 erscheinen und wurde unter dem Titel „Die Perfektion der Technik" publiziert. Hätten die Nazis von diesem Buch Kenntnis ge-

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6. Die Frage nach der Technik

habt, wäre der Autor in große Schwierigkeiten gekommen. Das Buch wurde auch ins Amerikanische übersetzt und trägt dort den Titel „The Failure of Technology". In der erweiterten Auflage von 1953 hat das Buch drei Teile. Der erste Teil nennt sich ebenfalls „Die Perfektion der Technik", dann folgt ein kürzerer Aufsatz mit dem Titel „Die Weltkriege" und daran schließt sich quasi ein zweites Buch mit dem Titel „Maschine und Eigentum" an. Das ganze kann als ein geschlossenes Werk angesehen werden. Die verschiedenen Auflagen dieses Buches wurden vor allem in den 50er Jahren kommentiert und besprochen (vgl. hierzu Hädecke 1980). Das Buch stößt auf glühende Verehrung, aber auch auf Kritik. Es wird bemängelt es sei technikfeindlich, es suche die Schuld in der Technik und nicht im Kapitalismus. Jünger versteht sich nicht als ein Feind der Technik. Aber er analysiert schonungslos ihre Perfektionierung. Darunter versteht er nicht so sehr die technische Apparatur, sondern vielmehr das technische, bürokratische Denken. Der Untergang der Titanic ist für ihn ein Schlüsselerlebnis. Hier zeigen sich für ihn die Folgen einer übertriebenen Technisierung, hier räche sich der Glaube an einen immer währenden technischen Fortschritt, hier offenbare sich die Illusion, daß technische Entwicklung immer auch mit einer sozialen oder menschlichen Entwicklung einhergehen würde. Auch nimmt nach Jünger die Technik dem Menschen keine Arbeit ab, sondern schaffe neue Arbeit und beseitige dabei Muße und die Fähigkeit zur freien Betätigung. „Muße ist nicht ein bloßes Nichtstun, ein Zustand der negativ bestimmt werden kann; sie setzt ein müßiges, musisches, geistiges Leben voraus, durch das sie fruchtbar wird und Sinn und Würde erhält" (Jünger 1993; S.14). Gemessen am impliziten Maßstab eines emphatischen, musischen und künstlerischen Daseins, an einem kreativen, handwerklichen Leben schaffe die moderne technische Welt keinen echten Fortschritt. Das Gegenteil ist nach Jünger der Fall: die Ressourcen werden verschleudert, die Natur ausgebeutet, die Menschen hektisiert und das Handwerk seiner Ehre beraubt. Es entstehe kein wirklicher Reichtum, sondern eher eine wirtschaftlich und kulturelle Armut. „Der Zweck der Organisation ist leicht einzusehen. Ihr hervorstechendes Merkmal aber ist nicht die Mehrung des Reichtums, sondern die Verteilung der Armut. Indem die Armut verteilt wird, geschieht etwas, das sich nicht verhindern läßt, sie breitet sich aus." (Jünger 1993, S.24). Es entstehe ein Teufelskreis. Der

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technische Fortschritt baue die Natur ab, und mit technischen Mitteln will man wiederum den Mangel beheben. Mit der Perfektion der Technik wachse die Notwendigkeit der Bürokratie. Organisatoren, Bürokraten, und Kontrolleure werden gebraucht, die den Prozeß in Schwung halten. Es entstehe ein toter Apparat, ohne Keimen, Sprießen, Knospen, Blühen und Reifen, aber trotzdem für viele Menschen faszinierend. Jünger wundert sich darüber. Der technische Apparat verwüste die Landschaft durch Dreck, Staub, Lärm, Radioaktivität. Auch die Landwirtschaft werde von diesem Prozeß ergriffen. Die künstliche Düngung verseuche die Natur, produziere Mißernten und Unfruchtbarkeit. Der technische Apparat basiere zwar auf rationalen Erwägungen, diese deckten sich aber nicht mit wirtschaftlicher Vernünftigkeit. Das technische Denken sei imperial und dränge auf Vollständigkeit, auf rascher Umsetzung, und beschleunige die Prozesse. Dies führe nicht zu stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen, sondern zum genauen Gegenteil. Das technisch Machbare sei wirtschaftlich nicht zu finanzieren. Soziale, religiöse, politische, ästhetische Gesichtspunkte würden hinfallig werden. „Nicht Wirtschaftsgesetze sind es, denen die Technik dient; es ist ein wachsender Grad von Technizität, dem die Wirtschaft unterworfen wird. Wir steuern auf einen Zustand zu -und wir haben ihn schon hier und dort erreicht- ,wo die Technizität des Arbeitsvorgangs wichtiger ist als jeder Gewinn, den er abwirft. Das heißt, er muß auch dann durchgeführt werden, wenn er mit Verlusten betrieben wird" (Jünger 1993, S.35). Am stärksten ist nach diesem Verständnis der Raubbau in der Landwirtschaft zu beobachten. Nicht mehr die Pflege der Tiere, das Anbauen und Züchten der Pflanzen stehe im Vordergrund, sondern die technische Bearbeitung der Natur mit Maschinen und chemischen Mitteln. Es würde alles getan werden, um von der Natur unabhängig zu werden, nicht mehr die Einfühlung in die Natur sei die Zielsetzung, sondern industrielle Verhältnisse in der Landwirtschaft zu schaffen. Die technische Apparatur sei nicht mehr nur menschlichen Ursprungs, hier herrschen nach Jünger andere Kräfte. In Anlehnung an die griechischen Mythen spricht er von der Herrschaft der Titanen. „Es ist offenbar, daß die Götter den Homo faber nicht lieben, daß sie ihn bald gewaltsam bekämpfen, bald nur, wie den Hephästos, als eine halb bur-

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6. Die Frage nach der T e c h n i k

leske Figur neben sich dulden. Der Trotz und die Anmaßung des Titanen werden von ihm bekämpft. Alle Technik aber ist titanischen Ursprungs, der Homo faber gehört immer zu den Titaniden. Daher sind es die vulkanischen Landschaften, in denen wir ihm zuerst begegnen. Und daher stammt seine Vorliebe für das Ungeheure, Riesenhafte, Kolossale, seine Lust an Werken, die durch ihre quantitative Masse, durch das Wuchern der Materie hervorstechen" (Jünger 1993, S.176f). In der Prometheus-Mythe sieht Jünger die Überlieferung, die uns das Verständnis für diese Entwicklung liefert. Somit zeige der homo faber kaum Verständnis für die Maßordnung des Schönen, für die künstlerische Gestaltung. Statt Bescheidenheit setze sich Macht durch, statt Muße erleben die Menschen eine hektische Betriebsamkeit. „Der Techniker ist auch in seinem geistigen Wissen ein Hinkender. Er ist einäugig wie alle Kyklopen. Sein Empirismus schon deutet darauf hin. Ihm bereitet die Frage, wohin seine Bemühungen führen, kein Kopfzerbrechen. Seine Sachlichkeit besteht eben darin, daß er dieser Frage ausweicht, denn sie liegt außerhalb der Grenzen, die seiner Arbeit gezogen sind" (Jünger 1993, S. 177). Titanischer Ursprung

Wohlfahrt

Philos.Heraus- * forderung

Umweltschäden

Bequemlichkeit

Arbeitslosigkeit Bild 8

6. Die Frage nach der Technik

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Die „Perfektion der Technik" wurde von Jünger bereits 1939 verfaßt und liest sich wie ein großer Aufschrei gegen die planetarische Bürokratisierung der Welt. Der Leser findet eine Unzahl von Argumenten, die -meist ohne expliziten Hinweis- in den 70er Jahren von der Umweltbewegung und Technikkritik in Zusammenhang mit Argumenten von anderen Autoren vorgetragen wurden. Die Argumentationslinien sind allerdings nicht immer identisch. Während die Umweltbewegung auch stark antikapitalistisch argumentierte, überwiegt bei Jünger die Kritik am technischen Denken. Er nimmt sogar die Ökonomen vor den Technikern in Schutz. b) Die B e g r ü n d u n g Es stellt sich nun die Frage, wie Jünger seine These von der Herrschaft der Technik begründet? Sein Ausgangspunkt ist die Naturauffassung von Descartes, die „eine unüberbrückbare Kluft zwischen Geist und Körper aufriß und das alte Systema influxus physici beseitigte, welche eine Verbindung und Einheit zwischen ihnen annahm" (Jünger 1993, S.40). Jünger entwickelt folgende Descartes-lnterpretation: Das denkende Wesen, Geist, Seele (Res cogitans) und das ausgedehnte Wesen, Materie, Körper (Res extensa) werden nach ihm durch das unmittelbare Eingreifen Gottes zusammengehalten. Da Descartes den menschlichen Körper für eine künstliche Maschine genau wie die Uhr oder die Tiere hielt, wird verständlich, daß er annahm, daß die automatischen Bewegungen gewaltig anwachsen. Gott wird betrachtet als ein Uhrmachergott, der die künstlichen Werke schafft und sie gelegentlich reguliert. Die Natur verwandelt sich in einen seelenlosen Mechanismus, den der Mensch beherrschen kann. Der Mensch weiß über Gott mehr als über die Körper. Diese Verbindung beglückt den Menschen; fallt sie weg, wird die Seelenlosigkeit noch größer. Durch die cartesische Sichtweise wird die Dynamik als Lehre von den Kräften entwickelt und als Teil der Mechanik ausgearbeitet. Damit wird versucht, die tote Res extensa vollkommen zu beschreiben und zu bestimmen. Die Res cogitans wird zum Herrn und Meister des Weltprozesses erklärt. „Denn die Res extensa ist tot; sie kann vollkommen beschrieben und bestimmt, das heißt auf mechanische Weise erklärt werden. Und da sie tot ist, braucht man Eingriffe in sie nicht zu scheuen und Widerstände, die nur leblose und ungeistige sein können, nicht zu berücksichtigen. Daß die Res cogitans sich zum alleinigen

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6. Die Frage nach der Technik

Herrn und Meister des Weltprozesses aufwirft, daß sie das scharf, rücksichtslos, ohne Einwürfe zu achten, tun wird, liegt in dem Denken von Descartes vorbereitet" (Jünger 1993, S.41). Die tote Natur, die sich nun ständig ausdehnt, die Natur als Automat und Maschine, fordert geradezu die Eingriffe heraus. Damit hat Descartes den Plan einer exakten Naturwissenschaft schon im Ansatz entworfen. Jünger beschreibt den Prozeß so, daß die Res cogitans zu einem Feld für Denker, Forscher, Wissenschaftler und Techniker wird. Sie wollen die exakten Zusammenhänge und Kausalitäten wissen. Hier wirke historisch der cartesische Rationalismus zusammen mit der empirischen Betrachtungsweise Bacos. „Der Rationalismus von Descartes und der Empirismus Bacos gehen auf den Kausalismus hin, der mit der Erweiterung der Mechanik zunehmen muß. Beide wenden sich scharf gegen die Teleologie, die sie als unwissenschaftlich erklären und an deren Stelle sie die Erklärung aus wirkenden Ursachen setzen" (Jünger 1993, S.43). Stark geprägt wird das naturwissenschaftliche Weltbild nach Jünger's Auffassung durch die Galilei-Newtonsche Mechanik und durch die Philosophie Kants. Jünger arbeitet dies vor allem am Zeitbegriff heraus. Die Zeit wird als Linearität angenommen, die nicht mehr in den Dingen inhärent ist. Die Zeit wird dabei mechanisiert und erstarrt zur toten Zeit. Raum und Zeit werden zueinander ohne jeden Bezug gedacht. Die Uhren messen die mechanische Zeit, keine Qualitäten. Ohne Uhren gibt es aber auch keine Automaten. „Die Uhrzeit ist tote Zeit, ist Tempus mortuum, in der sich Sekunde um Sekunde gleichförmig wiederholt. Die tote, durch die Uhr gemessene Zeit läuft mit und neben der Lebenszeit des Menschen ab, ohne sich um sie zu bekümmern, ohne Anteil an den Hebungen und Senkungen der Lebenszeit, in der keine Sekunde der anderen gleich ist" (Jünger 1993, S.52). Die Technik verändert nach Jünger das Raumbewußtsein, indem sie vortäusche, daß der Raum knapper wird, die Erde werde kleiner. Das neue Zeitbewußtsein besage, daß der Mensch keine Zeit mehr habe und von der toten Zeit bedrängt wird. Muße wäre das Gegenteil. Sie ist unbegrenzte Zeit. Wer Muße hat, lebt in der Fülle der Zeit. „Der Mensch, der die Technik beherrscht, wird zugleich ihr Diener und muß sich ihren Gesetzen fügen. Der Automat zwingt ihn zu automatischer Tätigkeit" (Jünger 1993, S.55). Die Meßverfahren für die Zeit werden dabei immer feiner und genauer. Sie atomisierten damit aber auch das soziale Leben.

6. Die Frage nach der Technik

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Jünger stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ob sich die Lehre von der Unfreiheit des Willens, der im technischen Determinismus steckt, identisch ist mit den theologischen und philosophischen Prädestinationslehren. Beide schließen Willensfreiheit aus. Jünger vereint demgegenüber die Unfreiheit des Willens, denn eine solche Unfreiheit setze ja den Willen bereits voraus; d.h. alles Bestehende ist nicht mechanischen Funktionen oder dem absoluten Willen Gottes -seiner Meinung nach- unterworfen. Nach ihm gibt es zwar keinen absolut freien Willen, aber wir tun auch nichts Gezwungenes. Es gibt für ihn die Freiheit des Gewissens und der Entscheidung. „Obwohl unser Wille unfrei ist, ist unser Tun willentlich, es geschieht mit dem Bewußtsein der Freiheit, der freien Entscheidung. Und wir haben dieses Bewußtsein zu Recht, es setzt sich deshalb durch, weil die Entscheidung unseres Willens bedarf, weil sie ohne ihn nicht eintreten würde" (Jünger 1993, S.63). Die Freiheit ist für Jünger begrenzt. Geburt, Eltern und Verwandtschaft können wir uns nicht aussuchen. Unsere körperlichen Organe sind determiniert. Innerhalb dieses Rahmens könne der Mensch frei disponieren. Diese Freiheit unterscheide den Menschen von mechanischen Prozessen, dort existiere kein freier Wille. Die technische Entwicklung versuche diese Freiheit zu gefährden. Sie produziere Tretmühlen, in die der Mensch eingespannt wird. Sie erkläre die Handarbeit zur Monotonie und will sie durch Mechanik abschaffen. Dies produziert aber nach Jünger keine Abnahme der Monotonie, sondern erweitert diese nur. c) Der philosophische Zusammenhang Das 19. Jahrhundert habe der technischen Entwicklung einen ungeheuren Schub versetzt. Jünger sieht hier vor allem Hegel's Philosophie als maßgeblich an. Sie habe die Lehre von der Dynamik auf den geschichtlichen Prozeß übertragen. „Hegel wirkt nicht mehr unmittelbar auf die exakten Wissenschaften, denn er wirkt mächtiger auf andere Fundamente, indem er auf den geschichtlichen Prozeß wirkt, dessen Träger Staat und Gesellschaft sind. Seine Dialektik hellt diesen Prozeß nicht nur auf, sie greift in der bestimmten geschichtlichen Situation auf ihn ein und wird zu einem Mittel, ihn voranzutreiben" (Jünger 1993, S. 168). Für Jünger nimmt weiterhin die Position Nietzsches eine bedeutende Stellung ein. In ihm erreicht die Willensphilosophie neben Schopenhauer ihren Gipfel. Es sei nur an seine Konzeption des Willens zur Macht

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erinnert. Der Wille zur Macht räume auf mit den älteren Vorstellungen von Harmonie und Balance. Er durchbreche diese mit ungeheurer Dynamik und beschleunige dadurch den mechanischen Prozeß. Der technische Fortschritt werde somit zur „Umwertung der Werte". Damit verfuge der Mensch immer stärker über elementare Kräfte. Er erhebe sich über die Natur Aber in diesem Machtkampf würden sich die elementaren Kräfte gegen ihn wenden. „Die tote Zeit, über die der Mensch nach Belieben zu verfügen glaubt, die er überall in Dienst stellte, sie bindet und knebelt ihn nun vermittelt der Mechanik, über die sie gebietet und herrscht. Sie verhöhnt den Arbeiter und sperrt ihn in den gleichen Käfig ein, den er ihr gebaut hat" (Jünger 1993,S.172). Der Wissenschaftsprozeß gleiche dabei einem großen Kloster mit zahllosen Arbeitszellen, in denen männliche Asketen der Rationalität und Kausalität dienten. Das Kloster vermittle aber die Todesseite des Daseins, eine Welt steriler, lebloser Automaten. Das Buch „Die Perfektion der Technik" ist besser verstehbar, wenn man die knappen Äußerungen Jüngers in diesem Buch zur Willensphilosophie von Nietzsche durch die Argumentationslinien seines NietzscheBuches ergänzt. Hier erläutert Jünger aus der Parallelität des Denkens von Hölderlin und Nietzsche die Frage nach dem Wesen und Wirken des Dionysischen und will sich darüber die Philosophie Nietzsches erschließen und gleichzeitig einen Schlüssel entwickeln zur Frage nach der Perfektion der Technik. „Der junge Nietzsche, der Hölderlin liebte, kannte diese späten Hymnen nicht, er fand von sich aus den Weg. In diesem Wiederfinden ist nichts zufalliges. Es ist nicht zufallig, daß zwei Menschen von solchem Rang sich den gleichen Fragen zuwenden. Wir werden sehen, wie entscheidend diese Fragestellung ist, die zugleich ein Infragestellen einschließt. Von ihr hängt unter anderem ab, ob der Mensch sich dem Feste wieder zuwendet, oder ob er in der von ihm ersonnenen Mechanik untergeht" (Jünger 1949, S.2). Dieser Verweis zu Nietzsche möge an dieser Stelle zunächst einmal genügen, das soll aber nicht heißen, daß dieser Argumentationsraum damit schon genügend ausgeleuchtet ist. Jüngers knappe und äußerst präzise Darstellung der naturwissenschaftlichen Entwicklung ist nicht in allen Punkten etwas Neues. Neu und bemerkenswert an seiner Argumentation ist aber vor allem die These von der Perfektion der Technik, deren Durchsetzung er philosophisch begründet und dabei das Wirken der Titanen als ursächlich ansieht.

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d) D e r t i t a n i s c h e M e n s c h Der Verweis auf die Titanen geschieht allerdings in dem Buch „Die Perfektion der Technik" nur am Rande und in Andeutungen. Im Buch „Griechische Mythen" hat er aber das Wesen der Götter und der Titanen ausfuhrlich dargestellt, so daß ein Verständnis der Perfektion der Technik ohne dieses Buch unzulänglich bleiben muß. Der titanische Mensch wird dort als ein Willensmensch geschildert, der durch N a c h a h m u n g titanischer Kräfte seinen Willen auszubilden sucht. Dabei will er etwas Unerreichbares verwirklichen und unterliegt der Anstrengung. Die Götter strafen ihn, so daß er immer in diesen Prozeß eingebunden bleibt. Sysiphus, der unermüdlich den Felsblock den Berg hinaufrollt, der ihm aber immer entgleitet, ist Sinnbild des Titanischen. Sysiphusarbeit ist jede Arbeit, die der Anstrengungen bedarf, bei denen aber nichts herauskommt. W o kein M a ß ist, kann nichts Großartiges geleistet werden. Im Unmaß, das den Göttern verhaßt ist, steckt etwas Prahlerisches und Friedloses. „Der Mensch, der kein M a ß hat, behält etwas Unfertiges. Es haftet ihm nichts an, weil das Wollen den ihm zugeordneten Bereich des Erreichbaren überschreitet. Solche Menschen scheinen, wenn sie ihren Anlauf nehmen, am stärksten und ganz unüberwindlich zu sein. Dann aber verfehlen sie das Ziel und stürzen ins Leere; sie fallen in die unterirdischen Räume hinab" (Jünger 1994, S.l 16). W o die Götter sich von den Menschen zurückziehen, macht sich der Herrschaftsanspruch der Titanen geltend. Sie sind unsterblich und wollen ihre alte Macht immer wieder herstellen. Titanisch ist nach Jünger der Mensch, der sich ganz auf sich selbst verläßt. „ D a s Streben des Menschen nach schrankenloser Freiheit und Unabhängigkeit ist titanisch, und wo es durchdringt, dort erscheint auch sein Regulativ, die mechanisch arbeitende Notwendigkeit, die als Korrektiv eines solchen Strebens hervortreten muß. Das ist das Ende des Prometheischen, welches dem Zeus wohl bewußt ist" (Jünger 1994, S.l 17). Wille, Verstand und Empfindung verbinden den Menschen mit dem Titanischen. In der Überschätzung des eigenen Willens neige er dazu, das göttliche M a ß zu vergessen. Ohne M a ß gäbe es keine Größe. „Im Begriff des Maßes steckt das Verhältnis von Urbild und Ebenbild, und daraus ergibt sich Gültigkeit. Herakles ist ein Ebenbild des Zeus und hat M a ß und G r ö ß e " (Jünger 1994, S . l 18).

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Dieser göttlichen Größe könne nachgeeifert werden. Dann sind die Aufgaben zu bewältigen. Der pure Wille reiche nicht aus. Er führe nur zum Elementaren zurück und begegnet dort dem Titanischen. „Das Elementare ist notwendig, und Notwendigkeit allein herrscht in ihm. Hier ist von Freiheit nicht mehr die Rede, hier geht und kommt alles nach harten Gesetzen, kehrt auf eine notwendige Weise alles wieder, rollend im Umlauf wie der kreisförmig sich bewegende Okeanos, wie der glänzende Helios oder die milder schimmernde Selene" (Jünger 1994, S. 119). Die göttlichen Weisheiten „Nichts zu sehr" und „Erkenne dich selbst" sind nach Vorstellungen des Autors Riegel, die den Menschen vor dem Titanischen schützen. Diese kurzen Ausführungen sollen demonstrieren, daß die Perfektion der Technik nur verstanden -man kann sogar sagen erahnt- werden kann durch die Lektüre der „Griechischen Mythen" und durch das Studium des großartigen Werkes über Friedrich Nietzsche. Dann ist die Interpretationsarbeit jedoch noch nicht beendet. Doch zunächst eine eher historische Betrachtung. Der kurze Aufsatz „Zwei Weltkriege" kann als eine Exemplifizierung der generellen Fragestellung angesehen werden. Der technische Automatismus verändert nach Jünger grundlegend den Charakter des Krieges und die Kriegsfuhrung. Der ehemals ehrwürdige Soldat schlüpfe nun in eine farblose Arbeitsuniform. Die Ruhmlosigkeit würde das Geschehen kennzeichnen. Es komme zu einer Materialschlacht. Jünger sieht im Jahre 1914 einen Wendepunkt für diese Entwicklung. Seit dieser Zeit herrsche gnadenlos die technische Kriegsapparatur über den Menschen. „Der Tod selbst hat nichts Feierliches mehr; er kommt als Mechaniker, der die Massengräber füllt. Er zerfetzt, zerreißt, atomisiert den Menschen, sendet Gaswolken über ihn hinweg und verschüttet ihn in der Erde. Inmitten der kahlen leblosen, zerstörten Landschaft, die keinen Trost mehr zu bieten vermag, findet sich der Soldat isoliert, schutzlos, ungetröstet" (Jünger 1993, S. 183). Es sei nicht mehr das Zeitalter des Soldaten, sondern des Arbeiters, es ist die Zeit der totalen Mobilmachung und der gnadenlosen Vernichtung. Krieg und Technik verzahnten sich immer stärker und genauer. Der Krieg liefe nach völlig mechanischen Gesetzen ab. Menschen werden brutal vernichtet, entwurzelt, evakuiert. Der Krieg dehnt sich zum

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Weltkrieg aus. Er sei sowohl für Sieger als auch Besiegte ruinös. „Der Verzehr wird so stark, daß er den Sieg mitverzehrt. Das Ende des Krieges ist so schlimm wie der Krieg selbst" (Jünger 1993, S.196). Der Autor erläutert seine Thesen an beiden Weltkriegen und arbeitet die spezifischen Unterschiede heraus. Dabei ist die Perfektion der Technik wieder Dreh- und Angelpunkt der Argumentation; sie ist der Schlüssel für das Verständnis für alles. Es wäre hier allerdings zu fragen, ob nicht auch die Systemgegensätze, die Frage nach Kapitalismus, Faschismus und Stalinismus mitberücksichtigt werden müßten, um dieser Frage einigermaßen theoretisch gerecht zu werden. Ganz zu schweigen von subjektiven, religiösen, historischen, sozialen Faktoren. Hier hat der Leser von Jünger oft das Gefühl, daß er einseitig die Dinge betrachtet und dem eigenen phänomenologischen Anspruch nicht gerecht werden kann. e) M a s c h i n e und Eigentum In diesem großen Teilbereich wendet Jünger in bekannter, nüchterner Weise seine Thesen auf ökonomische Fragestellungen an. Es geht hier um die Veränderung der Arbeitsorganisation, des Geldwesens und des Eigentums, ja es geht eigentlich auch um die Veränderung der Ökonomie insgesamt. Die Technik sei dabei nicht der Ursprung der geschichtlichen Bewegung, wir nehmen nur die Veränderung an ihr wahr. Die Arbeitsorganisation müsse sich dem technischen Mechanismus anpassen. Es setzten sich damit automatische Strukturen in den Fabriken durch. „Die neue Apparatur ruft eine neue Organisation der Arbeit hervor. Die Organisation der Arbeit wiederum ruft Apparaturen hervor. Eine Fabrik, welche Kraftwagen herstellt, kann diese Apparaturen aus sich heraus nur entlassen, weil eine Organisation der Arbeit schon vorhanden ist, denn für diese allein sind die zum Gebrauch fertigen Kraftwagen bestimmt. Wiederum ist die Organisation der Arbeit auf die Kraftwagen angewiesen, die ihr von der Fabrik geliefert werden" (Jünger 1993, S.204). Das folgende Bild verdeutlicht die Jüngersche Argumentation:

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Herausbildung einer Bürokratie

Vernutzung des Privateigentums

V Maschine und Eigentum

X

Der Mensch als Workoholic

Ablösung der Handwerkerkunst

Bild 9

Die Technica intentionalis löse sich von der Technica naturalis mit weitreichenden Folgen. Die mechanische Bewegung verselbständige sich, Raum und Zeit werden als Mechanismus konstruiert. Meßbarkeit, Teilbarkeit und Wiederholbarkeit werden neue Kriterien für die Beurteilung von Prozessen. Die Maschine bringe die sozialen Theorien des 19. Jahrhunderts zum Vorschein: „der Sozialismus des neunzehnten Jahrhunderts, soweit er Einfluß gewinnt, ist ein Maschinensozialismus. Oder um es genauer zu sagen, er ist ein Sozialismus, hinter dem die Maschine steht, der von der Maschinerie her seine Impulse, seine Willensimpulse erhält. Die Veränderungen, welche die Maschinen im Leben des Menschen hervorbringt, die Folgen einer maschinell fortschreitenden Arbeitsteilung sind der Ausgangspunkt der sozialen Theorie Wir können das an jeder Stufe nachprüfen, welche die Durchbildung der Theorie erreicht" (Jünger 1993, S.207). Der Maschinenkapitalismus und der Finanzkapitalismus würden zusammen arbeiten, das Bankwesen entfaltet dabei eine nie gekannte Energie. Das Geld gehe quasi von einem festen Aggregatzustand in einen flüssigen über. Während das Geld in seiner ursprünglichen Funktion

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nach Jünger aus dem Verkehr des Menschen mit den Göttern entstand, schwindet dieser Zusammenhang vollends aus dem Bewußtsein und aus der Praxis. Der Autor begründet das Geld also nicht aus dem Austausch -wie dies üblicherweise geschieht-, sondern als Sakralgeld. „Schon in frühen Zeiten finden wir das Geld an die Tempelbezirke geknüpft, finden wir die Priester als Verwahrer von Geld und Depositen. Der Tempel ist zugleich die erste Bank, von der wir Kenntnis haben, die Priester sind die ersten Bankiers. Erinnert sei hier an die Fülle kostbarer Weihgeschenke, die in den Tempeln zusammenströmten, und unter ihnen an die griechischen Dreifüße, die nicht nur Hausgeräte waren, sondern auch Kampfpreise, Ehrengeschenke und Kultgegenstände" (Jünger 1993, S.217). Hier läßt sich also -wie schon an anderer Stelle beschrieben- die mythische Rückbindung seiner Argumente wiederfinden. Die Perfektion der Technik verändere die Rolle des Sakralgeldes, es wird in der Neuzeit zum anonymen, säkularen Tauschmittel. Das profane Geld fördere die Zirkulationsgeschwindigkeit, die Sachlichkeit und werde zu einer brutalen Peitsche im ökonomischen Prozeß. Der Handwerker werde dabei zum ruhelosen Arbeiter degradiert. Auch das Eigentum verändere dabei seinen ursprünglichen Charakter. Der technische Automatismus wende sich gegen die ökonomische Grundkategorie der Gesellschaft. „Der Maschinenkapitalismus höhlt die Ordnung des Eigentums mehr und mehr aus, indem er seinen dynamischen Kraftbegriff gegen das ruhende, in sich geschlossene Eigentum wendet. Das Eigentum wird zunächst Scheineigentum und verfällt dann der Kollektivierung" (Jünger 1993, S.240). Mit der Auflösung des Eigentums löst sich nach Jünger auch die Ökonomie auf. Der technische Automatismus verschlingt immer mehr Kapitalmassen, da unendlich viele technische Lösungen möglich werden und schon bei der Einfuhrung veraltet sind. Damit wird aber diese technische Entwicklung nicht mehr bezahlbar. Die Ausdehnungswucht übersteigt jegliche ökonomische Machbarkeit und soziale Notwendigkeit. Die Eigentumsordnung verwandelt sich notgedrungen durch die technische Apparatur in den Kollektivismus und in eine Form von Totalitarismus. „Der mit Maschinen arbeitende Kapitalismus, der sich auf das Eigentum stützt, kann nur ein Provisorium sein; er steuert auf das technische Kollektiv zu und wird von ihm aufgenommen, wenn die Mechanisierung einen zulänglichen Grad erreicht hat. Wie die Erfahrung lehrt, wird dieser Grad bei den mechanischen Verkehrs- und Trans-

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portmitteln zuerst erreicht. Der private Maschinenkapitalismus ist die Ausgangsstellung für das technische Kollektiv. Das technische Kollektiv macht sich selbst zum Kapitalisten" (Jünger 1993, S . 2 5 3 ) . Diese Thesen zur Ökonomie stellen für Jünger eine Ergänzung dar zu seinen Ausführungen zur Entwicklung der Technik und sind methodisch a u f dem gleichen Niveau geschrieben. Insofern sieht er zu Recht sein Buch mit den genannten drei Teilen: „Die Perfektion der Technik", „Die Weltkriege" und „Maschine und Eigentum" als eine Einheit an, wobei der Aufsatz zu den Weltkriegen eher als Anhang gedacht war. Seine Thesen arbeiten sehr gut markante Entwicklungspunkte heraus, wobei der Hinweis a u f das Sakralgeld und die These von der Zerstörung des Eigentums durch den technischen Fortschritt durch Börsenspekulationen und technologisch bedingte Arbeitslosigkeit unmittelbar -für die heutige Zeit- diskussionswürdig sind. f) Natur oder Naturwissenschaft ? Jünger hat durch seine unendliche Vielseitigkeit die Problematik in einem weiteren Werk von einer völlig anderen Seite bearbeitet. Er selber sieht „Die vollkommene Schöpfung" wiederum als unmittelbare Ergänzung zur „Perfektion der Technik" an. „Der Vorbemerkung, die in der 5ten Auflage der 'Perfektion der Technik' steht, habe ich wenig hinzuzufügen. W e r sie gelesen hat, wird schon an ihr erkennen, daß dieses Buch an sie anknüpft, daß beide Bücher zusammengehören. Inzwischen ist manches geschehen. Seit dem ersten Erscheinen der „Perfektion", die im zweiten Weltkrieg geschrieben wurde, ist das technologische Wissen sprunghaft entwickelt worden. Eine neue Apparatur verändert wiederum die Organisation der Arbeit. Kernphysik und Kernchemie, Elektronik, Nachrichtentechnik und alles Zugehörige tragen dazu bei. An dem Grundverhältnis, das zwischen Apparatur und Organisation der Arbeit besteht, an der wechselseitigen Bestimmung der einen Seite durch die andere, am Verhältnis von Wirkung und Rückwirkung a u f den Menschen verändert sich dadurch nichts, auch dort nicht, wo alles schneller und schleuniger Veränderung begriffen ist. So wie Handwerkszeug und Handwerk zusammengehören, so die Automatik und der Arbeiter" (Jünger 1 9 6 9 , S 1 1 0 Dieses Buch steht unter der generellen Fragestellung: Natur oder Naturwissenschaft? Jünger steht durch seinen Blickwinkel auf der Seite

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der N a t u r und verfolgt, wie die Perfektion der Technik die Fragestellung in Richtung Naturwissenschaft verändert. In der Vorbemerkung stellt er die Brücke zur Perfektion der Technik noch einmal explizit dar. Danach verändere die planetarische Ausdehnung der Technik das innere Lebensgesetz der Völker auf gewaltsame Weise. Die Unterschiede zwischen den Völkern komme durch die weltweite Betrachtung stärker ans Licht. Wobei es einen Pluralismus in der technischen Organisation nicht gebe. „Sie arbeitet überall auf die gleiche Weise, bei Christen und Nichtchristen, in Kirche, Fabrik und Haus. Ob jemand in Australien oder in Amerika einen Automaten bedient, macht keinen Unterschied. Seine Bezahlung und Entlohnung mag verschieden sein, wird aber gleichfalls durch die Organisation der Arbeit bestimmt Kapital ist überall K r a f t ; nur in der zentralen Verfügung über diese Kraft gibt es Unterschiede" (Jünger 1969, S.10). Jüngers Hauptthese in diesem Buch ist, daß sich die moderne A u f f a s s u n g der Naturwissenschaft radikal durch die Perfektion der Technik verändert habe. Kopernikus, Galilei, Kepler, Newton und Leibniz bewegten sich als Wissenschafter im freien Felde, gebunden an eine Transzendenz, der sie ihre Einsichten unterordneten. Diese Rückbindung ist heute mehr oder minder verschwunden durch die Technik und steuernde Planung in den Wissenschaften. Es werden von ihm die Begriffe der Naturwissenschaft systematisch untersucht, die durch die traditionelle Naturwissenschaft rätselhaft bleiben: Symbiose und Parasitismus, das Verhältnis von Blütenpflanzen und Insekten, Metamorphosen, Insektenkollektive. „Die Begriffe, mit denen die Wissenschaft arbeitet, mußten untersucht werden, und auch die Instrumentalisierung des W i s sens, die zur Einbeziehung der Wissenschaft ins Kollektiv und zu ihrer Steuerung durch dieses Kollektiv f u h r t " (Jünger 1969, S . l l ) . Jünger setzt sich intensiv mit zentralen naturwissenschaftlichen Autoren und ihren theoretischen Vorstellungen auseinander: Linné, Lamarcke, Darwin, Mendel usw. Jünger versucht nachzuzeichnen, wie die Instrumentalisierung des Denkens und Wissens in den Naturwissenschaften sich ausgebreitet hat (vgl. hierzu auch Hemleben 1981). Ohne Elektronik und komplizierte Meß- und Verrechnungsapparate seien naturwissenschaftliche Forschungen nicht mehr denkbar. Es gehe also nicht mehr um die Natur, um ihre Beobachtung und Interpretation, um ein tieferes Verständnis für die Natur, sondern um ihre Beherrschung. Neue Arbeitsverfahren werden auf die Lebewesen angewendet und verändern die

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Sprache über die Natur. Sprache und Begriffe werden mechanisiert. Vielseitige Deutungsversuche auf Nützlichkeitsüberlegungen reduziert. W ä h r e n d Theoria, griechisch verstanden, das lustvolle Anschauen mit den Augen bedeutete, wird es nun als Gedankliches, Vorgestelltes, Vermutetes, als lebloses Konstruieren umgedeutet. Der Mensch lege damit einen Plan in die Natur. „Die Wissenschaft von der N a t u r ist nicht selbst Natur, sondern gehört der Geschichte des Menschen. Die N a t u r treibt keine Wissenschaft und hat keine Geschichte. Naturgeschichte ist keine Natur, sondern das, was der Mensch sich über sie in Geschichten erzählt und zurechtlegt. Begriffe und Systeme, die in der N a t u r nicht anzufinden sind, denkt er in sie hinein. Auf die Frage nach dem W o z u gibt die N a t u r keine Antwort, deshalb ist diese Frage auch keine wissenschaftliche Frage" (Jünger 1969, S.274). Die Naturwissenschaft vernachlässigt nach Jünger durch ihre Methode den Reichtum, die Pracht und die Majestät der Natur. Ästhetische Begriffe bleiben außen vor und werden beiseite geschoben. Der Gedanke von der Einheit der N a t u r zerfällt. Der Naturwissenschaftler glaubt, er würde friedlich mit der Natur umgehen. Das Gegenteil ist nach Jünger der Fall: „Sie verkennen oder verleugnen den Ausbeutungscharakter dieser Arbeit und damit den Rückstoß, den sie auf den Menschen hat. Sie sind vielleicht der Überzeugung, daß Nutzen und Frieden ihre Arbeit, zwei Dinge, die selten zusammengehen, sich abtrennen und isolieren lassen von Unfrieden, Unheil, Zerstörung und Krieg, behaupten ihre Überzeugung auch dann noch, wenn sie in der Rüstungsindustrie arbeiten" (Jünger 1969, S.277). Diese Haltung habe die Atombombe möglich gemacht. Die Forscher nach der Atomspaltung -Hahn, Oppenheimer u.a.- hätten gearbeitet und gearbeitet, ohne Kenntnis der technischen Folgen ihrer Entdeckung. „Es ist ein Anzeichen geistiger Verwirrung, wenn jemand annimmt, daß der Mensch gut ist, wenn es ihm gut geht, besser wird wenn es ihm besser geht. Es ist geistige Verwirrung, daß jemand das tut, was er nicht tun will, nicht tun soll, daß er nicht weiß, was er tut, und nicht tut, was er w e i ß " (Jünger 1969, S.278). Diese Nachzeichnung einzelner Argumentationslinien Jüngers verdeutlichen, daß er auch auf dem Felde der Naturwissenschaft eine schonungslose Aufklärung betreibt und den instrumentellen Charakter der Wissenschaft aufdeckt. Ihm geht es um die Differenz von N a t u r und

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Naturwissenschaft, um das Erleben der Schönheit der Natur, um wissenschaftliche Erklärung und nicht um eine technische Erkenntnis und Vernutzung. Diesen radikalen Hinweis von Jünger kann man als vorwissenschaftliche Position abqualifizieren, aber die ökologischen Probleme haben eindringlich gezeigt, daß auch hier erhebliche Defizite in der N a turerkenntnis und -betrachtung bei allen Beteiligten vorliegen. g) Ausblick Ohne Zweifel hat Jünger die Frage nach der Technik in einen weiten Bezugsrahmen gestellt, der an jeden Leser höchste denkerische A n s p r ü che stellt und noch weiterer intensiver Ausleuchtung bedarf. E s stellt sich dabei auch die Frage, wie diese dichte und nüchterne, phänomenologische Argumentation wiederum phänomenologisch interpretiert werden kann. Die Argumentation Jüngers ist für den wohlwollenden Leser ungeheuer stringent und erschlagend. Sie hat in den letzten Jahren in der ökologischen Bewegung berechtigterweise -meist unbewußt- starken Zulauf erhalten. Seine Auseinandersetzung mit der Perfektion der Technik findet -wie gezeigt wurde- in den verschiedensten Werken statt. Sie findet sich auch in seinen eher literarischen Schriften. So läßt sich auch sein Buch „Die Spiele" als positives Gegenstück zur „Perfektion der Technik" ohne weiteres interpretieren. Er gibt dort keine Darstellung der Spiele im Wandel der Zeiten, sondern er versucht, dem Leser das Spielerische im Sinne Schillers klarzumachen. Begreift man -wie Jünger- das Technische als das Gegenstück zum Spielerischen, so ist die Brücke zur Perfektion der Technik unmittelbar einsichtig. Eine Schwachstelle in Jüngers Generalthese der Perfektion der Technik läßt sich höchstens darin sehen, daß er zwar die technische Entwicklung als ein Problem der naturwissenschaftlichen Erkenntnis darlegt, die Freiheit des Menschen aber nicht als ein alternatives Erkenntnisproblem sieht, sondern zu sehr als eine Frage der Entscheidungs- und Willensfreiheit. Danach können wir die Automaten bauen oder nicht, wir können sie nach unserem Willen ein- und ausschalten. Es wäre hier aber in seinem Sinne auch nach den Erkenntnisalternativen zu fragen. Wie könnte ein nicht-mechanistisches, ein organisches Weltbild beispielsweise aussehen? W a s hieße die eigentliche Naturbetrachtung im Gegensatz zur mechanistischen Naturwissenschaft? Wie müßte eine

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Erkenntnistheorie beschaffen sein, die ein solches Weltbild konstituieren könnte? D a ß Jünger diese Frage nicht stellt, liegt daran, daß er zwar über eine stringente phänomenologische Methode verfugt, aber aus didaktischen -aufklärerischen- Gründen nur einen Teil der Argumentation herausarbeitet. Er charakterisiert in der Wissenschaftsentwicklung nur die Argumente, die eine Perfektion der Technik begründen. Er läßt die technikkritischen Argumente von Descartes-Kant-Nietzsche mehr oder minder außen vor. Er geht davon aus, daß deren theologische Anbindung im geschichtlichen Prozeß wegfallt und durch die Herrschaft der Titanen ersetzt wird. Diesen Prozeß will er zunächst einmal zu Recht schonungslos aufdecken. Den Entwicklungsgang seiner eigenen Methode reflektiert er dabei nicht mehr. Er wendet sie an. Über sein eigenes methodisches Selbstverständnis gibt es nur leichte Andeutungen in Richtung Phänomenologie. Daraus läßt sich folgern, daß es sich um die Linie Goethe-HusserlHeidegger handeln wird. Dieser erkenntnistheoretische Strang hat versucht, sich vom pragmatischen Technikverständnis abzugrenzen. S o hat beispielsweise Gernot Böhme in seinem Buch „Alternativen der Wissens c h a f t " versucht, vor allem einen Goethischen Wissenschaftsbegriff zu konstituieren, um zu zeigen, daß es nicht nur die Perfektion der Technik gibt (vgl. Böhme 1980, S.123ff). Diese Wissenschaft sollte aus der Anschauung entwickelt werden, Raum und Zeit bilden dabei eine Einheit und sind nicht a u f tote Begriffe zu reduzieren. Das intuitive Denken konstituiert die Wissenschaft und soll die Phänomene in ihrer Immanenz und Transzendenz beschreiben, und nicht nur als Verlust beklagen. Dabei ist die sinnliche Welt nicht lösgelöst von einer höheren Ordnung. Diese Methode soll somit den Weg aus dem Teufelskreis der Perfektion der Technik weisen. Es soll eine andere Umwertung der Werte stattfinden. Um es in einer modischen Parole auszudrücken: Sonnenenergie statt Kernenergie. Ein organisches Naturverständnis soll zur Macht gelangen. Statt Mobilmachung gegen die Natur Abrüstung. Statt Gigantonomie die Wahrung der Proportionalität (lllich). Der Qualität des menschlichen Denkens wird dabei eine zentrale Rolle zugewiesen. Es kann gebraucht werden, entweder um die Perfektion der Technik zu charakterisieren, oder aber auch, um die Titanen durch Alternativen zu zähmen und damit eine methodische Erneuerung einzuleiten.

