Kontroversen in der jüngeren Mediävistik [1 ed.] 9783412528300, 9783412528287


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Kontroversen in der jüngeren Mediävistik [1 ed.]
 9783412528300, 9783412528287

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KONTROVERSEN IN DER Hans-Werner Goetz (Hg.) JUNGEREN .. MEDIAVISTIK

Hans-Werner Goetz (Hg.)

Kontroversen in der jüngeren Mediävistik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen ­schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Der Herzog von Anhalt, Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse) © akg-images / UIG / Universal History Archive. Korrektorat  : Ute Wielandt, Markersdorf Einbandgestaltung  : Guido Klütsch, Köln Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52830-0

Inhalt

Hans-Werner Goetz

Kontroversen in der Mediävistik. Eine ‚historische‘ Einführung in die jüngere Problemlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   7

KONTROVERSE FORSCHUNGSRICHTUNGEN UND ANSÄTZE Thomas Ertl

Streit ums Globale. Die Grenzen der mittelalterlichen Geschichte. . . . . . . .  51 Amalie Fößel

Mediävistische Geschlechtergeschichte – immer noch ein Reizthema? . . . . .  79 Martin Gravel

Que reste-t-il de l’« esprit des Annales » dans l’histoire du Moyen Âge pratiquée en France ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Wolfgang Hasberg

Ansichtssache Mittelalter – oder: Zur Metaphorik der Alterität einer Epoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Walter Pohl

Frühmittelalterliche Migrationen und Identitäten im Spiegel naturwissenschaftlicher DNA-Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Juliane Schiel

Zur Anwendung hochmoderner Theorien auf das Mittelalter am Beispiel der ‚Critical Race Theory‘. Ein Beitrag zum wissenschaftlichen Umgang mit einer kontroversen Forschungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

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Inhalt

KONTROVERSE THEMEN UND FACHGEBIETE Wendy Davies

Watson’s Green Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Simon Groth

Klassenkampf im Mittelalter? Der Stellingaaufstand in der Mittelalterforschung der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Nikolas Jaspert

Der Streit um die ‚Reconquista‘.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Brigitte Kasten

Zum Deutungsstreit über das Lehnswesen im Frühmittelalter in der deutschen mediävistischen Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Régine Le Jan

La parenté au premier Moyen Âge, un objet de débats . . . . . . . . . . . . . . 363 Steffen Patzold

Die Kontroverse über die „mutation féodale“ aus deutscher Perspektive . . . . 395 Ian Wood

Recent controversies about the transformation of the Roman Empire. . . . . . 425 Register.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

Hans-Werner Goetz

Kontroversen in der Mediävistik Eine ‚historische‘ Einführung in die jüngere Problemlage

Der hier vorgelegte Band hat eine Vorgeschichte, geht aber eigene Wege. Mich selbst hat seit langem nicht nur das Mittelalter, sondern haben auch Analysen der mediävistischen Forschung interessiert, die ihren deutlichsten Niederschlag in der Monographie über die „Moderne Mediävistik“ gefunden haben.1 Als ein niederländischer Kollege mir vor einiger Zeit nahelegte, eine aktualisierte Bearbeitung dieses Buchs vorzunehmen, habe ich das abgelehnt. Solche Bilanzen lassen sich nicht einfach ‚aktualisieren‘, sondern müssen von Zeit zu Zeit neu erstellt werden. Das Thema des (wegen der Pandemie zunächst von 2020 auf 2021 verlegten und dann online veranstalteten) „Münchener“ Historikertags, „Deutungskämpfe“, war dann Auslöser, mit einer mediävistischen Sektion zumindest ausschnitthaft und aktualisiert auf bestimmte, aber doch anders gelagerte Forschungsfragen zurückzukommen. Das war der Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes, in den die Sektionsbeiträge sämtlich integriert sind, konnte jedoch nur ein höchst exemplarischer Anfang sein. Tatsächlich war es deshalb von vornherein geplant, das Thema in einem erheblich breiteren Umfang zu behandeln, ein Vorhaben, das in diesem Band mit seinem insgesamt weit gespannten Spektrum nun sein erstes Ergebnis gefunden hat. Ich bin allen Beiträgerinnen und Beiträgern sehr dankbar für ihr Interesse, ihre spontane Zusage und ihre solide Ausfertigung der durchweg anregenden Aufsätze. Dennoch sei gleich vorweg eingeräumt, dass auch dieser Band trotz seines Umfangs das Thema zwangsläufig immer noch sehr exemplarisch abhandelt und dass man, wie auch diese Einleitung verdeutlichen wird, noch viele weitere, kontroverse Themen der jüngeren Zeit hätte untersuchen können oder müssen, um zu einem einigermaßen repräsentativen Vergleich zu gelangen. Das liegt vor allem natürlich daran, dass ein Sammelband von vornherein eine Auswahl erfordert. Für einige Themen, die mir selbst wichtig erschienen, ließen sich in der relativ kurzen Zeit der Entstehung aber auch keine Bearbeiter/innen finden, einige andere mussten ihre Teilnahme am 1 Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darm­ stadt 1999. Das Buch, das vielfach als ein nützlicher Überblick über die aktuelle Forschung begrüßt wurde, war eigentlich als eine Mahnung an die deutsche Mediävistik gedacht, nicht ins internationale Hintertreffen zu geraten.

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Ende aus Zeitgründen zurückziehen. Von Beispielen der deutschen Mediävistik ausgehend, ist der Blick hinsichtlich der Autorinnen und Autoren wie auch der behandelten Themen zudem bewusst auf eine Internationalität ausgeweitet worden, auch wenn von der Genese des Bandes her die Mehrzahl der Beiträge deutschsprachig ist. Auch fachlich ist eine scharfe Trennung nur grob möglich, denn, wie Frank Rexroth einmal betont hat, haben Mediävisten drei „Identitäten“  : als Historiker, als Mittelalterhistoriker und als Mediävisten im interdisziplinären Rahmen.2 Die ursprüngliche Absicht, in diesem Sinn auch andere mediävistische Fächer zu Wort kommen zu lassen, hätte jedoch alle Umfanggrenzen gesprengt und wurde deshalb wieder aufgegeben. Die Beiträge beschränken sich, unbeschadet einzelner Blicke nach „außen“, also ganz auf geschichtswissenschaftliche Kontroversen über das Mittelalter. Nichts steht (anderen) im Wege, das fortzuführen, zu erweitern und empfindliche Lücken zu schließen. Um die jüngeren Diskussionen gewidmete Thematik genauer zu entfalten, lohnt sich vorab nicht nur ein Blick auf den Forschungsstand, sondern auch zurück auf die ältere Mediävistik. Der F o r s c h u n g s s t a n d im engeren Sinn ist schnell beschrieben  : Es gibt zwar hinreichend Darstellungen zur Geschichte der Geschichtswissenschaft,3 auch Forschungsüberblicke und vor allem Sammelbände über Ausrichtungen, 2 Frank Rexroth, Geschichte erforschen oder Geschichte schreiben  ? Die deutschen Historiker und ihr Spätmittelalter 1859–2009, in  : Historische Zeitschrift 289, 2009, S. 109–147 (zur Stellung und Entwicklung der Spätmittelalterforschung im Spiegel der Historischen Zeitschrift), hier S. 110, Anm. 4. 3 Davon können hier nur einige genannt werden. Allgemein zur Geschichte der (deutschen) Geschichtswissenschaft  : Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 1997 (erweiterte Fassung der englischen Erstauflage von 1968)  ; (international) Ders., Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft. Ein internationaler Vergleich (dtv Wissenschaftliche Reihe 4308), München 1978 (erweitert gegenüber der engl. Originalausgabe von 1975)  ; Ders., Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1565), Göttingen 21996 (11993)  ; Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart (Beck’sche Reihe 1543), München 2003  ; zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts  : Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin  (Hg.), Geschichtsdiskurs 4  : Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880–1945, Frankfurt am Main 1997  ; zur Zeit seit 1945  : Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin  (Hg.), Geschichtsdiskurs 5  : Globale Konflikte, Erinnerungsarbeit, Neuorientierungen seit 1945, Frankfurt am Main 1999  ; zur deutschen Nachkriegsgeschichtswissenschaft  : Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989  ; international  : Georg G. Iggers/Q. Edward Wang/Supriya Mukherjee  (Hg.), Geschichtskulturen. Weltgeschichte der Historiografie von 1750 bis heute, Göttingen 2013 (englische Originalausgabe  : A Global History of Historiography, 2008). Kritische Würdigungen von 18 Mediävisten des 20. Jahrhunderts mit Blick auf Ausrichtung, Zeitgebundenheit und nationale Aspekte bieten die Bände von Jaume Aurell Cardona/Francisco Crosas (Hg.), Rewriting the Middle Ages in the Twentieth Century, Turnhout 2005, und Jaume Aurell

Kontroversen in der Mediävistik: historische Einführung 

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Themen, Methoden, Stand und Perspektiven der Mediävistik der letzten Jahrzehnte,4 Cardona/Julia Pavón Benito (Hg.), Rewriting the Middle Ages in the Twentieth Century. II  : Natio­ nal Traditions, Turnhout 2009. 4 Zur „Geburt“ der Mediävistik im 19. und frühen 20.  Jh. vgl. Isabelle Guyot-Bachy/Jean-Marie Moeg­lin (Hg.), La Naissance de la médiévistique. Les historiens et leurs sources en Europe (XIXe–début du XXe siècle). Actes du colloque de Nancy, 8–10 novembre 2012 (École pratique des Hautes Études. Sciences historiques et philologiques V. Hautes études médiévales et modernes 107), Genf 2015. Zur deutschen Mediävistik in den ersten zweieinhalb Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Anne Christine Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1970 (Formen der Erinnerung 24), Göttingen 2005. Einen frühen ausführlichen Forschungsüberblick zu Frankreich (über Teilgebiete, Epochen, Regionen und Fächer) gibt Michel Balard  (Hg.), L’histoire médiévale en France. Bilan et perspectives, Paris 1991. Zu Wandlungen in Themen, methodischer Herangehensweise und Zielsetzungen der neueren geschichtswissenschaftlichen Mediävistik vgl. etwa (in der Chronologie der Erscheinungsdaten) John Van Engen (Hg.), The Past and Future of Medieval Studies (Notre Dame conferences in Medieval studies 4), Notre Dame, IN 1994  ; Jacqueline Hamesse  (Hg.), Bilan et perspectives des études médiévales en Europe. Actes du premier Congrès européen d’Etudes Médiévales (Spoleto 27–29 mai 1993) (Textes et études du Moyen Age 3), Louvain-la-Neuve 1995  ; im Vergleich der beiden deutschen Staaten  : Michael Borgolte  (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende (Historische Zeitschrift. Beiheft 20), München 1995  ; teils national ausgerichtet  : Jacques Le Goff/Guy Lobrichon, Le Moyen Âge aujourd’hui. Trois regards contemporains sur le Moyen Âge  : histoire, théologie, cinéma. Actes de la Rencontre de Cerisy-la-Salle, juillet 1991 (Cahiers du Léopard d’or 7), Paris 1997  ; Jacques Le Goff/Jean-Claude Schmitt, L’histoire médiévale, in  : Cahiers de civilisation médiévale 39 (153/154), 1996, S. 9–25  ; Otto Gerhard Oexle (Hg.), Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung am Ende des 20. Jahrhunderts (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 2), Göttingen 1996  ; Goetz, Moderne Mediävistik (wie Anm.  1)  ; Hans-Werner Goetz/Jörg Jarnut  (Hg.), Mediävistik im 21.  Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung (MittelalterStudien 1), München 2003 (der Band enthält zahlreiche Beiträge zum Stand und zu neuen Themen und Ansätzen der Mediävistik im internationalen und interdisziplinären Vergleich)  ; Peter Moraw/Rudolf Schieffer (Hg.), Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen 62), Ostfildern 2005  ; C. Stephen Jaeger (Hg.), The State of Medieval Studies, in  : Journal of English and Germanic Philology 105/1, 2006, S. 1–256  ; informativ zur nationalen Geschichtswissenschaft hier vor allem Jaume Aurell, A Secret Realm  : Current Trends in Spanish Medieval Studies, ebd., S. 61–86  ; Martin Aurell, Medieval Studies in France at the Threshold  : 2000, ebd., S. 156–169. Zu modernen Deutungen der mittelalterlichen Gesellschaft (im Wandel) vgl. Natalie Fryde/Pierre Monnet/Otto Gerhard Oexle/Leszek Zygner (Hg.), Die Deutung der mittelalterlichen Gesellschaft in der Moderne (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 217), Göttingen 2006. Natürlich gibt es entsprechende Historiographiegeschichten anderer Länder, von denen hier nur zwei exemplarisch genannt seien  : Interdisziplinär zur englischen Mediävistik des 20. Jahrhunderts zu einzelnen Teilfächern und Epochen vgl. Alan D. Deyermond (Hg.), A Century of British Medieval Studies (British Academy Centenary Monographs), Oxford 2008  ; zur spanischen Historiographie des 20. Jahrhunderts Ignacio Peiró Martín, Historiadores en España. Historia de la Historia y Memoria de la Profesión, Zaragoza 2013. Das Gleiche gilt für die Mediävistik anderer Fächer. Zu bestimmenden Richtungen in der mediävistischen Germanistik (anhand einzelner Gelehrter, die sie miterlebt und mitgeprägt hatten) vgl.

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in denen zwangsläufig auch gegensätzliche Einstellungen und einzelne Kontroversen zur Sprache kommen, doch sind diese, soweit ich sehe, bislang nirgends als solche thematisiert,5 sodass wir hier in der Gesamtheit gewissermaßen Neuland betreten, auch wenn die behandelten Kontroversen selbst fast allen Mediävisten bekannt sein dürften. Die Beiträge dieses Bandes verstehen sich folglich als Versuche und Diskussionsanregungen zu einem neuen Gegenstand. Auch diese Einleitung in das Thema ist zwangsläufig, aber auch bewusst, als ein persönlich-subjektiver Versuch zu sehen, eine „Geschichte der Kontroversen“ zu strukturieren und die Diskussionen zugleich in die Entwicklung der Geschichtswissenschaft und der Mediävistik einzuordnen. Von „Deutungskämpfen“, dem Thema des ‚Münchener‘ Historikertags als Ausgangspunkt, wird man in der heutigen Mediävistik sicher kaum sprechen können (schon weil Mediävisten bekanntlich von Natur aus friedlich, freundlich und verträglich sind …). Deshalb hieß schon die diesbezügliche Sektion, etwas abgemildert, „Deutungsstreitigkeiten“, und dieser Band ist schließlich, noch allgemeiner, aber auch international verständlicher, „Kontroversen in der jüngeren Mediävistik“ betitelt. Einen sogenannten „Historikerstreit“ (wie er in Deutschland vor einiger Zeit um die Frage der Einmaligkeit des Holocaust im ‚Dritten Reich‘ entfacht wurde) bzw. einen „Mediävistenstreit“ gibt es in der jüngeren Mediävistik nicht. Der Begriff wurde allerdings auch nicht seitens der Geschichtswissenschaft, sondern von den deutschen Medien geprägt, denen die Mittelalterforschung schon seit längerem leider kaum mehr wahrnehmungsbedürftig erscheint. Zugegebenermaßen gehen von der heutiEckart Conrad Lutz (Hg.), Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Freiburger Colloquium 1997 (Scrinium Friburgense 11), Freiburg/Schw. 1998. Zu neuen Ufern der „New Philology“ (rein literaturwissenschaftlich)  : William D. Paden, The Future of the Middle Ages. Medieval Literature in the 1990s, Gainesville 1994. 5 Am nächsten kommt dem vielleicht der Band von Lester K. Little/Barbara H. Rosenwein  (Hg.), Debating the Middle Ages  : Issues and Readings, Maldon, Mass./Oxford 1998, dessen Beiträge in erster Linie jedoch neue Zugänge diskutieren und dabei auch eine Reihe von strittigen Themen behandeln, aber nicht die Kontroversen selbst analysieren. In vier Komplexen geht es um Fragen des römischen Imperiums und der barbarischen Nachfolger, um den Feudalismus und die „seigneurie féodale“ (auch das wurde oft noch als eine Frage des Endes der Antike verstanden), um Gender-Probleme und das Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Die Autoren nehmen dabei zumeist dezidiert Stellung. Ähnliches gilt für den individuellen Band von John Aberth, Contesting the Middle Ages. Debates that are Changing our Narrative of Medieval History, London 2018, eine eher persönliche Perspektive eines einzelnen Autors auf sehr verschiedene Themen (nämlich den Fall Roms, die Normanneneinfälle, die Kreuzzüge, die Verfolgung von Minderheiten, Sexualität, Frauen, Umweltfragen, Pest und den „Herbst des Mittelalters“). Auch darin werden zwangsläufig Kontroversen darüber aufgegriffen, doch geht es dem Autor im Wesentlichen um bestimmte Thesen, die daraus resultierenden neuen Ergebnisse und den dadurch bewirkten Perspektivenwandel. Die Debatten als solche werden ebenfalls nicht näher untersucht.

Kontroversen in der Mediävistik: historische Einführung 

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gen Mediävistik allerdings auch keine großen, über die mittelalterliche Geschichte hinausgehenden und die gesamte Geschichtswissenschaft (oder zumindest die gesamte Mediävistik) erfassenden, innovativen Impulse aus, obwohl das auf manchen Feldern inhaltlich ebenso wie methodisch durchaus möglich wäre. In der Praxis wird hier eher re-agiert. Das liegt zumindest teilweise aber auch daran, dass die Mittelalterforschung von der Neueren und der Zeitgeschichte kaum mehr zur Kenntnis genommen wird und schon deshalb dort keine tiefen Spuren hinterlassen kann. Das war nicht immer so. Im 19.  Jahrhundert trafen manche mediävistischen Streitdebatten den Nerv der gesamten Geschichtswissenschaft (wie auch der Öffentlichkeit). Man braucht nur daran zu denken, dass die „historische Methode“ letztlich an der mittelalterlichen bzw., denn hier sollte man Droysen wohl einbeziehen, der älteren Geschichte entwickelt worden ist und von hier aus überall, und weit über Deutschland hinaus, eingewirkt hat. Der ‚ H i s t o r i s m u s ‘, später oft abschätzig bewertet, bewirkte zunächst eine umfassende Verwissenschaftlichung der Geschichtswissenschaft, auf der man fortan aufbauen konnte. Aber auch die ‚Krise des Historismus‘ an der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert als Auseinandersetzung mit dieser Richtung ist hier erwähnenswert,6 ging aber schon nicht mehr von der Mediävistik aus. Im Hinblick auf Streitigkeiten um Themen und Methoden ist nicht zuletzt an den sogenannten L a m p r e c h t s t r e i t zu erinnern, in dem es darum ging, der damals allgemein vorherrschenden rechts- und verfassungsgeschichtlich ausgerichteten Politikgeschichte und der Dominanz des Individuellen unter dem Label einer „Kulturgeschichte“ – wir würden heute eher sagen  : „Strukturgeschichte“ – eine „kollektive“ Geschichtsanschauung entgegenzustellen. Das löste bekanntlich heftige Kontroversen aus, bei denen Karl Lamprecht und seine ganze Richtung unterlagen (langfristig aber doch auch erfolgreich waren),7 zumal man ihm leicht methodische Unsauber6 Vgl. dazu Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft (wie Anm.  3), S.  163–294  ; Ders., Neue Geschichtswissenschaft (wie Anm. 3), S. 26–30  ; Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992  ; Otto Gerhard Oexle (Hg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932 (Veröffentlichungen des Max-Planck-In­ stituts für Geschichte 228), Göttingen 2007. Dass der Historismus auch am Ende des 20. Jahrhunderts noch eine Diskussion wert gewesen ist, zeigt der Band von Gunter Scholtz (Hg.), Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine internationale Diskussion, Berlin 1997. 7 Der Lamprechtstreit wird in fast allen in Anm. 3 genannten Arbeiten besprochen. Speziell dazu vgl. die Biographie Lamprechts von Roger Chickering, Karl Lamprecht. A German Academic Life (1856– 1915), New Jersey 1993 (deutsche, erweiterte Ausgabe, nach der deshalb hier zitiert wird  : Karl Lam­ precht. Das Leben eines deutschen Historikers [1856–1915], Stuttgart 2021)  ; zur kontroversen Kulturgeschichte und zum Methodenstreit ebd., S. 221–307  ; zur Heftigkeit der Auseinandersetzungen ebd., S. 308–364  ; ferner Gunnar Hindrichs, „Empirische Historik“. Traditionalität und Innovation im Ge-

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keit vorwerfen konnte, vor allem aber, weil die damalige, traditionelle Geschichtswissenschaft dem Ansatz, trotz verbaler Zustimmung, letztlich wenig abgewinnen konnte.8 Man macht es sich aber wohl zu leicht, wenn man dafür die – nicht ganz einfache – Persönlichkeit Lamprechts selbst verantwortlich macht. Ein vergleichbarer Methodenstreit wurde nahezu gleichzeitig nämlich auch in Frankreich (um Paul Lacombe, Charles Seignobos und François Simiand) geführt.9 Der Streit dürfte daher vielmehr kennzeichnend für das Zeitalter an sich, darüber hinaus aber auch für solche innergeschichtswissenschaftlichen Streitigkeiten überhaupt sein, bei denen es schichtskonzept Karl Lamprechts, in  : Archiv für Kulturgeschichte 81, 1999, S. 371–395 (dem es aber mehr um Lamprechts Geschichtsanschauungen selbst und sein Verhältnis zum Historismus als um den Streit geht)  ; Jonas Flöter/Gerald Diesener (Hg.), Karl Lamprecht (1856–1915). Durchbruch in der Geschichtswissenschaft, Leipzig 2015  ; Harald A. Wiltsche, „…wie es eigentlich geworden ist“. Ein wissenschaftsphilosophischer Blick auf den Methodenstreit um Karl Lamprechts Kulturgeschichte, in  : Archiv für Kulturgeschichte 87, 2005, S. 251–286, zeigt am Lamprechtstreit, dass Verabsolutierungen methodischer (nomologischer oder hermeneutischer) Ansätze (schon damals) nicht der tatsächlichen Forschungssituation entsprochen haben, sich aber allmählich radikalisierten. 8 Zur Kritik des größten Gegners Lamprechts vgl. Georg von Below, Die neue historische Methode, in  : Historische Zeitschrift 81 (n. F. 45), 1898, S. 193–273, der Lamprechts System als „ganz und gar verschroben“ bezeichnet (ebd., S. 195). Dabei setzt sich Below zunächst allerdings weniger mit Lam­ prechts methodischen Ansätzen auseinander, sondern stellt dessen unbedarft falschen, flüchtigen und unkritischen Umgang mit der bisherigen Geschichtswissenschaft heraus, um das angeblich Neue als längst bekannt abzuwerten und eine Ehrenrettung der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts zu leisten. Abgelehnt wird ferner Lamprechts Anschauung von einem gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte, die aller Empirie widerspreche. Below stellt hier schließlich doch dem „Volksgeist“ die Bedeutung der Person gegenüber und hält die statistische Methode in der Geschichtswissenschaft für ungeeignet. Wenn die Lektüre des Aufsatzes den Eindruck vermittelt, Below habe gar nichts gegen die neuen Ansätze Lamprechts, wohl aber gegen die geschichtswissenschaftlich unsaubere Durchführung und den „Schematismus“ der Epochenabgrenzungen gehabt, so wird man das, aus der heutigen Ferne betrachtet, wohl anders sehen. Dass Lamprecht einen veralteten, von niemandem mehr verfolgten Gedanken als neu herausgestellt hat (so ebd., S. 255), wird dem Werk Lamprechts, bei aller berechtigten Kritik, sicher nicht gerecht. Ganz am Ende wird aber auch Belows Abgrenzung deutlich, wenn er Lamprechts Detailverliebtheit als „antiquarisch“ und letztlich auch seine Kulturgeschichtsschreibung (die er als solche durchaus anzuerkennen meint) als „Modekrankheit“ betrachtet (ebd., S. 269f.). 9 Vgl. dazu Lutz Raphael, Historikerkontroversen im Spannungsfeld zwischen Berufshabitus, Fächerkonkurrenz und sozialen Deutungsmustern  : Lamprechtstreit und französischer Methodenstreit der Jahrhundertwende in vergleichender Perspektive, in  : Historische Zeitschrift 251, 1990, S.  325–363 (als Vergleich der Debatten in Deutschland und Frankreich, zu Lamprecht S. 328–333, zu Frankreich S.  333–342, zum Vergleich S.  342–350). Raphael stellt dabei trotz sehr unterschiedlicher nationaler Traditionen gleiche Themenfelder (ebd., S.  346), aber auch unterschiedliche Lösungsvorschläge fest und rückt die Debatten in den Kontext der neu aufkommenden empirischen Wissenschaften, vor allem der Soziologie (in Frankreich um Émile Durkheim, ebd., S. 350–361). In beiden Ländern siegte eine konservative Geschichtswissenschaft über die neuen Ansätze. Anders aber verlief die Nachwirkung (ebd., S. 361–363).

Kontroversen in der Mediävistik: historische Einführung 

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um die Ausrichtung der Geschichtswissenschaft als Ganzes geht, die sich in ihren Interessen ebenso wandelt wie in ihren Methoden und Ansprüchen. Daraus erwachsen zwangsläufig Diskussionen. Neben solchen Grundsatzstreitigkeiten stachen damals, nicht minder paradigmatisch, Deutungskämpfe aus aktuellen politischen Interessen heraus, für die – als im Übrigen sehr deutsches – Paradebeispiel, deutlich vor dem Hintergrund des Kulturkampfs und vor dem Ringen um eine groß- oder kleindeutsche Lösung, der mediävistische Streit um die Richtigkeit der mittelalterlichen K a i s e r p o l i t i k sowie die nie endenden Debatten um den I n v e s t i t u r s t r e i t mit der zentralen Frage genannt seien, ob Canossa für den deutschen König nun einen Sieg oder eine Niederlage bedeutete.10 Dabei haben es die überwiegend papstnahen Quellen den deutschen Historikern alles andere als leicht gemacht, „ihren“ Heinrich  IV. reinzuwaschen. Dass dahinter die politischen und nationalistischen Anschauungen der Beteiligten standen, erkennen wir heute leicht. Dennoch ist der Investiturstreit bis weit in die 1960er Jahre hinein und, unter veränderten Perspektiven, letztlich bis heute ein ‚Dauerbrenner‘ geblieben,11 und auch jüngste (im Tenor jedoch keineswegs völlig neue) Versuche, Canossa versöhnlich zu einem Friedenspakt zwischen Kaiser und Papst umzudeuten,12 verlassen diese Fahrrinne nicht wirklich. Wenn Johannes Fried sein Buch im Übrigen selbst als „Streitschrift“ deklariert, dann sehe man sich zum Vergleich aber frühere, nicht nur sachlich, sondern sehr persönlich verletzende Arbeiten etwa über die Entstehung des „Deutschen“ Reichs an, mit denen ich mich selbst noch als Student erstmals bei der Lektüre des einschlägigen „Wege der Forschung“-Bandes konfrontiert sah,13 dessen persönliche Anfeindungen, etwa zwischen Martin Lintzel 10 Die ältere Forschung stellt exemplarisch der Band von Hellmut Kämpf  (Hg.), Canossa als Wende. Ausgewählte Aufsätze zur neueren Forschung (Wege der Forschung 12), Darmstadt 1963, zusammen. 11 Die seit langem zentrale, zugespitzte Frage „Canossa als Wende  ?“ wird heute eher als struktureller Wandel betrachtet und in langfristige Wirkungen eingebettet. Vgl. beispielsweise Stefan Weinfurter, Canossa. Die Entzauberung der Welt, München 2006  ; Wolfgang Hasberg/Hermann-Josef Scheidgen (Hg.), Canossa. Aspekte einer Wende, Regensburg 2012. Die (demgegenüber jüngere) Frage, ob Heinrich IV. (mit den papstnahen Quellen) ein „Wüstling“ war, verlagert zwar die (vorher nationalistische) Perspektive, bewegt sich letztlich aber immer noch in demselben Fahrwasser. 12 Johannes Fried, Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin 2012. Die Thesen haben bezeichnenderweise viel Widerspruch erfahren, mit dieser Notwendigkeit der Ablehnung aber offensichtlich auch einen Kern unseres Geschichtsverständnisses getroffen. Zur Kritik vgl. etwa Steffen Patzold, Frieds Canossa. Anmerkungen zu einem Experiment, in  : geschichte für heute 6, 2013, S. 5–39, und die Schwerpunktbesprechungen in  : Sehepunkte 13, 2013, Nr. 1 (, aufgerufen am 03.02.2023), mit Rezensionen von Jürgen Dendorfer, Claudia Zey, Matthias Becher, Hans-Werner Goetz und Ludger Körntgen. 13 Hellmut Kämpf  (Hg.), Die Entstehung des Deutschen Reichs (Deutschland um 900). Ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 1928–1954 (Wege der Forschung 1), Darmstadt 1963.

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und Gerd Tellenbach, mich damals ebenso verwundert wie angewidert haben. Der Unterschied zu heute ist jedoch ein anderer  : Solche Fragen berührten früher alle. Heute erregt das außerhalb der Mediävistik oder gar in der Öffentlichkeit kaum mehr Aufsehen. Das heißt jedoch keineswegs, dass heute keine Fetzen mehr fliegen. Vielmehr sind nur die Themen, bei denen man sich erregt, zwischenzeitlich ganz andere geworden. Der letzte große, zumindest vornehmlich in der Mediävistik wurzelnde Gegenstand allgemeiner Kontroversen sind wohl die oft provokant zugespitzten Arbeiten der sogenannten „ S c h u l e d e r A n n a l e s “ gewesen, weniger in Frankreich selbst, wo die „Annales“ praktisch jahrzehntelang die französische Geschichtswissenschaft geprägt und dominiert haben, als vielmehr außerhalb Frankreichs, wo diese „Nouvelle Histoire“ (wie sie sich im ‚annalistischen‘ Selbstverständnis nannte)14 zumindest von Teilen der Geschichtswissenschaft teilweise schon früh,15 zumeist jedoch erst spät aufgegriffen wurde.16 Nicht zuletzt in Deutschland wurde sie als Gefahr empfunden und anfangs eher kritisch aufgenommen,17 sodass sie nur sehr allmählich Eingang in 14 Vgl. Jacques Le Goff/Roger Chartier/Jacques Revel  (Hg.), La Nouvelle Histoire, Paris 1978 (dt. Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt am Main 1990)  ; Matthias Middell/Steffen Sammler  (Hg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der ANNALES in ihren Texten 1929–1992, Leipzig 1994. Eine Würdigung von außen bieten Michael Erbe, Zur neueren französischen Sozialgeschichtsforschung. Die Gruppe um die ‚Annales‘ (Erträge der Forschung 110), Darmstadt 1979, und Peter Burke, The French Historical Revolution. The „Annales“ School, 1929–89, Cambridge u. a. 1990 (dt. Offene Geschichte. Die Schule der Annales, Berlin 1991). Vgl. auch Goetz, Moderne Mediävistik (wie Anm. 1), S. 84–89. Die Charakterisierung „von außen“ erscheint dabei oft prägnanter als die manchmal eher vagen Selbstbeschreibungen der Annales-Historiker. Zur Rezeption vgl. auch Miri Rubin (Hg.), The Work of Jacques Le Goff and the Challenges of Medieval History, Woodbridge/Rochester 1997. 15 Die von den „Annales“ deutlich beeinflusste englische Zeitschrift „Past and Present“ wurde schon 1952 gegründet. 16 In Moskau wurde 1989 ein großer, internationaler Kongress über die Annales-Historie durchgeführt, dessen Ergebnisse nur in russischer Sprache vorliegen  : Spory o Glavnom. Diskussii o nastojaščem i buduščem istoričeskoj nauki vokrug francuzkoj školy „Annalou“ [Streitigkeiten über das Wichtigste. Diskussionen über Gegenwart und Zukunft der historischen Wissenschaft um die französische Schule der „Annales“], Moskau 1993. 17 Vgl. dazu Georg G. Iggers, Die „Annales“ und ihre Kritiker. Probleme moderner französischer Sozialgeschichte, in  : Historische Zeitschrift 219, 1974, S. 578–608  ; erweitert in  : Ders., Neue Geschichtswissenschaft (wie Anm. 3), S. 55–96  ; sehr kritisch Dieter Groh, Strukturgeschichte als „totale“ Geschichte  ?, in  : Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 58, 1971, S. 289–322 (abgedruckt in  : Theodor Schieder/Kurt Gräubig [Hg.], Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft [Wege der Forschung 378], Darmstadt 1977, S. 311–351). Demgegenüber aufgeschlossen (aber viel später)  : Otto Gerhard Oexle, Was deutsche Mediävisten an der französischen Mittelalterforschung interessieren muß, in  : Borgolte (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende (wie Anm. 4), S. 89–127.

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das Forschungsspektrum fand. Dabei handelt es sich erneut um eine (generelle) Auseinandersetzung um die Ausrichtung der gesamten Geschichtswissenschaft  : Strukturen statt Ereignisse, historische Anthropologie statt Geschichte, Mentalitäten statt Politik, große Räume statt Nationen, „longue durée“ statt Dauerwandlungen. Das traf eine traditionelle deutsche Geschichtswissenschaft hart, weil es sie in fast allen Teilen attackierte. Allenfalls eine strukturelle Geschichtsbetrachtung war auch in der deutschen Mediävistik gang und gäbe (sofern man daraus nicht ein geschichtsphilosophisches Bekenntnis machte und Ereignisse lediglich als kleine Spitze des strukturellen Eisbergs deutete). Die methodischen Unzulänglichkeiten vieler „Annales“-Arbeiten mit weitreichenden Folgerungen auf schmaler Quellenbasis oder unbedarfter Bildauswertung machten eine Abwehr sicherlich leichter, doch verschleiert das den eigentlichen, grundlegenden Gegensatz der Geschichtsbetrachtung. Waren es in Deutschland anfangs nur einzelne Mediävisten, die etwa mentalitätsgeschichtliche Fragen aufgriffen und damit noch eine Kontroverse um deren Nutzen und mehr noch um deren Erkennbarkeit auslösten – manche Vorbehalte waren jedoch eher methodisch als prinzipiell begründet –,18 so wurden die neuen Ansätze später auch hierzulande zunehmend beliebter. Dass sie schließlich hoffähig wurden, konnte allerdings nur glücken, weil man in der neuen Richtung hier nicht Klios alleiniges Seelenheil sah. Nicht Traditionelles ersetzen, sondern erweitern und sich darin integrieren führt nach 30-jährigem Wissenschaftskrieg am Ende zu einem ‚Westfälischen Frieden‘. Das Ergebnis der Annales-Rezeption ist hier zweifellos ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine moderne, vielgestaltige Mediävistik gewesen. Man darf sich allerdings auch fragen, weshalb die ‚Annales‘, die gleichsam die französische Geschichtswissenschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verkörpert haben, in Frankreich selbst heute kaum mehr eine Rolle spielen und das Mittelalter aus dieser Zeitschrift fast ganz verschwunden ist.19 Die h e u t i g e G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t zeichnet sich durch eine V i e l f a l t u n d K o m p l e x i t ä t der Themen und Interessen wie auch der methodischen Herangehensweisen, Perspektiven und Erklärungen ebenso aus wie durch Internationalität und weiträumige, vergleichende Perspektiven (wobei die mangelnde Einheitlichkeit und die Komplexität schon wieder zu einem Problem geworden sind). Der Weg dahin war allerdings nicht nur langwierig, sondern auch von Umbrüchen begleitet, und Neuorientierungen waren von Krisen der gesamten Geschichtswissen18 Das wird, im Aufgreifen wie in der Diskussion des Ansatzes, noch deutlich in dem Band des Konstanzer Arbeitskreises  : František Graus (Hg.), Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme (Vorträge und Forschungen 35), Sigmaringen 1987. 19 Dazu und zum ‚Vermächtnis‘ der ‚Annales‘ vgl. den Beitrag von Martin Gravel in diesem Band.

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schaft zumindest mitbedingt. Das führte über eine ganze Reihe von Kontroversen,20 die jedoch sämtlich nicht mehr von der Mediävistik ausgingen, sondern diese von der Neueren Geschichte wie auch von anderen Wissenschaftsdisziplinen her erfassten und die sich somit in allgemeine (geschichts-)wissenschaftliche Debatten eingliedern. Die (großen) Kontroversen sind daher vor dem Hintergrund der Entwicklung der Geschichtswissenschaft und der Mediävistik insgesamt zu sehen. Der Wa n d e l i n d e r d e u t s c h e n ( N e u e r e n ) G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t , ganz grob ausgedrückt, v o n d e r P o l i t i s c h e n z u r ­S o z i a l g e s c h i c h t e , der in den 1960/70er Jahren von einem heftigen Streit um soziologische Modelle oder gar eine „Historische Sozialwissenschaft“ der ‚Bielefelder Schule‘ begleitet war,21 ließ die Mediävistik zwar nicht gänzlich unberührt, zumal die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft und der seinerzeit bestimmende Einfluss der Geschichtstheorie (um die es heute jedoch seit längerem schon wieder verdächtig ruhig geworden ist) die gesamte Historie aller Epochen angeht.22 Doch hat das hier nicht in gleicher Schärfe zu einem großen Deutungsstreit geführt, auch deshalb, weil sozialgeschichtliche Betrachtungsweisen in der Mediävistik schon längst üblich waren, allerdings in engem Zusammenhang mit der Verfassungsgeschichte erfolgten.23 Dennoch gab es 20 Wie Ute Daniel, Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft, Teil 1, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47, 1997, S. 195–219, hier S. 195–197, schreibt, sind solche Debatten oft Ausgrenzungsdebatten (wissenschaftlich – unwissenschaftlich), die heterodoxe Ansätze abqualifizieren, aber auch eine Frage des Generationswechsels und außerdem eine Machtfrage. 21 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt am Main 1973 (31980), und die Reaktion darauf in der Historischen Zeitschrift (in verschiedenen Aufsätzen, etwa Andreas Hillgruber, Politische Geschichte in moderner Sicht, in  : Historische Zeitschrift 216, 1973, S.  529–552  ; Lothar Gall, Bismarck und der Bonapartismus, in  : Historische Zeitschrift 223, 1976, S. 618–637  ; Klaus Hildebrand, Geschichte oder ‚Gesellschaftsgeschichte‘  ? Die Notwendigkeit einer politischen Geschichtsschreibung von den internationalen Beziehungen, in  : Historische Zeitschrift 223, 1976, S. 328–357. Zur Entwicklung vgl. Thomas Welskopp, Westbindung auf dem „Sonderweg“. Die deutsche Sozialgeschichte vom Appendix der Wirtschaftsgeschichte zur Historischen Sozialwissenschaft, in  : Küttler/Rüsen/Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs 5 (wie Anm. 3), S. 191–237. 22 Man wird aber auch nicht übersehen dürfen, dass der Aufschwung der Geschichtstheorie in den 1970/80er Jahren auch eine Ursache in der nachlassenden Bedeutung bis hin zur Gefährdung der Geschichtswissenschaft gegenüber den modernen Gesellschaftswissenschaften hatte. Die daraus resultierenden Fragen nach den Leistungen der in die Defensive gedrängten Geschichtswissenschaft und, mehr noch, darin der Mediävistik sind seither keineswegs verhallt. 23 Aber auch in der mindestens bis in die 1970er Jahre vorherrschenden mittelalterlichen Verfassungsgeschichte selbst, die als solche seither zunehmend in den Hintergrund getreten ist, sind entscheidende Wandlungen zu beobachten, etwa von der ‚Verfassung‘ zu politischen Ordnungen und von der deutschen zur europäischen Perspektive. Einen Überblick darüber gibt Bernd Schneidmüller, Von der deutschen Verfassungsgeschichte zur Geschichte politischer Ordnungen und Identitäten im europäischen Mittelalter, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53, 2005, S. 485–500.

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auch hier Diskussionen um eine Betrachtung sozialer Schichten anstelle von Ständen, etwa um die Frage „Adel oder Oberschicht  ?“24 Die Anwendbarkeit moderner Theorien auf frühere Zeiten ist seither ein ständiges Streitthema.25 Die sozialgeschichtliche Neuorientierung lenkte den Blick, um hier schon einmal etwas vorzugreifen, aber auch von den Oberschichten zunächst auf die Unterschichten und dann auf Minderheiten, Randgruppen und Außenseiter. Der Streit um solche Themen drehte sich jetzt allerdings kaum mehr oder nur in den Anfängen um deren ‚Geschichtswürdigkeit‘, sondern schuf Diskussionen um Begrifflichkeit, Definitionen und Abgrenzungen, beispielsweise im Hinblick auf den Begriff „Randgruppen“.26 Spätestens seit den 1980er Jahren meldeten sich mit einer „Geschichte von unten“ aber auch Reaktionen gegen eine menschenentleerende Strukturgeschichte zu Wort.27 Mit der Hinwendung 24 Vgl. Karl Bosl, Kasten, Stände, Klassen im mittelalterlichen Deutschland. Zur Problematik soziologischer Begriffe und ihrer Anwendung auf die mittelalterliche Gesellschaft, in  : Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 32, 1969, S. 477–494  ; Michael Mitterauer, Probleme der Stratifikation in mittelalterlichen Gesellschaftsproblemen, in  : Jürgen Kocka  (Hg.), Theorien in der Praxis des Historikers (Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 3), Göttingen 1977, S. 13–43  ; Klaus Schreiner, Adel oder Oberschicht  ? Bemerkungen zur sozialen Schichtung der fränkischen Gesellschaft im 6. Jahrhundert, in  : Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 68, 1981, S.  225–231. Zur Forschung  : Hans-Werner Goetz, Europa im frühen Mittelalter 500–1050 (UTB 2427), Stuttgart 2003, S. 315–319. Spätere Forschungen, vor allem zum früheren Mittelalter, wandten sich, ebenfalls von soziologischen Modellen inspiriert, aber offener, von Ständen und Schichten ab und den „Eliten“ zu  ; vgl. die verschiedenen Bände des Projekts „Les élites au haut Moyen Âge“ in der Reihe „Haut Moyen Âge“. Eine „Lösung“ bietet auch das nur, solange man „Eliten“ nicht genauer definiert  ; wie der Begriff „Adel“ seinerzeit juristisch ‚belastet‘ war, so sind es die Eliten jetzt soziologisch, werden in diesem Fach jedoch alles andere als einheitlich verstanden. 25 Neben dem in der letzten Anmerkung benannten Streit um die Anwendung moderner Stratifikationstheorien sei hier exemplarisch auf Diskussionen über „Individuum“ und „Person“, „Devianz“ oder „Vulnerabilität“ hingewiesen. 26 Vgl. die Kontroverse zwischen František Graus, Randgruppen der städtischen Gesellschaft im Spätmittelalter, in  : Zeitschrift für Historische Forschung 8, 1981, S. 385–437, Wolfgang Hartung, Gesellschaftliche Randgruppen im Spätmittelalter. Phänomen und Begriff, in  : Bernhard Kirchgässner/ Fritz Reuter (Hg.), Städtische Randgruppen und Minderheiten, Sigmaringen 1986, S. 49–114, Ernst Schubert, Soziale Randgruppen und Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter, in  : Saeculum 39, 1988, S.  294–339, und Bernd-Ulrich Hergemöller, Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Wege und Ziele der Forschung, in  : Ders. (Hg.), Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Ein Hand- und Studienbuch, Warendorf 1990 (²2001), S.  1–57  ; Ders., „Randgruppen“ im späten Mittelalter. Konstruktion – Dekonstruktion – Rekonstruktion, in  : Hans-Werner Goetz  (Hg.), Die Aktualität des Mittelalters, Bochum 2000, S. 165–190  ; Frank Rexroth, Mediävistische Randgruppenforschung in Deutschland, in  : Borgolte (Hg.), Mittelalterforschung (wie Anm. 4), S. 427–451. 27 Es ist durchaus interessant zu beobachten, wie heftig der Revolutionär schlechthin in der deutschen Nachkriegsgeschichte, Hans-Ulrich Wehler, auf die neuen Richtungen der „Barfußhistoriker“ reagiert hat. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen  ? Die

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der Forschung von der Gesellschaft zu mittelalterlichen Lebensformen (allgemein oder in verschiedenen Schichten)28 verbanden sich wiederum Diskussionen, die teils, wie bei der mittelalterlichen Familie und Verwandtschaft,29 aus Thesen über längerfristige Entwicklungen,30 teils, wie bei der Grundherrschaft, aus rein mediävistischen, problematisierten Strukturen resultierten.31 neue deutsche Alltagsgeschichte „von innen“ und „von unten“, in  : Franz-Josef Brüggemeier/Jürgen Kocka (Hg.), „Geschichte von unten – Geschichte von innen“. Kontroversen um die Alltagsgeschichte, Hagen 1985, S. 17–47. 28 Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt am Main 1973 (141995  ; Neuausgabe Berlin 5 2010)  ; Hans-Werner Goetz, Leben im Mittelalter vom 7. bis zum 13. Jahrhundert, München 1986 (72002). 29 Zu Diskussionen um die Verwandtschaft im Mittelalter vgl. den Beitrag von Régine Le Jan in diesem Band. 30 Beispielsweise um die Bedeutung der kognatischen Verwandtschaft im früheren Mittelalter in den Arbeiten von Karl Schmid  ; kritisch dazu Alexander Callander Murray, Germanic Kinship Structure. Studies in Law and Society in Antiquity and the Early Middle Ages (Studies and Texts 65), Toronto 1983  ; Régine Le Jan, Famille et pouvoir dans le monde franc (VIIe–Xe siècle). Essai d’anthropologie sociale (Publications de la Sorbonne. Histoire ancienne et médiévale 33), Paris 1995  ; Constance B. Bouchard, „Those of My Blood“. Constructing Noble Families in Medieval Francia (The Middle Age Series), Philadelphia 2001. Die Thesen von Jack Goody, The Development of the Family and Marriage in Europe (Past and Present Publications 18), Cambridge 1983 (dt. Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Berlin 1986), dass die Heiratspolitik der Kirche einen Strukturwandel hervorbrachte, welcher der Besitzanhäufung diente, sind weithin auf Widerspruch gestoßen. Andere Diskussionen gingen um die Entwicklung von der Verwandtschafts- zur Haushaltsfamilie, um die Friedelehe, um Mädchenmord oder, weitreichender, um den Bedeutungsverlust der Familie im Verlauf des Mittelalters (Bernhard Jussen, Perspektiven der Verwandtschaftsforschung fünfundzwanzig Jahre nach Jack Goodys „Entwicklung von Ehe und Familie in Europa“, in  : Karl-Heinz Spieß [Hg.], Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters [Vorträge und Forschungen 71], Ostfildern 2009, S. 275–324), den unzutreffenden Begriff der Verwandtschaft (Gerhard Lubich, Verwandtsein. Lesarten einer politisch-sozialen Beziehung im Frühmittelalter [6.–11. Jahrhundert] [Europäische Geschichtsdarstellungen 16], Köln/ Weimar/Wien 2008) oder gar die Infragestellung eines mittelalterlichen Konzepts von „Verwandtschaft“ (Hans Hummer, Visions of Kinship in Medieval Europa [Oxford Studies in Medieval European History], Oxford 2018). 31 Das kann hier nur angedeutet werden  : So gab es Diskussionen über die (spätantiken) Ursprünge der Grundherrschaft (John Percival, Walter Goffart), die Betriebsformen und die Ausbreitung der zweigeteilten Grundherrschaft (Adriaan Verhulst), über Bauernaufstände und Feudalordnung (ein auch innerhalb der marxistischen Geschichtswissenschaft strittiges Thema), über die Bedeutung der Grundherrschaft bei der wirtschaftlichen Entwicklung, auch über den Begriff selbst, bis zum „Abschied von der Grundherrschaft“ (Ludolf Kuchenbuch, Abschied von der „Grundherrschaft“. Ein Prüfgang durch das ostfränkisch-deutsche Reich 950–1050, in  : Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 121, 2004, S. 1–99) und zuletzt über die Überbewertung der Grundherrschaft in einer differenzierten ländlichen Gesellschaft (vgl. Thomas Kohl, Lokale Gesellschaften. Formen der Gemeinschaft in Bayern vom 8. bis zum 10. Jahrhundert [Mittelalter-Forschungen 29], Ostfildern

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Führte die Entwicklung der Geschichtswissenschaft insgesamt in den genannten Beispielen zu Diskussionen um einzelne, letztlich mediävistische Probleme, so lösten andere Richtungen oder Themenkomplexe, die ebenfalls aus der Gesamtentwicklung resultierten, auch in der Mediävistik g r u n d l e g e n d e r e K o n t r o v e r s e n aus, von denen ich hier nur zwei herausgreifen möchte, die von den Gegnern anfangs gern als (vorübergehende) „Modeerscheinungen“ abgetan wurden, ohne Rücksicht darauf, dass jede Wissenschaft der „Mode“, nämlich zeitgemäßen Fragen, folgt, anstatt zu fragen, weshalb diese Richtungen (erst und/oder gerade) jetzt aufkamen  : nämlich die Alltagsgeschichte und die Frauen- bzw. (später) Geschlechtergeschichte. Die A l l t a g s g e s c h i c h t e entsprang den genannten Entwicklungen der Sozialgeschichte auf immer niedrigere Bereiche und Schichten ebenso wie der Abwendung von einer Politik- und einer Sozialgeschichte hin zu einer Kulturgeschichte, die sich auch für die kleinsten, eben alltäglichen Dinge zu interessieren begann (und dabei zugleich an in der Zwischenzeit weitgehend versiegte, kulturgeschichtliche Strömungen des 19.  Jahrhunderts anknüpfte). Die F r a u e n g e s c h i c h t e hingegen entsprang, eher plötzlich, aber in einem viel breiteren, gesamtwissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Kontext, aus dem immer stärker werdenden Bedürfnis der Frauen, ihrer bislang fast völlig vernachlässigten Rolle in der Geschichte nachzugehen, verfolgte dabei (als feministische Geschichtswissenschaft) aber auch deutlich politische Ziele. In beiden Fällen bezweifelten viele konservative Fachvertreter zunächst die Geschichtsrelevanz wie auch die praktische Durchführbarkeit solcher Anliegen an der mittelalterlichen Geschichte aufgrund einer desolaten Quellenlage. Beides ließ sich schnell widerlegen (und die konsequente Suche brachte bald ungeahnt viele, bislang unbeachtet gebliebene Quellenzeugnisse hervor). Doch waren die Widerstände sicherlich auch grundsätzlicherer Natur und richteten sich gegen die neuen Ansätze an 2010). So berechtigt diese erweiternde Perspektive auch ist, orientieren sich die neueren Angriffe auf den Begriff und die Reichweite der Grundherrschaft an einem veralteten, allzu festgelegten Grundherrschaftsbegriff und negieren die weitreichenden Differenzierungen und Wandlungen innerhalb der Grundherrschaft. Vgl. dazu Hans-Werner Goetz, Frühmittelalterliche Grundherrschaften und ihre Erforschung im europäischen Vergleich, in  : Michael Borgolte (Hg.), Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs. Zwanzig internationale Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Komparatistik (Europa im Mittelalter 1), Berlin 2001, S. 65–87. Bei aller Berechtigung der Erforschung horizontaler Beziehungen in ländlichen (wie natürlich auch städtischen) Gesellschaften sollte man die bestimmenden Herrschaftsverhältnisse nicht außer Acht lassen. Vgl. hier auch die Diskussion um die – als Alternative falsch bewertete – Frage, ob das Verhältnis von Herren und Hörigen in der mittelalterlichen Grundherrschaft durch Herrschaftsrechte oder Rechtsgewohnheiten bestimmt war, zwischen Hanna Vollrath, Herrschaft und Genossenschaft im Kontext frühmittelalterlicher Rechtsbeziehungen, in  : Historisches Jahrbuch 102, 1982, S. 33–71, und Hans-Werner Goetz, Herrschaft und Recht in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft, in  : ebd. 104, 1984, S. 392–410.

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sich, wobei in beiden Fällen methodische Unzulänglichkeiten in der Frühphase, wie schon bei der Mentalitätsgeschichte, Vorbehalte leichter rational begründbar machten. Bei der Frauen- und Geschlechtergeschichte32 lassen sich mindestens drei – nicht sauber trennbare – Varianten und zwei Phasen unterscheiden  : Die frühe Frauengeschichte war thematisch orientiert und betrachtete schlicht Frauen in der Geschichte mit dem – im Zuge der Emanzipationsbestrebungen auch identitätsstiftenden – Ziel, ein völlig vernachlässigtes Feld in der Geschichtswissenschaft zu etablieren. Die spätere, umfassendere Geschlechtergeschichte nimmt dagegen, zumindest dem Anspruch nach, beide Geschlechter in den Blick und hat eine rein thematisch orientierte Frauengeschichte gewissermaßen ganz abgelöst. Sie reizte mit dem Ziel, nicht nur ein neues Feld zu eröffnen, sondern möglichst die gesamte Geschichte aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive zu erfassen, aber auch zu einem neuen Richtungsstreit, der schon dadurch manchen Widerspruch provoziert hat, zumal man diese letztlich moderne Perspektive, bei aller heutigen Relevanz, in früheren Zeiten wie dem Mittelalter auch nicht überbewerten darf. Noch strikter verfuhr und verfährt schließlich eine feministische Geschlechtergeschichte mit ihren politischen Zielen33 (und bietet damit gleichsam einen doppelten Angriffspunkt) sowie, stärker noch, eine feministische Geschichtswissenschaft, die solche Ziele auf die gesamte Geschichtswissenschaft überträgt und damit eigentlich nicht mehr themengebunden ist, während das Geschlecht auch hier dennoch weiterhin den bevorzugten Untersuchungsgegenstand und das entscheidende Kriterium bildet. Anders als in den U.S.A., teilweise auch in Großbritannien und anderen Ländern, und anders als in der Neueren Geschichte ist die deutsche wie auch die französische mediävistische Geschlechtergeschichte jedoch nie von einem strengen Feminismus geleitet gewesen. Das hat nach der Überwindung einer anfänglichen Polarisierung in der Frauengeschichte, die dazu neigte, Männer und Frauen voneinander zu trennen und oft zu (biologischen und daher ‚zeitlosen‘) Gegensätzen zu stilisieren, sicherlich dazu beigetragen, dass die Geschlechtergeschichte inzwischen weitgehend in das geschichtswissenschaftliche Spektrum integriert ist, sodass kaum ein Handbuch es sich mehr leistet, geschlechtergeschichtliche Aspekte ganz auszuklammern. Ganz beendet hat aber auch diese integrative Erweiterung den Streit noch nicht, zumal dann, wenn es nicht nur um eine Geschichte von Männern und Frauen, sondern zusätzlich um die Frage der Relevanz bis hin zum Vorrang der Geschlechtergeschichte in der gesamten 32 Vgl. dazu genauer, vor allem zu den jüngeren Kontroversen, den Beitrag von Amalie Fößel in diesem Band. 33 Zur Rechtfertigung und zu den Leistungen einer feministischen Mediävistik vgl. (aus amerikanischer Sicht) Judith M. Bennett, Medievalism and Feminism, in  : Speculum 68, 1993, S. 309–331.

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historischen Forschung geht. Davon abgesehen, gab und gibt es aber auch innerhalb der Geschlechtergeschichte sehr unterschiedliche und daher kontroverse Deutungen.34 Wenn mir zu den beiden zuletzt genannten Themenkreisen eine persönliche Reminiszenz erlaubt sei, um zu betonen, wie unterschiedlich sich Motivationen begründen können  : In meinen jüngeren, ‚pubertären‘ Jahren – die ‚Pubertät‘ eines Nachwuchswissenschaftlers liegt bekanntlich so im Alter von 30 bis 40 Jahren – habe ich mich selbst an beiden Richtungen versucht,35 die vielen ‚Etablierten‘ damals noch als ‚Spenglerscher‘ Kulturuntergang erschienen, und damit möglicherweise sogar etwas dazu beitragen können, diese Felder in die Mediävistik zu integrieren. Meine eigene Motivation war jedoch weder eine angeborene Kampflust noch ein Angriff auf die etablierte, damals schon längst nicht mehr vorwiegend traditionelle Geschichtswissenschaft noch eine Revolution um der Neuerung willen, sondern einzig eine Reaktion auf so manche unbedarft-unmethodischen, frühen Arbeiten zum Thema. Bei der Frauengeschichte waren das die frühen, vor allem amerikanischen Arbeiten junger und hochengagierter Historikerinnen, denen – bei mangelndem Interesse ihrer Betreuer – aus Unkenntnis der mittelalterlichen Hintergründe so manche Fehldeutung der Situation von Frauen gelang. (Der erwartete ‚Kreuzzug‘ aller engagierten Frauen gegen mich blieb allerdings aus. Es gab im Gegenteil sogar viel Lob dafür, dass sich auch ein Mann – und ich war hier keineswegs der erste – an dem Thema versuchte.) Dem ist allerdings unbedingt hinzuzufügen, dass das methodische Niveau mediävistischer Arbeiten zur Frauengeschichte schon bald sehr deutlich anstieg. Bei der Alltagsgeschichte war meine Reaktion hingegen von einem unbedarft-unmethodischen Vorgehen vor allem der zeitgeschichtlichen Alltagsgeschichte hervorgerufen, die auch in der Mediävistik veraltete Kulturkolorite der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts wiederbelebte und den Kritikern zugleich willkommene Breitseiten bot. Stattdessen sollte betont werden, dass auch Alltagsgeschichte theoriebedürftig ist und in alle Bereiche, einschließlich des sozialen und des politischen, hineinreicht.36 Beides ist inzwischen Geschichte, weil bei der Frauen- und Geschlechtergeschichte mit ihren zahlreichen, methodisch vorbildlichen Arbeiten eine Integration weitgehend er34 Typische frühe Diskussionen innerhalb der mediävistischen Frauenforschung drehten sich beispielsweise um die Frage, ob mittelalterliche Frauen in der Herrschaft der Männer unterdrückt waren oder ob sie im Gegenteil Freiräume besaßen und nicht unmaßgeblich selbst an der Herrschaft beteiligt waren. Viele frühe Arbeiten wurden dabei den mittelalterlichen Verhältnissen und Denkweisen kaum gerecht. Für jüngere Entwicklungen sei noch einmal auf den Beitrag von Amalie Fößel in diesem Band verwiesen. 35 Goetz, Leben im Mittelalter (oben Anm. 28)  ; Ders., Frauen im frühen Mittelalter. Frauenbild und Frauenleben im Frankenreich, Weimar/Köln/Wien 1995. 36 Zur Methodik einer kritischen Alltagsgeschichte vgl. Hans-Werner Goetz, Geschichte des mittelalterlichen Alltags, in  : Gerhard Jaritz (Hg.), Mensch und Objekt im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Leben – Alltag – Kultur (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte 568 = Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 13), Wien 1990, S. 67–101  ; Gerhard Jaritz, Zwischen Augenblick und Ewigkeit. Einführung in die Alltagsgeschichte des Mittelalters, Wien/Köln 1989.

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reicht ist und weil eine wissenschaftliche Alltagsgeschichte hingegen längst wieder sanft entschlafen ist und heute fast nur noch in Ausstellungen und Ausstellungskatalogen weiterlebt. Auch hier ließe sich nach den Gründen dafür fragen.

Kontroversen erwuchsen bei den meisten der bisher genannten Beispiele oft nur teilweise, wie bei der Alltagsgeschichte, aus der neuen Thematik oder Perspektive – das wäre schon durch die zeitgemäße Entwicklung gerechtfertigt und hätte sich in der Regel mühelos integrieren lassen –, sondern nicht selten aus einem dahinter stehenden Anspruch, die wichtigste oder gar die allein seligmachende Richtung zu sein. Es handelt sich also weniger um Methoden- (aber auch das) als vielmehr, wie der Neuzeithistoriker Konrad Repgen es formuliert hat,37 um „ R i c h t u n g s k ä m p f e “, wie Geschichtswissenschaft betrieben werden soll. Das ist zwangsläufig mit tiefgreifenden Umorientierungen und entsprechenden Streitigkeiten verbunden. Kontroversen erwachsen, in diesem Rahmen und darüber hinaus, aber auch aus der ständigen Erweiterung der Geschichtswissenschaft durch neue Themen und Ansätze und aus der Diskussion um deren Stellenwert und Aussagekraft, aus der Suche nach „neuen Horizonten“38 (bei der selbst ehrwürdig-traditionelle Institutionen wie die École des chartes sich bemüßigt sehen, Rechenschaft abzulegen und ihre Modernität zu betonen).39 Sie bringen eine erfreuliche thematische Breite, machen das geschichtswissenschaftliche Spektrum aber auch immer unübersichtlicher und die methodische Fundierung undurchsichtiger. Verbindet sich das mit weiter reichenden Ansprüchen, so entsteht daraus leicht ein neuer Grundsatzstreit um die Ausrichtung einer sich wandelnden Geschichtswissenschaft oder der Mediävistik insgesamt. Die zahlreichen ‚ t u r n s ‘, die der Geschichtswissenschaft seither in immer neuer Kreativität aufgedrängt oder nachgesagt worden sind – vom „linguistic turn“ über den „cultural turn“, den „performative turn“40 oder den „spatial turn“41 (und weitere) bis 37 Konrad Repgen, Methoden- oder Richtungskämpfe in der deutschen Geschichtswissenschaft seit 1945  ?, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 30, 1979, S. 591–610. 38 Vgl. unter diesem Titel etwa zur Mittelmeerforschung  : Mihran Dabag/Dieter Haller/Nikolas Jaspert/Achim Lichtenberger  (Hg.), New Horizons. Mediterranean Research in the 21st Century (Mit­telmeerstudien 10), Paderborn 2016. 39 Vgl. Jean-Michel Leniaud/Michel Zink (Hg.), L’Histoire en mutation. L’École nationale des chartes aujourd’hui et demain. Actes du colloque international organisé par l’École nationale des chartes et l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, à l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres le 13 novembre 2015, Paris 2016. 40 Vgl. Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hg.), Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Norm und Struktur 19), Köln/ Weimar/Wien 2003. 41 Vgl. dazu allgemein  : Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in

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hin zum „global turn“ und zum „digital turn“ – bedeuten in der Regel eben nicht (oder, manchmal, nur als Anspruch der Erfinder) eine neue Wende der Geschichtswissenschaft, sondern in der Regel ebenfalls nur eine neue (manchmal auch nicht ganz so neue), interessante, zusätzliche Erweiterung des Spektrums der Geschichtswissenschaft wie vor allem auch der Perspektiven auf die Geschichte, aber sie führen zwangsläufig zu Diskussionen. ‚Innovationen‘ sind naturgemäß anfällig für Kontroversen. Der „ l i n g u i s t i c t u r n“ 42 oder, in größerem Rahmen, der Einfluss ‚postmoderner‘ Anschauungen,43 konnte allerdings nicht nur als Bereicherung, sondern als Angriff auf die Arbeitsweise und die Präsentation der Ergebnisse der Geschichtswissenschaft insgesamt empfunden werden und hat hier seinerzeit eine kontroverse Verunsicherung über die ‚Fiktionalität‘ der Geschichtswissenschaft ausgelöst und zu zahlreichen Beteuerungen und Begründungen geführt, dass geschichtswissenschaftliche Erzeugnisse keine „Fiktion“ seien.44 Er hat zweifellos aber auch zu einem schärferen Bewusstsein der – keineswegs gänzlich neuen – Einsicht geführt, dass zwischen dem ‚Faktum‘ und dessen geschichtsschreiberischer und geschichtswissenschaftlicher

den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008  ; Barney Warf/Santa Arias (Hg.), The Spatial Turn  : Interdisciplinary Perspectives, London 2009. Zur Bedeutung und Wiederentdeckung des Raums in der Geschichtswissenschaft vgl. Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen (Historische Einführungen 14), Frankfurt am Main/New York, 2., erw. Aufl. 2017 (12013)  ; zur Mediävistik  : Caspar Ehlers, Rechtsräume. Ordnungsmuster im Europa des frühen Mittelalters (Methodica. Einführung in die rechtshistorische Forschung 3), Berlin/Boston 2016. 42 Zu Hintergründen und Anfängen vgl. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20.  Jahrhundert (wie Anm. 3), S. 87–96. Literaturwissenschaftlich zur New Philology  : R. Howard Bloch/Alison Calhoun/ Jacqueline Cerquiglini-Toulet/Joachim Kupper/Jeannette Patterson (Hg.), Rethinking the New Medievalism, Baltimore 2014 (nur einige Beiträge diskutieren aber den Ansatz  ; mehrheitlich handelt es sich um Anwendungsbeispiele). 43 Vgl. von mediävistischer Seite dazu Michael Borgolte, Mittelalterforschung und Postmoderne. Aspekte einer Herausforderung, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43, 1995, S. 615–627, der auf die Einflüsse verweist, aber zu Recht feststellt, dass es darüber kaum Auseinandersetzungen gab. 44 Auslöser war, von literaturwissenschaftlichen und philosophischen Anregungen her, seinerzeit das Buch von Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973 (51985  ; dt. Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1991), und, allgemeiner, Ders., Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, Baltimore 1978 (61994  ; dt. Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses [Sprache und Geschichte 10], Stuttgart 1986). Strikt dagegen, allerdings mit eher traditionellen Ansichten über die Aufgaben der Geschichtswissenschaft, Richard J. Evans, In Defence of History, London 1997 (dt. Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt am Main/New York 1998). Vgl. dazu Otto Gerhard Oexle, Im Archiv der Fiktionen, in  : Rechtshistorisches Journal 18, 1999, S. 511–525, sowie die Beiträge unter dem Titel  : Hayden White’s Metahistory twenty years after, in  : Storia della storiografia 24, 1993, S. 3–159.

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Darstellung eine beträchtliche, deutungsrelevante Differenz liegt45 und dass dem ‚Text‘ der Quellen eine (noch) größere Aufmerksamkeit zu widmen ist. Das hat im Ergebnis jedoch nicht die Geschichtswissenschaft als Ganzes in ihren Perspektiven oder ihren Methoden erschüttert. Textanalysen sind in der Geschichtswissenschaft, anders als potenziell in den Literaturwissenschaften, kein Selbstzweck, da letztlich immer der Bezug des Textes zu den inhaltlich verarbeiteten ‚Fakten‘ – der Begriff ist hier im weitesten Sinn zu verstehen – im Zentrum der Untersuchung steht.46 Einen weitgehenden, aber allmählichen (und deshalb am Ende weniger kontroversen) Perspektivenwandel der gesamten Geschichtswissenschaft könnte allenfalls der „ c u l t u r a l t u r n“ 47 (oder die „cultural turns“)48 für sich in Anspruch nehmen, jedenfalls dann, wenn man darunter ein sehr breites Spektrum an – zunächst eigenständigen – Themen (wie Welt- und Geschichtsbilder oder „kulturelles Gedächtnis“, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Mentalitäten, Historische Anthropologie, Symbolik, Volks- und Elitekultur, Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Textualität und Hermeneutik, Memorialkultur, Handschriftenkultur und anderes mehr) ­subsumiert,49 doch wäre eine Entwicklungslinie der Historie von der Politik- zur 45 Zu Folgen des ‚linguistic turn‘ für das geschichtswissenschaftliche Vorgehen vgl. Gabrielle M. Spiegel  (Hg.), Practicing History. New Directions in Historical Writing after the Linguistic Turn, New York 2005. 46 Die Extremdeutung, dass nur der Text existiert, ist eine literaturwissenschaftliche, auf die Geschichtswissenschaft nicht uneingeschränkt übertragbare Überformung. 47 Vgl. (allgemein) Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler  (Hg.), Kulturgeschichte Heute (Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 16), Göttingen 1996  ; Victoria E. Bonnell/Lynn Hunt (Hg.), Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Study of Society and Culture, Berkeley 1999. Vielfach werden „linguistic“ und „cultural turn“, nicht ganz zu Recht, allerdings miteinander verschmolzen. 48 Vgl. (allgemein) Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006 (62018), die (von literaturwissenschaftlicher Seite her) darunter folgende „turns“ fasst  : „interpretive turn“, „performative turn“, „reflexive/literary turn“, „postcolonial turn“, „translational turn“, „spatial turn“ und „iconic turn“, und jeweils den Einfluss auf die einzelnen Wissenschaften herausstellt, darunter auch der Geschichtswissenschaft, aber natürlich nicht speziell der Mediävistik. 49 Eine Einordnung und Charakterisierung versucht aus neuzeitlicher Sicht Daniel, Clio unter Kulturschock (wie Anm. 20), die auch Mikrohistorie und Frauen- und Geschlechtergeschichte in dieses Spektrum stellt. Wieweit das „kulturwissenschaftlich“ ist, hängt aber nicht von den Themenbereichen, sondern von den daran gestellten Fragen ab. Als allgemeine Einführung in Geschichte, Personen, Themen und Begriffe der (neuen) Kulturgeschichte vgl. Dies., Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter (Suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1523), Frankfurt am Main 72016 (12001). Zur mediävistischen Kulturwissenschaftsforschung vgl. Goetz, Moderne Mediävistik (wie Anm. 1), S. 330– 370. Für eine kulturwissenschaftliche Hinwendung zum Menschen, zum kulturellen Gedächtnis und zu der geschichtlich gewachsenen menschlichen Kultur als Thema der Legitimation der Geschichtswissenschaft nach der Abkehr von der Vorstellung eines einheitlichen, Sinn enthaltenden Geschichtsprozesses plädiert aus der Sicht der Neuzeithistorie Lothar Gall, Das Argument der Geschichte. Überlegungen

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Sozial- und schließlich zur Kulturgeschichte und zur „historischen Kulturwissenschaft“50 eine sehr idealtypische Verkürzung (und auch darüber lässt sich streiten). Der (viel jüngere) „ g l o b a l t u r n“ 51 hat (mindestens) zwei Wurzeln (und b ­ ewegt sich daher auch in zwei verschiedene Richtungen)  : Zum einen lässt die seit Jahrzehnten vorherrschende Spezialisierung, die die frühere „Weltgeschichte“ fast ganz verschwinden ließ, die Rufe nach einer „Zusammenschau“ immer lauter werden. Zum andern und vor allem geht es aber um eine Relativierung der vorherrschenden westlich-europäischen Perspektive durch Einbeziehung nicht-europäischer Rezum gegenwärtigen Standort der Geschichtswissenschaft, in  : Historische Zeitschrift 264, 1997, S. 1–20. 50 Zu deren Anfängen bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (die sich damals allerdings nicht durchsetzen konnten) vgl. Otto Gerhard Oexle, Vom ‚Staat‘ zur ‚Kultur‘ des Mittelalters. Problemgeschichten und Paradigmenwechsel in der deutschen Mittelalterforschung, in  : Fryde/Monnet/ Oexle/Zygner (Hg.), Die Deutung der mittelalterlichen Gesellschaft (wie Anm. 4), S. 15–60. Allgemein  : Markus Fauser, Einführung in die Kulturwissenschaft (Einführungen Germanistik), Darmstadt 2003 (52011)  ; zur Mediävistik  : Hans-Werner Goetz (Hg.), Mediävistik als Kulturwissenschaft  ? (= Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Zeitschrift des Mediävistenverbandes 5/1), Berlin 2000. Zur Kritik kulturgeschichtlicher Herangehensweisen und zur Verteidigung der Historischen Sozialwissenschaft vgl. Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte (bsr 1276), München 1998, der aber auch die großen Versäumnisse der Historischen Sozialwissenschaft in diesen Hinsichten einräumt  ; vgl. vor allem ebd., S. 142–153. Allgemein aus der Sicht verschiedener Fächer (ohne einen mediävistischen Beitrag)  : Heide Appelsmeyer/Elfriede Billmann-Mahecha  (Hg.), Kulturwissenschaft. Felder einer prozeßorientierten wissenschaftlichen Praxis, Weilerswist 2001 (mit einem geschichtswissenschaftlichen Beitrag von Ute Daniel, Geschichte als historische Kulturwissenschaft. Konturen eines Wiedergängers, ebd., S. 195–214). 51 Vgl. dazu den Beitrag von Thomas Ertl in diesem Band. Vgl. dazu transdisziplinär  : Eve DarianSmith/Philip C. McCarty, The Global Turn  : Theories, Research Designs, and Methods for Global Studies, Oakland 2017. Zur Mediävistik vgl. Wolfram Drews, Transkulturelle Perspektiven in der mittelalterlichen Historiographie. Zur Diskussion welt- und globalgeschichtlicher Entwürfe in der aktuellen Geschichtswissenschaft, in  : Historische Zeitschrift 292, 2011, S. 31–59 (am Beispiel mittelalterlicher Weltchroniken)  ; Wolfram Drews/Jenny Rahel Oesterle (Hg.), Transkulturelle Komparatistik. Beiträge zu einer Globalgeschichte der Vormoderne (= Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsordnung 18/3–4), Leipzig 2008, mit interessanten, vergleichenden Beiträgen  ; Eric Hermans (Hg.), A Companion to the Global Early Middle Ages (Arc Companions), Leeds 2020, diskutiert das Problem hingegen nicht, sondern bildet eine praktische Umsetzung der ‚Globalgeschichte‘ mit Beiträgen (bezeichnenderweise allerdings durchweg von europäischen und vor allem amerikanischen Autorinnen und Autoren) über alle Teile der Welt im frühen Mittelalter. Ein Vergleich fehlt. Es mag bezeichnend für die Beherzigung der neuen Perspektive sein, dass nur der Beitrag über das westliche Europa (von Jennifer R. Davis) die Bezüge der Karolinger zu anderen Teilen der Welt ins Blickfeld rückt, während ansonsten (im Teil „Regions“) Struktur und Geschichte des jeweiligen Raumes im Mittelpunkt stehen. Nur im letzten, kurzen Teil „Processes“ werden Handel, Migrationen, Klima und intellektuelle Zusammenhänge verschiedener Regionen miteinander verglichen. Als konkretes Beispiel eines „eurasischen Mittelalters“ vgl. Hermann Kulke, Das europäische Mittelalter – ein eurasisches Mittelalter  ? (Das mittelalterliche Jahrtausend 3), Berlin/Boston 2016.

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gionen, sei es, mehr oder weniger bilateral, in interkulturellen oder transkulturellen Vergleichen52 oder in von vornherein globalgeschichtlich angelegten Synthesen. Beides gebiert Kontroversen. In der Sache gibt es kaum stichhaltige Argumente, die man grundsätzlich dagegen einwenden könnte, wohl aber bieten methodische Unzulänglichkeiten Anlass zur Kritik  ; Globalgeschichten einzelner Autoren entbehren zwangsläufig der Expertise und sind den – durchaus nicht gleichgerichteten – Arbeiten über die verschiedenen Regionen in gängigen Sprachen ausgeliefert,53 während Sammelbänden mit Expertenbeiträgen über die Regionen (bislang) hinreichend vergleichende Vorgaben und die dafür notwendige Zusammenarbeit fehlen. Hingegen scheint mir der keineswegs neue, aber in diesem Zusammenhang derzeit wieder zentral aktivierte Diskurs darüber, ob der Mittelalterbegriff interkulturell überhaupt anwendbar ist,54 vermeidbar zu sein, wenn man sich über Zeiten und Themen, einschließlich möglicher Epochenverschiebungen, einigt.55 Der jüngste, der „ d i g i t a l t u r n“ 56, ist ganz anderer Art als die zuvor genannten, aber kaum weniger „revolutionär“57  : Digitalisierung schafft gänzlich neue Hilfsmit52 Zu Versuchen inter- und transkultureller Vergleiche in Europa und darüber hinaus und zur Relativierung europäischer Perspektiven vgl. Michael Borgolte/Juliane Schiel/Bernd Schneidmüller/ Annette Seitz (Hg.), Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft (Europa im Mittelalter 10), Berlin 2008 (als erster Ergebnisband des Schwerpunktprogramms „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter“). 53 Als methodisch und inhaltlich wenig geglückt erscheint mir, um nur ein Beispiel zu nennen, der weit hinter dem Forschungsstand liegende, frühe Versuch von Ernst Pitz, Die griechisch-römische Ökumene und die drei Kulturen des Mittelalters. Geschichte des mediterranen Weltteils zwischen Atlantik und Indischem Ozean 720–812 (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 3), Berlin 2001. 54 Das viel diskutierte Problem des Mittelalterbegriffs wird auch in den Beiträgen von Thomas Ertl und Wolfgang Hasberg angesprochen. 55 Wenn etwa das japanische Mittelalter (chūsei) traditionell erst im 12. Jahrhundert beginnt, so behindert das in keiner Weise einen japanisch-europäischen Vergleich mit den abendländisch-frühmittelalterlichen Jahrhunderten, also dem japanischen ‚Altertum‘ (kodai). Einen solchen Versuch unternimmt etwa der Band von Shigekazu Kondō/Yasunao Kojita/Robert Horres/Detlev Taranczewski (Hg.), Chūsei – Nihon to Seiō. Takyoku to bunken no jidai [Mittelalter – Epoche der Dezentralisierung und Machtteilung. Japan und Westeuropa im Vergleich], Tokio 2009. Die ursprünglich geplante deutsche Fassung des Bandes ist leider nie erschienen. 56 Vgl. dazu allgemein Brigitte Kossek, Digital Turn  ? Zum Einfluss digitaler Medien auf Wissensgenerierungsprozesse von Studierenden und Hochschullehrenden, Göttingen 2012  ; allgemeingesellschaftlich  : Pille Runnel/Pille Pruulmann-Vengerfeldt/Piret Viires/Marin Laak  (Hg.), The Digital Turn  : User‘s Practices and Cultural Transformations, Frankfurt am Main/Berlin/Wien u. a. 2013. 57 Zu Möglichkeiten einer „digitalen Mediävistik“ vgl. Matthew Evan Davis/Tamsyn Mahoney-Steel/ Ece Turnator (Hg.), Meeting the Medieval in a Digital World (Medieval Media Cultures), Leeds 2018 (ausschließlich zur englischen Sprach- und Literaturwissenschaft)  ; Roman Bleier/Franz Fischer/

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tel und verändert dadurch die Arbeitsweise, bedeutet aber nicht zwangsläufig neue inhaltliche oder perspektivische Richtungen. Was sich dadurch ändert, muss sich erst noch herausstellen. Bislang beschränken sich die einschlägigen Bände weitgehend auf die Vorstellung, Bereitstellung, Nutzung und Auswertung verschiedener Datenbanken, ohne etwaige methodische Auswirkungen zu diskutieren. Es ist unbestreitbar, dass die Mediävistik sich der heutigen Digitalisierung nicht entziehen kann und darf (und das ist nicht einfach eine Generationenfrage). Digitale Medien verändern sicherlich unsere Arbeitsgrundlagen (die dann vielleicht auch nicht mehr vornehmlich in herkömmlichen, gedruckten, kritischen Editionen bestehen werden) und sie erleichtern in vielfacher Hinsicht unbestreitbar die Arbeit, doch bedürfte es meines Erachtens noch einer viel intensiveren Diskussion, als sie bislang geführt wird, inwieweit sie auch das (methodische) Vorgehen verändern und mit den vorhandenen digitalen Möglichkeiten wohl auch die potenzielle Reichweite der Ergebnisse begrenzen. Sie verändern jedoch nicht (zwangsläufig) auch die thematisch-methodische Ausrichtung der Geschichtswissenschaft und der Mediävistik (oder nur insofern, als bereits vorhandene Datenbanken bestimmte Fragen fördern und andere vernachlässigen). Die (noch im Gang befindliche) „digitale Wende“ bedürfte jedenfalls dringend einer kritischen Reflexion, an der Befürworter und Skeptiker zusammenarbeiten müssten. Hier sind zweifellos noch kontroverse Diskussionen zu erwarten. Dabei sollte (und wird) es nicht einfach um ein Zögern gehen, ob man sich einer unverstandenen Technik ausliefern darf. Eine Diskussion darüber müsste vielmehr grundlegendere Überlegungen zur Haltbarkeit bzw. Reichweite der Ergebnisse und deren Verhältnis zur ‚traditionellen‘ Mediävistik in den Blick nehmen und die (positiven und negativen) Folgen diskutieren. Zurzeit werden die Erkenntnismöglichkeiten, wie mir scheint, trotz aller unbestreitbaren Vorteile, Arbeitserleichterungen und neuen Horizonte nämlich oft auch überschätzt. Sich auf digital Erreichbares zu verlassen und zu beschränken, bedeutet immer auch eine enorme Einschränkung des potenziell Möglichen (und das gilt im Übrigen auch für die heute nahezu ausschließlich angewandten, ‚digitalen‘ Methoden des Bibliographierens, solange es keine vollständige erschlossene Literaturdatenbank gibt).

Torsten Hiltmann/Gabriel Viehhauser/Georg Vogeler (Hg.), Digitale Mediävistik (= Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 24/1, 2019) (interdisziplinär). Diese und weitere Bände begründen die Richtung weniger ‚systematisch‘, sondern bieten fast durchweg eine Fülle konkreter Anwendungsbeispiele oder stellen Einzelprojekte und Datenbanken vor. Zur digitalen Unterstützung der Lehre (e-learning) vgl. Hiram Kümper (Hg.), eLearning & Mediävistik. Mittelalter lehren und lernen im neumedialen Zeitalter (Beihefte zur Mediävistik 16), Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Brüssel/New York/Oxford/Wien 2011.

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Die V i e l f a l t h e u t i g e r T h e m e n u n d A n s ä t z e gebiert viele neue Tendenzen (die sich behaupten müssen). Würde sich eine der neuen Richtungen durchsetzen, dann hieße das zwangsläufig, dass anderes für die Geschichtswissenschaft nicht mehr gleichermaßen interessant wäre (während mir selbst die thematische und methodische Offenheit der jetzigen Geschichtswissenschaft gerade als ein großer Vorteil erscheint). Die Vielfalt hilft zu verhindern, dass bestimmte Richtungen dominieren oder einer der zahlreichen „turns“ die Geschichtswissenschaft und Mediävistik maßgeblich bestimmt. Sie macht es uns nicht bequem, aber vielfältig spannend, wenn man nicht nur für die eigene Richtung kämpft, sondern auch bereit ist, anderes zu tolerieren.58 Die Vielfalt könnte freilich zu einer Relativierung („Alles ist wichtig“, allerdings nicht gleichermaßen auch aktuell interessant), aber auch zu einer friedlichen Koexistenz führen. In der Praxis ist sie jedoch vielfach auch von Auseinandersetzungen um Sinn, Nutzen und Haltbarkeit bestimmter Themen, Methoden und Forschungsergebnisse geprägt, auch wenn die Streitigkeiten in der Mediävistik (jedenfalls in Deutschland) moderater ausgetragen werden als in der Neuen Geschichte oder auch in einigen anderen Ländern. Als Konsequenz erregen sie aber auch kaum mehr öffentliches Interesse und das wissenschaftliche Mittelalter erlangt in den Medien daher erheblich weniger Aufmerksamkeit als noch vor 30 oder 40 Jahren. Problematisch (und zwangsläufig kontrovers) erscheinen mir Richtungen, die sich selbst zwar als wissenschaftlich betrachten, in erster Linie aber politisch motiviert sind und entsprechende Ziele verfolgen (und sich dabei anderen zudem oft dominant aufzudrängen suchen). Hier mag man, inzwischen zwar insgesamt, aber doch noch nicht überall abgeschwächt, auch eine (schon genannte) feministische Wissenschaft, bis zu einem gewissen Grad auch die „postcolonial studies“59 und, aktueller, die sogenannte „Critical Race Theory“60 verorten, deren politische Motivationen durchaus 58 Mein eigenes Hauptarbeitsgebiet einer „Vorstellungsgeschichte“ erhebt beispielsweise durchaus den Anspruch, unverzichtbarer Bestandteil einer kritischen Quellenbetrachtung zu sein, doch sind vorstellungsgeschichtliche Spezialstudien nur eine Perspektive neben vielen anderen. 59 Zur Charakterisierung und Kritik an der postkolonialen Theorie vgl. (exemplarisch) Maria do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung (Cultural Studies 12), 2., überarb. Aufl., Bielefeld 2015 (12005  ; als Paperback  : UTB 5362, Stuttgart 32020). „Post-colonial studies“ wenden sich politisch gegen eine immer noch vorherrschende eurozentrische Perspektive und können, trotz aller Kontroversen, mittlerweile insgesamt als etabliert betrachtet werden. Mit postkolonialen Theorien kann man den präkolonialen Situationen (ohne Kolonien im modernen Sinn) jedoch nicht gerecht werden, wenn man sie mit modernen Augen oder unter durchgängigen Theorien (wie der „Orientalismus“-Theorie) betrachtet. Den Versuch einer Anwendung auf das Mittelalter bietet der Band von Jeffrey Jerome Cohen (Hg.), The Postcolonial Middle Ages (The New Middle Ages), New York 2000, dessen Beiträge methodisch ebenfalls keineswegs sämtlich als geglückt gelten können. 60 Die ‚Critical Race Theory‘ motiviert sich politisch – und aktuell notwendig – aus der Ungleichheit zwi-

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berechtigte Gründe haben, während bisherige Versuche, den Ansatz auf das Mittelalter zu übertragen, methodisch fragwürdig bleiben, wenn nicht gleichzeitig die zeit- und epochenspezifischen Unterschiede berücksichtigt werden61 oder wenn die politischen Belange in völlig überspitzte Forderungen einmünden.62 Propaganda und (in Ansätzen) Diskussionen werden hier bislang bezeichnenderweise in sogenannten sozialen Medien geführt und richten sich damit eher an ein breites Publikum als an die Fachwelt, die noch zurückhaltend reagiert. Anders – aber auch kontrovers – verhält es sich hingegen mit der Forderung, einen Europazentrismus durch eine gleichberechtigte Einbeziehung oder Kenntnisnahme anderer Kulturen in einer ‚Globalgeschichte‘ zu relativieren. Wenngleich die bisher genannten Streitigkeiten seit längerem nicht mehr aus der M e d i ä v i s t i k selbst erwachsen sind, sondern aus der Neueren Geschichte, aus anderen Fächern oder, wie die zuletzt genannten Beispiele, gar aus politischen Strömungen in sie hineingetragen worden sind,63 bleibt dennoch die (noch kaum behandelte) schen Weißen und Farbigen, hat ihre Ursprünge bezeichnenderweise in den U.S.A., gewinnt von hier aus jedoch immer weiteren Einfluss. Eine Einführung in die „Critical Race Theory“ bieten Kimberlé W. Crenshaw/Neil Gotanda/Gary Peller/Kendall Thomas (Hg.), Critical Race Theory. The Key Writings that Formed the Movement, New York 1995, und Richard Delgado/Jean Stefancic, Critical Race Theory. An introduction, New York 2001. Vgl. dazu den Beitrag von Juliane Schiel in diesem Band. 61 „Kritisch“ in der Selbstbezeichnung der ‚Critical Race Theory‘ bezieht sich auf eine Kritik gegenwärtiger Zustände und nicht, wie der Begriff suggeriert, auf die bisherigen Theorien und Studien. Die deutschen, aus naheliegenden Gründen historisch bedingten Vorbehalte gegen das Konzept der „Rasse“ werden gar nicht erst rezipiert, eine Anwendung auf frühere Epochen nicht hinterfragt, sondern aufgedrängt. Übertragungen auf das Mittelalter wie bei Geraldine Heng, The Invention of Race in the European Middle Ages, Cambridge 2018, müssen als methodisch misslungen bewertet werden, wenn Voraussetzung und Ergebnis, ohne Rücksicht auf die mittelalterliche Begrifflichkeit und das andere Verständnis der Epoche, hier gleichermaßen lauten  : „race matters in the Middle Ages“, und unter einem übermäßig weit gefassten „Rassebegriff “ vorgenommen werden, der Völker und Religionen einschließt. Auch wenn der englische Begriff „race“ – aber auch aus mangelnder Reflexion heraus – offener verwendet wird als das deutsche Äquivalent „Rasse“, sind „race“ und „people“, geschweige denn „religion“, keineswegs deckungsgleiche Konzepte. 62 Politisch reichen solche Forderungen, die Altertumswissenschaften betreffend, zuletzt von einer Abkehr von dem „Faschismus“ und „Kolonialismus“ der klassischen Philologie bis hin zu deren Abschaffung, weil sie ein von Weißen dominiertes Bild der antiken Kultur lehrt. Die Debatten haben in der Internet-Zeitschrift ‚Eidolon‘ ein Sprachrohr gefunden (, aufgerufen am 03.02.2023). Wichtige Hinweise auf entsprechende Medien verdanke ich meinem Tübinger althistorischen Kollegen Sebastian Schmidt-Hofner. 63 Über die Ausrichtung der Geschichtswissenschaft zwischen 1990 und 2008 vgl. von neuzeitlicher Seite her, mit manchen netten, aktuellen Seitenhieben, Dieter Langewiesche, Zeitwende. Geschichtsdenken heute, hg. v. Nikolaus Buschmann und Ute Planert, Göttingen 2008.

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Frage interessant, wie sie aufgegriffen und umgeformt werden und inwieweit sich darin spezifisch mediävistische Eigenheiten, Inhalte, Formen, Akzente und Argumentationsprinzipien erkennen lassen. Das setzt genauere Analysen der genannten (und weiterer) Kontroversen voraus. Hier stehen wir erst am Anfang. Die Beiträge dieses Bandes mögen dazu Beispiele bieten und Wege eröffnen. Während Richtungsstreitigkeiten und „turns“, ob bewusst oder unbewusst, immer auch einen Wandel der Geschichtswissenschaft oder zumindest Neuorientierungen innerhalb der Geschichtswissenschaft andeuten, entstehen Diskussionen über zahlreiche Aspekte natürlich nicht minder auch ohne diesen generalisierenden Anspruch. Auch dabei neigen n e u e F o r s c h u n g s t h e m e n , - r i c h t u n g e n u n d - z u g ä n g e , wie sie gerade in der Vielfalt der neueren Geschichtswissenschaft und Mediävistik aufkommen, zu kontroversen Diskussionen, entweder hinsichtlich ihrer (von Traditionalisten bezweifelten) Relevanz oder ihres methodischen Ansatzes, nicht zuletzt aber auch durch in der ‚Entdeckerfreude‘ überspitzte Thesen. Exemplarisch ließe sich hier etwa auf die inzwischen schon wieder ältere Diskussion um die Rolle der S c h r i f t l i c h k e i t im Mittelalter verweisen,64 deren bemerkenswerte Anfänge zunächst im hohen Mittelalter gesucht wurden und die hier sicherlich zunimmt,65 doch ist ihre Bedeutung auch im frühen Mittelalter längst nachgewiesen worden.66 Auch die – sich darin eingliedernden und zugleich weiterführenden – wichtigen und einflussreichen Studien einer „pragmatischen Schriftlichkeit“,67 vom einstigen Münsteraner Sonderforschungsbereich her längst breit ausstrahlend, sind dort auf Kritik gestoßen, wo sie ganze Werke zu eng auf einen ganz bestimmten Anlass zurückführen wollten  ; „pragmatisch“ bedeutet zweck-, aber nicht zwingend auch anlassgebunden. Das „Pendant“ zur Schriftlichkeitsforschung hat sich zugleich als deren Widerpart herauskristallisiert, nämlich die Klassifizierung des Mittelalters als einer o r a l e n G e s e l l s c h a f t .68 Dabei sind ethnologische Vergleiche mit schriftlosen Völkern der Neu- und Jetztzeit zu Recht auf Skepsis gestoßen. Die große Mehrheit mittelalterli64 Als Initialzündung darf hier das Standardwerk von Michael Clanchy, From Memory to Written Record. England 1066–1307, London 1979 (3. Aufl., Chichester 2013), gelten. 65 Vgl. Brian Stock, The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries, Princeton 1983  ; Walter Ong, Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London 1982 (mehrfach nachgedruckt). 66 Vgl. Rosamond McKitterick, The Carolingians and the Written Word, Cambridge u. a. 1989. 67 Vgl. Hagen Keller/Klaus Grubmüller/Nikolaus Staubach  (Hg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), München 1992. 68 Programmatisch  : Hanna Vollrath, Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften, in  : Historische Zeitschrift 233, 1981, S. 571–594  ; vgl. auch Michael Richter, The Formation of the Medieval West. Studies in the Oral Culture of the Barbarians, Dublin/New York 1994.

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cher Menschen ist auch nicht durch Oralität schlechthin, sondern durch Illiteralität geprägt. Das Mittelalter als „orale Gesellschaft“ zu betrachten, unterschätzt zudem die Bedeutung und Wirkung der Schriften (aus denen manches dem „Volk“ verlesen, erzählt und übersetzt wurde). Nach längerer Diskussion, an der auch die Literaturwissenschaften maßgeblich beteiligt waren, konnte man sich hier auf eine Charakterisierung als „skript-orale Gesellschaft“ verständigen.69 Das dürfte inzwischen Konsens sein (während die zunehmende Handschriftenforschung das Pendel inzwischen wieder weitgehend zur Schriftlichkeit hin ausschlagen lässt). Parallel zur Kontroverse um Schriftlichkeit und Mündlichkeit, aber noch stärker von sozialgeschichtlichen und volkskundlichen Aspekten initiiert, ist die Diskussion um eine Abgrenzung von Elite- und Volkskultur zu sehen.70 Dass auch mit „skript-oral“ immer noch nicht alles abgedeckt ist – und auch die schriftlose Bevölkerung nicht ausschließlich „oral“ agiert –, zeigen die Diskussionen um eine dritte, nicht-schriftliche und „ n o n v e r b a l e “ K o m m u n i k a t i o n , die ausgehend von (seinerzeit) neuen Erkenntnissen über außergerichtliche Konfliktlösungen, sich vor allem, aber auch einseitig, auf eine „symbolische“ Kommunikation, Rituale und „inszenierte Herrschaft“ konzentriert haben.71 Das ist längst anerkannt, hat wegen verallgemeinernder und überspitzter Thesen aber auch zu manchen Dis-

69 Vgl. etwa die Veröffentlichungen der Reihe „ScriptOralia“ des seinerzeitigen, gleichnamigen, allerdings überwiegend literaturwissenschaftlich betriebenen Freiburger Sonderforschungsbereichs. 70 Initiierend sind hier die gleichzeitigen, frühneuzeitlichen Arbeiten von Robert Muchembled, Culture populaire et culture des élites dans la France moderne (XVe–XVIIIe siècles). Essay, Paris 1977 (deutsche Übersetzung  : Kultur des Volks – Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung, Stuttgart 1982), und Peter Burke, Popular Culture in Early Modern Europe, London 1978 (deutsch  : Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981) gewesen. Zum Mittelalter, eher abgrenzend  : Aaron Gurjewitsch, Mittelalterliche Volkskultur, München 1987  ; Peter Dinzelbacher/Hans-Dieter Mück (Hg.), Volkskultur des europäischen Spätmittelalters (Böblinger Forum 1), Stuttgart 1987. Zur Kritik vgl. etwa Michel Lauwers, „Religion populaire“, culture folkorique, mentalités. Notes pour une anthropologie culturelle du moyen âge, in  : Revue d’histoire ecclésiastique 82, 1987, S. 221–258  ; Hans-Werner Goetz/Friederike Sauerwein (Hg.), Volkskultur und Elitekultur im frühen Mittelalter  : Das Beispiel der Heiligenviten (Medium Aevum Quotidianum 36), Krems 1997. 71 Diese Forschungsrichtung ist von Gerd Althoff initiiert und kontinuierlich weitergeführt worden und wird längst weithin international betrieben. Vgl. Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997  ; Ders., Rituale – symbolische Kommunikation. Zu einem neuen Feld der historischen Mittelalterforschung, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50, 1999, S. 140–154  ; Ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003  ; Ders., Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter, Darmstadt 2003  ; Ders., Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter, Darmstadt 2016.

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kussionen geführt.72 Damit berührt sich ein weiteres, neueres Feld, die mediävistische E m o t i o n s f o r s c h u n g , deren Ursprünge in den Literaturwissenschaften liegen  ; auch hier wird über die Erkennbarkeit von Emotionen sowie über deren Instrumentalisierung gestritten.73 Unter dem Aspekt eines „kulturellen Gedächtnisses“ (eines von dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs entlehnten Begriffs) ist die frühere, mediävistisch von Johannes Spörl begründete,74 intensive Geschichts-

72 Die Kontroversen darüber sind jedoch auch deshalb nicht eskaliert, weil Althoff viele Kritiken konstruktiv aufgenommen hat. Größter Kritiker des Ansatzes ist Philippe Buc, The Dangers of Ritual. Between Early Medieval Texts and Social Scientific Theory, Princeton/Oxford 2001, der bezweifelt, dass die historiographischen Konstruktionen die tatsächlichen Rituale erkennen lassen (sich damit aber auch als hyperkritisch gegenüber längst etablierten Forschungsrichtungen erweist). Zur Kritik an der These „inszenierter Gefühle“ vgl. Peter Dinzelbacher, Warum weint der König  ? Eine Kritik des mediävistischen Panritualismus, Badenweiler 2009. Inzwischen wird der Kommunikationsbegriff kaum mehr abgrenzbar weit angewandt und verliert dadurch seine Prägnanz. Ging es Althoff und anderen zunächst um (vereinbarte) Konfliktlösungen, so ist in der Folge „Konsens“ gleichsam zu einem Schlüsselbegriff mittelalterlichen politischen Handelns geworden  ; vgl. Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in  : Paul-Joachim Heinig/Sigrid Jahns/Hans-Joachim Schmidt/Rainer Christoph Schwinges/Sabine Wefers (Hg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (Historische Forschungen 67), Berlin 2000, S. 53–87 (gekürzte englische Fassung  : Rule by Consensus. Forms and Concepts of Political Order in the European Middle Ages, in  : The Medieval History Journal 16, 2013, S. 449–471). Auch das müsste angesichts der zahllosen Konflikte im Mittelalter eigentlich zu – bisher noch kaum erkennbaren – kontroversen Diskussionen führen. 73 In den Literaturwissenschaften ist der Ansatz verständlicherweise schon länger etabliert. In der Geschichtswissenschaft vgl. vor allem Barbara Rosenwein, Anger’s Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages, Ithaca, NY/London 1998  ; Dies., Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca, NY/London 2007  ; Peter Dinzelbacher, Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung  : Mentalitätsgeschichte und Ikonographie, Paderborn/München/Wien/Zürich 1996. Rundumkritik an der geschichtswissenschaftlichen Emotionsforschung hat der Germanist Rüdiger Schnell, Haben Gefühle eine Geschichte  ? Aporien einer History of emotions, 2 Bde., Göttingen 2015, geübt und moniert, dass jene nur die Wahrnehmung von Emotionen und nicht die Emotionen selbst zum Gegenstand haben. Darüber zu streiten dürfte müßig sein, zumal sich gerade wahrnehmungsgeschichtliche Ansätze mit literaturwissenschaftlichen weit enger berühren als textimmanente Interpretationen. Abwägend aus kunstgeschichtlicher Sicht  : Martin Büchsel, Die Grenzen der Historischen Emotionsforschung. Im Wirrwarr der Zeichen – oder  : Was wissen wir von der kulturellen Konditionierung von Emotionen  ?, in  : Frühmittelalterliche Studien 45, 2011, S. 143–168. 74 Vgl. Johannes Spörl, Das mittelalterliche Geschichtsdenken als Forschungsaufgabe, in  : Historisches Jahrbuch 53, 1933, S.  281–303   ; Ders., Grundformen hochmittelalterlicher Geschichtsanschauung. Studien zum Weltbild der Geschichtsschreiber des 12.  Jahrhunderts, München 1935 (Nachdr. Darmstadt 1968). Dem nachfolgende, ältere Aufsätze sind zusammengestellt von Walther Lammers (Hg.), Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze und Arbeiten aus den Jahren 1933 bis 1959 (Wege der Forschung 21), Darmstadt 1961.

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bildforschung75 durch „ E r i n n e r u n g s k u l t u r e n“ abgelöst oder vielmehr ergänzt worden,76 eine Richtung, die, soweit ich sehe, bislang noch erstaunlich (nicht zwingend aber auch berechtigterweise) wenig kontrovers diskutiert worden ist. Auch solche Themen sind zum guten Teil gesamtgeschichtswissenschaftlich oder gar gesamtgesellschaftlich bedingt, zeigen aber deutlich eine spezifisch mediävistische Ausprägung, indem sie gerade die mittelalterlichen Verhältnisse in den Mittelpunkt stellen und hier zumeist nicht als solche, sondern bezüglich bestimmter oder überspitzter Thesen kontrovers sind. Neben neuen Themen wie den genannten werden auch in der Mediävistik immer wieder n e u e H e r a n g e h e n s w e i s e n vorgeschlagen, die ihrerseits auf alle Epochen anwendbar wären. Exemplarisch sei hier nur auf zwei Beispiele hingewiesen  : den – von vornherein überepochal angelegten – methodischen Ansatz einer „ M e m o r i k “ durch Johannes Fried (der ebenfalls kaum in der Sache, sondern erneut in manchen Überspitzungen der Unzuverlässigkeit der Quellen wie auch in der zu wenig reflektierten Übertragung bestimmter neurologischer Theorien auf das Mittelalter kontrovers diskutiert worden ist)77 sowie, erst kürzlich, auf die Propagierung einer „G e s c h i c h t e d e r R h y t h m e n“ durch Jean-Claude Schmitt (deren Diskussion, soweit ich sehe, noch aussteht).78 Gegenüber jahrzehntelanger Suche der Geschichtswissenschaft nach Strukturen und „Systemen“, Erklärungen und rationalen Begründungen – bis hin zur zeitweiligen (gescheiterten) Suche nach „Gesetzen“ in der Geschichte – wird in jüngster Zeit umgekehrt nicht zufällig die „ K o n t i n g e n z “ des Ereignisverlaufs in den Blick genommen und der Zufall des Ausgangs historischer Einzelfälle betont.79 Wie der Ruf nach Inter- und 75 Einen kurzen Überblick über die ältere Forschung gibt Hans-Werner Goetz, Das Geschichtsbild Ottos von Freising. Ein Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 19), Köln/Wien 1984, S. 1–8. 76 Vgl. Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire (Bibliothèque illustrée des histoires), 3 Bde., Paris 1984– 1992 (Nachdr. 2004–2006)  ; vgl. auch Otto Gerhard Oexle  (Hg.), Memoria als Kultur (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), Göttingen 1995. 77 Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004 (erweiterte Ausgabe München 2012). Kritisch dazu etwa Marcel Müllerburg, Risse im Schleier der Erinnerung. Zur Kritik der historischen Memorik, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 58, 2010, S. 201–221  : Eine Memorik müsse die sich wandelnden Formen der Weltdeutung und Wissensordnung, das kognitive Schema, das die Wahrnehmung steuert, berücksichtigen  ; „Verzerrungsmarker“ seien nur Indizien, deren Verlässlichkeit der Historiker beurteilen müsse. 78 Jean-Claude Schmitt, Les rythmes au Moyen Âge (Bibliothèque illustrée des histoires), Paris 2016. Schmitt bietet ein beeindruckend konkretisiertes Plädoyer für eine – symbolisch als Sechstagewerk gegliederte – Geschichte der Rhythmen im Mittelalter (in der Welt, beim Menschen, in der Zeit, im Raum und in der Erinnerung). 79 Vgl. (überzeitlich, aber ohne geschichtswissenschaftliche Beiträge, aus dem Berliner SFB „Transformationen der Antike“) Hartmut Böhme/Werner Röcke/Ulrike C.A. Stephan (Hg.), Contingentia.

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Transdisziplinarität auch eine Reaktion auf das immer enger werdende Netz voneinander getrennter Disziplinen und wie die Globalgeschichte eine Reaktion ebenfalls darauf wie auch auf die immer stärker werdende Spezialisierung der Wissenschaft(ler/innen) und auf die eurozentrische Sicht ist, so erscheint, wenngleich gegenüber anderen, stärker geschichtsmethodischen Herangehensweisen, auch „Kontingenz“ als eine Reaktion gegenüber den Grenzen der Verallgemeinerbarkeit historischer Sachverhalte. Das entspricht im Einzelnen durchaus dem Eindruck der Dokumentenbasis, ist vielleicht aber auch eine Resignation vor der vorherrschenden Vielfalt der Perspektiven und Möglichkeiten gegenüber einer für das Mittelalter in dieser Hinsicht unzureichenden Quellenlage. Es macht die Suche nach in den Einzelfällen verdichteten „Strukturen“ sicher nicht verzichtbar. Ganz anderer Art sind, trotz ihres noch recht jungen Daseins, Diskussionen (vorwiegend methodischer Art), die aus der immer stärker angemahnten Beteiligung der Geschichtswissenschaft an n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n F r a g e s t e l l u n g e n erwachsen sind. Das verläuft problemlos, wenn naturwissenschaftliche Analysen verlässliche Daten bieten (wie in der Archäologie die dendrochronologische Datierung von Baumaterialien nach Holzringen), führt aber dort zu Vorbehalten und Diskussionen, wo die Reichweite der Interpretation solcher Analysen bei weitem noch nicht geklärt ist. Ein aktuelles Beispiel bildet die Interpretation von DNA-Analysen im Hinblick auf biologische Abstammung, Völker und Wanderungsbewegungen in Spätantike und Frühmittelalter. Bisherige Ausdeutungen sind unzureichend und werden der Komplexität der gerade hier erreichten geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen und Ergebnisse noch nicht gerecht.80 Neben solchen allgemeineren Deutungsstreitigkeiten stehen natürlich zahlreiche weitere, i n n e r m e d i ä v i s t i s c h e (und deshalb außerhalb der Mediävistik Transformationen des Zufalls (Transformationen der Antike 38), Berlin/Boston 2015  ; mediävistisch  : Martin Kintzinger, Kontingenz und Konsens. Die Regelung der Nachfolge auf dem Königsthron in Frankreich und im Deutschen Reich, in  : Matthias Becher (Hg.), Die mittelalterliche Thronfolge im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 84), Ostfildern 2017, S.  255–287  ; Matthias Becher/Hendrik Hess (Hg.), Kontingenzerfahrungen und ihre Bewältigung zwischen imperium und regna. Beispiele aus Gallien und angrenzenden Gebieten vom 5. bis zum 8. Jahrhundert, Göttingen 2021. 80 Zu Problemen und möglichen Lösungswegen vgl. den Beitrag von Walter Pohl in diesem Band. Zur Diskussion vgl. Patrick Geary, Herausforderungen und Gefahren der Integration von Genomdaten in die Erforschung der frühmittelalterlichen Geschichte (Das mittelalterliche Jahrtausend 7), Göttingen 2020. Gegen das Buch des Biochemikers Johannes Krause (mit Thomas Trappe), Die Reise unserer Gene. Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren, Berlin 2019, vgl. die fundamentale Kritik von Mischa Meier/Steffen Patzold, Gene und Geschichte. Was die Archäogenetik zur Geschichtsforschung beitragen kann (Zeitenspiegel Essay), Stuttgart 2021.

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noch weniger wahrgenommene) K o n t r o v e r s e n von demgegenüber g­ eringerer Reichweite, sowohl um einzelne thematisch-inhaltliche Deutungen als auch um methodische Probleme oder neue Perspektiven, die hier nicht einmal ansatzweise aufgezählt werden können. Mancher Streit mag dabei eher persönlich auf einzelne Streithähne (und manchmal sogar auch Streithennen) beschränkt sein, und nicht selten lösen auch allzu provokativ vorgebrachte, angeblich neue Thesen Kontroversen aus. Vielfach steckt aber doch mehr dahinter. Lässt man sehr spezielle Einzelprobleme oder Diskussionen um bestimmte Quellenbelege und deren Zuverlässigkeit, wie es sie in der Geschichtswissenschaft seit eh und je gegeben hat, hier einmal außer Acht, so sind auch hier grundsätzlichere Diskussionen erkennbar, beispielsweise um die Überlieferung und die historische Aussagekraft bestimmter, ‚problematischer‘ Q u e l l e n ‚ g a t t u n g e n‘, wie beispielsweise der frühmittelalterlichen Formelsammlungen,81 der Kapitularien,82 der Urbare,83 aber auch allgemein normativer Quellen (Rechtsquellen ebenso wie moralischer Normen) oder der Hagiographie, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch in der Landesgeschichte, die ihr Profil im Verlauf des 20.  Jahrhunderts sehr verändert und Perspektiven anderer Disziplinen, nicht zuletzt der Geographie, aufgenommen und sich zunehmend zu einer vergleichenden Landesgeschichte entwickelt hat, hat es manche Kontroversen gegeben.84 Andere jüngere Diskussionen werden um einzelne inhaltliche Phänomene der mittelalter81 Vgl. dazu Alice Rio, Legal Practice and the Written Word in the Early Middle Ages. Frankish Formulae, c. 500–1000 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, Fourth Series 75), Cambridge 2009. Der Erforschung der Formelsammlungen dient aktuell ein großes Hamburger Akademieprojekt unter der Leitung von Philippe Depreux. 82 Zu den Problemen vgl. die Homepage des von Karl Ubl, Köln, geleiteten Editionsprojekts der Kapitularien („Capitularia“)  : , aufgerufen am 03.02.2023  ; zu den offenen und strittigen Fragen ebd.: , aufgerufen am 03.02.2023. 83 Vgl. Dieter Hägermann, Quellenkritische Bemerkungen zu den karolingerzeitlichen Urbaren und Güterverzeichnissen, in  : Werner Rösener (Hg.), Strukturen der Grundherrschaft im frühen Mittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 92), Göttingen 1989, S. 47–73  ; Ludolf Kuchenbuch, Ordnungsverhalten im grundherrlichen Schriftgut vom 9. zum 12.  Jahrhundert, in  : Johannes Fried (Hg.), Dialektik und Rhetorik im früheren und hohen Mittelalter. Rezeption, Überlieferung und gesellschaftliche Wirkung antiker Gelehrsamkeit vornehmlich im 9. und 12. Jahrhundert (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 27), München 1997, S. 175–268  ; Yoshiki Morimoto, Études sur l’économie rurale du haut Moyen Âge. Historiographie, Régime domanial, Polyptyques carolingiens (Bibliothèque du Moyen Âge 25), Brüssel 2008. 84 Zur Entwicklung der deutschen Landesgeschichte vgl. vor allem Matthias Werner, Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20.  Jahrhundert, in  : Moraw/Schieffer  (Hg.), Deutschsprachige Mediävistik (wie Anm. 4), S. 251–364.

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lichen Geschichte geführt, die das traditionelle Mittelalterbild der Forschung lange Zeit bestimmt hatten. Exemplarisch sei hier etwa auf den (von außen betrachtet, berechtigten) Angriff auf das vor allem in der deutschen Mediävistik zentrale „ottonisch-salische R e i c h s k i r c h e n s y s t e m“,85 auf die E i g e n k i r c h e ,86 den (vielschichtigen  !) Streit über das (ebenfalls besonders in Deutschland so geliebt-verehrte) L e h n s w e s e n ,87 in Frankreich auf die (nicht zuletzt aus der Verallgemeinerung südfranzösischer Verhältnisse erwachsene) Diskussion über einen grundlegenden Wandel der Gesellschaft um die Jahrtausendwende herum („ m u t a t i o n d e l ’a n m i l “ ),88 international auf die – kaum zufällig um das Jahr 2000 herum intensivierte Debatte um eine akute E n d z e i t ­e r w a r t u n g u m d i e J a h r t a u s e n d w e n d e 89 85 Gegen die klassische Lehre bei Leo Santifaller, Zur Geschichte des ottonisch-salischen Reichskirchensystems (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte 229), Wien 1954 (21964) vgl. vor allem Timothy Reuter, The ‚Imperial Church System‘ of the Ottonian und Salian Rulers  : a Reconsideration, in  : Journal of Ecclesiastical History 33, 1982, S. 347–374. Einen vertretbaren Kompromiss erreichte Rudolf Schieffer, Der geschichtliche Ort der ottonisch-salischen Reichskirchenpolitik, Opladen 1998. 86 In beiden Fällen sind das weniger Kontroversen als vielmehr eine (späte) Abkehr von älteren Positionen, im Fall der Eigenkirche von Ulrich Stutz, Die Eigenkirche als Element des mittelalterlich-germanischen Kirchenrechts, Berlin 1985 (Ndr. Darmstadt 1955). Zur Kritik an bestimmten Aspekten der Lehre vgl. etwa Andreas Hedwig, Die Eigenkirche in den urbariellen Quellen zur fränkischen Grundherrschaft zwischen Loire und Rhein, in  : Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonist. Abt. 78, 1992, S. 1–64  ; Wilfried Hartmann, Die Eigenkirche. Grundelement der Kirchenstruktur bei den Alemannen  ?, in  : Sönke Lorenz/Barbara Scholkmann/Dieter R. Bauer (Hg.), Die Alemannen und das Christentum. Zeugnisse eines kulturellen Umbruchs, Leinfelden-Echterdingen 2003, S. 1–12  ; Susan Wood, The Proprietary Church in the Medieval West, Oxford 2013  ; dezidiert jetzt  : Steffen Patzold, Presbyter. Moral, Mobilität und die Kirchenorganisation im Karolingerreich (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 68), Stuttgart 2020. 87 Vgl. dazu den Beitrag von Brigitte Kasten in diesem Band. Die „klassische“ Position fasst zusammen  : François-Louis Ganshof, Was ist das Lehnswesen, Darmstadt 1961 (61983). Die Diskussion darüber entzündete sich vor allem durch die Kritik von Susan Reynolds, Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted, Oxford 1994. Als Resümee der anschließenden Diskussion vgl. Steffen Patzold, Das Lehnswesen (Beck Wissen), München 2012. 88 Zu den wichtigsten Positionen und zur (fehlenden) Rezeption in Deutschland vgl. den Beitrag von Steffen Patzold in diesem Band. 89 Für eine Endzeiterwartung etwa Richard Landes, Millenarismus absconditus  : L’historiographie augustiniennes et le millénarisme du haut Moyen Âge jusqu’à l’an mil, in  : Le Moyen Âge 98, 1992, S. 355–377  ; Ders., Sur les traces du millénnium, in  : ebd. 99, 1993, S. 5–26  ; Ders., The Fear of an Apocalyptic Year 1000  : Augustinian Historiography, Medieval and Modern, in  : Speculum 75, 2000, S. 97–145  ; in größerem Rahmen Ders., Heaven on Earth. The Varieties of the Millennial Experience, Oxford 2011  ; Johannes Fried, Endzeiterwartung um die Jahrtausendwende, in  : Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 45, 1989, S. 381–473. Dagegen  : Sylvain Gouguenheim, Les fausses terreurs de l’an mil. Attente de la fin des temps ou approfondissement de la foi  ?, Paris 1999 (dagegen

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oder, auf begriffs-, geistes- und sozialgeschichtlicher Ebene, auf die Diskussion um die „ E n t d e c k u n g d e s I n d i v i d u u m s “ bereits im 12. oder erst im 15.  Jahrhundert90 – beides scheint mir selbst verfehlt91 – verwiesen. Auch die (wieder vornehmlich deutsche) Kontroverse über S t a a t u n d S t a a t l i c h k e i t , personale oder transpersonale Herrschaft ließe sich hier anführen, die ihren Ursprung teils in dem noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden modernen Staatsbegriff, teils in der von der ‚Neuen deutschen Verfassungsgeschichte‘ der 1920er bis 1970er Jahre entwickelten Auffassung von einer spezifisch frühmittelalterlichen, auf Herrschaft und persowiederum Johannes Fried, Die Endzeit fest im Griff des Positivismus  ? Zur Auseinandersetzung mit Sylvain Gouguenheim, in  : Historische Zeitschrift 275, 2002, S.  281–322)  ; Hans-Henning Kortüm, Millenniumsängste – Mythos oder Realität  ? in  : Ulrich G. Leinsle/Jochen Mecke (Hg.), Zeit – Zeitenwechsel – Endzeit. Zeit im Wandel der Zeiten, Kulturen, Techniken und Disziplinen (Schriftenreihe der Universität Regensburg 26), Regensburg 2000, S. 171–188. 90 Die bis dahin gängige, auf Jacob Burckhardt gestützte Lehre von einer Wahrnehmung des Individuums nicht vor dem 15. Jahrhundert wurde von Colin Morris, The Discovery of the Individual, 1050–1200 (Church History Outlines 5), London 1972 (Nachdr. 2004), infrage gestellt und hat anschließend eine breite Diskussion ausgelöst  ; exemplarisch seien genannt  : Caroline Walker Bynum, Did the Twelfth Century Discover the Individual  ?, in  : The Journal of Ecclesiastical History 31, 1980, S. 1–18 (abgedr. in  : Dies., Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley/Los Angeles 1982, S. 82–109)  ; dagegen die Antwort von Colin Morris, Individualism in Twelfth-Century Religion. Some Further Reflections, in  : The Journal of Ecclesiastical History 31, 1980, S. 195–206  ; ferner JeanClaude Schmitt, La „découverte de l’individu“. Une fiction historiographique  ? in  : Paul Mengal/ Françoise Parot (Hg.), La fabrique, la figure et la feinte. Fictions et statut des fictions en psychologie, Paris 1989, S. 213–236 (abgedruckt in  : Ders., Le corps, les rites, les rêves, le temps  : essais d’anthropologie médiévale, Paris 2001, S. 241–262)  ; Eva Schlotheuber, Norm und Innerlichkeit. Zur problematischen Suche nach den Anfängen der Individualität, in  : Zeitschrift für Historische Forschung 31, 2004, S. 329–357  ; Barbara Rosenwein, Y avait-t-il un „moi“ au haut Moyen Âge  ? in  : Revue historique 307 (H. 633), 2005, S. 31–52. Daneben gibt es eine ganze Reihe allgemeinerer Werke, beispielsweise Aaron J. Gurjewitsch, Das Individuum im europäischen Mittelalter (Europa bauen), München 1994  ; Jan A. Aertsen/Andreas Speer (Hg.), Individuum und Individualität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 24), Berlin/New York 1996  ; Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 23), Köln/Weimar/Wien 2004  ; Brigitte Bedos-Rezak/Dominique Iogna-Prat (Hg.), L’individu au Moyen Âge. Individuation et individualisation avant le modernité (Bulletin du centre d’études médiévales d’Auxerre [BUCEMA] 9), Paris 2005  ; Harald Derschka, Individuum und Persönlichkeit im Hochmittelalter, Stuttgart 2014  ; Franz Arlinghaus (Hg.), Forms of Individuality and Literacy in the Medieval and Early Modern Periods (Utrecht Studies in Medieval Literacy 31), Turnhout 2015  ; zuletzt Ders./Walter Erhart/Lena Gumpert/Simon Siemianowski, Sich selbst vergleichen. Zur Relationalität autobiographischen Schreibens vom 12. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2020. 91 Vgl. dazu Hans-Werner Goetz, Gab es im frühen Mittelalter gar keine Personen, Persönlichkeiten und Individuen  ? Ein Plädoyer für eine zeitspezifische Betrachtungsweise, in  : Pierre Monnet (Hg.), Person im Mittelalter (Vorträge und Forschungen), im Druck.

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nalen Bindungen beruhenden, lange fälschlich als ‚germanisch‘ angesehenen politischen Ordnung hat. Zur Abgrenzung von modernen Verhältnissen hat die deutsche Forschung daher lieber von „Staatlichkeit“ im Mittelalter gesprochen, damit international jedoch, auch wegen der Übersetzungsprobleme, kaum Anklang gefunden. Bei der (von anderen) so genannten „Fried-Goetz-Kontroverse“92 geht es hintergründig auch um dieses Problem eines spezifischen Charakters frühmittelalterlicher Staatlichkeit, grundsätzlicher aber um die Frage, ob man die politischen Gebilde des Mittelalters überhaupt als „Staaten“ bezeichnen darf oder „Staat“ schlicht als einen allgemeinen Ordnungsbegriff für politische Ordnungen versteht, die jeweils zeitspezifisch zu erfassen sind, also auch um die Anwendbarkeit moderner Ordnungsbegriffe auf das Mittelalter. In diesem Zusammenhang ist darüber hinaus auch die frühmittelalterliche (Un-)Fähigkeit zur Ausbildung hinreichender politischer Ordnungen ebenso kontrovers wie deren zeitgenössische Wahrnehmung, ob das frühe Mittelalter, mit anderen Worten, weiterhin als archaisch-vorstaatlich betrachtet wird oder ob man ihm einen Eigenwert zubilligen und seine politischen Ordnungen aus den Vorstellungen der Epoche heraus verstehen und bewerten will.93 (Im Übrigen  : Wenn die sogenannte ‚Neue Deutsche Verfassungsgeschichte‘ das Wesen frühmittelalterlicher Staatlichkeit in der ‚Herrschaft‘ sehen wollte, löst das das tiefer liegende Problem keineswegs, weil sich auch Herrschaft natürlich jeweils zeitgemäß ändert. Genauso wenig aber lösen wir das Problem, wenn wir den Herrschaftsbegriff einfach streichen, weil er ideologisch belastet ist. Er bietet der deutschen Sprache vielmehr legitimierende Abgrenzungsmöglichkeiten gegenüber der realen „Macht“.)

Viele weitere Beispiele für innermediävistische Kontroversen ließen sich anführen. In den bisher genannten Diskussionen argumentieren in der Regel Zeitgenossen gegeneinander. Vielfach kontrovers sind aber auch (dann freilich einseitige) A u s e i n ­ a n d e r s e t z u n g e n m i t d e r f r ü h e r e n M e d i ä v i s t i k , sozusagen Kontro­ver­ sen mit der Vergangenheit, die in der Gesamtheit ein allmähliches Abrücken von älteren Positionen und einen Wandel der Mediävistik widerspiegeln. Hier ließe sich im Kontext der zuletzt genannten Diskussionen als – schon wieder ältere – Beispiele der deutschen Mediävistik ebenfalls auf die zwangsläufig erst später einsetzenden

92 Vgl. Jörg Jarnut, Anmerkungen zum Staat des frühen Mittelalters. Die Kontroverse zwischen Johannes Fried und Hans-Werner Goetz, in  : Dieter Hägermann/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut  (Hg.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 41), Berlin/New York 2004, S. 504–509. 93 Einen Ausweg aus dem Streit über „Staat“ und „Staatlichkeit“, Staat als „Herrschaft“, Personalität oder Transpersonalität sucht Jürgen Strothmann, Karolingische Staatlichkeit. Das karolingische Frankenreich als Verband der Verbände (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 116), Berlin/Boston 2019, im Verständnis des Karolingerreichs als eines übergreifenden „Verbandes“.

Kontroversen in der Mediävistik: historische Einführung 

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Aus­einandersetzungen um die ideologisch aufgeladene Begrifflichkeit der noch Jahrzehnte nachwirkenden Mediävistik der NS-Zeit (um „germanisch“, „Herrschaft“, „Gefolgschaft“, „Sippe“, „Treue“ und anderes mehr) verweisen, in die nicht zuletzt die Rechtsgeschichte der Nachkriegszeit (insbesondere Karl Kroeschell) eingegriffen hat.94 Auch hier ist allerdings Behutsamkeit gefragt. Bestimmte Phänomene einfach als „germanisch“ zu deuten, ist heute gewiss weder mehr zeitgemäß noch richtig, doch bleibt weiterhin zu fragen, wie weit sie ein spezifisch mittelalterliches bzw. zumindest frühmittelalterliches Phänomen darstellen. Der „Personenverband“ als Kennzeichen des frühmittelalterlichen Staates ist gewiss eine Überspitzung, doch spielten persönliche Beziehungen ebenso zweifelsfrei eine nicht unwichtige Rolle. Nicht zufällig wird heute schließlich in allen möglichen Bereichen so häufig nach „ N e t z w e r k e n“ gefragt (ein im Übrigen nicht minder ganz von den heutigen Verhältnissen her inspiriertes, nicht vorbehaltlos auf das Mittelalter anwendbares Phänomen, dessen digitale Veranschaulichung nicht überzeugt, solange sie nicht qualitativ vielschichtig differenziert). In der Rechtsgeschichte bilden – davon unabhängig – ferner die Diskussionen um F r i t z K e r n s „ g u t e s , a l t e s R e c h t “ – die „Kontroverse“ oszilliert hier eher zwischen „Abkehr oder Modifizierung“  ?95 – oder später um das Gewohnheitsrecht (statt schriftlichem Recht) weitere Beispiele, mit einer inneren Differenzierung im Verlauf der Diskussion zu „Rechtsgewohnheiten“.96 Doch nicht jeder Deutungswandel klärt sich im Streit. Manches Neue schiebt sich eher langsam und unauffällig neben das Traditionelle oder verdrängt es. Auch hier darf man nach den Gründen fragen und untersuchen, ob es sich (nur) um eine Erweiterung oder um eine Veränderung der Mediävistik handelt und wie sich solche Wandlungen begründen. Aus der Vielfalt der Möglichkeiten und Beweggründe kontroverser mediävistischer Themen seien hier nur noch kurz und exemplarisch einige bemerkenswerte Beispiele angesprochen. Zu nennen wäre etwa die E t h n o g e n e s e f o r s c h u n g , die, 94 Vgl. Karl Kroeschell, Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht. Ein methodischer Versuch (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien 70), Göttingen 1968  ; Ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht (Freiburger rechtsgeschichtliche Abhandlungen, n. F. 20), Berlin 1995 (mit kritischen Aufsätzen über Sippe, Gefolgschaft und Treue im frühmittelalterlichen Recht). Gegen Otto Brunners Herrschaftsdeutungen  : Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch (Historische Studien 17), Frankfurt am Main 1996. 95 Vgl. dazu Johannes Liebrecht, Fritz Kern und das gute alte Recht. Geistesgeschichte als neuer Zugang für die Mediävistik (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main 302), Frankfurt am Main 2016. 96 Vgl. Gerhard Dilcher/Heiner Lück/Reiner Schulze/Elmar Wadle/Jürgen Weitzel/Udo Wolter, Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter (Schriften zur europäischen Rechtsund Verfassungsgeschichte 6), Berlin 1992.

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in Abkehr gerade von früheren (nicht nur) deutschen Sichtweisen einer ‚Naturgegebenheit‘ von Völkern, an sich bleibende Erkenntnisse dauernder ethnischer Veränderungen zutage gefördert97 und damit auch auf davon abhängige Themen, wie die frühmittelalterlichen „Stämme“ und „Stammesherzöge“, eingewirkt hat. Gleichwohl hat sie vor allem amerikanische Kritiken provoziert, denen die Abkehr nicht weit genug geht (deren Kritik aber auch auf Missverständnissen beruht).98 Damit verwandt ist das „N a t i o n e s -Projekt“, das ein an sich gewiss nicht gerade neues Thema in neuer, kritischer und internationaler Perspektive behandelt hat und gegen lange verbreitete Überzeugungen eine ‚völkische‘ Entstehung der mittelalterlichen Nationen zurückweisen konnte99 (eine Erkenntnis, die von der Neuzeitgeschichte bedauernswerterweise noch viel zu wenig zur Kenntnis genommen wurde). Auch wenn beide Ansätze sich weithin durchsetzen konnten, ging das nicht ganz ohne Kontroversen ab. Man könnte ferner auf weit jüngere Streitigkeiten um den a r a b i s c h e n E i n f l u s s auf die europäische Kultur ebenso verweisen100 wie auf die Diskussion über  97 Auslöser war hier das Buch von Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln 1961 (Nachdr. 1977), das von der „Wiener Schule“ allerdings erheblich weiterentwickelt wurde. Als Zusammenfassung der neuen Sicht seien exemplarisch Walter Pohl, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration, Stuttgart 22005 (12002), und, von außen betrachtet, Patrick Geary, The Myth of Nations. The Medieval Origins of Europe, Princeton, NJ 2002 (dt. Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt am Main 2002), genannt.  98 Zur Kritik daran vgl. Walter Goffart, Barbarian Tides. The Migration Age and the Later Roman Empire (The Middle Age Series), Philadelphia 2006  ; Andew Gillett, Ethnogenesis  : A Contested Model of Early Medieval Europe, in  : History Compass 4, 2006, S. 241–260  ; Ders. (Hg.), On Barbarian Identity. Critical Approaches to Ethnicity in the Early Middle Ages (Studies in the Early Middle Ages 4), Turnhout 2002, und die Erwiderung von Walter Pohl, Ethnicity, Theory and Tradition  : a Response, in  : ebd., S. 221–240  ; einen gemäßigten Überblick über die ganze Debatte gibt Ders., Von der Ethnogenese zur Identitätsforschung, in  : Ders./Maximilian Diesenberger/Bernhard Zeller (Hg.), Neue Wege der Frühmittelalterforschung – Bilanz und Perspektiven (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Denkschriften 507 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 22), Wien 2018, S. 9–34, hier S. 21–30.  99 Vgl. dazu die einschlägigen Bände der Reihe „Nationes“. Eine angewandte Zusammenfassung bietet Joachim Ehlers, Die Entstehung des deutschen Reiches (Enzyklopädie deutscher Geschichte 31), München 1994 (42012). 100 Zur Diskussion um den Import vieler Pflanzen und um den arabischen Einfluss auf Landwirtschaft und Technik (Bewässerung) vgl. den Beitrag von Wendy Davies in diesem Band. Aktuell ist, vor dem Hintergrund des Verhältnisses zum Islam, zumindest in Frankreich auch der Streit auf geistesgeschichtlicher Ebene um einen arabischen Einfluss auf die mittelalterliche Geistesgeschichte in der Diskussion um das in dieser Hinsicht sehr kritische Buch von Sylvain Gouguenheim, Aristote au Mont Saint-Michel. Les racines grecques de l’Europe chrétienne, Paris 2008 (dt. Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel. Die griechischen Wurzeln des christlichen Abendlandes, Darmstadt 2011, 22013) wieder aufgebrochen.

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Inhalt und Angemessenheit des Begriffs ‚ R e c o n q u i s t a‘ für die ‚Rückeroberung‘ des islamischen Spaniens unter eine christliche Herrschaft.101 Gerade das Verhältnis der R e l i g i o n e n zueinander wird heute differenzierter gesehen. Der unbestreitbar abgrenzenden Selbstwahrnehmung der Christen102 entspricht in der Praxis keineswegs zwingend ein ganz auf Konfrontation angelegtes politisches Handeln.103 So sehr Religionen (und ihr Verhältnis zueinander) wieder ins Blickfeld der jüngsten Mediävistik getreten sind – in Deutschland sind dem Thema gleich mehrere Sonderforschungsbereiche oder Exzellenzcluster gewidmet –, so kontrovers wird schon der Begriff „Religion“ diskutiert und so unterschiedlich sind hier die Deutungen und Herangehensweisen. Nicht übersehen werden sollten aber auch die heftigen F e u d a l i s m u s d e b a t t e n innerhalb der dogmatischen marxistischen Mediävistik in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern.104 Dem Kenntnisstand des Autors zufolge gehören die genannten Beispiele vorwiegend dem früheren Mittelalter an, doch sind entsprechende Kontroversen natürlich ebenso im Hinblick auf das S p ä t m i t t e l a l t e r zu verzeichnen, beispielsweise – und nur exemplarisch zu verstehen – um den Stadtbegriff und städtische Konflikte, den Charakter der Hanse (Städtebund  ?), die sogenannten „Zunftkämpfe“ in den Städten, den Epochencharakter als „Krisenzeit“, die Auswirkungen der Pest, die Renaissance (die in England zumeist als eigene Epoche betrachtet wird) und viele weitere Probleme. Ganz anderer Art, aber zentral, sind schließlich drei miteinander verwandte Diskussionen, von denen die erste kaum zwischen Mediävisten untereinander, sondern mit der Neuzeithistorie bzw. der Politik und Öffentlichkeit geführt wird, nämlich die Frage der R e l e v a n z d e s M i t t e l a l t e r s i n d e r h e u t i g e n G e s e l l s c h a f t . Unter Mediävisten ist vielleicht die Art der Relevanz, aber verständlicherweise nicht 101 Vgl. dazu den Beitrag von Nikolas Jaspert in diesem Band. 102 Vgl. dazu vergleichend Hans-Werner Goetz, Die Wahrnehmung anderer Religionen und christlich-abendländisches Selbstverständnis im frühen und hohen Mittelalter (5.–12. Jahrhundert), 2 Bde., Berlin 2013. 103 Vgl. den Überblick von Nikolas Jaspert, The Mediterranean Other and the Other Mediterranean. Perspectives of Alterity in the Middle Ages, in  : Hans-Werner Goetz/Ian Wood (Hg.), ‘Otherness’ in the Middle Ages (International Medieval Research 25), Turnhout 2021, S. 37–74  ; Dabag/Haller/Jaspert/Lichtenberger (Hg.), New Horizons (wie Anm. 38)  ; Alexander Fidora/Matthias Tischler  (Hg.), Christlicher Norden – muslimischer Süden. Ansprüche und Wirklichkeiten von Christen, Juden und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel im Hoch- und Spätmittelalter (Erudiri sapientia 7), Münster 2011. 104 Vgl. dazu Simon Groth (Hg.), Der geschichtliche Ort der historischen Forschung  : das 20. Jahrhundert, das Lehnswesen und der Feudalismus (Normative Orders 28), Frankfurt am Main/New York 2020. Zum Spezialfall des Streits um den Stellinga-Aufstand in seiner zentralen Bedeutung für die Feudalismusdebatte vgl. den Beitrag von Simon Groth in diesem Band.