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6.2 Der Sprung vom Rücken des Tigers Ein chinesisches Sprichwort erklärt es für unmöglich, während eines Tigerrittes das Tier zu verlassen. Wenn man einmal auf ihm sitzt, sei das Schicksal für den Reiter unausweichlich. Dieses Gleichnis kann ein Anhaltspunkt sein, um die Entwicklung der technischen Zivilisation zu beschreiben. Ist diese erst einmal in Gang gekommen, ist die Bewohnbarkeit der Erde offensichtlich in Frage gestellt. Die technische Zivilisation zerstört sowohl den physischen Wohnraum als auch die Kultur und verhindert die Wiederkehr der Götter (Gerhard Nebel). Die globale Umweltzerstörung ist jedoch seit langem bekannt, doch die Auswirkungen von technischer Zivilisation und Arbeitslosigkeit dürfen dabei nicht übersehen werden. Bekanntermaßen erfolgte Anfang der sechziger Jahre in der Bundesrepublik eine rasche wirtschaftliche Entwicklung. Diese war so stark, daß in Italien, Griechenland, Jugoslawien und Spanien Arbeitskräfte mit niedriger Qualifikation angeworben wurden. Deutsche Arbeitnehmer haben sich dadurch immer stärker aus den Arbeitsplätzen mit niedriger Qualifikation herausgezogen. Es gab wenig Arbeitslose, ja das Gegenteil war sogar der Fall: es gab für viele gering qualifizierte Arbeitsplätze einfach zu wenig Arbeitskräfte. In den neunziger Jahren haben wir vor allem auf dem Arbeitsmarkt ein völlig anderes Bild: Massenarbeitslosigkeit prägt und lähmt die Volkswirtschaft. Einerseits wollen im Gegensatz zu früher mehr Menschen einen Arbeitsplatz. Das gilt vor allem für Frauen und die geburtenstarken Jahrgänge und für den rapiden Zustrom von ausländischen Arbeitnehmern. Warum schafft die Volkswirtschaft nicht einfach mehr Arbeitsplätze? Die Lücke wird auf bis zu fünf Millionen fehlender Arbeitsplätze für die gesamte Volkswirtschaft geschätzt! Doch auch hier haben sich die Bedingungen grundlegend gewandelt. Durch den Einzug der marktwirtschaftlichen Technik in die Wirtschaft ist die Schaffung von Arbeitsplätzen teurer geworden. Anstelle von arbeitsintensiven Betrieben sind vor allem kapitalintensive Betriebe getreten. Es ist klar, daß ein Arbeitsplatz um so teurer ist, je höher er automatisiert ist. Die Unternehmen müssen immer mehr investieren, um einen Arbeitsplatz zu schaffen. Hohe Investitionen bringen aber nicht automatisch auch hohe Beschäftigung, da sich Investitionen und Beschäftigung entkoppelt haben.

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Allerdings gibt es wenigstens für den Verbraucher Vorteile. Denn die Unternehmen befinden sich häufig in einem Dilemma: die Investitionen sind o f t nicht von wirtschaftlichem Erfolg gekrönt, da der Markt meist aus Wettbewerbsgründen Preissenkungen erzwingt. Dies ist klar zu sehen in der Computerindustrie. Die Entwicklung der Produkte ist sehr teuer und die Preise sinken rapide, so daß nur wenige transnationale Konzerne große Gewinne erwirtschaften. Dies hat auch dazu geführt, daß die Unternehmen nicht mehr so stark in produktive Investitionen gehen, sondern sie stecken ihr Geld zunehmend in Finanzspekulationen. Wichtige Gelder gehen so der produktiven W i r t s c h a f t verloren und destabilisieren durch wilde Börsenbewegungen zudem die Gesamtwirtschaft. Durch die Einfuhrung von Technik wird immer mehr produziert, doch es fehlen trotz Preissenkungen die Einkommen, um alles konsumieren zu können, f ü r einzelne Produkte gibt es zudem schon seit Jahren Sättigungserscheinungen, Grenzen des W a c h s t u m s in den Industrieländern sind unübersehbar. Die Anwendung von marktwirtschaftlicher Technik verspricht eine Erleichterung bei der körperlichen Arbeit, mehr Freizeit, Wohlstand und Bequemlichkeit f ü r alle. Die Erfolge sind überall sichtbar und uns in Fleisch und Blut übergegangen. Die Nachteile sind aber mittlerweile auch nicht mehr zu übersehen: statt Individualität wird eine gefahrliche Vermassung erzeugt, statt Arbeitsplatzsicherheit sehen wir eine M a s senarbeitslosigkeit, statt einem schonenden Umgang mit der N a t u r erleben wir eine ungeheure Vernutzung von unwiederbringbarer Energie, statt eines Absprunges vom Rücken des Tigers wird dieser immer wilder. S o wäre es sinnvoller und billiger, statt die Massenproduktion und Automatisierung anzuheizen, die individuelle Produktion und den qualitativen Konsum zu stärken. Dies geht aber nicht mit Massenmenschen, sondern nur durch die Besinnung des Menschen auf seine eigentlichen Ziele. Im Moment erleben wir eher das Gegenteil: Denn der anschwellende Bocksgesang (Botho Strauß) hat wohl die Republik erfaßt. Die Zeit des gestischen Bewußtseins (Peter Sloterdijk) muß scheinbar verschoben werden. Die Platzhirsche der Politik hauen sich wie die Kesselflicker um Steuern, Haushaltslöcher und den Euro. Eine Eindämmung der globalen Umweltprobleme steht trotz der Konferenz von Rio in den Sternen. Im Haus der Ökonomie werden polternd die Möbel gerückt. Eine staatliche, mittelfristige Perspektive ist kaum erkennbar. Die T a rifpartner verlassen sich immer noch a u f die Gestaltungskraft der Poli-

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tik. Doch diese scheint zu erlahmen und sich ständig zu blockieren. Die unsichtbare Hand des Marktes erweist sich immer mehr als Fehlsteuerung für die Arbeitslosen. Eine klare Ursachenanalyse fehlt. Die Argumente werden beliebig gehandelt. Statt einer freien, objektiven Diskussion erleben wir einen medialen Meinungskampf. Doch wie schaffen wir den Sprung vom Rücken des Tigers? Ohne eine Bewußtseinsrevolution, eine Daseinserschütterung des einzelnen Mitteleuropäers ist dies wohl nicht möglich! Die Einführung von Maschinensteuern, Spekulationssteuern, verstärkter Unterstützung von arbeitsintensiven Betrieben, Beibehaltung der Handwerkskunst, Aufbau von Tauschringen, Kapitalneutralisierung, Veränderung der Konsumgewohnheiten, philosophische Lebensweisen (Karl Jaspers) sind dabei Krücken, um die Situation zu verbessern und Denkprozesse in Gang zu setzen. In der technikkritischen Diskussion der 70er Jahre wurden die Grenzen der Technik und des Wachstums aufgezeigt. Es wurden vor allem regionalwirtschaftliche Konzepte in die Diskussion eingebracht. Die eingetretenen Pfade des Ordoliberalismus und des Keynesianismus wurden verlassen. Es stellte sich die Frage nach der optimalen Größe einer Wirtschaftsordnung. Diese Frage wurde bisher nicht gestellt, da sich die Ökonomie immer als Nationalökonomie verstand. Literatur Böhme, Gernot: Alternativen der Wissenschaft, Ffm 1980 Hädecke, Wolfgang: Die Welt als Maschine. Über Friedrich Georg Jüngers Buch 'Die Perfektion der Technik', in: Scheidewege, Vierteljahresschrift für skeptisches Denken, Jg 10, 1980, S.284-317 Hemleben, Johannes: Das haben wir nicht gewollt. Sinn und Tragik der Naturwissenschaften, Ffm 1981 Jünger, Friedrich Georg: Nietzsche, Ffm 1949 Jünger, Friedrich Georg: Die Spiele, München 1959 Jünger, Friedrich Georg: Die vollkommene Schöpfung. Natur oder Naturwissenschaft? Ffm 1969 Jünger, Friedrich Georg: Die Perfektion der Technik (1939), 7. Aufl., Ffm 1993 Jünger, Friedrich Georg: Griechische Mythen, 4. Aufl., Ffm 1994

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7. Grenzen des Wachstums 7.1 Wolkenkratzer-Wirtschaft und optimale Größe Der regionalwirtschaftliche Ansatz von Leopold Kohr verläßt die bekannten dogmengeschichtlichen Pfade. Er begründet seine ordnungspolitischen Vorstellungen nicht innerhalb der ökonomischen Theorie und den bekannten Autoren wie Adam Smith, John Maynard Keynes oder Walter Eucken, sondern eher auf kulturphilosophischer Basis, durchdrungen von einem Schuß geistigem Anarchismus und Individualismus sowie einem Blick für die Probleme der Dritten Welt. Leopold Kohr gehörte zu den österreichischen Wissenschaftlern, die sich im internationalen Rahmen (Europa, USA, Mittelamerika) bewegten. So verband ihn eine persönliche und geistige Freundschaft mit Ivan Illich und dessen radikalen Thesen zur 'Entschulung der Gesellschaft' (1972), der 'Selbstbegrenzung' (1975) von Wirtschaft und Technik, der Kritik am Gesundheitswesen (1977). Kohrs wissenschaftliche Aussagen wurden vor allem in den 70er Jahren bekannt unter dem Slogan „Small is beautiful" oder „Zurück zum menschlichen Maß." Diese Begriffe wurden auch verbreitet von seinem Gesinnungsfreund E.F. Schumacher (1977). Politisch gesehen gilt Kohr als der Vater Österreichs. Sein föderalistischer Ansatz hat in sehr starkem Maße die Diskussionen um die Eigenständigkeit von politischen Regionen bestimmt und wird auch weiterhin theoretisch aktuell bleiben. Außerdem ist die ordnungspolitische Begründung so originell und kreativ, daß es lohnend ist, sich eingehender damit zu beschäftigen. Kohr stellt sich die Frage, nach welchem Gesichtspunkt die Wirtschaftssysteme ausgesucht werden (1983, S.81ff)? Die klassischen Antworten lauten: nach ökonomischen oder politischen Kriterien. Für Kohr ist die Antwort lapidarer. „Wie bei jeder Wahl, ist es in erster Linie eine Frage des Geschmacks und des Temperaments" (1983, S.81). Viele Wege führen demnach nach Rom und man könne nicht objektiv sagen, welcher der bessere sei. Das gleiche gelte für den Konsum und andere menschliche Entscheidungen. Mit Wirtschaftssystemen ist es für Kohr genauso: ob kapitalistisch oder sozialistisch, sie alle wollen eine optimale Bedürfnisbefriedigung. Kein System sei besser oder schlechter als das andere. Die Entscheidung hänge von der jeweiligen Weltanschauung ab und diese sei nicht mehr wissenschaftlich begründbar.

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„Der echte Sozialist wird also ebenso wie der echte Kapitalist sein System nicht nach dessen wirtschaftlichen, sondern nach seinen philosophischen Folgerungen wählen. Er ist wirtschaftlich ein Sozialist, weil er philosophisch ein Kollektivist ist" (Kohr 1983, S.84). In dieser Geschmacksfrage ist die persönliche Entscheidung von Kohr klar. E r fühlt sich als Individualist und nicht als Kollektivist. Insofern tritt er f ü r ein freiheitliches Wirtschaftssystem und nicht für ein sozialistisches System ein. Ein Sozialist ist f ü r Kohr ein Mensch, der von der philosophischen Überzeugung geprägt ist, daß das Gemeinwohl höher zu bewerten ist als das Wohl des Einzelnen. Er selber sieht f ü r sich die Sache umgekehrt. Da es f ü r ihn eine Geschmacks- und Temperamentsfrage ist, haben beide Positionen ihre Berechtigung. Während diese G r u n d f r a g e objektiv nicht zu klären sei, gibt es für Kohr eine weitere wesentliche Frage, die für Wirtschaftssysteme maßgebend ist und wissenschaftlich begründet werden kann. Eine wichtige Bedingung für das Wirtschaften ist die Größe der Gemeinschaft, die zusammen wirtschaftet. Es muß eine bestimmte Größe vorhanden sein, um eine ausreichende Gütermenge zu erzeugen und um Wahlmöglichkeiten f ü r die Mitglieder zu schaffen. Eine Gemeinschaft darf weder zu groß noch zu klein sein, es gibt f ü r ihn eine optimale Größe f ü r ein Wirtschaftssystem. „Werden diese Grenzen nach einem der beiden Extreme hin überschritten, weicht die Freiheit der Wahl der Umwelt. Wenn eine Gesellschaft zu klein oder zu groß ist, wird die Frage Sozialismus oder Kapitalismus unwesentlich und ebenso die Frage unserer philosophischen Einstellung. In jedem Falle ist das einzig mögliche Wirtschaftssystem dann der Sozialismus" (Kohr 1983, S.86). Eine kleine Gruppe von Menschen ist nach Ansicht des Autors aus Überlebensgründen dazu verdammt, eine sozialistische Gemeinschaft zu bilden. Eine individuelle Wahlfreiheit ist hier nicht mehr realisierbar, es fehlen die materiellen Grundlagen. Die gleiche Tendenz ergibt sich aber auch, wenn die Gemeinschaften zu groß werden. Kohr nennt die heutigen großen Industriestaaten Wolkenkratzer-Wirtschaften. Je größer ein Hochhaus wird, desto größer werden die Energien, um das H a u s zu stabilisieren. „Bei einer Höhe von mehr als fünfzig oder sechzig Stockwerken beginnt der tote Raum nämlich schneller zu wachsen als der N u t z r a u m " (Kohr 1983, S. 194). Werden Staaten zu groß, wird meist automatisch ein großer Militärapparat aufgebaut, um sich gegen andere große Nationen zu schützen. Neben der unvermeidlichen Militarisierung der Gesellschaft treten im inneren aufgrund der Masse der Bevölkerung

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g r o ß e Konzerne auf, die sich gegenseitig schlucken und in Sozialisierungen ihr Heil suchen. „Je größer die soziale Einheit ist, desto größer sind in der Regel die Produktionsunternehmen und Zusammenballungen wirtschaftlicher Macht, die aus den verschiedenen Fusionsprozessen hervorgegangen sind, und je größer die Unternehmungen und Z u s a m menballungen, desto größer muß die Macht und die Rolle des Staates sein. Je größer aber der Staat wird, desto kleiner muß der Bereich der Freiheit des einzelnen werden und die Entscheidungsgewalt und Bedeutung des Privatunternehmens. So wie das Wachstum des Wettbewerbs schließlich dem Wettbewerb ein Ende setzt, so setzt das W a c h s t u m des Privatunternehmens schließlich dem Privatunternehmen ein Ende, vorausgesetzt, daß ein genügend großes politisches Hinterland ihm erlaubt, über die mit einer kapitalistischen Wettbewerbswirtschaft vereinbarten Proportionen hinauszuwachsen" (Kohr 1983, S.92). Neben der Militarisierung des Staates und der Sozialisierung der W i r t s c h a f t erwähnt der Autor eine dritte Konsequenz übergroßer Gemeinschaften. Eine riesige Bevölkerung führe in der Regel zu verdichtetem Zusammenleben, das ebenfalls die Freiheit des Einzelnen bedroht. „Der alles nivellierende sozialisierende Druck der großen Dichte ist so stark, daß Menschen, die z.B. während der Hauptverkehrszeit in den Massen der Untergrundbahnbenutzer eingekeilt sind und sich ein Minimum persönlichen Komforts bewahren wollen, sich nicht nur im T a k t e vorwärts bewegen, sondern mitunter sogar im gleichen Rhythmus wie die andern atmen m ü s s e n " (Kohr 1983, S.94). Dieses Argument ist für Leopold Kohr das wichtigste. Eine Ansammlung von Menschen, eine zu große Dichte führe zu einem 'Sozialismus im Geiste'. Kohr sieht also den Zerfall des Kapitalismus nicht durch einen Sturmangriff einer sozialistischen Bewegung verursacht, sondern in der Übergröße der Gesellschaft. Sie führe automatisch zur Vermassung und zur Verrohung des Menschen, zu einer Bürokratie und zu einer unbeherrschbaren Großtechnologie. Nach Kohr neigen H ü h n e r in großen Beständen zum Kannibalismus. Etwas ähnliches gebe es beim Menschen. Sind zu viele auf engem Raum zusammen, treten auch bei guter Erziehung notwendigerweise Unfälle, Streit und unzivilisierte Auseinandersetzungen auf. Das führt dann automatisch zu einem übermäßigen Auftreten des Staates durch die Polizei und Justiz und zu einer Einschränkung der Freiheit des Einzelnen. „Wie viele andere Einrichtungen, die die Herrschaft des einzelnen und seine Umwelt be-

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schränken, erscheint daher auch der Sozialismus nicht als Frucht freier Wahl, Überzeugung, Belehrung oder kommunistischer Totengräberei, sondern als Folge kritischer sozialer Größe" (Kohr 1983, S. 104). Kohr erwähnt auch die Notwendigkeit des Staates in den wirtschaftlichen Ablauf einzugreifen, wenn die optimale Größe überschritten wird. Er tritt dann auf, um wirtschaftliche Schwachstellen zu mindern. Gleichgültig, ob sich der Staat nach Marx oder Keynes ausrichtet, die Folgen seien die gleichen. Es wird ein Lenkungsapparat geschaffen, der dann ein Eigenleben zu fuhren beginnt und zur totalen Sozialisierung ausartet. Kohr gesteht ein, daß Probleme moderner Gesellschaften auch in der mangelnden Erziehung liegen können, aber in übergroßen Einheiten treten die Probleme gehäuft auf. „Und ihr Ausmaß ist, wie wir gesehen haben, nicht eine Funktion der Bildung, der Weltanschauung oder des politischen Systems, sondern der Größe der davon betroffenen Gemeinschaft" (Kohr 1983, S.113). Die beiden kontroversen ordnungspolitischen Auffassungen werden im folgenden Bild gegenübergestellt:

Wolken-Kratzer Wirtschaft

Optimale Größe ?



Gigantonomie



Regionale Wirtschaft



Anfälligkeit



Stabilität



Anonymität



Überschaubarkeit Bild 10

Für den Autor ist die optimale Größe einer Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung, aber nur die Voraussetzung für ein humanes Leben. Nicht die Größe sei letztlich ausschlaggebend, sondern der Mensch selber. „Jenseits dieser Grenze entwickelt sich jedoch eine malthusianische Lücke: die größenbedingten Probleme wachsen in geometrischer Progression weiter, während die Fähigkeit des Menschen, sie zu bewältigen, anscheinend nur in arithmetischer Progression wächst -und selbst das nur zu einem bestimmten Punkt. Keine Doktorwürde, kein Universitätsstudium, kein Organisationsmuster kann dann einen Ausgleich für das

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Tempo schaffen, mit dem die größenbedingten Probleme den Menschen über den Kopf wachsen" (Kohr 1983, S. 113). So erklärt der Autor auch die Konjunkturschwankungen. Sie treten vor allem in historischen Phasen auf, in denen die Gesellschaften übermäßig gewachsen sind. Sie können so als Fehlsteuerungen erklärt werden. Das große Problem der Gegenwart ist nach Meinung Kohrs die Frage des richtigen Maßes. Er fordert eine angemessene Gesellschaft. Er stellt in diesem Zusammenhang die Frage, wie eine optimale Größe für eine Gemeinschaft bestimmt werden kann und wie große Einheiten reduziert werden können. Kohr sieht eine Möglichkeit darin, daß lokale Selbständigkeiten gestärkt werden. „Um soziale Einheiten optimaler Größe herauszuschälen, scheint daher kaum mehr erforderlich zu sein als eine Stärkung der lokalen Selbständigkeit, indem man die Struktur der mehr und mehr zentralisierten Großmächte föderalisiert, und zwar auf Grund der alten aber noch immer bestehenden Grenzen der historischen Gebiete, aus denen sie entstanden sind" (Kohr 1983, S. 119). Das bedeutet auch die Rückführung der Macht auf die lokale Ebene. Der Autor entwickelt aus seiner These von der Übergröße noch eine weitere interessante Tendenz, die in modernen Gesellschaften anzutreffen ist. Neben dem inneren und äußeren Wachstum der Bevölkerung kann die Vermassung erhöht werden, indem sich die Mobilität -die 'Umlaufgeschwindigkeit'- erhöht. In der Regel nehmen in verdichteten Räumen die Bindungen des Menschen zu ihrer Umgebung eher ab. So ist oft auf dem Lande die Identifikation der Menschen mit den lokalen Gegebenheiten größer als in der Stadt. Diese Entwurzelung der Städter fuhrt in der Regel zu einer höheren Mobilität und damit zu einer Zunahme der Vermassung. Bessere Kommunikations- und Verkehrsmittel erhöhen die Beschleunigung und vermindern den kreativen Freiheitsspielraum des Einzelnen. „Weit davon entfernt, das Stauproblem der Übervölkerung abzuschwächen, sind technische Verbesserungen durch ihren Beschleunigungseffekt auf das Lebenstempo daher gerade der Grund, der zu seiner weiteren Verschlechterung beiträgt. Dazu kommt noch, daß verbesserte Verkehrs- und Kommunikationsmittel auch eine verbesserte Verfahrenstechnik nach sich ziehen, die auch ohne zahlenmäßigen Zuwachs die Druckmasse der Bevölkerung durch die sich nun ergebende gesellschaftliche und wirtschaftliche Integrierung noch um einen zweiten Grad vergrößert" (Kohr 1983, S.151). Der Autor schlägt gegen diese Tendenz vor, die Motive für den 'Pendlerverkehr' zu redu-

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zieren durch die Zielsetzung: Zu wohnen, wo man arbeitet und zu arbeiten, wo man wohnt. Kohr hat wichtige Anregungen gegeben, um über die Größe von Gemeinschaften intensiv nachzudenken. Aus seinen Äußerungen geht klar hervor, daß es eine optimale Größe nicht geben kann. Im Gegenteil: politische, kulturelle oder wirtschaftliche Gemeinschaften haben j e nach Problemlage auch unterschiedliche Größen. Auch müssen die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Räume nicht identisch sein. Das Verhältnis von Zentralismus und dezentralen Strukturen hat sich in den letzten Jahren unterschiedlich entwickelt. Nach dem Fall der Mauer haben sich die ehemaligen Ostblockstaaten in sehr hohem Maße dezentralisiert und sind selbständig geworden. Die westlichen Staaten sind durch die Europäische Gemeinschaft und die Wirtschafts- und Währungsunion eher einer Zentralismustendenz gefolgt. Großfusionen in der westlichen Wirtschaft haben den Trend zur Übergröße verstärkt (Daimler-Chrysler). Wobei auch sehr stark wieder über regionale Räume in Europa und die Prinzipien der Subsidiarität und Föderalismus nachgedacht wird. Insgesamt neigen allerdings Massenkonsumgesellschaften mit großtechnologischen Unternehmen zur Einschränkung der individuellen Freiheit und zur Gefahr, Massenmenschen herauszubilden, diese Gefahr wird durch den Autor gut aufgezeigt. Er stellt die Frage nach dem schönen und sinnvollen Leben: nach dem richtigen Maß, nach dem guten Geschmack. Subjektive Empfindungen und objektive Größen werden dabei feinsinnig miteinander verknüpft. Seine Thesen trägt er außerdem mit hintergründigem österreichischem Witz und schurkischer Fachargumentation vor. Man hat das Gefühl, daß die Länder des realen Sozialismus an ihrer Übergröße gescheitert sind und die westlichen Industriestaaten ebenfalls zu scheitern drohen, da sie in rasendem Tempo in den monetären Bürokratismus und die Vermassung des Menschen hineinschlittern und ihre vielgerühmte Freiheit und Kultur aufs Spiel setzen. Kohrs Sozialmorphologie (Ivan Illich) trennt dagegen -wohlweislich- strikt zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Der Sozialist denkt in seinem Verständnis vor allem an das gesellschaftliche Wohl, der Kapitalist -besser gesagt der Individualist- bezieht sich auf sein Gewissen und seine Verantwortung. Es wäre sinnvoll diesen Gegensatz theoretisch zu überbrücken. Dann wären Individualisten gefragt, die auch über einen Gemeinsinn verfugten. Ein entsprechendes Wirtschaftssystem für diesen Menschentypus wäre auszuarbeiten und zu begrün-

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den, einschließlich geeigneter Wolkenkratzer und optimaler Größen von Wirtschafts- und Lebensräumen. Im Leben und Werk von Leopold Kohr können wir bei der Bearbeitung dieser Fragen sicherlich eine Menge Anregungen erhalten, denn er war geistig ein österreichischer Kosmopolit und in seiner Wirtschaftsauffassung ein Regionalist. Allerdings ist auch Vorsicht geboten, da sich die Zeiten nach seinem Tode gerade in den letzten Jahren offensichtlich geändert haben. Trotzdem wird sein Aufschrei, über optimale Größen von Wirtschaftsräumen nachzudenken, noch sehr lange nachwirken, gerade in Zeiten, in denen sich die Weltwirtschaft als äußerst labil erweist oder einfach als vorausschauende Überlegung, als Sorge, den angemessenen Lebensunterhalt in Europa und in der Welt zu sichern bzw. zu ermöglichen. Geschmacks- und Urteilsbildungen erweisen sich dabei als unerläßlich.

7.2 Perspektiven des Wachstums Der ordnungspolitische Umbruch in den 60er Jahren in der Bundesrepublik war gekennzeichnet durch ein stärkeres wirtschaftspolitisches Engagement des Staates und damit verbunden einer zunehmenden Abkehr vom ordoliberalen Leitbild zugunsten keynesianischer Wirtschaftssteuerung. So wurde bei der Formulierung des Stabilitätsgesetzes, im Jahre 1967, die Sicherung der Vollbeschäftigung, das Erzielen eines Außenwirtschaftsgleichgewichts, einer moderaten Inflationsrate sowie eines stetigen Wachstums der Gesamtwirtschaft ein magisches Viereck postuliert, das den Staat in die ordnungspolitische Pflicht nahm. Das Wachstum der Volkswirtschaft sollte die materielle Lage stetig verbessern und für ausreichende Arbeitsplätze sorgen. Die Wirtschaft sollte etwa um drei bis fünf Prozent stetig anwachsen. In den 70er Jahren wurde diese Wachstumsphilosophie aus ökologischen Gründen sehr stark kritisiert. Die 'Grenzen des Wachstums' wurden aufgezeigt. Es wurde befurchtet, daß die Umwelt zu stark belastet wird, daß die natürlichen Ressourcen recht schnell weltweit aufgebraucht sein werden. Es wurden Forderungen nach einem qualitativen Wachstum oder nach einem Nullwachstum laut. Die Berechnung des Sozialproduktes durch die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung wurde grundlegend in Zweifel gezogen. Es wurde darauf hingewiesen, daß das Sozialprodukt keine aussagefähige Größe für den Wohlstand der Nation sei, da Umweltschäden entweder nicht berücksichtigt werden oder als

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eine Steigerung des Sozialproduktes verbucht werden. So senken beispielsweise auch Autounfälle nicht das Sozialprodukt, sondern erzeugen wirtschaftliche Aktivitäten -Reparaturen, Neukäufe-, die sogar das Sozialprodukt erhöhen. In den 80er Jahren kam neben der ökologischen Krise die Krise am Arbeitsmarkt verschärfend hinzu. Die hohe Arbeitslosigkeit wurde immer stärker zum Hauptmerkmal der deutschen wirtschaftlichen Entwicklung. Ein Ende dieses Prozesses ist bisher nicht in Sicht. Dies überrascht um so mehr, da beispielsweise 1970 nur 149000 Arbeitslose registriert wurden. Die Arbeitslosenquote betrug nur 0,7 % (vgl. Afheldt 1994, S.17). Diese Zahlen sind absolute Wunschvorstellungen bei über vier Millionen Arbeitslose im Jahre 1998 im vereinigten Deutschland. Die offizielle Politik und amtliche Wirtschaftsberatung änderte daraufhin zwar nicht de jure aber de facto das Stabilitätsgesetz und damit verbunden die Ziele der Wirtschaftspolitik. Außerdem wurde das Stabilitätsgesetz durch die Konvergenzkriterien von Maastricht zurückgedrängt. Es ergab sich folgendes Dilemma: Man hielt trotz massiver ökologischer Kritik aus arbeitsmarktpolitischen Gründen am Wachstum fest, man wußte aber auch, daß Wachstumsraten der 50er und 60er Jahre kaum noch zu erreichen seien. Also wurden die Ansprüche auf 2-3% pro Jahr reduziert. Man hielt zwar an der Vollbeschäftigungsmaxime des deutschen Stabilitätsgesetzes fest, schrieb diese aber nicht als europäisches Konvergenzkriterium in den Maastrichter Vertrag. Vielmehr wurde das magische Viereck in monetaristische Zielvorgaben stillschweigend umgewandelt: Verringerung der Staatsschulden, niedrige Zinsen und Inflationsraten sowie wirtschaftliches Wachstum. Durch die steigende Arbeitslosigkeit, eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik und boomende Industriebranchen wurden die Einkommens- und Vermögensverhältnisse in Deutschland massiv durcheinandergewirbelt. Die Verteilungsgerechtigkeit hat sich dabei wesentlich verschlechtert. Bis Ende der siebziger Jahre stiegen die Einkommen der abhängig Beschäftigten stetig und linear an. Doch Anfang der 80er Jahre brach das Wachstum ihres Einkommens ab. Seit 1980 sind die verfügbaren Nettoeinkommen je abhängig Beschäftigter praktisch nicht mehr gestiegen, obwohl das Sozialprodukt immerhin um 23% zunahm (vgl. Afheldt 1994, S.31). Das bedeutet, daß zu Beginn der 80er Jahre bis heute die Kluft zwischen arm und reich immer größer wird.

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Insgesamt läßt sich zur Annahme des Stabilitätsgesetzes aus dem Jahre 1967 sagen, daß die Erwartungen eines stetigen Wachstums von 3-5% aus ökologischen, aus realwirtschaftlichen und aus statistischen Gründen unrealistisch waren. Ökologisch gesehen, bedeutet dies eine Verschlechterung der Umwelt, realwirtschaftlich betrachtet wurde diese Zielsetzung in den letzten Jahren nicht mehr erreicht, da die Produktivitätssteigerungen sehr hoch waren und eine Entkoppelung von Wachstum und Arbeit eintrat, d.h. technologische Arbeitslosigkeit aufgetreten ist. Statistisch gesehen wird es ebenfalls immer schwieriger hohe Wachstumsraten zu erzielen, da sich die absolute Höhe des Sozialprodukts auf einem sehr hohen Niveau befindet und Zuwächse immer aufwendiger werden. Die Hauptargumente gegen die Wachstumseuphorie sind ökologischer Natur, das hohe Niveau der Produktivität und der Wegfall von Arbeitsplätzen. „Waren 1960 noch 56,1 Mrd. Arbeitsstunden notwendig, um ein Bruttoinlandsprodukt von einer Billion DM zu erwirtschaften, wurde 1997 in Westdeutschland mit nur noch knapp 44 Mrd. Arbeitsstunden ein Bruttoinlandsprodukt von über 2,8 Billionen DM produziert (in Preisen von 1991). Mit nur noch 80 vH Arbeitsstunden wurde also ein fast dreifacher realer Produktionswert geschaffen" (Memorandum '98, S.150). Durch die steigende Produktivität wird es aber immer teurer einen Arbeitsplatz zu schaffen, es wird ein immer höheres Wirtschaftswachstum benötigt, um alle Arbeitslosen zu beschäftigen. „Hätte man beispielsweise unter den gegenwärtigen gesamtdeutschen Produktivitätsbedingungen allein die 1997 durchschnittlich rund 4,4 Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen in Lohn und Brot bringen wollen, wäre ein zusätzliches Bruttoinlandsprodukt von rund 400 Mrd. DM bzw. ein Wachstum des 1997er Bruttoinlandsprodukts um 13 vH nötig gewesen" (Memorandum '98, S.150f). Insgesamt ist die Arbeitsproduktivität in der Bundesrepublik wesentlich stärker gestiegen als das Sozialprodukt, das hat seine Ursachen in der Erhöhung der Kapitalintensität. Der Kapitalaufwand pro Arbeitsplatz hat sich seit den 60er Jahren deutlich erhöht und die Wachstumsraten liegen deutlich über denen des Sozialproduktes. „So zehren seit 1960 die Aufwendungen für Arbeitsplätze zwangsläufig einen immer größeren Anteil am Erwirtschafteten auf, wenn man die Arbeitsplätze auf dem gleichen Produktivitätsniveau halten will" (Afheldt 1994, S.43). Weiterhin führt der eben zitierte Autor folgende Beispiele an: „So betrug 1976 der Preis der Produktionsanlagen in der lederverarbeitenden Industrie noch rund 20000 DM pro Arbeitsplatz, während er bei der

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Erdöl- und Gasgewinnung schon bei 760000 DM lag. 1990 lag die Kapitalintensität zwischen 1,5 Millionen DM je Arbeitsplatz bei der Energieversorgung und 39000 DM im Baugewerbe" (Afheldt 1994, S.43). Sie nimmt gerade bei automatisierten Arbeitsplätzen enorm zu. Die Unternehmen müssen immer mehr investieren um einen Arbeitsplatz zu schaffen. Hohe Investitionen bringen also nicht automatisch auch hohe Beschäftigung. Es kann auch das Gegenteil auftreten. Die Unternehmen befinden sich in einem weiteren Dilemma: die Investitionen sind oft nicht vom Erfolg begleitet, da der Markt aus Wettbewerbsgründen oft Preissenkungen erzwingt. Dies ist klar zu sehen in der Computerindustrie (vgl. Afheldt 1994, S.44f). Die Entwicklung dieses Produktes ist sehr teuer und die Preise sind rapide am sinken, so daß nur wenige transnationale Konzerne Gewinne verwirklichen. Die Verteuerung der Investitionen in Arbeitsplätze setzt höhere Gewinne voraus, das geht nur bei einer adäquaten Preispolitik. Oft war in der letzten Zeit der Wertpapierkauf für die Konzerne rentabler als produktive Investitionen, so daß zahlreiche Firmen sich bei Finanzspekulationen beteiligten. Verwendeten die Unternehmen noch in den 60er Jahren 60% des Gewinns für produktive Investitionen, waren es schon in den 70er Jahren nur noch 23%. Siemens beispielsweise erwirtschaftete 1991/ 1992 58% seiner Gewinne aus Zinseinnahmen (vgl. Afheldt 1994, S. 46f). Die Bedeutung des Lohnes nimmt außerdem in der Produktion ab, da die Kosten für Maschinen überproportional zunehmen. Afheldt (1994, S.50) erläutert dies an folgendem Beispiel: Nehmen wir einmal an, eine Fabrik habe 1990 mit 20 Millionen DM Kapitaleinsatz und 1000 Arbeitern produziert. Ihr Jahresgewinn habe 15% des eingesetzten Kapitals betragen, also 3 Millionen DM. Der Anteil der Lohn- und Lohnnebenkosten habe 50 Millionen DM betragen. Nun rationalisiert die Firma drastisch. Jetzt produziert sie mit 200 Millionen DM Kapitaleinsatz und mit 200 Arbeitern. Die Ausgaben für Lohn- und Lohnnebenkosten sinken auf 10 Millionen DM. Ihre Rendite von 15% kann sie durch die ersparten Lohn- und Lohnnebenkosten trotz Preissenkungen halten, denn der Gewinn beträgt 30 Millionen DM. Die heute u.a. von Horst Afheldt und vom Memorandum '98 aufgezeigte Produktivitätsproblematik hat sich Keynes schon in den dreißiger Jahren vor Augen geführt und vor allem kulturphilosophisch durchdacht. In seinem Aufsatz vom Jahre 1930 „Wirtschaftliche Möglichkei-

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ten für unsere Enkelkinder" denkt er über den Tag hinaus und fragt nach den wirtschaftlichen Bedingungen in hundert Jahren. Er stellt dabei fest, daß seit Beginn des 18. Jahrhunderts eine -bisher nie gekannterasante wirtschaftliche Entwicklung durch technische Neuerungen eingesetzt hat. Diese rasche Veränderung bringt aber auch neue gesellschaftliche Krankheiten mit sich: vor allem die technologische Arbeitslosigkeit. Das heißt für Keynes, daß die Mittel zur Ersparung von Arbeit schneller voranschreiten, als die Fähigkeit, neue Verwendung für die Arbeit zu finden. Keynes hält dieses Problem aber prinzipiell für lösbar. „Auf lange Sicht bedeutet all dieses, daß die Menschheit dabei ist, ihre wirtschaftliche Aufgabe zu lösen. Ich möchte voraussagen, daß die Lebenshaltung der fortschrittlichen Länder in hundert Jahren vierbis achtmal so hoch sein wird, als sie heute ist. Selbst im Lichte unseres heutigen Wissens hätte dies nichts Überraschendes. Es wäre aber auch nicht unsinnig, einen noch viel rascheren Fortschritt für möglich zu halten" (Keynes 1930, S.308). Mit dem Wohlstand steigen aber auch die menschlichen Bedürfnisse. Diese zerfallen nach Keynes in zwei Klassen: Bedürfnisse, die unbedingter Art sind und Bedürfnisse, die uns über andere Menschen erheben. Während die zweite Kategorie von Bedürfnissen unersättlich sind, werden die unbedingten Bedürfnisse relativ schnell befriedigt sein. Unter der Annahme, daß keine wichtigen Kriege und keine erhebliche Vermehrung stattfinden, kommt Keynes zu dem Ergebnis, daß in hundert Jahren die Lösung der wirtschaftlichen Probleme in Sicht ist. „Sie mögen fragen, warum ist das so aufregend? Es ist aufregend, weil wir finden -wenn wir in die Vergangenheit statt in die Zukunft blicken-, daß die wirtschaftliche Aufgabe, der Kampf um die Erhaltung, bisher immer die allererste und höchst dringliche Aufgabe der menschlichen Rasse war, ja, nicht nur der menschlichen Rasse, sondern des gesamten Königreichs des Lebendigen, von den Anfangen des Lebens in seinen niedrigsten Formen. Wir sind also -mit all unseren Beweggründen und tiefsten Trieben- von der Natur ausdrücklich zu dem Zweck entwickelt, unsere wirtschaftliche Aufgabe lösen zu können. Wenn die wirtschaftliche Aufgabe gelöst ist, wird die Menschheit eines ihrer herkömmlichen Zwecke beraubt sein" (Keynes 1930, S.309). Keynes begreift diese Perspektive nicht nur als eine Wohltat, denn die Menschen müssen sich nun zum ersten Mal in der Weltgeschichte radikal umstellen. Nur diejenigen Völker, die die Kunst des Lebens in

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sich lebendig halten und die nicht ihr Selbst an die Mittel des Lebens verkaufen, werden fähig, den kommenden Überfluß zu genießen. Kein Land und kein Volk ist auf dieses Zeitalter der Muße richtig vorbereitet, da der alte Adam sehr mächtig ist und es auch eine lange Zeit bleiben wird. „Eine Drei-Stunden-Schicht oder eine Fünfzehn-Stunden-Woche kann die Aufgabe noch eine Weile hinausschieben. Für die meisten von uns sind drei Stunden am Tag ganz genug, um den alten Adam in uns zufriedenzustellen" (Keynes 1930, S.310). Der neue Zustand bietet für ihn die Möglichkeit der Verbesserung des Menschen und der Erneuerung seiner Sittengesetze. Wir lernen wieder zwischen Zweckhafitigkeit und Freiheit zu unterscheiden. „Ich sehe also für uns die Freiheit, zu einigen der sichersten und gewissesten Grundsätze der Religion und herkömmlichen Tugend zurückzukehren: daß Geiz ein Laster ist, das Verlangen von Wucherzinsen ein Vergehen, die Liebe zum Geld verächtlich, und daß diejenigen, die sich am wenigsten um das Morgen sorgen, am wahrsten in den Pfaden der Tugend und maßvoller Weisheit wandeln. Wir werden die Zwecke wieder höher werten als die Mittel, und werden das Gute dem Nützlichen vorziehen. Wir werden wieder diejenigen ehren, die uns lehren, wie der Stunde und dem Tag tugendhaft und gut gerecht zu werden, jene köstlichen Menschen, die zu einem unmittelbaren Genuß der Dinge fähig sind, die Lilien des Feldes, die sich nicht mühen und die nicht spinnen" (Keynes 1930, S.311). Der neue Zustand kann für ihn nur durch ein vernünftiges Schrittmaß erreicht werden, das von folgenden vier Faktoren abhängig ist: •

der Fähigkeit, das Bevölkerungswachstum zu überwachen,



der Entschlossenheit, innere und äußere Kriege zu vermeiden,



der Bereitschaft, die Wissenschaft auf ihre eigentlichen Gebiete zu lenken,



der Möglichkeit, soviel Kapital anzusammeln, um die Spanne zwischen Erzeugung und Verbrauch zu regeln.

Die vierte Bedingung ist für Keynes um so lösbarer, je besser die ersten drei Faktoren gelöst sind. Die wirtschaftlichen Bedingungen dürfen insgesamt nicht überschätzt werden, sie sollen den Fachleuten übertragen werden. „Sie sollte eine Sache für Fachleute werden, wie Zahnheilkunde. Wie herrlich würde es sein, wenn Volkswirtschaftler es dahin

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bringen würden, daß man sie mit so bescheidenen, sachkundigen Leuten wie Zahnärzte a u f eine Stufe stellt" (Keynes 1930, S . 3 1 2 ) . Der heute vorwiegende Teil der Fachleute kann mit der Anregung von Keynes, die Kunst des Lebens und die Muße in den Vordergrund zu rücken, nichts anfangen, da sie ihren Blick ausschließlich a u f rein ökonomisch-statistische Entwicklungen lenken. Sie setzen a u f die Liberalisierung der Wirtschaft, a u f Wachstum und Innovationen zur Sicherung von Arbeitsplätzen und a u f die Ausdehnung des Dienstleistungssektors. Wegen der enormen Produktivitätsfortschritte in der Industrie setzt man aus arbeitsmarktpolitischen Gründen vor allem auf diesen Sektor, da er meist sehr arbeitsintensiv ist. Der Weg in die Informations- und Dienstleistungsgesellschaft ist aber auch mit harten Steinen gepflastert. E s muß bezweifelt werden, daß der Dienstleistungsbereich genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stellen kann. Denn in der Bundesrepublik hängt der Großteil der Dienstleistungen mit der Produktion zusammen. Reduzieren sich aber wie in der Vergangenheit ganze Industriebranchen, fallen auch die entsprechenden Dienstleistungen weg. S o hat beispielsweise der Niedergang des deutschen Schiffbaus (Konkurse der A G W e ser und des Bremer Vulkan) in den letzten fünfzehn Jahren auch qualifizierte Dienstleistungen in diesem Bereich verhindert. Außerdem ist auch dieser Bereich sehr stark von Rationalisierungen betroffen: „Gerade routinemäßige Dienstleistungen, die in großer Zahl tagtäglich wiederholt werden und heute viel Personal benötigen, lassen sich meist hervorragend automatisieren" (Afheldt 1994, S . 1 0 2 ) . Diese Effekte gelten auch für Finanzdienstleistungen und Banken. Selbst wenn es einen ungeheuren Existenzgründerboom im Gesundheitswesen, im Kulturbereich, in der Informationstechnologie geben würde, wäre es sehr schwierig vom Gesamtvolumen her Massenarbeitsplätze wie in der Industrie zu schaffen. Aus den Ausführungen sollte deutlich werden, daß es immer notwendiger wird, nicht nur über die keynesianische Kunst des Lebens immer wieder neu nachzudenken, sondern vor allem über die Quantität und Qualität des technischen Fortschritts. Die quantitativen Probleme konnten dabei noch relativ genau beschrieben werden. Die Qualität der technischen Entwicklung ist damit noch nicht thematisiert, sie ist aber ebenfalls entscheidend für die ökonomische und soziale Entwicklung.

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7.3 Ist die Gesamtwirtschaft berechenbar ? Das Konzept des anglo-amerikanischen Wirtschaftsmodells ist zunächst einfacher Natur. Es basiert auf liberalistischen Prinzipien und fordert die Globalisierung der Wirtschaft anzunehmen, die Unternehmenssteuer zu senken, den Staat zu reduzieren, die Zinsen und die Inflation möglichst gering zu halten und vor allem die technologischen Innovationen zu beschleunigen. Auch das Gegenkonzept -das Rheinmodell- ist ebenfalls anfänglich schlichter Natur. Es basiert auf liberalen und sozialstaatlichen Prinzipien und fordert zwar eine Wettbewerbsordnung als Grundtatsache der Wirtschaft, betont aber auch das Versagen des Marktprinzips und eine starke Verantwortung des Staates für das wirtschaftliche Geschehen. Die Gesamtnachfrage soll staatlich beeinflußt werden, die Unternehmenssteuer nur begrenzt gesenkt und die Vollbeschäftigung als staatliches Ziel soll besonders hervorgehoben werden. Obwohl über das anglo-amerikanische Modell und über das Rheinmodell heftig und kontrovers sowie polemisch diskutiert wird, gibt es eine Reihe von Übereinstimmungen der beiden Positionen. Obwohl die beiden Konzepte sehr stark in philosophischen und ethischen Fragen wurzeln, in der Freiheitsphilosophie des Liberalismus bzw. in der Gleichheitsphilosophie der Sozialstaatstheorie, nehmen diese geistigen Wurzeln und Prinzipien immer stärker ab zugunsten von eher sozialtechnologischen Begründungen. Die Freiheit des Individuums wird eher instrumentell gedacht, der Staat gruppenegoistisch interpretiert, die Wirtschaft als stotternde Wohlstandsmaschine betrachtet. Man glaubt den Reichtum der ganzen Volkswirtschaft in einer simplen Zahl präzise ausdrücken zu können, man veröffentlicht Wachstumsraten des Sozialproduktes und vermittelt dabei wissenschaftliche Genauigkeit. Dies gilt ebenso für Steuerschätzungen, Konjunkturprognosen, Perspektiven für die Arbeitsplätze und die Entwicklung der öffentlichen Haushalte. Aber trotz aller wissenschaftlicher Bemühungen beim Ausbau der amtlichen Statistik -der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung- ist es bisher nicht gelungen, die vorgespielte Genauigkeit einzulösen. Dafür sind die Fehlerquellen bei hochaggregierten Größen viel zu hoch und das prinzipielle Meßproblem von Qualitäten generell unlösbar. Dieses einfache Eingeständnis fehlt zunehmend in der wissenschaftlichen und politischen Debatte. Ein

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Grund für die Überforderung der Statistik liegt u.a. in der Flexibilität des wirtschaftlichen Geschehens, in der Existenz von außenwirtschaftlichen Faktoren, in der Vielschichtigkeit des Verhaltens der Wirtschaftssubjekte. Die Berechenbarkeit von makroökonomischen Größen umfaßt folgende Problemfelder:

Berechenbarkeit ? •

Fehlerquote



Externe Effekte



Individuelle Fehler



Preisverzerrungen



Raumabgrenzungen



Phasenverschiebungen Bild 11

Allgemein läßt sich sagen, daß die quantitative Berechenbarkeit der Gegenwart und die Prognosen für die Zukunft, gerade auf gesamtwirtschaftlicher Ebene, meist überschätzt werden. Demgegenüber ist die Wirtschaft vielmehr ein offenes System, das eher auf lokaler, regionaler und branchenmäßiger Ebene verläßliche Daten liefert, die allerdings von erfahrenen Experten qualitativ ergänzt und dann interpretiert werden müssen. Es herrscht zunehmend in der Politik die Tendenz vor, mit Hilfe eines Taschenrechners makroökonomische Daten zu verändern und dann salbungsvoll konkrete wirtschaftliche Fortschritte vorherzusagen. So bringt beispielsweise eine angebliche Senkung der Mehrwertsteuer soundso viele tausend Arbeitsplätze, oder eine Zinssenkung von einem Prozent soundso viele Investitionen. Dabei wird bewußt oder unbewußt unterschlagen, daß diese Aussagen nur in einfachen sehr eingeschränkten mathematischen Modellen gemacht werden können, die mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun haben, weil dort ganz andere Komplexitäten vorzufinden sind. Warum sich immer mehr -vor allem Politiker- an diesen unfruchtbaren Zahlenspielen beteiligen, müßte eigens untersucht werden. Die hier entwickelte Kritik läßt sich auch auf die Zielfindung anwenden. Die Ziele der Wirtschaftspolitik wie niedrige Zinsen, angemessenes Wachstum werden einfach operationalisiert und in Zahlen ausgedrückt und in die eine Richtung als positiv und in die andere Richtung als ne-

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gativ gewertet. So wird beispielsweise niedriges W a c h s t u m als negativ und hohes W a c h s t u m als positiv gesehen. Diese Definitionen sind deswegen problematisch, da die Widersprüchlichkeit und die Polarität der Zielsetzung durch die Operationalisierung schematisiert wird. W a c h s tum kann nämlich gut und/oder schädlich sein, j e nach Perspektive. Somit werden Schemen der Wirklichkeit meist nicht gerecht, da sie zu starr und schwerfallig sind. So wäre beispielsweise eher f ü r den Wirtschaftsprozeß sinnvoll die Zielsetzung zu formulieren, die Polarität von Produktion und Konsumtion in ein Gleichgewicht zu bringen. Ob man eine solche Zielsetzung gesamtgesellschaftlich vorgeben sollte, müßte ebenfalls eingehend geprüft werden, auf jeden Fall ist sie f ü r eine einzelne Branche sinnvoll. So sind bei tiefergehender Betrachtung auch Ziele denkbar, die eher widersprüchlichen Metaphern wie der ' a u f b a u e n d e Verbrauch' oder das 'ungute G u t e ' entsprechen. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat bekanntermaßen diese dialektische Denkweise auf die Spitze getrieben. Für ihn gibt es nur den Herrn, weil es auch den Knecht gibt. Und der Dichter Botho Strauß fragt sich: „Ich weiß gar nicht, wie m a n ' s anders machen soll, als Markt und Gegenmarkt in sich selber zu vereinigen" (Brief vom 28.3.93). Eine assoziative, dialektische oder polare Zielbestimmung trifft häufig eher den wirtschaftlichen Prozeß, als eine übertriebene Operationalisierung und Quantifizierung, die insbesondere vom Philosophen Sir Karl Popper in die Diskussion eingebracht wurde und sich festgesetzt, verhärtet und verflacht hat. Außerdem wird durch eine widersprüchliche, offene Zielbestimmung die notwendige Wertediskussion unmittelbar sichtbar und nicht durch 'Sachneutralität' verschleiert, denn die Ziele ökonomischen Handelns sind immer auch allgemeine, wertgebundene Ziele des Menschseins. Ökonomie ist an sich kein Ziel, allenfalls ein partielles Mittel f ü r menschliche, freibestimmte und konkurrierende Ziele. Das ökonomische Ziel der Wirtschaftlichkeit hat bekanntermaßen seine Wurzeln im mittelalterlichen Gottesbeweis. Damals galt es als verwerflich, die Existenzgründe für die Existenz Gottes unnötig zu vermehren, da man von der Absolutheit Gottes ausging. ' E s ist sinnlos, f ü r das, was mit weniger bewirkt werden kann, mehr aufzuwenden'. Z u m Menschsein gehören positive Ziele, Ideen und die Bestimmung dieser Ziele durch die Menschen selber. Innere und äußere Autonomie, Empathie f ü r Mensch und Natur sind Voraussetzungen. Es geht nicht nur um eine formale oder rein finanzielle Freiheit. Es geht um die Möglichkeiten, eigene Potentiale zu finden und frei zu entwickeln. Dabei ist das Indivi-

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duum frei und bedingt zugleich. In diesem Sinne könnten die Freiheiten des anglo-amerikanischen- und des Rheinmodells -wie Konsumentensouveränität und Produzentensouveränität- als Übungsfelder für die eigentliche Freiheit des Menschen -die Erkenntnisfreiheit- angesehen werden. Erkenntnisfreiheit beinhaltet, daß jeder Mensch aufgrund seines allseitigen Wahrnehmens und klaren Denkens potentiell wissenschaftsfahig ist. Um Ziele zu verwirklichen braucht man Instrumente. Die wichtigsten Instrumente sind Vertrauen und das Engagement der Beteiligten. Diese Instrumente werden von der ökonomischen Theorie kaum beachtet und entwickelt, statt dessen setzt man eher auf ökonomische Anreize und Druckmittel, rechtliche Verordnungen und politische Appelle. Dabei erhalten die makroökonomischen Vorgänge wie Sparen, Investieren, Anbieten, Nachfragen, die nur fiktiv und sehr ungenau statistisch abbildbar sind, eine Art Eigenleben, womit unmerklich eine eher symbolische (mythologische) Vorstellung an die Stelle der präzisen tritt (Gefahr des Anthropomorphismus). Diese Zusammenhänge werden dann noch interessanter gemacht, wenn sie mit astronomischen, unvorstellbaren Zahlen und Geldeinheiten aufgeladen werden, denen man eine hohe Zirkulationsgeschwindigkeit unterstellt, die dann in den Medien als Sensationen ausgebreitet werden. Es besteht somit zunehmend die Gefahr, daß sowohl die Vertreter des anglo-amerikanischen Wirtschaftsmodells als auch die Verfechter des Rheinmodells der Faszination einer Quantomanie ungewollt die Basis liefern. Damit sei auch gemeint, daß die Wirtschaft in der Öffentlichkeit -innerhalb zweier Konzepte- als immer machbarer und manipulierbarer betrachtet wird und damit verbunden gesamtgesellschaftlich als steuerbar begriffen wird. Fehler, Irrationalitäten, Sprünge und Überraschungen werden eher ausgeblendet oder allenfalls als statistische Veränderungen verstanden. Dem Glauben an die Berechenbarkeit der Wirtschaft folgt ein Glaube an die Berechenbarkeit des Menschen. Gleichzeitig wird eigenartigerweise der wirtschaftliche Prozeß aber auch als unverständliche, bewegliche Finanzsimulation dargestellt, der nur von absoluten Experten durchschaubar sein soll und mit Hilfe eines Taschenrechners angeblich von der Politik in Schwung gebracht bzw. sozial gerecht gestaltet werden kann. Geht man nicht von makroökonomisch ungesicherten Größen aus, wird es sinnvoll, auf die Klein- und Mittelbetriebe und auf die Existenz-

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gründer zu schauen Auch von dieser Seite gingen in den letzten Jahren wichtige ordnungspolitsche Erneuerungsimpulse aus. Ob diese verallgemeinerungsfahig sind, soll im folgenden Kapitel untersucht werden. Literatur Afheldt, Horst: Wohlstand für niemand? Die Marktwirtschaft entläßt ihre Kinder, München 1994 Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 1998. Bewegung in Europa, Blockade in Deutschland - Kurswechsel f ü r Beschäftigung, Köln 1998 Illich, Ivan: Entschulung der Gesellschaft, München 1972 Illich, Ivan: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, Reinbek 1975 Illich, Ivan: Die Nemesis der Medizin, Reinbek 1978 Keynes, John Maynard: Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder, (1930), zitiert nach: Günter Schmölders, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, 5. Aufl., Hamburg 1970, S.304-312 Kohr, Leopold. Weniger Staat. Gegen die Übergriffe der Obrigkeit, Düsseldorf/Wien 1965 Kohr, Leopold: Die Überentwickelten Nationen, Salzburg 1983 Kohr, Leopold: Das Ende der Großen. Zurück zum menschlichen Maß, Wien 1986 Reuter, Norbert: Zwischen Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität. Wirtschaftspolitische Leitbilder zwischen Gestern und Morgen, Marburg 1998 Schumacher, E.F.: Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen f ü r Wirtschaft und Technik. 'Small is beautifuP, Reinbek 1977

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8. Reichtum von unten ? 8.1 C h a n c e n für die Kleinen Unter dem Titel „Reichtum von unten" haben die beiden Berliner Professoren Günter Faltin und Jürgen Zimmer eine weltwirtschaftliche Analyse vorgelegt, die die aktuelle großindustrielle, bürokratische Wirtschaftsweise radikal in Frage stellt und für einen echten Wettbewerb kleiner und mittlerer Betriebe a u f Weltebene plädiert. Aufgrund eigener Anschauungen verfügen die Autoren über gute Kenntnisse einzelner Alternativprojekte in Lateinamerika, Asien und Afrika. Außerdem war Günter Faltin 1985 Begründer des Unternehmens „Projektwerkstatt" mit der Idee der „Teekampagne". Man kann sogar sagen, daß dieses Projekt quasi ein Modellfall für die Autoren ist, der a u f die Weltwirtschaft übertragen wird. Seit 1985 vertreibt die Teekampagne nur eine Sorte ökologischen T e e s in großen Portionen -Ein-Kilo Packung- zu günstigen Preisen. Die Teekampagne verkauft von Anbeginn an reinen Darjeeling und nicht wie üblich gestreckten Tee. Dies nütze den indischen Produzenten und den deutschen Verbrauchern. Wird der Tee nicht gestreckt, ist die produzierte Menge bescheiden und damit der Preis relativ hoch und es können bessere Löhne bezahlt werden. Ist der Tee nicht chemisiert, fördert er die Gesundheit des Verbrauchers. Obwohl der Produktionspreis durch höhere Löhne steigt, wird der T e e durch die unübliche Ein-Kilo Packung billiger verkauft als bisher üblich. Das Projekt ist an der Freien Universität Berlin entstanden, in ihm sollten Studenten die Chance erhalten, in Ernstsituationen zu lernen. 1996 hat der Betrieb 14 feste Mitarbeiter und weitere Teilzeitbeschäftigte. Die Teekampagne hat zu Beginn im Jahre 1985 3,5 Tonnen Tee verkauft, 1995 waren es 3 4 0 Tonnen, und es hätten noch mehr sein können. Heute ist die Teekampagne das größte Tee-Versandhaus Deutschlands. Ein Teil der Gewinne wird in Indien investiert, um ökologische Schäden zu beseitigen und damit die zukünftige Teeproduktion zu sichern. W i e läßt sich der Erfolg der Teekampagne wissenschaftlich interpretieren? Am Anfang stand eine unkonventionelle Idee, ökologischen Tee in großen Verpackungen zu günstigen Preisen anzubieten. Diese grundsätzliche Idee ist nicht neu. Sie wurde bereits vorgeführt von Gottlieb Duttweiler bei der Gründung der Schweizer Handelskette Migros. Diese

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Idee stand auch explizit bei der Teekampagne Pate. Duttweiler verkaufte wenige Produkte in großen Mengen ohne großartige Verpackungen. Der anonyme Verbraucher wurde bei Duttweiler und der Teekampagne durch Informationen zu einem zukünftigen Partner, der nicht nur am ökonomischen Produkt interessiert ist, sondern auch über gemeinsame Ideen und Überzeugungen einen Handel eingeht und sein Kaufverhalten nicht für die Vergangenheit, sondern für die Zukunft festlegt. Die gemeinsamen Ideen von Händler und Verbraucher bei der Teekampagne waren ein gerechter Handel, ökologische Produkte, keine Ausbeutung von Mensch und Natur in Indien, das Produkt selbst. Kreislauftheoretisch gedacht bildeten sich dabei drei Ströme heraus: ein Güterstrom, ein Geldstrom und ein Ideenstrom. Damit stellte sich das Projekt theoretisch und praktisch gegen die herrschende Wirtschaftsweise, da diese vor allem den Güter- und Geldstrom betont und den Ideenstrom immer mehr vernachlässigt, j a sogar stolz darauf ist, daß der Ideenstrom keine Rolle mehr spielen soll. Denn der Handel soll j a nach herrschender Vorstellung nicht a u f der Sympathie oder der Weltanschauung der Tauschpartner beruhen, sondern auf der Vernunft und dem damit bestimmten ökonomischen Nutzen, a u f dem jeweiligen Vorteil der Tauschpartner also. Der Nachteil des Projektes liegt vielleicht darin, daß nur ein Produkt vertrieben wird und nur dadurch wesentliche K o stenvorteile entstehen. Ausgehend von diesem in der Praxis bewährten Modell kritisieren die Autoren die herrschende Wirtschaftspraxis und plädieren für die Chancen der „Kleinen". Der Staat solle nicht die Unternehmen behindern oder selbst Betriebe betreiben, sondern nur weitsichtige soziale und ökologische Rahmenbedingungen setzen. Auch sollten die staatlichen Subventionen entfallen, da sie den Wettbewerb verzerrten. Die europäische Wirtschaft sei eine Festung mit hohen Löhnen, hohen Abschottungen und einer bürokratischen Schwerfälligkeit. In der Dritten Welt könnten die Waren genauso gut, aber viel billiger hergestellt werden. Europa könnte sich nur durch eine Abschottungspolitik wehren, diese sei aber a u f Dauer nicht haltbar und es drohe der wirtschaftliche Niedergang Europas. Die niedrigen Löhne in der Dritten Welt werden zur entscheidenden Waffe gegen die Industrienationen mit ihren hohen Löhnen.

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Die Autoren sehen diese Situation aber auch als eine Chance für Europa, wenn der Markt richtig zur Geltung käme. Kleine und effiziente Unternehmen -die ökologisch arbeiten- sollen aufgebaut werden und sich am Markt behaupten können. Die Ökonomie verlange geradezu nach Ökologie, da die Ressourcen die Basis der Wirtschaft bilden und nicht verschleudert werden dürfen. Faltin/Zimmer kritisieren den Markt allerdings dann, wenn er eine Spirale steigender Erwartungen verursacht und immer neue künstliche Bedürfnisse weckt. „An diesem Punkt driften Ökonomie und Ökologie auseinander, schlägt der rationelle Umgang mit Ressourcen in ihre Überforderung um, solange, bis Konsumwünsche -und hier ist ein politisch gesetzter Handlungsrahmen vonnöten- auf ein ökologisch verträgliches Maß zurückgeschraubt werden" (Faltin 1996, S.109). Die Wirtschaft brauche sozial engagierte und umweltbewußte Unternehmer, da sonst die Basis der Wirtschaft durch Raubbau an Mensch und Natur untergraben werde. Querdenker und Künstler seien als Unternehmer gefragt. Sie sollen durch neue Ideen und Visionen Produkte entwickeln und Märkte erschließen im Sinne und im Dialog mit dem Verbraucher, wobei gerechte Preise bezahlt werden sollen, die eine Subventionspolitik durch den Staat überflüssig werden lassen. Nicht europäische Hochlöhne sollen bezahlt werden, sondern die Niedriglöhne der Dritten Welt sollen angehoben werden und weltweite Verbreitung erfahren. Die Autoren sehen nicht nur die Teekampagne aus Berlin als gelungenes Vorbild, sondern fuhren vor allem Initiativen aus der ganzen Welt an, bei denen vor allem Schulen zusammen mit ihren Schülern Betriebe gründen, um Waren zu produzieren oder Dienstleistungen anzubieten. Beispiele aus Brasilien, Thailand, Nigeria sollen belegen, daß Reichtum von unten möglich ist. So wird von einer Initiative in Brasilien berichtet, die Teppiche und Wandbehänge knüpfen und Möbel produzieren. „Aus der kleinen Initiative ist ein mittleres Unternehmen geworden, philantropisch, mit hoher Professionalität. 350 Menschen von elf bis neunzig Jahren arbeiten dort, und 1000 weitere Nachbarn bekommen kostenlos zweimal täglich zu essen. Die Käufer müssen mit viermonatigen Wartezeiten rechnen. Und jeder, der sein Produkt abholen will, weiß, daß er vorher eine Stunde durch den Betrieb geschickt wird, um mit den kleinen und großen Arbeitern zu sprechen, was sie sich bei der Konzeption und Herstellung gedacht haben" (Faltin 1996, S. 136).

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Hier soll nun die Frage gestellt werden, ob die Autoren ein wissenschaftlich begründetes Konzept erkennen lassen? Zunächst muß festgestellt werden, daß sie vor allem populärwissenschaftlich argumentieren und ihre Argumente lediglich durch einzelne Fallbeispiele belegen, wobei die Beispiele aus der ganzen Welt genommen werden, unabhängig von der jeweiligen ökonomischen und kulturellen Entwicklung des jeweiligen Landes. Trotzdem ist die Argumentation stringent. Sie läßt sich, positiv betrachtet, zusammenfassen als eine neue Mischung von Argumenten aus Marktradikalismen, Ökologieinteressen und DritterWelt-Positionen; eine bunte postmoderne Mischung, die bisher in der Diskussion gefehlt hat. Negativ gesprochen kann man die Argumente klassifizieren als eine Mischung aus Vorurteilen gegenüber hohen Löhnen und staatlicher Sozialpolitik, einer Verherrlichung des Marktes und der Geringschätzung der europäischen Kultur und Ökonomie. Faltin/Zimmer argumentieren bei der Betrachtung der hohen Löhne und Subventionen in Europa genau wie die liberalen Globalisierungsvertreter: sie seien zu hoch. Diese Argumentation übersieht allerdings die Problematik, daß die Löhne, Produktionspreise und Subventionen zunächst nicht weltweit zu vergleichen sind. D a diese Daten aus vollkommen verschiedenen wirtschaftlichen und kulturellen Gebieten entstammen und damit verschiedene ökonomische und kulturelle Leistungen verkörpern; außerdem müssen über diese Preise die Gesamtwirtschaft und die Kultur eines Landes bezahlt werden. Wir haben zwar seit etwa einhundert Jahren eine weltwirtschaftliche Entwicklung, diese beruht aber a u f Hauswirtschaften, Binnenmärkten und Volkswirtschaften mit einem jahrzehntelangen kontinuierlichen Aufbau, und dies wird im Kern so bleiben. Dies um so mehr, da die Dritte Welt vielfach diese Entwicklung noch nachvollziehen will, oder viel zu schnell a u f Weltmarktebene katapultiert wird. Sollten allerdings die regionalen Binnenmärkte in ihrer Bedeutung radikal abnehmen, wäre dies ökonomisch und ökologisch nicht mehr vertretbar und die Voraussetzung für den Weltmarkt würde entfallen. Die Autoren formulieren aber auch eine gute Ergänzung zur bisherigen liberalen Globalisierungsdiskussion, die vor allem a u f die Großindustrie und die Finanzmärkte das Augenmerk lenkt und mit marktradikalen Argumenten die europäischen Volkswirtschaften attackiert und eine Reduzierung der Löhne und der staatlichen Sozialpolitik fordert. Demgegenüber fordern Faltin/Zimmer eine neue Wettbewerbsordnung

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mit einem staatlichen Rahmen, der soziale und ökologische Mindestnormen festlegt. Innerhalb der Wettbewerbsordnung agieren Betriebe, die überschaubar sind und eine personale Verantwortung tragen. Der Staat hätte die Rolle eines Schiedsrichters. „Und noch etwas müßte er (der Staat H . W . ) leisten: daß wirklich gekämpft wird wie zwischen Rittern im Turnier. Unternehmer und Marktgegner treffen sich im Wunsch, Wettbewerb und Wettkampf zu meiden. Unternehmer sprechen sich am liebsten a b , um weniger zu tun. Wie sichert ein Schiedsrichter also den Wettkampf? Indem er möglichst alle, die teilnehmen wollen, zuläßt. Erst die vielen Kleinen machen den Großen Beine" (Faltin 1996, S . 4 2 ) . In dieser neuen Marktordnung werden ökologisch sinnvolle Produkte hergestellt, die in enger Kooperation mit dem Verbraucher entstehen und einen für beide Seiten gerechten Preis erzielen. In ihrer Beschreibung der wirtschaftlichen Situation auf Weltebene unterschätzen Faltin/Zimmer die Rolle der Industrienationen. Obwohl dort weniger Menschen leben, bestimmen diese die industrielle Entwicklung. Insofern werden Löhne, Produktivität und wirtschaftliches Verhalten von den Industrienationen bestimmt und die Dritte Welt wird sich daran orientieren und nicht umgekehrt. Aus diesem Grunde orientiert sich die Weltwirtschaft nicht nur an den niedrigen Löhnen der Dritten Welt, sondern auch an den Hochlöhnen der Industrienationen. Statt einen Lohnkrieg gegen Europa zu predigen, sollten die Autoren lieber ihr Augenmerk a u f die Erhöhung der Löhne in der Dritten Welt und der Schaffung von Binnenmärkten durch Abschottungspreise in diesen Ländern legen. Insofern sind die Vorschläge von Faltin/Zimmer nicht Resultat vorurteilsloser Betrachtung, sondern entspringen Neidargumenten gegenüber Europa, außerdem sind sie nicht a u f der Höhe der weltwirtschaftlichen Situation und damit weltfremd. In der Wirtschaft geht es schon lange nicht mehr um rein wirtschaftliche Gesichtspunkte, sondern, wie die Werbung zeigt, um die Bestimmung von Lebenseinstellungen. Eine Reduzierung der Werbung ist nur möglich, wenn sich unsere Auffassung von Wirtschaft ändert, wenn diese nur als Wirtschaft gesehen wird und sich unsere Lebenseinstellung aus dem Kulturbereich bestimmt. Auch sollten Schulen primär pädagogischen Zielen dienen und nicht als Hebel für weltwirtschaftliche Experimente genutzt werden.

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Eine weitere Ungereimtheit von Faltin/Zimmer soll zum Schluß noch angesprochen werden. Die Beispiele der Autoren beruhen jeweils auf der aktuellen wirtschaftlichen Situation. Dabei kann die Dritte Welt eine Reihe von Gütern zu billigen Preisen in die Industrienationen liefern. Nimmt man aber das ökologische Argument ernst, müssen auch diese Länder höhere Energiepreise bezahlen, die entweder auf den Verbraucher überwälzt oder den Welthandel reduzieren werden. Auch die angeführten Alternativprojekte einschließlich der Teekampagne beruhen auf dem Käuferverhalten von Mittel- und Oberschichten, deren Berechtigung von Faltin/Zimmer eigentlich in Frage gestellt wird. So vielfaltig die Beispiele der Autoren sein mögen, sie beschreiben lediglich winzige Alternativprojekte im Bereich des Handels. Die Wirtschaft wird allerdings getragen von der Landwirtschaft, dem Handwerk und der Produktion sowie dem Handel und neuerdings auch zunehmend von Dienstleistungen. Dabei sind die europäischen Volkswirtschaften Mischsysteme aus kleinen, mittleren und großen Betrieben, mit einem insgesamt relativ hohen Staatsanteil am Wirtschaftsgeschehen. Der Verdienst der Autoren liegt meiner Meinung nach darin, die Perspektive der Dritten Welt in die Globalisierungsdebatte eingebracht zu haben und f ü r eine Wirtschaft zu werben, die auf der Verantwortung und dem Engagement der Unternehmen beruht, die die W i r t s c h a f t gestalten und ordnen wollen in Einklang mit der Dritten Welt und der Ökologie, und die neuen Schwung in eine bürokratische Wirtschaft bringen sollen, um Hunger und Elend in der Welt abzubauen. Diese edle Zielsetzung kann sicherlich nicht nur von den Kleinen geleistet werden.