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die Sache selbst strittig. Die Relevanzfrage traf zunächst allerdings die Geschichtswissenschaft als Ganzes – und führte eine Zeit lang zu Verteidigungsschriften mit dem Tenor „Wozu noch Geschichte“  ?105 –, darin aber – und länger anhaltend – die mittelalterliche Geschichte im Besonderen. Entsprechende ‚Angriffe‘ seit den späten 1960/1970er Jahren, die eine Zurückdrängung des Mittelalters aus dem Geschichtsunterricht der Schulen wie teilweise auch der Mediävistik aus den universitären Lehrplänen und aus dem Geschichtsbewusstsein anstrebten, haben hier zu zahlreichen apologetischen Rechtfertigungen geführt, nicht zuletzt, um – als ein wichtiges Argu­ment – zugleich die ‚Aktualität‘ des Mittelalters aufzuzeigen.106 Die mediävistische Verteidigung konnte sich dabei anfangs auch auf das – inzwischen weithin verblasste – Interesse breiter gesellschaftlicher Kreise am Mittelalter, den sogenannten „Mittelalter-­Boom“, stützen, der gleichzeitig jedoch tiefe mediävistische Vorbehalte gegenüber unwissenschaftlichen Mittelalterbildern107 provozierte. Diachron betrach105 Vgl. etwa Willi Oelmüller  (Hg.), Wozu noch Geschichte  ? (Kritische Information 53), München 1977  ; Amalie Fößel/Christoph Kampmann (Hg.), Wozu Historie heute  ? Beiträge zu einer Standortbestimmung im fachübergreifenden Gespräch (Bayreuther Historische Kolloquien 10), Köln/Weimar/Wien 1996. 106 Vgl., um nur auf die deutsche Mediävistik einzugehen, Ferdinand Seibt, Ist Mediaevistik aktuell  ? in  : Géza Alföldy/Ferdinand Seibt/Albrecht Timm  (Hg.), Probleme der Geschichtswissenschaft (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien 1), Düsseldorf 1973, S. 55–64  ; aus neuzeitlicher Sicht  : Thomas Nipperdey, Die Aktualität des Mittelalters. Über die historischen Grundlagen der Modernität, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 32, 1981, S. 424–431 (abgedr. in Ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays, München 1990, S. 24–35)  ; ferner Ernst Voltmer, Das Mittelalter ist noch nicht vorbei … Über die merkwürdige Wiederentdeckung einer längst vergangenen Zeit und die verschiedenen Wege, sich ein Bild davon zu machen, in  : Alfred Haverkamp/Alfred Heit  (Hg.), Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium, München 1987, S.  185– 228  ; Hartmut Boockmann, Die Gegenwart des Mittelalters (WJS Corso), Berlin 1988  ; Joachim Heinzle  (Hg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt am Main/ Leipzig 1994  ; Johannes Fried, Die Aktualität des Mittelalters. Gegen die Überheblichkeit unserer Wissensgesellschaft, Stuttgart 2002 (32003)  ; Horst Fuhrmann, Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit, München 32010  ; Hans-Werner Goetz  (Hg.), Die Aktualität des Mittelalters (Herausforderungen. Historisch-politische Analysen 10), Bochum 2000  ; und noch Dorothea Klein (Hg.), „Überall ist Mittelalter“. Zur Aktualität einer vergangenen Epoche (Würzburger Ringvorlesungen 11), Würzburg 2015. 107 Der Aspekt des „medievalism“, der zumal in angelsächsischen Ländern geradezu einen eigenen Forschungszweig repräsentiert, sei hier aus der engeren Betrachtung ausgeklammert, betrifft aber nicht nur außerwissenschaftliche, sondern auch wissenschaftliche Mittelalterbilder. Vgl. dazu exemplarisch Peter Wapnewski  (Hg.), Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion (Germanistische Symposien. Berichtsbände 6), Stuttgart 1986  ; Leslie J. Workman (Hg., später zusammen mit Kathleen Verduin und Richard Utz), Medievalism in Europe (Studies in Medievalism), 18 Bde., Cambridge 1979–2009  ; János M. Bak/Jörg Jarnut/Pierre Monnet/Bernd Schneidmüller (Hg.), Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters, 19.–21. Jahrhundert. Uses and Abuses of the Middle Ages  : 19th–21st

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tet, dokumentieren die Mittelalterbilder zugleich den Wandel des Interesses am Mittelalter wie auch der Bedeutung des Mittelalters im Laufe der Zeit.108 Überstanden ist diese Gefahr noch keineswegs, und so wird bis heute nach Wegen gesucht, die Mediävistik relevant zu machen.109 (Auch) aus diesen Diskussionen ist die dann innermediävistische, ebenfalls bis heute andauernde Diskussion über die Frage nach dem Erkenntniswert des Mittelalters zwischen „ A k t u a l i t ä t “ u n d „ A l t e r i t ä t “ erwachsen,110 nachdem – nach Century. Usages et Mésusage du Moyen Âge du XIXe au XXIe siècle (MittelalterStudien 17), München 2009 (zu außerwissenschaftlichen ebenso wie zu wissenschaftlichen Deutungen)  ; Patrick Geary/ Gábor Klaniczay (Hg.), Manufacturing Middle Ages. Entangled History of Medievalism in Nineteenth-Century Europe (National Cultivation of Culture 6), Leiden/Boston 2013  ; David Matthews, Medievalism  : a Critical History (Medievalism 6), Woodbridge 2015  ; Andrea Schindler  (Hg., in Kooperation mit Axel Müller und Siegrid Schmidt), Alte Helden – Neue Zeiten. Die Formierung europäischer Identitäten im Spiegel der Rezeption des Mittelalters (Rezeptionskulturen in Literatur- und Mediengeschichte 7), Würzburg 2017  ; Louise d’Arcens, The Cambridge Companion to Medievalism, Cambridge 2016 (zu einzelnen Gattungen, Epochen und Ländern)  ; Richard Utz, Medievalism  : A Manifesto (Past Imperfect 1), Kalamazoo/Bradford 2017  ; zu Literatur und Kunst Sonja Kerth (Hg.), Vergangenheit als Konstrukt. Mittelalterbilder seit der Renaissance (Imagines medii aevi 30), Wiesbaden 2012  ; speziell zu Mittelalterfilmen vgl. auch Bettina Bildhauer, Medievalisms and Cinema, in  : ebd., S. 45–59, und François de la Bretèque, Le regard du cinéma sur le Moyen Âge, in  : Le Goff/Lobrichon (Hg.), Le Moyen Âge aujourd’hui (wie Anm. 4), S. 283–317  ; Ders., Le Moyen Âge au cinéma. Panorama historique et artistique, Paris 2015. 108 Vgl. dazu die erfrischend eigenwillige Deutung bei Valentin Groebner, Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen, München 2008, der (ebd., S. 123–133) den Verlust des Mittelalters als Identitätsepoche seit den 1970er Jahren konstatiert. Zum Wandel der wissenschaftlichen Deutungen des Mittelalters des 17.–20. Jahrhunderts vgl. exemplarisch im Hinblick auf die Anfänge der Epoche die gründlichen Studien von Agnès Graceffa, Les historiens et la question franque. Le peuplement franc et les Mérovingiens dans l’historiographie française et allemande des XIXe et XXe siècles (Collection Haut Moyen Âge 8), Turnhout 2009, und Ian Wood, The Modern Origins of the Early Middle Ages, Oxford 2013, sowie Graham A. Loud/Martial Staub (Hg.), The Making of Medieval History, York/Woodbridge 2017. 109 Vgl. zuletzt Chris Jones/Conor Kostick/Klaus Oschema  (Hg.), Making the Medieval Relevant. How Medieval Studies Contribute to Improving our Understanding of the Present (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Beihefte 6), Berlin/Boston 2020. Gleichwohl enthält der Band auffällig viele Beiträge mit naturwissenschaftlichen Anklängen. Das ist zweifellos wichtig, doch ist das Mittelalter keineswegs nur dann relevant, wenn es unter (heutigen) naturwissenschaftlichen Interessen betrachtet und erforscht wird. 110 Vgl. stellvertretend für vieles andere Paul Freedman/Gabrielle M. Spiegel, Medievalisms Old and New  : The Rediscovery of the Alterity in North American Medieval Studies, in  : American Historical Review 103, 1998, S. 677–704  ; Joachim Kuolt/Harald Kleinschmidt/Peter Dinzelbacher (Hg.), Das Mittelalter – unsere fremde Vergangenheit (Flugschriften der Volkshochschule Stuttgart, n. F. 6), Stuttgart 1990  ; Wilfried Hartmann (Hg.), Mittelalter. Annäherungen an eine fremde Zeit (Schriftenreihe der Universität Regensburg, n. F. 19), Regensburg 1993. Zur Hilfe der historischen Anthro-

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jahrzehntelangem Vorherrschen des Mittelalters als „Vorgeschichte“ der Gegenwart – nicht zuletzt von geschichtsdidaktischer Seite her die Alterität der Epoche als vorrangiges Erkenntnisziel propagiert wurde, dabei aber auch kontroverse Diskussionen ausgelöst hat.111 Alterität rückt „das Mittelalterliche am Mittelalter“112 ins Blickfeld und ist wesenseigene Aufgabe einer historisch arbeitenden Mediävistik, eine meines Erachtens unverzichtbare, geschichtswissenschaftliche Perspektive, um Zeitspezifisches aufzudecken. Andernfalls würde die Mediävistik tatsächlich obsolet  : Nur noch Modernes im Mittelalter zu suchen, wird der mittelalterlichen Weltsicht und den mittelalterlichen Strukturen nicht gerecht, macht Mediävistik aber auch überflüssig, denn Modernes können wir an der Gegenwart besser beobachten. Der Horizont der öden Gegenwart lässt sich hingegen nur erweitern, indem man Alternativmodelle in ihr schmales Gehirn hämmert. Gegenüber einer kontroversen Alternative „Aktualität oder Alterität“ ist meines Erachtens jedoch sehr zu betonen, dass Alterität und Aktualität keineswegs unvereinbare Gegensätze sind, denn natürlich lassen sich mittelalterliche Eigenheiten auch (und gerade) an aktuellen Themen aufzeigen (wenn man gleichzeitig berücksichtigt, welchen Stellenwert sie im Mittelalter hatten und was damals möglicherweise relevanter war, anstatt zwanghaft nach scheinbaren Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten zu fahnden, die sich meist eben nur auf einer sehr abstrakten Ebene finden). Ein „andersartiges Mittelalter“ aufzudecken, kann (und muss) daher gerne auch an Themen und Konzepten des vergleichbaren Modernen geschehen  : „Die Mediävistik muss neue Fragen aufgreifen und neue Methoden ausprobieren, wenn sie selbst aktuell bleiben will,  […] sie jedoch mittelalter- und quellengemäß beantworten, ein Spannungsverhältnis, das (wiederum) gründlicher

pologie bei der Bewertung der Alterität  : Mayke de Jong, The foreign past. Medieval historians and cultural anthropology, in  : Tijdschrift voor geschiedenis 109, 1996, S. 326–342. 111 Zur Alterität als Faktor der Relevanz des Mittelalters vgl. den Beitrag von Wolfgang Hasberg in diesem Band. Kritisch gegenüber dem Alteritätskonzept, ganz vom germanistisch-literaturwissenschaftlichen Standpunkt aus  : Manuel Braun (Hg.), Wie anders war das Mittelalter  ? Fragen an das Konzept der Alterität (Aventiuren 9), Göttingen 2013. In seinem grundlegenden, einführenden Beitrag hält Manuel Braun, Alterität als germanistisch-mediävistische Kategorie  : Kritik und Korrektiv, in  : ebd., S. 7–38, alle Argumente für eine Alterität als Grund für die Beschäftigung mit dem Mittelalter für unzureichend und hält ihnen Konstanten und Kontinuitäten entgegen, die (wie Mündlichkeit und Schriftlichkeit oder literarische Gattungen) jedoch allenfalls auf einer höchst abstrakten Ebene als solche angesehen werden können. Gerade hier bedürfte es zwecks Erkenntnis der Unterschiede einer feinen Differenzierung. 112 Vgl. Horst Fuhrmann, Über das Mittelalterliche am Mittelalter, in  : Ders., Einladung ins Mittelalter, München 1987, S. 15–38 (zuerst unter dem Titel, Das Mittelalter – Lebensformen und Leitideen, in  : Udo Reiter [Hg.], „… keiner, dem Geschichte nicht etwas Wichtiges zu sagen hätte“ [Serie Piper 159], München 1977, S. 21–45).

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Reflexion bedarf.“113 Die Relevanz des Mittelalters in der heutigen Gesellschaft liegt folglich sowohl in seiner Alterität als auch in seiner Aktualität. Ein dritter (nicht nur innermediävistischer) Diskussionsherd ist schließlich die schier endlose und immer noch ungelöste F r a g e d e r E p o c h e n g r e n z e n ,114 des Übergangs zunächst vom Altertum zum Mittelalter115 und später, zunehmend intensiver, zur Frühen Neuzeit.116 Inzwischen dürfte es längst weitgehend Konsens sein, dass Epochengrenzen erstens fließend, zweitens eher Transformationen als Brüche117 (obwohl einige Wissenschaftler das Ende der Antike immer noch als abrupten Bruch betrachten)118 und drittens vom jeweils betrachteten Aspekt abhängig sind. Wenn der Übergang vom späten Mittelalter in die Frühe Neuzeit ein unbestritten fließender ist und Kontinuitäten hier ebenso greifbar sind wie ein Nachwirken der Antike ins Frühe Mittelalter, so erscheint es mir andererseits – und auch das ist ein Streitpunkt – wenig hilfreich zu sein, das Mittelalter – von Anfang an ein Verlegenheitsbegriff – insgesamt als „Vormoderne“ bis etwa zur Französischen Revolution verlängern zu wollen.119 Das würde nämlich die enormen Wandlungen innerhalb des Mittelalters120 und erneut gegen Ende des (traditionellen) Mittelalters allzu sehr ver113 Hans-Werner Goetz, Die Aktualität des Mittelalters und die ‚Modernität‘ der Mediävistik, in  : Goetz/Jarnut (Hg.), Mediävistik im 21. Jahrhundert (wie Anm. 4), S. 11–18, hier S. 14. 114 Vgl. allgemein Hermann Heimpel, Über die Epochen der mittelalterlichen Geschichte (1946/1947), in  : Ders., Der Mensch in seiner Gegenwart. Acht historische Essays, Göttingen ²1957, S.  42–66  ; Peter Segl  (Hg.), Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Kongreßakten des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth, Sigmaringen 1997 (darin  : Hans-Werner Goetz, Das Problem der Epochengrenzen und die Epoche des Mittelalters, S. 163–172). 115 Die verschiedenen älteren Theorien dazu sind überblicksmäßig zusammengestellt von Alexander Demandt, Der Fall Roms. Die Auflösung des Römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, München 1983 (2., erw. Aufl. 2014)  ; vgl. auch Paul Egon Hübinger (Hg.), Zur Frage der Periodengrenze zwischen Altertum und Mittelalter (Wege der Forschung 51), Darmstadt 1969  ; Karl Christ (Hg.), Der Untergang des römischen Reiches (Wege der Forschung 269), Darmstadt 1970. 116 Vgl. Stephan Skalweit, Der Beginn der Neuzeit. Epochengrenze und Epochenbegriff (Erträge der Forschung 178), Darmstadt 1982. 117 Hier ist vor allem auf die Bände des ESF-Projekts „The Transformation of the Roman World“ zu verweisen. Vgl. dazu den Beitrag von Ian Wood in diesem Band. 118 Gelingen kann das nur unter perspektivischer Zuspitzung auf bestimmte Aspekte oder Ereignisse. 119 Einer der größten Verfechter der Vormoderne als gemeinsamer Epoche ist Jacques Le Goff (den das Frühmittelalter bezeichnenderweise allerdings kaum interessiert hat). Vgl. Jacques Le Goff, Un long Moyen Âge, Paris 2004  ; zuletzt Ders., Faut-il vraiment découper l’histoire en tranche  ? (La librairie du XXIe siècle), Paris 2014 (dt. Geschichte ohne Epochen  ? Ein Essay, Darmstadt 2016). 120 Vgl. dazu Albrecht Classen (Hg.), Paradigm Shifts During the Global Middle Ages and the Renaissance (Arizona Studies in the Middle Ages and the Renaissance 44), Turnhout 2019. „Paradigm shift“ meint hier allerdings nicht Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft bzw. in der Mediävis-

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schleiern, zumal wenn man das Mittelalter in der Perspektive der „Annales“ in großen Linien zeichnet  ; die Eigenarten der mittelalterlichen Geschichte drohen in einer langen „Vormoderne“ unterzugehen. Zu diesen Fragen gibt es klare (gegensätzliche) Standpunkte und Stellungnahmen. Ausdiskutiert ist das noch nicht. Die Liste der (nicht wenigen) angeführten Beispiele hat, das sei noch einmal betont, lediglich exemplarischen Charakter. Vieles andere ließe sich anführen, nicht zuletzt aus internationaler wie auch aus interdisziplinärer Perspektive. Die hier teils nur angetippten, teils etwas näher charakterisierten Kontroversen in der älteren wie in der jüngeren Mediävistik sollten zum einen und vor allem zeigen, welches Potenzial in einer bisher noch kaum in Angriff genommenen Aufarbeitung einer mediävistischen ‚Streitkultur‘ steckt, und zum anderen, damit eng verbunden, welcher Erkenntniswert einer solchen Aufarbeitung für die mediävistische Forschung selbst, ihre Fragen, methodischen Ansätze und Perspektiven innewohnt. Sie führen zum Dritten aber auch noch einmal deutlich vor Augen, wie eng Wissenschaft und Zeitgeist, Mediävistik und ‚Geschichtskultur‘, miteinander verknüpft sind. Überblickt man das vorgeführte, noch höchst unvollständige und oft nur angedeutete Spektrum, dann haben Kontroversen u n t e r s c h i e d l i c h e E n t s t e h u n g s u r s a c h e n   : Sie resultieren, als Debatten zwischen Weiterentwickeln und Beharren, teils aus dem Wandel der Geschichtswissenschaft bzw. der Mediävistik und somit auch aus dem Zeitgeist, aus veränderten Bedürfnissen und anderen Fragestellungen, die zum Widerspruch derer führen, die an dem Bisherigen festhalten (oder auch in weitgehendem Konsens sich von alten Positionen verabschieden), teils aber aus dem Anspruch neuer Richtungen, die Geschichtswissenschaft insgesamt zu bestimmen. Sie resultieren nicht minder aus unterschiedlichen Deutungen vor einem anderen politisch-weltanschaulichen Hintergrund, ideologischen Gegensätzen (wie dem vor allem die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, die Epoche des „Kalten Krieges“, beherrschenden Gegensatz zwischen der marxistisch-leninistischen und der „westlichen“ Geschichtswissenschaft), sowie aus nationalen, regionalen, religiösen oder weiteren Identifikationen.121 Sie resultieren aber auch aus unterschiedlicher Bewertung, Gewichtung und Deutung der Quellen wie auch der Untersuchungsmethoden, aus tik, sondern bedeutende Wendepunkte im Verlauf des Mittelalters (nicht nur im Abendland). Im Grunde zeigen die Aufsätze aber, wie abhängig solche Einschätzungen von der jeweiligen Perspektive sind und daher kaum ‚Allgemeingültigkeit‘ erlangen können. 121 Vgl. allgemein, allerdings nicht mediävistisch, Holger Th. Gräf/Alexander Jendorff/Pierre Monnet (Hg.), Land – Geschichte – Identität. Geschichtswahrnehmung und Geschichtskonstruktion im 19. und 20. Jahrhundert – eine historiographiekritische Bestandsaufnahme (Quellen und Forschungen zur Hessischen Geschichte 174), Darmstadt/Marburg 2016.

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dem Aufkommen neuer Themen und Ansätze und schließlich, wie in den zuletzt genannten Beispielen, aus unterschiedlicher Beurteilung der Relevanz oder Irrelevanz (und der Bedrohungen) des Mittelalters und der Mediävistik. Selbstverständlich können sich dabei auch mehrere der genannten und weitere Motivationen – denn die Liste ist keineswegs vollständig oder gar bereits analytisch abgestützt, sondern soll erst zu entsprechender Ausarbeitung anregen – miteinander verbinden oder einander überlagern. Reine Fehlinterpretationen werden sich in der allgemeinen Diskussion in der Regel schnell widerlegen lassen, bei zeitspezifischen Fehlinterpretationen (aus modernem, vorgefasstem, auch ideologischem Denken heraus) fällt das in der eigenen Zeit, deren Vorstellungen man selbst verpflichtet ist, naturgemäß weit schwerer. Zum Teil handelt es sich um rein mediävistische Kontroversen, vielfach aber um gesamtgeschichtliche, gesamtwissenschaftliche oder gesamtgesellschaftliche Debatten, an denen die Mediävistik Anteil nimmt. Dass mediävistische Diskussionen ihrerseits auf die gesamte Geschichtswissenschaft zurückwirken, ist in den letzten 50 Jahren hingegen kaum mehr zu beobachten und entspricht ihrem Bedeutungsverlust im Gesamttableau der Wissenschaften und der Gesellschaft. Das hier Vorgetragene sind zwangsläufig noch sehr vorläufige, auch subjektive Beobachtungen und Eindrücke, die einer genaueren Untersuchung bedürfen. Entscheidend an dem Forschungsstand erscheint mir nämlich noch etwas anderes  : K o n t r o v e r s e n reizen zur eigenen Stellungnahme, zur Zustimmung oder Ablehnung, werden von moderateren Mediävisten immer wieder auch harmonisiert, aber sie sind, abgesehen von der Erkenntnis der Zeitgebundenheit der älteren Geschichtswissenschaft und Mediävistik, b i s l a n g k a u m a l s s o l c h e hinterfragt oder gar a n a l y s i e r t worden. Es gibt, mit anderen Worten, in allen Jahrzehnten hinreichend Kontroversen in der Mediävistik, aber kaum Analysen dieser Kontroversen als Kon­ troversen. Was und weshalb etwas kontrovers diskutiert wird, worin sich das begründet und wo die Hintergründe liegen, wäre jedoch eine für das Selbstverständnis und die Entwicklung der jüngeren Mediävistik höchst aufschlussreiche Fragestellung. In diesem Band wird daher – wie schon in der entsprechenden Sektion des Historikertags, wenngleich auf erheblich breiterer Basis und gleichwohl immer noch höchst exemplarisch und zwangsläufig noch ganz unabgeschlossen – der Versuch unternommen, einige (schon wieder etwas ältere bis hin zu brandaktuellen) Kontro­versen nicht nur im Hinblick auf ihre I n h a l t e , A u s p r ä g u n g e n u n d A r g u m e n t e , sondern auch auf H i n t e r g r ü n d e u n d U r s a c h e n , R e i c h w e i t e u n d A u s w i r k u n g e n hin zu verfolgen, zu analysieren und zu diskutieren  : Worum dreht sich ein F o r s c h u n g s s t r e i t , was ist hier kontrovers und wie wird argumentiert  ? Wo liegen die  U r s a c h e n   d e r   D e b a t t e n   ? Weshalb und worüber kommt es zum

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Streit  ? Welches sind die methodischen und ansatzbedingten, evtl. auch nationalen sowie nicht zuletzt zeitspezifischen oder aktuellen  H i n t e r g r ü n d e der Kontroversen  ? Was ist an dem Streit bei Themen, Herangehensweisen und Stellungnahmen s p e z i f i s c h m e d i ä v i s t i s c h , eine besonders bei übergreifenden und gesamtgeschichtswissenschaftlichen Kontroversen wichtige und interessante Frage  ? Welche  R e i c h w e i t e , Relevanz und Auswirkung hat der Streit  : in der Mediävistik und für die gesamte Geschichtswissenschaft  ? Solche „Leitfragen“ können nur Anhaltspunkte oder ‚Wegweiser‘ bieten, die sich nicht schematisch an die einzelnen Beiträge anlegen lassen. Hier müssen und sollten alle Beteiligten vielmehr ihren eigenen, dem jeweiligen Gegenstand gemäßen Weg und ihr eigenes Konzept finden, um Struktur und Herangehensweise dem Einzelfall der jeweiligen Kontoversen anzupassen. Die Beiträge sind jedoch eher nicht als Plädoyers für eine Richtung in strittigen Debatten gedacht, auch wenn eine Stellungnahme dazu natürlich möglich bleibt oder auch notwendig ist, sie sollen in erster Linie vielmehr gewissermaßen „von außen“ betrachtende Analysen und Bewertungen solcher Kontroversen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven bieten. Entsprechend vielfältig und variabel sind die gewählten Zugänge. Viele Beiträge gehen dabei, völlig legitim und sinnführend, von vornherein von einer übergeordneten Perspektive aus und ‚bündeln‘ Kontroverses in bestimmten Forschungsfeldern. Bei einigen, hier bewusst einbezogenen Themenfeldern wird Kontroverses erst noch eher inhärent spürbar, ohne schon offen ausgebrochen zu sein. Das verlangt nach einer aufbereitenden, aber auch abgeklärten Stellungnahme. Andere sehen sich zu eigenem, quellengestützten Eingreifen in die Kontroversen veranlasst oder weisen Wege auf, den Streit zu überwinden. Alle Beiträge aber tragen in verschiedener Weise nicht nur zur Aufarbeitung einer „kontroversen Mediävistik“ bei, sondern eröffnen damit zugleich wichtige Einsichten in die Entwicklung, Methode und Bedeutung der jüngeren Mediävistik. Damit regt der Band hoffentlich auch zu weiteren Studien an. Das hier Vorgelegte kann nicht mehr als ein erster Anfang eines komplexen, aber in vielerlei Hinsicht interessanten Ansatzes sein.

KONTROVERSE FORSCHUNGSRICHTUNGEN UND ANSÄTZE

Thomas Ertl

Streit ums Globale Die Grenzen der mittelalterlichen Geschichte

Wie viel Globalität benötigt und verträgt die mittelalterliche Geschichte im Zeitalter der Globalisierung  ? Wie so häufig hängt die Antwort von der Definition der verwendeten Begriffe ab. Was Globalgeschichte genau ist, wird unterschiedlich beantwortet,1 und über Bezeichnung und Periodisierung des Mittelalters gehen die Meinungen ebenfalls auseinander.2 Dennoch ist der Streit ums Globale kein Streit um Begriffe, sondern um das Verständnis vom Mittelalter und seiner zeitgemäßen Erforschung. Das heißt freilich nicht, dass alle Mittelalterhistorikerinnen und -historiker sich an dieser Debatte beteiligen. Im Gegenteil, die globale Erweiterung wird bisher von einer kleinen Minderheit theoretisch erörtert und versuchsweise praktiziert.3 Doch die weitere Hinwendung zum Globalen wird sich nicht aufhalten lassen. Was bedeutet das konkret für das Mittelalter und die Mittelalterforschung  ? Müssen alle Mediävistinnen und Mediävisten auf die globale Welle  ? Und wie sieht die aus  ? Im Folgenden will ich einige Herangehensweisen, wie sie derzeit in der globalgeschichtlichen Mittelalterforschung diskutiert werden, beschreiben und die damit verbundenen Herausforderungen und Kontroversen in einen größeren Kontext stellen.4

1 Sebastian Conrad/Andreas Eckert/Ulrike Freitag  (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen (Globalgeschichte 1), Frankfurt am Main 2007  ; Sebastian Conrad, What is Global History  ?, Princeton 2016  ; Sven Beckert/Dominic Sachsenmaier  (Hg.), Global History, Globally, London 2018. 2 Vgl. dazu unten S. 74f. 3 Michael Borgolte, Europäische und globale Geschichte des Mittelalters. Erfahrungen und Perspektiven, in  : Francia 43, 2016, S. 285–302  ; Ders., Die Welt der drei Kontinente. Das Mittelalter als Periode der Globalgeschichte, in  : Sebastian Roebert/Antonella Ghignoli/Cornelia Neustadt/Sebastian Kolditz  (Hg.), Von der Ostsee zum Mittelmeer. Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte für Wolfgang Huschner, Leipzig 2019, S. 267–276  ; Catherine Holmes/Naomi Standen (Hg.), The Global Middle Ages (Past and Present 238, Supplement 13), Oxford 2018. Weitere Literatur in den Anmerkungen. 4 Einige Gedanken dieses Textes bereits in  : Thomas Ertl/Klaus Oschema, Medieval Studies after the „Global Turn“, in  : Annales HSS 76/4, 2021, S. 787–801 (English Edition  : doi  : , aufgerufen am 19.03.2023, S. 1–14). Vgl. jetzt auch Christina Brauner, Das „globale Mittelalter“ und die Gegenwart der Geschichtswissenschaft, in  : traverse 28, 2022, S. 41–62.

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Globalgeschichte als Globalisierungsgeschichte Die europäische Geschichte der Neuzeit hat auf die globale Herausforderung scheinbar eine klare Antwort gefunden  : „Europe has always been an arena of trans-continental interactions. It was as much a recipient of outside influences as it was a force transforming the world.“5 „Europe […] was repeatedly refashioned, and remade under changing global conditions. Indeed, we may say that ‚Europe‘ as we know it was essentially constituted by global conjunctures.“6 Um die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Geschichte Europas in der Neuzeit zu verstehen, sei es daher notwendig, die globalen Verflechtungen ernst zu nehmen und gebührend zu würdigen. Solche Vorstellungen und Forderungen haben dazu geführt, dass sich die globale Perspektive in der neueren und neuesten Geschichte inzwischen erfolgreich etabliert hat. Dieser Erfolg schlägt sich nicht zuletzt in neu eingerichteten Professuren für Globalgeschichte sowie in globalgeschichtlichen Masterprogrammen an vielen Universitäten in Europa und Amerika nieder. Die europäische Mittelalterforschung wurde ebenfalls vom Wind der Globalgeschichte erfasst, denn auch die vormoderne Welt war von Migration sowie Prozessen der Integration und Desintegration geprägt. Kreuzfahrer, Pilger und Kaufleute reisten übers Mittelmeer ins Heilige Land  ; die Waräger nutzten die russischen Flüsse für ihre Handelsfahrten bis zum Schwarzen Meer und Konstantinopel  ; die niederdeutschen Kaufleute gründeten Kontore zwischen Novgorod und Brügge  ; Kaufleute aus Genua und Venedig versorgten den Westen mit Gewürzen und Waren aus Asien, die sie in der Levante erwarben  ; einige Tausend Westeuropäer wanderten im 13. und 14.  Jahrhundert durch das Mongolenreich bis in den Fernen Osten, der Transsahara-Handel blühte (vgl. Abb. 1).7 Mündliche, schriftliche und bildliche Darstellungen dieser Reisen in die Ferne haben die Europäer unterhalten, ihre Phantasie beflügelt und möglicherweise auch die Energie für die europäische Expansion gesteigert.8

5 David Motadel, Globalizing Europe, in  : Annales HSS 76, 2021, S.  645–667, hier S. 663 (English Edition  : doi  : < https://doi.org/10.1017/ahsse.2022.2>, aufgerufen am 19.03.2023, S. 1–21, hier S. 17). 6 Sebastian Conrad, Global Conjunctures and the Remaking of European Political History, in  : Annales HSS 76/4, 2021, S. 685–700, hier S. 692 (English Edition  : doi , aufgerufen am 19.03.2021, S. 1–14, hier S. 8). 7 Kathleen Bickford Berzock (Hg.), Caravans of Gold, Fragments in Time. Art, Culture, and Exchange Across Medieval Saharan Africa, Evanston 2019. 8 Folker Reichert, Asien und Europa im Mittelalter. Studien zur Geschichte des Reisens, Göttingen 2014.

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Abb. 1  : Handelsrouten in Eurasien als Sinnbild der interkontinentalen Verflechtung im Mittelalter. Aber wie verflochten war Eurasien tatsächlich  ? Quelle  : Richard Smith, Trade and Commerce Across Afro-­ Eurasia, in  : Kedar/Wiesner-Hanks (Hg.), Expanding Webs (wie Anm. 15), S. 233–256, hier S. 234.

Diese Verbindungen und Beziehungen über politische und kulturelle Grenzen hinweg haben schon lange das Interesse der Forschung gefunden.9 Seit den 1990er Jahren ist das Interesse für interkulturelle Begegnungen noch zusätzlich gestiegen.10 In ihrer Gesamtheit zeigten diese Arbeiten, dass die Wahrnehmung des Fremden sowie interkulturelle Beziehungen deutliche Spuren in der Geschichte der westeuropäischen Gesellschaften hinterlassen haben – vor allem aber sind sie ein Beleg für die thematische und räumliche Öffnung der europäischen Mittelalterforschung. Dass die Organisatoren des International Medieval Congress in Leeds 2017 das Thema ‚Otherness‘ zum Tagungsthema machten, könnte man als ein weiteres Signal dafür deuten, dass die Auseinandersetzung mit dem Anderen innerhalb und außerhalb Europas sowie die Einbettung Europas in einen weiteren Kontext zu einem zentralen Thema der europäischen Mittelalterforschung geworden ist.11   9 Philipp Hedwig Külb, Die Reisen der Missionäre. Ein Buch zur Belehrung und Unterhaltung. Geschichte der Missionsreisen nach der Mongolei während des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, 3 Bde., Mainz 1860  ; Norman Daniel, Islam and the West. The Making of an Image, Edinburgh 1960. 10 Vorbildhaft Folker Reichert, Begegnungen mit China. Die Entdeckung Ostasiens im Mittelalter, Sigmaringen 1992. 11 J. Clara Chan, Medievalists, Recoiling from White Supremacy, Try to Diversify the Field, in  : The Chronicle of Higher Education (online), 16.07.2017, (aufgerufen am 04.02.2023). 12 Janet Abu-Lughod, Before European Hegemony. The World System A.D. 1250–1350, Oxford 1989. 13 Jerry H. Bentley, Old World Encounters. Cross-Cultural Contacts and Exchanges in Pre-Modern Times, Oxford 1993. 14 Jerry H. Bentley/Herbert F. Ziegler, Traditions and Encounters. A Global Perspective on the Past, Boston 2000, S. 402–508, das Zitat S. 502. 15 Benjamin Z. Kedar/Merry E. Wiesner-Hanks  (Hg.), Expanding Webs of Exchange and Conflict, 500 CE–1500 CE (Cambridge World History 5), Cambridge 2015. 16 Zum problematischen Verhältnis zwischen Globalgeschichte und Globalisierung vgl. Conrad, Global History (wie Anm.  1), S.  90–100. Zur Proto-Globalisierung vgl. Ralf Walter, Brügge, Antwerpen, Amsterdam  : Zentralorte der Weltwirtschaft im Rahmen der Proto-Globalisierung, in  : Scripta Mercaturae 46, 2017, S. 111–155  ; Diego Olstein, „Proto-globalization“ and „Proto-glocalizations“ in the Middle Millennium, in  : Kedar/Wiesner-Hanks (Hg.), Expanding Webs (wie Anm. 15), S. 665–684.

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Integration der Welt eingebettet und gleichzeitig – einmal mehr – zur Vorgeschichte der Moderne gemacht. Zuletzt tat dies Valerie Hansen in einem globalgeschichtlich angelegten Buch mit der These  : „Das Jahr 1000 markierte den Beginn der Globalisierung. Damals entstanden Handelsstraßen in der ganzen Welt, auf denen Waren, Technologien, Religionen und Menschen zirkulierten. Die daraus resultierenden Veränderungen waren so tiefgreifend, dass sie auch die einfachen Leute in Mitleidenschaft zogen.“17 Ähnlich datierte übrigens auch Johannes Fried die Anfänge der Globalisierung in das Zeitalter der Kreuzzüge. Im Unterschied zur amerikanischen China-Historikerin sind es bei dem deutschen Historiker allerdings die lateinischen Christen Westeuropas, die mit ihren Reisen über die Grenzen Europas hinaus, dem Aufbau von fernen Handelsnetzwerken und der Anhäufung von „Weltwissen“ den neuzeitlichen Aufstieg Europas und die Europäisierung der Welt vorbereiteten.18 Die Begeisterung für die Verdichtung des interkontinentalen Austausches im Mittelalter scheint manchmal keine Grenzen zu kennen. Dabei wird häufig vergessen, dass die Verflechtung der Welt bereits vor dem Jahr 500 begann,19 ja immer schon Teil der Menschheitsgeschichte gewesen ist, und dass sie dennoch am Ende des Mittelalters wesentlich geringer ausgeprägt war als nach 1800. Ausgrabungen in Çatalhöyük, einer Siedlung aus der Jungsteinzeit in der heutigen Türkei, zeigen, wie eine neolithische Gemeinschaft um 7000 v. Chr. aufgrund ihrer zentralen Rolle im Fernhandel mit Obsidian aufblühte.20 Neuere Studien über die Entstehung der städtischen Zivilisation in Mesopotamien betonen ebenfalls die Bedeutung des Fernhandels.21 War hier bereits eine Globalisierung im Gange  ? Barry Gills und Andre Gunder Frank benutzten zwar nicht diesen Begriff, sprachen aber von einem ersten Weltsystem in der Bronzezeit um 2500 v. Chr., als Handelsbeziehungen Mesopotamien, den östlichen Mittelmeerraum, Ägypten, das Indus-Tal und Teile Zentralasiens zu einer zusammenhängenden Sphäre der „Akkumulation“ verbunden hätten. In den letzten 4500 Jahren habe sich dieses ursprüngliche Weltsystem unaufhörlich

17 Valerie Hansen, Das Jahr 1000. Als die Globalisierung begann, München 2020, S. 12. 18 Johannes Fried, Gedanken und Perspektiven zur Globalisierung im Mittelalter, in  : Tillmann Lohse/ Benjamin Scheller (Hg.), Europa in der Welt des Mittelalters. Ein Colloquium für und mit Michael Borgolte, Berlin 2014, S. 211–240. 19 Für das frühe Mittelalter vgl. Michael McCormick, Origins of the European Economy. Communications and Commerce, A.D. 300–900, Cambridge 2002  ; Ders., Discovering the Early Medieval Economy, in  : Jennifer R. Davis/Michael McCormick (Hg.), The Long Morning of Medieval Europe. New Directions in Early Medieval Studies, Aldershot 2008, S. 13–18. 20 James Mellaart, The Neolithic of the Near East, New York 1975. 21 Guillermo Algaze, The Uruk World System. The Dynamics of Expansion of Early Mesopotamian Civilization, Chicago 1993.

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erweitert, um schließlich die gesamte Menschheit einzuschließen.22 Globalisierung wird hier als permanenter Teil der Menschheitsgeschichte quasi seit Urzeiten verstanden.23 Im Gegensatz zu dieser Omnipräsenz von Mobilität und Verflechtung wurde in der mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte immer auch auf die Bedeutung des regionalen Handels hingewiesen. Zwar bildeten Grundherrschaften bereits im frühen Mittelalter keine autarken wirtschaftlichen Einheiten, sondern waren auf vielfältige Weise mit dörflichen und städtischen Märkten verbunden, doch selbst im hohen Mittelalter bildeten urbane Siedlungen wirtschaftliche Knotenpunkte innerhalb begrenzter regionaler Wirtschaftsräume. Die dominierende Rolle des kleinräumigen Handels wurde selbst für so große und dynamische Verkehrsachsen wie das Mittelmeer oder die Seidenstraße festgestellt.24 Die Venezianer importierten Ende des 15.  Jahrhunderts nach Schätzungen von Eliyahu Ashtor Waren im Wert von 400.000–450.000 Dukaten aus der Levante.25 Das waren umgerechnet circa 87.000–98.000 Pfund Sterling26, circa ein Drittel des Wertes der zeitgleichen jährlichen Woll- und Wolltuchexporte aus England.27 Die innereuropäischen Warenströme überstiegen in ihrer Gesamtheit den Austausch mit Asien oder Afrika um ein Vielfaches. Die regionalen Handelsnetzwerke lassen sich zudem – auch das zeigt dieser Vergleich – nicht auf Kontinente beschränken. England handelte im späten Mittelalter mit derselben Selbstverständlichkeit mit Flandern wie Venedig mit der Levante. Die frühneuzeitliche Wirtschaftsgeschichte bestätigt dieses Bild. Nach den Berechnungen von Jan de Vries betrug der Import von Waren aus Asien nach Europa auf dem direkten Seeweg am Beginn des 16. Jahrhunderts ca. 2.000 Tonnen jährlich – während bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts jährlich circa 5.500 Tonnen

22 Barry K. Gills/Andre Gunder Frank, 5000 Years of World System History. The Cumulation of Accumulation, in  : Christopher Chase-Dunn/Thomas D. Hall (Hg.), Core/Periphery Relations in Precapitalist Worlds, Boulder 1991. 23 Zu den verschiedenen Vorschlägen vgl. David Wilkinson, Globalizations. The First Ten, Hundred, Five Thousand and Million Years, in  : Barry K. Gills/William R. Thompson (Hg.), Globalization and Global History, London 2006, S. 68–78. 24 Peregrine Horden/Nicholas Purcell, The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History, Oxford 2000  ; Valerie Hansen, The Silk Road. A New History, Oxford 2012. 25 Eliyahu Ashtor, Mediaeval Levant Trade at Its Height (1453–1498), in  : Ders., Levant Trade in the Middle Ages, Princeton 1984, S. 433–512, hier S. 478. 26 Peter Spufford, Handbook of Medieval Exchange, London 1986, S. 206. 27 John H. Munro, English Woollen Broadcloth  : Domestic and Export Prices, in Pounds Sterling and in Florentine Gold Florins  : (aufgerufen am 04.02.2023).

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Rohwolle von England auf den Kontinent transportiert wurden28 – und am Ende des 18. Jahrhunderts circa 50.000 Tonnen – das ist ein Warenvolumen, das heute auf ein einziges mittelgroßes Containerschiff passt (Abb. 2).29 Zwischen Asien und Europa waren in diesen 300 Jahren circa 19.500 Schiffe unterwegs.30 Verglichen mit 1,8 Millionen Durchfahrten durch den Sund zwischen Nord- und Ostsee in den 360 Jahren von 1497 bis 1857 ist das eine überschaubare Zahl.31 Wird Globalisierung als ein globaler Handel mit nachhaltiger und dauerhafter Auswirkung auf alle Handelspartner und als Integration der Märkte definiert, dann gab es vor 1800 keine Globalisierung in Eurasien. Ähnlich lautet die Einschätzung von Russell R. Menard, der meint, dass der frühneuzeitliche Fernhandel in der Forschung häufig überbetont worden und die internationale Wirtschaft vor 1800 nur wenig integriert gewesen sei.32 Globalisierung ist aus ökonomischer Perspektive ein Ergebnis von Entwicklungen im 19. Jahrhundert.33 Freilich ist dabei zu berücksichtigen, dass die Außenhandelsquote allein für eine Einschätzung der globalen Integration nicht ausreicht, denn auch in unserer globalisierten Welt entfielen in den USA im Jahr 2010 mehr als 85 % der Konsumausgaben auf Waren und Dienstleistungen, die in den USA produziert oder bereitgestellt wurden.34 Daten aus der Migrationsgeschichte deuten allerdings in eine ähnliche Richtung  : Im 15. Jahrhundert emigrierten nachweislich mindestens 65.000 Personen von Kontinentaleuropa nach England.35 In mittel- und oberitalienischen Städten betrug der Anteil von Nicht-Italienern teilweise bis zu zehn Prozent der Bevölkerung.36 Dagegen war der nestorianische Mönch und Diplomat Rabban Bar Ṣaumā († 1294 in Bagdad) 28 Eleanora Mary Carus-Wilson/Olive Coleman, England’s Export Trade, 1275–1547, Oxford 1963, S. 122. 29 Jan de Vries, The Limits of Globalization in the Early Modern World, in  : The Economic History Review 63, 2010, S. 710–733, S. 717f. 30 Ebd., S. 717. 31 Werner Scheltjens, Tetradas. Tonnage Estimates of Trade through the Danish Sound, 1670–1856, in  : Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 108, 2021, S. 373–394. 32 Russell R. Menard, Transport Costs and Long-range Trade, 1300–1800. Was There a European “Transport Revolution” in the Early Modern Era  ?, in  : James D. Tracy  (Hg.), Political Economy of Merchant Empires, Cambridge 1991, S. 228–275, hier S. 228 und S. 272. 33 Kevin H. O’Rourke/Jeffrey G. Williamson, When Did Globalisation Begin  ?, in  : European Review of Economic History 6, 2002, S. 23–50. Ähnlich bereits Eric J. Hobsbawm, The Age of Capital, 1848– 1875, London 1975, S. 48f. 34 Douglas A. Irwin, Free Trade Under Fire, Princeton/Oxford 42015, S. 24–26. 35 William Mark Ormrod/Bart Lambert/Jonathan S. Mackman, Immigrant England, 1300–1550, Manchester 2019. 36 Uwe Israel, Fremde aus dem Norden. Transalpine Zuwanderer im spätmittelalterlichen Italien (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 111), Tübingen 2005, S. 194.

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Abb. 2  : Das Containerschiff Ever Given steckt im Suezkanal fest (März 2021)  : Die Ever Given hat eine Tragfähigkeit von circa 200.000 Tonnen. Ende des 18. Jahrhunderts lieferten europäische Schiffe jährlich circa 50.000 Tonnen Waren von Asien nach Europa. Bildquelle (unverändert abgedruckt)  : ­ (aufgerufen am 04.02.2023), (contains modified Sentinel data 2021). Lizenz unter  : Creative Commons-Lizenz „Namensnennung 2.0 generisch“.

die einzige Person, die im Mittelalter vom Fernen Osten bis nach Westeuropa g­ e­langte.37 In die andere Richtung war die Zahl der Reisenden bekanntlich größer und betrug vermutlich einige Tausend.38 Im Vergleich zur europäischen Binnenmigration blieb die Fernreise nach Asien dennoch eine Randerscheinung. Die These von einer beginnenden Globalisierung der afro-eurasischen Welt im Mittelalter kann sich also kaum auf makroökonomische Daten oder Daten zur Migration stützen. Worauf aber dann  ? Richtig ist sicher, dass der weiträumige Austausch von Menschen, Wissen, Waren, Pflanzen und Tieren inklusive Krankheitserregern im mittelalterlichen Jahrtausend voranschritt. Ein Beispiel für die wirtschaftlichen Verflechtungen von Westeuropa, Nordafrika und Nahem Osten bilden der Baumwollhandel und die Barchentproduktion in Oberdeutschland. Mit der Erzeugung dieses Mischgewebes aus Baumwolle und Leinen breiteten sich nicht nur einheitliche Produktionstechniken, sondern auch Handelsstandards und ein grenzüberschreitendes Konsumverhalten zwischen Nordwesteuropa und der Levante aus.39 Dennoch geschah dies in Räumen und Geschwindigkeiten, die mit der Verwandlung der Welt

37 Alexander Toepel  (Hg.), Die Mönche des Kublai Khan. Die Reise der Pilger Mar Yahballaha und Rabban Sauma nach Europa, Darmstadt 2008. 38 Reichert, Begegnungen mit China (wie Anm. 10). 39 Dörte Eriskat, Baumwollhandel und Barchentproduktion im Westen des Reiches (14. bis 16.  Jahrhundert) (Studien zur Regionalgeschichte 25), Bielefeld 2021.

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seit dem 19.  Jahrhundert nicht zu vergleichen sind. Die ökonomischen und kulturellen Veränderungen erreichten auch nicht das Ausmaß, das „die einfachen Leute in Mitleidenschaft“ gezogen hätte.40 Der Wandel der Verhältnisse erfolgte nicht nur langsamer, sondern auch kleinräumiger, vermittelt über viele einzelne Etappen hinweg. Nicht ‚made in China‘ erfreute oder beunruhigte die Zeitgenossen, sondern was aus der nächsten Stadt oder Nachbarregion kam. Wenn Historikerinnen und Historiker die Globalisierung dennoch im Mittelalter beginnen lassen, tun sie dies, um Anschluss an moderne Diskussionen zu erlangen (nützlich für unser Fach), ohne aber die untersuchten Phänomene einer Quantifizierung zu unterwerfen – aus quellentechnischen Gründen (verständlich) und/oder aus methodischer Leichtfertigkeit (bedauerlich).41 Eine quantitative Einschätzung ist dabei häufig schwierig. Die im Mittelalter erfolgreichste Schilderung einer Reise ins Heilige Land und den Fernen Osten, die ein unbekannter, sich selbst Jean de Mandeville nennender Verfasser zwischen 1357 und 1371 aus verschiedenen Quellen zusammenstellte, ohne allerdings selbst gereist zu sein, ist in über 200 Handschriften in mehreren Volkssprachen überliefert. Sind 200 Abschriften in einer westeuropäischen Gesellschaft von 60–80 Millionen im späten Mittelalter ein Zeichen von Neugier und Weltkenntnis oder von mangelndem Interesse der europäischen Leser und Leserinnen an den außereuropäischen Zivilisationen  ?42 Wer seine Begrifflichkeit sorgfältig definiert, wird ohne anachronistische Konzepte auskommen, um Prozesse grenz- und kontinentüberschreitenden Austausches im Wandel der Zeit zu beschreiben. Shlomo Dov Goitein entwarf ab den 1960er Jahren in seiner ‚Mediterranean Society‘ das höchst eindrückliche und detailreiche Porträt einer jüdischen Gesellschaft, die im hohen Mittelalter beständig religiöse und politische Grenzen überschritt.43 War das Globalgeschichte avant la lettre  ? Geraldine 40 Vgl. oben Anm. 17. 41 Beides trifft zu auf Thomas Ertl, Seide, Pfeffer und Kanonen. Globalisierung im Mittelalter, Darmstadt 2008. Ähnlich Franz Halbartschlager/Andreas Obenaus/Philipp Sutner (Hg.), Seehandelsrouten. Wegbereiter der frühen Globalisierung, Wien 2019. 42 Zur demographischen Entwicklung vgl. Andreas Weigl, Bevölkerungsgeschichte Europas. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Wien 2012, S. 44. 43 Shlomo Dov Goitein, A Mediterranean Society. The Jewish Communities of the Arab World as Portrayed in the Documents of the Cairo Geniza, 6 Bde., Berkeley 1967–1993. Zu Goiteins Monumentalwerk vgl. Jessica L. Goldberg, On Reading Goitein’s Mediterranean Society. A View from Economic History, in  : Mediterranean Historical Review 26, 2011, S. 171–186. Zur Fortführung dieser Forschungen vgl. Dies., Institutions and Geographies of Trade in the Medieval Mediterranean. The Business World of the Maghribi Traders, Cambridge 2012. Zur Erweiterung dieser Forschungen hinsichtlich des Indischen Ozeans vgl. Shlomo Dov Goitein/Mordechai Friedman, India Traders of the Middle Ages. Documents from the Cairo Geniza ‘India Book’ (Études sur le judaïsme medieval 31), Leiden

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Heng schlägt beispielsweise die Begriffe „globality“ und „globalisms“ vor, um „die Vielfalt und den Charakter der globalen Verflechtungen in den früheren Epochen“ zu charakterisieren.44 Mittelalterliche Integration und Desintegration erfolgte in anderen Geschwindigkeiten, Ausmaßen und Räumen als die globale Marktintegration seit dem 19. Jahrhundert. David Abulafia beschrieb in seiner ‚Weltgeschichte der Ozeane‘ den Austausch ferner Völker über die Meere hinweg, ohne einen kontinuierlichen Strom der Globalisierung zu konstatieren. Der renommierte Mediävist schloss sein Buch im Gegenteil mit der Beobachtung, dass die Geschichte der Weltmeere der letzten vier Jahrtausende am Beginn des 21. Jahrhunderts zu Ende gegangen sei.45 Die Themen von Austausch und Verflechtung, auch im globalen Maßstab, werden in den nächsten Jahren in der Mittelalterforschung wichtig bleiben, doch Globalgeschichte als Geschichte der Globalisierung funktioniert für das Mittelalter nur mit lautem Knirschen.46 Vielleicht hat die Betonung von transnationalen Verbindungen obendrein gar nicht so sehr mit Veränderungen in der Vergangenheit zu tun, sondern mit den neuen digitalen Werkzeugen und Suchmöglichkeiten, die die Verknüpfung von Daten, Archiven und Welten blitzschnell möglich machen.47 Hinzu kommt die neue inhaltliche Herausforderung, dass Historiker und Historikerinnen nicht nur der Moderne inzwischen begonnen haben, die Globalisierung selbst als „ein Muster stetig zunehmender Integration“ im planetaren Maßstab zu problematisieren.48 Für das hohe Mittelalter konstatierte Michael Borgolte einen Prozess der „Kontinentalisierung“ Europas, der dazu geführt habe, dass sich Westeuropa „stärker auf sich selbst zurückzog als je zuvor“.49 Die Hochphase der optimistischen Erzählung globaler Integration und Verflechtung ist in der Geschichts-

2007  ; Elizabeth Lambourn, Abraham’s Luggage. A Social Life of Things in the Medieval Indian Ocean World, Cambridge 2018. 44 Geraldine Heng, Early Globalities, and Its Questions, Objectives, and Methods. An Inquiry into the State of Theory and Critique, in  : Exemplaria  : Medieval, Early Modern, Theory 26, 2014, S. 234–253, hier S. 244. 45 David Abulafia, The Boundless Sea. A Human History of the Oceans, London 2019, S. 908. 46 Ähnlich Heng, Early Globalities (wie Anm. 44), S. 244  : „To insist, therefore, that globalization can be an always-already, catch-all category across deep geopolitical time is to empty the term of the significance it bears as a political, economic, social, and cultural analysis of the contemporary present.“ 47 Lara Putnam, Transnational and the Text-Searchable. Digitized Sources and the Shadows They Cast, in  : The American Historical Review 121, 2016, S. 377–402. Skeptisch hierzu Michael Goebel, Ghostly Helpmate  : Digitization and Global History, in  : Geschichte und Gesellschaft 47, 2021, S. 1–23. 48 Frederick Cooper, Was nützt der Begriff der Globalisierung  ? Aus der Perspektive eines Afrika-Historikers, in  : Conrad/Eckert/Freitag (Hg.), Globalgeschichte (wie Anm. 1), S. 131–161, hier S. 137  ; Conrad, Global History (wie Anm. 1), S. 94–95. 49 Borgolte, Europäische und globale Geschichte (wie Anm. 3), S. 301f.

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wissenschaft (und im gesellschaftlichen Bewusstsein) möglicherweise bereits vorüber und einer Skepsis gewichen, die den Blick auf Phänomene der Desintegration oder ausbleibende Integration richtet.50 Zur ‚Dis  :konnektivität in Globalisierungsprozessen‘ arbeiten seit 2021 die Mitarbeiter eines Käte Hamburger Kollegs (KHK) an der Universität München (LMU).51 Entflechtung und Widerstand gegen Verflechtung existierten nachweislich bereits im Mittelalter.52 Die meisten Prozesse von Divergenz und Konvergenz ereigneten sich im Mittelalter allerdings nicht auf globaler, sondern auf regionaler Ebene. Wer Globalisierung sucht, kann also im Mittelalter Globalisierung finden. Dabei nimmt die Intensität der Globalisierung in der Regel mit der Ungenauigkeit der Begriffsverwendung zu. Für die Mittelalterforschung hat dies den positiven Effekt des Anschlusses an aktuell relevante Diskussionen, zugleich aber den negativen Effekt einer empirisch wenig belegten Vorgeschichte, die bei Historikerinnen und Historikern der Neuzeit mehr Kopfschütteln als Begeisterung auslöst.

Globalgeschichte als Perspektive Globalgeschichte wird von den Vertretern und Vertreterinnen des Ansatzes unterschiedlich definiert. Die Gleichsetzung mit der Geschichte der Globalisierung ist eine Variante unter mehreren. Den gemeinsamen Nenner vieler unterschiedlicher Ansätze bildet die Überwindung der nationalstaatlichen Perspektive und die damit häufig einhergehende Erweiterung über Europa hinaus. In einer extremen Ausdehnung wird Globalgeschichte in der Tradition der früheren Universal- und Weltgeschichte als die Geschichte der gesamten Welt und aller menschlichen Gesellschaften betrachtet.53 Diese ganzheitlichen Ansätze haben unterschiedliche Zeitspannen im Blick  : von einem „globalen Moment“ über ein Jahrhundert oder Jahrtausende bis zum Anfang der Menschheitsgeschichte. Für die mittelalterliche Geschichte haben diese Ansätze wenig Anschlusspotenzial, löst sich die Epoche doch entweder im Strom der Zeit auf oder kann den Anspruch auf die geographische Totalität der Globalität nicht 50 Jeremy Adelman, What is Global History Now  ?, in  : Aeon, 2017, (aufgerufen am 04.02.2023). 51 (aufgerufen am 04.02.2023). 52 Peter Hess, Resisting Pluralization and Globalization in German Culture, 1490–1540. Visions of a Nation in Decline, Berlin/Boston 2020. 53 Michael Borgolte, Wie Weltgeschichte erforscht werden kann. Ein Projekt zum interkulturellen Vergleich im mittelalterlichen Jahrtausend, in  : Zeitschrift für historische Forschung 43, 2016, S. 1–26, hier S. 2f.

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erfüllen.54 Wenig überzeugend erscheint mir zudem die Gleichsetzung von Globalgeschichte mit der Geschichte von fernen und ‚exotischen‘ Ländern, denn damit würde nur eine, europäische Perspektive durch eine andere ersetzt. Vielversprechender für die Mittelalterforschung ist das Verständnis der Globalgeschichte als eine Perspektive, die sich für die strukturelle Transformation von Regionen und Gesellschaften aufgrund von inneren und äußeren Anstößen und Reaktionen interessiert. Oder in den Worten von Sebastian Conrad  : „The decision to focus on large forms of structured transformation and integration is a choice that sets global history apart from other approaches.“55 Globalgeschichte als Perspektive ist der Versuch, soziale Gruppen und Gesellschaften nicht als feste Einheiten auf ihrer Reise durch die Zeiten zu verfolgen und die sozialen Einheiten auch nicht zu essenzialisieren,56 sondern den Austausch zwischen Gesellschaften und ihr zeitgleiches Reagieren auf äußere Einflüsse in den Vordergrund zu rücken. Ein solcher Ansatz muss nicht auf weltweit nachweisbare Entwicklungen zielen, sondern kann Kontaktzonen unterschiedlicher Reichweite untersuchen. Damit könnte sich „Globalgeschichte als Perspektive“ auch in der Vormoderne gewinnbringend einsetzen lassen. Dies gilt einerseits für die Makroebene. Ronnie Ellenblum lieferte mit seiner Studie zu ‚Climate Change and the Decline of the East‘ ein Beispiel für ein solches Vorgehen. In seinen Augen herrschten in mehreren Regionen im Nahen Osten sowie in den zentralasiatischen Steppen im 10. und 11.  Jahrhundert extreme Klimabedingungen mit ungewöhnlichen Kälte- und Trockenperioden, die zu Hungersnöten und sozialen Unruhen führten. Miserable Wetterbedingungen trieben Nomaden mit ihren Herden aus Zentralasien in Richtung Süden und Westen. Diese Migration hatte nachhaltige Auswirkungen auf die politische Landkarte des Nahen Ostens, da sich die Seldschuken in Persien und in Mesopotamien niederließen und die Byzantiner 1071 in der Schlacht von Manzikert besiegten. Damit begann die Einwanderung der Türken nach Anatolien. Der byzantinische Kaiser wandte sich in seiner Not an den Papst und bat um militärische Hilfe. Papst Urban II. rief tatsächlich die westlichen Christen zu den Waffen, und die Kreuzritter konnten sich im politisch und wirtschaftlich destabilisierten Nahen Osten erfolgreich festsetzen, Jerusalem erobern und eigene Herrschaften er-

54 Aber siehe z. B. Ryan Hatch, 751 C.E.: Watershed Events in the Carolingian, Byzantine, Abbasid and Tang Empires, in  : Albrecht Classen (Hg.), Paradigm Shifts During the Global Middle Ages and Renaissance, Turnhout 2019, S. 1–16. Zur Methode der historischen Gleichzeitigkeit im mittelalterlichen Maßstab vgl. z. B. Giusto Traina, 428 AD. An Ordinary Year at the End of the Roman Empire, Princeton 2009. 55 Conrad, Global History (wie Anm. 1), S. 72 sowie S. 101–114. 56 Borgolte, Europäische und globale Geschichte (wie Anm. 3), S. 295.

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richten.57 Ellenblum betrachtet das Klima als die treibende Kraft, die die unterschiedlichen Akteure und Gesellschaften reagieren lässt. Globalgeschichtlich ist in dieser Studie der Fokus auf die komplexe Interaktion zwischen Gesellschaften, angestoßen durch großräumige, konventionelle räumliche Grenzen der Geschichtswissenschaft übersteigende umweltgeschichtliche Wandlungen. Ellenblums Thesen stießen nicht nur auf Zuspruch,58 das mindert jedoch nicht ihren exemplarischen Charakter für das Potenzial globalgeschichtlicher Ansätze in der mittelalterlichen Geschichte. Die Untersuchung von strukturellen Transformationen von Gesellschaften, die sich wechselseitig beeinflussten, wurde in der neuzeitlichen Globalgeschichte inzwischen häufig durchgeführt. Großbritannien und Indien entwickelten sich im 19.  Jahrhundert beispielsweise sehr unterschiedlich. Die jeweiligen Entwicklungen geschahen jedoch nicht unabhängig voneinander, sondern wurden durch die engen Beziehungen zwischen beiden Ländern geformt. „Sie existierten als zwei Seiten derselben Medaille, aber jede mit einem ganz anderen Gesicht.“59 Die vergleichende Geschichte sich wechselseitig beeinflussender Gesellschaften wird auch in der Mittelalterforschung praktiziert. In seiner Studie zu Gewalt gegen Minderheiten in Spanien im 14.  Jahrhundert verglich David Nirenberg beispielsweise den Hirtenkreuzzug (Shepherds’ Crusade  ; Croisade des pastoureaux) von 1320 in Frankreich mit den zeitgleichen Ereignissen in Aragón und Katalonien. Sein vergleichendes Vorgehen begründete Nirenberg mit folgenden Worten  : „Such comparisons have one considerable value  : they make us ask why two areas that share a common stock of stereotypes and attitudes toward minorities nevertheless respond so differently to accusations drawn from that stock. In short, they force us to move from the collective to the local and back again.“60 In seiner Untersuchung beschrieb Nirenberg vor dem Hintergrund der kollektiven Einstellungen gegenüber Minderheiten nördlich und südlich der Pyrenäen die divergierenden Ereignisse und Transformationen in beiden Regionen. Die Ursachen für diese Unterschiede liegen für ihn in den jeweils spezifischen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der betroffenen Königreiche.

57 Ronnie Ellenblum, The Collapse of the Eastern Mediterranean. Climate Change and the Decline of the East, 950–1072, Cambridge 2012. 58 Johannes Preiser-Kapeller, A Collapse of the Eastern Mediterranean  ? New Results and Theories on the Interplay Between Climate and Societies in Byzantium and the Near East, ca. 1000–1200 AD., in  : Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik 65, 2015, S. 195–242, hier S. 203  : „A more nuanced picture of the actual interplay between nomadic mobility and neighbouring polities is necessary.“ 59 David Washbrook, Problems in Global History, in  : Maxine Berg (Hg.), Writing the History of the Global. Challenges for the 21st Century, Oxford 2013, S. 21–31, hier S. 28. 60 David Nirenberg, Communities of Violence. Persecution of Minorities in the Middle Ages, Princeton 1996, S. 11.

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Noch einen Schritt weiter ging Patrick Geary in seinem Vergleich der Entstehungsgeschichten der Zulu in Afrika und der frühmittelalterlichen Völker in Europa. Seiner Meinung nach enthält „die Geschichte über die Ethnogenese der Zulu dieselben mythischen, literarischen und klassischen Motive, die uns in der europäischen Geschichte begegnen.“61 Das ist kein Zufall, denn in beiden Fällen waren es europäische Autoren, die die Geschichte der jeweiligen Völker mit den klassischen europäischen Konzepten der Ethnogenese beschrieben. Moderne Strukturen wurden dabei in die Vergangenheit zurückprojiziert und mit biblischen und klassischen Vorstellungen von ethnisch einheitlichen Völkern verbunden. Die Geschichtsforschung der letzten Jahrzehnte ist von solchen Annahmen abgerückt und vertritt heute die Ansicht, dass die Analyseeinheiten Clan oder Volk in Wirklichkeit „keine stabilen, objektiven und überdauernden Gegebenheiten darstellten“, sondern „ihre Zusammensetzung, innere Organisation, Kultur, ihre Tradition, ethnischen Affiliationen und Grenzen“ ständig veränderten und insbesondere die Begegnung mit einer fremden Macht – die Briten im einen Fall, die Römer im anderen – den Wandel beschleunigte.62 Zweifellos hilft ein solcher Vergleich, der räumlich global ist, seinen gemeinsamen Nenner jedoch in den europäischen Konzepten der Ethnogenese findet, den Wandel der europäischen Geschichtswissenschaft besser zu verstehen. Vergleichende Untersuchungen mit einem Fokus auf „large forms of structured transformation and integration“ (Sebastian Conrad) wurden in der mittelalterlichen Geschichte in ganz unterschiedlichen Themenbereichen durchgeführt. Phänomene wie die Völkerwanderung am Beginn des Mittelalters oder die regional unterschiedlichen Reaktionen auf die Pest im 14. Jahrhundert lassen sich kaum als isolierte Nationalgeschichten erzählen. Michel Pauly hat die Geschichte Luxemburgs aus einer solchen Perspektive der Beziehungen und des Austausches beschrieben.63 Auf anschauliche Weise hat Robert Bartlett die „Europäisierung Europas“ als einen Prozess beschrieben, in dessen Zuge große Teile des Kontinents eine wachsende kulturelle Homogenität auszubilden begannen.64 Dieser Vorgang verlief allerdings keineswegs friedlich und freiwillig. Vorangetrieben wurde er von einer kriegerischen Aristokratie und christlichen 61 Patrick J. Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt am Main 2002, S. 177–195, das Zitat S. 178. 62 Ebd., S. 186–189. 63 Michel Pauly, Was unterscheidet die Muschelkette aus Waldbillig von der Igeler Säule  ? Von der transzur metanationalen Perspektive in der Nationalgeschichte am Beispiel Luxemburgs, in  : Connections. A Journal for Historians and Area Specialists, published 22.06.2007, (aufgerufen am 04.02.2023). 64 Robert Bartlett, The Making of Europe. Conquest, Colonization and Cultural Change, London 1993, S. 950–1350.

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Missionaren auf der Suche nach neuen Herrschaftsräumen, neuen Einkünften und neuen Gläubigen. Die Folgen waren dramatisch, insbesondere für die Gesellschaften an den Rändern Europas, die sich Eroberung und Assimilierung zunächst entgegenstellten, im Laufe des hohen Mittelalters marginalisiert oder ‚europäisiert‘ wurden und diese Entwicklung häufig schon nach einigen Generation wiederum positiv würdigten. Methodisch hat es die mittelalterliche Geschichtsforschung demnach schon seit langer Zeit mit Phänomenen zu tun, die in der neueren Geschichte unter anderem aus einer globalhistorischen Transformationsperspektive untersucht werden. Transkulturelle Verflechtungsprozesse bilden eine wesentliche Grundlage der mittelalterlichen Geschichte Europas und auch der mittelalterlichen Geschichtsforschung.65 Ist es aber sinnvoll, die Transformation mittelalterlicher Gesellschaften, die beständig äußeren und inneren Einflüssen ausgesetzt waren, methodisch einer „Globalgeschichte als Perspektive“ zuzuordnen  ? Autoren wie David Nirenberg wären vermutlich überrascht über eine solche Etikettierung ihrer Arbeiten. Lässt sich Globalgeschichte tatsächlich als eine Perspektive beschreiben – unabhängig von Fragen des Raumes  ? Der Begriff der „Mikrogeschichte des Globalen“ („Micro-histories of the global“) scheint das zu suggerieren.66 Andererseits werden Begriffe wie Konnektivität, Synchronität und Kausalität in der Mittelalterforschung verwendet, ohne dass dies mit globalgeschichtlichen Ambitionen verbunden sein muss.67 Es bleibt also konzeptionell und räumlich die Frage  : Wo beginnt global  ? Die Vorkämpfer und Vorkämpferinnen der Globalgeschichte sind angetreten, die konventionellen räumlichen Einheiten historischen Arbeitens – meist Nationalstaaten, aber auch Kontinente – in Frage zu stellen und zu überwinden. Einher geht damit in der Regel eine explizite Abkehr vom Eurozentrismus. Für dieses Ziel eignen sich sicherlich auch individuelle Lebensläufe und Regionalstudien, in deren Geschichte sich globale Prozesse spiegeln. In den Mikrogeschichten des Mittelalters lässt sich das Individuelle und Regionale dagegen nicht oder nur sehr vage räumlich mit einem Mindestmaß an Globalität verbinden.68 Globalgeschichten des Mittelalters benötigen daher wohl weiterhin die

65 Wolfram Drews/Christian Scholl (Hg.), Transkulturelle Verflechtungsprozesse in der Vormoderne (Das Mittelalter. Beihefte 3), Berlin 2016. 66 Conrad, Global History (wie Anm. 1), S. 129–132  ; Jan de Vries, Playing with Scales. The Global and the Micro, the Macro and the Nano, in  : Past & Present 242, 2019, S. 23–36. 67 Stefan Esders, Kingdoms of the Empire, AD 608–616. Mediterrane Konnektivität, Synchronität und Kausalität als analytisches und darstellerisches Problem der Frühmittelalterforschung, in  : Walter Pohl/Maximilian Diesenberger/Bernhard Zeller (Hg.), Neue Wege der Frühmittelalterforschung. Bilanz und Perspektiven, Wien 2018, S. 93–136. 68 Zum Ansatz vgl. John-Paul Ghobrial, Global History and Microhistory (Past and Present, Supplement 14), Oxford 2019 (mit Beiträgen zur neuzeitlichen Geschichte).