8.2 Existenzgründer Im folgenden soll die Frage nach der Kontinuität und Veränderung marktwirtschaftlicher Strukturen und Arbeitsprozesse an charakteristischen Fällen aus der Praxis von Kleinbetrieben erläutert werden. a) K u n s t h a n d w e r k e r m a r k t Der Töpfermarkt f ü r Kunsthandwerkerprodukte weist noch klassische Marktstrukturen auf, die sich in den letzten Jahren relativ wenig verändert haben. Die Produkte werden arbeitsintensiv an der Töpferscheibe hergestellt und in kleinen Brennöfen gebrannt. Es gelten in hohem M a ß e die Gesetze des Handwerks, der Kunst und der Hauswirtschaft. Die

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T ö p f e r haben meist eine einschlägige handwerkliche Ausbildung und oft auch Studienerfahrung in künstlerischen Fächern. Es wird ein individuelles Produkt, ein kleines 'Werk' erstellt. Die Betreiber haben deswegen meist eine starke künstlerische Gesinnung und ein hohes Unabhängigkeitsstreben. Die Arbeit verlangt spezifische handwerkliche Fähigkeiten und künstlerisches Engagement. Ohne eine hohe Identifikation mit dem Arbeitsprozeß und mit dem Produkt ist das Geschäft nicht zu betreiben. E s wird keine Massenware hergestellt, sondern Produkte in kleinen Stückzahlen. Es handelt sich weder um reine Gebrauchskeramik noch um eine zweckfreie Kunst. Es ist hier nicht das Handwerk oder der Kunstbereich gemeint, sondern wie der Name schon sagt, das Kunsthandwerk Es werden hier Produkte hergestellt unter nichtfünktionsorientierten Gesichtspunkten. Die Investitionskosten sind relativ gering, das gilt auch für die Materialkosten. Die Produkte werden meist entweder direkt in der Werkstatt oder a u f Kunsthandwerkermärkten abgesetzt. Bei Verkauf ab Werkstatt sucht der Kunde die private Nähe zum Arbeitsprozeß und zur Person der Produktion. Viele Kunden haben eine relativ hohe Kundenbindung und besuchen in Abständen die Werkstatt. Bei regelmäßig stattfindenden Verkaufsausstellungen in der Werkstatt werden sie persönlich angesprochen und eingeladen. Die Preise liegen fest und sind nach Arbeitsdauer, Art des Objektes, G r ö ß e und Ästhetik sowie dem vermeintlichen Geldbeutel der Kunden gebildet. Für die Kunsthandwerkermärkte müssen sich die Produzenten bewerben, da mehr ausstellen wollen, als es Plätze gibt. Auf den Märkten sind viele Kunden bekannt, aber es tritt auch eine Marktanonymität auf. Das Geschäft ist in sehr hohem Maße von der Kunstfertigkeit und dem Kommunikationsvermögen des Produzenten sowie von der Urteilskraft und dem persönlichen Geschmack der Kunden abhängig. Es handelt sich meist um selbständige Kunsthandwerker, die in allen Belangen und Funktionen a u f die eigene Arbeitskraft vertrauen und Produktion und Vertrieb selber organisieren wollen und müssen. Trotz einer hohen Kontinuität in diesem Bereich haben sich in den letzten Jahren auch Veränderungen ergeben. Die Ansprüche der Produzenten und Kunden an die Qualität der Objekte ist gewachsen. Im Arbeitsprozeß gibt es bei der Töpferscheibe und bei den Brennöfen Neuerungen. Man benützt meist statt einer ftißbetriebenen eine elektrische Töpferscheibe. Die Brennöfen sind heute mit elektronischer Steuerung ausgerüstet. Auch wird im

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kaufmännischen Bereich öfter ein Steuerberater zu Rate gezogen. Manchmal werden auch von den Kunsthandwerkern fachspezifische Marketingseminare besucht. b) Handwerkermarkt In den letzten 20 Jahren haben sich eine Vielzahl von kleinen Kfz-Reparaturbetrieben gegründet. Sie haben sich zunächst auf die Reparatur meist älterer Autos oder Unfallautos spezialisiert. Die Kundschaft kam vom erweiterten Bekanntenkreis. Das technische Wissen der Kunden war relativ gering, sie wollten eine preisgünstige fachgerechte Arbeit. Die Reparateure mußten vorwiegend schwere körperliche Arbeit leisten. Schweißen der Karosserie, Austausch des Motors, Auswechseln der Kupplung etc. Es wurden meist Kleinwagen bearbeitet. Die Arbeit hing vom handwerklichen Geschick und dem Improvisationsvermögen der Arbeitenden ab. Die Identifikation mit der Tätigkeit und dem Gegenstand war meist sehr hoch. Es herrschten die Gesetze des Handwerks und der Hauswirtschaft. Es wird ein industriell erzeugtes relativ teures technisches Produkt nicht erstellt, sondern nur repariert. Trotzdem existiert ein gewisser Handwerkerstolz, ein Sinn für die Technik und ein Unabhängigkeitsstreben. Mit materiellen Ressourcen will man möglichst sparsam umgehen und die Materialien erneuern und wieder verwenden. Die Preise richten sich nach den geleisteten Arbeitsstunden und den Materialkosten. Dieser Bereich hat sich in den letzten Jahren relativ stark verändert. Viele Kunden wollen nicht mehr die zu starke persönliche Bindung an den Reparaturbetrieb und suchen Fachwerkstätten auf. Ihr Geschmack hat sich gewandelt, sie bevorzugen neuere Autos und stärker Autos aus der Mittelklasse. Sie sind weniger bereit, auf die Ausführungen der Reparatur zu warten und wollen meist eine schnellere Abwicklung als die relativ langwierige Improvisation. Dadurch, daß sich die industriell erzeugten Fahrzeuge in den letzten Jahren ständig geändert haben, hat dies auch große Auswirkungen für die Reparateure. Das Auto ist nicht mehr einfach ein Funktionsgegenstand, sondern immer mehr ein Kulturprodukt. Das Design wird ständig geändert; Sicherheit und Fahrkomfort werden immer wichtiger. Viele Bleche sind heute rostfrei und brauchen nicht mehr geschweißt zu werden. Statt Reparaturen werden heute mehr Aggregate und Module ausgetauscht. Dazu sind aber oft nur noch Vertragswerkstätten in der Lage.

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Durch die immer stärkere Verwendung von elektronischen Teilen wird dieser Trend noch verstärkt. Viele Ersatzteile werden heute für ältere Autos oft nicht mehr hergestellt oder a u f Lager gehalten. Dies verlängert zeitlich den Arbeitsprozeß und die Suche nach Ersatzteilen. Aus diesen Gründen haben sich heute die Schwerpunkte für diese Kleinbetriebe verlagert. Sie müssen stärker einen anonymen Markt bedienen, müssen mehr im Servicebereich, in der Beratung und im G e brauchtwagenhandel mit handwerklicher Begleitung arbeiten und sich gegenseitig vernetzen. Die Betreiber würden lieber in der rein handwerklichen Arbeit verbleiben. Generell läßt sich für das Handwerk in den letzten Jahren ein sehr starker Trend in Richtung Handel und Organisation ausmachen. Die Industrie schreibt dem Handwerk immer stärker die Gesetze der Tätigkeit vor. Die Standards werden von außen gesetzt. Mehr noch: die Handelsmentalität weitet sich notgedrungen aus. Der Handwerker wird immer mehr zum Manager, der hochwertige Module austauscht bzw. am liebsten mit neuen Produkten handelt. Termindruck, Organisationsnotwendigkeiten nehmen immer größeren Raum ein. Auch wenn die neuen Produkte oft umweltgerechter sind, darf nicht verkannt werden, daß die Wegwerfmentalität dadurch erhöht wird. Naturwissenschaftliche und ökonomische Rationalität sind immer stärker gefragt, zuungunsten einer handwerklichen und künstlerischen Haltung. Der kaufmännische B e reich erhält insgesamt einen größeren Anteil. Dies wird durch die elektronische Datenverarbeitung eher noch verstärkt. Tauschwirtschaft statt Hauswirtschaft. Vernutzung statt Ökologisierung. Sind die Handwerksmeister der jüngeren Generation angehörig und in der Lage, diese Herausforderungen anzunehmen, bedauern sie zwar oft den Rückgang der Handwerkeridee, finden aber in der Bewältigung der neuen Situation eine neue Bestätigung und berufliche Anerkennung. Die Problematik der Durchsetzung von naturwissenschaftlichen E r kenntnissen läßt sich einfach an der Zentralheizung demonstrieren. K a chelöfen haben meist eine behagliche Wärme, Zentralheizkörper strahlen eher eine mechanische Wärme ab. Das hat u.a. seinen Grund darin, daß man bei Zentralheizungen objektive Behaglichkeitsstandards festsetzt. Man mißt die zu versorgenden Räume vom Volumen her aus und berechnet die Größe der Heizkörper. Um eine hohe Austauschbarkeit zu erhalten, werden alle Räume nicht nach ihrer tatsächlichen Verwendung, sondern nach ihrer Größe klassifiziert. Dabei wird die subjektive B e -

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haglichkeit vernachlässigt und ein individuelles Raumbewußtsein geschwächt. Die Folge davon ist häufig, daß die Konsumenten von Wärme sich auf den Automatismus verlassen und der Energieverbrauch überproportional steigt. Die Ausbildung eines sparsamen Umgangs mit der Energie und ein Gefühl f ü r qualitative Wärme wird somit eher geschwächt.

c) Dienstleistungen Ein traditionelles Dienstleistungsgewerbe ist das T a x i - G e s c h ä f t . Wenn man sich heute die Situation eines Mittelbetriebes in Berlin anschaut, ergibt sich folgendes Bild. Das T a x i - G e w e r b e ist von einer Reihe von Ordnungsbehörden und Gesetzen umzingelt, die den unternehmerischen Spielraum sehr einengen. Die Preise f ü r die Dienstleistung T a x i f a h r e n z . B . liegen fest (Ordnungsbehörde/Senat). Die Erhöhung der Einnahmen durch Werbung ist nur eingeschränkt möglich. Diese Form von Regulierung ist andererseits ein Schutz, denn gleichzeitig wird jede Form von Deregulierung, wie sie jetzt im Z u g e der Entwicklung der E U ansteht, von den Taxiunternehmern mit Argwohn beobachtet. Freie Preise, A u f hebung der Trennung von T a x i - und Mietwagengewerbe, Verringerung von Mindeststandards, freie Konzessionierung würden neben den steigenden Kosten bei gleichbleibenden oder g a r fallenden Einnahmen das Geschäft noch unberechenbarer machen. Auch Versuche (hier positiv gesehen) aus Regularien auszubrechen, wie z.B. das Zurückziehen des Unternehmers von seiner Arbeitgeberfunktion hin zum T a x i - M a k l e r , gehören hierzu. Schwer verdauliche Brocken für das Gewerbe sind momentan die nach wie v o r hohen Lohnnebenkosten und die Zahlungen f ü r die B e r u f s genossenschaft, ein auf Bismarcks Reichsversicherungsordnung zurückgehendes Fossil, das Risiken sinnvollerweise abdecken soll, ist heute zu einem teuren und bürokratischen Instrument verkommen. Kosten f ü r die Taxiunternehmen entstehen hauptsächlich durch das ständige Präsentieren der neuesten Fahrzeuge aus Stuttgart. Der Z w a n g zur Investition liegt zur Zeit in der Installation eines satellitengestützten Datenfunks, der in der L a g e ist, alle Positionen aller Fahrzeuge zu jedem Zeitpunkt zu orten und jede Fahrt von vornherein optimal zuweisen kann. E s wird sofort das Fahrzeug gefunden und informiert, das sich am nächsten zum Kunden befindet. Weitere Neuerungen stehen beim Abrechnen der einzelnen Fahrt an durch die Einführung von Kartensystemen, was f ü r das

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Unternehmen auch immer eine hohe Investition und eine unternehmerische Flexibilität bedeutet. Trotz hoher Arbeitslosigkeit sind gute und zuverlässige Fahrer knapp. Während früher sehr viele Studenten im Einsatz waren, interessiert sich diese Gruppe heute weniger für das Gewerbe. Es melden sich eher Angehörige von Randgruppen, die eine geringe soziale Perspektive haben. Gleichzeitig geht der Trend zu immer mehr Dienstleistung hin. Große Firmen wollen berechenbare Zahlen, elektronische Abrechnungssysteme. 5-Sterne-Hotels wollen saubere Taxen mit gepflegten Fahrern vor der Tür. Der Fahrer soll nicht nur einfach und sicher Autofahren, sondern auch Erläuterungen geben und sich in mehreren Sprachen ausdrücken können. Gleichzeitig sind auch die Anforderungen im Auto selbst durch komplexe Technik des Fahrzeugs, des Funk und der Abrechnung gestiegen. Außerdem haben sich das Verkehrsaufkommen und die Baustellen nach der Wende erheblich vergrößert. Bei aller Veränderung bleibt der Job des Taxifahrers unter bestimmten Gesichtspunkten im Wesen der Gleiche. Wie der Fährmann vor tausenden von Jahren oder der Kutscher vor hundert Jahren soll er seinen Gast sicher und freundlich von einem Punkt zum anderen befördern. Die Existenzgründer haben die ordnungspolitische Diskussion in den letzten Jahren belebt. Ihre Vorstellungen entsprechen noch am ehesten dem ordoliberalen Leitbild und der Vision vom dynamischen Unternehmer (Schumpeter). Persönliches Engagement und Tatkraft stehen hier im Vordergrund. Es muß allerdings gefragt werden, wie diese Impulse von der Wirtschaftsordnung insgesamt aufgenommen werden. Dies hängt von den Gesetzmäßigkeiten einer Ordnung ab. Die Frage, wie die Wirtschaftsordnung funktioniert, hat vor allem die Systemtheorie gestellt. Diese hat außerhalb der Fachökonomie wichtige ordnungspolitische Überlegungen angestellt. Hier steht nicht der Einzelne im Vordergrund, sondern der Ablauf der Wirtschaft. Literatur Faltin, Günter; Zimmer, Jürgen: Reichtum von unten. Die neuen Chan, cen der Kleinen, 2. Aufl., Berlin 1996

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9. Die Wirtschaft als Teilsystem der Gesellschaft 9.1 Systemtheoretische Argumente Der international anerkannte Bielefelder Soziologe, Niklas Luhmann, ist durch seine Systemtheorie in den letzten 20 Jahren einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden. Seine eigenständige Theorie begreift die Gesellschaft als ein soziales System, die Wirtschaft wird dabei -wie die Kunst, die Religion oder die Politik- zu einem Teilsystem. Obwohl die Systemtheorie ansonsten breit diskutiert wird, spielt sie in der ordnungspolitischen Fachdiskussion der Ökonomie kaum eine Rolle. Ein Grund dafür könnte sein, daß sie von einem völlig andersartigen Begriffs- und Theorieverständnis ausgeht und man völlig umlernen muß, um die einzelnen Argumentationsketten zu verstehen und kritisch zu prüfen. Die Wirtschaft wird gedacht als ein autopoietisches System, in dem sinnhafte Kommunikation herrscht. Die Kommunikation beruht auf Codierungen. Die elementarsten Codierungen der Wirtschaft sind das Geld und die Knappheit. Es gibt zwei Knappheitssprachen, die der Güter und die des Geldes, die auf verschiedene Bedingungen ansprechen. „In der modernen Wirtschaft sind alle wirtschaftlichen Operationen gehalten, beide Knappheitssprachen zugleich, also den Gesamtcode der Wirtschaft und nur diesen zu verwenden, nämlich für Leistungen zu zahlen. Die Struktur der Wirtschaft besteht in der Konditionierung dieses operativen Zusammenhangs. Man kann die Knappheit der Güter nur deshalb mindern, weil man eine zweite Knappheit, eine Auffangsknappheit gleichsam danebensetzt" (Luhmann 1994, S.47). Damit ist nicht das Bedürfnis und die Knappheit der Ausgangspunkt der Überlegungen und die damit verbundene Frage, ob die Güter zentral oder dezentral erzeugt und verteilt werden, wie sonst in der ökonomischen Theorie, sondern diese doppelte Codierung der Kommunikation. Kommunikation über das wirtschaftliche Geschehen ist deswegen notwendig, weil man sich über den Zugriff auf knappe Güter verständigen muß. Diese ist über verschiedene Formen möglich. Ein besonderes Funktionssystem wird die Wirtschaft dadurch, weil das Geld die Handlungen systematisiert. Die Handlungen sind Zahlungen. „In dem Maße, wie wirtschaftliches Verhalten sich an Geldzahlungen orientiert, kann man deshalb von einem funktional ausdifferenzierten Wirtschaftssystem sprechen, das von den Zahlungen her dann auch nichtzahlendes Verhal-

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ten, zum Beispiel Arbeit, Übereignung von Gütern, exklusive Besitznutzungen usw., ordnet" (Luhmann 1994, S. 14). Die Ausdifferenzierung des Systems erfordert eine selbstreferentielle Grundstruktur für alle Operationen; das Wirtschaftssystem produziert sich damit selbst als geschlossenes System, das wie alle anderen Systeme auch nur als offenes System möglich ist.

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Die Wirtschaft wird hier als Automatismus betrachtet. Die Zahlung wird außerdem zu einem nicht weiter auflösbaren Begriff. Das Wirtschaftssystem muß ständig für immer neue Zahlungen sorgen, wenn es nicht aufhören will zu existieren. Zahlungen sind durch einen hohen Informationsverlust und einen hohen Informationsgewinn gekennzeichnet. Der Verlust liegt in der Abstraktion von sozialen und emotionalen Informationen. Dadurch ist aber auch ein Gewinn möglich, eine Kon-

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zentration der Information auf ökonomische Tatbestände. Was nicht bezahlbar ist, wer nicht zahlen will, wird einfach vergessen. „Preise erzeugen,... Informationsverluste -darauf beruht ihre technische Leistungsfähigkeit, und daran ist nicht zu rütteln" (Luhmann 1994, S.42). Die Wirtschaft erhält ihre Einheit als autopoietisches System dadurch, daß sie auf eigenen Elementen beruht: auf Zahlung und Nichtzahlung. Man zahlt, um seine eigene Zahlungsfähigkeit wieder aufzufrischen oder zu vermehren. „So unbestreitbar Bedürfnisse in der Wirtschaft eine Rolle spielen und so sehr sie die Offenheit des Systems und seine Leistungen für die Umwelt strukturieren: sie sind zu sehr durch die Wirtschaft selbst bedingt, als daß man in ihrer Befriedigung die Funktion des Wirtschaftssystems sehen könnte" (Luhmann 1994, S.63). Das System hat damit auch einen immerwährenden Charakter, da jede neue Zahlung eine weitere nach sich zieht. Der Sinn des Geldes liegt im Ausgeben des Geldes. Aus diesen grundsätzlichen Erwägungen heraus schert Luhmann aus der klassischen ordnungspolitischen Systematisierung Marktwirtschaft/ Planwirtschaft aus, der Gegenbegriff zur Marktwirtschaft ist für ihn die Subsistenzwirtschaft, da sie ohne nennenswerte monetäre Vermittlung abläuft. Es fehlt die Zentralisierung und Informationsbeschaffung über den Geldmechanismus. „Auch eine zentral geplante Wirtschaft ist eine Marktwirtschaft. Sie kann nur die Spezifikation der Differenzierung von Konkurrenz, Tausch und Kooperation nicht sehr weit treiben, weil das gesamte System als Kooperation organisiert ist (bzw. sich selbst unter diesem Mythos mit Irrationalitäten versorgt)" (Luhmann 1994, S.106). Auch in der Beschreibung des Wirtschaftskreislaufes hebt sich der Autor von der ökonomischen Theorie ab. Er beschreibt einen Doppelkreislauf des Wirtschaftssystems, der nicht identisch ist mit den Vorstellungen der ökonomischen Kreislauftheorie der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Ausgangspunkt bei Luhmann ist die Zahlung. Derjenige, der sie erhält, wird zahlungsfähig, der die Zahlung leistet, zahlungsunfähig. Der Zahlungsfähige muß schauen, wie er die Zahlungen wieder los wird, der Zahlungsunfähige muß sich überlegen, wie er wieder zahlungskräftig wird. Luhmann stellt sich nun die Frage, wie die Zahlungsunfähigkeit beseitigt wird, woher kommt das Geld? Das Geld kann zunächst auf unterschiedliche Weise erworben werden. Die klassische Lösung liegt für ihn in der Bedingung der Rentabilität. Derjenige, der Geld beispielsweise für eine Investition ausgegeben hat, will sein

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Geld zurück haben. Beim Staat funktioniert dies anders, bekanntermaßen über die Steuer, beim privaten Haushalt wird dieses Problem über Arbeit gelöst. „Die Einheit und die Differenz dieser beiden Kreisläufe ergibt sich mithin aus der paradoxen Logik des Zahlens. Ihre 'Entfaltung' entparadoxiert das System und läßt es als Differenz erzeugende Differenz, als Information fungieren. Dadurch wird wie nach der Art eines Düsenprinzips die Wirtschaft vorangetrieben, indem man Zahlungen in Erwartungen eines Ausgleichs für Zahlungsunfähigkeit leistet. Erst als Folge dieser Zahlungsbewegung entsteht eine Bewegung der Güter und Dienstleistungen" (Luhmann 1994, S.137). Die Rentabilitätsrechnung ist dabei die Selbstkonditionierung des Systems. Steuern und Geldleistungen bei Arbeit sind dabei ebenso notwendig. Alle drei Formen müssen zusammenwirken, um den geschlossenen, autopoietischen Prozeß zu begründen. Die Banken werden damit notwendig, um diesen doppelten Wirtschaftskreislauf in Schwung zu halten. „Das Bankensystem beruht, mit anderen Worten, auf der Paradoxie der Selbstreferenz, auf der Einheit von Zahlungsfähigkeit und Zahlungsunfähigkeit, von Überfluß und Knappheit, und es hat die Funktion, trotzdem Operationen zu ermöglichen dadurch, daß es die Paradoxie entparadoxiert" (Luhmann 1994, S. 145). Das gesamte Bankensystem -mit Zentralbank, Geschäftsbanken und Bankkunden- sorgt dafür, daß ein Kollaps des Systems fast unmöglich ist. „Die Zentralbank ist gewissermaßen das Ich des Systems, das alle seine Zahlungen muß begleiten können" (Luhmann 1994, S. 147). Aus diesen grundsätzlichen Überlegungen heraus bestimmt Luhmann in Abgrenzung zu allen volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen das allgemeine Ordnungsproblem der Wirtschaft, ja sogar der Weltwirtschaft, dem sich auch keine regionale Wirtschaft entziehen kann. „Die Einheit des Systems, die Einheit von Zahlungsfähigkeit und Zahlungsunfähigkeit (von Überfluß und von Knappheit) kann nur dadurch entfaltet werden, daß die Weiterleitung von Zahlungsfähigkeit und die Weiterleitung von Zahlungsunfähigkeit getrennt und unterschiedlich konditioniert werden. Dies ist als allgemeine Struktur und als ein allgemeines Ordnungsproblem unabhängig von den viel diskutierten Problemen der Wirtschaftsordnung oder der 'Verfassung' des Wirtschaftssystems" (Luhmann 1994, S. 148). Damit erweist sich die Gegenüberstellung von Sozialismus und Kapitalismus als wirtschaftlich obsolet, es sind lediglich politische Begriffe. Der ausdifferenzierte Wirtschaftsprozeß setzt Eigentum voraus, unabhängig, ob es sich um Privateigentum zur indivi-

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duellen Verfugung oder um Privateigentum des Staates handelt. Auch sozialistisch geführte Betriebe müssen rentabel sein und kapitalistisch organisierte Betriebe müssen Steuern zahlen. Für Luhmann folgt aus seinen Überlegungen die strikte politische Unabhängigkeit der Zentralbank und die klare theoretische und praktische Trennung von W i r t s c h a f t und Politik. „Deshalb empfiehlt es sich, auch die Reflexionstheorien dieser beiden Systeme explizit zu trennen und eine politische Reflexion nicht schon deshalb f ü r wirtschaftlich adäquat zu halten, weil sie sich auf die Wirtschaft bezieht" (Luhmann 1994, S.150). Auch in den klassischen Kategorien 'Kapital und Arbeit' setzt sich der Autor sowohl von liberalistischen als auch von sozialistischen Ordnungsvorstellungen ab. Sie seien zu schematisch, es fehle die Möglichkeit der Selbstkorrektur, sie produzierten 'soziale Blockierungen' und verbauten die Chance von Kompromissen. Der Konsumaspekt als eine dritte, versöhnende Kategorie bliebe ausgeblendet. „Schon die Rolle des Arbeiters als Konsument fügt sich diesem Schema nicht. Einerseits hängt die Wirtschaft davon ab, daß alle Teilnehmer zahlungsfähig sind und bleiben und daß auch der Arbeiter, er vor allem, konsumfahig bleibt. Der Kapitalist (wer immer es sei) hat ein Interesse an der Erhaltung seiner Märkte. Anderseits sind die Wirtschaftssorgen eines Arbeiters hauptsächlich Sorgen eines Konsumenten: Kann er sein H a u s halten, wenn die Hypothekenzinsen steigen? Muß die Ferienreise in diesem Jahr ausfallen, weil der neue Wagen monatlich abgezahlt werden m u ß " (Luhmann 1994, S.164). Nach Auffassung des Autors machen vor allem Konsumfragen den Wirtschaftsalltag aus. Diese lägen aber nicht in der Hand des Kapitalisten. Luhmann wendet sich vor allem gegen eine schematische Begriffsbildung, sie verschließe den Blick f ü r die Realität, für den systemischen Zusammenhang der Welt, f ü r Widersprüche und Einheit. „Im Falle Kapital / Arbeit scheint der Konsument diese Rolle zu spielen. Bleibt man der Semantik von Kapital und Arbeit treu, kann man die K o n s u m gesellschaft immer noch als List des Kapitalisten interpretieren, der den Fabrikterror durch den Konsumterror ersetzt, um seine Profite zu retten. Aber was bleibt von dem Gegensatz übrig, wenn der ' P a r a s i t K o n s u m ' die Positionen des Kapitalisten und des Arbeiters auf ein Gemeinsames z u r ü c k f ü h r t ? " (Luhmann 1994, S.166). Die schematische Gegenüberstellung von Kapital und Arbeit f ü h r e zu unnötigen Konflikten und zu einer Fehlsteuerung der W i r t s c h a f t . Die

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Weltwirtschaft sei nicht ein Problem von Arbeit und Kapital, arm und reich, sondern werde zunehmend ein einheitliches System, das allerdings immense Diskrepanzen zu ertragen habe. Damit soll nicht bestritten werden, daß es soziale Ungleichheiten gibt, es stelle sich aber die Frage nach dem Gewicht dieser Problemstellungen. Es sei nicht unerheblich für den sozialen Prozeß, wie er beschrieben wird. „In jedem Falle geht es nicht um einen Unterschied von Materie und Geist. Vielmehr werden Ideen selbst zur gesellschaftlichen Realität, sobald sie im Kommunikationsprozeß Ausdruck finden. Das Problem ist also: ob und wie in der Gesellschaft über die Kommunikation kommuniziert wird und weiter: wie im Kommunikationsprozeß auf die Ideen, Begriffe, Theorien, Unterscheidungen usw. reagiert wird, die im Kommunikationsprozeß selbst verwendet werden" (Luhmann 1994, S. 170). Die Einengung auf Lohnarbeit und Kapital führe demgemäß zu einer zu starken Einengung der Problembeschreibung. Nach Luhmann kommt man statt dessen weiter, wenn die Gesellschaft als selbstreferentielles und deshalb mit Paradoxien belastetes System interpretiert wird. Das gehe weit über die übliche Behandlung 'struktureller Widersprüche' mit Hilfe von Latenzannahmen hinaus. Wie eingangs schon erwähnt, ist für Luhmann genau wie in der ökonomischen Theorie der Begriff 'Knappheit' von entscheidender Bedeutung. Allerdings erfahrt er in dieser Theorie einen anderen Sinn. „Die Grundannahme lautet: Knappheit ist eine Form entfalteter Selbstreferenz" (Luhmann 1994, S. 178). Knappheit entsteht danach durch Aussonderung eines engen Komplexes aus dem Bereich endlicher Mengen. Erst die Entstehung von Knappheit spalte die endlichen Mengen in knappe und nichtknappe Güter. Der Zugriff auf eine Menge beschränke die Möglichkeit weiterer Zugriffe. „Knappheit ist demnach, wenn man nicht von der einzelnen Operation, sondern vom System ausgeht, in dem sie stattfindet, ein paradoxes Problem. Der Zugriff schafft das, was er beseitigen will. Er will sich eine zureichende Menge sichern und schafft dadurch die Knappheit, die es erst sinnvoll macht, sich eine zureichende Menge zu sichern" (Luhmann 1994, S.179). Für denjenigen, der zugreift, verringert sich die vorausgesetzte Knappheit; für alle anderen vergrößert sie sich. Beides geschieht im selben System (Bifurkation). Haben und Nichthaben werden in ein Verhältnis wechselseitiger 'Exklusion' gebracht.

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Auch in der Erklärung des Geldes weicht die Systemtheorie von der ökonomischen Theorie ab. Während diese das Geld vor allem als ein Tauschmittel begreift, stellt Luhmann den Kommunikationsaspekt in den Vordergrund. Als abstraktes Mittel kann Geld Vermittlungen herstellen, ohne Besonderheiten groß zu beachten. „Als generalisierendes Medium kann Geld die Verschiedenheit des Verschiedenen überbrücken, und zwar ohne dies Verschiedene als etwas anderes, Medienfremdes auszuschließen. Das Medium bleibt dem Vermittelten inhärent" (Luhmann 1994, S.233). Geld wird zum entscheidenden Medium, die Wirtschaft als System zu konstituieren und autopoietische Prozesse in Gang zu halten. Es wird sowohl eine Universalisierung als auch eine Spezifikation geschaffen. „Und damit wird dann auch die religiöse und/oder moralische Geldkritik überflüssig. Wir ersetzen sie, um das vorwegzunehmen, durch die Unterscheidung von symbolischer und diabolischer Generalisierung" (Luhmann 1994, S.240). Geld hat eine symbolische Bedeutung. Man ist bereit zu arbeiten, wobei die Motive unwichtig werden, man tut etwas ohne fromme Gesinnung. Man läßt sich lediglich bezahlen. Die moralischen Implikationen werden dadurch uninteressant. Aus diesen Gründen weist Luhmann die zivilisationskritischen Argumente oder die Vorbehalte von Religionen gegenüber dem Geld zurück. Geld hat für ihn wesentlich zwei Vorteile: es ist relativ unabhängig von sozialen und außerökonomischen Strukturen und es ist selbstmotivierend. „Man bemüht sich, seine Sachen loszuwerden, und setzt zu diesem Zweck Rieseninvestitionen und hochkomplexe Produktionsunternehmen ein - nur um des Abgebens willen. Und man bemüht sich, mehr oder weniger unwillkommene Arbeit zu finden -das alles wegen der Zauberformel: weil dafür bezahlt wird" (Luhmann 1994, S.241). Der einzelne Mensch bestimme seine Beziehungen mit anderen über das Geld. Er schaffe sich damit Freiheit und die Möglichkeit, seine sozialen Bedürfnisse anderweitig zu befriedigen. In dieser sozialen Entleerung (=Befreiung) liegen für Luhmann nicht die diabolischen Züge des Geldes. Auch wenn Geld zur Sünde verfuhrt, den Luxus anheizt, den Arbeiter ausbeutet, ist für ihn nicht entscheidend. Die Diabolik habe ihren Grund dadurch, daß das Geld moralische Werte austrocknet bzw. ersetzt. Sie liegt in der Sprache Luhmanns in der für die Universalisierung notwendigen Spezifikation. Geld substituiert die Religion. „Wenn dieser Substitutionsprozeß vollzogen ist, können Dankespflichten, Nachbarschaftshilfen, Freundlichkeiten und schließlich die Religion selbst 'privatisiert' und auf dieser Basis wieder 'kultiviert' werden. Im

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öffentlichen Raum dominieren die sie ersetzenden Medien, neben Geld vor allem rechtlich strukturierte Macht und wissenschaftlich unbestreitbare Wahrheit" (Luhmann 1994, S.242f). Im privaten Bereich trete dann ein kompensatorischer Humanismus auf, der wiederum in die Öffentlichkeit als permanent schlechtes Zivilisationsgewissen zurückgespielt wird. Geld ist für ihn ein entscheidendes Medium, um die Ausdifferenzierung der Wirtschaft voranzutreiben. Es gehorche einem binären Code: Zahlung oder Nichtzahlung. Alle Entscheidungen der Wirtschaft könnten unter diesem Aspekt gesehen werden, sie sind damit notwendige/nichtnotwendige Erscheinungen. „Für den Beobachter ergibt sich daraus eine weitere Paradoxie des Systems: Das System besteht nur, wenn und soweit gezahlt und nicht gezahlt wird. Für das System sind Zahlungen notwendig. Zugleich ist aber keine einzige Zahlung notwendig, weil jede Zahlung erfolgen oder unterbleiben kann. Die Wirtschaft ist eine Menge notwendiger/nichtnotwendiger Zahlungen" (Luhmann 1994, S.243). Es bestehe in diesem Verständnis also sowohl ein positiver als auch ein negativer Wert. Ein positiver Wert sei dann gegeben, wenn eine Anschlußzahlung erfolgt, ein negativer, wenn dies nicht geschieht. Dieser Entscheidungsprozeß wird im Wirtschaftssystem ständig in der Schwebe gehalten. Das Geld steuere diese Prozesse und muß sie zusammenhalten. „Das Geld ist also symbolisches Medium auch insofern, als es als codiertes Medium positiven und negativen Wert zusammenhält. Und es ist diabolisches Medium insofern, als es alle anderen Werte auf der Ebene des Codes neutralisiert und in den inferioren Status der Gründe für Zahlungen bzw. Nichtzahlungen abschiebt. Das Geld hindert sich keineswegs daran, für karitative Zwecke ausgegeben zu werden; es fordert nur, daß diese Operation als eine ökonomische orientiert wird an der Möglichkeit, das Geld für karitative Zwecke nicht auszugeben, sondern es für andere Zwecke bereitzuhalten. Und wenn diese Entscheidung am Code Zahlung/Nichtzahlung orientiert wird, heißt dies auch, daß es schwerfallt, sie zugleich an Gottes Willen (oder: am Code immanent/transzendent) zu orientieren; denn wer würde sich einen Gott vorstellen wollen oder auch nur können, dem jede andere Verwendung entschieden mißfallt" (Luhmann 1994, S.245). Die binäre Struktur des Geldes ermögliche damit die Ausdifferenzierung der Wirtschaft. Die Orientierung an moralischen Werten sei zwar weiterhin möglich, sie fungiere aber dann ökonomisch mediatisiert, als entparadoxierte Paradoxie.

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Aufgrund der Sonderbedingungen des Geldes ist es f ü r Luhmann ein Garant dafür, daß es trotz aller Abartigkeiten in der W i r t s c h a f t f u n k tioniert. Für viele Menschen sei es aber immer auch ein etwas irritierendes, moralisch zu kritisierendes Medium gewesen. Nach Luhmann wird deswegen gerade am Geld der Doppeleffekt von symbolischer und diabolischer Generalisierung sichtbar. Geld kann im Verständnis der Systemtheorie die Knappheit nicht lösen, sie wird nur transformiert in: Geldknappheit. Geld überwindet die Knappheit. Es stellt sich nur das Problem: wird gezahlt? Dabei sei Geld ein Medium, das die Gewalt zurückdränge und die Politik entlaste. „Geld ist der Triumph der Knappheit über die Gewalt. Zugleich ist das Geld die gesamte Bereitschaft, sich zu überlegen, was man d a f ü r kaufen kann. Es hat keinen verwendungsunabhängigen Eigenwert. Daher ist das Geld der systeminternen Dauerstimulanz ausgesetzt, ausgegeben zu werden. Es zirkuliert und verteilt daher die Knappheit im System auf von Moment zu Moment wechselnde Träger. Jeder Teilnehmer kann auf diese Weise f ü r sich selbst Knappheit mindern, indem er sich mit knappen Ressourcen entdeckt; aber dies nur, indem er Geld weiterleitet, das heißt seine eigene Geldknappheit ständig vergrößert" (Luhmann 1994, S.253). Geld dient f ü r ihn ebenso zur Zukunftsvorsorge. Wer über Mittel verfügt, kann seine Zukunft gestalten. Geld haben heißt in diesem Verständnis Z u k u n f t haben. Weil das Geld aber alles möglich macht, sei das Risiko hoch, daß die Menschen sich falsch entscheiden und sich die Z u k u n f t verbauen würden. „Symbolisch erscheint die Z u k u n f t als gegenwärtige Zukunft, als vertretbares Risiko. Aber der Teufel will, daß die künftigen Generationen nicht unbedingt der gegenwärtigen Z u k u n f t entsprechen müssen... Angesichts von Gefahren konnte die Gesellschaft sich mit Vertrauen in Gott helfen und mit dem Versuch, den Teufel abzuweisen. Angesichts von Risiken müssen f ü r dasselbe Problem andere Lösungen gefunden werden" (Luhmann 1994, S.271). Weil die Systemtheorie die Wirtschaft als ein autopoietisches, selbstreferentielles Teilsystem der Gesellschaft und die Politik als ein davon völlig verschiedenes Teilsystem begreift, wird daraus gefolgert, daß es sehr starke Grenzen geben muß für die Steuerung der W i r t s c h a f t durch die Politik. O f t wird der Wunsch vorgetragen, daß die Fehler der wirtschaftlichen Entwicklung durch politische Maßnahmen ausgeglichen werden sollen. Nach Luhmann ist dies jedoch eine fragwürdige Problemstellung. „Aber diese Vorstellung kollidiert hart mit dem Faktum

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funktionaler Differenzierung, das es ausschließt, daß Systeme wechselseitig füreinander einspringen können. Keine Politik kann die Wirtschaft, kann Teilbereiche der Wirtschaft, kann auch nur einzelne Betriebe sanieren, denn dazu braucht man Geld, also Wirtschaft" (Luhmann 1994, S.325). Steuerung oder NichtSteuerung erfolge nur in der Wirtschaft selber; die Politik wiederum kann für ihn nur mit Politik auf das eigene System einwirken. Außerdem sei das politische System kein herausragendes System, sondern ein Bereich unter vielen anderen. „Das politische System hat in dieser Hinsicht keine Ausnahmeposition; auch die Politik kann nur sich selber steuern, und wenn ihre Steuerung sich auf ihre Umwelt bezieht, dann eben auf ihre Umwelt. Ein Beobachter kann das anders sehen, er kann es selbst nicht anders machen" (Luhmann 1994, S.334). Die Politik verbleibe im Systemischen; sie könne sich deshalb weder selbst transzendieren, noch in einem höheren Auftrag handeln. Würde die Politik die Wirtschaft steuern, wäre die Differenz von Politik und Wirtschaft aufgehoben und es gäbe weder Politik noch Wirtschaft, noch die Beobachtung derselben. Erst die Differenzierung von Politik und Wirtschaft als Teilsysteme der Gesellschaft ermögliche die theoretische Herausarbeitung der spezifischen Gesetzmäßigkeiten der Teilsysteme.