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Perspektive über die geographischen Grenzen Europas hinaus. Ellenblums oben genannte Studie zum Nahen Osten wäre nach dieser Einschätzung ein Stück Globalgeschichte. Untersuchungen von mittelalterlichen europäischen Gesellschaften, die sich durch Verflechtungsprozesse wandeln, kommen dagegen wohl auch in Zukunft ohne das Label Globalgeschichte aus.

Globalgeschichte als Vergleichsgeschichte Besonders dort, wo Beziehungen fehlen, liegt der Vergleich nahe, auch wenn der Vergleich ohne Interaktion zwischen den Vergleichsgesellschaften nach mancher Lesart gar nicht zur Globalgeschichte gerechnet wird.69 In der Mittelalterforschung erfreut sich der Vergleich Europas mit anderen Teilen der Welt dauerhafter Beliebtheit. Dabei dominieren zwei Herangehensweisen  : Der Mikro-Vergleich von Detailphänomenen sowie der Makro-Vergleich der Kontinente als Einheiten. Der Makro-Vergleich Europas mit anderen Kontinenten, insbesondere mit Asien, ist mit großen, vielleicht sogar unüberwindlichen Herausforderungen verbunden. Bereits vor der Verwissenschaftlichung unseres Fachs im 19. Jahrhundert warfen mittelalterliche und frühneuzeitliche Chronisten vergleichende Blicke über die Grenzen ihrer Heimat hinaus und gelangten in der Regel zur Erkenntnis der Überlegenheit der eigenen Gemeinschaft.70 Die eigene Superiorität war auch für die Westeuropäer eine Selbstverständlichkeit. Um 1900 begannen Max Weber und andere mit wissenschaftlichen Methoden nach den Ursachen der Dominanz Europas in ihrer Gegenwart zu suchen.71 Seither gehen die vorgelegten Thesen und Argumente über den zeitlichen Beginn und die Ursachen für die kontinentalen Entwicklungsunterschiede weit auseinander. Die Spannbreite der Argumente für Europas Aufstieg reicht von geographischen und klimatischen Voraussetzungen bis zu kulturellen und institutionellen Faktoren. In der Regel gehen die verschiedenen Autorinnen und Autoren von einem Faktorenbündel aus, wobei die Datierung und Gewichtung der einzelnen Faktoren jeweils unterschiedlich ausfällt. Die dabei zutage tretenden chronologischen und inhaltlichen Differenzen legen die Vermutung nahe, dass die (mittelalterlichen) Ursachen für Europas Vorherrschaft im 19. Jahrhundert niemals abschließend geklärt 69 Conrad, Global History (wie Anm. 1), S. 38–43. 70 Hans-Werner Goetz, On the Universality of Universal History, in  : Jean-Philippe Genet (Hg.), L’historiographie médiévale en Europe, Paris 1991, S. 247–261. 71 Matti Viikari, Max Weber, der okzidentale Rationalismus, der Feudalismus und das europäische Mittelalter, in  : Jürgen Kocka (Hg.), Max Weber, der Historiker (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 73), Göttingen 1986, S. 158–172.

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werden können und die Antworten mehr über die persönlichen Standpunkte der Autoren und Autorinnen als über die tatsächlichen historischen Verläufe aussagen.72 In den letzten Jahrzehnten wurde der Sonderweg Europas häufig mit einer nur hier anzutreffenden Anhäufung von Wissen in einem kompetitiven, aber regulierten Wettbewerbssystem begründet. Die politische Fragmentierung habe im westlichen Europa eine besondere Dynamik entfaltet, die durch Mechanismen der politischen und wirtschaftlichen Partizipation reguliert worden sei. Verwandtschaftsverhältnisse und Familienstrukturen hätten daneben ihren Teil dazu beigetragen, dass das demographische Wachstum beschränkt und das Humankapital gesteigert worden sei. Auf diesen Grundlagen sei ein einzigartiger Innovationsraum entstanden, in dem außereuropäische Erfindungen (Schießpulver, Kompass etc.) besonders erfolgreich rezipiert, adaptiert und europäisiert worden seien. In umfassender Weise hat zuletzt Bernd Roeck dieses Argumentationsbündel herangezogen und auf über 1000 Seiten in seinem Sinne gestaltet, um den „Morgen der Welt“ in der europäischen Renaissance beginnen zu lassen.73 Makro-Vergleiche dieser Art waren in der Vergangenheit beliebt und verkauften sich gut. Michael Mitterauers ‚Warum Europa  ?‘ ist inzwischen in der fünften Auflage erschienen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt.74 Die Meistererzählungen von Europas Aufstieg werden vermutlich auch in Zukunft ein großes Lesepublikum finden, wie der Erfolg von Bernd Roecks monumentalem Werk annehmen lässt. Innerhalb der akademischen Welt stoßen sie jedoch zunehmend auf Skepsis und Kritik. Vorgeworfen wird den europäischen Aufstiegsgeschichten eine eurozentrische Grundhaltung und ein fortwirkendes Superioritätsdenken, das den Europäern besondere kulturelle oder intellektuelle Eigenschaften zuschreibe, um die militärische und wirtschaftliche Dominanz Europas im 19.  Jahrhundert im Rückblick zu erklären.75 Methodisch erfolge die Untersuchung nichteuropäischer Kulturen mit der Hilfe von Universalbegriffen und Konzepten, die von der westlichen Wissenschaft entwickelt worden seien.76 Daneben hat die Vorstellung von einem einheitlichen Europa, das dem Rest vergleichend gegenübergestellt wird, in den letzten Jahrzehnten 72 Thomas Ertl, Bauern und Banker. Wirtschaft im Mittelalter, Darmstadt 2021, S. 227–244. 73 Bernd Roeck, Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, München 2018. 74 Michael Mitterauer, Warum Europa  ? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 5 2009. Zu diesem Buch vgl. Ludolf Kuchenbuch, Kontrastierter Okzident. Bemerkungen zu Michael Mitterauers Buch „Warum Europa  ? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs“, in  : Historische Anthropologie 14, 2006, S. 410–429. 75 Almut Höfert, Europa und der Nahe Osten. Der transkulturelle Vergleich in der Vormoderne und die Meistererzählungen über den Islam, in  : Historische Zeitschrift 287, 2008, S. 561–597, hier S. 563–565. 76 Ebd., S. 568.

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viel Kritik hervorgerufen. In der deutschsprachigen Mittelalterforschung war es vorrangig Michael Borgolte, der wiederholt auf die Heterogenität Europas hingewiesen und davor gewarnt hat, eine Herkunftserzählung im Hinblick auf den europäischen Integrationsprozess der Gegenwart zu erfinden.77 Jedes mittelalterliche Europa aus historischer Feder ist in Borgoltes Augen nämlich „ein besonders subjektives Kon­ strukt.“78 So bleibt der Großvergleich von Zivilisationen einerseits aufgrund des anhaltenden öffentlichen Interesses eine lohnenswerte Aufgabe für Historiker und Historikerinnen, zusätzlich angefeuert von einer ins Schwanken geratenen Selbstgewissheit des Westens im Angesicht von Chinas wirtschaftlichem und politischem Aufstieg. Andererseits stellt die unüberblickbare Komplexität des zivilisatorischen Totalvergleichs offenbar eine kaum zu bewältigende Herausforderung dar, die ohne die immer ähnlichen Simplifizierungsstrategien nicht überwunden werden kann. Eine Verschiebung der Perspektiven zeigt sich gelegentlich im individuellen Sinneswandel. So hat Robert I. Moore 2009 von einer „ersten großen Divergenz“ („First Great Divergence“) zwischen Europa und China im 11. Jahrhundert gesprochen. Im Jahr 2015 distanzierte er sich jedoch von einer solchen „vereinfachenden teleologischen Polarisierung“ und schlug stattdessen vor, die Transformationen in Eurasien im hohen Mittelalter als „große Diversifizierung“ („Great Diversification“) zu interpretieren.79 Vielleicht löst sich das Problem von selbst  : Beim Blick aus dem Anthropozän zurück ins Holozän erinnern die Diskussionen um Europas Aufstieg und die Great Divergence ein wenig an einen nationalen Wettlauf um Einfluss und Reichtum. Inzwischen haben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vieler Fachrichtungen die Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur zu einem Thema mit historischer Dimension gemacht. Vielleicht sollten die bereits in der Vormoderne sichtbaren Schattenseiten der wirtschaftlichen Entwicklung und die Widerstände gegen den sogenannten Aufstieg in eine globalisierte Zukunft eine noch stärkere Rolle in der historischen Forschung spielen  ? Der Gesamtvergleich von Zivilisationen beruht methodisch auf dem Vergleich von Einzelphänomenen und deren systematischer Gesamtbewertung. Der interkul77 Michael Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt, 1050–1250, Stuttgart 2002  ; Ders. Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Mittelalters 300 bis 1400 n. Chr., München 2006. 78 Borgolte, Europäische und globale Geschichte (wie Anm. 3), S. 287. Vgl. dazu auch Klaus Oschema, Bilder von Europa im Mittelalter (Mittelalter-Forschungen 43), Ostfildern 2013. 79 Robert I. I. Moore, Medieval Europe in World History, in  : Carol Lansing/Edward D. English (Hg.), A Companion to the Medieval World, Malden 2009, S. 563–580  ; Ders., The First Great Divergence  ?, in  : Medieval Worlds 1, 2015, S. 16–24.

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turelle Vergleich von Einzelphänomenen kommt indes auch ohne diese Syntheseleistung und die damit verbundenen Schwierigkeiten aus.80 Eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition besitzt beispielsweise der Vergleich von Lehnswesen und Feudalismus in Europa, Japan und anderen Teilen der Welt.81 In den letzten Jahrzehnten kamen weitere Themen hinzu. Die Politikgeschichte nimmt dabei weiterhin eine dominierende Rolle ein. Entsprechend erschienen in den letzten 20 Jahren komparatistische Studien zu monarchischen Herrschaftsformen, dynastischen Legitimationsstrategien und herrschaftlicher Repräsentation in Europa und im Nahen Osten,82 aber auch zu Formen konsensualer Herrschaft83 und zu imperialen Verwaltungspraktiken in Eurasien.84 Der Vergleich zielte dabei auf ganze Kontinente oder spezielle Regionen.85 Die Attraktivität des Themenfeldes zeigt sich auch in der 2016 erfolgten Einrichtung eines Sonderforschungsbereichs zu ‚Macht und Herrschaft. Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‘ an der Universität Bonn.86 Der Siegeszug der Globalgeschichte hat dafür gesorgt, dass es inzwischen kaum ein Thema gibt, das nicht auch aus globalgeschichtlicher Perspektive beschrieben, analy80 Höfert, Europa und der Nahe Osten (wie Anm. 75), S. 562–563. 81 Terence J. Byres/Harbans Mukhia  (Hg.), Feudalism and Non-European Societies, London 1986  ; Reinhard Zöllner, Die Ludowinger und die Takeda. Feudale Herrschaft in Thüringen und Kai no kuni, Bonn 1995. 82 Wolfram Drews, Die Karolinger und die Abbasiden von Bagdad. Legitimationsstrategien frühmittelalterlicher Herrscherdynastien im transkulturellen Vergleich (Europa im Mittelalter 12), Berlin 2009  ; Jenny Rahel Oesterle, Kalifat und Königtum. Herrschaftsrepräsentation der Fatimiden, Ottonen und Salier an religiösen Hochfesten, Darmstadt 2009  ; Wolfram Drews/Antje Flüchter (Hg.), Monarchische Herrschaftsformen der Vormoderne in transkultureller Perspektive, Berlin 2015  ; Almut Höfert, Kaisertum und Kalifat. Der imperiale Monotheismus im Früh- und Hochmittelalter (Globalgeschichte 21), Frankfurt am Main 2015  ; Hilde De Weerdt/Franz-Julius Morche (Hg.), Political Communication in Chinese and European History, 800–1600, Amsterdam 2021  ; Catherine Holmes/Jonathan Shepard/Jo van Steenbergen/Björn K.U. Weiler (Hg.), Political Culture in The Latin West, Byzantium and the Islamic World, c.700–c.1500. A Framework for Comparing Three Spheres, Cambridge 2021. 83 Thomas Ertl/Tilmann Trausch  (Hg.), Command versus Consent. Representation and Interpretation of Power in the Late Medieval Eurasian World (The Medieval History Journal 19), Neu-Delhi 2016. 84 Maaike van Berkel/Jeroen Frans Jozef Duindam (Hg.), Prince, Pen, and Sword. Eurasian Perspectives, Leiden 2018. 85 Anne Haour, Rulers, Warriors, Traders, Clerics. The Central Sahel and the North Sea, 800–1500, Oxford 2007  ; Victor Liebermann, Charter State Collapse in Southeast Asia, ca. 1250–1400, as a Problem in Regional and World History, in  : The American Historical Review 116, 2011, S. 937–963. 86 Zum SFB 1167 vgl. Matthias Becher, Macht und Herrschaft. Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive, in  : Matthias Becher/Stephan Conermann/Linda Dohmen (Hg.). Macht und Herrschaft transkulturell  : Vormoderne Konfigurationen und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2018, S. 11–41.

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siert und verglichen wurde. Dazu gehören etwa Textilien, Kleiderordnungen und die materielle Kultur87 oder der Umgang mit Schriftlichkeit, die Buchkultur und die Produktion von Wissen.88 Untersucht wurden daneben auch die Historiographie und die religiöse Komplexität in Afro-Eurasien89 oder Stiftungen vor dem Hintergrund verschiedener Religionen.90 Auch wirtschaftsgeschichtliche Ansätze wurden aus global vergleichender Perspektive erprobt.91 Vielfältig wie die Themen sind die Methoden, die dabei zur Anwendung kommen. Während in manchen Studien der interkulturelle Vergleich als Mittel für die Suche nach Gemeinsamkeiten, Differenzen und Beziehungen zwischen Gesellschaften dient, steht in anderen Studien das Sammeln und Nebeneinanderstellen von Einzelerscheinungen im Vordergrund. Auch dort, wo am Vergleich festgehalten wird, werden neue Wege getestet. Catherine Holmes und Naomi Standen entwarfen in einer von ihnen an prominenter Stelle herausgegebenen Sammlung von Beiträgen zum globalen Mittelalter eine „combinative method“, die „Fallstudien eher kombiniert als formal vergleicht und das Lokale und das Globale in ein dynamisches Gespräch bringt“.92 Die Kombinationsmethode soll es möglich machen, die historischen Unterschiede herauszustellen, ohne sich einer Gesamterzählung zu unterwerfen. Wo dennoch der Versuch unternommen wird, eine Globalgeschichte des Mittelalters zu präsentieren, bilden vergleichende Synthesen weiterhin wichtige Bausteine – beispielsweise im Mittelalter-Band der Cambridge World History,93 in dem 87 Dagmar Schäfer/Giorgio Riello/Luca Molà (Hg.), Threads of Global Desire. Silk in the Pre-modern World, Woodbridge 2019  ; Giorgio Riello/Ulinka Rublack (Hg.), The Right to Dress. Sumptuary Laws in a Global Perspective, c. 1200–1800, Cambridge 2019. 88 Thomas Ertl, Francis of Assisi and the Written Word. A Transcultural Comparison of the Veneration and Disposal of Sacred Texts, in  : Michael Brauer  (Hg.), Kulturen des Buches in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Heidelberg 2017, S. 139–156  ; Bryan C. Keene (Hg.), Toward a Global Middle Ages. Encountering the World Through Illuminated Manuscripts, Los Angeles 2019  ; Patrick Karl O’Brien, Contrasting Cosmographies for the Development of Science in Pre-Industrial Europe and Late Imperial China. A Bibliographical Survey, in  : Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 108, 2021, S. 162–189. 89 Walter Pohl/Veronika Wieser (Hg.), Writing History Across Medieval Eurasia, Turnhout 2021  ; Dorothea Weltecke, Minderheiten und Mehrheiten. Erkundungen religiöser Komplexität im mittelalterlichen Afro-Eurasien, Berlin 2020. 90 Borgolte, Wie Weltgeschichte erforscht werden kann (wie Anm. 53). 91 Chris Wickham, Jiangnan Style. Doing Global Economic History in the Medieval Period, in  : John H. Arnold/Matthew Hilton/Jan Rüger (Hg.), History after Hobsbawm. Writing the Past for the Twenty-First Century, Oxford 2017, S. 121–140. 92 Catherine Holmes/Naomi Standen, Introduction  : Towards a Global Middle Ages, in  : Dies., Global Middle Ages (wie Anm. 3), S. 1–44, hier 3  ; vgl. dazu Roy Flechner, Review Article  : How Far is Global  ?, in  : Medieval Worlds 12, 2020, S. 255–266, hier S. 256f. 93 Kedar/Wiesner-Hanks (Hg.), Expanding Webs (wie Anm. 15).

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Autoren und Autorinnen Reichsbildungen, technologische Innovationen, Gesellschaft und Geschlecht, Bildungseinrichtungen, Kriegswesen, Hofkulturen und anderes miteinander vergleichen. Trotz der grundsätzlichen Charakterisierung des Mittelalters als Epoche der Verflechtung und „Proto-Globalisierung“ wird ein vielfältiges, teilweise ungeordnetes Bild von Einzelbeobachtungen entworfen. Multidirektionale Globalgeschichte und teleologische Globalisierungsgeschichte stehen in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis nebeneinander.94 Viele globalgeschichtlich angelegte transkulturelle Vergleiche und darauf aufbauende Synthesen haben das Ziel, die Vielfalt der mittelalterlichen Welt zu präsentieren und das europäische Mittelalter darin einzubetten und zu ‚provinzialisieren‘. Während zunächst vor allem politikgeschichtliche Themen im Vordergrund standen, existiert inzwischen eine unübersehbare Fülle von globalgeschichtlichen Vergleichen. Die Grenze zwischen europäisch und global bleibt dabei fließend und willkürlich. Sind vergleichende Studien zur multireligiösen Mittelmeerwelt bereits Globalgeschichte  ? Aus europäischer Sicht vielleicht nicht, aus chinesischer Perspektive aber schon  ? Ist das Globale immer das Ferne  ? Unbestimmt bleibt auch das Spannungsverhältnis zwischen linearer Gesamterzählung und Sammlung des Partikularen. An die Stelle des Eurozentrismus tritt eine Begeisterung für das Fremde und Exotische, die auf das Ordnen der bunten globalen Vergangenheit keinen Wert legt und alle Partikularitäten als gleichwertig betrachtet. So sind beispielsweise die in den letzten Jahren erschienenen Sammelbände zur Globalgeschichte europäischer Länder und Regionen angelegt. In diesen Büchern präsentieren die Autoren und Autorinnen in Hunderten kurzen Artikeln Ereignisse und Prozesse von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart, in denen die fortwährende transkulturelle Verflechtung der jeweiligen Nation exemplarisch deutlich wird.95 Für die Geschichtsschreibung stellt die Auflösung der historischen Erzählung eine Herausforderung dar. Impetus für diese globalgeschichtliche Entgrenzung des Mittelalters ist aber weniger der Wunsch nach neuen globalen Synthesen als die Abkehr von alten Mustern einer Vergangenheitskultur, die im Wesentlichen von nationalen Traditionen im 20. Jahrhundert geformt worden ist. Das Ergebnis sind tonnenschwere Handbücher, die dem Leser und der Leserin möglichst alles aus allen Perspektiven zumuten  : „When a dread of reductionism mates with a horror of political incorrect94 Vgl. Michael Borgolte/Raimund Schulz, Die neue „Cambridge World History“, in  : Historische Zeitschrift 304, 2017, S. 123–146, hier S. 139–141. 95 Patrick Boucheron (Hg.), Histoire mondiale de la France, Paris 2017  ; Andrea Giardina (Hg.), Storia mondiale dell’Italia, Rom/Bari 2017  ; Xosé M. Núñez Seixas (Hg.), Historia mundial de España, Barcelona 2018  ; Giuseppe Barone  (Hg.), Storia mondiale della Sicilia, Rom/Bari 2018  ; Andreas Fahrmeir (Hg.), Deutschland  : Globalgeschichte einer Nation, München 2020.

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ness, the offspring is all too often simple banality  : ‚Over the period from 1870 to 1945 the world became both a more familiar and a stranger place.‘ Didn’t we know this already  ?“96 Spannende Bücher sind das selten.

Globales Mittelalter als Herausforderung Peter Frankopan kritisierte die Mittelalterforschung vor einigen Jahren in seinem programmatischen Beitrag zur ersten Ausgabe des ‚Journal of Medieval Worlds‘ mit deutlichen Worten  : „The Medieval World as presented by modern scholarship is one that is exclusively and aggressively centred on western Europe, to the exclusion by fault or design of other parts of the world.“97 In der Tat ist die europäische Mittelalterforschung auf das westliche Europa konzentriert. Die große Mehrzahl der europäischen Historikerinnen und Historiker arbeitet nicht einmal über Europa, sondern über Themen im eigenen Land und publiziert die Ergebnisse in der eigenen Sprache.98 Die europäische Mittelalterforschung ist noch immer zu großen Teilen national fragmentiert und steht damit in einer bis ins Mittelalter zurückreichenden und im 19. Jahrhundert nochmals verstärkten nationalen und nationalistischen Tradition.99 Man könnte daraus den Schluss ziehen  : „Forget the ‚global Middle Age‘  : here [sc. in Western medieval research] is it difficult to secure the inclusion of even the Slavic world, for all that it has been amply demonstrated that its exclusion makes nonsense of European history in both medieval and modern time“.100 Das Globale erscheint tatsächlich mitunter wie der zweite Schritt vor dem ersten, angeregt nicht so sehr von tatsächlichen interkulturellen Beziehungsgeschichten, sondern von der Faszination des Exotischen und der Anziehungskraft des letzten Trends. Die Gründe für die nationale Rahmung der Mediävistik liegen auf der Hand  : Die Erinnerungskulturen in Europa sind stark national geprägt und entsprechend richtet  96 David A. Bell, This Is What Happens When Historians Overuse the Idea of the Network, in  : New Republic, October 26, 2013  ; zugleich Besprechung von  : Emily S. Rosenberg  (Hg.), A World Connecting  : 1870–1945 (A History of the World), Cambridge 2012.  97 Peter Frankopan, Why We Need to Think About the Global Middle Ages, in  : Journal of Medieval Worlds 1, 2019, S. 5–10, hier S. 8.  98 Frits van Oostrom, Spatial Struggles. Medieval Studies between Nationalism and Globalization, in  : The Journal of English and Germanic Philology 105, 2006, S. 5–24, hier S. 5–12.  99 Rudolf Schieffer, Weltgeltung und nationale Verführung. Die deutschsprachige Mediävistik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1918, in  : Peter Moraw/Rudolf Schieffer (Hg.), Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen 62), Ostfildern 2005, S. 39–61. Aus byzantinischer Perspektive vgl. Anthony Kaldellis, Byzantium Unbound, Leeds 2019, S. 82. 100 Kaldellis, Byzantium Unbound (wie Anm. 99), S. 84.

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sich das historische Interesse vorrangig auf die jeweils „eigene“ nationale Vergangenheit. Die moderne Geschichtswissenschaft entstand im 19. Jahrhundert im Dienst dieser europäischen Nationalismen und half mit, „Nationen wie Möchte-gern-Nationen“ zu erschaffen.101 Die Ausbildungs-, Patronage- und Karrieresysteme innerhalb der europäischen Geschichtswissenschaft sind weiterhin vorrangig national ausgerichtet. Die Sprachkenntnisse der Mittelalterhistoriker und -historikerinnen beschränken sich in der Regel auf westeuropäische Sprachen. Trotz dieser Beharrungstendenzen hat eine räumliche Erweiterung der Mittelalterforschung stattgefunden, die sich nicht zuletzt in der Einrichtung neuer Fachzeitschriften niedergeschlagen hat.102 Dieser Drang zum Globalen hat innere und äußere Ursachen. Eine innere Ursache liegt in der personellen Zusammensetzung der professionellen Mittelalterforschung, die sich in den letzten 50 Jahren diversifiziert hat. Dieser Prozess geht allerdings nur langsam voran  : Die circa 130 Professoren und Professorinnen der mittelalterlichen Geschichte in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind fast alle in diesen Ländern aufgewachsen, der Anteil der inner-europäischen Migranten ist äußerst gering, liegt unter 5 Prozent und umfasst hauptsächlich Migration aus einem anderen deutschsprachigen Land. Niemand von ihnen hat Vorfahren aus dem globalen Süden.103 In den USA ist die soziale und ethnische Diversität der Mittelalterforschung hingegen größer. Die hauptsächlich von US-amerikanischen Mediävisten und Mediävistinnen getragene Gruppe von ‚Medievalists of Color (MoC)‘ verfolgt mit ihrer Initiative unter anderem das Ziel, die Diversität im Fach zu steigern, Rassismus zurückzudrängen und einen von weißen Gelehrten genormten Kanon zu überwinden.104 Die Wirkung der US-amerikanischen Forschung auf die europäische Mittelalterforschung beruht daher unter anderem auf zwei strukturellen Besonderheiten  : einerseits auf einer geringeren Verankerung US-amerikanischer Mediävistinnen und Mediävisten in nationalen europäischen Traditionen und andererseits durch eine größere Diversität des Fachkollegiums.105 Die Überwindung nationaler Untersuchungsperspektiven und die verstärkte Einbindung Europas in einen afro-eurasischen Rahmen geht damit einher  ; ebenso das steigende Interesse an 101 Geary, Europäische Völker (wie Anm. 61), S. 25–53, die Zitate S. 25 und S. 40. 102 The Medieval History Journal (seit 1998)  ; Journal of Transcultural Studies (seit 2010)  ; The Medieval Globe (seit 2014)  ; Medieval Worlds (seit 2014)  ; Journal of Medieval Worlds (seit 2019). 103 In Deutschland haben 11 % der Professorinnen und Professoren einen „Migrationshintergrund“, vgl. Ole Engel, Professoren mit Migrationshintergrund. Benachteiligte Minderheit oder Protagonisten internationaler Exzellenz, Berlin 2021. 104 Medievalists of Color (MoC)  : (aufgerufen am 05.02.2023). 105 Patrick J. Geary, Medieval Studies in America, in  : Ders., Writing History. Identity, Conflict, and Memory in the Middle Ages, Bukarest 2012, S. 257–266.

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postkolonialen Konzepten bzw. an Themen wie race und Identität.106 Speerspitze der Entwicklung waren dabei häufig die Literaturwissenschaften.107 Der personelle und inhaltliche Wandel wird über kurz oder lang auch die Mittelalterforschung in Europa selbst erfassen. Wie er genau aussehen wird, lässt sich noch kaum abschätzen. Die innere Veränderung der Mediävistik ist Konsequenz eines äußeren, allgemeinen Wandels der europäischen Gesellschaften und ihrer Erinnerungskulturen. Aufgrund der Globalisierung und der politischen Transformationen seit 1990 haben sich die europäischen Erinnerungskulturen diversifiziert. Die Nachkriegserzählungen mit ihrer Konzentration auf den zweiten Weltkrieg, den Holocaust und die europäische Integration hat ihre übermächtige Dominanz eingebüßt. An ihre Seite traten vielfältige neue Formen der Erinnerung, die über den Kontinent hinausreichen und die koloniale Vergangenheit verstärkt ins Bewusstsein riefen. Die Diversität der europäischen Gesellschaften und das wachsende Selbstbewusstsein von ethnischen, religiösen, weltanschaulichen oder queeren Gruppen erzeugen ebenfalls neuartige Ansprüche an eine Erinnerungskultur, die über die konventionellen Nationalerinnerungen der Nachkriegszeit hinausgehen.108 Die Globalgeschichte, auch in ihrer mittelalterlichen Form, ist eine Antwort auf diese inneren und äußeren Wandlungsprozesse. Das Aufbrechen alter Gewissheiten und der Aufbruch zu neuen Ufern bringen allerdings neue Herausforderungen und Gegenwind mit sich. Eine grundsätzliche Herausforderung bildet die Frage, ob das Mittelalter als Epoche und Begriff die Globalisierung der Geschichtswissenschaft überstehen kann und soll. Die Kritik an beidem ist älter als die Globalgeschichte. In Deutschland warb Otto Brunner für ein „Alteuropa“, das die Vormoderne von Homer bis Goethe umfassen sollte. In Frankreich plädierte Jacques Le Goff für eine Ausweitung des Mittelalters bis zum Beginn der Moderne um 1800, ohne den Begriff selbst zu problematisieren.109 Der global turn hat diesem Unbehagen eine neue Qualität verliehen. So hat Bernhard Jussen die völlige Abschaffung des Begriffs Mittelalter gefordert, da er falsche Assoziationen wecke und das Relikt eines europazentrierten Geschichts106 Jerome Jeffrey Cohen (Hg.), The Postcolonial Middle Ages (The New Middle Ages Series), New York 2000  ; Kathleen Davis/Nadia Altschul (Hg.), Medievalisms in the Postcolonial World. The Idea of ‘The Middle Ages’ Outside Europe, Baltimore 2009. 107 Cord J. Whitaker, Black Metaphors. How Modern Racism Emerged from Medieval Race-Thinking, Philadelphia 2019. 108 Sebastian Conrad, Erinnerung im globalen Zeitalter. Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert, in  : Merkur 867, 2021, S. 5–17. 109 Vgl. dazu Christian Jaser, Lieber „Tausend Jahre Verlegenheit“  ? Die deutsche und französische Mittelalterforschung zwischen ‚Alteuropa‘, ‚long moyen âge‘ und ‚vieille Europe‘, in  : Christian Jaser/ Ute Lotz-Heumann/Matthias Pohlig (Hg.), Alteuropa – Vormoderne – Neue Zeit. Epochen und Dynamiken (1200–1800), Berlin 2012, S. 79–94.

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verständnisses sei.110 Ähnliche Überlegungen liegen dem Vorschlag zugrunde, den Epochenbegriff Mittelalter in Anführungszeichen zu setzen und auf diese Weise zu problematisieren.111 Michael Borgolte schlug vor, die Epoche als „eufrasisches Zeitalter“ zu bezeichnen.112 Die Herausgeber des fünften Bandes der Cambridge World History, der die Zeit von 500 bis 1500 AD umfasst, nennen die Epoche das Middle Millennium.113 Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer lehnt die konventionelle europäische Periodisierung dagegen ab und schlägt stattdessen eine andere Dreiteilung vor  : eine Periode der ausgehenden Spätantike bis zum 11. Jahrhundert, ein Zeitalter der Neuformierung vom 11. bis zum 18. Jahrhundert und eine Moderne ab 1800.114 Pragmatischer beschrieben dagegen Catherine Holmes und Naomi Standen die Haltung ihrer britischen Forschungsgruppe zum Problem der Periodisierung  : „We have learned to live with ‚medieval‘ and ‚Middle Ages‘, provided they are used in value-free ways, and always in hope that a more suitable label will emerge in due course.“115 Neue Vorschläge und alte Konventionen stehen also spannungsreich nebeneinander und die weitere Entwicklung ist nicht vorhersehbar. Nach meiner Prognose wird das Mittelalter nicht verschwinden, sondern auf doppelte Weise munter weiterleben  : auf einer populären Ebene, aufgeladen mit einer Fülle widersprüchlicher exotischer Imaginationen, sowie auf einer akademischen Ebene, eingebettet in eine wachsende Vielfalt von Alternativbegriffen, entwickelt nicht zuletzt in Zusammenarbeit mit Fachleuten der verschiedenen Weltregionen. In problemorientierten Studien auch globalgeschichtlicher Art stellt sich das Problem ohnehin nicht, da nicht Epochen, sondern Phänomene in ihrer zeitlichen Verankerung diskutiert oder verglichen 110 Bernhard Jussen, Richtig denken im falschen Rahmen  ? Warum das „Mittelalter“ nicht in den Lehrplan gehört, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67, 2016, S. 558–576. Zu diesen „Assoziationen“ vgl. Paul Freedman/Gabriele M. Spiegel, Medievalisms Old and New. The Rediscovery of Alterity in North American Medieval Studies, in  : American Historical Review 103, 1998, S. 677–704. 111 Heng, Early Globalities (wie Anm. 44), S. 235–239. 112 Michael Borgolte, Debatte um Begriff  : Hat sich das Mittelalter erledigt  ?, in  : FAZ am 03.09.2018. 113 Benjamin Z. Kedar/Merry E. Wiesner-Hanks, Introduction, in  : Dies.  (Hg.), Expanding Webs (wie Anm. 15), 1–40, hier S. 1 und passim. 114 Thomas Bauer, Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient, München 2018. Zur Verwendung des Begriffs Mittelalter für die Geschichte des Nahen Ostens und des Islam als „anachronistic, misleading, and disorienting“ vgl. Daniel Martin Varisco, Making “Medieval” Islam Meaningful, in  : Medieval Encounters 13, 2007, S. 385–412, hier S. 386. Zur Kritik am Mittelalterbegriff aus byzantinischer Sicht vgl. Kaldellis, Byzantium Unbound (wie Anm. 99), S. 75–92 (Byzantium Was Not Medieval). 115 Catherine Holmes/Naomi Standen, Defining the Global Middle Ages (AHRC Research Network), in  : Medieval Worlds 1, 2015, S. 106–117, hier S. 112. Auf anderen Wegen kommen zu ähnlichen Ergebnissen Kathleen Davis/Michael Puett, Periodization and ‘The Medieval Globe’. A Conversation, in  : The Medieval Globe 2, 2016, S. 1–14.

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werden. Zuletzt sollte man bei dem Streit um die Epoche und ihre Bezeichnung nicht vergessen, dass es nicht nur um die Sache, sondern auch um akademische Verteilungskämpfe geht. Wird das Mittelalter oder gar die Vormoderne global gedacht, so hat dies unter Umständen Auswirkungen nicht nur auf das Profil, sondern auch auf die Anzahl von Stellen. Ob zum Vorteil der Mediävistik, darf bezweifelt werden. Eine mittelalterliche Globalgeschichte bringt auch neue methodische Herausforderungen mit sich. Europäische Mediävisten und Mediävistinnen beherrschen in der Regel mehrere moderne europäische Sprachen, deren mittelalterliche Vorläufer sowie die Quellensprache Latein. Globalgeschichtliche Forschungsarbeit setzt darüber hin­ aus weitere Sprachen voraus, deren Kenntnis unter Mittelalterhistorikern und -historikerinnen an westlichen Universitäten wenig verbreitet sind. Sollen Persisch, Chinesisch, Mongolisch, Arabisch, Georgisch, Armenisch, Tibetisch, Koreanisch oder Syrisch an die Stelle der europäischen Sprachen treten oder sie ergänzen  ? Es zeichnet die Arbeit der führenden Historiker und Historikerinnen des Mongolenreichs aus, dass sie häufig mehrere der genannten Sprachen beherrschen und das Mongolenreich dadurch globalgeschichtlich in den Blick nehmen können.116 Doch wer will dies zum generellen Anspruch erheben  ? Ein Ausweg ist die Arbeit mit moderner englischsprachiger Literatur und übersetzten Quelleneditionen bzw. die Kooperation mit Fachleuten, die ihre außereuropäische Expertise und Sprachkenntnisse einbringen. Gefestigt und weiter beschleunigt wurde die Dominanz des Englischen durch die Digitalisierung und die verfügbaren online-Ressourcen, die in einem beträchtlichen Ausmaß von amerikanischen Anbietern in englischer Sprache zur Verfügung gestellt werden.117 Die Arbeit mit Übersetzungen und die Dominanz des Englischen als Publikationssprache erleichtern die internationale Zusammenarbeit, verleihen der Globalgeschichte allerdings auch eine Aura des oberflächlichen Dilettierens sowie eines neo-imperialistischen Forschungsunternehmens, das von den westlichen Universitäten aus die Welt erneut „erobert“ und ihren Narrativen unterwirft.118 Die methodischen und sprachlichen Herausforderungen sind ein Grund dafür, dass sich viele Mittelalterhistoriker und -historikerinnen bisher der Globalgeschichte nicht geöffnet haben oder ihr sogar ablehnend gegenüberstehen. Das ist nicht schlimm, da die mittelalterliche Globalgeschichte auch in Zukunft immer nur einen Teilbereich der Mediävistik bilden wird. Ernster und vehementer ist eine inhaltliche Kritik, die an der Globalgeschichte genau das ablehnt, wofür sie steht, nämlich die 116 Michal Biran, The Mongol Empire in World History. The State of the Field, in  : History Compass 11/11, 2013, S. 1021–1033, hier S. 1022. 117 Goebel, Ghostly Helpmate (wie Anm. 47), S. 17–21. 118 Adelman, What is Global History Now  ? (wie Anm. 50).

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Überwindung und Relativierung des Nationalen. Der Streit ums Globale erscheint damit als Ausdruck eines allgemeinen Spannungsverhältnisses zwischen „Globalisten“ und „Regionalisten“,119 wobei diese beiden Begriffe jeweils äußerst heterogene Positionen umfassen. Der Globalismus reicht von der Wertschätzung des Kulturaustausches bis zum lautstarken Kampf gegen eurozentrische und nationale Sichtweisen. Im Becken des Regionalismus tummeln sich moderate Vertreter, die die regionale und nationale Verankerung der Geschichtsschreibung für nicht grundsätzlich falsch halten, aber auch radikale Verfechter eines nationalistischen und rassistischen Weltbildes. Die Unvereinbarkeit der unterschiedlichen Positionen zeigte sich exemplarisch an der widersprüchlichen Rezeption der Histoire mondiale de la France, die einerseits als zeitgemäße Einbettung Frankreichs in die Welt begrüßt und andererseits als Zerstörung der französischen Identität kritisiert wurde.120 In diesem Gefecht der Worte und manchmal auch der Taten spielen das Mittelalter und die Mittelalterrezeption eine nicht zu unterschätzende Rolle.121 So wurde beispielsweise die Abschaffung der Bezeichnung „Anglo-Saxons“ gefordert, weil es sich um einen „white supremacist term“ handle. Das scheint mir ziemlich weit zu gehen und nähert sich gefährlich einer „Cancel Culture“. Andererseits greifen nationalistische Bewegungen wie die Alt-Right (Alternative Right) in den USA bewusst auf Symbole eines verzerrten ‚weißgewaschenen‘ Mittelalters zurück, um ihre rassistischen Vorstellungen historisch zu legitimieren.122 Die zunehmende Entgrenzung durch die Globalisierung weckt offenbar Gegenreaktionen der Abgrenzung und Re-Nationalisierung. Allein schon aus diesem Grund besitzt die Globalgeschichte einen wichtigen Platz im Repertoire der aktuellen Mittelalterforschung – selbst wenn eine allgemeingültige Definition des Ansatzes nicht vorliegt, das globalhistorische Arbeiten häufig zu Dilettantismus und Plattitüden neigt und die Globalgeschichte des Mittelalters die kleinräumige Forschung niemals ersetzen kann oder will. Wenn schließlich eines Tages allgemein bekannt sein sollte, dass auch die mittelalterliche Welt von Austausch und Mobilität geprägt gewesen ist, und wenn dann ausreichend zeitgemäßes Überblickswissen über alle Räume und Kulturen zwischen 500 und

119 Arlie Russell Hochschild, Strangers in Their Own Land. Anger and Mourning on the American Right, New York 2016. 120 Damiano Matasci, L’histoire mondiale  : un modèle historiographique en question, in  : Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71, 2021, S. 333–346. Vgl. oben Anm. 95. 121 Louise D’Arcens, Medievalism. From Nationalist and Colonial Past to Global Future, in  : Parergon 36, 2019, S. 179–182. 122 Andrew B. R. Elliott, Internet Medievalism and the White Middle Ages, in  : History Compass 16, 2018, S. 1–10.

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1500 vorliegt,123 kann die Mittelalterforschung den kontroversen Begriff und die global-umfassenden Ambitionen möglicherweise wieder ad acta legen. Bis dahin leisten die Historiker und Historikerinnen, die sich der globalen Herausforderung stellen, unserem Fach und seiner Außenwahrnehmung einen wichtigen Dienst – ganz gleich, ob sie den Begriff verwenden oder nicht.

123 Vgl. zuletzt die Synthese von Michael Borgolte, Die Welten des Mittelalters. Globalgeschichte eines Jahrtausends, München 2022.

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Mediävistische Geschlechtergeschichte – immer noch ein Reizthema? Ist die Frauen- und Geschlechtergeschichte immer noch ein Reizthema  ? In den Anfängen der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ist das so gewesen. Gestritten wurde ganz grundsätzlich über die Relevanz und Umsetzung der neuen Frauen- und Geschlechtergeschichte. Die Aufgeregtheit der frühen Jahre und die Grundsätzlichkeit der Debatten über die Notwendigkeit einer ‚eigenen Geschichte der Frauen‘,1 die aufzuarbeiten und zu schreiben die Historikerinnen zunächst einmal als ihre Aufgabe betrachteten, wurden in der deutschen Geschichtswissenschaft anlässlich des 3. Historikerinnentreffens in Bielefeld 1981 offenkundig, an dem männliche Kollegen nicht teilnehmen konnten. In einem „offenen Brief “ protestierte Jürgen Kocka gegen den Ausschluss als diskriminierende Maßnahme und Verletzung des Grundprinzips einer qualifizierten allgemeinen Teilhabe an der Wissenschaft, benannte aber auch „die bestehende Benachteiligung von Frauen hinsichtlich des Zugangs zu den Wissenschaftsstellen (insbesondere den höher eingestuften)“ als strukturelles Problem an deutschen Universitäten und erachtete eine „stärkere Berücksichtigung von frauengeschichtlichen Elementen in der allgemeinen Sozialgeschichte“ als „wünschenswert“.2 Annette Kuhn antwortete und wies die Unterstellung diskriminierender Absichten scharf zurück, machte darüber hinaus aber deutlich, dass sich die „Frauengeschichte […] nicht einfach in die vorgegebene Begrifflichkeit und in die Denkstrukturen der traditionellen, ‚allgemeinen‘ Sozialgeschichte zwängen“ lasse und selbstverständlich „wie jede ernst zu nehmende Wissenschaft […] auf den wissenschaftlichen Diskurs, der prinzipiell keinen ausschließt, angewiesen“ sei.3 Der Schlagabtausch zwischen Annette Kuhn und Jürgen Kocka spiegelt Schwierigkeiten und Missverständnisse wider, mit denen sich Historikerinnen konfrontiert 1 So der deutsche Titel eines aus dem Englischen übersetzten zweibändigen Überblicks („A History of their Own“, erschienen 1988)  : Bonnie S. Anderson/Judith P. Zinsser, Eine eigene Geschichte. Frauen in Europa, 2 Bde., Zürich 1992. 2 Jürgen Kocka, Brief an Frau Oubaid von der Geschäftsstelle Frauenforschung (1981), zit. nach dem Abdruck in einer Antwort darauf von Annette Kuhn, Behinderungen statt Solidarität, in  : Geschichtsdidaktik 6, 1981, S. 312–314, der Brief S. 312f. 3 Kuhn, Behinderungen (wie Anm. 2), S. 313f.

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sahen, die Frauenforschung und Frauenförderung in einen Zusammenhang stellten und in einem männlich dominierten und als frauenfeindlich wahrgenommenen deutschen Wissenschaftssystem nach neuen Wegen suchten, die Geschichtsschreibung und die Geschichte der Frauen auf neue Grundlagen zu stellen und voranzubringen.4 Diese Bemühungen lösten in der ‚Zunft‘ der Historiker Verunsicherung aus und wurden als Ausdruck feministischer Selbsterfahrung und unwissenschaftlicher Parteilichkeit diskreditiert.5 Doch nicht nur Historiker hatten Vorbehalte, sondern auch Historikerinnen, während andererseits männliche Kollegen den neuen Fragestellungen durchaus aufgeschlossen gegenüberstanden.6 Ein Reizwort war – und ist auch heute noch – der Begriff „feministische Geschichtswissenschaft“, verstanden als eine „historische Forschung am Leitfaden des Interesses an der Befreiung der Frau“.7 Das führte zu Irritationen, auch in der deutschen Mediävistik, nicht 4 Eine kritische Aufarbeitung der geführten Debatte und ihrer Argumente leistet Gisela Bock, Frauenforschung – das Ende der Vernunft in der Geschichte  ?, in  : Geschichtsdidaktik 7, 1982, S. 105–109. 5 In seiner Replik auf Annette Kuhn problematisiert Kocka eine „Wissenschaft von Frauen über Frauen“ und begründet sein Verständnis von einer Frauengeschichte als Teil einer allgemeinen Sozialgeschichte  : Jürgen Kocka, Frauengeschichte zwischen Ideologie und Wissenschaft, in  : Geschichtsdidaktik 7, 1982, S. 99–104 (nachgedruckt unter dem Titel  : Kontroversen um Frauengeschichte, in  : Ders., Geschichte und Aufklärung. Aufsätze, Göttingen 1989, S. 45–52, 170f. Zum Vorwurf der Parteilichkeit und fehlenden Objektivität vgl. Jörn Rüsen, „Schöne“ Parteilichkeit. Feminismus und Objektivität in der Geschichtswissenschaft, in  : Ursula A. J. Becher/Jörn Rüsen  (Hg.), Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproblemen der historischen Frauenforschung (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 725), Frankfurt am Main 1988, S. 517–540. 6 Zu den Anfängen und den Schwierigkeiten der universitären Verankerung der Frauengeschichte  : Angelika Schaser/Falko Schnicke, Der lange Marsch in die Institution. Zur Etablierung der Frauenund Geschlechtergeschichte an westdeutschen Universitäten (1970–1990), in  : Jahrbuch für Universitätsgeschichte 16, 2013, S. 79–110  ; vgl. die Repliken darauf von Gisela Bock, „Ende der Vernunft“  ? Eine Replik auf Angelika Schaser und Falko Schnicke, Der lange Marsch in die Institution. Zur Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an westdeutschen Universitäten (1970–1990), in  : Jahrbuch für Universitätsgeschichte 17, 2014, S. 257–265, und die Antwort von Schaser/Schnicke, Zur Historisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Eine Erwiderung auf Gisela Bock, in  : ebd., S. 273–276. Vgl. auch Andrea Griesebner, Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Wien 22012, S. 73–90 und die Rezension zur ersten Auflage des Bandes von Eva Blimlinger, in  : H-Soz-Kult vom 21.06.2006 (, aufgerufen am 09.03.2022). 7 So Herta Nagl–Docekal, Feministische Geschichtswissenschaft – ein unverzichtbares Projekt, in  : L’Homme. Z.F.G. 1, 1990, S. 7–18, das Zitat S. 18. Der Begriff der „feministischen Geschichtswissenschaft“ hat in Deutschland kaum eine Rolle gespielt, vgl. die Einleitung in diesem Band von Hans-Werner Goetz, S. 20. Inzwischen ist der Begriff als „Label … mit wenigen Ausnahmen verschwunden“, so Gabriella Hauch, Geschichtswissenschaften  : von einer Leitwissenschaft in der Frauen- und Geschlechterforschung zur institutionalisierten Disziplin, in  : Beate Kortendiek/Birgit Riegraf/Katja Sabisch  (Hg.), Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, 2  Bde. (Geschlecht und Gesell-

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jedoch zu ausgeprägten Deutungsstreitigkeiten. Kritische Einwände erhob etwa Edith Ennen, die Grande Dame der Mittelalterforschung, die mit ihrer erstmals 1984 erschienenen Monographie „Frauen im Mittelalter“, mit insgesamt sechs Auflagen, einen Bestseller schrieb. Ihre Vorbehalte resultierten aus einer ablehnenden Haltung gegenüber einer ‚feministisch inspirierten‘ Geschichtswissenschaft, die als politisiert und gegenwartspolitisch motiviert wahrgenommen wurde. Das ging mit der Befürchtung einher, dass damit eine ‚objektive‘, ‚vorurteilsfreie‘ Quelleninterpretation nicht möglich sei,8 eine Skepsis, die sich als unberechtigt erwiesen hat.9 Vielmehr wurde die ‚Frauengeschichte‘ sehr schnell konzeptionell weitergeführt hin zu einer methodisch fundierten, innovativen und produktiven ‚Geschlechtergeschichte‘ sowie einer neueren Männergeschichte. Hinzu kam in jüngerer Zeit eine „Neuformatierung des historischen Blicks insgesamt bis hin zu queeren Positionen und Zugängen“.10 Auch das in den Anfängen gegen die Durchführbarkeit frauen- und geschlechtergeschichtlicher Fragestellungen angeführte Argument einer allzu geringen Quellengrundlage hat sich schnell als hinfällig erwiesen  : „Auf der Suche nach der Frau im schaft 65), Wiesbaden 2019, S. 521–530, hier S. 523. Zu den bedeutenden „Ausnahmen“ gehört die Zeitschrift L’Homme, die sich im Untertitel als „Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft“ bezeichnet.  8 Edith Ennen, Zur Geschichtsschreibung über die Frauen im Mittelalter, in  : Hermann Kellenbenz/ Hans Pohl (Hg.), Historia socialis et oeconomica. Festschrift für Wolfgang Zorn zum 65. Geburtstag (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 84), Stuttgart 1987, S.  44–60  ; vgl. dazu Hedwig Röckelein, Historische Frauenforschung. Ein Literaturbericht zur Geschichte des Mittelalters, in  : Historische Zeitschrift 255, 1992, S. 377–409, hier S. 408f. Ähnlich auch Kurt-Ulrich Jäschke, Notwendige Gefährtinnen. Königinnen der Salierzeit als Herrscherinnen und Ehefrauen im römisch-deutschen Reich des 11. und beginnenden 12. Jahrhunderts (Historie und Politik 1), Saarbrücken 1991, S. 240, mit dem Statement, dass „Königinnen und Kaiserinnen […] zu wichtig (seien), um sie einer Frauenhistorie zu überlassen, die als Forschung von Frauen über Frauen und (nur) für Frauen missverstanden werden könnte“  ; vgl. die Rezension von Martina Stratmann in  : Deutsches Archiv 47, 1991, S. 682f.   9 Pars pro toto kann die Einschätzung von Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999, S. 318–329, zitiert werden, der feststellt, dass den Anfängen mit „thesenfreudigen und zu manchen Überspitzungen und Fehlinterpretationen neigenden Darstellungen“ (S. 321) zunehmend eine quellenkritische Frauenforschung folgte, die „zu größerer Vielfalt, weiteren Perspektiven (Frauen in allen Lebensbereichen) und differenzierteren Betrachtungen sowie zu einer stärkeren Berücksichtigung sowohl der zeitgenössischen Strukturen wie der Normen, Vorstellungen und Wahrnehmungen tendier[t]“ (S. 328). 10 Ingrid Bauer/Christa Hämmerle/Claudia Opitz-Belakhal, 30 Jahre „L’Homme. Europäische Zeit­schrift für Feministische Geschichtswissenschaft“ – einleitende Reflexionen, in  : Dies. (Hg.), Politik – Theorie – Erfahrung. 30 Jahre feministische Geschichtswissenschaft im Gespräch (L’Homme. Schriften. Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft 26), Göttingen 2020, S.  9–20, das Zitat S. 14.

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Mittelalter“11 wurden – etwas salopp formuliert – unzählig viele Frauen ‚gefunden‘ und in ihren Lebensumständen und Handlungsweisen so differenziert beschrieben, dass die in populären Kontexten gelegentlich immer noch zu lesende, pauschalisierende Vorstellung von der ‚Unterdrückung‘ der Frauen im Mittelalter ein für alle Mal in der Mottenkiste historischer Irrtümer verschwinden sollte. Wenn hier also mit Blick auf die Mittelalterforschung nach Ursachen und Argumenten von Deutungsstreitigkeiten und Kontroversen gefragt werden soll, so betrifft das längst nicht mehr – etwas überspitzt formuliert – die Frage nach dem „Sinn“ oder „Unsinn“12 der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Es ist unbestreitbar, dass die ‚Kategorie Geschlecht‘ als Perspektive und Analysekriterium in der Geschichtswissenschaft einschließlich der Mediävistik Bedeutung und Funktion für die Interpretation der Quellen und für das Schreiben von Geschichte erlangt hat.13 Der Nutzen und Mehrwert der Theorieangebote, Konzepte und Begriffe für Heuristik und Quellenanalyse stehen außer Frage.14 Alle Lebensbereiche und gesellschaftlichen Gruppen werden im Hinblick auf Geschlechterrollen und Geschlechterbeziehungen und die damit verknüpften Vorstellungen und Wahrnehmungen untersucht, und zwar von Anfang an mit einer interdisziplinären und internationalen Ausrichtung, die geradezu prägend geworden ist. Die Literatur der letzten Jahrzehnte füllt Bibliotheken. Allgemeine Forschungsüberblicke, wie sie vor allem in den 90er Jahren publiziert wurden,15 sind heute kaum 11 So der programmatische Titel von Bea Lundt (Hg.), Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, München 1991. 12 Reinhart Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, in  : Klaus E. Müller/Jörn Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien (Rowohlts Enzyklopädie 55584), Reinbek bei Hamburg 1997, S. 79–97. 13 Pars pro toto sei hier nur verwiesen auf Felice Lifshitz, Differences, (Dis)appearances and the Disruption of the Straight Telos  : Medievalology („Mediävistik“) as a History of Gender, in  : Hans-Werner Goetz/Jörg Jarnut (Hg.), Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung, München 2003, S. 295–312. 14 Bea Lundt, Frauen- und Geschlechtergeschichte, in  : Hans-Jürgen Goertz  (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs (Rowohlts Enzyklopädie 55576), Reinbek bei Hamburg 1998, S. 579–597  ; Anne Conrad, Frauen- und Geschlechtergeschichte, in  : Michael Maurer (Hg.), Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft (Aufriß der Historischen Wissenschaften 7), Stuttgart 2003, S. 230–293  ; Dorothy Ko, Geschlecht, in  : Ulinka Rublack (Hg.), Die Neue Geschichte. Eine Einführung in 16 Kapiteln, dt. Ausgabe Frankfurt am Main 2013, S. 270–297. 15 Werner Affeldt/Cordula Nolte/Sabine Reiter/Ulla Vorwerk  (Hg.), Frauen im Frühmittelalter. Eine ausgewählte kommentierte Bibliographie, Frankfurt am Main/Bern 1990  ; Röckelein, Historische Frauenforschung (wie Anm.  8)  ; Hans-Werner Goetz, Frauen im frühen Mittelalter. Frauenbild und Frauenleben im Mittelalter, Weimar/Köln/Wien 1995, S. 31–68  ; Ingrid Baumgärtner, Eine

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mehr zu leisten. Vielmehr stehen mittlerweile Einführungsliteratur zu den theoretischen Konzepten, den Begriffen und Methoden16 sowie thematisch ausgerichtete Studienbücher17 zur Verfügung, die – so Caroline Arni – gleichsam als „Anzeichen für die Konsolidierung eines wissenschaftlichen Feldes im Anschluss an Jahrzehnte der Gegenstandskonstituierung, der theoretisch-methodologischen Auseinandersetzungen und der Anerkennungskämpfe“ angesehen werden können.18 Für die internationale Mittelalterforschung und deren insgesamt hohen Grad an Differenziertheit der Zugriffe und Themen lässt sich auf einschlägige Handbücher verweisen, so das von Judith M. Bennett und Ruth M. Karras herausgegebene „Oxford Handbook of Women and Gender in Medieval Europe“19 und das von Margaret Schaus herausgegebene gleichnamige Lexikon, das Handlungsfelder mittelalterlicher Frauen ebenso berücksichtigt wie spezifisch auf das Geschlecht ausgerichtete Themenbereiche, Konzepte, Rollen, Normen und Praktiken.20 Gleichwohl ist eine substanzielle institutionelle Verankerung der Geschlechtergeschichte in der deutschen Hochschullandschaft bislang nicht gelungen. Das wurde zuletzt bei der Ende Juni 2021 vom Verband der Historiker und Historikerinnen neue Sicht des Mittelalters  ? Fragestellungen und Perspektiven der Geschlechtergeschichte, in  : Amalie Fößel/Christoph Kampmann  (Hg.), Wozu Historie heute  ? Beiträge zu einer Standortbestimmung im fachübergreifenden Gespräch (Bayreuther Historische Kolloquien 10), Köln/Weimar/Wien 1996, S.  28–68  ; Hans-Werner Goetz, Frauen im Früh- und Hochmittelalter. Ergebnisse der Forschung, in  : Annette Kuhn/Bea Lundt  (Hg.), Lustgarten und Dämonenpein. Konzepte von Weiblichkeit in Mittelalter und früher Neuzeit, Dortmund 1997, S. 21–28  ; Gabriela Signori, Frauengeschichte/Geschlechtergeschichte/Sozialgeschichte. Forschungsfelder – Forschungslücken  : eine bibliographische Annäherung an das späte Mittelalter, in  : ebd., S. 29–53. 16 Claudia Opitz-Belakhal, Geschlechtergeschichte (Historische Einführungen 8), 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, Frankfurt am Main 2018  ; Griesebner, Feministische Geschichtswissenschaft (wie Anm. 6)  ; Therese Frey Steffen, Gender (Reclams Universal-Bibliothek 19445), Stuttgart 22017  ; aus literaturwissenschaftlicher Sicht Franziska Schößler, Einführung in die Gender Studies (Akademie Studienbücher Literaturwissenschaft), Berlin 2008. 17 Cordula Nolte, Frauen und Männer in der Gesellschaft des Mittelalters (Geschichte kompakt), Darmstadt 2011  ; Patricia Skinner, Studying Gender in Medieval Europe. Historical Approaches. London 2018  ; Bernd-Ulrich Hergemöller, Masculus et femina. Systematische Grundlinien einer mediävistischen Geschlechtergeschichte (Hergemöllers Historiographische Libelli 1), Hamburg 2001. 18 Caroline Arni, Einführungen in die Feministische Geschichtswissenschaft und Geschlechtergeschichte, in  : L’Homme. Z.F.G. 18, 2007, S. 115–117, das Zitat S. 116. 19 Judith M. Bennett/Ruth M. Karras (Hg.), The Oxford Handbook of Women and Gender in Medi­ eval Europe, Oxford 2013. Ein Standardwerk ist zudem nach wie vor Band 2 des von Georges Duby und Michelle Perrot herausgegebenen mehrbändigen Werkes Storia delle donne in occidente (Rom 1990), dt. Ausgabe  : „Geschichte der Frauen“  ; zum Mittelalter Christiane Klapisch-Zuber (Hg.), Mittelalter, Frankfurt am Main/New York 1993. 20 Margaret Schaus (Hg.), Women and Gender in Medieval Europe. An Encyclopedia, New York 2006.

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Deutschlands organisierten Podiumsdiskussion „Die versammelte Zunft  ? Zur Rolle von Frauen und der Geschlechtergeschichte in der Geschichtswissenschaft und im VHD“ mit Karen Hagemann, Muriel Gonzáles Athenas und Jürgen Martschukat thematisiert.21 Die Epochen der Antike und des Mittelalters waren bei dieser Diskussionsrunde nicht vertreten, was sich wohl daraus erklären dürfte, dass die grundsätzlichen Debatten um Konzepte und Ausrichtung in der deutschen Geschichtswissenschaft vor allem in der Frühen Neuzeit und den Epochen der Neueren und Neuesten Geschichte geführt werden. Die Mediävistik war und ist an Deutungsstreitigkeiten auf einer allgemeinen konzeptionellen und theoretischen Ebene so gut wie nicht beteiligt. Es erfolgt jedoch eine Rezeption und Spezifizierung der Begriffsbildungen und theoretischen Angebote, die in der Mediävistik für unterschiedliche Fragestellungen und Themenfelder genutzt werden.22 Das geht mit Kontroversen und Richtungsstreitigkeiten einher, die vielfach aus der Überprüfung und Modifizierung von Konzepten, Thesenbildungen und Narrativen resultieren. Die Trennlinien zwischen Frauen- und Geschlechtergeschichte sind dabei nach wie vor fließend. Beide Perspektivierungen werden gleichermaßen erforscht – mit Fragestellungen, die auf Handlungsräume und Aktionsweisen von Frauen und die Beziehungen und Interaktionen zwischen den Geschlechtern ausgerichtet sind.23 21 Der Videomitschnitt dieser Diskussionsrunde steht auf dem Wissenschaftsportal L.I.S.A der Gerda Henkel Stiftung zur Verfügung  : (aufgerufen am 02.03.2022). Sehr kritisch zum Stand der Geschlechtergeschichte in Deutschland urteilt Eva Labouvie, Marginalisiert, separiert, selbstverständlich, verselbständigt  ? Bilanzen nach 30 Jahren Geschlechtergeschichte, in  : Anna Becker/Almut Höfert/Monika Mommertz/Sophie Ruppel (Hg.), Körper – Macht – Geschlecht. Einsichten und Aussichten zwischen Mittelalter und Gegenwart, Frankfurt am Main/New York 2020, S. 111–124. 22 Einen umfassenden Zugang zu Fragestellungen, Konzepten, Methoden, Arbeitsfeldern sowie Interdisziplinarität der Geschlechterforschung eröffnen die beiden soziologischen Handbücher von Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, 3., erweiterte und durchgesehene Auflage, Wiesbaden 2010  ; Kortendiek/Riegraf/ Sabisch (Hg.), Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung (wie Anm. 7). Vgl. auch Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien (UTB 2584), Köln/Weimar/Wien 22009. 23 Die Frage, ob die Frauengeschichte inzwischen erledigt und durch die Geschlechtergeschichte abgelöst worden sei, die jüngst kontrovers zwischen Claudia Opitz-Belakhal und Céline Angehrn diskutiert wurde, wird in der Mediävistik m. W. nicht thematisiert  : Claudia Opitz-Belakhal, Gender in Transit – oder am Abgrund  ? Ein Diskussionsbeitrag zu Stand und Perspektiven der Geschlechtergeschichte, in  : L’Homme. Z.F.G. 28, 2017, S. 107–114  ; Céline Angehrn, Nicht erledigt. Die Herausforderungen der Frauengeschichte und der Geschlechtergeschichte und die Geschichten des Feminismus, in  : ebd., S.  115–122  ; vgl. dazu Maria Bühner/Maren Möhring, Einleitung  : Europäische Geschlechtergeschichten, in  : Dies. (Hg.), Europäische Geschlechtergeschichten (Europäische Geschichte in Quellen und Essays 4), Stuttgart 2018, S.  13–45, hier S.  19. Zum „gender turn“ in der internationalen Ge-

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Wenn darüber nachgedacht wird, ob es überhaupt noch einer spezifischen Frauenund Geschlechtergeschichte bedürfe, weil – so Ute Daniel – „die Anliegen der Frauenund Geschlechtergeschichte nunmehr Anliegen der geschichtswissenschaftlichen ‚Zunft‘ als ganzer (sind) und  […] von ihr ebenso sorgfältig gehegt und bearbeitet (werden) wie  […] die Geschichte der Parteien, der Konfessionalisierung oder der Französischen Revolution“,24 dann gilt diese für die Neuere und Neueste Geschichte formulierte Einschätzung in gewisser Weise auch für die Mittelalterforschung, und zwar insofern, als im Sinne Karin Hausens in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl von Geschichten aus der Frauen- und Geschlechterperspektive heraus geschrieben worden ist.25 Es wird immer deutlicher, dass „die Auseinandersetzung mit Gender als einer Querschnittskategorie für die Geistes- und Kulturwissenschaften“, so ist schichtswissenschaft  : Chen Yan/Karen Offen, Frauengeschichte in der Vorreiterrolle, in  : L’Homme. Z.F.G. 27, 2016, S. 73–90. 24 Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1523), 5. durchgesehene und ergänzte Auflage, Frankfurt am Main 2006, S. 314. 25 Karin Hausen, Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in  : Hans Medick/Anne-Charlott Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 5), Göttingen 1998, S. 15–55. Kontrovers wird die Frage nach der Zielsetzung diskutiert. Diese war es von Anfang an, die Geschichte ‚umzuschreiben‘ und nicht eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft zu begründen. Die Frage nach dem Standort ist nach wie vor offen. Als im Jahr 2020 und damit 30 Jahre nach der Gründung der thematisch einschlägigen und wichtigsten europäischen Zeitschrift „L’Homme“ auf die Entwicklungen zurückgeblickt wurde, wurde unter anderem auch konstatiert, „dass das von der Frauengeschichte sehr früh geforderte ‚Neuschreiben der Geschichte‘ keineswegs abgeschlossen, sondern work in progress ist“  : Bauer/ Hämmerle/Opitz-Belakhal, 30 Jahre (wie Anm. 10), S. 9–20, Zitat S. 10. Neben dem grundlegenden Anspruch des Umschreibens der Geschichte wird Geschlechtergeschichte unterschiedlich eingeordnet. Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte (wie Anm. 24), verortet Geschlechtergeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte, Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik (wie Anm.  9), unter dem Stichwort ‚historische Anthropologie‘, Hans-Jürgen Goertz, Geschichte (wie Anm.  14), unter „Konzeptionen der Geschichtswissenschaft“, Ulinka Rublack, Die Neue Geschichte (wie Anm. 14), unter „Themen und Strukturen“. Diese Entwicklung kann man positiv sehen, sie aber auch mit Eva Labouvie skeptisch beurteilen, die „Verselbstständigungen und Verselbstverständlichungen“ konstatiert und Verselbstständigung beobachtet als „Folge eines Prozesses, in welchem nicht mehr nur ausgewiesene Geschlechterhistoriker und -historikerinnen publizieren, zu Frauen und Männern, den jeweiligen Geschlechterordnungen oder geschlechtsspezifischen Wahrnehmungen, Erfahrungen, Aktivitäten oder Emotionen forschen, sondern Kolleginnen und Kollegen, die sich keineswegs als Geschlechterhistoriker und -historikerinnen betrachten oder gar bezeichnen und sich entsprechende Kenntnisse auch nicht zwangsläufig aneignen bzw. dies nur vorübergehend und themenspezifisch tun. Für sie ist Geschlechtergeschichte Teilzeit-, Mini- oder Aushilfsjob, den man mit Abschluss des jeweiligen Themas schnell wieder gegen die sichere Position im klassischen Feld eintauscht. Ob dieser Trend eine Pseudonormalisierung erzeugt, ist zu hinterfragen“  ; Labouvie, Marginalisiert (wie Anm. 21), S. 114.

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das jüngst aus germanistischer Sicht formuliert worden, „vielfach zur methodischen Norm geworden ist“.26 Ein Pool an Methoden und unterschiedlichen Ansätzen steht zur Verfügung und findet vielfache Anwendung. Ausgangspunkt ist die grundlegende und in der deutschen Geschichtswissenschaft breit rezipierte Definition von Joan W. Scott, die zwischen ‚sex‘ als dem biologischen Geschlecht und ‚gender‘ als dem kulturell konstruierten sozialen Geschlecht differenziert und damit eine nachhaltig wirksam gewordene Definition und Arbeitsgrundlage bereitgestellt hat.27 Die Sicht auf ‚Geschlecht‘ als kulturell variablen Faktor hat zu der Einsicht geführt, dass Geschlecht als eine relationale Größe nicht einfach da, nicht einfach gegeben ist, sondern „getan“ wird, Geschlechterbeziehungen sich in Handlungen äußern und sich performativ stets aufs Neue aktualisieren und verändern, eine Auffassung, die sich in der Formel des „doing gender“ bzw. des „undoing gender“28 verdichtet und zu der Frage führt, wie Frauen und Männer als Akteurinnen und Akteure in ihrem Handeln beschrieben werden können und welche Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit in den Quellen damit verknüpft werden. Der Ansatz zielt auf Varianz, Variabilität und Situationsbezogenheit der Rollen, der Interaktionsweisen und der Vorstellungen davon, was als maskulin und was als feminin angesehen wird und mit welchen Zuschreibungen die jeweilige Einordnung begründet wird. Bezogen auf Gewalt- und Kriegssituationen lässt sich konstatieren, dass einfache, unveränderlich gedachte dichotomische Grundannahmen über Männer als Täter und aktiv Handelnde und über Frauen als Opfer und passiv Erleidende in Frage zu stellen sind und vielmehr davon ausgegangen werden muss, dass Männer wie Frauen als Täter und Opfer in Erscheinung traten.29 26 Ingrid Bennewitz/Jutta Eming/Johannes Traulsen, Einleitung  : Gender Studies – Queer Studies – Intersektionalitätsforschung, in  : Dies. (Hg.), Gender Studies – Queer Studies – Intersektionalitätsforschung. Eine Zwischenbilanz aus mediävistischer Perspektive (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 25), Göttingen 2019, S. 13–26, hier S. 15. 27 Joan W. Scott, Gender  : A Useful Category of Historical Analysis, in  : The American Historical Review 91, 1986, S. 1053–1075. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Claudia Opitz, Gender – eine unverzichtbare Kategorie der historischen Analyse. Zur Rezeption von Joan W. Scotts Studien in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in  : Claudia Honegger/Caroline Arni (Hg.), Gender – die Tücken einer Kategorie. Beiträge zum Symposion anlässlich der Verleihung des Hans-Sigrist-Preises 1999 der Universität Bern an Joan W. Scott, Zürich 2001, S. 95–119  ; Dies., Gender – eine unerlässliche Kategorie für die historische Forschung und Praxis, in  : Bea Lundt/Toni Tholen (Hg.), „Geschlecht“ in der Lehramtsausbildung. Die Beispiele Geschichte und Deutsch (Historische Geschlechterforschung und Didaktik. Ergebnisse und Quellen 3), Münster 2013, S. 67–78. 28 Opitz-Belakhal, Geschlechtergeschichte (wie Anm.  16), S.  27–30  ; Helga Kotthoff, Was heißt eigentlich doing gender  ? Differenzierungen im Feld von Interaktion und Geschlecht, in  : Freiburger FrauenStudien 12, 2003, S. 125–161. 29 Amalie Fößel, Zur Einführung  : Gewalt, Krieg und Geschlecht im Mittelalter, in  : Dies. (Hg.), Gewalt,

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Das „doing gender“ ist eng verknüpft mit dem „narrating gender“, weil männlich und weiblich konnotierte Verhaltensmuster in mittelalterlichen Quellen als Maßstab für gesellschaftlich konformes Verhalten genutzt und zu einem narrativen Muster ausgeformt werden. Dieser Ansatz ist von Bea Lundt anhand des weitverbreiteten, vom Mittelalter bis in die Moderne hinein verfügbaren, vielfach rezipierten und oftmals umgeschriebenen Textes von den „Sieben Weisen Meistern“ erprobt worden. Zuletzt hat sie – gleichsam in einer globalgeschichtlichen Ausrichtung der Geschlechtergeschichte30 – diesen Text auf die Zusammenhänge zwischen Geschlecht und Gewalt hin analysiert und gezeigt, dass die verschiedenen Fassungen der Erzählung, die lange als Beleg für ein misogynes Mittelalter interpretiert wurden,31 im transkulturellen Vergleich sehr unterschiedliche Handlungsweisen der Geschlechter erkennen lassen. Dabei werden Geschlechtergrenzen überschritten, wenn die im Zentrum der Handlung stehende verschleppte Frau sich nicht unterordnet, nicht den geschlechterkonformen Idealen und Vorstellungen entsprechend handelt, sondern sich wie ein Mann verhält. Rollen von Täter und Opfer werden verdreht, wenn die starke Frau, die sich ein schwacher Herrscher als Beraterin sucht, schließlich dessen Sohn vergewaltigt.32 Die neueren Debatten um Begriffe und konzeptuelle Zugänge lassen sich mit der Skepsis der Anfangsjahre und der Frage zusammenführen, ob die aus modernen gesellschaftlichen Zusammenhängen resultierende Konzeption von Geschlecht als Differenzkategorie für die Beschreibung von Gleichheit und Ungleichheit für die Analyse mittelalterlicher Quellen überhaupt taugen kann, weil Geschlecht im Mittelalter beziehungsweise in vormodernen Gesellschaften nicht in gleicher Weise wie in der Moderne eine Kategorie ersten Ranges darstellt, um Handlungsweisen von Männern und Frauen zu erklären und die Machtgefälle zwischen ihnen zu entschlüsseln. In mittelalterlichen Kontexten ist das Geschlecht daher ein wichtiger Faktor, aber nicht Krieg und Geschlecht im Mittelalter, Berlin/Bern/Brüssel u. a. 2020, S. 9–25  ; als open access  : (aufgerufen am 06.02.2023). 30 Allgemein dazu Angelika Epple, Globalgeschichte und Geschlechtergeschichte  : Eine Beziehung mit großer Zukunft, in  : L’Homme. Z.F.G. 23, 2012, S. 87–100. 31 Zur Debatte im Mittelalter vgl. den grundlegenden Beitrag von Jacqueline Murray, Thinking about Gender  : The Diversity of Medieval Perspectives, in  : Jennifer Carpenter/Sally-Beth MacLean (Hg.), Power of the Weak. Studies on Medieval Women, Urbana/Chicago 1995, S. 1–26  ; den Überblick von Renate Blumenfeld-Kosinski, Misogyny, in  : Schaus  (Hg.), Women and Gender (wie Anm.  20), S. 569–573. 32 Bea Lundt, Misogynes Mittelalter  ? Gewalt und Geschlecht in transkultureller Perspektive. Das Beispiel der Sieben Weisen Meister, in  : Fößel (Hg.), Gewalt, Krieg und Geschlecht (wie Anm. 29), S. 495– 531.

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immer der wichtigste, sondern vielfach ein Faktor neben anderen. Weitere soziale Kriterien wie Stand, Alter, Herkunft sowie Recht und Religion etc. waren ausschlaggebend für das Zustandekommen von Handlungen und Machtverhältnissen und erscheinen daher vielfach wichtiger als das Geschlecht. Darüber besteht Konsens.33 Insofern war es auch nicht weiter überraschend, als das Konzept der sog. ‚Intersektionalitätsforschung‘, das auf modernen Beobachtungen von gesellschaftlicher Ungleichheit basiert und Geschlecht als ‚mehrfach relationale Kategorie‘ in Wechselwirkung mit Klasse und Rasse definiert, für die Vormoderne adaptiert und als ein „brauchbares Konzept“ begrüßt wurde.34 Studien zu mittelalterlichen Herrscherinnen zeigen, dass deren politisches Handeln und ihre Einflussnahme sich vorrangig dadurch begründeten, dass sie als Ehefrauen (consortes) und Mütter männlicher Herrscher (abgesehen von den aus eigenem Recht regierenden Königinnen in den süd-, nord- und ostmitteleuropäischen Reichen) agierten und ihre Teilhabe an der Herrschaftsausübung aus den damit verbundenen Rechten resultierte.35 Der Faktor ‚Geschlecht‘ spielt für die Erklärung der Regierungshandlungen eine untergeordnete Rolle. Das ist in vielen Studien herausgearbeitet und zuletzt von Sebastian Roebert für die spätmittelalterliche Königin Eleonore von Sizilien, die als Gemahlin Peters  IV. von Aragón oftmals mit Regierungsgeschäften beauftragt wurde, bestätigt worden.36 33 Goetz, Moderne Mediävistik (wie Anm.  9), S.  319. Sehr deutlich kommentiert Bea Lundt, Das nächste Ähnliche. Geschlecht in der Vormoderne, in  : Lundt/Tholen  (Hg.), „Geschlecht“ (wie Anm. 27), S. 93–115, das Zitat S. 110f.: „Als die Neuzeitgenderforschung erklärte, Geschlecht sei eine mehrfach relationale Kategorie, konnten die mediävistischen Genderforschenden daher nur staunen. Denn innerhalb der Geschichte des Mittelalters war schon immer klar, dass neben dem Geschlecht die Zugehörigkeit zu anderen sozialen Gruppen, etwa einem bestimmten sozialen Stand oder einer Altersgruppe zum Verständnis von Genderentwürfen unverzichtbar seien.“ 34 Andrea Griesebner/Susanne Hehenberger, Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaften  ? in  : Vera Kallenberg/Jennifer Meyer/Johanna M. Müller  (Hg.), Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven auf alte Fragen, Wiesbaden 2013, S. 105–124  ; Andrea Griesebner, Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit, in  : Veronika Aegerter/Nicole Graf/Natalie Imboden/Thea Rytz  (Hg.), Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Beiträge der 9. Schweizerischen Historikerinnentagungen 1998, Zürich 1999, S. 129–137  ; Falko Schnicke, Terminologie, Erkenntnisinteresse, Methode und Kategorien Grundfragen intersektionaler Forschung, in  : Ders./Christian Klein (Hg.), Intersektionalität und Narratologie. Methoden – Konzepte – Analysen (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 91), Trier 2014, S. 1–32. 35 Amalie Fößel, The Political Traditions of Female Rulership in Medieval Europe, in  : Bennett/Karras (Hg.), The Oxford Handbook of Women and Gender (wie Anm. 19), S. 68–83  ; Dies., Gender and Rulership in the Medieval German Empire, in  : History Compass 7, 2009, S. 55–65. 36 Sebastian Roebert, Die Königin im Zentrum der Macht. Reginale Herrschaft in der Krone Aragón

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Geschlechtsspezifische Argumentationen lassen sich in den Quellen dennoch vor allem auf der Wahrnehmungsebene in Krisensituationen dort greifen, wo einer Königin rollentypisches oder rollenatypisches Verhalten zugeschrieben wird  : Eine in den Augen der Historiographen positive, weil das Gemeinwesen stabilisierende Handlungsweise wird als durchsetzungsstark und tatkräftig bewertet und positiv-männlich konnotiert, so für die Kaiserin Kunigunde in der Darstellung Wipos. Handelte die Königin hingegen nicht, wie es die Großen des Reichs von ihr erwarteten, so wurde ihr Tun als Ergebnis einer typisch weiblichen Schwäche und Beeinflussbarkeit beurteilt, so die Charakterisierung der Kaiserin Agnes in der Wahrnehmung des anonymen Verfassers der Vita Heinrici, der sie als ein Beispiel für die Unfähigkeit der Frauen, ein Reich zu regieren, benennt.37 Diese Beispiele zeigen deutlich die Möglichkeiten und Grenzen einer auf Geschlechterspezifik ausgerichteten Quelleninterpretation. Kontroverse Deutungen zu Macht und Einfluss adliger Frauen resultieren aus der Infragestellung älterer Forschungsthesen. So ist die Sicht der älteren Forschung auf mittelalterliche Königinnen als „Ausnahmefrauen“ im Rahmen der neueren Queen­ ship-Forschung einer von der Frauen- und Geschlechtergeschichte beeinflussten Her­angehensweise gewichen, die über die biographische Forschung hinaus nicht mehr nur einzelne Akteurinnen in den Blick nimmt, sondern gruppenspezifisch Königinnen und Fürstinnen in den verschiedenen europäischen Herrschaftsräumen (und neuerdings auch in globaler Perspektive38) in ihren politischen, religiösen, familiär-dynastischen und diplomatischen Aktivitäten und Netzwerken untersucht.39 am Beispiel Eleonores von Sizilien (1349–1375) (Europa im Mittelalter 34), Berlin/Boston 2020, bes. S. 536, 542, 543. 37 Fößel, Political Traditions (wie Anm. 35), S. 78–79 und jüngst Dies., Zur Wahrnehmung von ‚Geschlechtergrenzen‘ in der Chronik Thietmars von Merseburg, in  : Dirk Jäckel/Lisa Klocke/Matthias Weber (Hg.), Thietmar von Merseburg. Historiographie der Grenzwelten (Studien zur Vormoderne 4), Berlin/Bern/Brüssel u. a. 2021, S. 157–174  ; für die Männergeschichte betont Martin Dinges, Stand und Perspektiven der „neuen Männergeschichte“ (Frühe Neuzeit), in  : Marguérite Bos/Bettina Vincenz/Tanja Wirz (Hg.), Erfahrung  : Alles nur Diskurs  ? Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffes in der Geschlechtergeschichte. Beiträge der 11. Schweizerischen HistorikerInnentagung 2002, Zürich 2004, S. 71–96, dass „Diskurse über Männlichkeit und Weiblichkeit […] eine wichtige Ressource für die ungleiche Konstruktion von praktisch allen gesellschaftlichen Bereichen und Machtverhältnissen“ sind. 38 Elena Woodacre (Hg.), A Companion to Global Queenship, Leeds 2018. 39 Die Queenship-Forschung wird von der englischsprachigen Forschung dominiert und hat erst in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmende Beachtung in der deutschen Mediävistik gefunden, wobei meine Habilitationsschrift  : Die Königin im mittelalterlichen Reich. Herrschaftsausübung, Herrschaftsrechte, Handlungsspielräume (Mittelalter-Forschungen 4), Stuttgart 2000, richtungsweisend gewesen ist und das Potenzial des Themenfeldes für das mittelalterliche Reich aufgezeigt und eine neue Debatte eingeleitet hat. Die Forschung zu Königinnen und Fürstinnen ist zunehmend vielfältiger geworden

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Die ältere These von einem mehr oder weniger ausgeprägten Einfluss vereinzelter Kaiserinnen und Königinnen in spezifischen politischen Konstellationen ist durch die international sehr breit aufgestellte Queenship-Forschung revidiert worden.

und basiert auf einer enormen Breite von Schwerpunktsetzungen, Fragestellungen und methodischen Grundlagen, die durch politik- und verfassungsgeschichtliche Perspektiven, die Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie komplementär durch Begriffe und Konzepte der neueren politischen Kulturgeschichte beeinflusst worden ist. Gerade die methodisch und begrifflich vielfältigen Ansatzpunkte machen dieses Themenfeld so spannend. Grundlegend sind nach wie vor die Studien von Marion F. Facinger, A Study of Medieval Queenship. Capetian France, 987–1237, in  : Studies in Medieval and Renaissance History 5, 1968, S.  1–48  ; Pauline Stafford, Queens, Concubines and Dowagers. The King’s Wife in the Early Middle Ages, London/Washington 1983  ; Lois Lynn Huneycutt, Images of Queenship in the High Middle Ages, in  : The Haskins Society Journal 1, 1989, S.  61–72. – Aus der Vielzahl der Publikationen sind pars pro toto zu nennen  : John Carmi Parsons  (Hg.), Medieval Queenship, Stroud 1994  ; Pauline A. Stafford, Queen Emma and Queen Edith. Queenship and Women’s Power in Eleventh-Century England, Cambridge 1997  ; Anne Duggan (Hg.), Queens and Queenship in Medieval Europe. Proceedings of a Conference held at King’s College London, April 1995, Woodbridge 1997  ; Janet L. Nelson, Medieval Queenship, in  : Linda E. Mitchell (Hg.), Women in medieval western European culture, New York/London 1999, S. 179–207  ; Fanny Cosandey, La reine de France. Symbole et pouvoir, XVe – XVIIIe siècle, Paris 2000  ; Margaret Howell, Eleanor of Provence. Queenship in Thirteenth-century England, Oxford 2001  ; Lois Lynn Huneycutt, Matilda of Scotland. A Study in Medieval Queenship, Woodbridge 2003  ; Joanna L. Laynesmith, The Last Medieval Queens. English Queenship 1445–1503, Oxford 2004  ; Jörg Rogge (Hg.), Fürstin und Fürst. Familienbeziehungen und Handlungsmöglichkeiten von hochadeligen Frauen im Mittelalter (Mittelalter-Forschungen 15), Ostfildern 2004  ; Theresa Earenfight (Hg.), Queenship and Political Power in Medieval and Early Modern Spain, Aldershot 2005  ; Pauline A. Stafford, Queens and Queenship, in  : Dies. (Hg.), A Companion to the Early Middle Ages. Britain and Ireland c. 500–1100, Oxford 2009, S. 459–476  ; Martina Hartmann, Die Königin im frühen Mittelalter, Stuttgart 2009  ; William Layher, Queenship and Voice in Medieval Northern Europe, Basingstoke 2010  ; Anne-Hélène Allirot, Filles de roy de France. Princesses royales, mémoire de saint Louis et conscience dynastique (de 1270 à la fin du XIVe siècle) (Culture et société médiévales 20), Turnhout 2010  ; Amalie Fößel (Hg.), Die Kaiserinnen des Mittelalters, Regensburg 2011  ; Éric Bousmar/Jonathan Dumont/Alain Marchandisse/ Bertrand Schnerb (Hg.), Femmes de pouvoir, femmes politiques durant les derniers siècles du Moyen Âge et au cours de la première Renaissance (Bibliothèque du Moyen Âge 28), Brüssel 2012  ; Lisa Benz St. John, Three Medieval Queens. Queenship and the Crown in Fourteenth-century England, New York 2012  ; Elena Woodacre  (Hg.), Queenship in the Mediterranean. Negotiating the Role of the Queen in the Medieval and Early Modern Eras, New York 2013  ; Theresa Earenfight, Queenship in Medieval Europe, Oxford 2013  ; Claudia Zey (Hg.), Mächtige Frauen  ? Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.–14. Jahrhundert) (Vorträge und Forschungen 81), Ostfildern 2015  ; Lois Lynn Huneycutt, Queenship Studies Comes of Age, in  : Medieval Feminist Forum 51,2, 2016, S.  9–16  ; Theresa Earenfight, Medieval Queenship, in  : History Compass 15, 2017, S.  1–9  ; Simon MacLean, Ottonian Queenship, Oxford 2017  ; François Chausson/Sylvain Destephen (Hg.), Augusta, Regina, Basilissa. La souveraine de l’Empire romain au Moyen Âge, Paris 2018  ; Jacqueline Alio, Sicilian Queenship. Power and Identity in the Kingdom of Sicily 1061–1266, New York 2020.

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Kontrovers diskutiert wurde die These von den ‚verkauften Töchtern‘, die keine oder kaum Mitsprache bei der Wahl ihres Ehemannes gehabt hätten, sondern von ihren Vätern an den jeweils ‚Meistbietenden‘ ‚verkauft‘ worden seien. Diese allzu vereinfachende Sicht ist einer differenzierten Betrachtungsweise gewichen.40 Es ist darauf hingewiesen worden, dass sich Frauen einer für sie geplanten Ehe durchaus auch erfolgreich widersetzten.41 Es ist aber auch herausgearbeitet worden, dass nicht nur die Töchter des Adels, sondern auch die Söhne über ihre Köpfe hinweg in jungen Jahren verlobt und – nicht immer glücklich – verheiratet wurden, und dass zudem die Vorstellung, die jungen adeligen Leute hätten keinen Einfluss darauf gehabt, wer ihr zukünftiger Ehepartner sein sollte, der gängigen Praxis so nicht entsprach. Vielmehr ist der Konsens der Eheleute als wesentliche Voraussetzung seitens der Kirche thematisiert und spätestens im 12. Jahrhundert durchgesetzt worden. Das ist jüngst von Elisabeth van Houts aufgegriffen und modifiziert worden, indem sie plausibel machte, dass es vor allem die adeligen Frauen gewesen seien, die mit Unterstützung und Beratung ihrer Beichtväter für ihre eigenen Interessen eingetreten seien und maßgeblich forciert hätten, dass die Zustimmung zu einer von den Familien getroffenen Partnerwahl als eine notwendige Bedingung für eine Heirat allgemein akzeptiert worden sei.42 Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Diskussion weiterentwickelt. Grundsätzliche Deutungsstreitigkeiten lösten Jo Ann McNamara und Suzanne Wemple mit ihrer These aus, dass ein um die erste Jahrtausendwende einsetzender struktureller Wandel langfristig auch zu einem Machtverlust und einer allgemeinen, langfristigen Benachteiligung der Frauen geführt habe. Zugrunde liegt die Auffassung, dass die adeligen Frauen im 9., 10. und noch im frühen 11. Jahrhundert reiche und mächtige Frauen waren, weil sie einflussreichen Familienverbänden angehörten, über umfangreiche Besitztitel verfügten, die ihnen ihre Herkunftsfamilien wie auch ihre angeheirateten Familien übertragen hatten, und ihren Reichtum aufgrund einer 40 Katherine Walsh, Verkaufte Töchter  ? Überlegungen zu Aufgabenstellung und Selbstwertgefühl von in die Ferne verheirateten Frauen anhand ihrer Korrespondenz, in  : Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseumsvereins 135, 1991, S. 129–144  ; Jörg Rogge, Nur verkaufte Töchter  ? Überlegungen zu Aufgaben, Quellen, Methoden und Perspektiven einer Sozial- und Kulturgeschichte hochadeliger Frauen und Fürstinnen im deutschen Reich während des späten Mittelalters und am Beginn der Neuzeit, in  : Cordula Nolte/Karl-Heinz Spieß/Ralf-Gunnar Werlich (Hg.), Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelalter (Residenzenforschung 14), Stuttgart 2002, S. 235–276. 41 Amalie Fößel, Die Heiratspolitik der Luxemburger, in  : Sabine Penth/Peter Thorau  (Hg.), Rom 1312. Die Kaiserkrönung Heinrichs VII. und die Folgen. Die Luxemburger als Herrscherdynastie von gesamteuropäischer Bedeutung (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J.F. Böhmer, Regesta Imperii 40), Köln/Weimar/Wien 2016, S. 427–444, hier S. 439–443. 42 Elisabeth van Houts, Married Life in the Middle Ages, 900–1300 (Oxford Studies in Medieval European History), Oxford 2019.

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fehlenden öffentlichen Ordnung uneingeschränkt vergrößern konnten.43 Das habe sich im Verlauf des 11. Jahrhunderts geändert, so McNamara in einem weiteren Beitrag, und zu einer Benachteiligung der Frauen geführt, die bei Thomas von Aquin und seinem Rekurs auf die aristotelische Lehre der Inferiorität der Frau einen theoretischen Kulminationspunkt erreicht habe. Viele Ursachen und Erklärungsmodelle für einen Macht- und Einflussverlust im weiteren Verlauf des Mittelalters werden namhaft gemacht. Neben immer deutlicher in den Vordergrund tretenden hierarchischen Elementen in Kirche, ‚Staat‘ und Gesellschaft wird auf Staatswerdungsprozesse und den damit einhergehenden Ausbau der Ämter- und Verwaltungseinheiten verwiesen. Der Ausschluss der Frauen aus Universitäten und den damit verbundenen Bildungsund Karrierechancen habe die Ungleichwertigkeit der Geschlechter vollends deutlich werden lassen und langfristig zu Benachteiligungen geführt. Benannt werden schließlich Konzepte einer Trennung der Geschlechter und spezifische Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit als wirkmächtige Produkte mit positiven Auswirkungen für die Männer und negativen Folgen für die Frauen.44 Dieser hier lediglich kursorisch skizzierten Thesenbildung ist im Hinblick auf die weit gespannten und allzu sehr verallgemeinernden Argumentationslinien vielfach widersprochen worden. Sie ist aber auch als eine Idee für eine moderne geschlechtergeschichtliche Version einer Meistererzählung über die europäische Geschichte verstanden und mit einer Infragestellung traditioneller Periodisierungen verknüpft worden.45 43 Jo Ann McNamara/Suzanne Wemple, The Power of Women through the Family in Medieval Europe, 500–1100, in  : Feminist Studies 1, 1973, S. 126–141, nachgedruckt in  : Mary C. Erler/Maryanne Kowaleski (Hg.), Women and Power in the Middle Ages, Athens/London 1988, S. 83–101. 44 Jo Ann McNamara, Women and Power through the Family Revisited, in  : Mary C. Erler/Maryanne Kowaleski (Hg.), Gendering the Master Narrative. Women and Power in the Middle Ages, Ithaca/ London 2003, S. 17–30. 45 Die Debatte mit den wesentlichen Argumenten wird skizziert von Mary C. Erler/Maryanne Kowaleski, Introduction. A New Economy of Power Relations. Female Agency in the Middle Ages, in  : Dies. (Hg.), Gendering the Master Narrative (wie Anm. 44), S. 1–16, hier S. 7–9. Neben der von McNamara diskutierten Zäsur um das Jahr 1000 ist aus geschlechtergeschichtlicher Sicht auch die Epochengrenze um 1500 infrage gestellt worden von Joan Kelly-Gadol, Did Women Have a Renaissance  ?, in  : Renate Bridenthal/Claudia Koonz  (Hg.), Becoming Visible. Women in European History, Boston 1977, S. 137–164. Die These, dass eine mit der Zeit der Renaissance verbundene Zäsur allzu männerzentriert sei und für die Frauen mit keinen Veränderungen verknüpft gewesen sei, ist in der US-amerikanischen Forschung aufgegriffen worden, hat jedoch zu keiner spezifischen Kontroverse geführt und ist in der deutschen Forschung allenfalls zur Kenntnis genommen worden. Vgl. dazu Susanna Burghartz im Gespräch mit Claudia Opitz-Belakhal und Monika Mommertz (2014), Epochengrenzen – Epochenbilanzen. Brüche und Persistenzen in der Geschlechtergeschichte der Renaissance, in  : Bauer/ Hämmerle/Opitz-Belakhal (Hg.), Politik – Theorie – Erfahrung (wie Anm. 10), S. 175–183.

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Eine ähnlich grundsätzliche Kritik an Erklärungsmustern, die „change for the better“ oder – unter anderem mit Bezug auf die Thesenbildung McNamaras – „change for the worse“ in langfristigen Entwicklungen konstatieren, hat Judith M. Bennett geäußert und dem das Konzept „change without transformation“ beziehungsweise „a third alternative of ‚patriarchal equilibrium‘“ gegenübergestellt.46 Sie geht von ihren eigenen Forschungen zu den spätmittelalterlichen weiblichen Arbeitswelten aus, die mit Blick auf die Löhne zeitspezifischen Veränderungen von ‚auf ‘ und ‚ab‘ unterlagen, während sich andere Faktoren nicht veränderten, insofern weibliche Arbeit sich auszeichnete als „characteristically low skilled, low status, and poor remunerated“.47 Daraus zieht Bennett die Schlussfolgerung  : „it might be best to understand the dynamic of medieval women’s history as operating within an ever-fluid but self-adjusting system of male dominance, a system in which the many changes in medieval women’s experiences were seldom accompanied by transformation – either for better or worse – in women’s status.“48 In ihren Beiträgen zur mittelalterlichen Geschlechtergeschichte hat Bea Lundt die Diskussion über die Relevanz der Kategorie ‚Geschlecht‘ für die mittelalterliche Geschichte mit dem Konzept der Alterität49 verknüpft, indem sie vom andersartigen Beschaffensein und Funktionieren mittelalterlicher beziehungsweise vormoderner Gesellschaften ausgeht und die Frage nach den je eigenen Mustern und Logiken mittelalterlicher Geschlechterbeziehungen, die es zu entschlüsseln gilt, aufwirft. Ein wichtiger Ausgangspunkt war die Debatte zu ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Privatheit‘, die in den Anfängen eine große Bedeutung hatte, als die Forderung der Frauen nach Gleichberechtigung mit dem Slogan „Das Private ist politisch“ einherging und in der Wissenschaft eine Debatte entzündete, die die Unterscheidung zwischen männlich-öffentlichen und weiblich-privaten Räumen als einem gängigen Erklärungsmuster der Geschlechterverhältnisse in Frage stellte und deutlich machte, dass damit Vorstellungen klarer Trennungslinien zwischen den Lebensräumen von Männern und Frauen evoziert werden, die so klar und eindeutig nicht verlaufen. Mit Verweis auf den Historikertag 1986 und die Sektion zum Thema „Privatheit und Öffentlichkeit“ sieht Lundt in der Infragestellung dieser Dichotomie eine wichtige Weichenstellung für die Problematisierung „grundlegende[r] Begriffe und Deutungsmuster der allgemeinen Geschichtsforschung“.50 Karin Hausen thematisierte das Begriffspaar als 46 Judith M. Bennett, Medieval Women in Modern Perspective, in  : Bonnie G. Smith (Hg.), Women’s History in Global Perspective, Bd. 2, Urbana/Chicago 2005, S. 139–186, hier S. 153. 47 Ebd. S. 153. 48 Ebd. S. 154. 49 Vgl. dazu den Beitrag von Wolfgang Hasberg in diesem Band. 50 Lundt, Frauen- und Geschlechtergeschichte (wie Anm. 14), S. 582.

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eine für „selbstverständlich und sinnvoll“ gehaltene „Dichotomisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse in eine private und eine öffentliche Sphäre“ und kam zu dem Schluss, dass diese „kaum einen instrumentellen Wert für die Geschichte der Geschlechterbeziehungen“ darstelle.51 Die Infragestellung dieser binären Konzeptualisierung als einer gleichsam allgemeingültig gedachten und ungleichgewichtig bewerteten Aufteilung hat die historische Geschlechterforschung vielfach inspiriert und weit über die Erkenntnis einer von Männern und Frauen gleicherweise geteilten „Geschichte des privaten Lebens“52 hinaus das kritische Potenzial dieses Themenfeldes erkennen lassen.53 Das war ein wichtiger Schritt hin zu einem Verständnis davon, dass binär angelegte Erklärungsmuster für die Beschreibung des historischen Wandels der Geschlechterverhältnisse epochenübergreifend ungeeignet sind und stattdessen vielmehr von Vielfalt und Heterogenität auszugehen ist. Diese Perspektive prägte die weitere Forschung und führte stetig zu neuen Fragestellungen und Gegenstandsbereichen. In den Blick der Mediävistik kam die neuere Geschichte der Männlichkeiten.54 Insbesondere für die Frage, was einen Mann ausmacht, erweisen sich Kriegs- und Ge­ walt­räume als Bezugspunkte gut geeignet, weil sich in Kriegssituationen Männer un51 Karin Hausen, Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen, in  : Karin Hausen/Heide Wunder (Hg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte (Geschichte und Geschlecht 1), Frankfurt am Main/New York 1992, S. 81–88, Zitate S. 81 und 87. 52 So der deutsche Titel des von Philippe Ariès und Georges Duby 1985 herausgegebenen Werkes in fünf Bänden  : „Histoire de la vie privée“  ; dt. Ausgabe Frankfurt am Main 1990. 53 Zu dieser Diskussion, die heute ein Stück weit überholt ist, weil die Polarisierung zwischen ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Privatheit‘ nicht mehr als ein die Wirklichkeit strukturierendes Ordnungsmodell angesehen wird, vgl. das entsprechende Kapitel bei Claudia Opitz-Belakhal, Geschlechtergeschichte (wie Anm. 16), S. 106–130, mit einer kritischen Sichtung der Forschung. Zu Wandel und Varianz der geschlechterspezifisch wahrgenommenen Räume vgl. Sarah Rees Jones, Public and Private Space and Gender in Medieval Europe, in  : Bennett/Karras (Hg.), The Oxford Handbook of Women and Gender (wie Anm. 19), S. 246–261. Umfassende begriffsgeschichtliche Herleitungen und methodenkritische Reflexionen jenseits der von Geschlechterhistorikern und -historikerinnen geführten Diskussion bei Peter von Moos, „Öffentlich“ und „privat“ im Mittelalter. Zu einem Problem der historischen Begriffsbildung (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 33), Heidelberg 2004. 54 Birgit Studt, Helden und Heilige. Männlichkeitsentwürfe im frühen und hohen Mittelalter, in  : Historische Zeitschrift 276, 2003, S.  1–36  ; einen Überblick über Themen und Thesenbildungen in der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung gibt Bea Lundt, Die Grenzen des Heros. Vielfältige Männlichkeiten in Mittelalter und Früher Neuzeit, in  : Martin Lücke (Hg.), Helden in der Krise. Didaktische Blicke auf die Geschichte der Männlichkeiten (Historische Geschlechterforschung und Didaktik 2), Münster 2013, S. 67–101.

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tereinander profilieren müssen und in Konkurrenz zueinander Vorstellungen davon entstehen, was als maskulin gelten soll und was nicht.55 Es sind divergierende Modelle kriegerischer Männlichkeiten (im Plural) erarbeitet worden.56 Mittelalterliche Darstellungen des Kriegshelden und Bewertungen des Kampfverweigerers, der in den Quellen mit als typisch weiblich angesehenen Attributen effeminiert wird, belegen nur allzu gut, wie sehr doch einseitig moderne Vorstellungen vom tapferen Ritter in strahlender Rüstung und dem heldenhaft kämpfenden König eine kitschige, romantisierende Verklärung darstellen, projiziert auf eine äußerst brutale kriegerische mittelalterliche Welt.57 Kontroversen entzündeten sich epochenübergreifend an dem von Robert Connell konzipierten Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“, das mit der Debatte zum Konzept der „Krise der Männlichkeit“ verknüpft ist.58 Zeiten der „Krise der Männlichkeit“ wurden von Connell im Übergang des Mittelalters zur Frühen Neuzeit (vom 15. zum 16. Jahrhundert) sowie weitere Krisen in den folgenden Jahrhunderten identifiziert.59 55 Fößel, Zur Einführung (wie Anm. 29), S. 9–25. 56 Therese Steffen (Hg.), Masculinities/Maskulinitäten. Mythos – Realität – Repräsentation – Rollendruck, Stuttgart/Weimar 2002, mit der Einleitung von Therese Frey Steffen/Alexander Marzahn, S. VII–XI. 57 Vgl. die einschlägigen Beiträge von Laury Sarti, Militärische Wertvorstellungen und männliche Identitäten im merowingischen Gallien, S.  29–45  ; Ingrid Schlegl, Männlichkeitskonstrukte zwischen Heldentum und Kampfverweigerung in den Kreuzzugsnarrativen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts, S. 79–98  ; Bastian Walter-Bogedain, Alle gegen ihn – er gegen alle. Das Ideal des kämpfenden Königs im Mittelalter, S.  99–124  ; Jörg Rogge, Kämpfer und ihre Körper. Bemerkungen zur „kriegerischen Männlichkeit“ im späten Mittelalter, S. 125–137, in  : Fößel (Hg.), Gewalt, Krieg und Geschlecht (wie Anm. 29), sowie den Sammelband von Ann Marie Rasmussen (Hg.), Rivalrous Masculinities. New Directions in Medieval Gender Studies, Notre Dame, Ind. 2019. 58 Zu den verschiedenen Konzepten und „Krisen der Männlichkeit“ vgl. Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten (Historische Einführungen 5), Frankfurt am Main/New York 22018  ; Thomas Kühne, Männergeschichte als Geschlechtergeschichte in  : Ders.  (Hg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne (Geschichte und Geschlechter 14), Frankfurt am Main/New York 1996, S. 7–30  ; zu Connells Konzept  : Martin Dinges, ‚Hegemoniale Männlichkeit‘ – ein Konzept auf dem Prüfstand, in  : Ders.  (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt am Main/New York 2005, S.  7–33, und jüngst Ders., „Hegemoniale Männlichkeit“. Nutzen und Grenzen eines  Konzepts, in  : Matthias Becher/Achim Fischelmann/Katharina Gahbler (Hg.), Vormoderne Macht und Herrschaft. Geschlechterdimensionen und Spannungsfelder (Macht und Herrschaft 12), Göttingen 2021, S. 97–110. 59 Zum Krisenbegriff mit Bezug auf die Connellsche hegemoniale Männlichkeit als analytisches und historiographisches Konzept  : Claudia Opitz-Belakhal, „Krise der Männlichkeit“ – ein nützliches Konzept der Geschlechtergeschichte  ?, in  : L’Homme. Z.F.G. 19, 2008, S. 31–49.

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Der Thesenbildung von Jo Ann McNamara und Suzanne Wemple zufolge sei jedoch bereits eine frühere „Krise der Männlichkeit“ im Hochmittelalter entstanden, ausgelöst durch die sog. Gregorianische Reform im 11. Jahrhundert, die mit der Forderung einer Durchsetzung des Zölibats für Kleriker einherging, was die Geschlechterordnung und die Machtverhältnisse nachhaltig verändert habe. Diese These wurde später von McNamara weiter fundiert.60 Sie basiert auf der Annahme, dass das Konzept der zölibatären Lebensweise darauf ausgelegt gewesen sei, Macht und Einfluss der Kirche zu stärken, und dabei den Klerus in die Krise gestürzt habe, weil man sich jenseits von familiären männlichen Rollen neu habe definieren und von den Frauen und den Laien insgesamt habe abgrenzen müssen. Der Zölibat habe „profound disturbances in the gender system“61 ausgelöst und die Trennung der Geschlechter befördert.62 Im Zuge dessen sei Männlichkeit im 12. Jahrhundert neu definiert worden als eine „machtvolle zölibatäre Männlichkeit“, die jedoch nicht, so Bea Lundt in Auseinandersetzung damit, eine Identitätskrise im Klerus, wie behauptet wird, ausgelöst habe, weil, so Lundts Argument, das Ideal der Askese in der europäischen Kultur seit der Antike fest verankert war. Lundt widerspricht der Ansicht, „dass ein Forschungskonsens bestünde über eine krisenhafte ‚Entsexualisierung‘ oder gar ‚Entkörperlichung‘ mittelalterlicher Männlichkeit durch das neu belebte Zölibat“, und kontrastiert diese problematische Bewertung mit zeitgleichen, positiv konnotierten männlichen Lebensentwürfen, die auf Askese und Kontemplation basierten, so wie wir das im 11. und 12. Jahrhundert allenthalben greifen können, und zwar für Männer wie für Frauen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es ein fluides und „vielschichtiges Angebot an möglichen Männlichkeiten im Mittelalter“ gegeben habe, von einer „Krise“ keine Rede sein könne und sich vielmehr „eine Fülle von (unterschiedlichen) Realisierungsformen maskuliner Existenz“ nachweisen lasse.63 Auch diese Thesenbildung basiert letztlich auf der weitverbreiteten Annahme, dass statische binäre Konzepte davon, was als ‚weiblich‘ und als ‚männlich‘ anzusehen ist, für vormoderne Gesellschaften nicht taugen, weil das, was als ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ verstanden wird, vielfältigem historischem Wandel unterliegt. Die grundsätzli60 McNamara/Wemple, The Power of Women (wie Anm. 43), S. 126–141  ; Jo Ann McNamara, The Herrenfrage  : The Restructuring of the Gender System, 1050–1150, in  : Clare A. Lees (Hg.), Medieval Masculinities. Regarding Men in the Middle Ages (Medieval Cultures 7), Minneapolis/London 1994, S. 3–29. 61 McNamara, The Herrenfrage (wie Anm. 60), S. 21f. 62 Zu den kirchlichen und monastischen Zölibatsforderungen im Hinblick auf die Frauen und den Forschungsdiskurs vgl. Fiona J. Griffiths, Women and Reform in the Central Middle Ages, in  : Bennett/Karras (Hg.), The Oxford Handbook of Women and Gender (wie Anm. 19), S. 447–463. 63 Bea Lundt, Mönch, Kleriker, Gelehrter, Intellektueller. Zu Wandel und Krise der Männlichkeiten im 12. Jahrhundert, in  : L’Homme. Z.F.G. 19, 2008, S. 11–29, die Zitate S. 17.

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che Skepsis gegenüber einem dichotomisch und komplementär gedachten Gegensatz von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ als einem modernen gesellschaftspolitischen Konzept hat auch Claudia Opitz–Belakhal formuliert  : Die historische Geschlechterforschung gehe davon aus, „dass sich der dichotomische Gegensatz von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ im Okzident erst im Kontext der Aufklärung und der modernen Geschlechterordnung“ etabliert habe und also „möglicherweise nur für moderne westliche Geschlechterkonzepte, und wohl nicht für ältere, auch nicht für außereuropäische oder nicht-westliche Verhältnisse“ gelten könne.64 Dass binäre Konzepte im Umgang mit Geschlecht in der Zeit der sog. Vormoderne zu problematisieren sind, zeigen auch neuere Forschungen zu Körperlichkeit und Sexualität, die zunächst in der englischsprachigen Mediävistik thematisiert wurden. Wegweisend waren dabei die Studien von Caroline Walker Bynum65 und Ruth Mazo Karras.66 In der deutschen Mediävistik ist erst in jüngerer Zeit zunehmend Aufmerksamkeit auf dieses Themenfeld gelenkt worden, nachdem sich die sog. Queer-Forschung etabliert und zu einem kontrovers diskutierten Themenfeld entwickelt hat. Insbesondere Judith Butler gilt als die Wissenschaftlerin, die die konzeptionelle Erweiterung der Gender Studies hin zu den Queer Studies vorangetrieben hat. Gesellschaftspolitische Zielsetzung ist es, für die sog. postmoderne Gesellschaft eine explizite Auflösung binärer Ordnungsvorstellungen und der sog. Heteronormativität als einer gesellschaftlichen Konvention seit dem 19. Jahrhundert zu erreichen. Den biologischen und genetischen Erklärungen für die jeweilige Geschlechtsidentität wird in den Queer Studies keine Bedeutung mehr zugesprochen.67

64 Opitz-Belakhal, „Krise der Männlichkeit“ (wie Anm. 59), S. 31. 65 Caroline Walker Bynum, Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters (edition suhrkamp 1731, Neue Folge 731), Frankfurt am Main 1996  ; engl. Original  : Fragmentation and Redemption, New York 1991  ; vgl. dazu die Besprechung von Peter Dinzelbacher, in  : Mediaevistik 9, 1996, S. 297–300. Zu Körperbezogenheit und Emotionalität spätmittelalterlicher Frömmigkeit vgl. den Aufsatz von Christina Lutter, Geschlecht, Gefühl, Körper – Kategorien einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik  ?, in  : L’Homme. Z.F.G. 18, 2007, S. 9–26. 66 Ruth Mazo Karras, Sexuality in Medieval Europe. Doing unto Others, London/New York 22012  ; vgl. die Rezension von Albrecht Diem, in   : Sehepunkte 14. 6. 2014 (, aufgerufen am 02.03.2022). 67 Aus dieser postmodernen diskursiven Position heraus erscheint der Natur-Kultur-Gegensatz „als Konstrukt einer männlich geprägten okzidentalen Wissenschaft“ und die dazu geführte traditionelle Debatte als irrelevant  ; vgl. dazu Opitz-Belakhal, Geschlechtergeschichte (wie Anm. 16), S. 42–63, das Zitat S. 44. Zur historisch-philosophischen Einordnung der Begriffe und zu den gegenwartspolitischen Auswirkungen der aktuellen Debatten zuletzt kritisch Christoph Türcke, Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns, München 2021.

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Die von Butler vertretenen Positionen68 und die von Thomas Laqueur bereits in den 70er Jahren formulierte These des sogenannten „Ein-Körper-Modells“ in der Vormoderne69 sind ein Ausgangspunkt für neuere Studien zur Geschlechterdifferenz im Hinblick auf die Körperlichkeit, die auf die Problematik der geschlechtlichen Uneindeutigkeit zielt.70 Diese aktuellen Debatten um Inter- und Transsexualität geschuldete Fragestellung hat zuletzt einen mediävistischen Arbeitsbereich aufgetan, der – den Leitfragen des Sammelbandes entsprechend – eine epochen- und kultur­ übergreifende Relevanz und damit auch das Potenzial für eine über das Mittelalter hinausgehende Reichweite und fachübergreifende Anschlussfähigkeit haben d ­ ürfte.71 Für die deutsche Mediävistik ist auf neuere Arbeiten von Christof Rolker und Almut Höfert zu verweisen. In einem Aufsatz in der Historischen Zeitschrift hat Rolker auf das in spätmittelalterlichen Chroniken und Gerichtsakten greifbare Phänomen der geschlechtlichen Uneindeutigkeit von Menschen aufmerksam gemacht und aus seinen Befunden einige weitreichende Schlussfolgerungen gezogen. Demnach lassen sich im späten Mittelalter also Fälle eines körperlichen Geschlechtswechsels nachweisen, nicht besonders viele, aber immerhin einige. Der Wechsel des anatomischen Geschlechts war mit einem Wechsel des sozialen Geschlechts und somit auch des

68 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter (edition suhrkamp 2433), Frankfurt am Main 1991  ; engl. Original  : Gender Trouble, 1990  ; Dies., Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (edition suhrkamp 1737), Frankfurt am Main 1997  ; engl. Original  : Bodies that Matter. On the Discursive Limits of “Sex”, New York 1993. Butlers Thesenbildungen sind breit rezipiert und in unterschiedlicher Weise kritisiert worden, vgl. etwa die Einführung ins Werk von Paula-Irene Villa, Judith Butler. Eine Einführung, Frankfurt am Main/New York 22012. 69 Thomas Laqueur, Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge 1990. 70 Vgl. Brigitte Spreitzer, Störfälle. Zur Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion von Geschlechterdifferenz(en) im Mittelalter, in  : Ingrid Bennewitz/Helmut Tervooren (Hg.), Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters (Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie 9), Berlin 1999, S. 249–262. 71 Diese Annahme gilt im weitesten Sinn ebenso für das auch für die Vormoderne intensiv bearbeitete Themenfeld der Homoerotik und Homosexualität  ; aus der Fülle der Literatur sei hier lediglich hingewiesen auf Helmut Puff, Same-Sex Possibilities, in  : Bennett/Karras (Hg.), The Oxford Handbook of Women and Gender (wie Anm. 19), S. 379–395  ; Sven Limbeck, Geschlechter in Beziehung  : Die „heterosexuelle“ Konstruktion gleichgeschlechtlicher Beziehungen im Mittelalter, in  : Steffen (Hg.), Masculinities/Maskulinitäten (wie Anm.  56), S.  146–176   ; Lev Mordechai Thoma/Sven Limbeck (Hg.), „Die sünde, der sich der tiuvel schamet in der helle“. Homosexualität in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Ostfildern 2009, mit einer thematisch einschlägigen Auswahlbibliographie, S. 249–267  ; Norman Domeier/Christian Mühling (Hg.), Homosexualität am Hof. Praktiken und Diskurse vom Mittelalter bis heute (Geschichte und Geschlechter 74), Frankfurt am Main/ New York 2020.

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sozialen Status verknüpft. Aufschlussreich ist, dass es sich dabei nur um Fälle handelt, bei denen Frauen und explizit Ehefrauen den Wechsel hin zum Mann vollzogen, während umgekehrt ein Wechsel vom Mann zur Frau sich bislang in diesen Quellengruppen nicht nachweisen lässt. Die spätmittelalterlichen narrativen Quellen, so Rolker, „zeigen, dass über Menschen mit geschlechtlich uneindeutigen Körpern erstaunlich unaufgeregt geredet wurde, selbst wenn diese nacheinander als Frau und als Mann verheiratet waren“.72 Im Ergebnis kann er das auf Michel Foucault zurückgehende, gängige Verfolgungsnarrativ ebenso zurückweisen wie das „Ein-Körper-Modell“ Laqueurs. Rolker interpretiert vielmehr die Möglichkeit des Geschlechtswechsels von der Frau hin zum Mann „als Ausdruck von relativ niedrigen Anforderungen an Männlichkeit im Allgemeinen und an Männer, die sich verheiraten wollten, im Besonderen“. Er argumentiert mit Blick auf die Institution der mittelalterlichen Ehe, dass diese „im historischen Vergleich eine niedrigschwellige Institution“ gewesen sei, „keine anatomisch eindeutigen Körper voraussetzte“ und „gerade deshalb […] geeignet (war), eindeutige soziale Geschlechter zu produzieren“.73 Die Möglichkeit also, dass ein intersexueller Mensch im Mittelalter zuerst als Frau, dann als Mann verheiratet sein konnte, lasse auf einen anderen Umgang schließen als in der Neuzeit, in der nicht nur die Voraussetzungen für eine Eheschließung, sondern auch die Ansprüche an die soziale Rolle des ‚Hausvaters‘ größer gewesen seien. In der weiteren Konsequenz zeigt die Diskussion, dass die Unterscheidung Scotts zwischen ‚sex‘ und ‚gender‘ als Analysekriterium weiterhin „nützlich“ ist, weil, so Rolker, „die Vielfalt der Praktiken des making sex genauso untersucht werden (müssen), wie es für die Vielfalt der Praktiken des doing genders inzwischen selbstverständlich ist“.74 Darüber hinaus gab es in rechtlicher und gesellschaftlicher Perspektive aber sehr wohl binäre Zuschreibungen und Wahrnehmungsweisen als Mann oder als Frau.75 Diese hingen davon ab, in welcher sozialen Rolle eine Person auftrat.76 Damit ver72 Christof Rolker, Der Hermaphrodit und seine Frau. Körper, Sexualität und Geschlecht im Mittelalter, in  : Historische Zeitschrift 297, 2013, S. 593–620, das Zitat S. 620. 73 Alle Zitate ebd., S. 620. 74 Ebd., S. 618  ; vgl. auch Christof Rolker, The Two Laws and the Three Sexes  : Ambiguous Bodies in Canon Law and Roman Law (12th to 16th centuries), in  : Zeitschrift für Rechtsgeschichte Kan. Abt. 100, 2014, S. 178–222  ; Ders., Genitalien vor Gericht. ‚Uneindeutiges‘ Geschlecht in der gerichtlichen Praxis des 14.  Jahrhunderts, in  : Benjamin Scheller/Christian Hoffarth  (Hg.), Ambiguität und die Ordnungen des Sozialen im Mittelalter (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Beihefte 10), Berlin/Boston 2018, S. 151–174. 75 Kulturübergreifend zur rechtlichen Dimension  : Almut Höfert, Körperliches Geschlecht und sexus  : Hermaphroditen in Rechtsdiskursen des lateinischen und arabischen Mittelalters, in  : Becker/Höfert/Mommertz/Ruppel (Hg.), Körper – Macht – Geschlecht (wie Anm. 21), S. 31–57. 76 Zum Thema des Wechsels des sozialen Geschlechts in Form von ‚Crossdressing‘ ist zu verweisen auf

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knüpft ist die grundsätzliche Frage nach der Dimension von Geschlecht im Mittelalter. Auch Rolker kommt zu dem Ergebnis, dass in rechtlicher Hinsicht Freiheit und Unfreiheit die primäre Differenzkategorie markiere, das Geschlecht hingegen eine sekundäre Unterscheidung darstelle. Diesen Überblick über Anfänge und Entwicklungen, Konzepte und Fragestellungen, Schwerpunktsetzungen und Thesenbildungen kurz resümierend, lässt sich festhalten, dass die Frauen- und Geschlechtergeschichte, die in den 70er und 80er Jahren des 20.  Jahrhunderts aus emanzipatorischen und feministischen Interessen heraus mit der Zielsetzung konzipiert worden ist, den von der Geschichtswissenschaft weithin vernachlässigten Frauen einen angemessenen Platz in der Geschichte einzuräumen und zunehmend das ‚Geschlecht‘ als wichtige geschichtswissenschaftliche Kategorie durchzusetzen, bis heute von grundlegenden Kontroversen begleitet ist. Dabei ging es in der frühen Phase einerseits um ein Für und Wider einer frauengeschichtlichen bzw. geschlechtergeschichtlichen Perspektive – was überwunden ist, während ihr Stellenwert im Rahmen der Geschichtswissenschaft noch kontrovers diskutiert wird –, andererseits und fortan aber um Diskussionen, wie Geschlechtergeschichte betrieben werden soll. Dabei ist hinsichtlich der debattierten Aspekte zugleich eine deutliche Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der Themen und Fragestellungen zu beobachten, indem allzu pauschalisierende Thesenbildungen und Deutungsmuster problematisiert und mit Rückbindung an Quellen und Methoden überprüft und modifiziert wurden. So konnte das Klischee von der Unterdrückung der Frauen im Mittelalter ebenso ad acta gelegt werden wie die Vorstellung von Königinnen und Äbtissinnen als ‚Ausnahmefrauen‘. In der Breite sind in der Geschichtswissenschaft – und auch in der Mediävistik – moderne theoretische Konzepte aufgegriffen worden. Dabei spielten die Scottsche Definition von ‚Geschlecht‘ eine zentrale Rolle sowie weitere auf dieser Grundlage entwickelte Konzepte zur Beschreibung des kulturellen ‚Geschlechts‘, die auf Perfor-

die lesenswerte Monographie von Andrea Liebers, „Eine Frau war dieser Mann“. Die Geschichte der Hildegund von Schönau, Zürich 1989. Für den Hinweis auf diese Publikation danke ich Frau Professor Lundt sehr herzlich. – Darüber hinaus ist das Phänomen über das berühmte Beispiel der Jeanne d’Arc hinaus vielfach in mittelalterlichen Quellen greifbar und wird auch als raffinierte Kriegslist angewandt, vgl. Martin Clauss, ‚Crossdressing‘ als Kriegslist. Überlegungen zu Gender-Transgressionen in spätmittelalterlichen Kriegserzählungen, in  : Fößel (Hg.), Gewalt, Krieg und Geschlecht (wie Anm. 29), S. 285–301. Zu Jeanne d’Arc  : Katharina Simon-Muscheid, „Gekleidet, beritten und bewaffnet wie ein Mann“. Annäherungsversuche an die historische Jeanne d’Arc, in  : Hedwig Röckelein/Charlotte Schoell-Glass/Maria E. Müller (Hg.), Jeanne d’Arc oder Wie Geschichte eine Figur konstruiert (Frauen – Kultur – Geschichte 4), Freiburg/Basel/Wien 1996, S. 28–54.

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manz, Varianz und Variabilität und damit auf die Historizität der Geschlechter zielen und darauf, was in den verschiedenen historischen Situationen und Kontexten als ‚weiblich‘, was als ‚männlich‘ wahrgenommen wurde und welche Zuschreibungen und Stereotype damit in den Quellen verknüpft wurden. Die neueren Konzepte des ‚doing gender‘ und des ‚narrating gender‘ und die damit verknüpften Fragen nach dem kultur- und epochenspezifischen Stellenwert von ‚Geschlecht‘ sind auch in der Mittelalterforschung aufgegriffen worden und haben in unterschiedlichen Themenfeldern zu Debatten geführt und Deutungsstreitigkeiten über die Richtigkeit und Anwendbarkeit geschlechterspezifischer Konzepte und Begriffe und deren Relevanz für die Beschreibung gesellschaftlicher Ordnung im Mittelalter ausgelöst. Dabei ist für die Vormoderne auf die problematische Unterscheidung zwischen ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Privatheit‘ und deren Zuordnung hin auf die Geschlechter hingewiesen und diesbezüglich ein grundsätzlicher Unterschied zur Moderne ausgemacht worden. Kontro­ vers ist die Debatte um die Intersektionalität aufgenommen worden, die einerseits vielfach begrüßt, andererseits als ‚alter Hut‘ zur Kenntnis genommen wurde, weil aus mediävistischer Sicht das ‚Geschlecht‘ vielfach nicht als zentrale Differenzkategorie für die gesellschaftliche Ordnung erscheint – im Unterschied zur Diskussion der letzten Jahrzehnte –, sondern vielmehr einen Faktor neben zahlreichen anderen darstellt. Insbesondere die Forschung zu den Herrscherinnen hat in den letzten Jahrzehnten deutlich gezeigt, dass ‚Geschlecht‘ nicht als zentrale Analysekategorie zur Beschreibung ihrer machtpolitischen Handlungsspielräume taugt, gleichwohl aber wichtige Perspektiven und Beschreibungsmodi eröffnen kann, wo Wahrnehmung und Bewertung der Handlungsweisen der Frauen durch mittelalterliche Historiographen in den Blick geraten. Hat die Mittelalterforschung einerseits also das kritische Potenzial der Geschlechtergeschichte in wesentlichen Unterschieden zu anderen Epochen deutlich gemacht, so entwickelten sich daraus andererseits auch zentrale Fragen zu Wandlungsprozessen im Verlauf des Mittelalters und führten zu kontroversen Debatten, die vielfach noch andauern. Langfristige Deutungsstreitigkeiten lösten Jo Ann McNamara und Suzanne Wemple mit ihrer umfassend akzentuierten These vom Machtverlust der Frauen im Verlauf des hohen Mittelalters aus, der in weiten Teilen widersprochen wurde. Das führte unter anderem auch zu der grundsätzlichen Frage nach der Sinnhaftigkeit von Thesenbildungen, die Wandlungsphänomene zum ‚Besseren‘ oder ‚Schlechteren‘ ausmachen wollen, so Judith M. Bennett. Abzuwarten bleibt, wie sich die zuletzt wieder aus deutlich modernen, emanzipatorischen Interessen heraus konzipierten Debatten entwickeln, die aus der neueren Geschichte der Männlichkeiten und der Queer-Forschung resultieren und auch von der Mittelalterforschung rezipiert werden. Diese haben grundlegende epochenspezi-

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fische und epochenübergreifende Krisen- und Wandlungsphänomene im Blick und können damit das fach- und epochenübergreifende Gespräch bereichern. Eine kritische Diskussionsmasse ergibt sich aus der Frage nach der Bedeutung und Auflösung von binären Geschlechterstrukturen und den damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Implikationen. Über die Diskussionszusammenhänge der Queer Studies und dem damit einhergehenden Fokus auf Körperlichkeit hinaus ist für die vormoderne Gesellschaftsordnung immer wieder die Tauglichkeit dichotomisch angelegter Erklärungsmodelle problematisiert worden. Wurden in der Mediävistik konzeptionelle Überlegungen der Geschlechtergeschichte vielfach rezipiert und im Hinblick auf mittelalterliche Phänomene, Begriffe und Zusammenhänge auch modifiziert, so hat man sich bislang doch wenig an Konzeptionen beteiligt oder diese gar weiterentwickelt, was durchaus eine weiterführende Forschungsaufgabe für die Zukunft darstellen könnte. Wenn die US-amerikanische Mediävistin Judith M. Bennett beklagt, dass die mediävistische Geschlechterforschung den Anschluss an die Geschlechtergeschichte der neueren Epochen verloren habe, und das daran festmacht, dass immer weniger Beiträge aus dem Mittelalter bei themenspezifischen Tagungen und in wissenschaftlichen Zeitschriften berücksichtigt werden,77 dann können Fragestellungen und Ergebnisse einer quellenbasierten Mediävistik, die alte Narrative und allzu vereinfachende, binär angelegte Konzepte und Sichtweisen dekonstruiert, Pluralität und Wandelbarkeit von Geschlecht und Geschlechterbeziehungen in den mittelalterlichen Gesellschaften abbildet und konkrete Befunde im historischen Vergleich darzustellen, einzuordnen und darüber hinaus theoretisch zu reflektieren weiß, sicherlich auch wieder eine neue Reichweite über das Mittelalter hinaus und – globalgeschichtlich betrachtet – über Kulturen hinweg erlangen und einen wichtigen Beitrag zum allgemeinen Geschichtsverständnis und dem Zusammenleben von Männern und Frauen leisten.

77 Judith M. Bennett, Forgetting the Past, in  : Gender & History 20, 2008, S. 669–677.

Martin Gravel

Que reste-t-il de l’« esprit des Annales » dans l’histoire du Moyen Âge pratiquée en France ? De 1929 à 1989, l’historiographie des Annales a exercé une influence qu’on ne saurait sous-estimer. En France, elle provoqua bien des controverses et il ne semble pas excessif de dire qu’à leur sommet, les Annales ont fonctionné comme une expérience d’affrontement des concepts et des méthodes de la recherche historique. Ce thème ne pouvait donc pas échapper à une publication sur les débats qui orientent aujourd’hui la recherche en histoire du Moyen Âge. Dans ce contexte, il est sans doute préférable de l’aborder comme tel, comme objet de débat, dont le traitement ne peut pas être parfaitement distancé et objectif. Je préfère donc poser d’emblée que j’ai accepté de traiter ce sujet, parce qu’en tant que pièce rapportée, pour trouver ma place dans la vaste famille de la médiévistique française, j’ai dû m’intéresser à ses réalisations, comme à sa culture et ses institutions. Je lui dois beaucoup, y compris, parfois, quelques agacements. Il y a donc ici des faits observables, quelques arguments, mais aussi des impressions et en définitive, un essai ouvert à la discussion. Il n’est pas facile de déterminer ce qu’est devenue l’« école » des Annales. L’expression reste pratiquée aujourd’hui, car elle a l’avantage de désigner d’un seul coup l’ambition fédératrice des coryphées de la revue du même nom, fondée en 1929. Elle a été assumée au temps de leur plus grande influence, dans le troisième quart du XXe siècle, ce qu’on appelle en France les Trente Glorieuses.1 Puis, l’« école » a perdu son rayonnement. On n’y fait plus référence sans mise en garde, sans guillemets, si ce n’est en cours – l’enseignement se passe difficilement de ces raccourcis, malgré leur imprécision et les hésitations que provoque leur usage. Cela ne veut pas dire que l’expression ne désigne rien de concret. Les institutions et les réseaux de relations qui structurent l’enseignement et la recherche aujourd’hui en France ont été largement orientés par les historiens qui furent associés à l’« école » des Annales à son sommet. La plupart des acteurs de cette période de rayonnement ne sont plus ; leurs idées se sont éventées, dans l’air du temps, mais les effets de leurs 1 Cette expression désigne les années de relance économique qui vont de la conclusion de la Deuxième Guerre mondiale aux chocs pétroliers des années soixante-dix. Publié dans le cadre d’un débat d’historiographie engagé en Allemagne, cet article offre en notes des précisions de détail qu’une historienne française trouvera inutiles, mais qui pourront servir au lectorat francophone hors de France.

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œuvres persistent, au moins sous la forme des relations de pouvoir que tissent leurs successeurs.2 Qu’il suffise pour s’en convaincre d’évoquer l’École des hautes études en sciences sociales et la Fondation Maison des sciences de l’homme, nées de ce mouvement, ou la revue elle-même, qui reste le périodique français d’histoire le mieux coté à l’échelle mondiale et le plus prestigieux en France. Il y a là un important capital symbolique, voire une puissante marque de commerce, ce qui rend difficile d’aborder le sujet de front. Est-il nécessaire de revenir sur ces questions ? N’ont-elles pas déjà leurs réponses ? De fait, cette histoire a été reprise et exposée à neuf par la revue elle-même, dans un numéro publié en 2020 (« Autoportrait d’une revue »).3 Il ressort de sa lecture qu’il n’est plus possible aujourd’hui d’imputer des visées d’orientation de la recherche à cette « école ». Ses dernières expériences d’orchestration symphonique de la profession datent des années soixante-dix, au temps de l’appel à fonder une « nouvelle histoire ».4 Il y eut ensuite un « tournant critique » en 1989, qui marqua l’abandon de ces prétentions.5 Nous nous trouvons aujourd’hui dans la suite de ce tournant : c’est le présent des Annales. Ceci étant, il n’est jamais souhaitable d’abandonner à une institution sa propre étude, aussi transparente soit-elle. De plus, la question posée ici est restreinte à l’histoire du Moyen Âge, qui n’a pas fait l’objet d’une attention particulière dans l’autoportrait de 2020. Et donc, pour tenter de répondre à cette question, nous verrons d’abord ce que la revue propose en matière d’histoire du Moyen Âge depuis 1990, ce qui mènera à considérer la place limitée de cette histoire dans l’orientation thématique de la revue. Dans un deuxième temps, nous chercherons à cerner ce qui subsiste de l’influence de l’« école » sur la pratique de l’histoire du Moyen Âge en France, ce qui implique de réfléchir d’abord à ce que sont – à ce que furent – les Annales.

2 Le féminin inclusif offre au français la solution la plus élégante au problème de l’invisibilité des femmes « dans le texte ». Cependant, les formes masculines ont été maintenues ici, lorsqu’il est question de l’histoire des Annales, qui a été en très grande partie une affaire d’hommes. Pour s’en convaincre, il suffit de retourner aux tables des matières des ouvrages programmatiques de la troisième génération des Annales, où Évelyne Patlagean et Mona Ozouf étaient bien seules (n. 4). Nous n’en sommes plus là aujourd’hui, et c’est la raison pour laquelle le féminin inclusif apparaît dans la suite du texte. 3 Annales. Histoire, sciences sociales 75/3–4, 2020. 4 Les ouvrages clefs de cette proposition sont  :  Pierre Nora/Jacques Le  Goff  (dir.), Faire de l’histoire (Folio. Histoire 16–18), Paris 1986 [1re éd. 1974] ; Roger Chartier/Jacques Le  Goff/Jacques ­R evel (dir.), La Nouvelle histoire (Historiques 47), Bruxelles 2006 [1re éd. 1978]. 5 Voir l’appel à échanger sur ce tournant critique et l’éditorial qui en offre le bilan : Histoire et sciences sociales. Un tournant critique, dans : Annales. Économies, sociétés, civilisations 43, 1988, p. 291–293 ; Tentons l’expérience, dans : Annales. Économies, sociétés, civilisations 44, 1989, p. 1317–1323.

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La revue et le Moyen Âge Dans l’histoire de l’école des Annales – laissons les guillemets –, la revue du même nom constitue la base la plus concrète et l’élément de continuité le plus évident. Elle fêtera son centième anniversaire en 2029. En un siècle, sa parution n’a pas été souvent perturbée. Son rythme a quelque peu changé, atteignant une cadence bimestrielle de 1960 à 2010, ralentissant ensuite à une cadence trimestrielle. La responsabilité de la publication est aussi remarquablement constante. L’École des hautes études en sciences sociales [désormais  : EHESS] assure l’édition. Longtemps restée entre les mains de la maison Armand Colin – première éditrice historique de la revue6 –, la distribution est passée aux mains des Presses de l’Université de Cambridge en 2017. D’un point de vue institutionnel, la revue reste un pilier de la science historique, peutêtre plus encore dans la sphère anglo-saxonne, où l’on y vient dans l’espoir de goûter ce que cuisine la recherche française, ce qui explique que ses articles soient traduits en anglais depuis son association aux Cambridge University Press. Manifestement, les Annales entendent survivre à la réduction de la réception de la recherche francophone dans le monde. La revue a changé de nom à quelques reprises. Cela indique une réorientation scientifique, en principe, mais les faits ne permettent pas d’y voir beaucoup plus que des stratégies d’affichage. Elle s’est d’abord appelée Annales d’histoire économique et sociale (1929–1938), puis Annales d’histoire sociale (1939–1941). La guerre a causé une période de flottement  ; les deux numéros couvrant la période 1942–1944 ont été publiés sous le titre de Mélanges d’histoire sociale afin d’éviter la censure.7 Son deuxième titre stable n’a fait qu’ajouter un terme à l’équation, en laissant l’histoire sous-entendue : Annales. Économies, sociétés, civilisations (1946–1993). Elle est en­ suite revenue à une formulation plus simple  : Annales. Histoire, sciences sociales (1994 à aujourd’hui). Le désignatif principal s’est maintenu, l’histoire réapparaît et l’économie est subsumée sous les sciences sociales. Les termes complémentaires annoncent la même chose, à quelques nuances près  : la mise en relation de l’histoire – même lorsqu’elle s’efface – et des autres sciences sociales, des faits d’économie et de culture (de civilisation) au sens large. Le retrait de la référence à l’économie est la seule modification indicative d’un changement important dans l’orientation de la revue et, de fait, dans la recherche : depuis ses années de gloire, dans la France 6 Le lancement de la revue doit beaucoup au soutien de Max Leclerc, éditeur chez Armand Colin : Marc Bloch/Lucien Febvre, Max Leclerc (1864–1932), dans : Annales d’histoire économique et sociale 15, 1932, p. 1–2. 7 Lucien Febvre, À nos lecteurs, dans : Annales d’histoire sociale 8, 1945, p. 3–5.