9.2 System oder Struktur ? Es stellt sich nun die Frage, welchen Erkenntniswert die systemtheoretische Auffassung gegenüber der ökonomischen Theorie als Ganzes bzw. gegenüber der liberalen und keynesianischen Auffassung hat. Zunächst einmal läßt sich sagen, daß die Systemtheorie die Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften schärfer faßt als die ökonomische Theorie insgesamt und deswegen genauer nach den Gesetzmäßigkeiten der Teilsysteme fragen kann. Einen weiteren Unterschied gibt es in der Ausformulierung und Interpretation des Doppelkreislaufes der Wirtschaft. Dabei stellt Luhmann vor allem die Paradoxien und die Konditionierung der Marktteilnehmer als zentrale Probleme dar, die ökonomische Theorie beschreibt die Kreisläufe sowohl geldwirtschaftlich als auch güterwirtschaftlich und hebt die wirtschaftlichen Kategorien und Motive sowie die Rationalitätshypothese hervor. Bei der Betrachtung der Kategorien Kapital und Arbeit weist Luhmann vor allem auf die dritte Dimension -den Verbrauch- hin. In dieser Frage herrscht keine Einigkeit in der ökonomischen Theorie. Die übe-

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rale Theorie tut sich schwer in der Verwendung der Kategorien Arbeit und Kapital, da diese eher dem planwirtschaftlichen Denken entspringen. Sie betont vor allem das Angebot und richtet darauf ihr Augenmerk, die Nachfrage, der Verbrauch, spielt eher eine untergeordnete Rolle. Die keynesianische Ordnungspolitik allerdings hat den V e r b r a u cher fest im Blick und will durch Nachfragesteuerung die W i r t s c h a f t stabilisieren. Luhmann geht aber in dieser Betrachtung über das liberale und keynesianische Denken hinaus und will die Perspektive des Verbrauchers als unabdingbare Größe im Funktionssystem W i r t s c h a f t fest etablieren. Die Grenzen der Steuerung des Wirtschaftssystems sieht Luhmann ähnlich wie die liberale Theorie, wenn er vor überzogenen Eingriffsmöglichkeiten der Politik in das wirtschaftliche System warnt. Hier trifft seine Kritik hauptsächlich den keynesianischen Optimismus, makroökonomische Steuerung betreiben zu können. Im Gegensatz zur ökonomischen Theorie hat Luhmann eine neue Betrachtungsperspektive in die Theoriediskussion eingeführt, den Beobachter 2.Ordnung. Diese Sichtweise ermöglicht stärker als bisher das Augenmerk nicht nur auf Details zu lenken, sondern auf zentrale Mechanismen zu konzentrieren und darum besser zu beschreiben und zu verstehen, w a r u m die modernen Gesellschaften sich immer mehr ausdifferenzieren und welche Bedingungen notwendig sind, damit sie funktionieren bzw. nichtfunktionieren. Außerdem ermöglicht der Beobachter 2.Ordnung eher als die Perspektive der liberalen oder keynesianischen Sichtweise eine größere Abstraktion, Objektivität und Wertneutralität. Inwieweit diese wissenschaftliche Lücke von der Systemtheorie optimal genutzt wird, soll am Ende dieser Abhandlung noch einmal gefragt werden. Der Preis, den die Systemtheorie für ihre Vogelperspektive zahlt, ist allerdings sehr hoch, da sie bei der Bearbeitung von konkreten Problemen immer nur auf die Globalperspektive hinweisen kann und detaillierte Fragen ausblenden muß. Vielleicht liegt der wichtigste Beitrag der Systemtheorie aber nicht so sehr in der Ergänzung und Veränderung der ökonomischen Theorie, sondern muß als eine Auseinandersetzung mit der planwirtschaftlichen Ordnungspolitik betrachtet werden. Luhmann bestreitet mit seinen Kategorien die theoretische Möglichkeit der Planwirtschaft. Diese ist f ü r ihn immer eine verkappte Marktwirtschaft und keine eigenständige ordnungspolitische Richtung. Für Luhmann gibt es nur Subsistenzwirt-

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Schäften und Marktwirtschaften. Auch in der Planwirtschaft gilt nach Luhmann sein doppelter Wirtschaftskreislauf von Zahlung und Nichtzahlung einschließlich der damit verbundenen Paradoxien. Seine Kritik an der Planwirtschaft erreicht ihren Höhepunkt in der Diskussion um die Begriffe Arbeit und Kapital. Diese sind für das planwirtschaftliche Denken Grundbegriffe. Luhmann löst diese Polarität auf in ein Dreiecksverhältnis und gibt damit dem Verbraucher eine eigenständige Beschreibung. Damit spricht Luhmann der Planwirtschaft ihre eigene Existenzberechtigung ab, da er behauptet, es gibt nicht nur Arbeit und Kapital, sondern immer auch zusätzlich den Verbraucher. Die Kritik von Luhmann wird abgerundet durch die Auffassung, daß Politik und Wirtschaft zwei getrennte Teilsysteme sind. Die planwirtschaftliche Vorstellung geht vom Gegenteil aus. Ökonomie und Politik werden als gegenseitig bedingt betrachtet. Damit sind die Gegensätze zwischen Systemtheorie und Planwirtschaftstheorie unüberbrückbar. Es stellt sich nun die oben aufgeworfene Frage, inwieweit die Systemtheorie ihre Möglichkeiten ausschöpft, aus der Vogelperspektive die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die Funktionsmechanismen der Wirtschaft adäquat zu beschreiben. Mit dieser Frage hat sich ebenfalls sehr eingehend der Philosoph Heinrich Rombach (1994) beschäftigt. Er formuliert wichtige Vorbehalte gegen die Systemtheorie, nicht mit Hilfe ökonomischer, sondern mit philosophischen Argumenten. Sie sei zu mechanistisch, zu vereinfachend und würde damit den realen sozialen und wirtschaftlichen Prozessen nicht gerecht werden. „Das menschliche und das gesellschaftliche Leben ist nicht an 'Reduktionen' und nicht an Vereinfachungen interessiert; dementsprechend ist der Geschichtsgang der Menschheit auch gar nicht durch Prozesse der Vereinfachung gekennzeichnet. Gerade umgekehrt. Je entwickelter eine Kultur ist, desto komplizierter ist ihre Struktur" (Rombach 1994, S.266). Auch sei Theorie nicht einfach Aufklärung, sondern man müßte auch davon ausgehen, daß die Dinge von selber ans Tageslicht kommen. „Nicht erst der Soziologe erkennt die Gesellschaft, diese erkennt sich schon selbst, j a sie konstituiert sich nur als eine bestimmte Selbsterkenntnis und Se/¿>s/auslegung, zu der dann freilich immer auch eine bestimmte Weltauslegung gehört. Beides braucht natürlich nicht übereinzustimmen, die Selbsterkenntnis der Gesellschaft ist gewöhnlich besser als die Erkenntnis der Gesellschaft durch den Soziologen" (Rombach 1994, S.268f).

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In diesem Sinne wäre gegenüber Luhmann kritisch zu fragen, ob er das mechanistische Denken nicht übertreibt und seine großen Einteilungsschemata allgemein und formal bleiben. Wobei der Systemtheorie gelungen zu sein scheint, die Ausdifferenzierung der Wirtschaft als Problem erkannt zu haben und auf einfache Bezüge, vor allem aber auch auf Paradoxien des wirtschaftlichen Prozesses hinweisen kann. Der Beobachter 2.Ordnung hat zudem die Möglichkeit, die objektiven Strukturen besser zu erkennen, er steht aber beständig in der Gefahr, vor allem nachvollziehbare formale Kategorien zu Tage zu fördern und eine situative und historische Argumentation zu vernachlässigen. Ferner fehlt dieser Denkweise das Handeln der Subjekte innerhalb des Systems und jenseits des Systems. So ist es nicht verwunderlich, daß die ordnungspolitischen Unterschiede von Plan- und Marktwirtschaft nicht genügend gesehen werden, daß historische Entwicklungen nicht charakterisiert werden können, daß wirtschaftliche und politische Entscheidungen von Individuen, Unternehmern, Gewerkschaftlern, Verbrauchern und Politikern mit ihren unterschiedlichen Motiven und Voraussetzungen keine Rolle spielen. Literatur Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Ffm 1984 Luhmann, Niklas: Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1. Aufl., Ffm 1994 Maturana, Humberto R.: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braunschweig 1982 Rombach, Heinrich: Phänomenologie des sozialen Lebens, Freiburg/München 1994, vor allem S.250-269

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10. Europäische Integration 10.1 Europäische Identität Die Bildung der Europäischen Union einschließlich der Osterweiterung ist zur Zeit eine wichtige ordnungspolitische Frage. Die Einigung Europas als politische Zielsetzung läßt sich ideengeschichtlich zurückverfolgen auf die paneuropäische Bewegung, die davon ausging, daß es eine gemeinsame europäische Kultur und Geschichte gibt und die Nationalstaaten in einen größeren Verbund transformiert werden sollen. Sie formulierte in ihrem Manifest vom 1. Mai 1924 (vgl. Coudenhove-Kalergi 1964, S.67ff) drei Gründe für die Einheit Europas: •

Es drohe ein neuer Krieg zwischen den europäischen Staaten.



Die russischen Hegemonieansprüche bedrohten Europa.



Die zersplitterten Staaten seien nicht konkurrenzfähig gegenüber Amerika, England, Rußland und Ostasien.

Die paneuropäische Bewegung wollte Deutschland aus seiner politischen Sackgasse - durch den verlorenen Krieg - wieder hinausmanövrieren, Europa sollte wieder eine Weltmacht werden. Man zählte zwar England zu Europa, doch ging man davon aus, daß es aufgrund seines Kolonialreiches kein Interesse an einer politischen Union hätte. Die paneuropäische Bewegung verstand sich als Vertreterin des christlichen Abendlandes und der europäischen Aufklärung und demnach als freiheitlich, antikommunistisch, demokratisch und auch proamerikanisch. Es sollte ein europäischer Schiedsvertrag geschlossen werden, der die Grenzen innerhalb Europas sichere, eine paneuropäische Zollunion sollte die Wirtschaft voranbringen. Die europäische Frage lautet in diesem Selbstverständnis: „Ist es möglich, daß auf der kleinen europäischen Halbinsel 25 Staaten in interner Anarchie nebeneinander leben, ohne daß dieser Zustand mit einer furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Katastrophe endet?" (Coudenhove-Kalergi 1964, S.73f). Eine Wiederherstellung der europäischen Weltherrschaft sei unmöglich, es gehe darum, eine fünfte Weltmacht zu gründen. Als Symbol dieser Bewegung wurde das Sonnenkreuz gewählt, eine gelbe Sonne, worin ein rotes Kreuz eingelassen war: „Im Zeichen des Sonnenkreuzes, das die Sonne der Aufklärung verbindet mit dem Roten Kreuz internationaler Menschlichkeit -wird der paneuropäische Ge-

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danke siegen über alle Beschränktheit und Unmenschlichkeit chauvinistischer Zerstörungspolitik" (Coudenhove-Kalergi 1964, S.80). Oberstes Ziel war der Friede innerhalb Europas. Basis war die Familie, die Nation und die europäische Zusammenarbeit. Das Programm der paneuropäischen Bewegung war in der Weimarer Republik zunächst reinste Utopie und erntete meist ein mildes Lächeln. Die politisch Interessierten beschäftigten sich eher mit den Kriegsfolgen oder der Sozialen Frage. Die ersten Erfolge der paneuropäischen Bewegung in der Weimarer Republik wurden durch den Nationalsozialismus vernichtet. Europa wurde in den Zweiten Weltkrieg gestürzt. Nationalismus und Rassismus verdrängten die Europaidee, vor allem in Deutschland. Während dieser Zeit verstand sich die paneuropäische Bewegung als strikt antifaschistisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die paneuropäische Bewegung durch diplomatische Kanäle in vielen Ländern an Einfluß gewinnen. Ein Paneuropa war nun allerdings durch die Spaltung Mitteleuropas -durch die Spaltung in kapitalistische und sozialistische Staaten- unmöglich, wurde aber im Sinne des ersten Manifestes weiterverfolgt. Karl Jaspers hat sich unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg ebenfalls die Frage nach der europäischen Identität gestellt. Er fragt 1946 in einem Vortrag in Genf: was ist Europa? Worin unterscheidet sich Europa von anderen Kontinenten? Er erläutert in diesem Vortrag das spezifisch Europäische an drei Begriffen: Freiheit, Geschichte und Wissenschaft. Die Freiheit hält den Europäer in Unruhe. Sie ist für ihn die Überwindung der Willkür. „Der Anspruch der Freiheit ist daher, nicht aus Willkür, nicht aus blindem Gehorsam, nicht aus äußerem Zwang zu handeln, sondern aus eigener Vergewisserung, aus Einsicht. Daher der Anspruch, selbst zu erfahren, gegenwärtig zu verwirklichen, aus eignem Ursprung zu wollen durch Suchen des Ankers im Ursprung der Dinge" (Jaspers 1946, S. 10). Die Freiheit wurzelt in zwei weiteren europäischen Phänomenen, dem Bewußtsein der Geschichte und dem Willen zur Wissenschaft. Der Europäer will konkrete, also geschichtliche Freiheit. „Die Größe unserer abendländischen Geschichte sind die Freiheitsbewegungen im Miteinanderreden: in Athen, im republikanischen Rom, im frühen Island, in den Städten des frühen Mittelalters, in der Konstituierung der

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Schweiz und der Niederlande, in der Idee der französischen Revolution trotz ihres Abfalls und ihres Übergangs in Diktatur, in der klassischen politischen Geschichte der Engländer und Amerikaner. Wo die Freiheit in einer Abstraktion zum Ziel gemacht wird, da wird sie eine Phrase auf dem Weg zu irgendeiner neuen Gewaltsamkeit" (Jaspers 1946, S.14). Die Herausbildung eines geschichtlichen Bewußtseins ist unmittelbar mit der europäischen Entwicklung verbunden. Ein drittes Kennzeichen des Europäischen ist nach Jaspers die Leidenschaft zur Wissenschaft. Europäische Wissenschaft ist schrankenlos, sie will den Dingen auf den Grund gehen. „Sie duldet kein Verschleiern, sie erlaubt nicht die Ruhe fixierter Meinungen. Ihre erbarmungslose Kritik bringt Tatbestände und Möglichkeiten an den Tag. Ihre kritische Unbefangenheit aber kehrt sie jederzeit auch gegen sich selber. Sie erhellt ihre Methoden, erkennt die Weiten ihres Wissens, den Sinn und die Grenzen ihres Erkennens" (Jaspers 1946, S.15). Zur Wissenschaft gehört deswegen vor allem die innere Freiheit des Forschers. Aber auch das Experiment und das Wissen auf Vorläufigkeit. „Was Europa ist als Drang zur Freiheit, als eigentliche Geschichte, als Quelle universaler Wissenschaft, das bedeutet seine grundsätzliche Unvollendbarkeit. Denn Freiheit, Geschichte, Wissenschaft erreichen nie ihr Ziel. Daher ist Europa nicht fertig und daher muß, was wir aus unserem Grunde sein können, sich immer noch zeigen. Jene Wesenszüge müssen, gerade weil sie kein Besitz werden können, uns stets neue Chancen eröffnen. Die Zeitlichkeit ist in Europa ernst" (Jaspers 1946, S.16). Unterstützt von Churchill, Adenauer, Schumann u.a. versuchten einflußreiche Politiker und Gewerkschaftler unterschiedlicher politischer Couleur, die europäische Idee nicht insgesamt zu verwirklichen, sondern es wurde beschlossen, den europäischen Gedanken in einem zentralen ökonomischen Feld auszuprobieren. Die ehemaligen Kriegsgegner wollten im Kernbereich der Rüstungsindustrie - im Motanbereich- friedlich und zivil zusammenarbeiten. Ergebnis dieser Überlegungen (SchumannPlan) sind die Montanverträge von 1951. Die BRD, Frankreich, Italien und die Benelux- Staaten unterzeichneten den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Geplant waren gemeinschaftliche Regeln und Kontrollen für Produktion, Investitionen, Wettbewerb, Preisbildung und gleichmäßige Versorgung (insbesondere Steinkohle war noch knapp), die Angleichung der sozialen Bedingungen der Arbeitnehmer sowie Teile des Außenhandels:

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Die Schwerindustrie sollte keine Waffen für einen inneren Krieg schmieden.



Die diskriminierenden alliierten Beschränkungen und Kontrollen der Ruhrindustrie sollten abgelöst und der jungen Bundesrepublik der Weg in die westliche Staaten- und Verteidigungsgemeinschaft als gleichberechtigte Partnerin ermöglicht werden.



Zollgrenzen zwischen Lothringen, Luxemburg, Belgien und der Ruhr sollten beseitigt werden. Die Vergemeinschaftung der wirtschaftlichen Interessen zu wachsender Solidarität der Staaten sollte eine Grundlage bilden für eine politische Einigung.

Nicht eine politische Union wurde gegründet, dies war unmöglich, sondern eine Integration in einem begrenzten zentralen ökonomischen Bereich unter einer Institution mit echten supranationalen Vollmachten. Die Organe der Montanunion entsprachen den späteren Organen der EG. im Mittelpunkt ein mit weitgehenden Befugnissen ausgestattetes Exekutivorgan, die „Hohe Behörde", deren Entscheidungen in allen Mitgliedsstaaten unmittelbare Geltung hatten, ein „Rat" der nationalen Minister, eine „parlamentarische Versammlung", ein Gerichtshof sowie ein „Beratender Ausschuß" aus Vertretern der Interessengruppen. Wenn man heute die europäische Kohle- und Stahlpolitik bilanziert, so muß zunächst nüchtern festgestellt werden, daß die Kohle völlig verdrängt wurde von anderen Energieträgern, die auf dem Weltmarkt angeboten werden; und daß die Stahlindustrie unzählige Arbeitsplätze verloren hat. Dies hat seinen Grund u.a darin, daß die Betriebe nach einseitigen Kostenüberlegungen heraus beurteilt und rationalisiert wurden. Dabei wurden die eigentlichen Kosten zu wenig berücksichtigt: Kosten für die Schließung der Betriebe, Abhängigkeitskosten vom Weltmarkt, Kosten für den Neuaufbau von Betrieben. Von einer eigenständigen wirtschaftlichen Kohle- und Stahlbasis kann deswegen heute keine Rede mehr sein. Das Zurückdrängen der Kohle hat aber noch einen ökologischen Gesichtspunkt. Aufgrund der Nichtregenerierbarkeit der am meisten verwendeten Energiearten (Öl, Gas) ist auf diese für die Zukunft nicht zu bauen. Die Verwendung nichtregenerierbarer Energiearten bedeutet eine unwiederbringbare Vernutzung von Energieressourcen. Die Energie, die sich in Millionen Jahren aufgebaut hat, wird in wenigen Jahren aufgebraucht.

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Es ist absehbar, wann die Grenzen dieses Energieverbrauchs auftauchen werden, wann die Preise steigen und soziale Konflikte entstehen werden. Ein Umstieg auf alternative und regenerierbare Energiesysteme ist dringend erforderlich. Aufgrund der Transportkosten bieten sich regionale Lösungen an. Ein zweites Standbein europäischer Integrationspolitik ist die europäische Agrarordnung. Sie wurde -ähnlich wie die Montanordnung- bereits in den 50er Jahren begründet. Die einzelnen Staaten wollten in der Frage der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln gemeinsame Lösungen finden, um möglichst gute landwirtschaftliche Produkte zu annehmbaren Preisen zu ermöglichen. Die Bilanz der europäischen Agrarpolitik fallt heute wenig schmeichelhaft aus. Die Probleme sind allseits bekannt: Subventionspolitik, Überschußproduktion, Existenzkrisen und hohe Verschuldung bei den landwirtschaftlichen Betrieben, Arbeitskräfteflucht bei gleichzeitig sich weltweit ereignenden Hungerkatastrophen. Unzufriedenheit herrscht bei allen Beteiligten. Positive Impulse in der Agrarpolitik kamen in den letzten Jahren nicht von der Europäischen Union, sondern von den Vertretern der ökologischen Landwirtschaft. Sie fordern zu Recht eine naturnahe Bewirtschaftung des Bodens und eine artgerechte Tierhaltung auf der Basis von in sich lebensfähigen Höfen, regionale Verflechtungen und eine möglichst regionale Versorgung, keine Großunternehmen mit Massenproduktion und großindustrieller Technik. Ökonomisch fordern sie eine Landwirtschaft, die in sich lebensfähig ist und sich über gerechte Preise finanziert. Eine zentralistische Europapolitik ist eher ein Hindernis zur Lösung dieser landwirtschaftlichen Fragestellungen. Sie betreibt leider das genaue Gegenteil. Eine Liberalisierungspolitik im Sinne des europäischen Binnenmarktes verschärft demnach nur die Agrarprobleme und leistet keinen echten Beitrag zur Herstellung gesunder Nahrungsmittel und zur Lösung der weltweiten Ernährungskrise. Ohne Zweifel hätte die paneuropäische Idee, wenn sie stärker in der Weimarer Republik beachtet worden wäre, den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg und damit vielleicht auch die Entwicklung der Atombombe mitverhindern können. Ohne Zweifel hat sie nach dem Zweiten

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Weltkrieg mitbewirkt, daß ein Krieg in Mitteleuropa verhindert wurde. Diese Leistungen sind sicherlich nicht zu unterschätzen. Der westdeutsche Philosoph Peter Sloterdijk hat in seinem Essay „Falls E u r o p a erwacht" aufgezeigt, daß die europäische Politik nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Identität nicht gefunden hat und dringend einer Selbsterweckung bedarf: „Falls Europa erwacht: dann wird die absurde und lustlose Nachahmung der Vereinigten Staaten von Amerika durch die Vereinigten Staaten von Europa des Straßburg-Brüssel-Typus sich in kürzester Zeit erschöpfen; ja, man wird in dieser hilflosen und von Anfang an falschen Idee das politische Hauptmerkmal der AbsencePeriode erkennen und sich von ihm wie von einem unnötig gewordenen neurotischen Symptom verabschieden... Mit Recht hat man Europa die Mutter der Revolutionen genannt; eine tiefere Definition würde E u r o p a als den Herd der Revolte gegen das menschliche Elend bezeichnen. Sobald Europa wieder erwacht, kehren Wahrheitsfragen in die große Politik zurück" (Sloterdijk 1994, S.53f). Europa sollte sich also auf seine geistigen Identitäten besinnen und sie in praktische Politik umsetzen. So wäre eine zukunftsweisende Energiepolitik (vgl. Weizsäcker u.a. 1995) -Energiesparen, alternative Energieformen- und eine zukunftsweisende Landwirtschaft (Sattler/ Wistinghaus 1989) nicht zu behindern, sondern zu ermöglichen. Dazu ist eine Ökonomie notwendig, die auf einem pluralistischen und nicht einseitigen Menschenbild beruht und den klassischen Hauswirtschaftsgedanken f ü r die heutige Zeit fruchtbar macht. N u r so kann das europäische H a u s strukturiert werden. Außerdem ist darauf zu verweisen, daß die aktuelle europäische Integrationspolitik vor der Wende 1989 begründet wurde und damit die osteuropäischen Staaten zunächst aus dem Blickfeld verloren hat. Eine partnerschaftliche ökonomische und politische Zusammenarbeit mit diesen Staaten ist aber ein entscheidender Maßstab f ü r eine gelungene Politik.

10.2 Das neue Geld Europas Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion ist eine einschneidende ordnungspolitische Veränderung, da die beteiligten Staaten in einen größeren Wirtschaftsraum (Binnenmarkt) eingeordnet worden sind und hoheitliche Kompetenzen haben abgeben müssen. In diesem Kontext ist die Einfuhrung einer gemeinsamen Währung sicherlich der neuralgischste Punkt gewesen. Der Zeitpunkt hat auf Druck der beteiligten

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Politiker als unumstößlich gegolten. Elf Staaten, die vorgegebene „Stabilitätsmerkmale" (sog. Konvergenzkriterien) -geringe Inflation, Abbau der Schulden, geringe Kreditzinsen- 'erfüllten', sind in diesen neuen Währungsverbünd eingetreten. Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist nicht ausdrücklich als Stabilitätsmerkmal bestimmt worden. Nimmt man die „Stabilitätsmerkmale" genau, erfüllt fast kein Staat alle Anforderungen, da entweder die Staatsschulden oder die Inflationsraten zu hoch waren. Es ist keine Währungsreform. Am 1. Januar 1999 sind einfach die jeweiligen nationalen Währungen in Euro umgerechnet worden, d.h., daß in Deutschland alle Preise, Löhne, Renten, Mieten etwa durch zwei geteilt worden sind und die Spar- und Kreditzinsen nominell bestehen bleiben. Die EU-Staaten, die noch nicht am Euro teilnehmen wollen, koppeln ihre Währungen trotzdem an den Euro an (EWS II). Die meisten deutschen Ökonomen und die Mehrzahl der Bevölkerung äußerten sich kritisch zum geplanten Ablauf und hatten sich eher für eine Verschiebung der Einfuhrung der neuen Währung ausgesprochen, da zuviele Risiken entstehen könnten: Die Deutsche Einheit sei mit schwerwiegenden Konstruktionsfehlern behaftet und noch nicht bewältigt; es bestehe Inflationsgefahr; die Arbeitslosigkeit sei zuwenig berücksichtigt; die Umwelt werde noch stärker belastet; es entstünde innerhalb Europas in und zwischen den Ländern eine wirtschaftliche Spaltung; die Europäische Zentralbank sei überfordert; der Sozialstaat würde abgebaut, die Schulden würden steigen, es entstünde ein neuer Euro-Fanatismus, der Streit innerhalb der europäischen Länder sei vorprogrammiert. Doch die Politiker haben das Projekt durchgezogen in der Hoffnung, daß der Euro aus weltwirtschaftlichen Stabilitätsnotwendigkeiten ein Erfolg wird. Die europäische Währungsunion verändert die Blickrichtung der Menschen von der Ökonomie zum Geld, von der Wirtschaft zur Europäischen Zentralbank. Die Geldfixierung wird damit verstärkt. Eine scheinbar neutrale Macht mit Fachleuten soll die wirtschaftliche Stabilität von Millionen Menschen regeln. Das ist natürlich nicht leistbar und ruft Ängste hervor. Die neue Währungsordnung verdichtet Raum und Zeit mittels der Macht und der Faszination des Geldes und preßt aus dem Geldfetisch den Geldvirus 1 . Die Menschen werden innerlich hektischer und räumlich zusammengepreßt, die natürliche Umwelt wird noch 1

Diese Idee geht auf ein Gespräch mit Ivan Illich zurück.

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stärker belastet. Der Streit um die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank ist der tagespolitische Ausdruck dieses Prozesses. Aufgabe der ökonomischen Theorie ist die Erforschung der Ursachen und Bedingungen des Volkswohlstandes (Adam Smith). Dazu hilft heutzutage das neoklassische, keynesianische oder monetaristische Wissen wenig, da dieses die Quantität und Qualität des Wohlstandes nicht im Blick hat, sondern diese voraussetzt. Die ökologische Diskussion hat aber gezeigt, daß diese Voraussetzungen nicht mehr stimmen. Außerdem war der Wohlstand noch nie in der Geschichte ein rein wirtschaftliches Gut, sondern etwas Gutes. Das Gute ist aber eine Frage der geistigen Haltung. Genau wie das Bedürfnis nicht nur wirtschaftlich zu interpretieren ist, sondern auch im philosophischen Sinne: „So gehören in den Begriff Bedürfnisse die Notdurft des Hungers und der Anspruch, am Weltganzen teilzuhaben, immerhin zusammen, noch bevor sie, wie bei Hegel, als wirksame Vermittlung des einen durch das andere begriffen werden" (zur Lippe 1991, S.49). Es ist notwendig, die Einsicht in uns -als Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Verbraucher 1 - zu entwickeln, daß auch die wirtschaftlichen Gegebenheiten auf Gütern -auf dem Guten- beruhen, die nach inneren Gesetzmäßigkeiten strukturiert sind und das Geld im eigentlichen Sinn nur eine Abrechnungsfunktion -und keine Fetisch-, Virus-, oder Spekulationsfunktion- zu erfüllen hat. Es kann aber nur etwas abgerechnet werden, wenn vorher etwas Gutes produziert und verteilt wurde. Die Ökonomie braucht daher ein Verständnis für die Güter, ein Gefühl für Qualität, für die zu schaffenden Werke, eine Werktheorie also. Der Erfolg in Europa hängt sehr stark vom Gelingen der neuen Währung ab. Die Probleme sind offensichtlich: Arbeitslosigkeit, Verschuldung, Umweltbelastung, Sinnfragen. Es droht ein wirtschaftlicher Machtkampf innerhalb der einzelnen Staaten, zwischen den Staaten mit der Euro-Währung, zwischen den Euro-Staaten und den Rest-EUStaaten, zwischen Europa und den osteuropäischen Staaten, bzw. auf dem Weltmarkt insgesamt. Das Verwirrspiel wird vollständig, wenn man weiß, daß die Wirtschaft quer zu den einzelnen Staaten und Europa -als internationale Konzerne- organisiert ist, das gilt im besonderen für die Finanzmärkte. Dadurch sind die Einflußmöglichkeiten der einzelnen Regierungen und Zentralbanken begrenzt. Arbeitnehmer und Verbrau1

Siehe hierzu auch Luhmann in Kap. 9.1

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eher sind damit in einer schwächeren Position gegenüber den Arbeitgebern (Banken). Es droht, daß das liberalistische Konzept auf den Weltmärkten als dominierendes Einheitsprinzip -Menschenrechte und Marktwirtschaft nach westlicher Lesart- machtpolitisch durchgesetzt wird. Das würde bedeuten, daß diese Zusammenarbeit zu Lasten Dritter geht. Der drohende Machtkampf kann dann jedem Normalbürger vor Augen führen, daß die modernen Probleme wirtschaftlicher und monetärer Art zu sein scheinen und nur mit naturwissenschaftlichen Methoden lösbar sind. 10.3 Der Haushalt Der ordnungspolitische Spielraum hängt entscheidend von den finanziellen Möglichkeiten ab. Der europäische Haushalt ist erklärbar aus der historischen Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses. Er wurde in der Vergangenheit sehr stark geprägt durch den Kohle-Stahlbereich und durch die Landwirtschaft. Insgesamt sind die Haushaltsmittel verglichen mit den Mitgliedsstaaten sehr begrenzt. Die EU verfügt nicht über das hoheitliche Recht, die Einnahmen in Form von Steuern und Abgaben zu erhöhen. Das ursprüngliche System beruhte auf den nationalen Beiträgen, die sich nach der Wirtschaftskraft der Mitgliedsländer richteten. Seit dem 31.10.1994 verfügt der Haushalt auf der Einnahmenseite (vgl. zu den Zahlen: Bundesminister der Finanzen 1995) allerdings über die sog. Eigenmittel. Sie setzen sich wie folgt zusammen: •

Agrarabschöpfungen und Zuckerabgaben sowie Zölle: Diese Mittel werden bei Importen aus anderen Staaten an der Außengrenze der EU erhoben.



Mehrwertsteuer (Eigenmittel): Alle Mitgliedsstaaten der EU erheben in ihrem Hoheitsgebiet eine Mehrwertsteuer. Ab dem Jahre 1999 soll statt bisher 1,4 Prozent nur noch 1 Prozent der nationalen Mehrwertsteuer an die EU abgeführt werden.



Bruttosozialprodukt (Eigenmittel): Sie ergeben sich, indem das BSP jedes Mitgliedsstaates mit einem EU-einheitlichen BSP-Eigenmittelsatz multipliziert wird. Sie dienen der Restfinanzierung und werden nur dann in Anspruch genommen, wenn die anderen Mittel nicht ausreichend sind.

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Die Eigenmittel sind begrenzt. Sie sollen maximal 1,27 Prozent des gemeinschaftlichen Bruttosozialprodukts betragen. Die Eigenmittel machten 1995 rund 93,4 Prozent der gesamten EU-Einnahmen aus. Die restlichen 6,6 Prozent entfielen auf die Posten „Überschüsse aus vorangegangenen Haushaltsjahren" und auf „Verschiedene Einnahmen", die sich aus Einnahmen aus Verwaltungstätigkeit und auf einer Steuer auf die Einkommen der EU-Bediensteten zusammensetzten. Es muß hier d a r a u f verwiesen werden, daß im Gegensatz zu den Haushalten der Mitgliedsländer Kredite zur Erzielung von Einnahmen nicht aufgenommen werden dürfen. Um die Größenordnung deutlich zu machen: Der H a u s halt der EU betrug beispielsweise f ü r das Jahr 1995 146,7 Mrd. D M , der deutsche Bundeshaushalt betrug in demselben Jahr 477,6 Mrd. D M . Und nun zu den Ausgaben: •

Agrarpolitik: aus historischen Gründen war die Agrarpolitik der höchste Posten bei den Ausgaben. Er betrug früher etwa 70 Prozent und wurde im Jahre 1995 auf 48,9 Prozent gedrückt. Es w a r von Anfang an eines der Prinzipien, daß die Kosten f ü r diese Politik von allen Mitgliedsstaaten solidarisch getragen werden sollten.



Strukturpolitik: sie beanspruchte im Jahre 1995 31,1 Prozent der Ausgaben. Die zentralen Instrumente der gemeinsamen Strukturpolitik sind die Strukturfonds. Der europäische Fonds für regionale Entwicklung soll strukturelle Anpassungen rückständiger Gebiete unterstützen. Der Europäische Sozialfonds hat die Aufgabe, zur Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten der Arbeitskräfte innerhalb der Union die berufliche Verwendbarkeit und die örtliche und berufliche Freizügigkeit der Arbeitskräfte zu fördern. Der Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds f ü r die Landwirtschaft soll die Anpassung der Agrarstrukturen im Sinne der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik beschleunigen und zur Entwicklung der ländlichen Gebiete beitragen. Das Finanzierungsinstrument zur Ausrichtung der Fischerei hat die Aufgabe, die Verarbeitung und Vermarktung der entsprechenden Erzeugnisse zu fördern.

Die Binnenpolitiken betrugen 1995 6 Prozent der gesamten Ausgaben. Sie wurden ausgegeben f ü r Bildung, Jugend, Kultur und Soziales. Es seien die Programme Leonardo und Sokrates erwähnt. Außerdem f ü r Energie und Umwelt. Hier sei die Förderung erneuerbarer Energie und das Programm für rationelle Energienutzung erwähnt. Zur Binnenpolitik

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gehört noch die Förderung von Forschung und technologischer Entwicklung. Der Anteil der Ausgaben für Außenpolitiken für das Jahr 1995 betrug 5,1 Prozent. Er ging in die Entwicklungshilfe und in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Zu den Ausgaben zählen außerdem noch Reserven in Form von Währungsreserven, Garantiefonds-Reserven und Soforthilfe-Reserven. Außerdem sind noch die Kompensationsleistungen im Rahmen der Erweiterung der EU als Ausgaben zu erwähnen. Die Darstellung des Aufbaus des europäischen Haushalts soll deutlich machen, daß eine stärkere wirtschaftliche Gestaltung unter diesen Bedingungen bisher nicht erwünscht war. Die Haushaltsmittel sind sehr begrenzt und sollen auch nicht ausgedehnt werden. Es gibt dafür gute Gründe. Begreift man die Ordnungstheorie auch als Hauswirtschaftslehre (siehe Kap. 1.4), dann ist es notwendig, auch über landwirtschaftliche Ordnungsfragen nachzudenken. Die ordnungspolitische Kontroverse zwischen Liberalen und Keynesianern läßt sich hier nicht wiederfinden. Hier stehen sich eher Liberale und Etatisten sowie die konventionelle und die ökologische Landwirtschaftsauffassung gegenüber.

10.4 Der Europäische Agrarmarkt a) Die Ausgangslage Neben der Montanindustrie war die Agrarwirtschaft der zweite Schwerpunkt des europäischen Einigungsprozesses durch die Römischen Verträge von 1957. In der Schwer- und Rüstungsindustrie und in der Agrarwirtschaft sollte die Versorgung der Bevölkerung in Frankreich, Deutschland, Italien und den Benelux-Staaten gemeinsam gesichert werden. In beiden Bereichen herrschte Unterversorgung. Von der Kooperation erhoffte man sich eine friedensstiftende Wirkung, da sie kriegerische Handlungen zwischen den ehemals verfeindeten Staaten im Keim ersticken sollte. Die Agrarwirtschaft galt als ein Teil der Marktwirtschaft, der allerdings eine Sonderstellung inne hat. Die Sonderstellung begründet sich aus der Aufgabe, die Ernährung der Bevölkerung zu sichern, aus der Nähe zur Natur, aus der Begrenztheit des Bodens. Diese drei Argumente

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bilden den Ausgangspunkt für die Hypothese, daß zwar ähnlich wie in der Industrie marktwirtschaftliche Bedingungen verwirklicht werden sollen, daß diese aber nicht vollständig auf den Agrarbereich übertragen werden können. Damit steht dieser Bereich in einem besonderen Spannungsverhältnis, das über die Sonderstellung hinausgeht. Betrachtet man sich die Merkmale für die Bedingungen einer Marktwirtschaft, so stellt man fest, daß der Agrarbereich keine Sonderstellung einnimmt, sondern umgekehrt am besten einige Merkmale erfüllt. Die Marktwirtschaft geht vom Privateigentum und freien Verträgen sowie vom Haftungsprinzip aus. Gerade der familiäre bäuerliche Familienbetrieb, auf den sich unsere Agrarwirtschaft stützt, beruht auf persönlichem Eigentum und der Verantwortung für den Hof und die Ernte. Dieser prinzipielle Zusammenhang ist sogar stärker als im industriellen Bereich, so daß diese drei Merkmale im Agrarsektor besser erfüllt sind als in jedem anderen Bereich. Allerdings gelten diese Zusammenhänge nur eingeschränkt für die marktwirtschaftlichen Bedingungen Wettbewerb und freie Preisbildung. Der Agrarbereich steht im Gegensatz zur Industrie in viel stärkerem Maße im Wettbewerb und in der Auseinandersetzung mit der Natur und muß sich in diesem Rahmen bewähren. Die Industrie kann sich stärker von der Natur lösen und hier gibt es den Wettbewerb und den Vergleich mit Betrieben, die ähnliche oder gleiche Produkte herstellen. Die europäische Agrarpolitik setzte sich von Beginn an drei Zielsetzungen: •

Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmittel



gemeinsame Preise



Steigerung der Produktivität.

Um der Sonderstellung der Agrarwirtschaft gerecht zu werden, entwikkelte die Agrarbehörde in Brüssel für alle Produkte eine eigene Marktordnung. Die Preise sollten sich nicht marktwirtschaftlich durch Vereinbarungen der Produzenten, Händler und Verbraucher bilden, sondern wurden bürokratisch gesteuert. Alle Produkte mußten erfaßt, definiert und standardisiert werden und wurden mit Rieht-, Interventions- und Schwellenpreisen versehen Der Richtpreis ist der Preis, der sich am Markt ergeben soll.

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Liegen die Marktpreise aber unterhalb des Richtpreises, geben die Interventionspreise an, wann die Behörde durch Aufkäufe der Produkte eingreifen soll, um den Marktpreis in Richtung des Richtpreises zu treiben. Der Schwellenpreis reguliert die Handelstätigkeiten mit den nicht EG-Staaten. Da deren Produkte oft billiger sind als die eigenen, werden höhere Schwellenpreise festgesetzt. Die Preisdifferenz erhält die EGHaushaltskasse. Aufgrund der Richtpreispolitik hat die europäische Agrarwirtschaft schon in den 60er Jahren bei vielen Produkten mehr produziert als nachgefragt wurde, da die gesamte produzierte Menge entweder vom Verbraucher oder von der EG (Interventionsstellen) gekauft wurden. Dadurch entstanden die berühmten Butter- und Milchberge, die gelagert werden mußten oder mit billigen Preisen im Ausland abgesetzt wurden. Der Aufkauf und die Lagerung der Produkte durch die Bürokratie belastete den europäischen Haushalt in starkem Maße. Durch die Einbindung der Agrarwirtschaft in die marktwirtschaftliche Konkurrenzordnung verstärkte sich für diesen Bereich der Druck, die Produktion zu mechanisieren und bei der Düngung und Schädlingsbekämpfung immer stärker chemische, umweltfeindliche Mittel einzusetzen. Im Agrarbereich setzte ein Konzentrationsprozeß ein und viele Betriebe wurden wegrationalisiert und mußten aufgeben, Arbeitsplätze wurden in großer Zahl abgebaut. Dieser Strukturwandel läßt sich auch durch die offizielle (vgl. Thiede, 1992, l.Kap.) Statistik für die Jahre 1950-1990, und sicherlich auch darüber hinaus, belegen: •

Es schieden in Deutschland/West etwa 1 Mio. Betriebe aus; nur noch 38% verblieben.



Die durchschnittliche Betriebsgröße stieg von 10 ha auf 18,7 ha.



Die Beschäftigten gingen um fast 4 Mio. zurück (Rückgang um 83%).



Der Schlepperpark wurde um 1,2 Mio. Stück erweitert (Zuwachs um das 12 fache).