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marxisante du temps de la Guerre froide, l’histoire économique du Moyen Âge s’est beaucoup rétrécie. À l’exception de ce dernier point, les changements d’affichage n’ont pas beaucoup éloigné la revue du projet initial de ses fondateurs, Marc Bloch (m. 1944) et Lucien Febvre (m. 1956). Les éditoriaux et la composition d’ensemble des premiers numéros sont clairs à ce sujet : la première mission des Annales était de provoquer des contacts entre spécialistes de différentes périodes, de différents thèmes de recherche, entre chercheurs français et étrangers, mais surtout, entre l’étude du présent et du passé.8 Il ne s’agissait pas de combattre la spécialisation, mais plutôt de stimuler le dialogue. Cohérent, clairement exprimé, le projet se résume en une phrase : ouvrir l’histoire au monde, aux autres sciences, à l’ensemble du continuum temporel. La sociologie n’est pas mentionnée explicitement, bien que ce fût la tension entre cette nouvelle science du présent et l’histoire qu’il s’agissait de résorber de façon constructive. Du point de vue de l’histoire, cette proposition visait le décloisonnement des périodes et des aires géographiques : les autres aspects du programme des Annales se sont développés sur cette base. Le premier numéro de la revue a été composé avec soin, de façon à refléter le programme exprimé dans son éditorial d’ouverture.9 On y lit quatre articles : un sur le prix du papyrus dans l’Antiquité, un autre sur l’instruction des marchands au Moyen Âge, un troisième sur l’industrie allemande de l’après-guerre, et un dernier sur la démographie de l’URSS. Passé et présent, faits sociaux et économiques  : les croisements temporels et thématiques sont évidents. Ces articles sont signés par des auteurs français, belge et suisses. Suit une deuxième section portant sur la vie scientifique : les sources, les congrès, les centres d’études et les personnalités de la recherche. Ici encore, la volonté de diversification des sujets et des approches se fait sentir : en l’espace de cinquante pages, la lectrice est passée de Scandinavie en Italie, en Afrique, en Tchécoslovaquie. La troisième section de la revue est consacrée aux comptes rendus et ici encore, la largeur de vue des Annales se révèle : on y trouve trente-huit comptes rendus, dont treize sont signés par Bloch et huit par Febvre. Il ne s’agissait pas de dresser un panorama complet de la recherche, mais plutôt de mettre en valeur les titres susceptibles de contribuer aux échanges qui sont au cœur de l’« esprit » des Annales. Cette dernière expression n’est pas anodine : elle était utilisée dans leur cor8 Tous les numéros sont accessibles en ligne : (consulté le 08.03. 2022). La plupart des éditoriaux auxquels il sera fait référence par la suite ont été réunis dans une collection choisie : 90 ans d’éditoriaux (1929–2017), dans : Annales. Histoire, sciences sociales 75, 2020, p. 727–796. 9 Marc Bloch/Lucien Febvre, À nos lecteurs, dans : Annales d’histoire économique et sociale 1, 1929, p. 1–2.

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respondance par les fondateurs de la revue et elle trouve une place dans leur premier éditorial.10 Il est inévitable qu’une entreprise adoptant un angle aussi large sur les affaires humaines ne consacre au Moyen Âge qu’une énergie limitée. Entendons ici le Moyen Âge au sens courant de l’expression, concernant l’Europe de traditions latine et grecque, du V e au XV e siècle de notre ère. Le médiéviste Bloch et le moderniste Febvre ont conçu leur entreprise en historiens ouverts à l’ensemble du continuum temporel. Au fil des générations, leurs successeurs à la direction de la revue ont maintenu ce principe, ce qui constitue déjà une première réponse à la question posée ici : dans le cadre de la publication des Annales, l’histoire du Moyen Âge occupe une place restreinte, parce que le cadre temporel adopté est très vaste, opposant plutôt le présent et le passé que les périodes historiques entre elles. Certes, avec le temps, les études d’histoire contemporaine sont devenues plus importantes, de même que celles d’histoire moderne. Le maintien de l’intention première des Annales peut expliquer le mouvement vers la contemporaine. Par contre, celui vers l’époque moderne n’a pas de justification scientifique : il tient aux personnalités et aux relations de Febvre et de Fernand Braudel (m. 1985), véritables architectes des grandes années des Annales. Leur influence a été déterminante sur la composition du comité de rédaction, lequel désigne toujours, en 2020, la période moderne comme « le socle historique de la vision du présent propre à la revue ».11 Dans ce comité, on trouve aujourd’hui un historien et une historienne médiévistes  : Étienne Anheim et Catherine Rideau-Kikuchi. Leurs curricula et leurs bibliographies sont accessibles en ligne.12 Le premier est un membre de longue date (2007) et il a longtemps assuré la direction de la revue (2011–2018). La deuxième a rejoint le comité en 2018 et elle n’occupe pas pour l’instant de poste de direction. Ils sont tous deux spécialistes des derniers siècles du Moyen Âge, avec un penchant pour l’histoire de l’Italie et de l’écriture. Anheim travaille aussi sur la papauté, notamment avignonnaise, alors que Rideau-Kikuchi publie sur l’histoire du livre et de l’imprimerie à l’aube de l’époque moderne. Ils ont tous deux été membres de l’École française de Rome, tous deux soutenu leur thèse à l’Université Paris 4 et tous deux enseigné comme titulaires à l’Université de Versailles Saint-Quentin. Ils participent du même réseau professionnel. 10 Ibid., p. 1 : « [Notre revue] apporte un esprit qui lui est propre. » 11 Approche quantitative d’un projet intellectuel, dans  : Annales. Histoire, sciences sociales 75, 2020, p. 590. 12 Il n’a pas semblé utile de renvoyer systématiquement à tous les sites consultés pour réunir les données biographiques utilisées dans les pages qui suivent  : Annales, EHESS, Regesta Imperii, SHMESP, sites universitaires, Wikipédia, etc.

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Ces petits portraits ne sont pas des révélations ; ils sont injustes, dans la mesure où ils sous-estiment les curiosités de leurs sujets, curiosités plus vastes que leur spécialisation. S’ils méritent néanmoins d’être dressés, c’est qu’ils montrent comment, de nos jours, l’histoire du Moyen Âge est intégrée dans la revue : par affinité. D’aucuns pourraient objecter qu’il serait difficile de faire autrement : le comité de rédaction ne peut pas regrouper toutes les spécialistes correspondant au très vaste champ de la revue. De fait, il compte sur une équipe diversifiée, mais limitée dans l’étendue totale de ses aires de spécialisation, surtout en termes de périodisation. Ce déséquilibre est particulièrement apparent pour le Moyen Âge, dont la représentation est très circonscrite d’un point de vue thématique, géographique et chronologique. Le comité scientifique ne suffit pas à contrebalancer cet effet et rien ne suggère que ce soit l’intention qui ait présidé à sa composition : sur ses dix-sept membres au début de 2019, on trouve un seul historien médiéviste, spécialiste de l’Italie du bas Moyen Âge, comme Anheim et Rideau-Kikuchi.13 En matière de période historique, le poids de l’époque moderne domine largement, avec huit membres dont les thèses de doctorat portaient sur différents sujets d’histoire européenne. Cette prépondérance de l’époque moderne remonte à l’époque où Febvre et Braudel posaient les bases institutionnelles et relationnelles durables des Annales, notamment par la création de la VI e  section de l’École pratique des hautes études, qui devint indépendante en 1975 sous le nom d’EHESS. Le lien entre la revue des Annales et cette école reste fort  : douze des dix-sept membres du comité scientifique de 2019 y tiennent ou y ont tenu un poste, temporaire ou permanent. La continuité institutionnelle des Annales semble assurée par l’EHESS, prestigieux établissement auquel elles restent associées de près. Cependant, dans l’animation scientifique de la revue, les médiévistes occupent une place plutôt marginale, confiée à deux historiens et une historienne dont les champs de spécialisation se recoupent, sur un espace de temps et de géographie limité. Il en découle que la revue n’exerce pas de traction sur la recherche en histoire médiévale en France. Elle n’aspire pas à impulser de mouvement d’ensemble, mais plutôt à donner à connaître des travaux jugés intéressants : « […] l’histoire-Annales pourrait aujourd’hui être définie comme l’histoire que la revue choisit de publier, en espérant donner envie à celles et ceux qui la lisent d’écrire à leur tour. »14 De fait, la plupart des publications sont le résultat de

13 Il s’agit de Sandro Carocci, un des six membres étrangers de ce comité. Cette liste datée – deux membres sont décédés depuis sa publication – est celle qu’il est possible de consulter sur le site de la revue  : (consulté le 10.03.2022). 14 Approche quantitative (n. 11), p. 606.

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sollicitations du comité de rédaction, donc de curiosités et de soutiens qui lui sont propres.15 Cette impression se confirme dans la répartition des contributions d’histoire médiévale. Un petit travail de compilation de données pour la période 1990–2020 permet quelques observations.16 Pendant ces trente années, il y eut onze dossiers de comptes rendus consacrés au Moyen Âge, mais leur répartition chronologique tend à s’espacer, de six en 1990–2000, à trois en 2000–2010, puis deux depuis 2010. Les articles suivent la même tendance. Le dénombrement des titres portant sur le Moyen Âge des mondes latin et grec en comptabilise environ 80 en 1990–2000, environ 50 en 2000–2010 et environ 30 en 2010–2020. Ces quantités sont laissées à dessein dans leur état d’approximation, car dans les faits, il n’est pas possible de classer tous les titres de façon catégorique. Il reste qu’un autre travail de comptage ne donnerait pas de résultats contradictoires. Cette impression d’ensemble doit être tempérée par la réduction du nombre de numéros publiés annuellement, passé de six à quatre en 2011, mais cette réduction du tiers ne suffit pas à expliquer celle des comptes rendus ou des articles, qui dépasse cette proportion. Ce genre de décompte laisse aussi entrevoir l’orientation thématique des contributions, mais il ne permet pas de faire beaucoup plus que confirmer l’impression qu’un survol des tables des matières suggérerait. Ainsi, les articles sur le haut Moyen Âge comptent pour environ 10 % de la part consacrée à l’histoire de toute la période médiévale, soit 1 % de l’ensemble des articles publiés par la revue. Pour l’Italie du bas Moyen Âge, la proportion est la même : environ 10 % de la part du Moyen Âge, donc 1 % de l’ensemble des articles publiés. Le Moyen Âge byzantin n’atteint pas cette proportion, avec environ neuf titres, soit le même comptage que pour les titres sur l’histoire du judaïsme (neuf titres), ou de ceux signés par Alain Boureau sur différents sujets (dix titres) : Byzance, le judaïsme, Alain Boureau, chacun comptant pour 5–6 % de la part du Moyen Âge, donc un demi pour cent du grand total. Il est évident qu’il n’y a pas ici de reflet de la production historiographique française, mais plutôt un collage, dont la composition dépend des relations et des inspirations des membres du comité de rédaction. Une revue dont le projet structurant a toujours été de mettre en 15 À la fin des années 90, la revue « […] cherche moins à se nourrir des textes qui lui sont proposés qu’à impulser, par des commandes, des directions de recherche qui lui semblent pertinentes et novatrices. » – Entre revue et « écoles ». Les Annales en situation, dans : Annales. Histoire, sciences sociales 75, 2020, p. 529. Pour quiconque connaît les affinités et les réseaux de la profession, il est évident que ce constat est toujours valable. 16 Toutes les données ont été compilées par l’auteur. Pour un bilan complet de la production de la revue sur la période 1990–2018, sous forme de base de données : (consulté le 27.04.2022).

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contact toutes les périodes, toutes les régions du globe et toutes les thématiques ne peut pas viser l’équilibre parfait dans la répartition de ses textes, mais il est regrettable que la difficulté de cet équilibre autorise un déséquilibre aussi marqué. Faut-il se désoler que les Annales suivent les tendances, plutôt que les établir ? Pour ce qui concerne l’histoire du Moyen Âge, il serait déraisonnable d’en demander plus à une revue que son équipe éditoriale tire vers l’époque moderne, le temps présent et l’histoire-monde. Le Moyen Âge est invité au dialogue, mais dans des limites plutôt convenues, déterminées par les réseaux des institutions dominantes de la profession : EHESS, Centre national de recherche scientifique [désormais  : CNRS], Écoles normales supérieures, École française de Rome, les universités de Paris qui affichent la marque de commerce « Sorbonne ». Bien sûr, dans l’ensemble, le poids de la capitale dépasse celui de la province.17 Il y a donc peu à dire sur l’influence de la revue des ­Annales sur la recherche française en histoire du Moyen Âge : elle est faible, voire à peu près nulle. C’est une caisse de résonnance sélective, parfois un organe de promotion, sans doute plus efficace à l’échelle du monde que de la France. Mais exercer une telle influence n’est plus son objectif explicite depuis trente ans. Ce constat ne suffit pas à répondre à la question initiale, puisqu’elle ne concerne que les personnes et les réseaux qui participent de la même nébuleuse que la revue. Il reste à voir si l’école des Annales occupe toujours une place d’orientation de la recherche, au-delà des institutions et des filiations intellectuelles qui lui sont associées.

L’école des Annales et le Moyen Âge Cette deuxième approche est plus difficile, car à l’inverse des institutions, les idées ne se laissent pas aisément circonscrire. Qu’est-ce que l’école des Annales ? De façon générale, tous s’entendent pour dire qu’elle a connu trois grands cycles, dont elle s’est ensuite éloignée. Il y eut d’abord la première école, celle des origines, animée par Marc Bloch et Lucien Febvre, sur la base de leur collaboration à l’Université de Strasbourg (1919–1932) et dans la fondation des Annales (1929–1940). Après la guerre, Febvre a assuré le renouveau de la revue en assumant sa direction, qu’il transmit ensuite à son élève Fernand Braudel : c’est la deuxième école. Ce fut la période de bouillonnement intellectuel pendant laquelle se précisèrent des conceptions associées de près aux ­Annales, notamment la longue durée, mais aussi les mentalités et la mobilisation 17 À ma connaissance, dans les grands pays de recherche et d’enseignement supérieur, seule la France connaît une polarisation aussi forte entre sa capitale et le reste de son territoire, qu’à Paris on désigne parfois en bloc comme « la province ».

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des statistiques. C’est ce bouillonnement même qui devint la marque de l’école des Annales. La troisième école se définit lorsqu’une nouvelle génération prit de plus en plus d’influence dans ce qui était devenu une famille intellectuelle puissante et rayonnante. Le transfert s’est officialisé lorsqu’en 1969, Braudel a confié la direction de la revue à Emmanuel Le Roy Ladurie et à Jacques Le Goff, qui furent soutenus par des secrétaires de direction dont le travail a été déterminant : d’abord André Burguière, puis Jacques Revel et Lucette Valensi.18 Sous l’influence croisée des courants à la mode dans la France d’après 1968, cette troisième école des annales a rêvé sa révolution, en créant une « nouvelle histoire ». Elle subit l’influence de Michel Foucault, figure dominante de cette époque magnétisée par les champs de l’épistémologie – alors conçue comme nécessaire au progrès des études historiques –, de la critique des institutions et du désir d’émancipation tous azimuts propre à l’esprit de mai 68. Il y eut ensuite une forme de désintérêt pour les grandes déclarations programmatiques, si bien qu’après leur « tournant critique », les Annales, leurs artisanes et leurs artisans ont évité de proposer quoi que ce soit qui puisse passer pour un quatrième paradigme. L’éditorial clef de 1989 amorce ce tournant de la revue : L’héritage des Annales appartient à tout le monde : libre à chacun d’en faire une lecture particulière, d’y puiser les éléments d’une pratique ou d’un positionnement intellectuels, d’en livrer une analyse généralement plus révélatrice de l’évolution de son auteur que de celle de la revue.19

Il y a ici de l’agacement, causé par les attaques dont la revue et sa nouvelle histoire avaient fait l’objet.20 Cette réplique défensive est révélatrice du relativisme – toute lecture, toute analyse, toute orientation de recherche est affaire de point de vue – qui devint le positionnement de référence : il n’était plus question de piloter les Annales comme le vaisseau amiral de la flotte historique française. 18 Fragments d’une histoire éditoriale, dans : Annales. Histoire, sciences sociales 75, 2020, p. 609–630. 19 Tentons l’expérience, dans : Annales. Économies, sociétés, civilisations 44, 1989, p. 1317. 20 Notamment : Hervé Coutau-Bégarie, Le phénomène « nouvelle histoire ». Stratégie et idéologie des nouveaux historiens, Paris 1983 ; François Dosse, L’histoire en miettes. Des « Annales » à la « nouvelle histoire » (Armillaire), Paris 1987. Le personnel de la revue est aussi touché par les critiques adressées à l’intellectuel médiatique français, lesquelles se multiplient dans les années 80, jusqu’en dehors de l’Hexagone, par exemple : Hervé Hamon/Patrick Rotman, Les intellocrates. Expédition en haute intelligentsia, Paris 1981 ; Jürg Altwegg, Querelles de Français, Paris 1989, traduction de : Die Republik des Geistes, Munich 1986  ; Jaime Semprun, Précis de récupération illustré de nombreux exemples tirés de l’histoire récente, Paris 1976 ; Gillian Rose, Dialectic of Nihilism. Post-Modernism and Law, Oxford 1984.

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Remplacer les grands projets communs par un éparpillement assumé peut décevoir, mais il faut reconnaître qu’après tout, les Annales n’ont pas de constitution, pas de charte intellectuelle. Les premiers responsables de l’illusion contraire sont les animateurs qui, avant 1989, n’hésitaient pas à déclarer dans la revue ce que devaient être les Annales, ce qu’elles allaient réaliser pour l’histoire, donc ce que devait être l’histoire. Le positionnement adopté depuis est d’assumer la fluidité du projet des Annales, de reconnaître que ce projet a lui-même une histoire et d’abandonner les professions dogmatiques de son âge d’or. Comme le gaullisme, l’école des Annales semble aujourd’hui reléguée à la fonction de référence idéale dont tout le monde peut se réclamer sans risque et sans effet. Il en reste de belles idées largement partagées, réunies dans une catéchèse pour étudiantes et étudiants, voire un credo de la profession. De quoi cette référence commune est-elle composée ? La troisième école y est pour peu de chose : dans la représentation que l’on s’en fait spontanément, dans l’enseignement, l’école des Annales est celle de Bloch, de Febvre et de Braudel ; Robert Mandrou, Ernest Labrousse et quelques autres y jouent de beaux rôles secondaires. Ses principes se laissent exprimer en quelques termes : interdisciplinarité, comparatisme, transpériodisme, société et économie – plutôt qu’individualité et politique –, longue durée, méthodes quantitatives et enfin mentalités et anthropologie historique, pour remplacer les notions devenues dérangeantes de culture et de civilisation. Cet assemblage reprend les idées généralement admises sur le sujet.21 Avec le temps, elle a gagné une patine plutôt lisse, donnant l’impression d’une conception cohérente de la pratique historienne, comme si elle avait maturée de façon harmonieuse, ce qui contribua à fixer l’usage d’y référer comme à une école. Les faits ne sont pas si simples. Depuis la mise en mouvement de la nouvelle histoire, depuis les réactions qu’elle a provoquées, les travaux sur les Annales ont révélé que leurs discours ont minoré les tensions qui ont marqué l’histoire de la revue, et donc de l’école.22 Cela a mené Gérard Noiriel à proposer que l’histoire de la profession ne pouvait pas se contenter de suivre les évolutions de la recherche et de l’enseignement, qu’elle devait aussi se préoccuper des jeux de pouvoir qui définissent les carrières historiennes en France.23 Or, les Annales sont devenues très tôt un enjeu, un 21 Voir l’introduction de Hans-Werner Goetz, dans ce volume p. 14 sq. La première école ne se référait pas à l’anthropologie, mais il est juste d’évoquer une « anthropologie implicite » des Annales, dès l’origine, dans la mesure où Bloch et Febvre abordaient l’être humain en de nouveaux termes : Ulrich Raulff, Marc Bloch. Un historien au XX e siècle, Paris 2005, p. 286, traduction de : Ein Historiker im 20. Jahr­ hun­dert : Marc Bloch, Francfort-sur-le-Main 1995, p. 391. 22 Ces tensions apparaissent dès la collaboration originelle : André Burguière, L’école des Annales. Une histoire intellectuelle, Paris 2006, p. 53–69. 23 Gérard Noiriel, Sur la « crise » de l’histoire (Socio-histoires), Paris 1996.

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espace de conflit. Déterminer si ce conflit fut constructif ou non est affaire de point de vue. L’essentiel tient dans le fait qu’il n’est pas possible de concevoir l’école des ­Annales comme une généreuse grappe en constante maturation, toujours de saison. Au fil des générations, en passant d’un grand animateur à l’autre, les Annales ont changé, elles ont été variables et multiples, elles se sont même contredites. Les textes du tournant critique de 1989 ne sont pas si explicites, mais leur proposition d’ensemble est sans équivoque : il faut cesser de demander aux Annales de défendre une orthodoxie illusoire dont personne ne veut plus. Trente ans plus tard, l’autoportrait de la revue (2020) confirme son refus de faire école. Comment donner sens, dans ce contexte, à la question de ce qui reste des Annales en histoire du Moyen Âge en France ? La solution la plus simple serait de la disqualifier, de refuser d’y répondre. La plus intéressante serait sans doute de la poser pour chacune des réinventions de cette école, mais il faudrait un livre. Il reste la possibilité de remonter à la première version du programme des Annales, voire à ce qui a précédé la fondation de la revue. Il ne s’agirait pas de retrouver des origines, mais de saisir ce qui, dans le projet primitif, s’est avéré structurant, ce qui a été transformé, déformé ou abandonné. Cette approche se justifie d’autant plus que les versions successives des Annales se sont contredites sur des points fondamentaux. L’origine, c’est évidemment la collaboration de Bloch et de Febvre, particulièrement pendant leur cohabitation strasbourgeoise, avant l’élection du deuxième au Collège de France (1933). Elle a maintenu un programme cohérent dans la première décennie d’existence de la revue (1929–1940), jusqu’à ce que la Deuxième Guerre mondiale amène une véritable rupture, car à sa conclusion, Febvre est resté seul pour donner à la revue son nouvel élan. Il y parvint brillamment, mais pour ce faire, il procéda à une relecture de sa collaboration avec Bloch qui créa une distance entre le projet initial et sa suite.24 Cette suite est donc un autre sujet. Les Annales qui ont repris leur développement en 1945–1949 ne sont déjà plus celles de 1929. Ces dernières avaient été formées dans l’accommodement fructueux, mais parfois difficile, des idées des deux

24 La captation de l’héritage des Annales par Febvre au détriment de l’apport de Bloch est aujourd’hui un fait reconnu, voir notamment : Noiriel, Sur la « crise » (n. 23), p. 261–286 ; Olivier Dumoulin, Marc Bloch (Références/facettes), Paris 2000, p. 109–128 ; Florence Hulak, Sociétés et mentalités. La science historique de Marc Bloch (Hermann Philosophie), Paris 2012, p.  38–43. En 1974, Georges Duby signait une préface très critique pour la septième édition de l’Apologie pour l’histoire de Bloch (Paris 1974 [1re éd. 1949], p. 5–15). Le passage de Bloch au purgatoire s’est étiré aussi longtemps que les Annales ont été une force dans la recherche en France. Sa réhabilitation et celle de son Apologie doivent beaucoup à la préface de Jacques Le Goff qui a remplacé celle de Georges Duby en 1993 (Paris 2018 [1re éd. 1949], p. 7–42), et à celle qu’il a donnée à la réédition des Rois thaumaturges (Paris 1983 [1re éd. 1924], p. i–xxxviii).

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fondateurs. À partir de 1945, Febvre n’a plus Bloch pour lui donner la réplique, pour déranger ses certitudes. Son nouvel interlocuteur, Fernand Braudel, est son étudiant, d’une génération plus jeune, et parfaitement soumis. De fait, jusqu’en 1969, dans sa période d’expansion déterminante, l’école des Annales ne suivit qu’un seul chef d’orchestre : d’abord Febvre puis son élève, Braudel. Revenir au projet originel des Annales ne constitue donc pas une critique de ses rénovations, mais plutôt une façon de définir l’objet de notre question initiale et, ce faisant, de lui donner une orientation utile : que reste-t-il de l’esprit premier des Annales dans l’histoire du Moyen Âge écrite en France ? À l’approche du centenaire, ce retour aux sources trouve aisément sa justification. Il offre la piste la plus clairement tracée et peut-être aussi la plus intéressante, d’autant plus que cette expression d’« esprit des Annales » apparaît dès l’origine ; elle se prête bien à l’expression du programme envisagé par les fondateurs.25 Procéder autrement poserait des problèmes insolubles, interdisant un traitement cohérent de la question. Il faudrait soit chercher une synthèse qui puisse rendre compte de la totalité des programmes successifs de l’école des Annales, soit choisir une autre de ses actualisations. La première de ces deux autres solutions déplacerait le poids de la question du côté de la définition des Annales, problème dont il serait difficile de sortir. La deuxième implique de choisir entre les Annales de Febvre, celles de Braudel ou des équipes qui leur ont succédé. La justification d’un tel choix pose le même problème que celui que nous faisons ici, en retournant au premier chapitre de l’histoire des Annales. Or, du point de vue de l’histoire du Moyen Âge, le retour à l’esprit primitif du projet a l’avantage de redonner tout son rôle au médiéviste Marc Bloch, avant le basculement des Annales vers l’histoire moderne et contemporaine. Il est possible de distinguer le premier esprit des Annales de ce qui est venu ensuite faire école. Les témoins utiles sont accessibles et explicites. L’expression la plus maîtrisée de la collaboration des origines entre Febvre et Bloch reste la série des premiers numéros de la revue : tout est en accès libre.26 Les tables des matières et les premiers éditoriaux sont déjà révélateurs. Pour bien distinguer le point de vue de Bloch dans cette composition à deux, il faut retourner à ses derniers écrits, notamment l’« Apologie pour l’histoire » et « L’étrange défaite », dont on a estimé, à juste titre, qu’ils participent d’un testament intellectuel.27 Son amitié et sa collaboration avec Febvre nous

25 Bloch/Febvre, À nos lecteurs (n. 9 et 10). 26 (consulté le 08.06.2022). 27 Marc Bloch, L’étrange défaite (Folio Histoire 27), Paris 1990 [1re éd. 1946] ; Id., Apologie pour l’histoire ou métier d’historien, Paris 2020 [1re éd. 1949] ; Dumoulin, Marc Bloch (n. 24), p. 280 ; Noiriel, Sur la « crise » (n. 23), p. 81–89.

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ont aussi laissé une correspondance, complétée par d’autres lettres à leurs collègues, le tout permettant d’éclairer l’orientation de leur projet.28 Il n’est pas nécessaire de revoir ici tous les détails de ce vaste corpus : Bloch et les premières Annales ont déjà fait l’objet de travaux qui ont révélé leurs objectifs.29 Il est donc possible de définir l’esprit des Annales sur cette base solide, en se contentant d’y renvoyer par quelques exemples. Les deux premiers éditoriaux publiés en tête des premiers numéros de 1929 et 1930 ne réunissent que cinq pages, mais leur composition a fait l’objet d’un long mûrissement. En quelques lignes, leurs auteurs parviennent à exprimer l’essentiel de leur programme, dont l’idée directrice se résume dans le rapprochement des études du passé et du présent. Au début du XX e  siècle, cela impliquait d’empêcher la rupture entre l’histoire et la sociologie durkheimienne en développement. Pour Lucien Febvre et Marc Bloch, il y avait là un véritable principe, au-delà de toute considération pour les jeux de pouvoir universitaires de l’époque : il fallait « aborder de plus en plus résolument l’étude des faits contemporains, indispensables à l’intelligence, à la connaissance même des faits passés ».30 L’année suivante, Bloch soulignait que l’inverse est vrai, que le présent est insaisissable sans l’étude du passé : « [le présent] envisagé par lui-même, il peut à la rigueur se décrire ; se comprendre, non pas ».31 Cette ouverture au temps présent impliquait aussi des questionnements et des méthodes d’analyse qui ne se trouvaient pas dans la boîte à outils de l’histoire. Il était donc déjà question d’ouverture transpériodique, transdisciplinaire et même d’un comparatisme suggéré par l’extension de la portée de l’histoire. Le premier décloisonnement espéré est bien celui de l’étude du présent et du passé, mais il en appelle d’autres, notamment par le croisement des travaux publiés partout dans le monde. Depuis cette époque, le débat entre l’histoire et la sociologie s’est épuisé, mais le principe de rapprochement qu’ont proposé les premières Annales pour l’apaiser 28 Bertrand Müller (dir.), Marc Bloch, Lucien Febvre et les Annales d’histoire économique et sociale. Correspondance (Histoire de la pensée), Paris 1994–2003 ; Jacqueline Pluet-Despatin (dir.), Écrire la « Société féodale » : lettres à Henri Berr : 1924–1943 (Pièces d’archives 3), Paris 1992 ; Bryce Lyon/ Mary Lyon (dir.), The Birth of Annales History. The Letters of Lucien Febvre and Marc Bloch to Henri Pirenne, 1921–1935 (Commission royale d’histoire. Grand in-8o), Bruxelles 1991. 29 Le présent essai dépend des études suivantes  : Hulak, Sociétés et mentalités (n.  24)  ; Burguière, L’école des Annales (n. 22) ; Coutau-Bégarie, Le phénomène « nouvelle histoire » (n. 20) ; Dosse, L’histoire en miettes (n.  20)  ; Dumoulin, Marc Bloch (n.  24)  ; Noiriel, Sur la « crise » (n.  23)  ; Raulff, Marc Bloch (n. 21) ; Antoine Prost, Douze leçons sur l’histoire (Points. Histoire 225), Paris 2014 [1re éd. 1996]. 30 Marc Bloch/Lucien Febvre, Au bout d’un an, dans : Annales d’histoire économique et sociale 5, 1930, p. 1. 31 Marc Bloch, Culture historique et action économique : à propos de l’exemple américain, dans : Anna­ les d’histoire économique et sociale 9, 1931, p. 3.

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a servi de fil directeur à toutes les réinterprétations des Annales qui ont suivi. Il oriente d’ailleurs l’autre grand principe des premières Annales, à savoir l’ouverture aux mouvements sociaux et économiques se situant en deçà de la strate politique, événementielle et individuelle des affaires humaines. Sur ce même principe, l’histoire est appelée à échanger avec les autres sciences humaines en développement. Certes, les contacts les plus prisés ne sont plus les mêmes, d’hier à aujourd’hui, mais l’idéal persiste. Le programme qui y correspond se résume dans l’ouverture de trois dia­ logues : entre périodes historiques, entre régions du globe, entre différents champs de recherche. Comprendre ce qui reste des premières Annales dans l’histoire du Moyen Âge en France implique de réfléchir d’abord à ces trois dialogues : sont-ils toujours d’actualité ? Pour répondre à cette question, une grande enquête de bibliométrie n’est pas nécessaire. Certes, elle permettrait de tirer des arguments précis et nuancés d’un ensemble représentatif de la recherche, mais le repérage des tendances générales n’en demande pas tant : une information suffisante est à portée de main, grâce à la Société des historiens médiévistes de l’enseignement supérieur public [désormais : SHMESP], qui tient à jour un annuaire de ses membres, accessible en ligne32 et en imprimé.33 Les sociétaires y précisent leurs champs de recherche par mots clefs. Qui plus est, la version imprimée de cet annuaire donne le titre des thèses de doctorat et des mémoires d’habilitation, parfois des livres qui en sont sortis. Les efforts du bureau de la SHMESP pour maintenir cet outil donnent à qui le désire la possibilité de vérifier, à peu de frais, bien des hypothèses sur l’orientation de la recherche en histoire médiévale en France. Ainsi, en choisissant une lettre au hasard, voici les mots clefs qui décrivent la recherche des quatre membres de la société dont les noms de famille commencent par cette lettre et dont les fiches personnelles apparaissent en ligne : 1. Syrie-Palestine – Saladin – sources arabes – pouvoir 2. charpente – technique – bois 3. Chartreux – ordres monastiques – Forez – géographie historique 4. Islam médiéval – Syrie – Égypte – histoire urbaine – histoire rurale Des mots clefs ne permettent pas de se faire une idée de l’orientation de ces travaux, si ce n’est en des termes très généraux, peut-être trompeurs. Néanmoins, sans pousser trop loin la déduction, il saute aux yeux que deux de ces quatre médiévistes travaillent sur l’espace musulman (1)(4) et qu’une autre fait de l’histoire des techniques 32 (consulté le 22.03.2022). 33 Annuaire de la Société des historiens médiévistes de l’Enseignement supérieur public, Paris 2019.

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(2). La troisième semble témoigner d’une orientation thématique plus traditionnelle, quoique l’expression « géographie historique » aurait sans doute piqué la curiosité de Bloch et Febvre, qui ont travaillé pour rapprocher la géographie et l’histoire. En somme, ces quatre fiches évoquent bien l’ouverture du champ spatial de la recherche, comme du champ thématique, car l’histoire des techniques a aussi profité de l’impulsion donnée par les Annales.34 Une lettre, quatre fiches prises au hasard, c’est évidemment trop peu, mais l’essentiel est de comprendre que ce genre de prospection mène toujours au même résultat : l’espace d’étude de la médiévistique s’est élargi, particulièrement du côté de la Méditerranée, si bien qu’il est possible aujourd’hui d’affirmer que l’histoire du Moyen Âge pratiquée en France intègre la sphère arabophone. Certes, l’orientalisme est venu bien avant les Annales. Ces dernières n’ont pas initié l’étude des sociétés du Moyen-Orient, mais plutôt provoqué des rapprochements qui ont contribué à ce qu’aujourd’hui, en France et ailleurs, les médiévistes considèrent l’ensemble du monde méditerranéen comme faisant partie de leur champ d’études. Quant aux sujets de recherche, il est évident que la variété et même l’éclectisme sont repérables partout. Par exemple, une consultation des titres de thèse et d’habilitation sur les lettres A à E de l’annuaire permet de compter 25 historiennes et historiens sur 226 – environ le tiers des membres de la société – travaillant en dehors de l’espace gréco-latin, ou proposant l’étude comparative de deux régions distinctes. Pour le repérage des sujets qui touchent aux préoccupations des premières Annales, la récolte est encore plus importante, avec un peu moins du tiers de l’ensemble. Et encore, il faut le redire  : certains des titres les plus « classiques » – ceux qui pourraient être du XIX e siècle – cachent sûrement des travaux marqués par l’ouverture de champ inspirée par les Annales. Cette proportion du tiers ne doit pas se lire comme une évaluation quantitative de la part de ces thèmes dans la recherche en France aujourd’hui : elle donne une impression, vague, mais juste, de son élargissement. Elle est particulièrement claire du côté des sciences et des techniques, comme de l’histoire sociale sous ses différentes formes, et d’une histoire des femmes qui se révèle maintenant trop vaste pour se laisser cantonner aux faits sociaux, voire au féminisme. On remarque par ailleurs que sur ce même ensemble des médiévistes des lettres A à E de l’annuaire, dix se présentent comme archéologues ou intègrent l’archéologie dans leurs thèmes de recherche. Voilà une indication de plus de l’ouverture de l’histoire du 34 Lucien Febvre, Réflexions sur l’histoire des techniques, dans : Annales d’histoire économique et sociale 35, 1935, p. 531–537. Ce numéro de la revue consacre un dossier à la question. Dans les publications de Bloch, ses articles sur les moulins et sur les inventions médiévales restent des classiques du genre : Marc Bloch, Avènement et conquête du moulin à eau, dans : Annales d’histoire économique et sociale 36, 1935, p. 538–563 ; Id., Les « inventions » médiévales, dans : Annales d’histoire économique et sociale 36, 1935, p. 634–644.

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Moyen Âge, sur un terrain qui a connu une expansion remarquable en France après 1945. Il est devenu inconcevable aujourd’hui d’étudier le Moyen Âge sans considérer les découvertes archéologiques, même si les ressources manquent à l’université pour assurer ce partenariat.35 L’axe spatial et l’axe thématique se sont considérablement étirés, ce qui correspond à l’intention des premières Annales. Par contre, l’axe du temps n’a pas fait preuve de la même élasticité. En ce qui concerne le dépassement de la périodisation traditionnelle de l’histoire en France – Antiquité (avant le V e siècle), Moyen Âge (V e–XV e siècle), Époque moderne (XVI e–XVIII e  siècle), Époque contemporaine (XIX e–XXI e  siècle) –, l’annuaire de la SHMESP ne donne presque rien à observer. L’explication est toute trouvée : le cadrage de la formation universitaire et le processus d’élection de ses titulaires ne favorisent pas les entreprises transpériodiques. Certes, au niveau du Conseil national des universités [CNU],36 les médiévistes partagent la 21e section avec les antiquisantes. Elles sont donc séparées des modernistes et des contemporanéistes, ce qui fait qu’un projet croisant le Moyen Âge et une autre période que l’Antiquité poserait des problèmes de qualification aux postes d’enseignement universitaire.37 De même, les départements d’histoire se structurent généralement autour des quatre périodes traditionnelles et lorsqu’un poste est ouvert, il est orienté vers une de ces quatre périodes. Cela implique que les études doctorales s’alignent de la même façon ; il n’y a donc rien d’étonnant à ce que les titres des thèses respectent ce cadrage chronologique, ce que l’annuaire de la SHMESP permet d’apprécier. Tout au plus, il arrive qu’une thèse d’histoire médiévale pousse son regard jusqu’au XVI e siècle, ce qui témoigne plutôt des contraintes spécifiques à un thème liminaire – l’imprimerie, les grandes découvertes, la réforme, la cartographie, les arts de la Renaissance, etc. – que d’un effort de franchissement des limites de la périodisation traditionnelle de l’histoire. Dans la mesure où les usages de l’enseignement universitaire donnent une force d’inertie importante au cadrage chronologique de la recherche, il reste la possibilité d’aborder la question sous d’autres angles. Il apparaît alors que l’élargissement de l’axe du temps se réalise parfois. La recherche francophone n’a pas été insensible au 35 Luc Bourgeois/Isabelle Cartron, Archéologie et histoire du Moyen Âge en France : du ­dialogue entre disciplines aux pratiques universitaires, dans : Geneviève Bührer-Thierry/Thierry Kouamé (dir.), Être historien du Moyen Âge au XXI e siècle (Actes des congrès de la Société des historiens médiévistes de l’enseignement supérieur public 38), Paris 2007, p. 133–148. 36 Cet organisme est responsable de la qualification des candidatures pour les postes dans l’enseignement supérieur et la recherche en France, comme de l’évaluation des dossiers pour la promotion des universitaires qui sont déjà fonctionnaires. Les champs scientifiques y sont répartis en sections. 37 Il pourrait y avoir là une explication parmi d’autres du peu d’intérêt en France pour le médiévalisme, orienté vers l’étude de la réception du Moyen Âge à l’époque contemporaine.

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concept d’Antiquité tardive, qu’elle a d’ailleurs contribué à développer.38 Un des plus gros laboratoires français d’histoire ancienne compte des historiennes, des historiens et des archéologues du Moyen Âge.39 À l’échelle locale, des séminaires de recherche de taille moyenne s’étendent régulièrement sur plus d’une période.40 Il n’est pas rare de voir des congrès proposer une chronologie très large, comme ce fut le cas à deux reprises autour du thème de l’itinérance des gouvernements.41 L’histoire de l’épistolographie se prête bien, elle aussi, à des travaux sur le temps long, regroupant des spécialistes de différentes périodes.42 C’est sur le terrain des rencontres scientifiques (congrès, colloques, journées d’étude) que cette ouverture transpériodique se réalise le plus régulièrement. Par contre, il est surprenant de constater qu’à l’EHESS, les séminaires qui affichent une approche transpériodique sont rares. Il s’agit pourtant d’une institution qui ne connaît pas les contraintes de cadrage du CNU et qui doit son existence aux grands animateurs des Annales de l’après-guerre. La liste de ses séminaires est consultable en ligne. Il est souvent difficile d’en distinguer les cadres temporels, car les titres ne les indiquent que rarement,43 mais cette indistinction pointe une représentation modeste du Moyen Âge et de l’Antiquité dans les travaux d’histoire de l’EHESS. Parce que les programmes et la répartition des postes ne sont pas établis selon un principe d’équilibre minimal entre les quatre périodes traditionnelles, comme c’est le cas à l’univer-

38 Sur cette voie, la contribution qui viendrait spontanément à l’esprit de l’historiographie anglophone serait sans doute celle de Peter Brown ou du projet « Transformations of the Roman World ». Il ne faut pas oublier Numa Denis Fustel de Coulanges, Henri Pirenne ou Henri-Irénée Marrou, qui étaient déjà convaincus de cette continuité entre Antiquité et haut Moyen Âge. 39 Archéologie et sciences de l’Antiquité (ARSCAN), qui est une unité mixte de recherche (UMR). Les médiévistes y sont principalement intégrées par les équipes subordonnées GAMA et THEMAM : (consulté le 25.03.2022). 40 Depuis plus de douze ans, le département d’histoire de l’Université Paris  8 Vincennes–Saint-Denis organise un séminaire qui fut longtemps consacré au croisement de l’histoire moderne et médiévale et qui associe depuis trois ans l’histoire ancienne et l’histoire médiévale. 41 Les actes ont été publiés : Josiane Barbier/François Chausson/Sylvain Destephen (dir.), Le gouvernement en déplacement. Pouvoir et mobilité de l’Antiquité à nos jours (Histoire), Rennes 2019 ; Boris Bove/Caroline zum Kolk/Alain Salamagne (dir.), L’itinérance de la cour en France et en Europe. Moyen Âge – xix e siècle (Histoire et civilisations), Villeneuve d’Ascq 2021. 42 Par exemple : Thomas Deswarte/Klaus Herbers/Hélène Sirantoine (dir.), Écriture et genre épistolaires (iv e–xi e siècle) (Collection de la Casa de Velázquez 165), Madrid 2018 ; Léon Nadjo/Élisabeth Gavoille (dir.), Epistulae antiquae III. Actes du 3e colloque international « Le genre épistolaire antique et ses prolongements européens », Louvain 2004 ; Daniel O. Hurel (dir.), Regard sur la correspondance, de Cicéron à Armand Barbès (Cahiers du GRHIS 5), Rouen 1996. 43 (consulté le 25.03.2022).

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sité, les époques modernes et contemporaines reçoivent une part de l’attention encore plus importante, notamment en termes de projets transpériodiques. Ici encore, l’information est à portée de clic et il ne semble pas nécessaire de procéder à une enquête exhaustive, car tous les sondages donnent les mêmes résultats. Par exemple, en consultant la liste alphabétique par titres des centaines d’enseignements et séminaires de l’EHESS pour l’année académique 2020–2021, en partant de la lettre A pour s’arrêter à J, on couvre déjà plus de la moitié de l’offre. Du côté des titres qui annoncent un sujet portant sur une seule période, la répartition est claire : six pour l’Anti­quité, neuf pour le Moyen Âge,44 dix pour l’époque moderne, quarante-neuf pour la contemporaine. Il faut souligner cependant que certaines des activités de formation proposées en contemporaine ne proposent pas une approche historique de leur sujet. Par contre, pour ce qui concerne les titres annonçant l’étude de plus d’une période, l’aspect historique est toujours exprimé et alors, les assemblages entre époques moderne et contemporaine dominent, avec vingt-trois titres. Quant au Moyen Âge, il est intégré dans cinq titres, mais une seule fois de manière explicite : 1. Cartographie de mondes et représentations d’espaces  : de l’Antiquité à l’époque contemporaine 2. Construire une histoire du handicap et de la surdité au travers des siècles 3. Corps et genre au Moyen Âge et à l’Époque moderne : tutorat et journées d’initiation à la recherche 4. Initiation à l’histoire des mondes russes, des origines à la chute de l’URSS 5. Initiation à l’histoire et l’historiographie des Juifs L’impression d’ensemble se confirme  : l’appel à l’ouverture de l’histoire au comparatisme transpériodique n’a pas été aussi bien entendu que ceux de l’ouverture au monde et de l’élargissement des horizons thématiques de la recherche, pour le Moyen Âge du moins. Pour conclure ces observations sur l’élargissement du champ historique selon les trois axes du temps, de l’espace et des thématiques de recherche, constatons que pour ce troisième axe, l’esprit des Annales habite toujours l’histoire du Moyen Âge en France. Bien sûr, cet élargissement du questionnaire ne dépend pas que de l’impul44 Archéologie du haut Moyen Âge : habitat, territoires, lieux de pouvoirs ; Épigraphie médiévale de l’au­tel chrétien : mobilier, objet, décor ; Groupe de travail sur les images médiévales ; Histoire culturelle byzantine et méditerranéenne ; Histoire de l’art médiéval : informel et pensée abstraite ; Histoire et ar­chéologie médiévales : espaces, habitat et société dans les pays de la Méditerranée occidentale ; Histoire intellectuelle et sociale du Moyen Âge ; Historiographie du Moyen Âge ; Introduction à la liturgie médiévale occidentale (VII e–XV e siècle).

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sion des Annales. Genre, minorités, migrations, études coloniales : bien des sujets en vogue sont venus à la médiévistique par d’autres voies. Il reste que cet élargissement, quels que soient ses résultats, correspond à l’un des idéaux fondateurs des Annales. On pourrait aller jusqu’à soutenir qu’un certain conservatisme de l’orientation de la recherche a limité ce qui, du point de vue français, apparaît comme un excès d’imagination – queer studies, medievalism et, jusqu’à un certain point, linguistic turn. La médiévistique française ne connaît pas d’interdit dans l’orientation thématique de ses travaux, mais sa tradition lui déconseille de sauter trop vite dans les charrettes qui passent.45 À tort ou à raison ? Ce n’est pas la question qui nous occupe.

L’esprit des Annales aujourd’hui Pour compléter ce tableau, il faudrait ajouter le comparatisme, les mentalités, l’étude des phénomènes économiques et quelques autres approches. Bien qu’elles aient contribué à définir la première école des Annales, il ne semble pas nécessaire de s’y attarder, car elles se conçoivent dans l’extension des possibilités de l’enquête historique dont il vient d’être question. Il est cependant d’autres aspects du projet des premières Annales qui ne trouvent pas de place dans la conception généralement admise de ce projet et qui ne participent pas à cette extension qui résume toutes les autres. Ils se laissent pourtant observer dans les éditoriaux des premiers numéros de la revue, sinon dans les écrits des éditeurs, qu’il s’agisse de leurs travaux de recherche, de leurs essais ou de leurs lettres. Le premier, c’est l’appel à la controverse scientifique. Il est amplement documenté et reconnu comme déterminant.46 Qu’il suffise d’évoquer à nouveau le nombre de comptes rendus publiés dans les premiers numéros de la revue, la proportion de cet ensemble qui fut rédigée par les éditeurs, la diversité des ouvrages considérés et surtout, la tonalité particulièrement vive dans l’appréciation comme dans la critique. Un des principes directeurs des Annales était d’assurer le dialogue entre les disciplines et les spécialités, étant entendu que ce dialogue ne serait fructueux que dans la mesure où les conventions n’en détermineraient pas la teneur. Il n’y a pas d’excès à soutenir que toute extension du champ de l’histoire dépend de ces échanges critiques, puisque sans eux, il est impossible de juger des expériences nouvelles. 45 Dans « Le chevalier de la charrette » de Chrétien de Troyes, cette hésitation coûte cher à Lancelot (v. 320–395). Il reste à voir si les médiévistes paieront le même prix pour ne pas avoir été trop pressés de suivre les nouvelles modes. 46 Noiriel, Sur la « crise » (n. 23), p. 44.

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Comment évaluer ce qui reste aujourd’hui de cet appel à une discussion ouverte et sans détour ? Procéder de façon systématique impliquerait de lire quantité de comptes rendus et de critiques récentes et de chercher à qualifier leur approche sur les échelles croisées de la rigueur et de la mesure. Toutefois, il est difficile d’imaginer sur quels critères tirer une pareille synthèse, sans parti pris. À défaut de quoi, il reste à proposer des impressions fondées dans la pratique du métier, mais difficilement démontrables, sur lesquelles il sera donc inutile de s’attarder. La lectrice qui fréquente les comptes rendus d’histoire du Moyen Âge publiés en France pourra juger de ce qu’elles valent. Sur le chemin de la controverse, les premières Annales n’ont pas été suivies. Aujourd’hui en France, l’exercice emblématique du compte rendu est généralement atone et sans profondeur argumentative, bien qu’il ne se soit pas aussi complètement affaissé que dans la sphère anglophone. Il y a là, sans doute, le résultat d’un effet d’entraînement, d’un cycle déflationniste à grande échelle. Dans la mesure où la culture de la recherche n’attend plus grand-chose d’un compte rendu, sinon une présentation de l’idée directrice de l’ouvrage, de sa table des matières, puis quelques mots policés sur son résultat d’ensemble, il est normal que leurs autrices ne voient pas l’intérêt d’y mettre le temps et l’énergie nécessaires pour arriver à une véritable critique, ce qui impliquerait de retourner aux sources et à l’historiographie pertinente, de contrôler la démonstration. Le Ministère de l’enseignement supérieur, de la recherche et de l’innovation (sic) impose à la formation et à la carrière de ses fonctionnaires une logique entrepreneuriale qui ne valorise pas ce genre d’effort : dans un dossier de candidature ou de promotion, un compte rendu longuement travaillé ne pèse rien. Or, en plus d’être déconsidéré, cet exercice est risqué. Pour qui fait carrière dans la recherche en France, tout dépend de l’évaluation par les pairs – à l’intérieur des institutions de recherche et d’enseignement et au niveau national –, qu’il s’agisse d’obtenir un poste, des fonds de recherche, une prime ou un congé sabbatique. En lui-même, ce principe ne manque pas de vertu, mais pour évaluer la portée et les conséquences réelles de son application, il faut tenir compte des relations, des alliances, des inimitiés qui définissent le réseautage des médiévistes en France. Les enseignantes et les chercheuses titulaires sont fonctionnaires, ce qui favorise leur indépendance intellectuelle, mais le cursus honorum de leur profession les intègre dans la même société de cour, ce qui joue dans l’autre sens. Le premier critère non dit de l’évaluation par les pairs, c’est la relation, directe et indirecte. Il est donc difficile d’écrire et de publier ce qu’on pense de l’ouvrage d’une collègue toujours susceptible de rendre coup pour coup, directement ou non, sur le terrain des comités. Qui sait ce que valent les nouvelles parutions, en dehors du cercle des spécialistes du sujet ? Personne, puisque la critique s’exprime à l’oral, dans l’intimité des alliances, parfois dans les séminaires, très peu à l’écrit. Les comptes rendus négatifs viennent souvent de l’extérieur, hors

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de portée. Ainsi, nous devons à une grande historienne italienne, récemment décédée, la seule critique précise et sans ménagement du livre qui a préparé l’élévation de Patrick Boucheron au Collège de France.47 Sinon, les critiques françaises des travaux de cet historien médiatique – revue L’Histoire, Monde des livres, Arte, FranceCulture, Rendez-vous de l’histoire de Blois, etc.48 – ont été signées par des adversaires haut placés, qui peuvent tenter la polémique sans mettre leur carrière en danger.49 Aux plus modestes collègues qui auraient quelque chose à dire d’un ouvrage qu’elles jugent défaillant, il reste la discussion, les réseaux sociaux et plus rarement, le pseudonyme et le pastiche charivarique.50 Il n’y a pas, à proprement parler, de controverse scientifique ouverte en histoire du Moyen Âge en France  : elle demande un effort et une prise de risque difficiles à assumer dans le peloton, pour celle qui espère des conditions décentes pour mener ses travaux de recherche. L’exception reste bien sûr les opérations consensuelles de démontage, comme celle qui visa le livre de Sylvain Gouguenheim sur le retour des textes d’Aristote en Occident.51 Cette réponse critique était nécessaire scientifiquement, mais ce qui la motiva ne fut pas tant les nombreuses inconsistances du livre que son objet même : la dette de la culture occidentale envers les interprètes arabophones et musulmans de la science grecque.52 Pour la question qui nous occupe, le plus intéressant dans la controverse appelée et pratiquée par les fondateurs des Annales est qu’elle témoigne de leurs convictions de méthode. Le fait est qu’ils ont été méthodistes, à leur façon ! Entendons par là qu’ils croyaient en une science de la critique documentaire, largement basée sur la diplomatique, capable d’approcher la vérité historique. Si les travaux qui le démontrent ne 47 Dans un compte rendu (dans  : Revue Mabillon 27, 2016, p.  392–397), Chiara Frugoni réagit à la publication du livre : Patrick Boucheron, Conjurer la peur, Sienne, 1338. Essai sur la force politique des images, Paris 2013. 48 Curriculum vitae en ligne, mis à jour en 2020 : (consulté le 10.06.2022). 49 Dominique Barthélemy, Pourquoi l’antipositivisme ? (À propos d’historiographies …), dans : AGHORA. Atelier des géographes et des historiens pour l’ouverture, la recherche et l’action, 2016, en ligne : (consulté le 27.04.2022). La réponse de Patrick Boucheron suit sur la même page. Voir aussi : Nicolas Weill-Parot, Recherche historique et « mondialisation » : vrais enjeux et fausses questions. L’exemple de la science médiévale, dans : Revue historique 671, 2014, p. 655–673. 50 Ainsi de la caricature offerte sur Facebook et Twitter par le personnage de Pangloss Bûcheron. 51 Sylvain Gouguenheim, Aristote au Mont-Saint-Michel. Les racines grecques de l’Europe chrétienne, Paris 2008. 52 Pour un commentaire critique de l’affaire Gouguenheim, vue de l’Allemagne : Thomas Ricklin, Le cas Gouguenheim, dans : Trivium 8, 2011, en ligne   : (consulté le 10.06.2022), traduction de  : Der Fall Gouguenheim, dans  : Historische Zeitschrift 290, 2010, p. 119–135.

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manquent pas, ils sont peu intégrés à la geste des premières Annales, parce que le récit héroïque forgé après 1945 insiste lourdement sur l’opposition à l’école méthodiste. L’engagement des premières Annales pour la méthode constitue une part de son héritage qui n’a pas été entretenue : ici comme ailleurs, le mythe tend à écraser l’histoire.53 Quiconque s’intéresse à cette question trouvera à lire sans difficulté.54 Il suffira ici d’évoquer certains indices de cet attachement à la tradition méthodique. Rappelons d’abord que Marc Bloch a fait preuve d’une fidélité intellectuelle constante pour ses maîtres, notamment pour Charles Seignobos, son directeur de thèse, mais aussi pour ses aînés comme Ferdinand Lot et surtout Henri Pirenne, dont le rôle tutélaire pour les Annales est bien documenté.55 Ce faisant, il a toujours affirmé l’importance de la critique documentaire dont Seignobos était devenu le premier représentant.56 Elle était déjà au cœur de sa conception du métier d’historien au début de sa carrière, comme en atteste son allocution du 13 juillet 1914 pour la remise des prix du lycée d’Amiens.57 Elle restait centrale vingt ans plus tard, dans l’éloge funèbre qu’il composa pour Pirenne.58 À la fin de sa vie, son Apologie pour l’histoire ne montre pas de renversement dans sa façon de comprendre le rôle de la méthode critique.59 Bien qu’inachevée et publiée de façon posthume, cette œuvre est aujourd’hui conçue, à juste titre, comme son testament d’historien ; elle témoigne de ses convictions axiomatiques, notamment pour la méthode. S’il y a une critique du méthodisme chez Bloch, elle concerne plutôt son orientation, c’est-à-dire l’incapacité de ses artisanes à l’appliquer à autre chose que l’histoire des grandes batailles, des grands hommes et des sources écrites les plus fréquentées par la tradition. Il leur reproche donc leur manque de recul par rapport à leurs propres curiosités, ce manque qui les amène à ignorer le rôle de l’historienne dans l’orientation de ses enquêtes et par 53 Cette observation n’est pas nouvelle : Antoine Prost, Douze leçons (n. 29), p. 37–77. 54 Les ouvrages déjà cités (n. 29) réfléchissent en ce sens, chacun à leur façon. 55 Au sujet de sa fidélité à Lot : Dumoulin, Marc Bloch (n. 24), p. 77. Sur la contribution de Pirenne au lancement des Annales  : Robert Demoulin, Henri Pirenne et la naissance des Annales, dans  : Charles-Olivier Carbonell/Georges Livet (dir.), Au berceau des Annales. Le milieu strasbourgeois. L’histoire en France au début du XX e siècle (Recherches et documents de la Société savante d’Alsace et des régions de l’Est 31), Toulouse 1983, p. 271–278. 56 L’ouvrage emblématique reste  : Charles-Victor Langlois/Charles Seignobos, Introduction aux études historiques, Paris 1897. Des éditions récentes proposent une préface de Madeleine Rebérioux (Kimé 1992) et Gérard Noiriel (ENS Éditions 2014). 57 Marc Bloch, Critique historique et critique du témoignage, dans : Annales. Économies, sociétés, civilisations 5, 1950, p. 1–8. 58 Id., Henri Pirenne (23 décembre 1862 – 24 octobre 1935), dans : Revue historique 176, 1935, p. 671– 678. 59 Bloch, Apologie pour l’histoire (n. 27).

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conséquent, dans la détermination de ce qui fait d’une donnée historique un élément factuel utile pour résoudre une question d’histoire. Ce qui détermine le fait dépend de l’hypothèse posée au préalable. Dans cette conception de l’histoire problème, il n’y a pas d’opposition radicale au méthodisme.60 Dans le maintien de la méthode comme critère définitoire de l’esprit des Annales, Bloch a joué le premier rôle. Ses publications démontrent sa capacité à en réaliser les idéaux. Il prend le risque de s’attaquer à des questions d’histoire complètement neuves, puis de développer une approche documentaire et des outils critiques adaptés. Ce qui fait le génie de son essai d’histoire rurale française, pour ne prendre qu’un exemple, ce n’est pas tant l’originalité de son sujet, que l’étendue des sources mobilisées et leur traitement systématique soutenant une thèse dont les étayages sont mis à la portée de la lecture critique.61 L’attachement de Bloch pour les notes de bas de page est connu ; il est emblématique de sa fidélité pour la rigueur de la démonstration appelée par le méthodisme.62 La position de Lucien Febvre n’est pas celle de Bloch, cela est d’abord apparent dans leur confrontation à ce sujet, au fil de leur correspondance à l’approche de la guerre.63 Agacé par ce qu’il perçoit chez son ami comme un rigorisme fané et contre-productif, Febvre est allé jusqu’à lui répondre que d’un auteur, il espérait d’abord des idées, peu importe leur démonstration. Il est entendu qu’après la mort de Bloch, lorsqu’il affirma son contrôle sur la revue des Annales, Febvre développa démesurément la geste héroïque de leur combat contre la toute-puissance méthodiste, dans l’objectif de fonder ses prétentions à sortir la science historique de ses ornières.64 Les limites du méthodisme avaient fait l’objet de nombreuses critiques constructives, bien avant les Annales, qui les reprirent à leur compte sans rejeter le méthodisme en bloc. Ainsi donc, Bloch n’a pas suivi son compagnon dans ses attaques outrancières contre les Seignobos, Langlois et autres. Son refus d’orienter leur projet commun sur 60 Contributeur déterminant des premières Annales, Henri Pirenne ne pense pas différemment : Henri Pirenne, La tâche de l’historien, dans : Le flambeau, août 1931, p. 1–18. 61 Marc Bloch, Les caractères originaux de l’histoire rurale française (Économies – sociétés – civilisations), Paris 1955 [1re éd. 1931]. 62 Bloch, Apologie pour l’histoire (n. 27), p. 142–144. 63 Les références à ce sujet sont à la note 28. 64 Sur ce procès malhonnête et ses conséquences : Olivier Dumoulin, Comment on inventa les positivistes, dans : Alain Boureau  (dir.), L’histoire entre épistémologie et demande sociale, Créteil 1994, p.  70–90  ; Antoine Prost, Charles Seignobos revisité, dans  : Vingtième siècle. Revue d’histoire 43, 1994, p. 100–118. De fait, lorsqu’il s’agit d’exposer la critique du méthodisme menée par les Annales, les citations qui reviennent sont de Febvre, par exemple : Alice Gérard, À l’origine du combat des Annales. Positivisme historique et système universitaire, dans : Carbonell/Livet (dir.), Au berceau des Annales (n. 55), p. 79–88.

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une opposition radicale fantasmée participe de ce que furent les premières Annales, dont les deux premiers éditoriaux utilisent sans hésiter et dans un sens constructif les mots et les concepts qui furent ensuite disqualifiés par Febvre. Dans ces premiers éditoriaux de 1929–1930, il est question de méthode, de « faits » et lorsqu’il faut distinguer la proposition des Annales de la tradition, voire de l’érudition, les phrases maintiennent un ton respectueux qui n’a rien d’ironique ou même de convenu.65 Les « bonnes vieilles méthodes éprouvées » ne sont pas mentionnées pour être ridiculisées : ce sont celles de ce méthodisme pour lequel Bloch s’est toujours positionné. Même l’« érudition pure » n’est pas tant maltraitée qu’abandonnée à d’autres publications. La « méthode » est bien là et les « faits » plus encore : le premier mot est utilisé cinq fois et le deuxième six fois – sur cinq pages –, toujours dans leur sens courant, sans évocation du problème qu’ils posent. Dans ces cinq pages, les métaphores des classes de travailleurs, du jardin à cultiver laborieusement, la référence finale au travail honnête et consciencieux, tout évoque les exigences de la méthode. En somme, cette confrontation n’était pas à l’ordre des premières Annales, elle ne le devint que lorsque l’ambition de Febvre perdit le contrepoids que lui opposait l’attachement de Bloch pour la vérité et l’outillage dont elle dépend. Ainsi, dans un brûlot souvent cité, Febvre pouvait lancer à Louis Halphen : Car enfin, les faits … Qu’appelez-vous les faits ? Que mettez-vous derrière ce petit mot, « fait » ? Les faits, pensez-vous qu’ils sont donnés à l’histoire comme des réalités substantielles, que le temps a enfouies plus ou moins profondément, et qu’il s’agit simplement de déterrer, de nettoyer, de présenter en belle lumière à vos contemporains ?66

C’était en 1948 ; la réfutation de l’évidence du fait historique avait été réalisée depuis longtemps. Si Febvre y est retourné avec autant de verve, c’était pour critiquer les banalités de l’Introduction à l’histoire d’Halphen,67 mais aussi, et surtout, parce que ses ambitions avaient besoin d’un adversaire. Il lui fallait renverser quelqu’un, quelque chose. Ce faisant, il contribua à faire de la « méthode » et des « faits » des notions naïves, dont aucune historienne digne ce nom ne devrait se réclamer. De l’attachement à la méthode que Bloch parvint à installer dans l’esprit des premières Annales, mais qui fut ensuite occulté par Febvre, que reste-t-il aujourd’hui,

65 Bloch/Febvre, À nos lecteurs (n. 9) ; Id., Au bout d’un an (n. 30). 66 Lucien Febvre, Sur une forme d’histoire qui n’est pas la nôtre, dans : Annales. Économies, sociétés, civilisations 3, 1948, p. 22. 67 Un objet modeste qui ne méritait pas tant d’attention : Louis Halphen, Introduction à l’histoire, Paris 1946.

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dans la recherche d’histoire médiévale en France ? Elle est toujours là, c’est une évidence. Si les Annales y ont contribué de façon quelque peu originale, c’est dans leur appel à la controverse, à la curiosité pour les autres sciences et donc à la considération de nouvelles sources et de méthodes adaptées à leur traitement. Là n’est pas l’essentiel, cependant. La centralité de la méthode historique trouve ses origines dans ce qui précède et elle ne serait sans doute pas moins vivace s’il n’y avait jamais eu les Annales. En France, la responsabilité de l’État dans la conservation et la valorisation de l’immense patrimoine documentaire français, le maintien des grandes institutions de formation nécessaires à cette mission, voire un certain conservatisme nécessaire à la pratique, tout cela a maintenu une part importante de la recherche à l’intérieur des limites de l’histoire critique. Certes, les carrières flamboyantes ne se font pas sur ce terrain – ce serait plutôt le contraire –, mais il reste qu’à l’étage le plus bas et le plus vaste de la pyramide française des honneurs, on rencontre quantité d’historiennes qui travaillent dans le même esprit que Bloch, dans une préoccupation constante pour la preuve et son exposition. Que cela se réalise parfois au détriment des idées originales, c’est un fait, mais il est inévitable que l’imagination ne soit pas l’apanage de la majorité, dans n’importe quel métier. De toute façon, il n’est pas évident qu’une histoire du Moyen Âge atomisée par la multiplication des foudroyances isolées du « génie » ait le moindre intérêt. Sur la durée, le rapport du présent au Moyen Âge a davantage besoin d’artisanes consciencieuses et modestes que de grands esprits en archipel. Or, ces artisanes honnêtes sont toujours là, dans les archives, à la Bibliothèque nationale, dans cette École des chartes que Lucien Febvre ne respectait guère, dans les institutions modèles comme l’Institut de recherche en histoire des textes (IRHT), comme la quatrième section de l’École pratique des hautes études (EPHE). Elles sont aussi à l’université. Objecterait-on que ce qui définit les Annales, c’est tout de même une certaine originalité, un certain culot, la réponse serait toujours positive  : comme pour la méthode, l’inspiration qu’elles encourageaient est toujours avec nous. La multiplication des postes universitaires dans la deuxième moitié du XX e siècle, la liberté académique et l’ambition intellectuelle ont poussé sur des voies nouvelles bien des entreprises de recherche. Leurs résultats sont mitigés, parfois décevants, mais il est évident que la prise de risques ne peut pas révéler un filon à tous les coups. Il y a même là un critère pour distinguer les efforts honnêtes : ils s’apparentent à un pari. Même lorsqu’ils échouent à atteindre leurs objectifs, ces efforts témoignent du maintien de l’ambition des premières Annales, car l’adversaire premier de toute originalité est la peur de l’échec. Il serait impossible de chercher à faire ici un bilan des initiatives de ce genre, dont toute appréciation dépend d’une perception limitée de l’étendue de la recherche française. Le plus simple est d’inviter la lectrice à consulter les actes publiés

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des congrès annuels de la SHMESP, qui donnent une bonne idée générale des travaux en cours en France, autant par le choix des thèmes des colloques que par le bouquet d’articles qui se compose autour de chacun de ces thèmes.68 Un exemple à plus petite échelle : l’application de la théorie des graphes à l’étude des réseaux de relation au haut Moyen Âge. Nous avons été quelques-unes à tenter l’expérience, elle n’a pas donné de résultats déterminants, mais il s’agissait d’une aventure honnête, au-delà de la simple posture.69 Certes, il n’est pas nécessaire de jouer avec les mathématiques pour arriver à des idées originales. À l’ère de la numérisation, les collègues françaises qui se font un principe de ne pas lâcher la consultation méticuleuse des chartes et des manuscrits eux-mêmes, in situ, démontrent la fertilité constante des méthodes les plus anciennes. Dans notre siècle de frénésie médiatique, cette approche qui nous ramène au XVII e siècle ressemble au mouvement Slow Food, à ces retours en arrière qui permettent de faire du neuf.70 Assurément, les Annales sont encore parmi nous, puisque l’élargissement des horizons de la recherche, le maintien de ses exigences de rigueur et la prise de risque continuent de donner de belles récoltes. Du point de vue de l’esprit des Annales, ces travaux ne s’estiment pas tant à leurs résultats – il est attendu qu’ils déçoivent parfois – qu’à leur sincérité et leur méthode : « notre entreprise est un acte de foi dans la vertu exemplaire du travail honnête, consciencieux et solidement armé ».71

68 Actes des congrès de la Société des historiens médiévistes de l’enseignement supérieur public : (consulté le 27.04.2022). Les actes publiés sous certains thèmes sont particulièrement utiles pour évaluer l’état de la recherche en France, notamment : Histoire monde. Jeux d’échelles et espaces connectés (2016), Être historien du Moyen Âge au XXI e siècle (2007), L’histoire médiévale en France : bilan et perspectives (1989). 69 Voir notamment : Laurent Jégou/Stéphane Lamassé, Les actes diplomatiques, instrument d’analyse des réseaux épiscopaux dans le monde franc (VII e – milieu XI e siècle), dans : Bulletin du centre d’études médiévales d’Auxerre 25, 2021, publié en ligne  ; Isabelle Rosé, Reconstitution, représentation graphique et analyse des réseaux de pouvoir au haut Moyen Âge. Approche des pratiques sociales de l’aristocratie à partir de l’exemple d’Odon de Cluny († 942), dans : Revista hispana para el análisis de redes sociales 21, 2011, p. 199–272 ; Martin Gravel, Les lettres des autres. Correspondances et réseaux en filigrane des grandes collections carolingiennes, dans : Le Moyen Âge 126, 2020, p. 243–271 ; Id., Saint-Denis et la Valteline. Une compétition vue par les graphes, dans : Laurent Jégou/Sylvie Joye/ Thomas Lienhard/Jens Schneider  (dir.), Faire lien. Aristocratie, réseaux et échanges compétitifs (Histoire ancienne et médiévale 132), Paris 2015, p. 393–400. 70 Sur cette voie, les plus acharnés que j’aie connus sont François Bougard, Patrick Henriet, Laurent ­Morelle, Didier Méhu, Fernand Peloux, Warren Pezé et Claude Poulin. D’aucuns ont même développé de l’animosité pour les éditions critiques, ce qui semble à la fois admirable et farfelu. 71 Bloch/Febvre, À nos lecteurs (n. 9), p. 2.