Die Zahl der Mähdrescher stieg um das 100 fache.



Die Stickstoffgaben je ha Fläche wurden um 89 kg vergrößert.

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Die Erträge an Winterweizen stiegen von 27,3 dt/ha auf 66,6 dt/ha (Zuwachs um 144%).



Die Milchleistung j e Kuh und Jahr verzeichnete einen Z u w a c h s um 90%).



Die Gesamterzeugung stieg um 217%.



Die Arbeitsproduktivität wuchs um das 15 fache.

Die Preispolitik der 60er Jahre wurde in den folgenden Jahren jährlich in den Agrarverhandlungen weiterentwickelt und vervollständigt. Die Rieht-, Interventions- und Schwellenpreise wurden j e nach Marktlage neu festgesetzt. Trotzdem wurden die „Überschußmengen" nicht abgebaut und die Kosten für Mengenaufkäufe und Subventionen stiegen beträchtlich und belegten die These von der Sonderstellung der Agrarwirtschaft in der Marktwirtschaft. In den 80er Jahren mußte die Preispolitik sogar durch eine Mengenpolitik ergänzt werden. Man wollte die Überschüsse dadurch vermindern, daß man den Produzenten vorschrieb, wieviel Menge jeder einzelne produzieren durfte. Die Quotierung der Milch ist das bekannteste Beispiel. Außerdem mußten die Ausgaben im EG-Haushalt f ü r den Agrarbereich prozentual vermindert werden. Wie eben beschrieben, setzte sich die europäische Agrarpolitik die ehrgeizige Zielsetzung, nicht nur die Versorgung zu sichern und die Produktivität zu steigern, sondern eine einheitliche Preispolitik f ü r alle Produkte innerhalb einer Wettbewerbsordnung anzustreben. Aus diesem Grunde entwickelte man ein ausgiebiges preispolitisches Instrumentarium mit Richtpreisen, Interventions- und Schwellenpreisen. Begriffe, die man bisher nur aus der Erdölpolitik kannte. Dabei wurde allerdings nicht bedacht, daß in der Landwirtschaft völlig andere Verhältnisse herrschen. Gemeinsame Preise setzen mehr oder minder gleichartige (homogene) Güter voraus, das genaue Gegenteil ist allerdings im Agrarbereich der Fall. E s gibt völlig unterschiedliche Produkte, an unterschiedlichen Orten, unter völlig unterschiedlichen Bedingungen. Diese Produkte haben f ü r die verschiedenen Menschen zudem eine unterschiedliche Bedeutung. Ein Vegetarier bewertet z.B. Fleisch völlig anders als ein Nichtvegetarier. Eine Kuh kann als heiliges Tier oder als Nutztier betrachtet werden. Gerade der Agrarbereich produziert Güter, die nicht homogen sind. Die

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Die Homogenität ist aber eine wichtige Bedingung für ein einheitliches Preissystem. Diese theoretische Fehleinschätzung hat einschneidende praktische Konsequenzen. Die europäische Agrarpolitik hat versucht, die landwirtschaftlichen Produkte in ein homogenes Korsett einzupassen. Die Vielfalt wurde reduziert, die einzelnen Produkte definiert und standardisiert und auf bürokratischem Wege mit Richtpreisen bewertet, die in zähen Interessenverhandlungen bestimmt wurden. Weil die Herausbildung eines gemeinsamen Preissystems für inhomogene Güter nicht funktionieren kann und weil man den Agrarbereich in seiner Polarität als marktwirtschaftlich konform und als marktwirtschaftlich inkonform methodisch nicht begreifen konnte, wurde das Preis- und Mengenmanipulationsverfahren jedes Jahr neu festgesetzt. Es entstand eine Preis- und Quotenbürokratie mit Überschüssen und Schenkungsgeldern in einer Welt mit europäischer Überversorgung und weltweiten Hungerproblemen. Das mechanistische Denken übertrug sich auch auf die landwirtschaftlichen Produzenten. Sie betrachteten immer stärker ihre Produkte als mehr oder minder homogene Güter und versuchten deswegen ihre Produktion zu optimieren und damit auch eine Optimierung der Natur vorzunehmen. Doch die Natur läßt sich nicht vom Menschen optimieren. In die Agrarwirtschaft kam auch relativ früh die chemische Industrie nicht mit natürlichem Dünger und Schädlingsbekämpfungsmittel, sondern mit künstlichen, homogenen Erzeugnissen. Außerdem entwickelte die Agrartechnikindustrie große Maschinen, die es ermöglichen sollten, daß rationeller und effektiver gearbeitet werden konnte. Durch die chemische Industrie und die Agrartechnik setzte sich immer stärker ein mechanistisches Weltbild im Umgang mit der organischen Natur durch bzw. kam damit in Konflikt. Außerdem wurde ein Teil des landwirtschaftlichen Wissens im Umgang mit der Natur als überholt beiseite geschoben und durch naturwissenschaftliches Faktenwissen ersetzt, das vor allem von der chemischen Industrie definiert wurde. Der Verbraucher existiert hier nur als anonyme mehr oder minder kaufkräftige Masse, die darauf hoffen mußte, daß Produzenten, Supermärkte und Bürokratie verantwortungsbewußt zusammenarbeiten. Gewinner dieses Prozesses waren die spezialisierten und mechanisierten agrarwirtschaftlichen Großbetriebe, Teile der chemischen Industrie, Teile der Hersteller von Agrarmaschinen, die konzentrierten Ver-

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arbeitungsbetriebe- Großmolkereien (Müllermilch), Großschlachthöfe (Moksel, Norddeutsche Fleischzentrale NFZ, Südfleisch, Westfleisch etc.)-, die industrielle Nahrungsmittelindustrie -Unilever, die OetkerGruppe,- die Supermärkte, die Agrarbürokratie und politisch gesprochen der Friede in Europa. Die Verbraucher erhielten Waren in großer Anzahl zu relativ günstigen Preisen, die allerdings zunehmend nicht eine natürliche, sondern eine industrielle Qualität enthielten. Verlierer dieses Prozesses waren die Betriebe, die aufgeben mußten; die Arbeitsplätze, die verloren gingen, der Umweltschutz, ein emphatisches Naturverständnis, der mündige Verbraucher. Der ökologische Landbau, der sich besonders in den 80er Jahren ausweitete, kann als eine Bewegung gegen diesen Strukturwandel angesehen werden. Ausgehend von der Kritik am mechanistischen Weltbild, von einem ganzheitlichen Natur- und Menschenverständnis wird versucht, eine naturnahe Agrarwirtschaft zu betreiben. Die Bodenfruchtbarkeit soll mit natürlichen Mitteln verbessert werden, die Tiere artgerecht gehalten und versorgt werden und es sollen qualitativ hochwertige Lebensmittel produziert werden zu Preisen, die ein Überleben der Betriebe sichern. Außerdem verstehen sich die Betriebe als kulturelle Mittelpunkte im ländlichen Raum. Diese Gegenbewegung (Agöl) zur europäischen Agrarpolitik (vgl. den Agrarbericht 1996, S.32f und S.140f) umfaßte 1995 insgesamt 5168 wirtschaftende Betriebe mit einer Fläche von 181008 ha. Während die konventionelle Agrarwirtschaft konsequent Höfe stillgelegt und Arbeitsplätze abgebaut hat, hat der ökologische Landbau in den letzten 20 Jahren Zuwächse erzielt. Die Ausweitung hält an, die Zahl der Betriebe ist beispielsweise 1995 gegenüber dem Vorjahr um 4,6% und die Fläche um 11% gestiegen. Allerdings arbeiten nur 1% der deutschen Agrarbetriebe ökologisch. Obwohl sich diese Bewegung gegen die offizielle Politik richtet, hat die Agrarpolitik sie mittlerweile ertragen und geduldet und unterstützt sie in bescheidenem Maße. b) Agrarwirtschaft und Weltmarkt Die europäische Agrarreform von 1992 stellt eine grundsätzliche Weichenstellung (vgl. hierzu: Agrarbericht 1996, S.93ff, sowie den Kritischen Agrarbericht 1996, S.16ff) dar. Aufgrund der Überschußprobleme und der immer teurer werdenden Subventionen sowie dem internationalen Druck bei den GATT-Verhandlungen wurde die Agrarordnung

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nung neu orientiert. Die Preise sollen nicht mehr so stark an europäischen Richtpreisen, sondern an meist niedrigeren Weltmarktpreisen orientiert werden. Vor allem die Akteure des Weltmarktes Neuseeland, Australien, Argentinien, Kanada und vor allem die USA drängen a u f offene Märkte. Im Gegensatz zur Zeit vor 1992 sollen die Einkommen der Agrarwirtschafit nicht mehr über die Preise (Richtpreise) gesichert werden, sondern über Weltmarktpreise. Die dadurch entstehenden Benachteiligungen der Europäer sollen durch direkte Einkommenstransfers ausgeglichen werden. So hat die Reform 1992 (vgl. hierzu: Agrarbericht 1996, S . 9 4 f f ) bei pflanzlichen Produkten eine neue Marktpolitik eingeleitet. Bei Getreide, Ölsaaten und Hülsenfrüchte liegt das Schwergewicht nicht mehr a u f der Preisstützung, sondern auf direkten Hilfen in Form von flächenbezogenen Ausgleichszahlungen. Um in den Genuß zu kommen, sind die Landwirte, soweit es sich um Kleinerzeuger handelt, zur Ernte 1996 verpflichtet, mindestens 10 Prozent der insgesamt ausgleichsberechtigten Fläche stillzulegen. Besondere Vorteile bringt die Umstellung des Systems im pflanzlichen Bereich für die tierische Veredlung. Landwirte, die ihr Getreide verfüttern oder verarbeiten, erhalten auch die A u s gleichszahlungen. Außerdem können bestimmte Veredlungsbetriebe die Stillegungsprämie auf andere Landwirte übertragen. Die Reform hat zu einer schrittweisen Senkung der administrierten Stützpreise in den drei Wirtschaftsjahren 1993/94/95 geführt. Die Getreidepreisstützung erfolgt weiter über die Intervention. Für Ölsaaten, Öllein und Eiweißpflanzen erhalten die Landwirte Erzeugerpreise, die sich an den Weltmarktpreisen ausrichten. Grundsätzlich erhalten die Landwirte f ü r die Preissenkungen flächenbezogene Ausgleichszahlungen zum Ausgleich von Einkommensverlusten. Auch bei Obst und Gemüse steht der Abbau der Überproduktion im Vordergrund. Angestrebt werden zudem die Stärkung der Marktstellung von Erzeugerorganisationen und damit eine Verbesserung der Vermarktungsbedingungen f ü r die Erzeuger. Mit der Förderung des Anbaus von Qualitätserzeugnissen und der Berücksichtigung ökologischer Belange soll auch dem Verbraucher Rechnung getragen werden. Den Erzeugern wird allerdings eine strenge Andienungspflicht an die Erzeugerorganisation auferlegt. Sie müssen künftig ihre gesamte Erzeugung an die Erzeugerorganisationen liefern. N u r mit Zustimmung der Erzeugerorganisation dürfen sie maximal 25

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bzw. 20 Prozent ihrer Erzeugung direkt ab Hof an die Verbraucher verkaufen. Die Interventionsmengen und -preise wurden begrenzt. Bei Fleisch sollen die Überschüsse ebenfalls abgebaut werden. Die Reform sieht eine stufenweise Verringerung der Interventionspreise vor. Als Ausgleich d a f ü r werden dem Erzeuger höhere Prämien gewährt. Die bis 1992 gültige Prämie f ü r männliche Rinder von 94 DM j e Tier wurde in drei Schritten stufenweise um 212 DM ab 1995 erhöht, für Tiere ab 23 Monate erhalten die Betriebe eine weitere Prämienzahlung in gleicher Höhe. Gleichzeitig stieg die Mutterkuhprämie von 118 D M im Jahre 1992 auf 283 DM j e Tier und Jahr ab 1995. Mit den neuen Prämien ist eine Flächenbindung eingeführt worden. Durch die Reform erhält die Erzeugung nachwachsender Rohstoffe besondere Impulse. Ihr Anbau ist auf der gesamten konjunkturellen Stillegungsfläche möglich. Außerdem wird der Stillegungsausgleich in voller Höhe gewährt. Angebaut werden können alle zugelassenen (einjährige und mehrjährige) Kulturen, wenn sichergestellt ist, daß die Ernteerzeugnisse von diesen Flächen der Herstellung von Industrieprodukten dienen und beim Anbau bestimmter Kulturen ein A n b a u - und Abnahmevertrag mit einem A u f k ä u f e r oder Erstverarbeiter abgeschlossen wird. Grundsätzlich können alle Erzeugnisse hergestellt werden, die ausschließlich im Nichtnahrungsmittelbereich bzw. Nichtfuttermittelbereich eingesetzt werden, z.B. •

pflanzliche Öle und Fette f ü r den chemisch-technischen Bereich.



Bioethanol.



Biodiesel.



landwirtschaftliche Biomasse f ü r die Energieerzeugung.

Außerdem soll die Gentechnik stärker berücksichtigt und umweltgerechte Produktionsverfahren sollen ebenfalls gefördert werden. D a ß sich dies gegenseitig ausschließt, wird verharmlost. Unter umweltgerechter Förderung wird verstanden: •

extensive Produktionsverfahren im Ackerbau oder bei Dauerkulturen.

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extensive Grünlandnutzung einschließlich der Umwandlung von Akkerflächen in extensiv zu nutzendes Grünland sowie



ökologische Anbau verfahren.

Diese Maßnahmen sollen ergänzt werden durch sozialpolitische Verbesserung bei den Renten und durch Vorruhestandsförderung. c) D i e a k t u e l l e S i t u a t i o n : Die Zahl der Betriebe in Deutschland (vgl. hierzu: Agrarbericht 1996, S . l f f ) ist auch 1995 mit 4,9% rückläufig gegenüber dem Vorjahr a u f insgesamt nur noch 520000, davon 41100 Zuerwerbs- und 2 5 3 7 0 0 Vollerwerbsbetrieben. Auch die Arbeitsleistung hat sich in diesem Zeitraum verringert um 6 , 3 % auf 694600 AK-Einheiten. Die Betriebsleistung hat sich um 4 , 3 % erhöht. Die Nettowertschöpfung der gesamten Landwirtschaft beträgt 1995 nur noch 23,2 Mrd. DM. Nach dem R ü c k gang der Gewinne in den beiden vorhergehenden Jahren sind die Gewinne der landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetriebe im Jahre 1994/95 um 10,1% auf 46200/Unternehmen gestiegen. In den letzten 10 Jahren wurden Gewinnsteigerungen von 2 , 3 % p.a. erzielt. Die Zuschüsse im Jahre 1995 betrugen insgesamt 15,4 Mrd. D M von Bund und Ländern und 12,4 Mrd. DM von der EU. Die Nettowertschöpfung ist von 1991-95 rückläufig von 27,7 Mrd. D M auf 23,2 Mrd. D M , die Subventionen steigend von 7,9 Mrd. D M auf 10,1 Mrd. DM. Die Abschreibungen sind leicht steigend von 12,39 auf 13.0 Mrd. DM. Die Investitionen haben gegenüber dem V o r j a h r zugenommen. In Deutschland/West stieg die Zahl der Betriebe mit mehr als 100 ha von 10900 auf 12000. Die kleinen Betriebe mit 1-10 ha verringerten sich von 2 5 1 3 0 0 auf 234000. D e r Erzeugerpreisanstieg gegenüber dem Vorjahr war trotz W e l t marktorientierung um durchschnittlich 3 , 7 % steigend. Bei Speisekartoffeln, Obst, Gemüse und Schlachtschweinen verzeichnet die offizielle Statistik allerdings sinkende Erzeugerpreise, die durch Ausgleichszahlungen ausgeglichen wurden. Über 5 1 % der Betriebe aus dem früheren Bundesgebiet beziehen Einkommen aus anderen Bereichen. So beziehen beispielsweise die Haupterwerbsbetriebe durchschnittlich rund 2 5 % ihres Bruttoeinkommens aus unternehmerischer Tätigkeit außerhalb der Landwirtschaft.

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Die Erwerbs- und Einkommenskombination stellt somit keine Randerscheinung mehr dar, die vorzugsweise in strukturell benachteiligten Betrieben anzutreffen ist, sondern wird sogar von vielen Haupterwerbsbetrieben genutzt. 1994/95 lag das verfugbare Einkommen in Nebenerwerbsbetrieben mit 41841 DM wie auch in Zuerwerbsbetrieben mit 46126 DM höher als im Durchschnitt der Vollerwerbsbetriebe mit 36196 DM. Außerdem verläuft die Alterspyramide ungünstig. In den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren scheiden etwa 25000 bis 50000 Personen aus Altersgründen (vor allem Männer) aus, während von der jüngeren Generation nur etwa 10000 bis 15000 Personen hinzukommen. Bei den Betriebsinhabern ergibt sich ein ähnliches Bild. Bei der Analyse der aktuellen Situation muß die Lage in den neuen Bundesländern gesondert betrachtet werden (vgl. hierzu: Kritischer Agrarbericht 1996, S.41ff). Bekanntlich hatte die DDR eine andere ordnungspolitische Orientierung als die alte BRD. Durch die Kollektivierung dominierten die LPG's und die Betriebe waren etwa lOOmal größer als die Westdeutschen. Seit den 70er Jahren gab es eine Trennung von Pflanzen- und Tierproduktion. Die LPG's hatten vielfaltige Aufgaben: Kultur, Kindergärten, Straßen, Wohnungen. Die staatlich gelenkten Preise waren wesentlich höher als in Westdeutschland. In der DDR gab es im Endstadium 1159 Pflanzenproduktionsbetriebe mit durchschnittlich 4540 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche. 2696 Tierproduktionsbetriebe mit durchschnittlich 1900 Großvieheinheiten. Der Beitrag zum Nationaleinkommen betrug 11 %, 9% war der Anteil der landwirtschaftlichen Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigtenzahl. Die Selbstversorgung war gesichert: Engpässe gab es bei Obst und Gemüse; Rind und Schweinefleisch wurden sogar exportiert. Die Politik setzte auf die konventionelle Landwirtschaft und vernachlässigte die artgerechte Tierhaltung und den Natur- und Umweltschutz. Nach der Wende wurden die westdeutschen Gesetze übertragen, das Privateigentum an Grund und Boden wieder eingeführt. Durch den Umstellungsprozeß sanken die Viehbestände in den neuen Bundesländern auf die Hälfte. 75% der Arbeitsplätze gingen in der Landwirtschaft verloren. Die sozialen Strukturen in den Dörfern wurde aufgelöst. 1989 gab es in Sachsen noch 79 Molkereien. Heute gibt es nur noch drei mittelständische Molkereien und Müllermilch als größte Molkerei Europas mit 1 Mio. t Milch jährlich.

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Innerhalb der fünfzehn EU-Staaten ist Deutschland einer der wichtigsten Erzeuger. Von 1992-1994 war es gemessen an der Produktionsmenge bei Raps, Kartoffeln, Milch und Schweinefleisch größtes Erzeugerland. Bei Raps waren es sogar 43% der Gesamtmenge. Bei Zucker, Rind- und Kalbfleisch, Getreide, Frischobst, Eiern steht Deutschland an zweiter Stelle. Die größten Flächen besitzen Spanien und Frankreich. Die durchschnittliche Betriebsgröße reicht von 67,7 ha in England bis 4,3 ha in Griechenland. Es gibt ein Nord-Südgefalle mit England, Luxemburg, Dänemark, Schweden, Frankreich und Deutschland (28,1 ha durchschnittlicher Fläche) mit den größten Durchschnittsflächen. Im Jahre 1993 waren 57% der Betriebe in der EU mit weniger als 5 ha landwirtschaftlicher Fläche. Nur jeder 40. Betrieb hat in der EU mehr als 100 ha. Die Zahl der Betriebe ist in der EU mit mehr als 9% rückläufig, die Zahl der Arbeitskräfte mit 11% ebenfalls rückläufig. Hohe Einkommen haben 1995 pro Betrieb (Agrarbericht 1996, S.66): Niederlande

117 618 DM

England

103 541 DM

Belgien

90 618 DM

Dänemark

72 475 DM

Luxemburg

69 204 DM

Deutschland

50 026 DM

Über wenig Einkommen verfugen.

Portugal

4 963 DM

Griechenland

18 335 DM

Spanien

26 853 DM

Das Einkommen in Deutschland liegt höher als der Durchschnitt in der EU. Die deutsche Landwirtschaft hat relativ hohe Produktionskosten. Dies zeigt sich an dem relativ hohen Anteil der Aufwendungen für die Unterhaltung der Maschinen und Gebäude, für Abschreibungen oder

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auch f ü r Energie an der Gesamterzeugung im Vergleich zu anderen EUMitgliedsstaaten. Seit Beginn des Wirtschaftsjahres 1995/96 werden erstmals die Vereinbarungen der Uruguay-Runde des G A T T angewendet, d.h. bis zum Jahre 2000/01 ist die Stützung in der EU gegenüber 1986-88 um 2 0 % zu senken, die Zölle sind um 3 6 % abzubauen und die Marktzutrittsmöglichkeiten für Einführen sind zu verbessern. Subventionierte Exporte sind mengenmäßig um 2 1 % und haushaltsmäßig um 3 6 % abzubauen. Diese Vereinbarungen stellen eine weitere Anzahl von Betrieben und Arbeitsplätzen in Frage. Die Osterweiterung der EU (siehe: Kritischer Agrarbericht 1996, S . 3 1 f f ) durch Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Rumänien und Bulgarien (Moel) wird den europäischen Agrarmarkt stark verändern. Bereits auf dem Kopenhagener Gipfel 1993 wurde die Beitrittsmöglichkeit beschlossen, wenn bestimmte ökonomische und politische Bedingungen erfüllt sind. Auch die baltischen Staaten und Slowenien wollen eine Annäherung an die EU. Im Abkommen vom 1. Jan. 1995 zwischen Moel und EU ist festgelegt, daß in 2 Fünfjahresetappen der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr ermöglicht werden soll. Für die europäische Agrarwirtschaft ist von großer Bedeutung, daß alle Moel landwirtschaftlich geprägt sind. Bei einer Integration erhöht sich die gesamte Ackerfläche um 55%, die landwirtschaftliche Nutzfläche um 4 4 % und die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft wird sich verdoppeln. Die Moel sind ziemlich unterschiedlich strukturiert. Wichtigstes Agrarland ist Polen. Dort arbeiten 2 6 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft und hier werden mehr Kartoffeln produziert als in der gesamten EU. Die baltischen Staaten sind traditionelle Exporteure f ü r Butter, Käse und Milchpulver. Allen Staaten ist gemeinsam, daß sie sich in der Transformation von ehemals sozialistischen Betrieben in marktwirtschaftliche Betriebe befinden, wobei ihre sozialistischen Verhältnisse sehr unterschiedlich waren. In diesem Transformationsprozeß gibt es ähnliche Probleme wie bei den neuen Bundesländern. Produktion, durchschnittliche Betriebsgröße, Beschäftigte und Einkommen gehen zurück. Die ehemals Selbstversorgerländer werden zu Nettoimporteuren. Außer Ungarn und Bulgarien

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sind die anderen Moel zu Nettoimporteuren landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus der EU geworden. Da in den Moel geringe Bodenpreise und billige Arbeitskräfte vorhanden sind, geht man allgemein davon aus, daß sich diese Länder vom Transformationsschock erholen und zu wichtigen europäischen Agrarländern aufsteigen. Da diese Länder Mitglied des GATT sind, ist die generelle Richtung der Transformation vorgegeben: Integration in die EU und Teilhabe am Weltmarkt mit mehr oder minder starken Beihilfen und Subventionen. Diese hängen ab vom Verhandlungsgeschick und von der europäischen Haushaltslage. In den Moel fehlen noch die marktwirtschaflichen Strukturen und Vertriebswege sowie eine kaufkräftige Binnennachfrage. Das Export-Dumping der EU in den Osten verhindert teilweise dabei den Transformationsprozeß. Rindfleisch wird beispielsweise zu billigen Preisen in diese Staaten geliefert. Anstatt den Westen mit billigen Waren zu überschwemmen, werden die Moel mit steigender Wirtschafts- und Kaufkraft zu einem zunehmend lukrativen Absatzmarkt für die europäischen Angebotsüberschüsse. Es ist abzusehen, daß es noch einige Jahre dauern wird, bis die Moel die Transformationsschocks überwunden und ihre Selbstversorgung bzw. Exportfähigkeit erreicht haben. Die europäische Ordnungspolitik in der Agrarwirtschaft muß nicht nur auf dem Hintergrund der zunehmenden Herausbildung des Weltmarktes gesehen werden, sondern auch als ein Teil der Welternährung (vgl. Schug 1996, S.255ff). Dann erhalten die europäischen Überschüsse eine andere Bewertung. Der tägliche Pro-Kopf-Verbrauch an Hauptnahrungsmittel (Getreide, Milch, Fleisch, Obst, Gemüse) ist, von Getreide abgesehen, in den Industrieländern etwa doppelt so hoch wie in den Entwicklungsländern. Die tägliche Aufnahme von Fleisch- und Milcherzeugnissen erreicht in den Entwicklungsländern nur 20% der Industrieländer, über 800 Mio. Menschen, d. h. 14% der Weltbevölkerung, leiden unter chronischer Unterernährung. Die Weltbevölkerung nimmt weiterhin zu in Afrika, Asien und Lateinamerika. Sie wächst von gegenwärtig 5,7 Mrd. auf über 6 Mrd. im Jahre 2000 und 7 Mrd. im Jahre 2010. Dann werden etwa 8o% der Weltbevölkerung in Entwicklungsländern leben. Die landwirtschaftliche Nutzfläche nimmt allerdings in den Entwicklungsländern ab. Die Nahrungsmittelproduktion müßte nach vorsichtigen Schätzungen insgesamt um 60% in den nächsten Jahr-

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zehnten steigen, um mittelfristig eine ausreichende Versorgung auf der ganzen Welt zu ermöglichen. Mit der EG-Agrarreform von 1992 wurde die europäische Agrarpolitik grundlegend verändert. Diese will vor allem eine Verminderung der bisherigen Marktpreisstützung und einen Ausgleich der dadurch bedingten Erlösrückgänge durch direkte Einkommensübertragungen sowie eine effektivere Produktionsmengensteuerung. In der Agenda 2000 werden die weiteren agrarpolitischen Schritte für Europa festgelegt. Die Agrarreform 1992 soll danach weiterentwickelt werden. Die Wettbewerbsfähigkeit soll kontinuierlich verbessert werden (vgl. hierzu: Agrarbericht 1998, S.ölff). 10.5 Die W e t t b e w e r b s - und Sozialordnung Das Grundprinzip einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist der funktionierende Wettbewerb (Eucken). Die wirtschaftliche Neuordnung Europas hat dieses Grundprinzip entscheidend verändert. Durch die Vergrößerung des Raumes hat sich die Intensität erhöht. Der Wettbewerb in Europa hat seine spezifische Ausgestaltung in den vier Freiheiten des Binnenmarktes (1993). Ein freier Warenhandel (EG- Vertrag 1995, Art.9ff) soll durch Abbau der Zölle, der Grenzkontrollen, durch Steuerharmonisierung und durch Angleichung oder gegenseitiger Anerkennung von Normen und Vorschriften erreicht werden. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (EG-Vertrag 1995, Art. 48ff) soll die unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedsstaaten in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstigen Arbeitsbedingungen abschaffen. Hemmnisse im Dienstleistungsbereich sollen ebenfalls beseitigt werden. Es wird ein freier Dienstleistungsverkehr (EG-Vertrag 1995, Art. 59ff) und ein freier Kapitalverkehr (EG-Vertrag 1995, Art. 67ff) angestrebt. Die Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes ist das Kernstück der europäischen Wirtschaftsunion, diese wird ergänzt und abgerundet durch die Währungsunion mit der gemeinsamen Währung. Dieses Konzept wurde in drei Stufen angegangen: Erste Stufe: Beginn: 1 Juli 1990, Liberalisierung des Kapitalverkehrs, 1.Januar 1993, Gemeinsamer Binnenmarkt mit den eben beschriebenen vier Freiheitsaspekten.

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Zweite Stufe: Beginn: 1.Januar 1994, Vorbereitung der Währungsunion, Gründung des Europäischen Währungsinstituts mit dem Sitz in Frankfurt. Dritte Stufe: Gründung der Europäischen Zentralbank, Gültigkeit der Konvergenzkriterien, Einfuhrung des Euro am 1.1.1999 durch Festlegung und Festschreibung der Wechselkurse. Ab 1.1.2002 werden die nationalen Währungen durch den Euro ersetzt. Seit 1990 existiert „eine europäische Verordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen" (Fusionskontrollverordnung). Unternehmenszusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung sind danach bei der Europäischen Wettbewerbskommission anzumelden. Haben Unternehmen europaweite Umsätze von 500 Mio. Euro (1 Mrd. DM), müssen sie ihren Zusammenschluß von der EU genehmigen lassen. Die Kommission hat die Aufgabe festzustellen, ob die Zusammenschlüsse mit den Zielen eines wirksamen Wettbewerbs vereinbar sind. Zusammenschlüsse können untersagt werden, Zwangsgelder bei Verstößen gegen die Prinzipien verhängt werden (siehe hierzu: Kartellbericht 1997, S VII) Die Europäische Gemeinschaft will einen liberalen und fairen Wettbewerb verwirklichen. Deswegen sind die marktbeeinträchtigenden Verhaltensweisen verboten. Das betrifft u.a.: die unmittelbare oder mittelbare Festsetzung der An- und Verkaufspreise, die Einschränkung oder Kontrolle der Erzeugung, des Absatzes, der technischen Entwicklung oder der Investitionen, die Aufteilung der Märkte oder Versorgungsquellen (EG Vertrag 1995, Art. 85). Mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten ist die mißbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt (EG-Vertrag 1995, Art. 86). Auch sind Dumping-Praktiken (EG-Vertrag 1995, Art. 91) nicht erlaubt. Staatliche Beihilfen (EG-Vertrag 1995, Art. 92), die den Wettbewerb verfälschen oder zu verfalschen drohen, sind ebenfalls nicht statthaft. Dazu gibt es einige Ausnahmen: Beihilfen sozialer Art, für Naturkatastrophen, für die Deutsche Einheit, für strukturschwache Gebiete. Die Europäische Wettbewerbskommission unter Karel van Miert ist in der letzten Zeit häufig in der Öffentlichkeit gewesen, wenn es um die Berechtigung von Fusionen oder Beihilfen ging. So wurde die Fusion Kirch/Bertelsmann im Medienbereich im Jahre 1998 nicht erlaubt.

10. Europäische Integration

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Beihilfen für den Bremer Vulkan wurden zurückgefordert. VW mußte Anfang 1998 eine Strafe von 200 Mio. DM zahlen, weil VW verhinderte, daß seine italienischen Händler Autos an ausländische Kunden verkaufte. Die Autos waren in Italien billiger als beispielsweise in Deutschland. Bei Großfusionen sind häufig nicht nur europäische Firmen, sondern auch im immer stärkeren Maße amerikanische Firmen beteiligt. Die nationalen Wettbewerbsgesetze werden zur Zeit an die europäischen Regelungen angepaßt (vgl. Monopolkommission 1996, Ziff. 251 ff). Durch den Maastrichter Vertrag verpflichten sich die Mitgliedsstaaten auch auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen hinzuwirken (vgl. EG Vertrag 1995, Art. 117ff). Die Zusammenarbeit soll in sozialen Fragen auf folgenden Gebieten gefördert werden: Beschäftigung, Arbeitsrecht und Arbeitsbedingungen, berufliche Ausbildung und Fortbildung, soziale Sicherheit, Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten, Gesundheitsschutz, Koalitionsrechte und Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Mitgliedsstaaten bemühen sich, die Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt zu fördern. Der Dialog zwischen den Sozialpartnern soll auf europäischer Ebene entwickelt werden. Es soll bei der Entlohnung der Grundsatz gelten des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit. Die Mitgliedsstaaten sind bestrebt, die bestehende Gleichwertigkeit der Ordnungen über die bezahlte Freizeit beizubehalten. Der Jahresbericht der Kommission an das Europäische Parlament hat stets ein besonderes Kapitel über die Entwicklung der sozialen Lage in der Gemeinschaft zu enthalten. Ein Europäischer Sozialfonds soll die Mobilität der Arbeit sowie die Anpassung an die industriellen Wandlungsprozesse fördern. Es soll eine qualitativ hohe Bildung in Europa unterstützt werden. Eine europäische Dimension von Bildung und Ausbildung soll realisiert werden. In den vergangenen Jahren wurde immer wieder eine umfassende europäische Sozialordnung gefordert. Gleichzeitig sind die Sozialsysteme in den einzelnen Ländern in eine tiefe Finanz- und Begründungskrise gestürzt. Heute sind beide Problembereiche mehr oder minder ungeklärt. Die Zukunft der Sozialsysteme ist ungewiß. Ein zentralistisch europäisches Konzept scheint mehr als fraglich.

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Literatur Agrarbericht der Bundesregierung 1996, Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Hg.), Bonn 1996 Agrarbericht der Bundesregierung 1998, Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Hg.), Bonn 1998 AgrarBündnis (Hg ): Der Kritische Agrarbericht 1996 sowie 1997. Daten, Berichte, Hintergründe. Positionen zur Agrardebatte, Bonn 1996 und 1997 Bechmann, Arnim: Landbau-Wende. Gesunde Landwirtschaft - Gesunde Ernährung, Ffm 1987 Bundesministerium für Finanzen, Haushalt und Finanzierung der EU, Bonn 1995 Coudenhove-Kalergie, Richard: Die Wiedervereinigung Europas, Wien 1964 Europäische Union: Die Vertragstexte von Maastricht, Bonn 1996 Fukuoka, Masanobu: Rückkehr zur Natur. Die Philosophie des natürlichen Anbaus, Fulda 1987 Glaeser, Bernd: Die Krise der Landwirtschaft, Ffm/New York 1986 Heinrichsmeyer, Wilhelm; Witzke, Heinz Peter: Agrarpolitik I und II, Stuttgart 1991 Jaspers, Karl: Vom Europäischen Geist, Vortrag (Genf), München 1946 Kartellbericht 1995/96, Drucksache 13/7900, Bonn 1997 Landwirtschaft, Lehrbuch für Landwirtschaftsschulen, 10. Aufl., München 1993 Lippe, Rudolf zur: Freiheit die wir meinen, Hamburg 1991 Monopolkommission: Hauptgutachten 1994/95. Wirtschaftspolitik in Zeiten des Umbruchs, Baden-Baden 1996 Niehaus, Heinrich; Priebe, Hermann: Agrarpolitik in der Sozialen Marktwirtschaft, Ludwigsburg 1956 Niehaus, Heinrich: Den Agrarpolitiker ins Gedächtnis, Wege und Irrwege der Agrarpolitik, Bonn 1976 Rusch, Hans Peter: Bodenfruchtbarkeit, 5. Aufl., Heidelberg 1968 Sattler, Friedrich; Wistinghausen, Ekkard v.: Der landwirtschaftliche Betrieb. Biologisch - Dynamisch, 2. Aufl., Stuttgart 1989

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Schug, Walter; u.a.: Welternährung. Herausforderung an Pflanzenbau und Tierhaltung, Darmstadt 1996 Sloterdijk, Peter: Falls Europa erwacht, Ffm 1994 Sturm, Roland: Politische Wirtschaftslehre, Opladen 1995 Thiede, Günther: Die grüne Chance. Landwirtschaft zwischen Tradition und Fortschritt, Vision Landwirtschaft 2020, Ffm 1992 Weizsäcker, Ernst Ulrich; Lovins, Amory B.; Lovins, Hunter L.: Faktor Vier. Doppelter Wohlstand - halbierter Verbrauch. Der neue Bericht an den Club of Rome, München 1995 Wettbewerbsrecht und Kartellrecht, 19. Aufl., Stand 1.4.1998, dtv Verlag, München 1998

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11. Globalisierung und Marktwirtschaft

11. Globalisierung und Marktwirtschaft 11.1 Herausforderung oder Risiko ? Moderne Ordnungspolitik muß sich den weltwirtschaftlichen Herausforderungen stellen. Die ökonomischen Experten gehen davon aus, daß sich die Wirtschaft der einzelnen Staaten in den letzten zwanzig Jahren immer stärker vernetzt hat. Dies wird besonders hervorgehoben für die Zusammenarbeit und die Konkurrenz zwischen Europa und Nordamerika sowie Japan; Ausdruck dieser Entwicklung sei die zunehmende Bedeutung der internationalen Finanzmärkte. Diese Entwicklung wird mit dem schillernden Begriff 'Globalisierung' charakterisiert (vgl. hierzu auch: Beck 1998, S.26ff); sie hat allerdings durch die aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Rußland und Südostasien einen Dämpfer erfahren. Die Frage nach der Globalisierung scheint jedoch eindeutig: Es gibt Befürworter und Gegner (siehe hierzu: Perraton, u.a. 1998, S.134ff). Die Befürworter sprechen davon, daß diese Entwicklung unaufhaltsam sei und insgesamt den Wohlstand trotz erheblicher Verluste steigert. Es sei notwendig die Entwicklung anzunehmen und nicht den Kopf in den Sand zu stecken und von der Entwicklung überrollt zu werden und später gezwungen zu sein, noch größere Anpassungsleistungen vollbringen zu müssen. Die Gegner sehen in der Globalisierung ein Schlagwort, das benützt wird um Arbeitsplätze abzubauen, weltweit Kartelle zu schmieden und Löhne zu drücken, ein ideologisches Instrument also, das multinationalen Konzernen dazu dient, ihre weltweiten Interessen auf Kosten der einzelnen Sozialstaaten und deren Arbeitnehmer durchzusetzen. Die Vertreter der 'Hyper-Globalisierungs'-These sehen überall vollständig integrierte globale Märkte, die Globalisierungsskeptiker gehen davon aus, daß es keine prinzipiell neue Entwicklung gibt; alles sei schon einmal dagewesen. Die Auseinandersetzungen und verschiedenen Haltungen zum Thema Globalisierung gehen letztlich von zwei unterschiedlichen Auffassungen des Begriffes 'Markt' aus. Für die einen ist er ein Mechanismus, der positive und objektive Ergebnisse bringt, der persönliche und politische Willkür begrenzt, für die anderen ist er ein anonymes Instrument mit negativen Begleiterscheinungen. So schreibt beispielsweise der vielbeachtete französische Wirtschaftsjournalist Alain Mine in seinem aktuel-

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11. Globalisierung und Marktwirtschaft

len Buch ein Plädoyer, die Globalisierung anzunehmen. „Nunmehr steht die Kulisse: Gestern noch auf eine Hälfte der Welt beschränkt, hat der Markt nun überall die Herrschaft übernommen; er sichert den Sieg des Konsumenten über den Produzenten, des Sparers über den Kreditgeber, des Unternehmers über den Beamten. Globalisierung, Internationalisierung sind nur Codenamen für dieses neue Gravitationsgesetz der Ökonomie, den König Markt. Dieser besteht -in der Reihenfolge ihrer Bedeutung- in der Allmacht der internationalen Finanzmärkte, im freien Technologietransfer und, letzte Variante, im freien Austausch der produzierten Güter" (Mine 1998, S. 10). Für den Kritiker der Globalisierung -beispielsweise Rudolf Hickelist den Märkten auch immer ein Marktversagen immanent. So schreibt er in seinem neuen Buch: „Kapitalistische Marktwirtschaften sind ohne Staat nicht funktionsfähig. Zum einen müssen die allgemeinen Produktionsvoraussetzungen sichergestellt werden. Dazu gehören die Rechtsordnung sowie die Infrastrukturprojekte. Zum anderen beziehen sich Staatsfunktionen auf die Felder des Marktversagens: konjunkturelle und wachstumsbezogene Stabilisierung der Gesamtwirtschaft, regionale Ausgleichspolitik, soziale Korrektur der Marktergebnisse, ökologische Ausrichtung der Produktion und Konsumtion" (Hickel 1998, S.130).

Globalisierung

Nachhaltige Wirtschaft



Internationalisierung



Regionale Märkte



Dominanz der Finanzmärkte



Regulierung



Perspektivenwechsel



Ökologische Komponente Bild 13

So unterschiedlich die Bewertungen und Vorstellungen von Mine und Hickel auch sein mögen, sie haben eines gemeinsam: Der Markt wird als eine Art Mechanismus gesehen, als ein Räderwerk, als ökonomische Sachgesetzlichkeit. Der Markt besteht aber bei genauerer Betrachtung

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11. Globalisierung und Marktwirtschaft

nicht nur aus Sachbezügen, sondern immer auch aus Wertentscheidungen. Menschen arbeiten, handeln, schaffen Märkte, bündeln Gelder, gehen Risiken ein, usw. Was als Mechanismus, als objektives PreisLeistungsverhältnis, als klar definierter Wertmaßstab erscheint, geht zurück auf unendlich viele einzelne menschliche Verhaltensweisen, die sich ergebnishaft im Preis ausdrücken. Der Markt ist demnach nicht einfach ein anonymer Mechanismus mit guten und schlechten Ergebnissen, sondern eher als ein soziales und ökonomisches Kraftfeld anzusehen, das sich nur im Extremfall zu einem Mechanismus und damit zu einer Peitsche verdichten und verhärten kann. Die scheinbare Verhärtung gelingt am besten an den Finanzmärkten, weil das Geld als abstraktes und homogenes Gut räumlich und zeitlich am besten fixierbar ist. Die Position von Mine sieht durchaus die negativen Folgen eines mechanistischen Marktes. Sein Augenmerk liegt aber in der Anpassung an die neuen Verhältnisse, um die darin liegenden Chancen zu nutzen und die Risiken (Verhärtungen) zu minimieren. Die Position von Hickel will die negativen Folgen des Marktes durch politisches Eingreifen des Staates abmildern Betrachtet man von dem einen Gesichtspunkt die Dinge, so hat der eine recht; betrachtet man sie von dem anderen Gesichtspunkt, so hat der andere recht. Die Vorstellungen von Mine und Hickel vom Markt sind aber mehr oder minder einseitig und werden den ökonomischen Abläufen und Vielseitigkeiten nicht gerecht, denn die Verhärtungen benötigen Gegenpole aus dem Marktprozeß selber, Verflüssigungen und Korrekturen. Was heißt das auf unser Thema angewendet? Preise drücken nicht nur Preis-Leistungsverhältnisse aus, sondern auch eine soziale Wertung. Wieviel Mühe und Arbeit wurde aufgewendet? Wie hoch oder niedrig ist die Wertschätzung der Produkte? Wem gebe ich das Geld beim Kauf? Welche Produktionsstrukturen werden durch den Kauf unterstützt? Wer hat Anrecht auf Bezahlung und warum? Außerdem läßt sich der Preis von vielen Gesichtspunkten aus betrachten: aus der Sicht der Arbeitnehmer, der Händler, der Unternehmen, der Gesamtwirtschaft, der Sparer, der Konsumenten, der nachfolgenden Generation, der Politik usw. Berücksichtigt man möglichst viele Perspektiven bei der Analyse von Preisen und Märkten, löst sich die einfache Mechanismusvorstellung zugunsten einer umfassenden Betrachtung von sozialen Gebilden auf.

11. Globalisierung und Marktwirtschaft

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Dann tritt auch die von der Mechanismusvorstellung verstellte uralte Frage nach der Moral des wirtschaftlichen Prozesses wieder auf: das Problem der Gerechtigkeit des Preises, der Überlebensfähigkeit von ökonomischen Strukturen und die Angemessenheit der Vergütung. Märkte und Preise sind sowohl ökonomische Orte und Ziffern als auch ein Ausdruck unserer kulturellen und sozialen Einstellung. Nur wenn beides zusammen gesehen wird, wenn die 'Verhärtung' des Marktes mit seinen Preisen eine 'Verflüssigung', eine 'Mehrdimensionalität' erfahrt, kommen wir dem Rätsel -dem Phänomen- 'Globalisierung' auf die Spur. In der Frage 'Hyper-Globalisierung' oder Skepsis gehen wir davon aus, daß beide Positionen ein unzulängliches Bild der Wirklichkeit beschreiben. Die Globalisierung ist durchaus als ein wichtiges Problem ernst zu nehmen, ohne jedoch einer totalen Markttheorie das Wort zu reden. „Es sind eine weltweite Ausdehnung wirtschaftlicher Aktivitäten und eine wachsende Intensität bei den Waren und Kapitalströmen wie ökonomischen Transaktionen zwischen den Staaten und den einzelnen zu konstatieren" (Perraton, u.a. 1998, S.166). Damit muß die Bedeutung der Nationalstaaten nicht unbedingt verschwinden; sie haben durchaus ihre Berechtigung. Auch die Herausbildung von Wirtschaftsblöcken wie die Europäische Union muß die Globalisierung nicht verhindern, sondern ist Teil eines globalen Gesamtprozesses. „Die Handelsblöcke beginnen sich gerade erst zu formieren. Selbst der fortgeschrittenste, die Europäische Union, wird sehr wahrscheinlich kein Superstaat werden mit dem Potential, eine einheitliche Wirtschaft von kontinentalem Ausmaß zu organisieren" (Hirst, u.a. 1998, S. 130). Außerdem hat die letzte Zeit gezeigt, daß das Zeitalter der Ökonomie sich stärker entfaltet, aber die Zeit der Politik noch lange nicht beendet ist. Die Deutsche Einheit, die Europäische Vereinigung, die Ausdehnung Europas nach Osten sind als politische Herausforderungen zunächst aufgetaucht. Ulrich Beck (1998, S. 16f) nennt vier Merkmale der Globalisierung: •

Globalisierung als Drohung, nationalstaatliche und gewerkschaftliche Fesseln abzustreifen. Arbeitsplätze können dorthin exportiert werden, wo die Kosten am niedrigsten sind.



Transnationale Unternehmen können ihre Produkte und Dienstleistungen so zerlegen, daß arbeitsteilig an verschiedenen Orten der Welt produziert werden kann.

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11. Globalisierung und Marktwirtschaft



Nationalstaaten können gegeneinander ausgespielt werden, beispielsweise bei Steuerfragen oder Infrastrukturleistungen.



Die Führungskräfte können sich die jeweils besten Bedingungen aussuchen.

Diese Merkmalsbestimmung steht in der Gefahr, die Globalisierung zu dämonisieren und zu wenig die konkreten Entwicklungen, Widersprüche und Gegentendenzen zu betrachten. Die internationale Arbeitsteilung ist auch ständig durch wirtschaftliche und politische Krisen bedroht. Es macht auch wenig Sinn, einzelne Mißstände pauschal mit der Globalisierung zu erklären und den transnationalen Unternehmungen nur eine böse Absicht zu unterstellen. 11.2 Standort Deutschland a) Die Ausgangslage Die Begriffe Globalisierung und Standort Deutschland sind erst in den 90er Jahren zu Modebegriffen in der öffentlichen Diskussion geworden. Unter Globalisierung versteht man dabei die Vorstellung, daß gerade in letzter Zeit die wirtschaftlichen Märkte durch grenzüberschreitenden Handel, durch High-Tech-Kommunikation und durch den Ausbau des Flugverkehrs weltweit stärker zusammengewachsen sind. Dabei geht man davon aus, daß Weltmärkte die Lebensbedingungen in den einzelnen Ländern verändern und prägen. Unter der Standortfrage versteht man die Überlegung, daß eine ganze Volkswirtschaft in ihren wirtschaftlichen Stärken und Schwächen bewertet werden kann und als Ganzes mit anderen Volkswirtschaften um den Erhalt bzw. die Ansiedlung von Betrieben konkurriert. Dabei werden nicht nur die wirtschaftlichen Bedingungen innerhalb der Volkswirtschaft miteinander verglichen, sondern auch mit den Bedingungen in anderen Ländern. In der Standortdiskussion vergleicht man z.B. die Löhne in Deutschland mit den Löhnen von Malaysia und stellt dann fest, daß daran gemessen die deutschen Löhne viel zu hoch seien und deswegen eine Unternehmensverlagerung nach Malaysia drohe, die nur durch Lohnsenkungen verhindert werden könne. So hängen also Globalisierung und Standort über das Konkurrenzprinzip miteinander zusammen.

1 1 . G l o b a l i s i e r u n g und M a r k t w i r t s c h a f t

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Betrachtet man die wirtschaftlichen Märkte etwas genauer, wird man feststellen, daß sie sich in langen historischen Zeiträumen aus lokalen und regionalen Strukturen entwickelt und dort ihre Basis haben. Ökonomie ist nun einmal ursprünglich Hauswirtschaft, aber auch Arbeitsteilung. S o daß vor allem durch die Kolonialisierung und Industriealisierung sich die Märkte ausgedehnt haben. D.h., daß der Globalisierungstrend schon immer in der Ökonomie angelegt war und langfristig zur Geltung kommt. Für die deutsche Wirtschaft ist demgemäß der Markt die Bundesrepublik, insofern ist auch der Begriff der Volkswirtschaft sinnvoll. Sie gründet sich a u f eine politische, kulturelle und rechtliche Ordnung und ist darin eingebunden. Der Staat selbst hat dabei einen sehr hohen wirtschaftlichen Anteil durch Betriebe, den Staatshaushalt, die Wirtschaftsund Geldpolitik. Die Wirtschaft wird in sehr hohem Maße getragen von Klein- und Mittelbetrieben und von transnationalen Unternehmen. Die Klein- und Mittelbetriebe binden eine hohe Zahl von Arbeitsplätzen, mehr als im öffentlichen Bewußtsein vermutet wird; die Großbetriebe beeindrucken durch ihre hohen Umsatzzahlen, Rationalisierungserfolgen und durch eine relative wirtschaftliche Macht. Allerdings wird die Wirtschaft immer stärker beeinflußt von global operierenden Kapital- und Finanzmärkten. Die Klein- und Mittelbetriebe operieren sehr stark lokal. Als Handwerksbetriebe wahrscheinlich hauptsächlich in der unmittelbaren Umgebung mit regionalen Arbeitskräften, allerdings mit einer T e c h nik, die überregional bzw. transnational hergestellt ist. Die Großbetriebe dagegen bewegen sich stärker auf dem nationalen Markt und sind damit wesentliche Stütze des deutschen Binnenmarktes. Bekanntermaßen ist die deutsche Wirtschaft sehr stark exportorientiert. Der deutsche E x - und Import ist in den letzten Jahrzehnten stark angewachsen und wird vor allem in Westeuropa, d.h. mit unseren unmittelbaren Nachbarländern betrieben. „Seit fünfzehn Jahren werden ohne nennenswerte Veränderungen deutlich über zwei Drittel des deutschen Außenhandels mit verarbeitenden Gütern innerhalb Westeuropas abgewickelt; rund 4 0 Prozent aller E x - und Importe entfallen ebenso konstant a u f unmittelbare Nachbarländer Deutschlands" ( F R 3 0 . 1 . 9 7 ) . Der weltweite Handel mit den U S A , den Entwicklungsländern und mit Südostasien ist demgegenüber eher bescheiden. Nur ein Viertel entfallt a u f den Fernhandel. Der Handel vollzieht sich in der heutigen Zeit nicht so sehr in der ganzen Welt, sondern ist konzentriert a u f die großen

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Wirtschaftsregionen Westeuropa, Nordamerika und Südostasien mit steigender Tendenz. Die deutsche Auslandsproduktion hat sich von 1980 bis 1993 verdreifacht und findet hauptsächlich nicht in Niedriglohnländern statt, sondern in Hochlohnländern Westeuropas und Nordamerikas und soll dort die Märkte erschließen und sichern. Produktionsverlagerungen in Niedriglohnländer sind dagegen eher gering, das gilt auch für den südostasiatischen Raum. Die Gründe liegen wahrscheinlich in kulturellen Barrieren, in fehlender Infrastruktur und politischer Instabilität in den entsprechenden Ländern. Die deutschen Direktinvestitionen werden hauptsächlich von vier Branchen geleistet: der Chemieindustrie, dem Maschinenbau sowie der Auto- und Elektroindustrie. Vor allem die chemische Industrie verfügt über weltweite Produktionstätten, stärker noch als die Auto- und Elektroindustrie. Insgesamt zeigt sowohl eine regionale als auch eine sektorale Betrachtung, daß nur ein schmaler industrieller Sektor -vor allem die chemische Industrie und mit Abstrichen der Automobilbau und die Elektroindustrie- als im eigentlichen Sinne globalisiert angesehen werden kann. Geht man von einem EU-Wirtschaftsraum aus, stellt man fest, daß dort die Hauptaktivitäten für die deutsche Wirtschaft stattfinden und nicht weltweit. b) G r o ß u n t e r n e h m e n und Banken Der Chemiekonzern Bayer kann als Unternehmen angesehen werden, das im globalen Wettbewerb agiert. Der Vorstandschef Manfred Schneider -ein Anhänger der Politik des Shareholder-value- hat im Spiegel-Interview (11/1997) die Globalisierungsthese verteidigt. Der Boom an der Börse gehe notwendigerweise mit Rationalisierung einher. Bei Bayer verloren seit dem Jahre 1992 weltweit rund 14000 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz. Dies liege am technischen Fortschritt und am internationalen Wettbewerb. Heute ließe sich eine Chemieanlage, die früher von 30 Leuten pro Schicht betrieben wurde, mit 8 Leuten fahren. Der Standort Deutschland sei durch hohe Steuern und hohe Lohnzusatzkosten zu teuer. Langwierige Genehmigungsverfahren würden das Unternehmen unnötig behindern. Aus diesen Gründen seien seit dem Jahre 1992 20 Prozent der inländischen Arbeitsplätze bei Bayer verschwunden, der Börsenwert des Konzerns ist aber seither um 200 Prozent von 18 Milliarden auf 53 Milliarden DM gestiegen. Bayer investiert zwar

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zur Zeit kräftig, aber Schneider betont, daß das in Deutschland keine Arbeitsplätze bringen wird, da die Rationalisierungseffekte zu hoch seien. Nur 17 Prozent der Produkte werden im Inland verkauft, die Firma müsse aus Kostengründen zusätzliche Produktionsstätten in die Märkte der Asean-Staaten, nach China und Japan errichten. Für Bayer ist es ein Rätsel, daß in der kleinen Schweiz soviel chemische Industrie beheimatet ist. Ein Faktum, das er auf die spezifische Produktpalette der dortigen chemischen Industrie schiebt. Der Standort Deutschland sei nur dann profitabel, wenn Löhne, Sozialleistungen und Urlaubstage massiv abgebaut werden würden. Die Arbeitsstunde koste in Leverkusen 90DM, in Asien nur 10DM. Schneider bekennt sich zum Standort Deutschland, nur müsse die Gesellschaft zum Verzicht bereit sein. Auf die Aktionäre könne nicht verzichtet werden, da deren Kapital gebraucht wird und es in den letzten Jahren üblich geworden ist, sich an hohen amerikanischen Renditen zu orientieren. „Schauen sie sich doch mal die Renditen der Amerikaner an oder die von Hoffmann-La Roche. Die verdienen bis zu 20 Prozent, und zwar nach Steuern. Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt. Letzten Endes will ich als Konzernchef doch das Geld der Aktionäre haben. Wir müssen für einen Anleger attraktiv sein, ich kann mich nicht mit einem Bäcker an der Ecke vergleichen, ich muß international mithalten können. Die Aktionäre fragen doch jeden Tag. Warum soll ich eine Bayer-Aktie kaufen (Schneider im Spiegel 11/1997)? Bayer sei ein gut geführtes Unternehmen mit guten Zukunftsaussichten. „Wir kennen heute 30000 Krankheiten, 10000 davon können wir erst therapieren. Das heißt: Es gibt ein riesiges Potential für unser Pharmageschäft. Denken Sie nur an Alzheimer, Krebs und Rheuma. Selbst gegen Schnupfen gibt es noch kein wirklich wirkungsvolles Mittel" (Schneider im Spiegel 11/1997). 1996 wird wieder ein Rekordgewinn erwartet und die Dividende soll erhöht werden. Mit der Pharmaproduktion ist viel Geld zu verdienen, deswegen wurden auch in den letzten fünf Jahren von Bayer für fünf Milliarden DM Firmen dazu gekauft. Trotz aller Diversifikation und der Investition anderer Chemieunternehmen in TV-Sender oder in die Telekommunikation will Bayer sich auf die Chemie- und Pharmaindustrie in der nächsten Zeit konzentrieren und in Deutschland weiterhin sehr stark präsent sein. Neben der chemischen Industrie bietet zur Zeit die Stahlindustrie Anschauungsmaterial für die Globalisierungsdiskussion. Die Auseinan-

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dersetzungen zwischen Krupp und Thyssen sollen die deutsche Stahlindustrie wesentlich verändern. Eine Fusion bzw. Kooperation der beiden Großkonzerne fuhrt eventuell dazu, daß die neue Firma führend in Europa werden kann und auch weltweit neben Nippon Steel (Japan), Posco (Südkorea), British Steel (Großbritannien) und Usinor Sacilor (Frankreich) einen guten Part spielen könnte. Durch die wirtschaftliche Entwicklung Chinas hat der asiatische Markt zunehmend an Bedeutung gewonnen. 1996 wurden in diesem Raum fast 40 Prozent der gesamten Stahlmenge der Welt produziert. Allerdings brauchen diese Länder ihren Stahl selbst und so führt beispielsweise China mehr Stahl ein als aus. „Die aufstrebenden neuen Stahlländer haben ihre Produktionskapazitäten nicht primär deshalb geschaffen, um auf dem Weltmarkt Profit zu erzielen. Vielmehr folgen sie den Bedürfnissen ihrer stahlverarbeitenden Industrie" (DIE ZEIT, Nr. 14, 1997). Man kann aber davon ausgehen, daß der Weltstahlmarkt sehr unsicher ist. In diesem Bereich sind Preisschwankungen von 50 Prozent kurzfristig möglich, auch können sich erwartete Gewinne in wenigen Monaten als drastische Verluste erweisen; riesige Investitionen können sich als Fehlkalkulationen erweisen. Thyssen beschäftigt 1996 insgesamt 122659 Mitarbeiter und Krupp insgesamt 69608 Mitarbeiter. Alle Beteiligte gehen davon aus, daß eine Großfusion in beiden Unternehmen Tausende von Arbeitsplätzen kosten würde, Krupp wird von diesem Prozeß am meisten betroffen sein, da dieser Konzern zur Zeit wirtschaftlich schlechter arbeitet als Thyssen. Durch diese Neuordnung werden weitere Arbeitsplätze in anderen deutschen und europäischen Stahl Standorten gefährdet, so z.B. bei Arbed Saarstahl in Völklingen. Dieser Erosionsprozeß kann weitere Rationalisierungsgelüste in der Stahlbranche national und weltweit auslösen. Während 1990 noch 417000 Mitarbeiter in der deutschen Eisen- und Stahlindustrie beschäftigt waren, sind es Ende 1996 nur noch 114000 Mitarbeiter. Nach der Fusion sind es sicherlich einige Tausende weniger. Man geht davon aus, daß im Stahlbereich der Abbau eines Arbeitsplatzes pro Jahr 50000 DM Sozialplankosten verursacht. Die deutschen Großbanken drehen an dieser Spirale kräftig mit. Anders als in den USA oder Großbritannien dürfen in Deutschland Banken neben Kredit- auch Wertpapiergeschäfte abwickeln und sind somit an Unternehmen beteiligt. Durch das deutsche Universalbankenprinzip sind sie also gleich mehrfach tätig. Sie sind im Aufsichtsrat der beiden Firmen vertreten, sie geben ihnen Kredite und sie beraten sie neuerdings

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verstärkt durch ihre Investmentbanken. Eine Spezialität der Investmentbanker ist die Beratung bei Firmenübernahmen. Sie verdienen wenig, wenn eine Übernahme scheitert, und viel, wenn sie glückt. „Dieses System führte zu einer engen Verflechtung von Kreditinstituten, Versicherungen und Betrieben -mit der Deutschen Bank als maßgeblichem Drahtzieher. Ähnlich mächtig ist nur noch die Allianz, der Versicherungskonzern, der im Modell Deutschland AG ebenfalls eine vorherrschende Rolle spielt" (DIE ZEIT, Nr. 14, 1997). Die Banken sind also nicht die neutralen Geldvermittler, sondern vielseitig und mit unterschiedlichen Interessen, aber oft durch die gleichen Personen in diesen Prozeß verstrickt und heizen diese Entwicklung dezent an. So fordert beispielsweise die Deutsche Bank seit Jahren eine Veränderung des deutschen Stahlmarktes. Wenn gleichzeitig die Deutsche Bank in den Jahren 1995 und 1996 Rekordgewinne von jeweils über 2 Mrd. DM ausweisen kann, braucht man sich über soziale Spannungen nicht zu wundern, da die sozialen Ungleichgewichte unverkennbarer nicht sein können. Auch die Deutsche Bank hat in den letzten Jahren in Deutschland tausende von Arbeitsplätzen abgebaut. Trotzdem stieg die Konzernbilanzsumme 1996 um 22,8 Prozent auf 886 Mrd. DM, wobei das Betriebsergebnis sogar um 37 Prozent auf 5,8 Mrd. D M anstieg. Die Dividende blieb allerdings unverändert 1,80 D M je F ü n f DM-Aktie. Dadurch, daß diesmal sehr hohe Ertragssteuern gezahlt werden, nimmt der Jahresüberschuß nach Steuern nur um 4,6 Prozent auf 2,2 Mrd. D M zu. Der Neuordnungsprozeß bei Krupp/Thyssen wird von den Beteiligten aber einseitig unter dem Blickwinkel betrachtet, daß, je größer eine Firma sei, desto konkurrenzfähiger sei sie auch. Diese These hat sich aber in vielen Fällen nicht bewahrheitet und muß nicht immer stimmen. M a n denke nur an das Schicksal des ehemals größten deutschen W e r f tenkonzerns, den Bremer Vulkan. Er hat sich am Weltmarkt orientiert und wollte seine Position durch Firmenaufkäufe stabilisieren und ausbauen. Er ist aber mit dieser Strategie gescheitert. Durch politische und ökonomische Fehlentscheidungen geriet der Konzern in kürzester Zeit in Turbulenzen. Er verschwand in einem Jahr vollständig von der Bildfläche, da er im Jahre 1996 Konkurs anmelden mußte und alle Stützungsmaßnahmen fehlschlugen. Diese Fehlentwicklung wiegt um so schwerer, da A n f a n g der 80er Jahre bereits ein weiterer Großbetrieb des Schiffbaus -die AG Weser- ebenfalls geschlossen wurde. Diese beiden Kon-

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kurse haben es verursacht, daß der ehemals bedeutende Standort Unterweser für den Schiffbau fast gänzlich aufgegeben wurde. Es wird durch den Hinweis auf den Weltmarkt vergessen, daß dieser nicht nur ein von außen gesetztes Datum ist, sondern durch die jeweilige Firmen- und Bankenpolitik sowie durch die staatliche (europäische) Kartellpolitik mitgeprägt wird. Der Weltmarkt wird im wesentlichen bestimmt durch die ökonomischen Handlungen in den hochindustrialisierten Ländern. Der Weltmarkt hängt letztlich auch davon ab, wie das Verständnis der Beteiligten von Kooperation und Konkurrenz aussieht, wie das Verhältnis von technischem Fortschritt und Arbeitsplatzsicherung gesehen wird, welche Rolle das Geld spielt. Ob es ein Mittel ist zur Sicherung von Produktionsstätten, oder ein reines rechnerisches Finanzierungsmittel. Der Blick zum Weltmarkt geschieht heute in sehr hohem Maße mit betriebswirtschaftlichen Optimierungsstrategien. Diese können jedoch nur mathematische Plausibilitäten liefern. Die Entwicklung in den nächsten zehn Jahren ist nicht vorhersehbar. Die wirkliche Entwicklung hat meist eine Eigendynamik und liegt in der Verantwortung der Beteiligten. Während in den 50er Jahren durch den Ordoliberalismus und durch die Konkurrenz mit den planwirtschaftlichen Staaten klare ordnungspolitische Konzepte und Alternativen vorlagen, werden heute solche Strukturen vermißt. Dies gilt sowohl für die nationale und europäische Ordnung als auch für den Weltmarkt. Die heutigen ordnungspolitischen Argumente sind meist Rechtfertigungen für das jeweilige Handeln und sollen die Politik des Stärkeren unterstützen. c) D i e F i n a n z m ä r k t e Eine moderne Ordnungspolitik muß auch davon ausgehen, daß neben der Industrie hauptsächlich die Finanzmärkte heutzutage an Bedeutung gewonnen haben. Sie sind weltweit operierend und das mit zunehmender Tendenz. Hier hat die Globalisierungsthese vielleicht noch eher ihre Berechtigung als in der übrigen Wirtschaft, allerdings nur bei den Börsenplätzen. Die Entwicklungsländer nehmen an dieser Entwicklung kaum Anteil; insofern betrifft die Globalisierung vor allem die industrialisierten Länder und nicht die gesamte Weltwirtschaft. Es wird nämlich dabei vergessen, daß es in vielen Regionen der Welt an elementaren ökonomischen Waren und an Geld fehlt.

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Der Handel mit Finanztiteln hat sich in den letzten Jahren dramatisch entwickelt. Dabei hat sich der Finanzsektor mehr oder minder von realwirtschaftlichen Vorgängen entkoppelt und damit verselbständigt. „Seit 1985 haben sich die Umsätze im Devisen- und internationalen Wertpapierhandel mehr als verzehnfacht. Während eines durchschnittlichen Handelstages wechseln heute Währungsbestände im W e r t von rund 1,5 Billionen Dollar den Besitzer, ermittelte die Bank f ü r Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). Diese Summe, eine Zahl mit zwölf Nullen, entspricht annähernd dem Gegenwert der gesamten Jahresleistung der deutschen Wirtschaft oder dem Vierfachen der jährlichen W e l t - A u s g a ben f ü r Rohöl. In der gleichen Größenordnung bewegen sich die Umsätze mit Aktien, Konzernanleihen, staatlichen Schuldtiteln und unzähligen Spezial-Kontrakten, den sogenannten Derivaten" (Martin 1996, S.74f). Durch diese Entwicklung haben in den letzten Jahren die BörsenYuppies sehr gut verdient. So werden beispielsweise allein an der Wall Street in New York 1996 über 8 Milliarden Dollar Provisionen ausgezahlt, f a s t ein Drittel mehr als im Jahre 1995. Die guten Verdienste sind Ergebnis einer beispiellosen Entwicklung an den internationalen Börsen, vor allem in den 90er Jahren. In dieser Zeit durchbrachen die Börsenkurse eine Schallmauer nach der anderen (siehe hierzu auch: Der Spiegel 13/1997). Die Aktienkurse rückten in den letzten Jahren immer stärker ins ökonomische Blickfeld. Firmen werden aufgekauft und durchrationalisiert. 1996 waren in der deutschen Industrie 60 Prozent mehr Roboter installiert als 1992. Arbeitsplätze wurden im großen Stile dabei abgebaut. Seit 1993 sind es etwa 60000 in der chemischen Industrie, 190000 im Maschinenbau und etwa 184000 in der Automobilindustrie. Die Aktionäre werden allerdings bestens versorgt. Die Kurse stiegen 1996 bei Mercedes um 75 Prozent, bei Bayer um 55 Prozent, Hoechst plus 48 Prozent und Veba plus 44 Prozent. „Der Wertzuwachs f ü r die Anleger in Deutschland erreichte allein im abgelaufenen Jahr 207 Milliarden D M - eine Summe so groß wie der Landeshaushalt von Hessen, Bayern, H a m b u r g und Nordrhein-Westfalen zusammen" (Der Spiegel 12/1997). Hier wird ein zentrales arbeitsmarktpolitisches Problem deutlich: Der Boom an den Börsen und bei der Rationalisierung geht mit einem massenhaften Abbau von Arbeitsplätzen einher. Es wird zwar viel in Deutschland investiert, die Gelder schaffen jedoch nicht wie in früheren

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Zeiten Arbeitsplätze, sondern bewirken das genaue Gegenteil. Der weltweite Börsenzusammenbruch im Jahre 1929 -der schwarze Freitagmit den verheerenden ökonomischen und politischen Folgen wird bei der Börsenhektik vergessen. Die Globalisierungsthese muß sehr differenziert betrachtet werden und darf den bodenständigen Aufbau der Wirtschaft nicht aus dem Auge verlieren, aber auch den Blick auf einige global agierenden Branchen und vor allem auf die Finanzmärkte nicht verschließen. d) Die Standortfrage Wie sieht es nun wirklich mit dem Standort Deutschland aus? Die Wettbewerbsfähigkeit industrieller Volkswirtschaften hängt in hohem Maße von ihrer technologischen Basis ab. In vielen Spitzentechnologien ist Deutschland im Gegensatz zu den USA und Japan nicht weltmarktfuhrend, hat aber insgesamt eine gute Position. So z.B. in der chemischen Industrie, in der Pharmazie, in Teilen der Elektroindustrie sowie der Meß-, Prüf- und Kontrolltechnik, im Automobilbau und im Maschinenbau. „Das Land zählt wie gesehen zu den drei fuhrenden Technologienationen der Welt und ist in Europa der unangefochten wichtigste Technologieproduzent und -lieferant. Angesichts der breiten technologischen Spezialisierung Deutschlands scheint es durchaus möglich, etwa mit neuen, gesellschaftlich umstrittenen und risikoträchtigen Technologien wie der Gentechnik sorg- und behutsamer umzugehen, ohne daß dies postwendend zu dramatischen Einbrüchen der technologischen Leistungsfähigkeit des Landes fuhren müßte" (FR vom 30.1.97). Ein weiteres Merkmal für die Wettbewerbsfähigkeit industrieller Volkswirtschaften ist neben der Technologie die Lohnhöhe. Die Löhne sind unzweifelhaft sehr hoch in Deutschland, wir gehören zu den Hochlohnländern mit einem ausgebauten Sozialsystem. Die Differenz der Stundenlöhne verschiedener Länder ist jedoch wenig aussagekräftig, da dabei die Produktivität nicht mitberücksichtigt wird. Was verglichen werden kann sind die Lohnstückkosten, also der Produktwert, der mit einer Einheit Arbeit hergestellt wird. „Berechnet auf der Basis der jeweils einheimischen Währung stiegen die Lohnstückkosten in Westdeutschland zwischen 1974 und 1994 um insgesamt 97 Prozent, im Durchschnitt aller übrigen OECD-Länder dagegen um volle 270 Prozent. Die deutsche Effizienzmaschine funktionierte also hervorragend.

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Genau deshalb haben deutsche Unternehmen auf vielen Märkten bis heute die Nase vorn" (Martin 1996, S.216f). Es muß auch gesehen werden, daß die Firmenvertreter und die Politik die Globalisierungsthese benutzen, um ihre Interessen besser durchsetzen zu können. Falls internationale ökonomische und ökologische Standards eingeführt werden, werden sich die Differenzen bei den Löhnen und Sozialleistungen sowie bei den Umweltnormen verringern. Außerdem wird der wirtschaftliche Aufschwung in den Schwellenländern dazu fuhren, daß auch dort Gewerkschaften zunehmend aktiv werden, daß hohe Löhne zur Stärkung der Binnennachfrage gebraucht werden. Es handelt sich so betrachtet um ein Nullsummenspiel, das nur viel teurer ist, als wenn man die einzelnen Volkswirtschaften grundständig aufbauen würde und nur Segmente einem internationalen Handel unterwerfen würde. Man denke nur an die volkswirtschaftlichen Kosten für Arbeitslosigkeit, für Abbau von funktionierenden Betrieben und Neuaufbau von Produktionsstätten im In- und Ausland. Ein grundständiger Aufbau würde die ökonomische und kulturelle Vielfalt in den einzelnen Ländern erhalten und ausbauen und zudem die Wirtschaft stabilisieren. Die ökologische Belastung durch Transport- und Kommunikationskosten wären um ein Vielfaches geringer. e) Perspektivenwechsel Die Kontroverse der letzten Jahre um die Globalisierung und den Standort Deutschland macht auf einen Perspektivenwechsel bei der Betrachtung der Wirtschaft deutlich. Durch den Druck der Finanzmärkte unterliegen die Beurteilungskriterien für die Wirtschaftlichkeit eines Betriebes einem Wandel. Der Begriff Standort Deutschland zeigt zudem, daß man eine ganze Volkswirtschaft als ein Standortproblem begreift, was früher nicht der Fall war. Hochqualifizierte Arbeiter und eine solide technologische Struktur sind heutzutage immer stärker an die Finanzmärkte gebunden. Deswegen ist die Wirtschaftlichkeit nicht mehr einfach auf soliden Arbeitsplätzen und guter Technologie aufgebaut, die durchschnittliche Kapitalverzinsungen ermöglichen, sondern zunehmend auch von hohen Dividendenerwartungen und von Spekulationsgewinnen an der Börse. Man kann nun einwenden, daß dies seit Keynes durch seine Allgemeine Theorie des Geldes und des Zinses von 1936 bekannt sei. Allerdings ist die Macht der Finanzmärkte und ihre Dynamik heute eine andere. Auch vor dem Hintergrund der Entkopplung von Finanz-

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und Gütermärkten. „Die Anpassung an das US-Prinzip folgt aber nicht einfach böser Kapitalistenwillkür. Der Druck auf die Unternehmen und ihre Topmanager geht vom transnationalen Finanzmarkt aus, dem Kraftzentrum der Globalisierung. Der grenzenlose Aktienhandel löst die nationalen Bindungen gründlicher noch als die Vernetzung der Produktion" (Martin 1996, S. 180). Der Druck der Börse auf die deutsche Wirtschaft steigt. Es stellt sich nun die Frage, wie sich Globalisierung und Standort Deutschland phänomenologisch charakterisieren lassen? Sprache und Denkweisen der Wirtschaftssubjekte ändern sich im Verlaufe dieses neuen Prozesses. Ein ökonomischer Umdenkungsprozeß deutet sich an. Er definiert die Wirtschaftlichkeit der Betriebe monetaristischer. Es ändern sich nicht nur die Wirtschaftsräume, sondern auch die Zeiten. Die Räume werden größer, die Zeiten werden zusammengepreßt. Die Kulturen müssen stärker miteinander auskommen und werden sich dabei verändern. Waren und Güter sollen aus verschiedenen Entfernungen direkt verfugbar sein, ohne Warte- und Reifezeit. Dadurch steigen insgesamt die Kommunikations- und Transportkosten in atemberaubendem Maße. Ökonomische Ressourcen werden dadurch in steigender Zahl vernutzt. Neuartige Waren können konsumiert werden. Auch in der Beurteilung des Personals findet ein Perspektivenwechsel statt. Arbeiter und Angestellte sollen zu Leistungssportlern -jung, dynamisch, kommunikativ, mobil, locker- mutieren. Sie werden körperlich, seelisch und geistig stärker beansprucht. Ihr Wohlstand erhöht sich einerseits, wird aber oft mangels Zeit beschnitten. Denn auch für sie ändert sich das Raum- und Zeitbewußtsein. Termindruck und ständiger Ortswechsel erlangen Routine. Eine neue Bürokratie wird notwendig, die diesen Prozeß koordiniert. Die Koordination betrifft sowohl die Waren und Dienstleistungen als auch den Einsatz der Arbeitskräfte. Arbeitskräfte, die diesem zunehmenden Leistungsprozeß nicht bewältigen, werden entweder arbeitslos (Frührentner) oder werden davon bedroht, bzw. sind es bereits. Die Wirtschaft wird insgesamt einem Strukturwandel unterzogen. Dies bezieht sich auf die Branchen und auch auf die Qualifikation der Arbeitskräfte. Die Wirtschaft wird in diesem Umbruchprozeß zunehmend beschrieben mit Begriffen aus dem Spiel- und Spekulationswesen; die Wirtschaftsfuhrer bedienen sich häufiger Begrifflichkeiten aus dem Militärbereich. Demgemäß leben wir im Zeitalter der Simulation, der

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Inszenierung, der Strategie und Taktik oder der M o b i l m a c h u n g . Die T a r i f a u s e i n a n d e r s e t z u n g e n werden von diesen neuen M o d e t r e n d s a n g e steckt und verändern durch den Perspektivenwechsel von A r b e i t g e b e r n und Arbeitnehmern ihren Charakter Der Staat und seine O r d n u n g s - und Sozialpolitik versucht sich dieser Entwicklung a n z u p a s s e n , bzw. will sie aktiv unterstützen. Die Medien kommentieren diesen Prozeß a u f ihre Art. Die Welt wird z w a r dadurch einerseits nüchterner, ö k o n o m i s c h e r und sachlicher, aber andererseits werden auch ständige S u b j e k t i v i s m e n g e b r a u c h t , die sich mehr oder minder nach Showgesetzmäßigkeiten ä u ßern. Der ökonomische Prozeß wird insgesamt monetaristischer und n e r v ö ser. Es entstehen ständige Unübersichtlichkeiten und Ungewißheiten. E r wird gleichzeitig a b e r auch instabiler und anfalliger. Jeder Beteiligte fühlt sich ständig bedroht. Die m e h r s p r a c h i g e n Gewinner werden diese Entwicklung verherrlichen, die einsprachigen Verlierer resignieren, die Klugen sich einmischen und raushalten. T r o t z allem ist diese E n t w i c k lung in jeder Hinsicht eine H e r a u s f o r d e r u n g . Die Epoche des b o d e n ständigen Arbeiters scheint vorbei zu sein, es beginnt die Zeit d e r Reisenden mit ökonomischer Absicht. W o b e i wir beim ' m o d e r n e n M e n s c h e n ' angelangt sind, der nun a u c h in einer ordnungspolitischen Bet r a c h t u n g a u s f u h r l i c h zu W o r t k o m m e n soll.