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« This is the dawning of the age of Aquarius »72 Les Annales de l’après-guerre ont peu contribué à cette continuité. Dans leur deuxième itération, la priorité est accordée à l’histoire économique, aux vastes études régionales, à l’intégration des méthodes statistiques et, dans une moindre mesure, à l’histoire des mentalités. Il est toujours question de tirer le meilleur de l’influence de l’économie et de la géographie, mais cette approche n’est plus une révolution : elle détermine l’orientation d’un grand nombre de thèses d’État d’histoire médiévale en France pendant les Trente Glorieuses ; elle contribue à dynamiser le grand débat sur la mutation de l’an mil.73 L’orientation du travail dépend des maîtres, bien plus que des initiatives personnelles, et l’originalité n’est pas le premier ingrédient de ce qui se présente comme une entreprise régimentée. Dans tout cela, l’idéal méthodique était encore présent, puisque les critiques à son égard des principaux animateurs tenaient surtout de la posture. Le récit de la grande victoire sur le positivisme s’est mis en place, il est devenu consensuel – évident même –, sans que la rigueur méthodique des travaux publiés en souffre outre mesure. Par ailleurs, les considérations politiques prennent de plus en plus de poids dans l’orientation de l’école des Annales, notamment sous Fernand Braudel, qui se fit fort de défendre la primauté de l’histoire parmi les sciences sociales et de donner la réplique à la proposition structuraliste de Claude Lévi-Strauss.74 Ce combat lui permit de cumuler les plus grands honneurs atteignables par une historienne en France : Collège de France (1950–1972), Académie française (1984–1985), Légion d’honneur, palmes académiques, douze fois docteur honoris causa et même président (1950– 1955) de cette agrégation que Bloch et Febvre avaient durement critiquée.75 Braudel

72 Extrait du couplet de la chanson à succès Aquarius, composée pour le musical à succès Hair en 1967 (paroles : Gerome Ragni/James Rado). L’expression me semble correspondre à l’esprit du temps, tout comme les élucubrations astrologiques concernant l’ère du Verseau. 73 Voir l’article de Steffen Patzold dans ce volume. 74 Dosse, L’histoire en miettes (n. 20), p. 95–127. Prétendant révéler les structures primordiales de la pensée individuelle et de la vie sociale, le structuralisme menaçait de cantonner l’histoire à l’étude des phénomènes de surface, aux événements. 75 Marc Bloch/Lucien Febvre, Le problème de l’agrégation, dans : Annales d’histoire économique et sociale 44, 1937, p. 115–129. Dix années plus tard, Febvre rappelle l’importance de cette critique, que Bloch et lui désignaient comme la « doctrine » des Annales : Lucien Febvre, Marc Bloch et Strasbourg. Souvenirs d’une grande histoire, dans : Mémorial des années 1939–1945 (Publications de la Faculté des lettres de l’Université de Strasbourg 103), Paris 1947, p. 184. L’agrégation est un concours de la fonction publique française qui mène à l’obtention d’un poste supérieur dans l’enseignement secondaire. C’est un des premiers honneurs de la carrière française et il n’est pas rare d’entendre mentionner le classement de l’une ou l’autre collègue (« elle a été première à l’agrégation ! »). L’agrégation joue favorablement sur les chances d’obtenir un poste universitaire.

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fut avant tout un grand bâtisseur d’institutions et un homme de carrière,76 mais la rupture entre les Annales et l’idéal de méthode soutenu par Bloch ne s’est produite qu’à la génération suivante, après que Braudel eut confié la direction de la revue à Jacques Le Goff et Emmanuel Le Roy Ladurie. Au milieu des années  70, la mise en marche – et en marché – d’une « nouvelle histoire » devint le grand chantier de cette nouvelle génération.77 Sa tentative de réorienter la recherche a été critiquée par des auteurs à qui l’on a reproché d’abuser de l’invective et du bon mot, mais qui n’ont pas été remis en cause sur l’essentiel.78 L’échec de cette révolution a été consommé lorsque la revue a opéré son tournant critique de 1989, évoqué précédemment. Malgré la fin des grandes ambitions programmatiques, les vingt années situées dans le prolongement de mai 68 ont continué à peser sur la recherche en France, jusqu’à aujourd’hui. Certaines de leurs propositions ont été déterminantes, que l’on pense à l’étude des lieux de mémoire engagée par Pierre Nora,79 à la nouvelle curiosité des historiennes pour l’anthropologie, particulièrement de la famille.80 C’est aussi le moment où l’archéologie est devenue une préoccupation constante des historiennes du haut Moyen Âge. L’histoire des mentalités trouve aussi matière à s’y développer à grande échelle, bien que l’expression soit depuis passée de mode. Tout cela participe de l’élargissement de champ dont il a déjà été question : il atteint sa plus grande étendue dans la nouvelle histoire. Cependant, cette dernière a aussi contribué à diffuser l’influence d’un prophète d’une grande popularité, aux antipodes des positions de Marc Bloch. L’influence de Michel Foucault se fit d’abord sentir dans les propositions de la « nouvelle histoire » et elle s’est maintenue par la suite, là où ses thèses entrent en résonnance avec l’esprit de notre temps.81 La revue et ses auteurs se sont intéressés à lui, jusqu’à aujourd’hui, comme l’atteste le dossier qui lui a été consacré bien après le « tournant critique ».82 Or, cette influence a eu pour effet d’éloigner l’histoire de l’esprit des Annales du temps de Bloch, parce que l’exemple de Foucault a joué contre 76 Olivier Dumoulin, Un « entrepreneur » des sciences de l’homme, dans : Espaces Temps 34–35, 1986, p. 31–35. 77  Voir n. 4, ci-dessus. 78 Voir n. 20, ci-dessus. 79 Pierre Nora (dir.), Les lieux de mémoire (Bibliothèque illustrée des histoires), Paris 1984–1992. Le Moyen Âge occupe cependant peu de place dans cette entreprise. 80 Notamment : Régine Le Jan, Famille et pouvoir dans le monde franc (VII e–X e siècle). Essai d’anthropologie sociale (Histoire ancienne et médiévale 33), Paris 1995 ; Christiane Klapisch-Zuber, L’ombre des ancêtres. Essai sur l’imaginaire médiéval de la parenté, Paris 2000 ; Didier Lett, Famille et parenté dans l’Occident médiéval (V e–XV e siècles), Paris 2000. Voir l’article de Régine Le Jan dans ce volume. 81 Noiriel, Sur la « crise » (n. 23), p. 110–111. 82 Annales. Histoire et sciences sociales 62, 2007.

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ses impératifs méthodologiques.83 En effet, il ne perdait pas de temps à lire les travaux de ses contemporains, ayant sans doute compris que l’apparence d’érudition suffisait à fonder son autorité, au sens pontifical du terme. Cette économie d’effort lui a permis d’écrire sur l’histoire de la pensée scientifique, de la prison, de l’asile, de la sexualité, de la médecine et du rapport entre le corps et le pouvoir politique, comme s’il s’agissait à chaque fois de sujets parfaitement nouveaux. Il sélectionnait ses sources au petit bonheur et les commentait avec l’abandon que caractérise l’ignorance de l’historiographie. Il était pourtant inattaquable, puisque dans sa recherche, Foucault promouvait un relativisme radical. Chez lui, le projet de constituer une pensée cohérente en elle-même et pour elle-même prenait le pas sur l’observation du réel et les questionnements qui découlent de cette observation. Ce refus du réel prend la forme d’un geste d’émancipation, c’est ce qui a fait son succès. Il devint libération de l’individu confronté aux institutions, voire à la société comme majorité écrasante. Le fait est que Foucault ne pratiqua jamais la rigueur méthodologique au sens où l’entendent les historiennes de formation, sinon comme un simulacre, voire un tour de rhétorique – il n’aurait sans doute pas refusé ce compliment. Un de ses meilleurs critiques, très clair sur le sujet, conclut : [Foucault] nous force à repenser différentes formes passées du savoir ou nos propres attitudes, présentes ou passées, par rapport à la folie, à la punition et au sexe. Mais il y a une grande différence entre l’historien dont la réflexion jette un tour nouveau sur le passé en posant des questions de vaste portée suggérées par les faits, en quelque sorte, et l’historien doctrinaire qui s’efforce le plus souvent de comprimer les annales de l’histoire dans le lit de Procuste des pré-interprétations idéologiques. Braudel appartient à la première catégorie, Foucault à la seconde. [Foucault offre] un exemple brillant et séduisant d’une façon de faire de la philosophie qui, dans sa poursuite effrénée de nouveaux sujets spectaculaires et facilement interprétables à la lumière du parti pris idéologique, n’est que trop désireuse de jeter par-dessus bord la rigueur de la pensée critique.84 83 Dans les trois volumes de l’ouvrage programmatique Faire de l’histoire (n. 4), Michel Foucault est l’auteur le plus souvent cité, à l’inverse de Marc Bloch, pratiquement absent  : Noiriel, Sur la « crise » (n. 23), p. 92 n. 3, p. 110 n. 37. En 2020, le comité de rédaction des Annales constate que Foucault est toujours au sommet des références et citations, en compagnie de Pierre Bourdieu : Actualité d’un soustitre : histoire, sciences sociales, dans : Annales. Histoire, sciences sociales 75, 2020, p. 407 n. 20. 84 José-Guilherme Merquior, Foucault ou le nihilisme de la chaire (Sociologies), Paris 1986, p. 180 et 181, traduction de : Id., Foucault, Londres 1985. Voir aussi : Jean-Marc Mandosio, Longévité d’une imposture  : Michel Foucault, Saint-Front-sur-Nizonne 2010  ; Marcel Gauchet, La condition histo-

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Si la confusion entretenue par le relativisme entre la vérité factuelle, la vérité logique et la vérité personnelle a fait son nid en histoire, c’est en partie parce que la troisième école des Annales s’est trouvée sous le charme de cette proposition. De fait, son ouverture à toutes les inspirations se fit au détriment de la méthode. De ce relativisme, de cette conception des sciences comme jeux discursifs, comme commerce d’idées, il est resté quelque chose. Il est devenu évident que les réfutations ne présentaient pas de danger.85 Les signes de ce fait de mentalité sont partout, jusque dans l’anecdote des gestes ordinaires de la besogne intellectuelle. Ainsi, de ce témoignage de Marc Ferro, digne d’une citation intégrale. Quelque part dans les années 70, le comité de rédaction des Annales est en réunion. La discussion concerne une nouvelle section de la revue, consacrée à de brèves notes de lecture : Le premier jour où F. Braudel a parlé de cette rubrique, il s’en est ensuite allé en laissant un genre de corbeille pour y placer les « notes brèves ». Il n’avait pas fini sa phrase que, déjà, E. Le Roy Ladurie avait vu un bouquin qui l’inspirait, l’avait feuilleté, vite fait bien fait comme il sait faire, table des matières, bibliographie et, en moins de temps qu’il ne faut pour le dire, il avait déjà griffonné quatre lignes sur le livre et les mettait dans la corbeille. […]. J. Le Goff était un peu surpris que cela aille si vite. Surtout que, pendant que J. Le Goff lui disait bravo, E. Le Roy avait pris un deuxième livre et pondu une deuxième note, bien tournée, griffonnée, raturée et mise dans la corbeille. Et personne n’avait rien fait d’autre … Alors J. Le Goff a dit : « Ah, moi, je ne peux pas travailler dans ces conditions ! Je vais m’isoler », parce que nous avions parlé, en même temps. Il se rend alors dans la pièce d’à côté après avoir pris un livre, mais il ne revient pas. Il réapparaît tout de même au bout de

rique (Folio. Essais 465), Paris 2003, p. 239 sq. Il n’est pas possible de citer ici l’ensemble des critiques qui ont été dirigées contre les essais de Michel Foucault. Qu’il suffise d’ajouter aux titres précédents une thèse récente d’histoire de la médecine qui ne porte pas sur ses travaux sur l’hôpital, mais qui répond à leurs errements avec mesure et références à l’appui : Paul-Arthur Tortosa, Guerres médicales. Penser, combattre et instrumentaliser les épidémies en Italie du Nord, 1796–1805, Institut universitaire européen de Florence 2021. La contestation des théories de Foucault apparaît aussi du côté de la philosophie militante, qui réalise que son relativisme mène à la dissolution de ses objets d’étude et d’action, comme la violence faite aux femmes, par exemple. Suffirait-il d’arrêter d’en parler pour que cette violence cesse d’exister  ? C’est une inférence des propositions de Foucault contre laquelle une thèse récente s’est positionnée : Jane Clare Jones, Queer Theory, Foucauldian Feminism and the Erasure of Rape. Historical Notes for a Present War, en ligne : (consulté le 10.06.2022). 85 En France, les réfutations du relativisme et de ses conséquences sont souvent de haute tenue, mais elles n’ont qu’une petite fraction du lectorat des nouveaux sophistes auxquels elles s’opposent. Par exemple : Jacques Bouveresse, Le philosophe chez les autophages (Critique), Paris 1984 ; Gauchet, La condition historique (n. 84) ; Raymond Boudon, Le relativisme (Que sais-je ? 3803), Paris 2008.

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dix minutes avec un texte long comme ça ! Du coup, on a décidé de faire les choses autrement, de choisir les livres et de rapporter les notes à la séance d’après.86

Il ne semble pas évident que Bloch aurait approuvé cette désinvolture, même pour une petite note de lecture. En France, à l’ère du Verseau, même un historien de la stature de Jacques Le Goff ne résiste pas à la brillance des collègues comme Le Roy Ladurie, qui ont gardé la superbe des meilleurs agrégatifs. L’étourdissement ressenti devant tant de virtuosité, c’est celui de la profession historienne face à Michel Foucault. Qu’importe la démonstration, pourvu qu’on ait l’ivresse des belles phrases et des idées qui libèrent. Il n’est pas étonnant que les Annales de la nouvelle histoire se soient livrées à un tel prophète. Depuis 1945, ses prédécesseurs cherchaient, eux aussi, à transformer l’histoire, à lui trouver de nouveaux objets, de nouvelles méthodes. Les sciences exactes avaient leurs révolutions et leurs génies ; la relativité et la physique quantique avaient renversé les bases sur lesquelles semblait reposer le monde.87 En s’appropriant à leur manière la linguistique saussurienne, la psychanalyse et l’anthropologie structuraliste parvenaient à faire croire que la connaissance de la psyché et des sociétés pouvait subir des révolutions paradigmatiques semblables. L’espace du langage n’est-il pas celui où opèrent les forces fondamentales sur les atomes de la réalité humaine ? Ne fallait-il pas que l’histoire prenne part à cette envolée ? Fernand Braudel répondit par la positive en rejoignant le structuralisme sur son terrain, en élaborant la « longue durée » ; ses successeurs ajoutèrent à cet élan, jusqu’à la « nouvelle histoire ». Cette dernière a été contestée, puis retirée du marché en tant que programme englobant, mais son principe révolutionnaire continue d’opérer. Il se révèle dans l’expansion de ce désir de découvrir, de révéler quelque chose de neuf et de déterminant, au-delà des limites habituelles des accomplissements de la recherche en histoire. Il faut ajouter que certaines entreprises qui lui ont été associées se sont révélées constructives dans leurs efforts pour tempérer les excès de la génération précédente, notamment dans le retour à l’histoire politique et à l’événement.88 La proposition de la nouvelle histoire est trop éclectique pour qu’il soit possible d’évaluer d’un seul geste son influence durable. 86 Fragments d’une histoire éditoriale (n. 3), p. 626. 87 Les mots comme « relativité », « incertitude » ou « incomplétude » sont du pain bénit pour celles qui cherchent à renverser les traditions scientifiques : ils suggèrent que tout est relatif, que tout est incertain, que même les mathématiques sont « incomplètes », donc que la vérité apparente est un mirage et qu’il ne nous reste pour bien vivre que les constructions de l’esprit. 88 Les publications programmatiques sont : Edgar Morin, Le retour de l’événement, dans : Communications 18, 1972, p. 6–20 ; Pierre Nora, Le retour de l’événement, dans : Le  Goff/Nora, Faire de l’histoire (n. 4), p. 210–228. L’essai subséquent de Paul Ricœur sur le sujet est typique du procédé de récupération par analogie dont il a été question dans la note précédente : Paul Ricœur, Le retour de

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Il serait difficile, voire impossible, de faire le bilan des effets de ces forces sur la recherche, quand bien même il ne s’agirait que de l’histoire du Moyen Âge pratiquée en France. Il reste la possibilité d’évoquer un des courants où leur influence s’est fait sentir. Comme l’objectif n’est pas ici de polémiquer, tournons-nous vers l’un des plus fréquentés, qui a connu des développements fructueux, dont les débordements ne déterminent pas l’ensemble.

À la recherche de nouvelles charnières Partons du débat sur la mutation de l’an mil. Il appartient aux Annales, dans la mesure où il a atteint sa pleine intensité dans le sillon des monographies régionales dont l’inspiration remonte aux études de Lucien Febvre sur la Franche-Comté et de Marc Bloch sur l’Île-de-France et la société féodale. Ensuite, ce sont ces monographies qui ont le plus contribué à régler le débat, puisque dans leur ensemble, au bout du compte, elles ont montré qu’il n’était pas possible de localiser une mutation des cadres de pensée et de l’ordre social qui se serait réalisée, au même moment, dans tout le royaume de France, voire au-delà. Véritables chefs-d’œuvre dans certains cas,89 ces grands travaux ont montré que la région était la bonne échelle pour saisir les croisements des réalités économiques, sociales et culturelles de ce temps féodal. Elles ont calmé un moment les ardeurs de la quête d’un système explicatif et d’une chronologie totalisante. La thèse d’une mutation suprarégionale n’a pas été abandonnée, cependant. Elle a été déplacée en aval, de l’an mil au XII e  siècle. Avant ce déplacement, en France, le Moyen Âge avait été partagé entre haut (V e–X e  siècle) et bas Moyen Âge (XI e– XV e siècle). Les programmes de l’agrégation externe d’histoire témoignent du déplacement de ces bornes : 1999 / 2000 2001 / 2002 2003 / 2004

Éducation et cultures dans l’Occident chrétien, du début du XII e siècle au milieu du XV e siècle Les relations des pays d’Islam avec le monde latin du milieu du X e siècle au milieu du XIII e siècle Les sociétés en Europe, du milieu du VI e siècle à la fin du IX e siècle (mondes byzantin, musulman et slave exclus)

l’événement, dans : Mélanges de l’École française de Rome. Italie et Méditerranée 104, 1992, p. 29–35. 89 Deux titres font l’unanimité : Pierre Toubert, Les structures du Latium médiéval. Le Latium méridional et la Sabine du ix e à la fin du XII e siècle (Classiques de l’École française de Rome), Rome 2015 [1re éd. 1973] ; Pierre Bonnassie, La Catalogne du milieu du X e à la fin du XI e siècle : croissance et mutations d’une société (Publications de l’Université de Toulouse-Le  Mirail, A/23 et 29), Toulouse 1975–1976.

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2005 / 2006 2007 / 2008 2009 / 2010 2011 / 2012 2013 / 2014 2015 / 2017 2018 / 2019 2020 / 2021 2022 / 2023

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Les villes d’Italie, du milieu du XII e siècle au milieu du XIV e siècle : économies, sociétés, pouvoirs, cultures Le monde byzantin, du milieu du VIII e siècle à 1204 : économie et société Pouvoirs, Église et société dans les royaumes de France, de Bourgogne et de Germanie de 888 aux premières années du XII e siècle Structures et dynamiques religieuses dans les sociétés de l’Occident latin (1179–1449) Guerre et société, vers 1270 – vers 1480 (roy. d’Écosse et d’Angleterre, Irlande, Pays de Galles, roy. de France et marges occ. de l’Empire – espace italien exclu) Gouverner en Islam entre le X e siècle et le XV e siècle (Irak jusqu’en 1258, Syrie, Hijaz, Yémen, Égypte, Maghreb et al-Andalus) Confrontation, échanges et connaissance de l’Autre au nord et à l’est de l’Europe de la fin du VII e siècle au milieu du XI e siècle Écrit, pouvoirs et société en Occident du début du XII e siècle à la fin du XIV e siècle (Angleterre, France, péninsule Italienne, péninsule Ibérique) Villes et construction étatique en Europe du Nord-Ouest du XIII e siècle au XV e siècle (Empire, anciens Pays-Bas, France, Angleterre)

Quiconque connaît la culture de la recherche et de l’enseignement supérieur en France sait l’importance de l’agrégation pour la construction des carrières. La présidence de son jury et l’élaboration de ses programmes sont directement liées au prestige des historiennes qui en sont chargées : il est attendu d’elles qu’elles infusent le concours de leurs propres travaux. Il y a bien là un témoignage de l’orientation de la recherche en France. Or, dans ces questions de concours, le long XII e siècle s’impose comme point de rupture chronologique dans l’histoire de l’Occident latin, qu’il s’agisse de culture et d’éducation (1999–2000), des villes italiennes (2005–2006), du rapport entre pouvoir, société et Église (2009–2010), de la vie et des institutions religieuses (2011–2012) ou de culture écrite (2020–2021). Le XII e siècle est parfois placé juste à l’extérieur de la période à l’étude, ce qui confirme son rôle de charnière (2018–2019, 2022–2023). Les variations s’expliquent par les thèmes spécifiques, comme la guerre de Cent Ans qui sous-tend le sujet de 2013–2014, sinon par l’orientation vers les espaces byzantins ou musulmans, dont les chronologies sont différentes. Un seul contre-exemple : le sujet de 2003–2004 sur les sociétés en Europe, qui s’arrête à la fin du IX e siècle. Plus en amont, de 1985 à 1999, le XII e siècle ne sert jamais de charnière chronologique pour les sujets de l’agrégation, lesquels se portaient plus souvent vers les siècles extrêmes du haut et du bas Moyen Âge. Du point de vue français, cette valorisation du XII e siècle comme tournant de l’histoire du Moyen Âge se justifie sur plusieurs points : les premiers signes d’un retour en

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force du pouvoir royal et du développement de son administration, la multiplication des témoins d’une culture écrite de langue vernaculaire, le décollage économique, le développement de nouvelles institutions urbaines, etc. Le règne de Philippe Auguste (1180–1223) apparaît dès lors comme une nouvelle charnière.90 Sans rejeter tout cela, plusieurs médiévistes estiment aujourd’hui que ce qui change le visage de l’Occident latin au XII e siècle, c’est d’abord la Réforme grégorienne, dont les bornes conventionnelles sont l’élection du pape Léon IX (1049) et la proclamation de l’accord de Worms (1122). Elles en viennent donc à proposer une nouvelle mutation totalisante, du côté de l’Église plutôt que de l’État ou des modes de production. Pour faire de la Réforme grégorienne le déclencheur de la véritable mutation médiévale, il a fallu soutenir que jusque-là, les historiennes avaient jeté un regard anachronique sur le Moyen Âge, en distinguant le monde des laïcs et celui des clercs, le siècle et l’Église. Dans la France républicaine, cette distinction semble aller de soi, mais qu’en était-il pour les hommes et les femmes du Moyen Âge ? Il fallait corriger cette erreur de perspective, ce qui s’est présenté, dès les années 90, dans une relecture de la société médiévale comme entièrement englobée par le fait chrétien. Un mot latin a été choisi pour désigner cette réalité englobante, Ecclesia, dont la vertu était de forcer le retour à un concept propre au Moyen Âge, faisant de la communauté chrétienne, de ses croyances et de ses usages l’horizon totalisant de la vie.91 En elle-même, l’idée de revenir aux concepts du temps et de surveiller les effets de nos préconçus a beaucoup d’intérêt. Elle a eu l’avantage de placer l’Église au centre des préoccupations de l’histoire, après une longue période pendant laquelle les Annales de l’après-guerre ont favorisé des thèmes d’histoire sociale, économique et culturelle sans y intégrer pleinement l’Église et le fait chrétien. Avant cette nouvelle proposition, les personnages les plus considérés par la recherche mutationniste étaient les propriétaires, les seigneurs, les chevaliers tenant fiefs, les paysans. Les institutions religieuses y trouvaient leur place dans la mesure où elles étaient elles-mêmes seigneurs et propriétaires. Concevoir l’Ecclesia comme référentiel central de la pensée et de la réalité 90 Un manuel de référence avalise très tôt cette nouvelle chronologie  : Régine Le  Jan, Histoire de la France : origines et premier essor 480–1180 (Carré. Histoire 31), Paris 2015 [1re éd. 1996]. 91 Voir notamment : Dominique Iogna-Prat, Ordonner et exclure. Cluny et la société chrétienne face à l’hérésie, au judaïsme et à l’islam (1000–1150) (Collection historique), Paris 1998 ; Alain Guerreau, L’avenir d’un passé incertain. Quelle histoire du Moyen Âge au xxi e siècle ? Paris 2001, p. 23–39 ; Anita Guerreau-Jalabert, L’ecclesia médiévale, une institution totale, dans : Jean-Claude Schmitt/Otto Gerhard Oexle (dir.), Les tendances actuelles de l’histoire du Moyen Âge en France et en Allemagne, Paris 2002, p. 219–226. D’importantes synthèses récentes ont adopté ce point de vue « ecclésial » : Jérôme Baschet, La civilisation féodale. De l’an mil à la colonisation de l’Amérique (Collection historique), Paris 2004 ; Florian Mazel, Féodalités, 888–1180 (Histoire de France), Paris 2010  ; Id. (dir.), Nouvelle histoire du Moyen Âge (L’univers historique), Paris 2021.

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des médiévaux replaçait le cadre religieux de cet univers dans le champ de vision de la recherche, mais il a aussi provoqué des abus, lorsque ses inférences logiques ont été poussées au-delà de la réalité observable dans les sources. Il n’est pas rare aujourd’hui de voir des travaux orientés selon le principe voulant que l’histoire de l’Église couvre tout le Moyen Âge. La réintégration des laïcs dans l’histoire de l’Église se justifie, mais elle ne doit pas conduire à sous-estimer les espaces qui se trouvaient au moins partiellement hors du cadre ecclésial ou ecclésiastique. Bien qu’ils fussent dans l’Église en tant que croyants, bien que la conception idéale du monde par l’Église soit capable de tout englober, les laïcs menaient des vies qui ne se situaient pas complètement sous l’emprise de l’Église et de ses officiers. Ainsi, l’histoire des considérations grégoriennes sur le mariage et la famille ne constitue pas une histoire du mariage dans son ensemble : c’est la différence fondamentale entre l’idéal totalisant et les pratiques fragmentées, souvent peu soumises à l’idéal. L’espace reconnu de la vie laïque est celui des choses terrestres et il serait trompeur de confondre la prétention des réformateurs à rationaliser cette vie terrestre avec la réalité de la vie même. À la famille, il faudrait ajouter la guerre, la chasse, la sexualité, l’amour, les jeux, etc. Certains de ces espaces se situaient en dehors de l’expérience des clercs et des conceptions idéales dans lesquelles ils cherchaient à tout intégrer. En témoigne avec force la longue existence d’une culture orale vernaculaire du chant épique, dont le dynamisme ne se limite pas au moment d’apparition de ses premiers témoins écrits, mais remonte en amont sur des siècles.92 La confrontation de ces textes vernaculaires aux théories grégoriennes exposées en latin révèle le fossé qui existait entre la vie laïque et la vie cléricale, jusque dans les représentations de la piété. On a parfois l’impression que la vie du corps – celle de la guerre, par exemple – échappe autant aux universitaires d’aujourd’hui qu’aux moines d’autrefois. D’une correction de perspective à l’autre, il serait temps de trouver l’équilibre. La réalité du passé n’est pas tout entière dans l’Ecclesia et dans les textes qui en expriment le principe, aussi importants soient-ils pour comprendre le Moyen Âge. Bien des réalités concrètes, matérielles, terrestres de l’existence leur échappent, comme cela est évident dans la reculade du concile de Latran IV (1215) sur le calcul des degrés de parenté dans le cadre de la législation contre l’inceste, pour ne citer qu’un exemple connu, dont l’analyse ne fait pas débat. Le concept d’Ecclesia a contribué à redresser une erreur de perspective pour 92 Godefroid Kurth, Histoire poétique des Mérovingiens, Paris 1893. Les détails de la démonstration sont discutables, mais l’idée directrice s’impose : le chant épique a une longue tradition derrière lui, lorsque les premières transcriptions apparaissent dans les manuscrits. La matière épique a pu être récoltée par les hommes d’Église, mais elle n’a pas été créée sous leurs plumes : Éléonore Andrieu/Pierre Chastang, Guillaume/Guilhem d’Orange et de Gellone. Voix, écritures, textes, documents, dans : Médiévales 81, 2021, p. 71–112.

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laquelle la deuxième école des Annales tient une part de responsabilité. Cependant, lorsque l’Ecclesia se présente comme un dogme, lorsqu’elle devient « tout-à-l’Église », elle pose autant de difficultés qu’elle permet d’en résoudre.93 Ainsi, en France, la proposition de la charnière grégorienne a été intégrée à une nouvelle recherche, qui fait de la conception de l’espace un objet d’histoire de plein droit et qui propose que l’Église a joué un rôle décisif dans la réapparition de la notion de territoire dans les esprits du Moyen Âge. Après l’âge d’or de l’arpentage romain, les premiers siècles du Moyen Âge auraient perdu la capacité de concevoir leur univers terrestre comme un ensemble de surfaces, délimitées par des frontières ; ils n’auraient connu que des enchevêtrements de lieux et de dépendances : palais et fiscs pour le roi, églises pour les évêques, diverses communautés d’exploitation de la terre, etc. Ainsi, au haut Moyen Âge, les royaumes, les comtés, les diocèses auraient été conçus comme des assemblages de ces sites dépendants du roi, du comte ou de l’évêque, plutôt que des espaces clairement circonscrits, englobant leur territoire respectif et ses installations humaines. Dans sa volonté de rationaliser la hiérarchie des responsabilités dans l’Église, le projet grégorien en serait venu à réactiver la notion oubliée de territoire, notamment pour la pièce maîtresse de l’édifice ecclésiastique : le diocèse. Cette proposition d’histoire des représentations et de l’administration de l’espace se trouve donc en adéquation avec les précédentes, en ce sens qu’elle confirme la Réforme grégorienne comme point de bascule de l’histoire du Moyen Âge. Dans ce genre de propositions, le problème est toujours le même : pour les élaborer, pour s’en convaincre, il ne faut pas s’approcher trop près des réalités concrètes, particulièrement celles qui précèdent le tournant qu’il s’agit de mettre en valeur. Pour soutenir la thèse d’une invention de l’espace, il faudrait pourtant savoir si les hommes et les femmes qui l’ont précédée étaient capables de concevoir le paysage de leur existence en termes de surfaces et de frontières et si cette conception déterminait leur action dans le monde. Or, il semble très difficile de leur refuser cette capacité. Les actes privés du haut Moyen Âge regorgent de descriptions de champs, de vignes et d’autres terrains qui appliquent des méthodes de bornage qui permettent de définir des surfaces.94 Il est difficile d’imaginer qu’un outil de représentation aussi basique échappait à leur entendement au-delà d’une certaine étendue, comme si le carré ou le cercle n’étaient plus concevables au-delà d’une longueur de côté ou de rayon donnée. De

93 Le meilleur exemple récent de l’application du « tout-à-l’Église » que je connaisse n’est pas français : Hans Hummer, Visions of Kinship in Medieval Europe (Oxford Studies in Medieval European History), Oxford 2018. 94 Nombreux exemples dans : Gérard Chouquer, Documents de droit agraire 5. Le haut Moyen Âge, Paris 2020 [1re éd. 2017].

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fait, même à l’échelle des royaumes, les étendues territoriales et les lignes de frontière apparaissent dans les textes, chaque fois qu’il est utile et pratique de les évoquer. Les cours d’eau jouaient dans ce cas un rôle prépondérant et de fait, les guerres des Carolingiens ont souvent commencé par le franchissement d’une rivière comme le Lech dans le cas de la Bavière.95 On rencontre la même conception de la frontière jusque dans les légendes qu’a consignées le pseudo-Frédégaire dans ses chroniques, notamment lorsque Clotilde quitte le royaume burgonde pour aller rejoindre son futur époux, le roi Clovis.96 Les contre-exemples de ce genre sont faciles à multiplier. Que la gestion de l’espace diocésain ait évolué, qu’elle mérite l’attention de la recherche, cela s’entend, mais proposer que cette évolution révèle une « invention médiévale de l’espace » est une erreur de perspective typique de ce goût des grandes idées transformatrices qui a marqué l’école des Annales sous Braudel et ses successeurs.97 Cette erreur dépend d’un refus de considérer sérieusement les siècles qui précèdent : il faut d’abord de l’obscurité au haut Moyen Âge pour que la lumière soit, au XII e siècle.98 95 Les principaux témoignages proviennent des Annales royales et de la biographie de Charlemagne par Éginhard. Pour l’ensemble du dossier documentaire  : Johann F. Böhmer/Engelbert Mühlbacher/ Johann Lechner, Regesta imperii I. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751–918, Hildesheim 1908, p. 120, no 290e–h. Sur la vallée du Lech comme zone frontière : Matthias Becher, Eid und Herrschaft. Untersuchungen zum Herrscherethos Karls des Grossen (Vorträge und Forschungen 39). Sigmaringen 1993, p. 61–63. 96 Chronique de Frédégaire III, 19, édit. Bruno Krusch, Hanovre 1888, p. 100–101 : Chrotechildis vero cum propinquasset Vilariaco, in qua Chlodoveus resedebat, in territorio Trecassino, aduc antequam terminus Burgundiae Chrotechildis preteriret, rogans eis aulebus ducebatur, duodicem leuvas in utrasque partis de Burgundia predarint et incenderint. Aucun des éléments de ce récit épique n’aurait de sens pour des femmes et des hommes du vii e siècle qui auraient perdu les notions de frontière et de territoire. 97 Cette erreur de perspective est apparente dans le sous-titre d’un des ouvrages clefs dans l’élaboration de cette hypothèse : Florian Mazel, L’évêque et le territoire. L’invention médiévale de l’espace (L’univers historique), Paris 2016. Il est d’autres propositions excessives en ce sens, par exemple : Joseph Morsel, Construire l’espace sans la notion d’espace. Le cas du Salzforst (Franconie) au XIV e siècle, dans : Construction de l’espace au Moyen Âge : Pratiques et représentations. xxxvii e Congrès de la SHMESP (Mulhouse, juin 2006) (Histoire ancienne et médiévale 96), Paris 2007, p. 295305 ; Michel Lauwers/ Laurent Ripart, Représentation et gestion de l’espace dans l’Occident médiéval (V e–XIII e siècle), dans : Jean-Philippe Genet (dir.), Rome et l’État moderne européen (Collection de l’École française de Rome 377), Rome 2007, p. 115–171 ; Jens Schneider, D’empires et de frontières. La pratique de la frontière du IX e au XIII e siècle, dans : Revue belge de philologie et d’histoire 91, 2013, p. 1187–1210. Contra : Gérard Chouquer, Droit et juridicité dans les sociétés du haut Moyen Âge occidental (Droit agraire historique), Paris 2020, p. 52 sq. 98 L’histoire de l’esclavage et du servage pourrait être en train de sortir d’une de ces impasses que rencontre la recherche lorsqu’elle se laisse mener par l’ambition de trouver la clef, la solution, le système explicatif total. À ce sujet : Nicolas Carrier, De l’esclavage au servage : pour une étude des dynamiques de la servitude, dans : Médiévales 81, 2021, p. 179–196.

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Il ne s’agit pas de suggérer ici que la Réforme grégorienne n’aurait pas eu d’effet sur le cours de l’histoire du Moyen Âge, ou que la représentation et l’appropriation de l’espace ne seraient pas des objets d’histoire.99 Cependant, il n’est pas sage de demander à cette réforme de remplacer l’an mil. Il n’est pas certain qu’avant le train et le télégraphe, l’histoire ait connu ce genre de mutation et de toute façon, la juste appréciation de ses effets dépendrait forcément d’une étude poussée, profonde, de ce qui la précède, au moins jusqu’aux capitulaires, aux actes conciliaires et aux pseudo-isidoriens du IX e siècle. Elle n’a pas encore eu lieu. En attendant cet énorme travail de fréquentation croisée des sources programmatiques et normatives carolingiennes et grégoriennes, puis des actes de la pratique – ce serait le travail d’une longue vie, sinon d’une équipe –, la juste place de la Réforme grégorienne dans l’histoire longue de l’Occident latin échappera aux historiennes, en France et ailleurs.

En guise de conclusion Alors que je me préparais à écrire ces quelques pages, je me suis imaginé procéder à une série d’entrevues avec des collègues médiévistes, pour leur poser la question qui m’avait été soumise : que reste-t-il des Annales dans l’histoire du Moyen Âge en France ? J’ai compris ensuite qu’une pareille entreprise ne serait pas réalisable dans un délai raisonnable et que je devrais chercher à y répondre en mes termes. Avant de m’atteler à cette tâche, j’ai eu l’occasion d’en discuter avec plusieurs collègues. J’ai été frappé par la réaction plutôt tiède que la question provoquait. Manifestement, la revue n’est pas beaucoup fréquentée par les médiévistes du rang. Quant à l’école, sa mention semble évoquer des souvenirs de cours d’historiographie, plutôt que de grandes idées. Marc Bloch, toutefois, fait toujours l’unanimité : il reste un repère de rigueur scientifique, d’imagination bien orientée, de courage intellectuel et de droiture morale dans l’exercice de notre métier. Il m’a donc semblé juste de lui donner de la place, d’en faire ici un centre de référence, en me concentrant sur cet esprit des Annales qu’il invoquait avec Lucien Febvre, plutôt que sur l’école des Annales, dont l’histoire est trop chargée et trop changeante pour qu’il soit possible de déterminer ce qu’il en reste. 99 Ainsi, les études portant sur la constitution des cimetières ou sur la conception territoriale du pouvoir des comtes : Michel Lauwers, Naissance du cimetière. Lieux sacrés et terre des morts dans l’Occident médiéval (Collection historique), Paris 2005 ; Tristan Martine, Ancrage spatial et polarisation des pouvoirs de l’aristocratie laïque en Lotharingie méridionale (fin IX e – mi XI e siècle), Thèse de doctorat, Université Paris-Est Marne-la-Vallée, 2017. Ces travaux n’ont pas besoin de l’hypothèse englobante d’une « invention » de l’espace pour assurer leurs contributions.

Que reste-t-il de l’« esprit des Annales » ? 

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Assurément, l’esprit des Annales est toujours parmi nous, dans la diversité et la liberté des entreprises de recherche. Il persiste aussi dans la rigueur de méthode qui étaie une part importante de ces travaux, comme dans cette idée de la vérité à laquelle Bloch tenait et qui n’a pas été complètement étouffée par le relativisme. S’il a échoué quelque part, c’est dans l’appel à la controverse scientifique et dans son intention de faire passer les impératifs de la recherche et de l’enseignement devant ceux de la carrière. De ce point de vue, lorsqu’il l’a remplacé, Fernand Braudel ne lui a pas fait honneur. Dans sa vénération de Febvre, il a contribué à réduire la contribution de Bloch, dont la réhabilitation n’est venue qu’avec Le Goff. Surtout, Braudel est responsable de l’absorption des élucubrations structuralistes en histoire, ce qui marqua la rupture définitive des Annales avec son programme initial. Avec les médias électroniques et leur dernière grande extension que sont les médias sociaux, l’imagination semble se réduire à une forme d’inspiration frivole, libérée. Or, l’imagination, lorsqu’elle s’applique aux affaires humaines, n’arrive à rien d’utile sans empathie, c’est-à-dire sans la capacité de l’observatrice à se projeter dans une autre réalité que la sienne. C’est le cas dans notre rapport au Moyen Âge, car l’imagination des historiennes doit se tourner vers les réalités concrètes des hommes et des femmes de ce temps. Le défi est de taille et il semble grandir à vue d’œil, à l’ère des mégapoles, d’internet et de la réduction constante du rôle des sens et des muscles dans nos vies hyperconnectées. Bloch, Le Goff, Toubert, Bonnassie, Devisse… Même en se limitant aux historiens français du Moyen Âge, il n’est pas difficile d’étirer la liste des grands de la profession, de ces personnages élevés à juste titre comme des modèles. Ils sont encore parmi nous, dans leurs œuvres, mais nous ne savons pas toujours comment maintenir cette relation dans ce qu’elle a de fructueux. La solution pourrait être d’accepter que nous ne sommes pas maîtres de la portée de nos travaux, seulement de leur méthode. Il faut continuer nos besognes, plus modestes sans doute que la « Société féodale », que « Les rois thaumaturges », mais participants du même idéal de vérité. Il faut continuer le travail, en gardant à l’esprit la leçon cardinale de Marc Bloch, à savoir que la vérité n’est pas un vain mot et qu’il est difficile de l’approcher sans dés­ engagement politique. L’imagination historienne ne doit pas se préoccuper des solutions pour le présent ou le futur, mais bien chercher à saisir le passé en ses termes. Ce faisant, l’histoire pourra peut-être servir à apaiser notre rapport à ce passé qui reste, à ce jour, un terrain de confrontation et de division. L’historienne ne contribue à la paix que si elle cherche à atteindre la vérité, que si elle traite ses concitoyennes en égales, capables de se confronter, elles aussi, à la vérité. La part d’humanisme dans le métier d’historienne pourrait être là, non dans la fabrication d’un Moyen Âge sans aspérité, doux sous la main, imaginé en fonction des besoins du présent.

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Martin Gravel

Quand l’histoire est déterminée pour servir une noble cause, pour peu que cette cause ne soit pas celle de la vérité, elle reprend la fonction qui était la sienne aux origines, comme science auxiliaire de la rhétorique, donc de la politique.100 Le courant en ce sens est très fort en France, en cet âge d’anxiété, jusque chez les historiennes médiévistes qui s’inquiètent à la fois de l’avenir de leur monde, de leur profession et de leur carrière. Il en découle qu’au moment d’exprimer leurs ambitions, les Annales de 2020 révèlent une position ambivalente : Avec leur exigence de réflexivité, en s’inscrivant tout autant contre le positivisme que le relativisme, les Annales ambitionnent d’explorer une histoire et des sciences sociales qui se définissent moins par un type d’objet donné que par des démarches, des procédures et des concepts scientifiques parfois empruntés à d’autres disciplines, mais toujours soumis, avant usage, à l’impératif de véridicité ou de vraisemblance qui rend l’écriture de l’histoire et des sciences sociales irréductibles à toute autre forme de récit.101

Il est vrai qu’en politique, la distinction importe peu. Et nous voici de retour chez les rhéteurs romains  : « L’invention consiste à trouver les arguments vrais ou vraisemblables propres à rendre la cause convaincante ».102 Et donc, que reste-t-il de l’esprit des Annales, dans l’histoire du Moyen Âge pratiquée en France ? Il reste deux influences contradictoires, celle du fondateur Marc Bloch, celle de l’enchanteur Michel Foucault. Le premier espère en la vérité, le deuxième distille de la vraisemblance utile. La première mène à écrire l’histoire, la deuxième, trop souvent, à faire carrière sur de bons sentiments.103

100 Sur le rapport de Bloch à la vérité, comme idéal de son travail d’historien  : Raulff, Marc Bloch (n. 21), p. 271–329. 101 Dans l’atelier, dans : Annales. Histoire, sciences sociales 75, 2020, p. 398. 102 Rhétorique à Herennius I, 3, édit. et trad. Guy Achard, Paris 2003, p. 3 : Inuentio est excogitatio rerum uerarum aut ueri similium, quae causam probabilem reddunt. 103 La part polémique de cet essai me retient de remercier nommément les collègues qui m’ont aidé dans mes réflexions. J’aimerais tout de même exprimer ma gratitude à Hans-Werner Goetz pour sa patience, pour ses relectures attentives et pour la confiance qu’il m’a accordée dans le traitement de la question proposée ici.

Wolfgang Hasberg

Ansichtssache Mittelalter – oder: Zur Metaphorik der Alterität einer Epoche Das Etwas, das beim Grau zu denken wäre, findet sich … halben Wegs zwischen einer metaphorischen und einer begrifflichen Größe. (P. Sloterdijk)

In der Mediävistik gibt es nicht nur Kontroversen um einzelne Sachfragen, sondern auch um das Zeitalter als Ganzes und um dessen begriffliche Fassung. Dabei spielt insbesondere die ihm zugeschriebene Alterität eine Rolle, die das Mittelalter als eine Epoche erscheinen lässt, welche sich vor allem durch ihre Andersartigkeit im Vergleich zur Antike und zur Neuzeit auszeichnet. Die einen heben diese Alterität hervor, die anderen versuchen, sie zu nivellieren. Die einen malen das Mittelalter schwarz, die anderen lassen es in hellen, manchmal grellen Farben erleuchten. Um diese kon­ troversen Ansichten auf das Mittelalter geht es im Folgenden. Dabei werden nicht nur Unterschiede im geschichtskulturellen und geschichtswissenschaftlichen Umgang mit der Epoche sichtbar, sondern auch innerhalb der Mediävistik, die seit seinem Aufkommen immer wieder um den Begriff gerungen hat, um seine heuristische Potenz zu ermessen. Diese Diskussion wird im Kontext einer Geschichtskultur nachgezeichnet, die sich weit weniger um begriffliche Schärfe bemüht, sondern die Metapher einer dunklen Epoche aufrechterhält, um deren Faszinosum zu unterschiedlichen Zwecken zu nutzen. Am Ende wird deutlich, dass sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der Geschichtskultur der Terminus „Mittelalter“ funktional zum Einsatz kommt  : das eine Mal mehr als Begriff, das andere Mal mehr als Metapher. Trotz der zu beobachtenden Annäherungen liegt hier die eigentliche Entzweiung  : zwischen der geschichtskulturellen und der geschichtswissenschaftlichen Verwendung.

Kontroversität und Alterität als Merkmale einer Epoche Wer erinnert sich nicht an die hitzigen Dialoge, die Lodovico Settembrini und Dr. Leo Naphta auf dem Zauberberg Thomas Manns führen. Einerseits die Zeit vergessend, vertreten sie andererseits für den Beginn des 20. Jahrhunderts ganz zeitgemäße Positionen  : der freidenkerisch gesinnte Italiener übernimmt dabei die Rolle des lebens-

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Wolfgang Hasberg

bejahenden, am Fortschritt orientierten Realisten  ; der andere, eine wenig einnehmende Person von gedrungener Statur, erweist sich als streitsüchtig und verkörpert die in einer wenig konzisen Weise vorgetragenen Standpunkte der Vormoderne, ihre jüdisch-christliche Verfasstheit etwa und die daraus resultierende Einheit der Gesellschaft als Garant von Sicherheit. Deshalb ist er ein Verfechter, geradezu ein Verehrer des Mittelalters.1 Ganz wie Novalis, der Romantiker, der um 1800 die mittelalterliche Einheit zurückersehnte, damit allerdings auf den erbitterten Widerstand zahlreicher Zeitgenossen stieß, die an den Errungenschaften der Aufklärung festhalten und nicht in die metaphysisch geprägten Weltbilder des Mittelalters zurückfallen wollten. Im bürgerlichen Roman des anhebenden 20.  Jahrhunderts zeigt sich die Janusgesichtigkeit, mit der das Mittelalter seit den Zeiten seiner Erfindung durch die Humanisten angesehen wurde  :2 ein geradezu „entzweites Mittelalter“, von dem Otto Gerhard Oexle gesprochen hat  : ein helles, das als positiv und nachahmenswert empfunden wird, und ein dunkles, das all jenes in sich vereint, das als negativ und zu überwinden betrachtet wird,3 und zwar immer aus Sicht der jeweiligen Gegenwart, in der an das „mittlere Zeitalter“ erinnert wird. Deshalb ist weniger die Zeitphase, die in der gegenwärtigen Geschichtskultur (des Westens) als Mittelalter firmiert, entzweit  ; vielmehr entzweit es die Betrachter, die aus ihrer zeitgebundenen Perspektive zurückblicken und die Epoche für die eigene Orientierung in Gebrauch nehmen. In beiden Fällen dient das Zeitalter als Folie, auf der die Andersartigkeit der Vergangenheit (Alterität) im Vergleich zur Gegenwart und Zukunft in Betracht gezogen wird, und zwar in kontroverser, nicht selten diametral gegensätzlicher Manier als helles oder finsteres Mittelalter.

1 Thomas Mann, Der Zauberberg (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, 5,1), hg. u. textkrit. durchges. von Michael Neumann, Frankfurt am Main 2002 [1. Aufl. 1924]. Zu den Charakteren siehe Thomas Mann, Der Zauberberg. Kommentar von Michael Neumann (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, 5,2), Frankfurt am Main 2002, S. 83–88 und 88–97. Zum Mittelalterverständnis des Autors siehe jetzt auch Thomas Mann, Der Erwählte. Roman. Kommentar von Heinrich Detering/ Maren Ermisch, Frankfurt am Main 2021, S. 9–161. 2 Vgl. dazu Peter Raedts, Die Entdeckung des Mittelalters. Geschichte einer Illusion, Darmstadt 2016, der selbst einräumt, dass es sich keineswegs um eine Entdeckung, sondern um eine Erfindung handelt (beispielsweise S.  8). S. auch Valentin Groebner, Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen, München 2008, insbes. S. 24–37. 3 So schon 1992 Otto Gerhard Oexle, Das entzweite Mittelalter, in  : Gerd Althoff (Hg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter, Darmstadt 1992, S. 7–28 und 168–177 (wiederabgedr. in  : Ders., Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, hg. von Andrea von Hülsen-Esch/Bernhard Jussen/Frank Rexroth, Göttingen 2011, S. 837–866), und Ders., Die Gegenwart des Mittelalters (Das mittelalterliche Jahrtausend 1), Berlin 2013, S. 16f.

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Nur auf der Basis der geschichtskulturell verfügbaren Vorstellungen vom und der Einstellungen zum Mittelalter können neue Vorstellungen und Einstellungen entstehen.4 Das „entzweite Mittelalter“ oder besser  : das aufgrund seiner radikalen Andersartigkeit grundsätzlich kontroverse Mittelalter wird zu einer Ansichtssache, wobei die Doppeldeutigkeit einerseits die Perspektive betrifft, mit der auf das Zeitalter zugegriffen wird (Ansicht auf das oder vom Mittelalter), sowie andererseits das, was empirisch über die historische Zeit zum Vorschein gebracht wird (Sicht in das Mittelalter). Das heißt in anderen Worten, dass die in der Geschichtskultur vorfindbaren Schablonen zum Mittelalter retrospektive Entwürfe sind, in die Vorstellungen und Einstellungen der jeweiligen Gegenwart längst eingeflossen sind, bevor mit ihrer Hilfe Zeitverläufe in der Vergangenheit rekonstruiert werden. Grundsätzlich gilt dieser hermeneutische Vorbehalt für jede Beschäftigung mit der Vergangenheit. In Bezug auf das Mittelalter kommt dieser Einsicht allerdings wegen dessen spezifischen Epochencharakters (s. Abschnitt 3) besondere Bedeutung zu, weil die These von der grundsätzlichen Andersartigkeit (in den Vorstellungen vom Mittelalter), die zugleich dessen Kontroversität (in Bezug auf die Einstellungen zum Mittelalter) begründet, zu den ursprünglichen Konstituenten des Noumenons Mittelalter gehört.5 Dass die dichotomischen Ansichten auf und in das Mittelalter weit über den Bereich der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Epoche hinausgehen und in einer bildungsbeflissenen Geschichtskultur vermutlich wesentlich nachdrücklicher und nachhaltiger vertreten werden, wurde am Beispiel des Zauberbergs anschaulich gemacht. Welche Veränderungen sich im Laufe eines Jahrhunderts ergeben haben, kann wiederum anhand der Romanliteratur aufgewiesen werden. In seinem Erstlingswerk kommt der inzwischen renommierte und mit diversen Buchpreisen ausgezeichnete, wenngleich nicht unumstrittene Schweizer Schriftsteller Christian Kracht – en passant – auch auf das Mittelalter zu sprechen, wenn sein Protagonist sich das Aussehen, näherhin das Gesicht seines Freundes Alexander vorzustellen versucht, den er auf

4 So in Anlehnung an eine Wendung von Karl-Ernst Jeismann, Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart, in  : Erich Kosthorst (Hg.), Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie, Göttingen 1977, S.  9–33, hier S.  13, wonach das historische Bewusstsein „das Ingesamt der unterschiedlichsten Vorstellungen von und Einstellungen zur Vergangenheit“ ist. Um den Aspekt der Geschichtskultur erweitert, auf das Mittelalter angewendet bei Wolfgang Hasberg, Politik oder Kultur  ? Zur Notwendigkeit einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Geschichtsdidaktik, in  : Ders./ Manfred Seidenfuß (Hg.), Zwischen Politik und Kultur. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Mittelalter-Didaktik, Neuried 2003, S. 9–22, insbes. S. 14. 5 Vgl. unten Anm. 35.

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seiner umständlichen Reise von Sylt zum Grab Thomas Manns in Kilchberg am Zürichsee in Frankfurt zu besuchen gedenkt  : Es ist ein längliches Gesicht mit einer großen Nase, und irgendwie sieht er mittelalterlich aus, wie auf einem Bild von Walter von der Vogelweide oder Bernard von Clairvaux. Das sind beides mittelalterliche Maler, das weiß ich. Nicht, dass ich genau wüsste, wie diese Menschen, die die gemalt haben, aussehen, aber ich stelle mir das Mittelalter immer so vor wie in dem Film „Der Name der Rose“, der ja eigentlich als Film recht dämlich war, aber der Alexander hätte in diesem Film mitspielen können, weil er einfach nicht aussieht wie aus dieser Zeit, in der wir jetzt leben, sondern eben wie aus dem Mittelalter.6

Wer nicht so aussieht oder sich so verhält, wie es in der Gegenwart angemessen erscheint, gerät leicht in den Verdacht, mittelalterlich zu sein. Das ist eine der pejorativen Bedeutungen, die im alltäglichen Sprachgebrauch mit der Epoche verbunden sind  : die Unzeitgemäßheit. Das aber kann nicht der Grund dafür sein, weshalb Kracht an dieser – und anderer – Stelle Reminiszenzen ans Mittelalter ausstreut.7 Jeder Autor hat die Möglichkeit, Spuren der Doppeldeutigkeit zu legen.8 Das tut der Schweizer Autor an dieser Stelle ohne Zweifel, denn die irreführenden Hinweise auf zwei derart bedeutende Maler wie Walter von der Vogelweide und Bernhard von Clairvaux setzen keine höhere Bildung voraus, um als solche entlarvt zu werden. Gleichwohl hat der Verfasser billigend in Kauf genommen, dass dies nicht jedem Leser gelingen wird, zumal die Aussagen explizit mit dem Verweis auf das sichere Wissen des Protagonisten bestätigt werden. Das muss indes der Leser ebenso wenig ernst nehmen wie die Bemerkung, dass der Film Der Name der Rose dämlich sei. Beides sind Aussagen des fiktiven Erzählers, nicht des Autors. Und wie Ersterer an zahlreichen anderen Stellen sein Halb- oder Unwissen preisgibt, so auch in dieser auf das Mittelalter bezogenen Passage. Beide Aussagen sind Teil eines Erzählkonzepts, das sich selbst postmodern geriert und so die Postmoderne literarisch in Szene setzt. Das Fehlwissen um das Mittelalter, das der anonyme Protagonist an den Tag legt, ist als Zeichen dafür zu nehmen, welcher Stellenwert dem Mittelalter in einer postmodernen Wirklichkeit eingeräumt wird  : Wissen, auch historisches Wissen, ist in einer postmodernen Ge6 Christian Kracht, Faserland, Frankfurt am Main 102020, S. 69. 7 Ebd., S. 115f., wo die Szenerie eines Techno-Konzertfestivals als mittelalterlich beschrieben wird, weil sie den Protagonisten an Hieronymus Boschs Garten der Lüste erinnert, ein Bild, das für ihn die Grausamkeit des Mittelalters widerspiegelt, während ihn der dumpfe Rhythmus der Techno-Musik an „was von diesen mittelalterlichen Büßern und Flagellanten“ erinnert. 8 Vgl. etwa Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt am Main 9 2015, insbes. S. 192–194 zur „Redevielfalt im Roman“.

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sellschaft der Beliebigkeit anheimgegeben, weil die Regeln des Diskurses die rationale und methodische Absicherung des den Behauptungen zugrunde liegenden Wissens nicht länger vorsehen.9 Diese Beobachtung beschränkt sich weder auf das Mittelalter noch auf die Geschichte, sondern bezieht sich auf den gesellschaftlichen Umgang mit Wissen und dessen argumentativer Verwendung im Allgemeinen. Gleichwohl ist hervorzukehren, dass die fest mit dem Konzept vom Mittelalter verbundenen Merkmale der (substanziellen) Alterität und der (perspektivischen) Kontroversität die Epoche außerhalb wissenschaftlicher Gefilde anfällig dafür machen, rascher als andere in den Strudel postmoderner Umtriebe zu geraten. Worin das begründet liegt, soll im Folgenden expliziert werden, indem die (2) wechselhafte (gesellschaftliche) Relevanz, die (3) epochale und (4) methodologische Andersartigkeit sowie die (5) fortwährende Aktualität des Mittelalters in den Blick genommen werden. Dabei ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass die Fragestellungen von einer Weite und Komplexität sind, dass sie sich mit wissenschaftlichen Mitteln schwerlich letztgültig beantworten lassen, weshalb die folgenden Überlegungen essayistische Züge tragen und weniger abschließende Antworten als vielmehr Anregungen geben wollen, ohne dass damit die Absicht verbunden sein kann, die schier unendliche Diskussion um die mittlere Epoche einem Abschluss entgegenzuführen.

Alterität im Wandel der Moden – Wissenschaftliche Bedeutung und gesellschaftliche Relevanz des Mittelalters Auf dem Weg zu einem neuen Mittelalter?

Die Zahl der Beiträge, die sich mit der Gegenwart des Mittelalters, seiner Relevanz für die Moderne und damit für seine fortwährende Aktualität aussprechen, ist kaum zu überblicken.10 Solche Konjunkturen scheint es immer dann zu geben, wenn die Gesellschaft sich in einer Krise befindet. Während des gesamten 19. Jahrhunderts stand das Mittelalter in der politischen Debatte in hohem Kurs, weil es die Einheit als Ideal vorzuspiegeln vermochte, von der das Ringen um die politische Integrität eines deutschen Nationalstaats weit entfernt war. Die Sybel-Ficker-Kontroverse,11 aber auch die   9 Klassisch formuliert bei Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom, Berlin 1977. 10 Vgl. unten Abschnitt 5. 11 Vgl. etwa Thomas Brechenmacher, Wie viel Gegenwart verträgt historisches Urteilen  ? Die Kon­ troverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Bewertung der Kaiserpolitik des Mittelalters (1859–1862), in  : Ulrich Muhlack  (Hg.), Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 5), Berlin 2003, S. 87– 112.

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Rolle Friedrich Barbarossas im Kyffhäuser sind Indizien dafür.12 Zugleich lassen sie erkennen, wie kontrovers dabei die Rolle der mittelalterlichen Italienpolitik sowie die der Staufer für politische Zielsetzungen in Gebrauch genommen wurden. Einen Aufschwung erlebten die Reminiszenzen an das Mittelalter aber auch in anderen Zeiten der Krise, sei es nach dem Ersten oder dem Zweiten Weltkrieg. Einigen Nachhall haben etwa die Reflexionen des russischen Philosophen Nikolai Berdjajew erzeugt, der 1927 von einem neuen Mittelalter sprach und damit einen „Ausweg aus der Weltkrise“ zu entwerfen versprach.13 Dabei ging er von der vielsagenden Prämisse aus, an der Schwelle zu einer neuen Epoche zu stehen, nämlich an der zu einem neuen Mittelalter, durch das die neue Geschichte überkommen würde, weil die „geistigen Prinzipien der Neuzeit“ erschöpft seien und es neue Prinzipien des Denkens zu gewinnen gelte. So ist sein Plädoyer für ein neues Mittelalter vor allem ein Abgesang auf die liberalistischen Tendenzen der Moderne, auf Rationalismus, Individualismus, Liberalismus und Demokratismus, die den Geist der Billigkeit von Mehrheitsmeinungen preisgegeben hätten. In dieser zeit- und kulturkritischen Attitüde gleicht sein Plädoyer ganz der eines Oswald Spengler, der zur selben Zeit den Untergang des Abendlandes prognostizierte und dessen Ursache im Niedergang des abendländischen Bewusstseins wähnte.14 Allerdings schwebte Berdjajew eine existentialistische Wende vor Augen,15 eine Rückbesinnung auf den Geist der Vormoderne. So ist der „Aufruf zum neuen Mittelalter  […] ein Aufruf zur geistigen Revolution, zu einem neuen Bewusstsein“,16 das eigentlich die Überwindung der neuzeitlichen Wertsysteme, insbesondere des Humanismus, zum Ziel hat. Es ist – ganz wie in romantischen Zeiten – die Rückwende zur „religiösen Zeit eines neuen Mittelalters“,17 für die der 12 Zum Kyffhäuser siehe Gunther Mai (Hg.), Das Kyffhäuser-Denkmal 1896–1996. Ein nationales Monument im europäischen Kontext, Köln/Weimar/Wien 1997. Siehe auch Klaus Schreiner, Die Staufer in Sage, Legende und Prophetie, in  : Rainer Hausherr (Hg.), Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur, 5 Bde., Stuttgart 1977, hg. vom Württembergischen Landesmuseum, Bd. 3, Stuttgart 1977, S. 249–262, insbes. S. 259–262. 13 Nikolaus Berdjajew, Das Neue Mittelalter. Betrachtungen über das Schicksal Russlands und Europas, Darmstadt 1927, S. 9. Nicht ganz unähnlich ist das Anliegen des in der Mediävistik eher zögerlich rezipierten Bändchens von Paul Ludwig Landsberg, Die Welt des Mittelalters und wir. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über den Sinn eines Zeitalters, 2. Aufl. Bonn o. J. (11923). 14 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1923. 15 Immerhin schreibt er in einen philosophischen Diskurs hinein, in dem nach existentialistischen Ansätzen gesucht wird, wobei Martin Heidegger, Sein und Zeit (Gesamtausgabe 2), Frankfurt am Main 2 2018, das zuerst 1927 publiziert wurde, bereits erste Früchte seiner diesbezüglichen Überlegungen beinhaltet. 16 Berdjajew, Das Neue Mittelalter (wie Anm. 13), S. 22. 17 Ebd., S. 24.

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christlich-russische Philosoph wirbt. „Es ist Zeit, endlich damit aufzuhören, von der ‚Finsternis des Mittelalters‘ zu reden und ihr das Licht der neuen Geschichte entgegenzustellen.“ Aber es ist auch „überflüssig, nach Art der Romantik das Mittelalter zu idealisieren.“18 Gleichwohl geht es um die Wiedergewinnung der Religiosität und der Individualität sowie um eine neue Ganzheitlichkeit, die im Strudel der Moderne sich im Atomismus systemischen Denkens, des Individualismus und des Mechanismus verflüchtigt hätten. So wird in der Sicht des russischen Denkers die Neuzeit zur dunklen Folie eines neuen Mittelalters, ohne dass erwogen wird, wie die Auflösung der epochalen Trias die Rede von einem neuen Mittelalter rechtfertigen könnte. Nicht nur in der „Zwischenkriegszeit“ erlebte die Sehnsucht nach dem Mittelalter eine Renaissance. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war eine solche zu verzeichnen. So beschwor etwa der Philosoph und Theologe Romano Guardini die Einheit, nicht zuletzt die Christianität des Mittelalters, um die Herausforderungen der Gegenwart zu meistern.19 Andere hatten es ihm vorgemacht. Nicht zuletzt der bayerische Historiker Michael Seidlmayer, der den Vorzug pries, dass ein „Gesamtgeist“ das Mittelalter beherrscht habe, der „in strenger Gesetzlichkeit, aber – weil er unbewusst von innen her wirkt – […] keine Vergewaltigung des Individuums, keine zwangsmäßige Uniformierung und Nivellierung zur Folge“ gehabt habe.20 Deshalb erschien eine Rückkehr in die mittelalterlichen Verhältnisse der geeignete Weg, das Chaos und vor allem die Orientierungslosigkeit der Nachkriegszeit zu bewältigen – mögen die Vorschläge aufgrund der inzwischen erzielten Fortschritte im Bereich der (historischen) Erkenntnistheorie auch naiv klingen, in ihrer (vergangenen) Gegenwart erschien die Rückkehr zu einem geistig geschlossenen Europa durchaus als eine Denkmöglichkeit. Doch selbstverständlich blieb die Beschäftigung mit dem Mittelalter nicht auf die herausragenden Krisenzeiten beschränkt. Vielmehr ergaben sich immer neue Herausforderungen in der Gegenwart, die es angeraten erscheinen ließen, das Mittelalter als Spiegel der Gegenwart zu verwenden,21 um der sich stellenden Probleme Herr

18 Ebd., S. 41f. 19 Romano Guardini, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, in  : Ders., Das Ende der Neuzeit – Die Macht (Werke 12), Ostfildern/Paderborn 132019, S. 9–95 [1Würzburg 1950]. 20 Michael Seidlmayer, Das Mittelalter. Umrisse und Ergebnisse des Zeitalters. Unser Erbe [1947], Göttingen ²1967, S. 9. 21 Der weltweit erfolgreiche Titel des Buches von Barbara Tuchmann, Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert, München 21983 [Orig.: A Distant Mirror. The Calamitous 14th Century, New York 1978] lässt erkennen, dass die Befassung mit dem Mittelalter keineswegs auf akademische Kreise beschränkt war, sondern weiterhin auch den populären Buchmarkt und weite Kreise der Geschichtskultur erfasste.