11.3 Der flexible Mensch Unter diesem Titel hat der international bekannte Soziologe R i c h a r d Sennett ein neues B u c h über ' D i e K u l t u r des neuen K a p i t a l i s m u s ' v o r gelegt. Die amerikanische O r i g i n a l f a s s u n g ist unter dem Titel ' T h e C o r rosion of C h a r a c t e r ' erschienen. Sennett lehrt in N e w York und L o n d o n und w u r d e mit dem Buch 'Verfall und Ende des öffentlichen L e b e n s . Die T y r a n n e i der Intimität' (1985) bei uns bekannt. D a s neue Buch 1 behandelt den 'flexiblen K a p i t a l i s m u s ' u n s e r e r T a g e und seine Auswirkungen a u f den Einzelnen. Durch die weltweiten ö k o nomischen Umwälzungen werden neue A n f o r d e r u n g e n an den m e n s c h l i chen C h a r a k t e r und die gesellschaftlichen W e r t e gestellt. Sennett stellt a m A n f a n g des Buches die Frage wie der Mensch heutzutage noch lang' Siehe hierzu auch meine Rezension des Buches „Der flexible Mensch" (1998) in: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Heft 2, 94. Band, 2.Quartal, Stuttgart 1998. S. 304-307

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fristige Ziele verfolgen will im Rahmen einer kurzfristigen Ökonomie? Außerdem fragt er: wie können Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden, wenn sie ständig umstrukturiert werden? S e n n e t t ' s wissenschaftliches Essay ist der Versuch einer objektiven Beschreibung ordnungspolitischer Veränderungen, die er durch die subjektive Beschreibung des Schicksals einer ihm bekannten italienischamerikanischen Familie zu verdeutlichen sucht. Enrico arbeitet als Hausmeister und ist ein treu sorgender Familienvater, seine Frau arbeitet in der chemischen Reinigung. Sie haben zwei Söhne. Ihr Leben verläuft in gleichmäßigen, routinierten Bahnen alten Stils. Der eine Sohn, Rico, ist ein Beispiel f ü r einen neuen Lebens- und Arbeitsstil. Er studiert und arbeitet in der EDV und in der Consultingbranche. Er muß a u f g r u n d moderner Umstrukturierungen häufig seinen Job und die Stadt wechseln und lebt meist weit weg von seiner ebenfalls berufstätigen Frau. Rico lebt privat wie seine Eltern in eher konservativen Wertvorstellungen und hat wie seine Frau Angst, die Kontrolle über das Leben, a u f g r u n d der wirtschaftlichen Turbulenzen, zu verlieren. „Er befürchtet durch seinen Lebensstil, den der Konkurrenzkampf in der modernen W i r t s c h a f t erzwingt, jede innere Sicherheit zu verlieren, in einen Z u stand des Dahintreibens zu geraten" (Sennett 1998, S.22). Für seinen Vater Enrico läuft das Leben geregelt, übersichtlich, örtlich begrenzt. Veränderungen werden als schicksalsgegeben hingenommen. Für Rico sind die beruflichen und privaten Werte' im Konflikt. Beruflich wird Flexibilität verlangt, privat ist er eher eine treue Seele. Sennett sieht im Computer den Schlüssel für den neuen hektischen Kapitalismus. Er verlangt vor allem Flexibilität. Loyalität zu einer Firma kann zu einer Falle für den Arbeitnehmer werden. Distanz und oberflächliche Kooperationsbereitschaft sind daher bessere Panzer, um zu überleben. Für Rico erscheinen die wirtschaftlichen Veränderungen als sein persönlicher Konflikt. Er akzeptiert es, wenn Firmen aus betriebswirtschaftlichen Gründen schließen und er entlassen wird und sorgt sich, ob er diese Situation verantwortungsbewußt bewältigen kann. Der Beruf verlangt von ihm Bindungslosigkeit, seinen Kindern 1

Der Wertewandel wird auch in der deutschen Diskussion seit den 80er Jahren sehr intensiv geführt. Aktuelles Beispiel ist auch die sog. Ruckrede des Bundespräsidenten Roman Herzog.

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aber will er Loyalität und Verpflichtung beibringen. In der Familie wirkt Teamarbeit für ihn zerstörerisch, da eine feste Autorität als Orientierung für die Kinder fehlt. Es stellt sich deshalb die Frage, wie kurzfristiger Erfolg und langfristige Tugenden in Einklang zu bringen sind. Sennett webt in diese Familiengeschichte seine Analyse des heutigen Kapitalismus anhand von zentralen Kategorien ein. Gesellschaftliche Entwicklungen

V • Driften • Notwendigkeit der Routine Der • Flexibilität flexible

• Unlesbarkeit • Risiko

Mensch

• Arbeitsethos • Scheitern

V Notwendigkeit individueller Reflexionen

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Zunächst durchleuchtet er den Begriff der Routine. Sie hat f ü r ihn positive und negative Seiten. Diderot hob hervor, daß Routine und Rhythmus den Menschen stabilisieren. Das Lernen eines Gedichtes ist somit für den Menschen eine Lebenshilfe. Nach Adam Smith ist die Routine eher abstumpfend und ermüdend. Für Enrico ist die Routine eher stabilisierend, sein Sohn erlebt eher die negativen Seiten. N u n wendet sich Sennett dem Begriff Flexibilität' zu. Ursprünglich bedeutet er die Fähigkeit des Baumes zum Nachgeben, um sich dann zu erholen. Heute konzentriert sich die Flexibilität auf die Kräfte, die den Menschen verbiegen. Sennett beschreibt die modernen Flexibilisierungstendenzen in drei Bereichen: dem diskontinuierlichen Umbau von Institutionen, der flexiblen Spezialisierung der Produktion und der Konzentration der Macht ohne Zentralisierung. Sennett bezweifelt die moderne These, daß mehr Flexibilität auch höhere Produktivität bedeutet. „Einige Ökonomen sind sogar der Meinung, bei Hinzunahme aller Kosten der Umstellung auf Computer habe es sogar ein Produktivitätsdefizit gegeben" (Sennett 1998, S.63). Die Flexibilität wird heute in zwei verschiedenen Varianten verwirklicht. Während das 'RheinmodelF den Staat zu Hilfe nimmt, will das 'anglo-amerikanische Modell' vor allem den Markt zur Geltung bringen. Beide Modelle haben nach Sennett ihre Mängel. Das 'anglo-amerikanische Modell' hat niedrige Arbeitslosigkeit und höhere Einkommensunterschiede, das 'Rheinmodell' höhere soziale Sicherheit, aber die Arbeitslosigkeit ist zum Fluch geworden. Er bezweifelt die These, daß Flexibilität mit einer Entbürokratisierung und einer Verminderung der Hierarchie einher geht. Flexible Arbeitszeit sei immer auch verbunden mit verschärfter Kontrolle, vor allem f ü r die unteren und mittleren Unternehmensebenen. „Beim Angriff auf die Routine erscheint eine neue Freiheit der Zeit, doch ihre Erscheinung täuscht... Die Zeit der Flexibilität ist die Zeit einer neuen Macht" (Sennett 1998, S.70). Die flexiblen Wirtschaftsbosse verkörpern im Gegensatz zu Rico eine noch größere Bindungslosigkeit im Beruf. „Statt sich in einem festumrissenen Job zu lähmen,..., solle man sich lieber in einem Netz von Möglichkeiten bewegen" (Sennett 1998, S.78). Zur Flexibilität gehört zudem die Fähigkeit, Fragmentierungen hinzunehmen. Wachstum findet 1

Siehe hierzu auch die deutsche Diskussion um die Schlüsselqualifikationen.

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dabei nicht auf ordentlich geplante Weise ('Rheinmodell') statt, sondern in Sprüngen und Widersprüchen. „Wie wir gesehen haben, litt Rico emotional unter der gesellschaftlichen Entwurzelung, die seinen Erfolg begleitete. Die wahren Sieger leiden nicht unter der Fragmentierung, sie regt sie vielmehr an, an vielen Fronten gleichzeitig zu arbeiten; das ist Teil der Energie, die den irreversiblen Wandel antreibt" (Sennett 1998, S.79). In früheren kapitalistischen Verhältnissen waren die sozialen Zustände klar und durchschaubar, heute sind sie nach Sennett 'unlesbar' geworden. Er macht dies deutlich an einer Bäckerei in Boston, die er vor fünfundzwanzig Jahren besuchte, um die Arbeiter zu interviewen. Seine damaligen Eindrücke vergleicht er mit ihrer heutigen Lage. Die Bäcker waren damals vorwiegend griechischer Abstammung, die stolz waren auf ihre Herkunft und ein Gefühl zeigten für ihre soziale Lage und ihre Familie. Ihr Handwerkerstolz war groß, sie benutzten noch ihre Nase und ihre Augen, um festzustellen, ob das Brot gut sei. Ihre Arbeit machte ihnen allerdings keinen Spaß, denn sie war schwer und führte oft zu Verbrennungen. Die ethnische Gemeinschaft und Solidarität ermöglichte es, die schwierige Arbeit zu ertragen. Sie wollten gute Arbeiter und Griechen sein. Die Gewerkschaft regelte die Löhne, Prämien und die Altersversorgung. „Die Gewerkschaft, die das Leben der Bäcker organisierte, war in Wirklichkeit verrottet, einigen ihrer Funktionäre drohten Haftstrafen wegen Korruption, auch die Pensionskasse war angezapft worden. Dennoch sagten mir die Bäcker, diese korrupten Gewerkschaftsfunktionäre verstünden ihre Bedürfnisse" (Sennett 1998, S.85). Heute gehört die Firma einem riesigen Nahrungsmittelkonzern. Es ist kein griechischer Betrieb mehr. Es arbeiten eine Menge ethnisch nicht mehr zuordenbarer Teilzeit- und Aushilfskräfte mit geringen Löhnen, geringer Qualifikation und flexiblen Arbeitszeiten. Die Macht der Bäkkergewerkschaft existiert nicht mehr. Aufgrund moderner Computertechnologie sind die Räume erstaunlich kühl, während sie früher unerträglich heiß waren. Inzwischen kommen die Bäcker nicht mehr mit den Zutaten der Brote in Berührung, da sie hauptsächlich den Vorgang mit Bildschirmen steuern und überwachen. Temperatur und Backzeit werden elektronisch und vollautomatisch geregelt. Nur wenige Bäcker sehen noch das Brot, das sie herstellen. Aus diesem Grunde können die Arbeitskräfte kein Brot mehr mit der Hand backen und interessieren sich

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auch nicht dafür, da sie davon ausgehen, daß sie nur vorübergehend beschäftigt werden. Der Betrieb ist benutzerfreundlich und sauber, die Arbeiter fühlen sich allerdings erniedrigt. „Dem Arbeitsablauf nach ist alles so einfach, emotional ist alles so unlesbar" (Sennett 1998, S.87). Die Backwaren werden allerdings von der Kundschaft geschätzt, so daß die Bäckerei beliebt und profitabel ist. „Immer wieder sagten mir die Leute mit anderen Worten dasselbe: eigentlich bin ich gar kein Bäcker. Die berufliche Identität der Menschen ist schwach" (Sennett 1998, S.90). Die Benutzerfreundlichkeit der Bäckerei verstärkt die 'Unlesbarkeit' dieses Betriebes für Sennett. Die moderne Technik ist für die Bediener nicht verständlich, sie erledigen nur vorgegebene Regeln. Es ist alles unübersichtlich, fließend, oberflächlich. Der Theoretiker Sennett hat große Probleme, den Zustand der modernen Brotfabrik mit analytischen Begriffen zu fassen. Nur der schwarze Vorarbeiter ist mit soziologischen Begriffen überhaupt einordenbar. Sennett geht davon aus, daß auch den Arbeitern ihre Situation -mit Ausnahme des Vorarbeiters- unlesbar ist. „ E s gibt eine Oberfläche, die alle auf einer Ebene zeigt, aber diese Oberfläche zu durchbrechen mag einen Code erfordern, der den Menschen nicht zur Verfügung steht. Und wenn das, was die Menschen über sich selbst wissen, einfach und unmittelbar ist, so mag das zu wenig sein" (Sennett 1998, S.97). Einen zentralen Stellenwert nimmt das Kapitel über den Begriff des Risikos ein. Hier ändert Sennett die Story. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr Enrico und Rico, sonder Rose, eine Barbetreiberin von Manhattan, die in der Mitte ihres Berufslebens vom allgemeinen Risikofieber gepackt wird und ihre Bar verläßt und ihr Glück in der Werbebranche sucht, dort allerdings nicht zurechtkommt und wieder in ihre Bar zurückkehrt. Sennett zeigt wieder um diese kleine Geschichte herum, daß die Risikobereitschaft heute größer geworden ist, daß aber die Chancen eher kleiner werden, um erfolgreich zu sein. Das erzeugt eine tiefe Angst und Unsicherheit in der amerikanischen Bevölkerung. Mit dem Risiko verbunden ist der Jugendkult. Vor allem junge Menschen leben in einer Risikoillusion und wollen diese mit allen Mitteln durchsetzen. Dadurch verdrängen sie immer die eher älteren Arbeitnehmer. In der Werbebranche gehört man so schon mit dreißig Jahren zum alten Eisen. Ständig einem hohen Risiko ausgesetzt zu sein, zerstört das Selbstwertgefühl der Individuen. Das Risiko ist im Gegensatz zu früher nicht

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mehr rational kalkulierbar, da die Randbedingungen meist unbekannt sind und vor allem der Zeitdruck immer größer wird. „Aber Organisationen befinden sich so oft im Zustand interner Fluktuation, daß es sinnlos ist, rationale Entscheidungen über die eigene Z u k u n f t a u f der Basis der gegenwärtigen Unternehmensstruktur zu t r e f f e n " (Sennett 1998, S. 113). Die neoliberalen Ökonomen verherrlichen nach Sennett die Verhältnisse, indem sie behaupten, daß der Mensch durch Risiken seine Energien erneuert und sich ständig sozusagen auflädt. Sennett beschreibt eher die Kehrseite dieses Prozesses: die Angst, Entwurzelung, das Abschieben der älteren Arbeitnehmer, das Steigen der materiellen Ungleichheiten, das Abdriften und Scheitern der Individuen. Statistisch gesehen wirken sich die Arbeitsplatzwechsel eher negativ als positiv aus. Die heutigen Angestellten werden oft nicht entlassen, sie gehen eher freiwillig, da sie die Tätigkeiten von vornherein nicht lange machen wollen. Sie haben auch keine eigenen Ziele, sie treiben orientierungslos im Arbeitsleben, sie wissen nur, daß sie nicht lange bleiben wollen, daß sie flexibel und risikobereit sein müssen. Das Ziel wird immer unwichtiger, es zählt vor allem die Bewegung und der Aufbruch. In der dynamischen Gesellschaft ist der Stillstand der Tod. Von diesem Prozeß profitieren hochqualifizierte, extrem risikobereite Arbeitnehmer, deren Einkommen steigen, während die wenig Qualifizierten immer höhere Einbußen hinnehmen müssen. Tendenziell gibt es aber das Phänomen der Überqualifizierung, so daß auch für die steigende Zahl von Hochschulabgängern der Konkurrenzdruck zunimmt. N u r wenig schaffen es in Spitzenpositionen, die allseits begehrt sind. Aus diesem Grunde leben alle mehr oder minder stark unter der Fuchtel eines steigenden Risikos. W e r nichts riskiert, gilt schon von vornherein als der Verlierer. Viele sind diesem Druck nicht gewachsen. „Der Imperativ, Risiken a u f sich zu nehmen, hat sich in der modernen Gesellschaft ungeheuer erweitert, Riskantes zu tun, ist eine Charakterprobe geworden: das Entscheidende ist, die Anstrengung auf sich zu nehmen, den Sprung zu wagen, selbst wenn man weiß, daß die Erfolgschancen sehr gering sind" (Sennett 1998, S. 120). In einer solchen Situation werden vom Individuum meist größere Zusammenhänge ausgeblendet und nur auf das zu lösende Problem gestarrt. D a s kann dazu fuhren, daß man die Nerven verliert und scheitert, wie Sennett am Beispiel der Barbetreiberin Rose ausfuhrt.

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Die Risikobereitschaft ist auch eine Altersfrage, sie ist ausgeprägt bei Menschen unter dreißig Jahren. Dadurch wird das Alter entwertet. Das Arbeitsleben verdichtet sich, es beginnt bei Mitte 20 und endet bei Mitte 50. „Das heißt, die produktive Lebensspanne wird auf weniger als die Hälfte der biologischen Lebensspanne zusammengepreßt, und ältere Arbeitnehmer müssen, lange bevor sie körperlich oder geistig arbeitsunfähig werden, abtreten" (Sennett 1998, S.123). Die älteren Arbeitnehmer gelten als risikoscheu und unflexibel, ihre Erfahrungen können sie immer weniger im Berufsleben einbringen, weil immer weniger danach gefragt wird. „Was ein älterer Mitarbeiter im Laufe der Jahre in seinem Beruf gelernt hat, könnte zukünftigen Veränderungen in der Firma im Wege stehen" (Sennett 1998, S. 125). Im neuen Regime zählen nur unmittelbare Fähigkeiten. Das Wissen von Ingenieuren beispielsweise veraltet deswegen sehr schnell. Sennett sieht aber auch einen Gegentrend zu dieser Entwicklung, wenn er ausfuhrt, daß die Durchsetzung dieser neuen Verhaltens- und Denkweisen auf die Wirtschaft insgesamt doch noch eine lange Zeit brauchen wird. „Historisch gesehen ist das Ausscheiden von Menschen mit 'alten' Fähigkeiten allerdings meist ein langsamer Prozeß gewesen. Es dauerte etwa zwei Generationen, um ein Handwerk wie die Weberei im späten 18. Jahrhundert zu verdrängen, und die Veränderungen im Fordwerk Highland Park brauchten zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast dreißig Jahre" (Sennett 1998, S. 128). Weiter geht Sennett auf die Veränderung des 'Arbeitsethos' ein. Er beginnt in seinem kurzen Abriß mit der Arbeitsethik von Hesiod und Vergil und wendet sich dann dem christlichen Mittelalter zu. Die Arbeit des Bauern gilt dabei als vorbildlich. Standhaftigkeit und Selbstdisziplin sind dabei herausragende Merkmale: Die innere Anarchie des Menschen zu bekämpfen, ohne Hoffnung auf einen endgültigen Sieg über die Natur. In der Renaissance entwickelt sich aber auch die Vorstellung, daß der Mensch auch seine eigene Lebensgeschichte gestaltet. Der Homo faber versuchte die Welt nicht mehr zu ertragen, sondern auch selbst zu bauen Sennett geht danach vor allem auf Max Weber's Protestantische Ethik ein. Sie prägte vor allem das Arbeitsethos des klassischen Kapitalismus. Der Mensch wird zu einem getriebenen, der seinen moralischen Wert durch die Arbeit zu beweisen sucht. „Das Arbeitsethos des getrie-

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benen Menschen erscheint Max Weber nicht als Quelle menschlichen Glücks, auch nicht als Grundlage psychischer Stärke. Der getriebene Mensch ist zu sehr unter der Last des Gewichts gebeugt, das er der Arbeit zuzumessen gelernt hat" (Sennett 1998, S. 142). Sennett betrachtet dieses Arbeitsethos also als ambivalent. Er sieht darin, daß der Mensch noch identische Strukturen in sich und der Gesellschaft aufbauen konnte, allerdings war der Preis dafür relativ hoch. Stand bei Max Weber noch die Arbeit und der Einzelne im Vordergrund, verschiebt sich diese Konzeption heute in Richtung Kommunikation und Gemeinschaft. Sennett betrachtet vor allem das 'Projekt Teamarbeit' als Ausdruck des flexiblen Kapitalismus. Dieses Konzept wurde sogar 1991 (vgl. den 'SCANS-Report') offizielles Konzept des amerikanischen Arbeitsministeriums. Das 'Projekt Teamarbeit' wird von ihm scharf kritisiert. Es ist für ihn ohne jede tiefgründige Struktur und völlig oberflächlich. Die wirklichen Probleme werden dadurch nicht angepackt, sondern durch Kommunikation verwässert. „Gruppen neigen dazu, zusammenzuhalten, indem sie sich auf die Oberfläche beschränken; geteilte Oberflächlichkeit hält Leute durch die Vermeidung schwieriger, umstrittener und persönlicher Fragen zusammen" (Sennett 1998, S. 145). Sennett belegt seine These durch die Erfahrungen von Rose in der Werbebranche. Statt einfache Lösungen von erfahrenen Praktikern aufzunehmen, werden riesige Gelder eingesetzt, um praxisferne Lösungen auszuarbeiten. Das Büro übernimmt dabei immer stärker die Begriffe und die Verhaltensweisen aus dem Sportbereich. Die Beseitigung der Hierarchie wird zu einer Phrase, in Wirklichkeit fuhrt diese These nur zu einer größeren Bürokratie und zu Verkomplizierungen. „Die Fiktionen der Teamarbeit sind also durch ihren oberflächlichen Inhalt, die Konzentration auf den Augenblick, ihre Vermeidung von Widerstand und die Ablenkung von Konflikten der Machtausübung ausgesprochen nützlich" (Sennett 1998, S.155). Das vermeintliche Fehlen von Autorität gibt den Oberen die Freiheit, zu organisieren und zu planen, wie es ihnen gerade paßt. Das heutige Arbeitsethos fuhrt uns nach Sennett immer stärker von den moralischen Vorstellungen eines Bauern bei Vergil weg. Aber die Frage nach Sinn und Wesen der Arbeit ist heute ungelöst. Die Teamarbeit ist f ü r Sennett auf jeden Fall nicht die Lösung. „Eine abstumpfende Politik des Dienstalters und der Betriebszugehörigkeit beherrschte die

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gewerkschaftlich organisierten Arbeiter im Werk Willow Run; setzung einer solchen Geisteshaltung wäre auf den heutigen und den flexiblen Netzwerken ein selbstmörderisches Rezept. bleme, vor denen wir stehen, müssen wir heute und f ü r heute (Sennett 1998, S 157).

die FortMärkten Die Proangehen"

Sennett beschäftigt sich in einem eigenen Kapitel mit dem Scheitern, einem modernen Tabu. Im klassischen Kapitalismus waren vor allem die Unterprivilegierten davon betroffen. Heute sind davon auch im großen M a ß e die Mittelschichten tangiert. Betriebsverschlankungen und Umstrukturierungen setzen sie ganz plötzlich unter Druck. Im klassischen Kapitalismus herrschten relativ klare Vorstellungen, die Unterprivilegierten wußten wogegen sie waren, allerdings nicht w o f ü r sie waren. Sie lebten in klaren, ungerechten Strukturen und bezogen ihre Identität aus der materiellen Entlohnung und ihrem Berufsethos. Eine Karriere zu verfolgen w a r noch möglich. Man war davon überzeugt, daß der richtige G e b r a u c h der Wissenschaft und der technischen Fähigkeiten das Leben nachhaltiger verbessert und beherrschbar macht. Heute sind alle diese Sicherheiten in Gefahr. Kurzfristigkeit und Flexibilität des modernen Kapitalismus bedrohen immer stärker den A u f b a u und die Planung von Karrieren. Sennett verdeutlicht diesen Prozeß a m Niedergang von IBM. In den fünfziger Jahren konnten die Beschäftigten mit lebenslanger Anstellung rechnen, die Firma bot auch f ü r das Privatleben viele Vorteile: eigene Golfplätze, Kindergärten, Finanzhilfen beim Hauskauf. In den 90er Jahren ändert sich diese Lage radikal. Ein Drittel der Angestellten wird aus heiterem Himmel entlassen, die sozialen Leistungen werden gestrichen. Sennett beschreibt nun eingehend, wie die entlassenen Angestellten ihre Situation innerlich bewältigt haben. Die Verarbeitung läuft zeitlich in drei Phasen ab. In der ersten Phase empfanden sich die Leute noch als passive Opfer der Firmenpolitik. In der zweiten Phase wurde der Schuldige in der globalen Wirtschaft gesucht. In der dritten Phase w u r de das eigene Verhalten untersucht. Hier stellen die Betroffenen fest, daß sie die Situation völlig falsch eingeschätzt haben, daß sie viel zu spät a u f die Veränderung in der Informationstechnik (vom Großrechner zum PC) reagiert haben und daß sie viel zu risikoscheu waren. Diese intensive Problemdiskussion hilft den ehemaligen Angestellten, ihre Situation zu verarbeiten. „Schließlich könnte man sagen, d a ß diese M ä n n e r sich ihrem Scheitern in der Vergangenheit gestellt, die W e r t -

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Vorstellungen ihrer Karriere umrissen, aber keinen Weg in die Zukunft gefunden haben" (Sennett 1998, S.184). Im letzten Kapitel versucht Sennett einen Hoffnungsschimmer der wirtschaftlichen Entwicklung darzustellen. Der globale Kapitalismus brauche auch immer die örtlichen Verhältnisse. Er schwebe nicht draußen im Weltall; lokale, soziale und kulturelle Gegebenheiten sind sehr wichtig für Investitionsentscheidungen. Der Ort besitzt Macht und kann die neue Ökonomie einschränken. In einem Ort kann sich ein 'Wir-Gefühl' bilden: eine lokale Gemeinschaft, eine Sehnsucht der Menschen nach Verwurzelung. Soziale Bindungen können entstehen. Der Mensch wird sich seiner Abhängigkeit bewußt. Sennett sieht in dem Gefühl der Abhängigkeit eine positive Größe. Es ist eine soziale Fähigkeit, sich auf andere zu stützen. Abhängigkeit beruht auf Vertrauen und muß nicht mit Selbsterniedrigung einhergehen. „Vertrauen entwickelt sich, wie wir gesehen haben, formlos in den Nischen und Spalten von Bürokratien, wenn Menschen merken, auf wen sie sich verlassen können" (Sennett 1998, S.195). Sennett sieht allerdings im viel diskutierten Kommunitarismus keinen Ausweg, da er nur auf Vertrauen und Verpflichtung setzt und die Konflikte zwischen den Menschen nicht berücksichtigt. Deswegen lenkt Sennett sein Augenmerk auf Gruppen, die sich in einen Prozeß begeben, in dem Spannungen konfliktorisch bearbeitet werden. Als Beispiel denkt er sicherlich dabei an die entlassenen IBM-Angestellten aus dem vorigen Kapitel, die ihre Erfahrungen schonungslos aufgearbeitet haben. „Die Zeitbrüche, die soziale Desorganisation der neuen Wirtschaftsordnung sollten die Menschen eigentlich dazu bringen, ihre Differenzen zu artikulieren und auszutragen, statt sich auf einen oberflächlichen Frieden einzulassen" (Sennett 1998, S.199). Sennett hofft auf die Menschen mit Charakter, die wissen, daß sie aufeinander angewiesen sind und das Gefühl vermitteln, daß der Einzelne gebraucht wird. „Ich habe aus der bitteren, radikalen Vergangenheit meiner Familie gelernt, daß Veränderung, wenn sie kommt, sich im Kleinen entwickelt, örtlich, schrittweise in den Gemeinden und nicht durch Massenerhebungen. Ein Regime, das Menschen keinen tieferen Grund gibt, sich umeinander zu kümmern, kann seine Legitimität nicht lange aufrechterhalten" (Sennett 1998, S.203).

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Das vorliegende Essay beschreibt die aktuellen ordnungspolitischen und persönlichen Veränderungen in der amerikanischen Gesellschaft auf kluge Weise. Es bietet eine interessante Analyse, ohne allerdings Lösungen angeben zu können oder zu wollen. Allerdings wird vor allem die amerikanische Gesellschaft beschrieben. Eine Charakterisierung Europas müßte noch geleistet werden. Hierzu sind die Kategorien von Sennett sicherlich eine Hilfe, aber sie reichen bei weitem nicht aus. Dafür sind die Unterschiede zwischen den Kontinenten zu groß. Es gibt schlichtweg spezifisch deutsche und europäische Ordnungsprobleme. So ist beispielsweise die deutsche Einheit nur unvollkommen vollzogen und die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verbindungen von Osteuropa und Westeuropa stehen noch in den Anfangen. Neben vielen Anregungen läßt sich eine wichtige Erkenntnis auf jeden Fall aus der Lektüre dieses Ansatzes gewinnen: Es wird vehement daran erinnert, daß die aktuellen wirtschaftlichen Fragen sehr eng mit persönlichen Lebensfragen verknüpft sind. Eine kritische Auseinandersetzung mit Zeitfragen muß daher aus den üblichen Liberalismus- und Keynesianismusbahnen ausbrechen und sich stärker auf die Diskussion der Gesamtsituation einlassen. Außerdem ist wohl klar geworden, wie wichtig es ist, sich Lebensziele zu setzen, sei es individuell oder kollektiv, um Orientierungslosigkeit und Abdriften zu verhindern. Literatur Beck, Ulrich. Was ist Globalisierung ? 4. Aufl., Ffm 1998 Dolata, Ulrich: Das Phantom der Globalisierung, in: Frankfurter Rundschau vom 30.1.1997 Härtel, H. H.; Jungnickel, R., u.a.: Grenzüberschreitende Produktion und Strukturwandel. Globalisierung der deutschen Wirtschaft, Baden-Baden 1996 Hickel, Rudolf: Standort-Wahn und Euro-Angst. Die sieben Irrtümer der Wirtschaftspolitik, Hamburg 1998 Hirst, Paul, u.a.: Globalisierung? Internationale Wirtschaftsbeziehungen, Nationalökonomien und die Formierung von Handelsblöcken, in: Ulrich Beck (Hg ), Politik der Globalisierung, Ffm 1998, S.85-134 Martin, Hans Peter; Schuhman, Harald: Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand, 5. Aufl., Hamburg 1996

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Mine, Alain: Globalisierung. Chancen der Zukunft, Wien 1998 Perraton, Jonathan, u.a.: Die Globalisierung der Wirtschaft, in Ulrich Beck (Hg.), Politik der Globalisierung, Ffm 1998, S. 134-169 Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998 Spiegel, Der: 11, Interview vom 10.3.97 mit dem Vorstandschef von Bayer in Leverkusen, Manfred Schneider: "Ich will das Geld der Aktionäre", Hamburg 1997 Spiegel, Der: 12 und 13, 1997 ZEIT, DIE: Nr. 14, 1997

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12. Schlußbemerkungen Die ordnungspolitischen Kontroversen beruhen auf unterschiedlichen Interessen, verschiedenem Fachwissen und voneinander abweichenden Ideen, Wertungen und Vorstellungen. Die ordnungspolitischen Debatten beziehen sich auf die Rolle des Staates und des Marktes, auf das Verhältnis von Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungssektor, auf die Regionalwirtschaft, Staatswirtschaft, Europäische Union und Weltwirtschaft, auf die Rolle des Geldes und die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, auf Ökologie und Technik. Zur Lösung dieser Fragestellung sind Fachwissen aber auch Weisheit notwendig. Östliche Weisheit hat sich tief in der Menschheit verwurzelt. ZenMeister waren oder sind wichtige Träger dieses Wissens. Es wurde in Prüfungsritualen an die Schüler weitergegeben; u.a. durch sog. Koans. Das sind Fragen aus einer anderen Sphäre oder die Frage nach einem ungeklärten Widerspruch. Mit gewöhnlichem Bewußtsein ist den Fragen und Rätseln nicht beizukommen. Der Versuch, sie mit gewöhnlichen Mitteln zu lösen, wäre Zeitverschwendung. Jedes Koan hat nur eine Antwort. Es wird verglichen mit einem Urteil des obersten Gerichtshofs. Die Urteile sind öffentliches Eigentum. Jeder kann sie nachschlagen, und was das oberste Gericht entschieden hat, ist unanfechtbar. Das chinesische Wort Koan besteht aus zwei Schriftzeichen. Ko bedeutet öffentlich, an bedeutet Aushang. Man geht also scheinbar davon aus, daß ein Koan etwas Objektives sei und für die Allgemeinheit zugänglich ist. Die Lösung von Koans erfordert bei Schülern eine Bewußtseinserweiterung auf dem Weg zu sich selbst. Die Koans verlangen keine gesprochene Antwort; um sie zu lösen, muß der Schüler etwas werden, eine bestimmte Ebene erreichen. In der Heraufarbeit zu dieser Ebene findet der Schüler die jeweilige Lösung. Ein Koan kann z.B. darin bestehen, daß der Meister vor dem Schüler eine Hand hebt und ihn fragt: hörst Du das Klatschen der einen Hand? Durch die Beschäftigung mit der jeweiligen Frage soll etwas bestimmtes für sein Leben klar gemacht werden. Der Schüler kann sich jahrelang mit dieser Frage beschäftigen und findet irgend wann einmal die richtige Lösung. Eine andere Koan-Frage wäre, wenn ein Schüler an einem Abgrund hängt und sich nur noch mit den Zähnen an einem Grasbüschel festhalten kann. Der Meister kommt vorbei und bittet den Schüler zu erklären, was Zen sei?

12. Schlußbemerkungen

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Die heutige ordnungspolitische Problematik um die Ursachen und Lösung der Massenarbeitslosigkeit kann in diesem Sinne als ein KoanProblem der westlichen Ökonomie aufgefaßt werden. Es scheint zu stimmen, daß sie durch ein kaum lösbares Paradoxon gekennzeichnet ist. Mit herkömmlichen Mitteln scheint die Massenarbeitslosigkeit nicht zu lösen sein. Auf der einen Seite nämlich wird die Arbeitslosigkeit wesentlich verursacht durch technische Veränderungen, durch Rationalisierungen, wie das fachlich genannt wird. Neue Maschinen ersetzen mehrere tausend Arbeitsplätze und verursachen technologisch bedingte Arbeitslosigkeit. Auf der anderen Seite aber sind Arbeitsplätze vornehmlich nur in großem Maße zu schaffen durch Innovationen, d.h. durch technische Veränderungen. Diese haben wir aber eben noch als Jobkiller entlarvt. Der Arbeitsplatzvernichter wird gleichzeitig der Arbeitsplatzbeschaffer. Ein Widerspruch, der mit normaler Logik nicht aus der Welt zu schaffen ist. Ein echtes Koan-Problem also? Wo bleibt die dritte Dimension? Was lehrt uns menschheitsgeschichtlich das Technikparadoxon? Zu welcher Weisheit soll die Menschheit durch diese Leidenserfahrung gebracht werden? Kehren wir zu unserem Händeklatschbeispiel zurück. Äußerlich betrachtet kann niemand mit einer Hand in die Hände klatschen. Dies geht nur in einem innerlichen Bild. Der Innenraum wäre also die dritte Dimension. Es wäre aber auch denkbar, daß der Meister dem Schüler nur zeigen will, was eine unsinnige Frage ist. Was heißt das nun für die Problemstellung des Zusammenhanges von technischen Veränderungen und der Arbeitslosigkeit? Lassen wir mal hier den sog. Idiotentest außen vor. Dann wäre wahrscheinlich der Widerspruch -technische Veränderungen zerstören und Arbeitsplätze schaffen- nur dadurch zu lösen, wenn man die Veränderungen nicht nur als äußere technische Veränderungen begreifen würde, sondern auch als innere Veränderungen. So wäre beispielsweise der Begriff der Energie nicht nur als physisches Produkt -Gas, Öl oder Strom- zu sehen, sondern auch als innere Wärmeenergie des Menschen oder der Natur. Wenn man die innere Sensibilität des Menschen und der Natur sehen würde, wäre man auch in der Lage, die äußeren Probleme miteinzubeziehen. Dieses Ergebnis erhält eine zusätzliche Dynamik, wenn man Ergebnisse der. neuro-physiologischen Forschung mit berücksichtigt. „Man schätzt, daß wir über rund 100 Millionen Sinneszellen verfügen, unser Nervensystem aber an die 10000 Milliarden Schaltstellen oder

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Synapsen enthält. Mithin sind wir gegenüber Änderungen unserer Innenwelt 100000 mal empfanglicher als gegenüber Änderungen in unserer äußeren Umwelt" (Botho Strauß 1992, S.12). Jedes Lebewesen verfügt demnach über wesentlich mehr innerer Energie, als es durch materielle Energie erhält. Würde man also auch die Innenseite der technischen Veränderungen sehen, würde sich die Notwendigkeit von zusätzlicher materieller Energie relativieren und das Paradoxon auflösen. Denn vor allem der Mensch ist ein Energieträger. Deswegen brauchen wir alle Einsatzfahigen und Einsatzwilligen im Arbeitsprozeß und keine durch Egoismus und vulgären Materialismus erzeugten Arbeitslosen. Das bedeutet aber, daß die Ökonomie von der Vollbeschäftigungsseite her betrachtet werden muß und nicht nur aus der Sicht der äußerlichen technischen Veränderungen oder aus der Kurzsichtigkeit eines Einzelbetriebes! So hat auch der Begriff des Vermögens eine innere und eine äußere Seite: einmal können darunter die Fähigkeiten des Menschen verstanden werden und zudem der materielle, quantitative Reichtum. Es ist also die Frage, was einer vermag, d.h. was er kann und die Frage, was einer an Geld angesammelt hat. Innenseite und Außenseite sind in einer an Gerechtigkeit orientierten Gesellschaft in ein Gleichgewicht zu bringen und es wird meist nur über äußerliche Unterschiede gestritten. Es geht in der Ökonomie um die innere und äußere Vermehrung des Vermögens und deren Gleichgewicht und Gerechtigkeit. Vielleicht hat die moderne Ökonomie noch wesentlich mehr 'Koan-' und 'Gleichgewichts-Probleme' und hat die Aufgabe, den Dingen und den Menschen gerecht zu werden. Man denke nur daran, daß die Politiker und Manager gleichzeitig sparen und die Wirtschaft ankurbeln wollen. Man will den Standort Deutschland aufbauen und baut gleichzeitig unzählige Arbeitsplätze ab. Dies kommt wieder einmal der Quadratur (Vergewaltigung) des Kreises gleich, die nur ein wahrer Meister 'verhindern' kann. „Ich habe keinen Zweifel, daß Autorität, Meistertum eine höhere Entfaltung des Individuums befördert bei all jenen, die sich ihr zu verpflichten imstande sind, als jede Form der zu frühen leichtgemachten Erziehung" (Botho Strauß 1993, Bocksgesang). Und wahrscheinlich sind nur 'koan-geschulte' Menschen in der Lage, den Terror der einseitigen Ökonomie aufzudecken und Innenwelt und Außenwelt in einem sozialen Gleichgewicht gerecht zu versöhnen. Die moderne Ökonomie denkt die technischen Veränderungen ohne den Menschen und steht so hilflos vor der Massenarbeitslosigkeit, doch es gibt die Technik und die Ökonomie nur, weil es den Menschen gibt.

12. Schlußbemerkungen

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Die globalisierte Welt wird vor allem mit High-Tech-Mitteln beschleunigt. Sie sollen den Ritt durch die Länder und Kulturen auf technizistischer Ebene ermöglichen. Damit wird die Frage nach der Technik, dem Sinn der Arbeit und der internationalen Arbeitsteilung neu gestellt. Ordnungspolitische Fragen gewinnen so wieder an Bedeutung. Die Entwicklung der Marktwirtschaft erweist sich somit nicht nur als eine ökonomische, sondern auch als eine kulturelle Frage. Literatur Strauß, Botho: Beginnlosigkeit. Reflexion über Fleck und Linie, München 1992 Strauß, Botho: Anschwellender Bocksgesang, in: Der Spiegel 6, Hamburg 1993

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