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zu werden. So begab man sich immer wieder auf die Suche nach einem neuen Mittelalter.22 Einen (neuen) Anfang machte 1972 Umberto Eco,23 indem er eine artifiziell anmutende strukturelle Parallelität zwischen den archaischen Verhältnissen des früheren Mittelalters und dem Niedergang der industriellen Zivilisation aufzudecken suchte.24 Betrachtete er die Neuzeit als mittelalterlich, so bezeichnete Odo Marquard in geradezu diametralem Gegensatz das Mittelalter als „Neuzeit vor der Neuzeit“, weil sich die Gegenwart seit dem Aufkommen der Fortschrittsidee im 18.  Jahrhundert nicht mehr durch die Vergangenheit, sondern durch die Zukunft definiere.25 Das Mittelalter – so führt er in Anlehnung an Hans Blumenberg aus – habe der Neuzeit die unbewältigte Aufgabe hinterlassen, den Gnostizismus zu bewältigen.26 So berechtigt solche Hinweise sein mögen, bergen sie doch zugleich die Gefahr in sich, gegenwärtige Vorstellungen (Sicht in das Mittelalter) und Einstellungen (Ansicht vom Mittelalter), Ansichten in oder auf die Epoche zu projizieren. Werden die ungelösten Probleme und Bedrohungen der eigenen Zeit auf die Epoche übertragen, so verliert diese ein weiteres Mal ihre „Unmittelbarkeit zu Gott“ (Leopold von Ranke)27 und leicht entsteht wieder das Zerrbild vom „finsteren Mittelalter“. Die verschiedenen Zugangsweisen lassen erkennen, wie sehr die inhaltliche Füllung und Bewertung des historischen Begriffs „Mittelalter“ vom jeweiligen zeitlichen Selbstverständnis getragen wird. 22 Weitere Hinweise dazu finden sich bei Otto Gerhard Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte, in  : Ders., Die Wirklichkeit und das Wissen (wie Anm. 3), S. 867–937. 23 Wesentlich zu spät sehen Philippe Depreux/Katrin Kogman-Appel/Isabelle Mandrella/Kathrin Müller/Ulrich Müller, Relevanz der Mediävistik. Das ‚Mittelalter‘ als Teil unserer Gegenwart, in  : Das Mittelalter 26, 2021, S. 33–51, hier S. 35, diese Entwicklung einsetzen. 24 Umberto Eco, Auf dem Weg zu einem Neuen Mittelalter 1972, in  : Ders., Über Gott und die Welt, München/Wien 1985, S. 8–33. 25 Odo Marquard, Neuzeit vor der Neuzeit  ? in  : Joseph Szövérffy (Hg.), Mittelalterliche Komponenten des europäischen Bewusstseins, Berlin 1983, S. 1–7. Zu der grundlegenden Denkfigur siehe insb. Reinhart Koselleck, „Neuzeit“. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in  : Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Taschenbuch-Aufl. Frankfurt am Main 1989, S.  300– 348, und Ders., Was ist die Neuzeit, in  : Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Taschenbuch-Aufl. Frankfurt am Main 2003, S. 225–239. 26 Auch Johannes Fried, Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, München 42009, S. 553, stellt grundsätzlich fest, dass das Mittelalter der Neuzeit eine unerhörte Fülle bislang ungelöster Probleme hinterließ. In Bezug auf die Frühe Neuzeit vertritt auch Heinz Schilling, Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa. Aufbruch in die Welt von heute, Freiburg/Basel/Wien 2022, diese Auffassung, wenn er diese als das „Erbe der Vormoderne“ beschreibt. 27 Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Theodor Schieder/Helmut Berding (Aus Werk und Nachlass 2), München/Wien 1971, S. 59f.

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Mit Entschiedenheit stellte Karl Ferdinand Werner die Gefahren heraus, die sich aus der Verwendung des Begriffs ergeben, weil der ohnehin auf Europa beschränkte Terminus aus mangelhafter Quellenkenntnis und unter nachweislichen Fehldeutungen der Humanisten entstanden sei und damit eine Schablone darstelle, die nicht mit der historischen Zeit kongruent gehe.28 Der traditionelle Mittelalter-Begriff fasse zudem kaum miteinander verbundene Perioden (8.–14. Jh.) zusammen und durch­ trenne kohärente (4.–8. Jh. und 14.–18. Jh.). Deshalb plädiert er für ein langes Mittelalter mit einer Zäsur im 12. Jahrhundert, dessen Charakteristikum die „christliche Monokratie“ in Europa gewesen sei. 29 Den Ausdruck selbst aber möchte er vermieden sehen, weil er – und dieser Hinweis ist vollauf berechtigt – ein ganzes Zeitalter vom übrigen Geschichtsverlauf abzukoppeln drohe. Gerade wegen der Ambivalenz des Begriffs spricht Peter von Moos sich für die Beibehaltung und einen „bewussten Gebrauch von Epochenschablonen“ aus. Darunter versteht er die Forderung, bei der Verwendung des Mittelalter-Begriffs stets darzulegen, von welcher Vorstellung dieser getragen und von welchen Motiven er bestimmt ist.30 Darüber hinaus weist er – durchaus im Anschluss an Karl Ferdinand Werner – darauf hin, dass neben dem kontrastiven der aktuelle Gegenwartsbezug nur erkennbar werden könne, wenn die Perspektive über den als Mittelalter bezeichneten Zeitraum erweitert werde. 28 So betont auch Fried, Mittelalter (wie Anm. 26), S. 536–558 vor allem, dass die Ansicht von einem finsteren Mittelalter dem quellengesättigten Wissen keineswegs standhalten könne. Ähnlich schon Ders., Die Aktualität des Mittelalters. Gegen die Überheblichkeit unserer Wissensgesellschaft, Stuttgart 22002. Vgl. dazu Ders., Vom Zerfall der Geschichte zur Wiedervereinigung. Der Wandel der Interpretationsmuster, in  : Otto Gerhard Oexle (Hg.), Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung am Ende des 20. Jahrhunderts (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 2), Göttingen 1996, S. 45–72 und Ders./Janus Gudian, „Finsteres Mittelalter“. Über die ungebrochene Wirkkraft eines rhetorischen Bildes, in  : Forschung Frankfurt (2005) 2, S. 74–77. 29 Karl Ferdinand Werner, Das „Europäische Mittelalter“. Glanz und Elend eines Konzepts, in  : KarlErnst Jeismann/Rainer Riemenschneider (Hg.), Geschichte Europas für den Unterricht der Europäer, Braunschweig 1980, S. 23–35, hier S. 30. Vgl. dazu auch Peter Moraw, Wiederentdeckung des Mittelalters, in  : Frank Niess (Hg.), Interesse an der Geschichte, Frankfurt am Main/New York 1989, S. 90–99, hier S. 95. 30 Peter von Moos, Gefahren des Mittelalter-Begriffs. Diagnostische und präventive Aspekte, in  : Joachim Heinzle (Hg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Taschenbuch-Aufl. Frankfurt am Main 1999, S.  33–63, hier insb. S.  61. Vgl. zur Epochenproblematik auch Wolfgang Hasberg, Lobbyismus oder Epochenverliebtheit  ? Epoche als kategoriale Größe der Didaktik der Geschichte, in  : Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 7, 2008, S. 5–20 und Ders., Epoch – A useful Parameter of Measuring Time  ? An Urgent Inquiry, in  : International Journal of Research on History Didactics, History Education and History Culture – Yearbook of the International Society for History Didactics 39, 2018, S. 205–224.

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Einen solchen Versuch unternimmt der Neuzeitler Thomas Nipperdey, indem er aufzuzeigen sucht, „welche Strukturen des Mittelalters gerade die Neuzeitlichkeit der Neuzeit bedingen.“ Nach ihm ist es die Pluralität, die ihre verbindende Mitte im „transzendentalen göttlichen Ursprung aller Ordnung“ fand, welche eine kontinuierliche Entwicklung vom Mittelalter zur Neuzeit bewirkt habe.31 Dieser Befund deckt sich keineswegs mit dem des Mediävisten Tilman Struve, der nach den mittelalterlichen Wurzeln Europas fragt und feststellt, es sei „gerade durch die Vielfalt seiner politischen, gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung wie durch die Vielzahl der von seinen Völkern beschrittenen Wege“ gekennzeichnet  ; in eben dieser Pluralität sieht er die prospektive Möglichkeit, über die mittelalterlichen Verhältnisse ein Modell für die Ausgestaltung eines politisch geeinten Europas zu entwickeln.32 Während diese beiden Ansätze, einen (ohne fixe Zäsuren gedachten) Mittelalter-Begriff voraussetzend, Wesensmerkmale zu analysieren suchen, um zum Charakter der Epoche als einem (realhistorischen) Phänomen vorzustoßen,33 betrachtet Otto Gerhard Oexle den Begriff als Selbstaussage der Moderne.34 Essenziell ist dabei die von ihm vorgetragene Analyse eines entzweiten Mittelalter-Begriffs. Kommt dieser einerseits im Vergleich sowohl zur Antike als auch zur Moderne mit negativer Konnotation als ein Diffamierungsbegriff daher, der die Unselbstständigkeit des Individuums und die fixe religiöse Orientierung bezeichnet, kann andererseits die Alterität positiv als „ferner Spiegel der Gegenwart“ (Barbara Tuchmann) gedeutet werden. Zum Verständnis dieses Kontrastes ist relevant, dass das Mittelalter als Periodisierungsbegriff erst im 17.  Jahrhundert entstand, und zwar in explizitem Zusammenhang mit der Fortschrittsidee und der Erfahrung einer neuen Zeit (Moderne).35 Daher ergibt sich die Ursache der Entzweiung des Denkens über das Mittelalter von Beginn an, weil mit der Etablierung des Begriffs die Frage verknüpft war, „ob denn nun die Überwindung 31 Thomas Nipperdey, Die Aktualität des Mittelalters, in  : Geschichte in Wissenschaft und Neuzeit 32, 1981, 424–431, Zitate S. 425 und 431. 32 Tilman Struve, Die mittelalterlichen Grundlagen des modernen Europas, in  : Saeculum 41, 1990, S. 1–114, das Zitat S. 114. Vgl. auch die zwischen 1993–2002 im C. H. Beck erschienenen Bände der Reihe „Europa bauen“, insbes. Jacques Le Goff, Das alte Europa und die Welt der Moderne, München 1994. 33 Ebenso Hans-Dietrich Kahl, Was bedeutet  : „Mittelalter“  ? in  : Saeculum 40, 1989, S.  15–38, sowie ältere Versuche, beispielsweise der bekannte von Seidlmayer, Das Mittelalter (wie Anm. 20). 34 Otto Gerhard Oexle, Das Mittelalter und die Moderne. Überlegungen zur Mittelalterforschung, in  : Ilko-Sascha Kowalcuk (Hg.), Paradigmen deutscher Geschichtswissenschaft, Berlin 1994, S. 32–63. 35 Das muss hier nicht noch einmal wiederholt werden, siehe Hasberg, Lobbyismus oder Epochenverliebtheit  ? (wie Anm. 30), S. 11f., gestützt u. a. auf Uwe Neddermeyer, Das Mittelalter in der deutschen Historiographie vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Geschichtsgliederung und Epochenverständnis in der frühen Neuzeit, Köln/Wien 1998, und Groebner, Das Mittelalter (wie Anm. 2), S. 38–47.

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des Mittelalters einen Fortschritt darstellt oder ob nicht vielmehr der Fortschritt der Moderne, gemessen am Mittelalter, sich als ein Unglück erweisen muss.“36 Befindet sich also die Mediävistik auf dem Weg zu einem neuen Mittelalter  ? Bei genauerer Betrachtung ist vor allem die Ambivalenz des Begriffs hervorgekehrt worden, dessen Füllung vom jeweiligen Zeitgeist (mit-) bestimmt wird, der eine strikte zeitliche Begrenzung und damit die Isolierung von anderen Epochen nicht zulässt.37 Doch bei allem Bemühen, den Begriff flexibel zu gestalten, ihn auf diese Weise von gesellschaftlichen Einflüssen so weit als möglich zu immunisieren und wissenschaftlich handhabbar zu machen, bleibt das Mittelalter doch eine andere Epoche. Schließlich hebt es sich von den anderen dadurch ab, dass es – auch wenn die Zäsuren frei fluktuieren – die einzige Epoche mit Anfang und Ende ist, wie Ferdinand Seibt bereits vor mehr als drei Jahrzehnten treffend bemerkt hat.38 Solange also die epochale Trias ihre Geltung behält, wird auch das Mittelalter seine Sonderstellung zwischen der Antike und der Neuzeit bewahren. Zur Faszination der Andersartigkeit

Auch wenn empirische Befunde derzeit nicht zuhanden sind, kann davon ausgegangen werden, dass sich die begriffliche Ziselierarbeit kaum den Weg in eine breitere Öffentlichkeit hat bahnen können, dass vielmehr weiterhin eine Mittelaltereuphorie grassiert, die in der Geschichtskultur in mannigfaltiger Weise ihren Niederschlag gefunden hat und dabei von den Befunden der „modernen Mediävistik“ kaum berührt wird.39 Demoskopische Untersuchungen liegen kaum vor oder sind hoffnungslos überaltert. Ihnen 36 Oexle, Das entzweite Mittelalter (wie Anm. 3), S. 2, im Anschluss an die in Anm. 25 genannten Werke Reinhart Kosellecks. Vgl. auch Raedts, Entdeckung des Mittelalters (wie Anm. 2), S. 25, der betont, die Humanisten hätten „das Mittelalter aus der Erzählung der westlichen Zivilisation gestrichen“. Ganz ähnlich Stephan Dusil/Katrin Kogmann-Appel/Isabelle Mandrella/Kathrin Müller/Ulrich Müller, „Typisch Mittelalter“  ? Begriffe, Gegenstände, Perspektiven, in  : Das Mittelalter 26, 2021, S. 52–67, hier 53 u. ö. Deutlich konzilianter Fried, Mittelalter (wie Anm. 26), S. 539, der meint  : „keiner der ‚Renaissance-Autoren‘ … hatte sich zu solchem Verdikt hinreißen lassen.“ 37 Dass die Diskussion bis in die unmittelbare Gegenwart hinein fortgesetzt wurde, lässt sich bei Jacques Le Goff, Geschichte ohne Epochen  ? Ein Essay, Darmstadt 2016, ebenso nachlesen wie bei R ­ aedts, Die Entdeckung des Mittelalters (wie Anm.  2) oder resümierend bei Dusil/Kogmann-Appel/ Mandrella/Müller/Müller, „Typisch Mittelalter“  ? (wie Anm. 36). 38 Ferdinand Seibt, Glanz und Elend des Mittelalters. Eine endliche Geschichte, Berlin 1987, S.  13  : „‚Mittelalter‘ ist ein Verlegenheitsbegriff. Darüber sind sich die Historiker ziemlich einig  ; wie man ihn aber ersetzen könnte, darüber nicht.“ 39 Zum Stand siehe etwa Oexle  (Hg.), Stand und Perspektiven (wie Anm. 28)  ; Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999, sowie Ders./Jörg Jarnut (Hg.), Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung (MittelalterStudien 1), München 2003.

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zur Folge wäre das Wissen um das Mittelalter gering und seine Anziehungskraft groß.40 Vermutlich macht gerade diese Diskrepanz das Faszinosum aus, das die Epoche noch immer zu besitzen scheint. Es sind nicht nur die großen, inzwischen legendären Ausstellungen41 zu Karl dem Großen42 und zu den Staufern,43 die bereits in den 1950er und 1970er Jahren einen Mittelalterboom widerspiegelten oder überhaupt erst hervorriefen, den man kaum für möglich erachtet hatte. Zu verschiedenen Anlässen wurden ähnliche Ausstellungen wiederholt, wenn Anniversarien dafür in Anspruch genommen werden konnten  – oder auch, wenn es keine Jahrestage gab. Personalisierte Konzepte zu Karl (Aachen) und Otto (Magdeburg),44 den Großen, zogen ebenso große Publikumsmassen an wie die zu Heinrich dem Löwen (Braunschweig)45 oder Otto IV. (Braunschweig).46 Neben solchen auf Personen bezogenen Expositionen47 folgten auch jene zu den Alamannen,48 Franken49 und Saliern50 einem Konzept, das Identitätsbezüge zu den potenziellen Besucherinnen und Besuchern herzustellen suchte.51 Der Bezug auf die Vormo40 Zusammengefasst bei Bodo von Borries, Das Mittelalter im Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen. Empirische Befunde, in  : Rolf Ballof (Hg.), Geschichte des Mittelalters für unsere Zeit, Stuttgart 2003, S. 279–291, und Wolfgang Hasberg, Das Mittelalter – Quellgrund der Moderne für den (post-) modernen Schüler  ? in  : Ders./Uwe Uffelmann  (Hg.), Mittelalter und Geschichtsdidaktik. Zum Stand einer Didaktik des Mittelalters, Neuried 2002, S. 227–258, hier S. 231–242. 41 Zum Folgenden vgl. auch Matthias Puhle, Die Vermittlung von Mittelalterbildern und -kenntnissen in Historischen Ausstellungen, in  : Ballof (Hg.), Geschichte des Mittelalters (wie Anm. 40), S. 300–307. 42 Wolfgang Braunfels (Hg.), Karl der Große. Werk und Wirkung, Düsseldorf 1965. Vgl. dazu Philippe Cordez, 1965  : Karl der Große in Aachen. Geschichten einer Ausstellung, in  : Peter van den Brink/ Sarvenaz Ayooghi (Hg.), Karls Kunst, Dresden 2014, S. 16–29, sowie Frank Pohle (Hg.), Karl der Große – Charlemagne, 3 Bde., Dresden 2014. 43 Hausherr, Die Zeit der Staufer (wie Anm. 12), und Alfried Wieczorek/Bernd Schneidmüller/ Stefan Weinfurter (Hg.), Die Staufer und Italien. Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa, 2 Bde., Mannheim 2010. 44 Matthias Puhle (Hg.), Otto der Große. Magdeburg und Europa. Eine Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Magdeburg. Katalog der 27. Ausstellung des Europarates und Landesausstellung Sachsen-Anhalt, 2 Bde., Mainz 2001. 45 Jochen Luckhardt/Franz Niehof (Hg.), Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125–1235, 2 Bde., München 1995. 46 Otto IV. Traum vom welfischen Kaisertum, hg. vom Braunschweigischen Landesmuseum, Petersberg 2009. 47 Neben die Person treten freilich in der Regel weitere intentionale Aspekte, für welche die Person in Dienst genommen wird, nicht selten gehört in Bezug auf die mittelalterlichen Ausstellungen Europa dazu. 48 Die Alamannen, hg. vom Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg, Stuttgart 31997. 49 Die Franken. Wegbereiter Europas, 2 Bde., hg. vom Reiss-Museum Mannheim, Mannheim 1996. 50 Die Salier. Macht im Wandel, hg. vom Historischen Museum der Pfalz, 2 Bde., Speyer/München 2011. 51 Vgl. etwa die Einführung von Hans Filbinger, Vom Sinn dieser Ausstellung, in  : Hausherr, Die Zeit der Staufer, Bd. 1 (wie Anm. 12), S. V–X.

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derne blieb dabei selbstverständlich nicht ohne intentionale Rückbindung, die selten explizit als solche ausgewiesen wurde. Vielmehr wurde sie häufig durch die Kombination von Themenfeldern hergestellt. Naheliegend erscheint es, wenn etwa Karl der Große als Pater Europae inszeniert wurde, um den Europagedanken zu befördern. Aber schon bei den Franken ist fraglich, ob sie umstandslos als „Wegbereiter Europas“ thematisiert werden können, wie es das Thema der Ausstellung suggerierte. Immerhin gingen aus den vielfachen Teilungen des Frankenreichs doch auch die Herrschaftsbereiche hervor, aus denen sich viel später die Nationalstaaten entwickelten.52 Auch die zweite Stauferausstellung oder die zu Otto dem Großen (Magdeburg 2001) wurden mit dem Europagedanken verknüpft. Pate stand im zweiten Fall offenkundig die Kaiseridee mit ihren europa-, eigentlich weltumspannenden Ansprüchen. Ist sie tatsächlich ein Modell für das Zusammenwachsen Europas oder für die Globalisierung  ? Können das die mittelalterlichen Stämme oder ein Herrscher wie Karl der Große sein, der und die sich der Herrschaftsmethoden bedienten und einer Herrschaftsideologie und Weltanschauung verpflichtet fühlten, die im Christentum wurzelten  ?53 Das zu erkennen, setzt freilich wiederum den inter-epochalen Vergleich voraus. Neben die didaktische Idee, die potenziellen Besucher auf der Ebene der Identitätsversicherung anzusprechen, tritt die der Identitätsdiffusion,54 das bewusste Befremden und Verunsichern, um Interesse zu gerieren. Glanzvolles Gold schmückt die Kataloge und Plakate, wohl um auch diejenigen in die Ausstellungsräume zu locken, die wenig bis keine Vorstellungen von den dargebotenen Stämmen oder Personen haben, obwohl sie ohne Zweifel prägend auf den geschichtlichen Verlauf eingewirkt haben. So macht zu einem wohl nicht unbeträchtlichen Teil das Unwissen die Faszination aus, die auch bei diesen Ausstellungen zu Publikumserfolgen geführt hat. Das mag auf den ersten Blick bei der Papstausstellung im Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museum anders erscheinen.55 Ausgerechnet 2017, im Jubiläumsjahr der 52 Vgl. dazu etwa auch Raedts, Die Entdeckung des Mittelalters (wie Anm. 2), S. 193 sowie die einzelnen Bände der Reihe Nationes, 9 Bde., hg. von Helmut Beumann/Werner Schröder, Sigmaringen 1978–1991. 53 Damit wird nicht einer monolithisch-christlichen Kultur des Abendlandes das Wort geredet, das Michael Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt 1050–1250, Stuttgart 2002, und Ders., Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr., München 2006, nachdrücklich und überzeugend relativiert hat, sondern dem Umstand Rechnung getragen, dass (ideelle) Bereiche wie die Herrschaftslegitimation durchaus christliches Gepräge trugen. 54 So in Anlehnung an die Begrifflichkeiten bei Erik Erikson, Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, Frankfurt am Main 21973. 55 Stefan Weinfurter/Alfried Wieczorek (Hg.), Die Päpste und die Einheit der lateinischen Welt. Antike – Mittelalter – Renaissance, Regensburg 2017. Vgl. dazu Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter/Michael Matheus/Alfried Wieczorek (Hg.), Die Päpste, 4 Bde. Regensburg 2016.

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Reformation, wurde die imposante Exposition im Land ihrer Urheber durchgeführt, bevor sie im Vatikan gezeigt wurde, von dem sie von Beginn an Unterstützung in mannigfaltiger Weise erfahren hatte. Geworben wurde vor allem mit der zweitausendjährigen und alle Epochen überspannenden Kontinuität der Institution Papsttum, also mit der Wirkungsgeschichte einer Institution, die bis in die Gegenwart Bedeutung besitzt und für die gerade wegen der Ambivalenz, mit der ihr in der Gegenwart begegnet wird, diffuses Interesse erwartet werden durfte. Aufgrund dieses schlaglichtartigen, aber womöglich exemplarischen Einblicks in die gegenwärtige Geschichtskultur zum Mittelalter lassen sich zwei Konzepte ausmachen, die für den Zugriff auf die Epoche von nachhaltiger Bedeutung gewesen und weiterhin sind  : Es ist zum einen der Umstand, dass die Wurzeln der Moderne – nicht nur, aber eben auch – im Erdreich des Mittelalters gründen. Das Papsttum ist nur ein plakatives Beispiel für Entwicklungen, die auf wesentlich unspektakulärere Weise Eingang in die Kultur (des Westens) gefunden und sich dauerhaft darin behauptet haben  ; die arabischen Zahlen mögen als ein vordergründig weniger auffälliges, gleichwohl wirkungsmächtiges Relikt in der Kultur Europas stehen.56 Es sind einerseits die Ursachen gegenwärtiger Verhältnisse und Phänomene, andererseits die gelebten und gedachten Möglichkeiten menschlicher Existenz, wie es Uwe Uffelmann bereits Ende der 1970er Jahre erläuterte, als er das Mittelalter in Abwandlung einer Wendung des Althistorikers Christian Meier als das „nächste Fremde der Neuzeit“ bezeichnete.57 Das Mittelalter, so folgt daraus, ist dem modernen Menschen fremd und vertraut zugleich. Aber, ist es das auch für den postmodernen Zeitgenossen  ? Oder ist ihm das mittlere, wie alle Zeitalter schlichtweg gleichgültig, weil der Vergangenheit in der Postmoderne keine Relevanz mehr zugemessen wird, da sich aus ihr keine Schlüsse

56 Paul Kunitsch, Die Geschichte der ‚arabischen‘ Ziffern (Sitzungsberichte Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse), München 2005. Zum Kontext siehe Arno Borst, Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 28), 3., durchges. Aufl. Berlin 2004. 57 Uwe Uffelmann, Das Mittelalter im historischen Unterricht, Düsseldorf 1978. Zur Einordnung siehe Wolfgang Hasberg/Uwe Uffelmann  (Hg.), Mittelalter und Geschichtsdidaktik. Zum Stand einer Didaktik des Mittelalters, Neuried 2002, sowie Wolfgang Hasberg, Glasperlenspiele um das Mittelalter  ? oder  : Zum Verhältnis von Geschichtsforschung und Geschichtsdidaktik, in  : Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11, 2012, S. 181–207, und Ders., Historisches Lernen am „nächsten Fremden“, in  : Geschichte/Politik und ihre Didaktik 34, 2006, S. 218–231. Ganz ähnlich das Argumentationsschema bei Steffen Patzold, Das eigene Fremde. Ein Versuch über die Aktualität des Mittelalters im 21. Jahrhundert, in  : Dorothea Klein (Hg.), „Überall ist Mittelalter“. Zur Aktualität einer vergangenen Epoche (Würzburger Ringvorlesungen 11), Würzburg 2015, S. 1–18, der den älteren geschichtsdidaktischen Diskurs nicht kennt.

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auf die Gegenwart und für die Zukunft abduzieren lassen  ? Ist mit der Postmoderne die Geschichte und folglich auch das Mittelalter an ihr Ende gelangt  ?58 Der Protagonist im Roman Faserland scheint diese Auffassung (unbewusst) zu vertreten. Zwar gehört offensichtlich auch das Mittelalter zu den Fasern, aus denen sich die Kultur, das „Sinngewebe der Gesellschaft“, zusammensetzt,59 allerdings nicht in wissenschaftlich abgesicherter Gediegenheit, sondern als beliebig beschreibbare Vergangenheit, wie alle Vergangenheit eben, aus der Ableitungen für die Gegenwart am besten zu ziehen sind, wenn man sie in Hinsicht auf die aktuellen Bedürfnisse frei modulieren kann. Gediegene oder gar wissenschaftlich fundierte Kenntnisse wirken sich dabei eher störend aus. Das gilt auch für andere Formen, in denen das Mittelalter in der Gegenwart präsent ist. Die Erfolgsgeschichte der Päpstin Johanna belegt es. Die Serie von Romanen setzt ihren Erfolg fort, indem das Buch von Donna Cross schließlich von Sönke Wortmann verfilmt und gut vermarktet wurde.60 Für weniger Furore hat das gleichnamige Musical gesorgt, das gleichwohl von einer in diesem Feld bestens ausgewiesenen, namhaften Produktionsfirma pompös ausgestattet und mit einer Musik unterlegt wurde, die zwar keine Anleihen an mittelalterliche Gepflogenheiten nimmt, die der anderer, erfolgreicher Musicals allerdings in nichts nachsteht. Das Mittelalter lebt also auch in der Populärkultur – oder besser  : die populäre Kultur erschafft sich immer wieder ein (neues) Mittelalter, wie es ihren Ansprüchen und Bedürfnissen entspricht. Die empirische Evidenz spielt dabei gelegentlich eine untergeordnete Rolle, wie sich etwa an der Abmoderation in einem ZDF-Magazin dokumentiert findet, in der die Moderatorin Petra Gerster das Fazit zog  : Wenn es keine Päpstin Johanna gegeben hätte, so gäbe es doch die Geschichte, die deshalb von Bedeutung sei, weil sie die Unterdrückung der Frauen und die Notwendigkeit der Emanzipation herausstelle.61 58 Damit ist nicht die Posthistoire gemeint, beispielsweise bei Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende  ?, Reinbek bei Hamburg 1989, und Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir  ?, München 1992, also die Zeit nach der Geschichte, sondern die Unmöglichkeit kohärenter Geschichtserzählungen  ; siehe Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 72012, S. 13f. [franz. Orig. La condition postmoderne, Paris 1979]. Zur Einordnung siehe Wolfgang Hasberg, Historische Bildung nach der Postmoderne, in  : Archiv für Kulturgeschichte 97, 2015, S. 177–202. 59 Siehe Klaus-Peter Hansen, Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung, 4., überarb. Aufl., Tübingen 2011. 60 Anstelle von Einzelverweisen sei für das Folgende verwiesen auf Wolfgang Hasberg, Fascination for Dark  : Medieval History between Edutainment and „Vergangenheitsbewirtschaftung“, in  : International Journal of Research on History Didactics. Yearbook of the International Society for History Didactics 37, 2016, S. 169–190, wo die entsprechenden bibliographischen Angaben zu finden sind. 61 Dokumentation „Das Geheimnis der Päpstin“, ZDF 09.04.2012, 19.30 Uhr, Abmoderation  ; verfügbar

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Damit bewegte sie sich nicht nur in den Spuren der US-amerikanischen Erfolgsautorin, sondern deutete implizit und vielleicht unbewusst auf die wachsende Bedeutung der Erinnerungs- und Erfahrungsgeschichte hin, von der auch die Epoche des Mittelalters längst erfasst ist, und zwar auch in wissenschaftlichen Gefilden.62 Das gilt auch für den populären Buchmarkt, auf dem Mittelalter-Romane auch nach dem Namen der Rose, dem Medicus, den Säulen der Erde und der Päpstin Johanna große Umsätze beinahe garantieren und weitere Märkte und ein großes Publikum erreichen, wenn den Buchpublikationen – wie in den aufgelisteten Fällen – erfolgsträchtige Filmproduktionen folgen. Dabei verschwimmen dann gelegentlich die Grenzen zur utopischen Literatur, wenn die Geschichte des Herr(n) der Ringe (J. R. R. Tolkien) oder die Romane von Dan Brown im Bewusstsein ihrer Leser ins Mittelalter verortet werden, und zwar, weil sie den Merkmalen zu genügen scheinen, die mit dem Zeitalter verbunden werden, nämlich irrationalen und folglich vormodernen, archaischen Handlungsmustern zu folgen. Diese Hypothese scheint sich zumindest mit den wenigen Befunden zu decken, die zum Mittelalterbild von Jugendlichen empirisch erhärtet werden konnten, wenngleich auch sie inzwischen über zwanzig Jahre alt sind. Immer wieder hat Bodo von Borries mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung das Geschichtsbewusstsein Jugendlicher untersucht und dabei auch deren Vorstellungen von und Einstellungen zum Mittelalter, besser  : deren Assoziationen zu der Epoche, erhoben. Dabei konnte in verschiedenen Anläufen ans Licht gehoben werden, dass die Mittelaltervorstellungen sich mit zunehmendem Schulalter denen angleichen, die in einer breiteren Öffentlichkeit vertreten werden. Während jüngere Jugendliche das Mittelalter noch als eine abenteuerliche Zeit betrachten, in der prächtige Bauten und große Könige das Leben geprägt hätten, erachten die älteren Jugendlichen das Zeitalter als eine durchweg negativ zu bewertende Zeitspanne, die vornehmlich durch Aberglaube, Ausbeutung und Unterdrückung geprägt worden sei. Das positiv-projektive Mittelalterbild weicht – wie mehrfach repliziert wurde – mit zunehmendem Schulalter dem Bild vom dunklen Mittelalter, das durch irrationale Religiosität seine Legitimation erfahren habe. 63 unter  : (aufgerufen am 06.05.2022). 62 Als ein Beispiel mit zahlreichen Fällen vgl. Johannes Laudage (Hg.), Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, Köln 2003. 63 Summarisch sei verwiesen auf Bodo von Borries, Das Geschichtsbewusstsein Jugendlicher (Jugendforschung), Weinheim/München 1995  ; Magne Angvik/Bodo von Borries (Hg.), Youth and History. A. Comparative European Survey on Historical Consciousness and Political Attitudes among Adolescents, Hamburg 1997, und Bodo von Borries, Jugend und Geschichte. Ein europäischer Kulturvergleich aus deutscher Sicht (Schule und Gesellschaft 21), Opladen 1999. Zusammenfassend Ders., Das

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Da führt es zunächst zu Irritationen, wenn diese Epoche auch im Bereich der Jugendkultur eine gewisse Dominanz zu beanspruchen scheint, wie es nicht nur die traditionell große Zahl historischer Jugendromane widerspiegelt, die sich zu einem erheblichen Teil dem Mittelalter widmen.64 Und – wie bereits angeklungen – hält sich die Epoche auch im Genre des Films65 und behauptet hartnäckig ihren Platz im Bereich der Gesellschafts- und der zunehmend einflussreicher werdenden Computerspiele.66 Eine der erfolgreichsten Spielserien, „Assassin’s Creed“, startete 2007 mit einer Folge zum Dritten Kreuzzug, worauf offensichtlich der Titel zurückgeht. Bekanntlich handelt es sich bei den Assassinen um eine Art schiitische Guerillagruppe, die unter anderem den Kreuzfahrern Widerstand leistete. Doch in chronologischer Folge schritt die Spielserie immer weiter in die Neuzeit fort und hat das Mittelalter längst hinter sich gelassen. Vielleicht ist aber auch dieser Trend ein Ausdruck des Faszinosums, das von einer Epoche ausgeht, über deren „realgeschichtliche“ Entwicklung im Allgemeinen wenig bekannt ist. Wie viel besser lassen sich in ihr Spielszenarien kreieren, die nicht allenthalben in der Gefahr stehen, vom Vetorecht der Quellen (Reinhart Koselleck) eingeholt zu werden.67 Da, wo die Quellen nicht eben sprudeln und es zudem eines gewissen methodischen Geschicks bedarf, damit ihnen tatsächlich Aussagen über die Vergangenheit abgerungen werden können, ist der Spielraum der Phantasie umso größer, zumal wenn er auf Seiten der Rezipienten nicht durch allzu viel Wissen verstellt ist, sodass die wertenden Einstellungen umso größere Wirkmacht entfalten können. Das scheint die Bedingungslage für den Publikumserfolg großer Ausstellungen zu sein, von dem man nicht weiß, welche WissensMittelalter im Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen, in  : Ballof (Hg.), Geschichte des Mittelalters (wie Anm. 40), S. 279–291. Im Einzelnen vgl. oben Anm. 40. 64 Melanie Rossi, Das Mittelalter in Romanen für Jugendliche. Historische Jugendliteratur und Identitätsbildung, Frankfurt am Main 2010. Vgl. auch Felix Hinz, Mythos Kreuzzüge. Selbst- und Fremdbilder in historischen Romanen 1786–2012, Schwalbach/Ts. 2014. 65 Hedwig Röckelein, Das Mittelalter im Film, in  : Ballof  (Hg.), Geschichte des Mittelalters (wie Anm. 40), S. 308–314 und Mischa Meier/Simona Slanička (Hg.), Antike und Mittelalter im Film, Konstruktion – Dokumentation – Projektion, Köln/Weimar/Wien 2007. 66 Immerhin war eines der ersten Computerspiele „Die Stadt im Mittelalter“ (Freies Historiker Büro Bergisch Gladbach/MicroMediaArts GmbH Köln, 1995), das auf einem Bilderbuch von Jörg Müller/ Anita Siegfried/Jürg E. Schneider, Auf der Gasse und hinter dem Ofen. Eine Stadt im Spätmittelalter, Aarau/Frankfurt am Main/Salzburg 21996) basiert. Überlebt hat das Bilderbuch dadurch, dass einzelne Bilder (zum Beispiel die Marktszene) Aufnahme in Schulgeschichtsbücher gefunden haben. Das PC-Spiel ist dagegen der fortwährenden Hard- aber auch Softwareentwicklung zum Opfer gefallen. Es läuft schlicht auf den derzeit gängigen Betriebssystemen nicht mehr. 67 Reinhart Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in  : Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Taschenbuch-Aufl. Frankfurt am Main 1989, S. 176–207, hier S. 206.

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zuwächse und Einstellungsveränderungen er nach sich zieht. In aller Regel lernen vor allem diejenigen in solchen Expositionen, die bereits mit Vorwissen erschienen sind.68 Und die Veränderung in Bezug auf historische Wertungen durch (intentionale) Bildungsangebote fällt – wo sie denn jemals gemessen wurde – nicht allzu üppig aus.69 Eben deshalb wurde an dieser Stelle auch auf die scheinbar trivialen Praktiken und Medien der Geschichtskultur, bei denen letztlich auch das Spielzeug (Stichwort  : Ritterburg) nicht fehlen darf,70 – zumindest en passant – aufmerksam gemacht, die in der Sozialisation eine nicht genau zu ermessene Rolle spielen. Denn auch oder vor allem sie befördern und befestigen die Mittelalterbilder, die in der Gesellschaft grassieren und im Schulunterricht, der dem Mittelalter immer weniger Raum gewährt, womöglich befördert und befestigt werden. So bleibt es fremd und dunkel und will nicht recht hell und vertraut werden, wobei die Fremdheit nicht mit der Finsternis und die Nähe nicht mit der Farbigkeit korrespondieren. Vielmehr ist die Sicht auf das Mittelalter in der Gesellschaft nicht nur entzweit, sondern multipel (zumindest vierfach) ausgeprägt.

Epochale Alterität Soll das Mittelalter weiterhin als geschichtskulturelle Orientierungseinheit oder gar heuristische Kategorie am Leben erhalten werden, erscheint es unverzichtbar, es positiv als Gegenstand zu projektieren. „Ohne den Versuch, zu bestimmen, was typisch ‚mittelalterlich‘ ist, bleibt die Beschäftigung mit dem Mittelalter beliebig und 68 Zu den Wirkungen von Ausstellungen siehe die diversen Untersuchungen von Heiner Treinen, zusammengefasst bei Dems., Besucherforschung und Vermittlungsstrategien in kulturhistorischen Ausstellungen, in  : Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.), Besucherforschung und Vermittlungsstrategien in historischen Ausstellungen. Kolloquiumsbericht zu den Ergebnissen der Ausstellung „Geschichte und Kultur der Juden in Bayern“, München 1991, S. 11–13  ; Ders., Ist Geschichte im Museum lehrbar  ? in  : Aus Politik und Zeitgeschichte B-23/94, S. 31–38 und Ders., Prozesse der Bildwahrnehmung und Bildinterpretation in historischen Ausstellungen, in  : Bernd Mütter/Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann (Hg.), Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik (Schriften zur Geschichtsdidaktik 11), Weinheim 2000, S. 159–174. 69 Vgl. etwa Karl-Ernst Jeismann/Erich Kosthorst/Bernd Schäfer/Bernd Schlöder/Karl Teppe/ Maria Wasna, Die Teilung Deutschlands als Problem des Geschichtsbewusstseins. Eine empirische Untersuchung über Wirkungen von Geschichtsunterricht auf historische Vorstellungen und politische Urteile (Geschichte/Politik, Studien zur Didaktik 4), Paderborn 21988. 70 Vgl. Christoph Kühberger (Hg.), Mit Geschichte spielen. Zur Materiellen Kultur von Spielzeug und Spielen als Darstellung der Vergangenheit, Bielefeld 2021.

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der Beitrag des Mittelalters unbedeutend“, so formuliert eine interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe von Mediävistinnen und Mediävisten wenig präzise,71 weil im Schwange bleibt, wofür die Beschäftigung mit dem Mittelalter einen Beitrag leisten soll oder kann. Richtig aber ist der Hinweis, dass der Gegenstand einer Definition bedarf, soll er als Kategorie zur Welterschließung in Alltag oder Wissenschaft fungieren. Gefragt ist, mit anderen Worten, nach einem Begriff vom Mittelalter. Empirische Begriffe entstehen aus Anschauungen, erklärt etwa Immanuel Kant. Die Vergangenheit aber gehört nicht der sinnlich wahrnehmbaren Phänomenwelt an, sondern der noumenalen Welt.72 Das stellt ein bislang selten erwogenes erkenntnistheoretisches Problem dar. Gleichwohl wird in aller Regel – auch von Kant selbst – so verfahren, als sei Vergangenheit der empirischen Begriffsbildung zugänglich.73 Aus dieser (erkenntnistheoretisch problematischen) Perspektive ist „Mittelalter“ ein induktiv aus den vermeintlich vorgefundenen Tatsachen synthetisierter Begriff, den man eine Illusion (Otto Gerhard Oexle) nennen kann.74 Aus einer solchen Perspektive setzt sich die Definition des Begriffs aus der Beobachtung und Beschreibung der Merkmale der als Ganzes vorgestellten Epoche zusammen. Was also ist eigentlich das Mittelalterliche am Mittelalter,75 das, was die Epoche von anderen unterscheidet  ? Geschichte ist – so erklärt Horst Fuhrmann – vom Menschen gestaltetes Geschehen in Raum und Zeit. Von dieser Definition aus nähert er sich den Spezifika des Mittelalters und stellt fest, dass der Raum nicht von „toten Normen“, sondern stets vom Menschen her bemessen war, wie Maßeinheiten wie Fuß und Elle, Tagwerk oder Morgen indizieren. Für die Zeit ist es die heilsgeschichtliche Dimension, die für Orientierung sorgte, etwa die liturgische Einteilung des Tages oder Jahres, die 71 Dusil/Kogmann-Appel/Mandrella/Müller/Müller, „Typisch Mittelalter“  ? (wie Anm.  36), S. 62. 72 Siehe hierzu Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Wilhelm Weischedel (Werke in sechs Bänden 2), Darmstadt 62005, S. 303f. 73 Vgl. etwa Ders., Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, hg. von Wilhelm Weischedel (Werke in sechs Bänden 6), Darmstadt 62005, S. 33–50, hier S. 33. Zur Begriffsbildung in der Geschichtswissenschaft, auf die hier nur am Rande eingegangen werden kann, siehe Wolfgang Hasberg, Begriffslernen im Geschichtsunterricht oder Dialog konkret, in  : Geschichte – Erziehung – Politik 6, 1995, S. 145–159 und 217–227. 74 Vgl. dazu Wolfgang Hasberg, Von Chiavenna nach Gelnhausen. Zur Fiktionalität der Geschichte, Münster/New York 2020, S. 72–77. 75 Horst Fuhrmann, Über das Mittelalterliche am Mittelalter, in  : Ders., Einladung ins Mittelalter, München 31988, S. 15–38. Nur dem Titel nach ähnlich ist Peter von Moos, Wie mittelalterlich war das Mittelalter. Theoretische Essays zur Mediävistik und Mittelalterrezeption (Geschichte  : Forschung und Wissenschaft 26), Berlin 2013. Den Versuch, das Mittelalterliche am Mittelalter zu ermitteln, unternimmt auch das (zu Recht) wenig beachtete Buch von Norbert Brieskorn, Finsteres Mittelalter  ? Über das Lebensgefühl einer Epoche, Mainz 1991, insbes. S. 43–160.

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dem Menschen als erlösungsbedürftiges Wesen entspricht und ihm diese Heilsbedürftigkeit beim Gewahrwerden der Zeit immer wieder in lebensweltlichen Zusammenhängen vor Augen führte. Der natürliche Raum und die physikalische Zeit wurden wahrgenommen und theologisch gedeutet (beispielsweise in Weltkarten wie der Ebs­ torfer). Die Realität dagegen plagte den Menschen durch Arbeit, Krankheit, Hungersnöte und Mangelernährung. Das Leben war entbehrungsreich und stets bis auf den Tod gefährlich. Das fortwährend bedrohte Schicksal des Menschen bedurfte geradezu der transzendentalen Rückbindung, um der Mühsal Sinn zu geben. So schildert der Mediävist aus einer dezidiert anthropologischen Perspektive – für die Fuhrmann als Monumentist nicht unbedingt steht – die Eigentümlichkeiten des Mittelalters. Andere tun das in ganz anderer Weise, wenn sie von anderen Axiomen her denken und folglich ganz andere Inhaltsfelder ausmachen, die für das Zeitalter typisch gewesen seien. Dabei mag die Provenienz des Denkens eine Rolle spielen, die etwa dann zu spüren ist, wenn man sich dem Mittelalter aus unterschiedlichen Epochenperspektiven nähert. Epochenspezifische Inhaltsfelder76 Th. Nipperdey (1981)

H.-D. Kahl (1989)

T. Struve (1990)

1. Entstehung Europas als Gemeinschaft kulturell u. politisch unabhängiger Völker 2. Christentum als die Kultur entscheidend prägender Faktor 3. Wissenschaft 4. Feudalismus als die Gesellschaft prägendes Ordnungsraster 5. Stadtkultur (als Rechtsform) 6. auf römischem Recht aufbauende Rechtskultur

1. Gesellschaft mit überwiegend agrarischer Struktur 2. Partikularisierung des öffentlichen Lebens 3. Adelsherrschaft als Organisationsform des partikularisierten Lebens 4. Christliches Kirchentum als einende Basis des kulturellen Lebens 5. Lateinische Antike als Traditionsmacht mit prägender Kraft

1. Sesshaftes Bauerntum als Grundlage des wirtschaftlichen und sozialen Lebens 2. Lehnswesen als eine die Gesamtheit staatlicher und sozialer Beziehungen erfassende Institution 3. Rittertum 4. Ständegesellschaft 5. Christentum und Kirche 6. Stadt als Sitz des Bürgertums 7. Bildung und Wissenschaft 8. Römisches Recht

Sind es bei dem Neuzeithistoriker Thomas Nipperdey eher die Kontinuitäten, die hervorgekehrt werden, so scheinen bei den beiden Mediävisten vor allem strukturelle Verhältnisse in der Epoche eine Rolle zu spielen. Aber auch sie setzen auf Kon76 Vgl. neben Nipperdey, Aktualität des Mittelalters (wie Anm.  31), und Struve, Grundlagen (wie Anm. 32)  : Kahl, Was bedeutet „Mittelalter“ (wie Anm. 33).

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tinuitäten, und zwar sowohl zwischen Antike und mittlerer Epoche als auch zwischen Mittelalter und Neuzeit. Keiner der willkürlich ausgewählten Gewährsmänner kommt ohne epochenübergreifende Einordnung aus. Sie unterscheiden sich auch nicht grundsätzlich, sondern eher in der Akzentuierung. Sucht Nipperdey nach Entwicklungen der Neuzeit, die im Mittelalter wurzeln, betont Hans-Dietrich Kahl die gesellschaftliche Partikularität auf der einen und die durch das Christentum geprägte kulturelle Einheit auf der anderen Seite. Dagegen versucht Tilman Struve, gegebene Strukturen zu beschreiben. Sein Ansatz ließe sich mit Michael Mitterauer zu der Frage erweitern  : „Warum Europa  ?“, der aufgrund der naturräumlichen Gegebenheiten die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen erklärt, die das Leben der Menschen im Mittelalter (bis in die Neuzeit hinein) bestimmt haben.77 Auch die anderen Ansätze scheinen von einem Mittelalter-Begriff auszugehen, der sich auf (West-)Europa bezieht. Womöglich fußen sie auch auf zeitlichen Vorstellungen, die den traditionellen Epochengrenzen (500–1500) entsprechen. Darüber hinaus scheinen allerdings keine eingrenzenden Prämissen vorausgesetzt zu werden  ; vor allem geht keiner der Autoren von einer rückständigen oder per se alteritären Epoche aus, wenn sie vom Mittelalter sprechen. Vielmehr stellen sie deutlich heraus, in welchen Bereichen sie Kontinuitäten und Eigenständigkeiten erkennen. Das tun sie mit einer Offenheit, die Voreingenommenheiten aufgrund eines vorgefassten Mittelalter-Begriffs nicht zu erkennen gibt. Folglich bleibt – trotz partieller Übereinstimmungen – letztlich offen, was die epochenspezifischen Strukturen oder Mentalitäten, Geschehnisse oder Ereigniszusammenhänge sind. Zunächst scheinen weniger die Ansichten vom Mittelalter als vielmehr die Einblicke in das Mittelalter (als vergangene Zeit) kontrovers zu sein – nicht so sehr die begriffliche Konzeption eines (europäischen) Mittelalters. Dabei werden zugleich Brüche und Kontinuitäten, mit anderen Worten die Alterität und die Vertrautheit der Epoche, ans Licht gehoben. Das ist auch in einem neueren Versuch von Steffen Patzold der Fall, der deshalb erwähnenswert erscheint, weil er auf die Zeitabhängigkeit nicht nur von solchen Ansichten über das Mittelalter, sondern auch von deren Gebrauch hinweist. Was zunächst als vollkommen andersartig und folglich als kurios erscheint, weil es keine Wirkungen auf die Gegenwart gehabt zu haben scheint, kann aufgrund veränderter Zeitverhältnisse neue Aktualität gewinnen.78 An diese Beobachtung wird anzuknüpfen sein (siehe Abschnitt 5). Zunächst muss sich die Frage anschließen, inwieweit von einer konsensualen Mittelalter-Konzeption überhaupt die Rede sein kann. Tatsächlich wurde eine sol77 Michael Mitterauer, Warum Europa  ? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003. 78 Patzold, Das eigene Fremde (wie Anm. 57).

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che – wie bereits deutlich gemacht wurde – seit jeher in Zweifel gezogen und durch alternative Periodisierungsmodelle ersetzt, von denen sich letztlich keines dauerhaft hat durchsetzen können. Vielleicht wäre es geboten, ganz auf den Epochenbegriff zu verzichten, wie Jacques Le Goff vorgeschlagen hat. Allerdings war auch ihm klar, dass damit nicht die grundständige Problematik umgangen werden kann, die Zeit (der Vergangenheit) zu periodisieren, um sie handhabbar zu machen. Im Ergebnis plädiert er daher ein weiteres Mal für ein langes Mittelalter.79 Auf diese Problematik müsste an dieser Stelle nicht erneut eingegangen werden, wäre angesichts solcher Kontroversen nicht mancher geneigt, das Mittelalter als Epochenbegriff gleich ganz aufzugeben, zumal dieser von Vertretern anderer Kulturen als wenig zweckdienlich eingeschätzt wird.80 Daher sei das Denkmuster Mittelalter eine „intellektuelle Leiche“, die den falschen Rahmen biete, um die historische Zeit angemessen in den Blick zu bekommen. Stattdessen empfiehlt Bernhard Jussen – ethnologisch motiviert –, sich „von der Idee der ‚Alterität‘ der lateineuropäischen Kulturen vor 1500“ zu verabschieden.81 Andererseits zeigt er Sympathien für die Idee eines langen Mittelalters und für die Formulierung von einer „Periode der christlichen Monokratie in Europa“ (Karl Ferdinand Werner). Damit wäre freilich nichts gewonnen, sondern nur ein weiteres Mal die herkömmliche Periodisierung in Zweifel gezogen. Dass ein Denkrahmen wie eine Epochenschablone Einfluss auf das Denken nimmt, sowohl auf die Forschung wie auf den Unterricht,82 steht außer Frage. Wenn der Begriff „Mittelalter“ als falsch erachtet wird, muss er durch einen neuen ersetzt werden, der den vergangenen Sachverhalten, die selbst das Produkt einer Re-Konstruktion sind, angemessener ist. Ob die vom Tübinger Zentrum Vormoderne

79 Le Goff, Geschichte ohne Epochen  ? (wie Anm. 37) und etwa Ders., Auf der Suche nach dem Mittelalter  : ein Gespräch, München 2004 (französische Originalausgabe  : À la recherche du Moyen Âge, Paris 2003), S. 39–66. 80 Bernhard Jussen, Richtig denken im falschen Rahmen  ? Warum das „Mittelalter“ nicht in den Lehrplan gehört, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67, 2016, S. 558–576, der (S. 563f.) unter anderem auf die einschlägigen Studien von Edward Said, Homi Bhabha und Dipesch Chakrabarty verweist. 81 So ebd., S. 565. Vgl. dagegen allerdings schon Hasberg, Glasperlenspiele um das Mittelalter  ? (wie Anm. 57). 82 Warum Jussen, Richtig denken im falschen Rahmen (wie Anm. 80), so explizit Bezug auf den Geschichtsunterricht nimmt, erschließt sich nicht ganz, wenn man die Entwicklung und Aussagen der Curricula zu Rate zieht  ; vgl. Hasberg, Glasperlenspiele (wie Anm. 57). Wenig erhellend ist in diesem Zusammenhang der Beitrag von Meike Hensel-Grobe, Mittelalter und Schule, in  : Das Mittelalter 26, 2021, S. 201–207, wo der Mediävistik unterstellt wird, sie weise ihren Beitrag zur Welterschließung nicht in ausreichendem Maße aus (S. 202). Das zu tun, wäre freilich eine Aufgabe der an die Mittelalterforschung angelehnten Geschichtsdidaktik.

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Europas inaugurierte Trias Vormoderne – Moderne – Postmoderne eine ernsthafte Alternative darstellt, wird sich im zu führenden Diskurs erweisen.83 Zweifel seien allerdings bereits angemeldet, weil der multi-dimensionale Zugriff auf der einen Seite recht ambitioniert erscheint  ; vor allem aber wegen der dezidierten Begrenzung auf den europäischen Raum. Die Multidimensionalität mag wohl noch als eine Bedingung für die Konstruktion von Epochen gelten können, schließlich sind es die eine Epoche konstituierenden Dimensionen oder Merkmale, die in Bezug auf das Mittelalter immer wieder dazu herausgefordert haben, über Epochengrenzen kontrovers zu debattieren.84 Andererseits kann der Vorschlag die Einwände nicht entkräften, die sich aus dem Argument speisen, dass es eines globalen Zugriffs bedürfe, weil Europa im globalen Netz der Geschichtsschreibung längst zur Provinz degradiert worden sei, weshalb der auf (West-)Europa begrenzte Mittelalter-Begriff aufgegeben werden müsse.85 In Bezug auf die konzeptionelle Konturierung sind die Kontroversen mithin enorm und keineswegs dadurch begründet, dass das Mittelalter weiterhin als der Moderne gegenüber grundsätzlich anders oder gar finster betrachtet würde. Eine Rolle spielt dabei der Umstand, dass die als epochenspezifisch ausgemachten Merkmale grundsätzlich nur für einen begrenzten, mithin also definierten Raum, eigentlich  : Kulturraum, gelten können.86 Deshalb wird versucht, einen neuen Mittelalter-Begriff zu gewinnen, um die Begrenzung auf Europa zu überwinden. Da geht die Rede von einem Mittelalter in Afrika oder im Islam. Selbstverständlich kann auch in Räumen außerhalb Europas und in Kulturen abseits der christlich-lateinischen Welt im Rahmen der Periodisierung von mittleren Zeiten gesprochen werden. Doch ob das 83 Klaus Ridder/Steffen Patzold, Einleitung, in  : Dies. (Hg.), Die Aktualität der Vormoderne (Europa im Mittelalter 23), Berlin 2013, S. 7–15, hier S. 8. 84 Vgl. die schon in ihrer Zeit viel benutzte Einführung von Egon Boshof, Mittelalterliche Geschichte, in  : Ders./Kurt Düwell/Hans Kloft, Geschichte. Eine Einführung, 2., überarb. Aufl., Köln/Wien 1979, S. 111–210, hier S. 111–115. 85 So etwa Jussen, Richtig denken im falschen Rahmen (wie Anm. 80), S. 563f. Vgl. dazu allerdings Michael Borgolte, Über europäische und globale Geschichte des Mittelalters. Historiographie im Zeichen kognitiver Eingrenzung, in  : Ridder/Patzold (Hg.), Aktualität der Vormoderne (wie Anm. 83), S. 47–65, der den wichtigen Aspekt der Identität in Bezug auf Epochenkonzepte durch die Geschichtsschreibung anspricht. Siehe auch bereits Ders., Mediävistik als vergleichende Geschichte Europas, in  : Goetz/Jarnut (Hg.), Mediävistik (wie Anm. 39), S. 313–323. 86 Vgl. die zur ihrer Zeit durchaus einflussreiche Epochendefinition von Heinrich Lutz, Reformation und Gegenreformation, 5., durchges. u. erg. Aufl., München 2002, S. 111, der (1) ausreichende Integration, (2) zweckmäßige Größe der Periode, (3) räumliche Relevanz und (4) Vergangenheitsreferenzialität als Bedingungsvariablen von Periodisierungseinheiten ausmacht. Dabei meint Letzteres, dass die Epoche sowohl aus den Gegebenheiten der historischen Zeit als auch aus den Bedürfnissen der Gegenwart heraus begründbar sein muss.

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Konzept vom Mittelalter, so unausgegoren es inzwischen erscheinen mag, auf andere Kulturräume zu übertragen ist, scheint höchst zweifelhaft. Ein Abrücken von der europazentrischen Sichtweise und das Sichtbarmachen der vor-kolonialen Kulturen in unterschiedlichen Teilen der Welt wird allenthalben gefordert, so auch in Bezug auf Afrika, und zwar mit der Absicht, alternative Kulturen zur Zeit des europäischen Mittelalters in Augenschein zu nehmen.87 Dahinter steht das Konzept, das Mittelalter als transkulturelle Europawissenschaft zu projektieren,88 um die nationalgeschichtlichen Schranken zu überwinden, in denen das Mittelalter als Epoche zumindest seit dem 19.  Jahrhundert gefangen ist. Dazu wird auch auf den Kulturaustausch hingewiesen, den es zumindest partiell auch bereits in mittelalterlichen Zeiten gegeben hat. Das Mittelalter als begriffliches Konstrukt wird damit keineswegs auf andere Kulturen übertragen  ; vielmehr wird das traditionelle Mittelalterkonzept als Orientierungskategorie des Westens auf diesem Wege ein weiteres Mal verflüssigt und vor allem in seinen Begrenzungen sichtbar gemacht. Auf diesem Weg wandelt auch Michael Borgolte, wenn er für eine vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter eintritt und zunächst an der Epoche als heuristische Kategorie festzuhalten scheint. Neben dem europäischen Vergleich, den er für geeignet hält, einer europäischen Identität zuzuarbeiten, die Einheit in der Vielfalt sucht,89 plädiert er für einen globalgeschichtlichen Zugriff. Dabei wird erkennbar, dass es zwar nicht vordergründig um eine Neukonzeption des Mittelalter-Begriffs geht, dass aber eine solche zustande kommt, indem aufgrund des globalgeschichtlichen Zugriffs andere Themen in das Blickfeld treten. Denn „globalhistorische Studien im [sic  !] Mittelalter zielen […] auf interkulturelle Kontakte und mehr noch auf transkulturelle Verflechtungen.“90 Deshalb sind es The87 Bea Lundt, Vom europäischen zum globalen Mittelalter. Die Herausforderung des afrikanischen Mittelalters für den Unterricht, in  : Thomas Martin Buck/Nicola Brauch (Hg.), Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme, Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis, Münster 2011, S. 93–110, und Dies., Globales Mittelalter  ? Vom schwierigen Verhältnis zwischen Fachwissenschaft und Geschichtsdidaktik am Beispiel der Mediävistik, in  : Wolfgang Hasberg/Holger Thünemann (Hg.), Geschichtsdidaktik in der Diskussion. Grundlagen und Perspektiven (Geschichtsdidaktik diskursiv 1), Frankfurt am Main 2016, S. 351–379. 88 Michael Borgolte/Bernd Schneidmüller (Hg.), Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft, Berlin 2008. Vgl. auch oben Anm. 85 und 87. 89 Borgolte, Über europäische und globale Geschichte des Mittelalters (wie Anm. 85), S. 58–61, der (S.  59) konstatiert, „Nicht-Identität“ sei „Kennzeichen der Europäer“, daher sei es erhellend, wenn es „künftig viele europäische Geschichten des Mittelalters gäbe“ (S.  60). Einen anderen Weg gehen Étienne François/Thomas Serrier  (Hg.), Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte, 3  Bde., Darmstadt 2019, wenn sie Fermente der europäischen Identität von außen, aus globaler Provenienz zu bestimmen suchen. 90 Borgolte, Über europäische und globale Geschichte des Mittelalters (wie Anm. 85), S. 62 [Klammerergänzung W.H.].

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men wie Handel und Migration oder der Kulturtransfer, die fortan im Vordergrund stehen werden und auf diesem Weg das Mittelalter als heuristische Kategorien von innen heraus modifizieren werden. Auch wenn sich dadurch der zeitliche Zuschnitt dessen, was womöglich weiterhin unter Mittelalter firmieren wird, verändern und vermutlich noch weniger präzise definieren lässt als bislang schon, nehmen solche Kontroversen um das Mittelalter ihren Ausgang beim heuristischen Zugriff, der thematische Veränderungen bewirkt, die nicht ohne Einfluss auf den zeitlichen Zuschnitt der Epoche bleiben können. Viel dramatischer sind die Forderungen von Thomas Bauer, der das Mittelalter als Epochenbezeichnung schlichtweg abschaffen will, weil es nicht mit der islamischen Geschichte in Einklang zu bringen sei.91 Zum Beleg führt er 26 willkürlich ausgewählte „Kontraevidenzen“ auf, an denen deutlich werden soll, dass von einem (kulturellen) Bruch im 6. Jh. in der islamischen Welt schwerlich die Rede sein könne. „Wenn also die Antike dort nie wirklich untergegangen ist, ist es auch nicht sinnvoll, von einem ‚Mittelalter‘ zu sprechen“92, lautet das Resümee, dem man die Zustimmung schwerlich versagen kann, das allerdings nicht unvermittelt auf den Westen zu übertragen ist. Bei dem epochalen Neuzuschnitt wird davon ausgegangen, „dass die Menschen in dem Großraum zwischen Atlantik und Hindukusch in historischer Zeit zwar unterschiedliche Lebensverhältnisse hatten, sich aber nicht in weltgeschichtlich unterschiedlichen Epochen befanden.“93 So nebulös eine solche Aussage bleibt, so führt sie im Ergebnis zu einem neuen triadischen Epochenmodell, das seine wesentlichen Zeitachsen, 1050 und 1750, auf formative Prozesse bezieht, die sowohl zwischen Atlantik und Mittelmeer als auch zwischen Mittelmeer und Hindukusch nachhaltige Veränderungen hervorgebracht hätten. Allerdings ist der verwendete Epochenbegriff denkbar weit gefasst und Transformationsprozesse lassen sich in der Vergangenheit allenthalben ausmachen – ob sie von formativer Nachhaltigkeit waren oder sind, hängt stets davon ab, von welchen „Formen“ man bei der Bedeutungszumessung in der Retrospektiven ausgeht. „Unmittelbar zu Gott“ sind solche Epochen sicher nicht, das wusste bereits Leopold von Ranke, als er darauf hinwies, es bedürfe der Ideen, um Geschichte – auch die von Epochen – zu erzählen.94 Beredter Weise kehrt Bauer zu einem dreigliedrigen Modell zurück, bei dem die mittlere Phase allein aufgrund ihrer Mittelstellung per se Alterität im Vergleich zu den beiden anderen erwarten darf.

91 Thomas Bauer, Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient, München ²2019. 92 Ebd., S. 77. 93 Ebd., S. 105. 94 Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte (wie Anm. 27), S. 63–76.

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Eine neue Idee hat er vorgelegt, die zweifellos bedenkenswert ist, vor allem im Dialog mit den Mediävisten, die schon seit Langem wissen  : Das Mittelalter hat es niemals gegeben, weder ein islamisches noch ein christliches. Das Mittelalter ist – wie alle Periodisierungen – das ideelle Konstrukt einer späteren Zeit. So auch das Epochenmodell des Münsteraner Islamwissenschaftlers, das Transformationsphasen ausfindig zu machen sucht, die für einen größeren Kulturraum (als das westliche Europa) als Zäsuren dienen können. Es ist nicht die Alterität, die dem Mittelalter zugeschrieben wird, die immer neue Kontroversen über die Angemessenheit dieses Epochenbegriffs auslöst. Immer wenn die Andersartigkeit des Mittelalters zur Sprache gebracht wird, kommen auch die Kontinuitäten in das Gespräch – spätestens seitdem die Strukturgeschichte (in Deutschland seit den 1970er Jahren) den Blick für die langfristigen Entwicklungen geschärft hat. Seitdem sind es andere Impulse, die immer wieder neue Kontroversen darüber entfachen, auf welche Weise die Epoche für die Gegenwart Relevanz beanspruchen könne. Lässt man die Diskussion, die hier nur in willkürlich ausgewählten Auszügen bespiegelt werden konnte, Revue passieren, fällt auf, dass die in der Geschichtskultur nach wie vor so häufig beschworene Andersartigkeit kaum noch eine Rolle spielt  ; ebenso wenig die gegenüber der Moderne seit den Humanisten häufig betonte Rückständigkeit. Wo das Mittelalter in geschichtswissenschaftlichen Kreisen als solches in den Blick gerät, da werden neben der Alterität stets auch die Kontinuitäten (bis in die Gegenwart) hervorgehoben. Und indem beide zur Sprache kommen, taugt die Epoche nicht länger als maximale Kontrastfolie der Gegenwart und auch nicht als erstrebenswertes Refugium, um der Moderne zu entfliehen. Da, wo reflektiert mit der Epoche umgegangen oder sie selbst zum Thema wird, ist sie längst ein Mixtum aus Fremd- und Vertrautheit, von Licht und Schatten. Die dennoch seit dem Humanismus unaufhörlich anhaltenden Kontroversen um die angemessene Beschreibung dieses mittleren Zeitalters zwischen Antike und Neuzeit beruhten – wie exemplarisch gezeigt wurde – auf der Funktionalität, die jeweils mit der Epochenbezeichnung verbunden wird. Mittelalter ist ein funktionaler Begriff. Deshalb lässt sich das Mittelalterliche am Mittelalter nicht gültig oder gar endgültig beschreiben, sondern hängt von den Absichten ab, die mit der Verwendung des Begriffs verbunden sind. Folglich ist das, was das Mittelalter ist und ausmacht, Ansichtssache. Und die jeweilige Ansicht auf das Mittelalter bleibt nicht ohne Einfluss auf die Einsicht in das Mittelalter, sondern bildet allererst das heraus, was als das Mittelalterliche am Mittelalter betrachtet wird.

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Zur Andersartigkeit der Mediävistik „Der Neuzeit-Historiker braucht Intelligenz, der Mittelalter-Historiker braucht Methode“, so lautet ein gerne kolportiertes Aperçu.95 Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass die kulturellen Praktiken, die alltäglichen und weniger alltäglichen Geschäfte und die Denkstile in der als Mittelalter bezeichneten Zeit von den modernen Gepflogenheiten und Denkweisen differierende kulturelle Produkte hervorgebracht haben, die als Quellen für die Moderne schwer zu lesen sind, sodass selbst Geschichtsforscher spezieller Verfahrensweisen bedürfen, um sie aus ihrem Kosmos der Modernität heraus zu erfassen und zu verstehen. Chronologie und Genealogie, Paläographie und Diplomatik, Sphragistik und Heraldik, Epigraphik und manche andere werden als Grundwissenschaften der Mittelalterforschung für unverzichtbar erachtet und dementsprechend in allen Einführungen in das Fach behandelt.96 Sie haben sich herausgebildet, um den Ausfluss der Anders­ artigkeit der Epoche, die sich in Relikten aus der Vergangenheit, die als Quellen dienen können, methodisch in den Griff zu bekommen, um ihnen Aussagen über die vergangene Zeit abzugewinnen. Denn für die Moderne sind sie nur mehr schwer zu entziffern, weil sich die medialen Formen und die hinter ihnen aufscheinenden kulturellen Praktiken gewandelt haben. Das gilt grundsätzlich für alle Epochen, für die in den Einführungen jeweils ein durchaus unterschiedliches Repertoire an einschlägigen Hilfswissenschaften dargeboten wird.97 Aber gerade in der Mediävistik – wenn man so den interdisziplinären Verbund bezeichnen will, der sich um die Erforschung der Epoche bemüht – sind zahlreiche der Methoden herausgebildet worden, die zunächst auf das Mittelalter bezogen und dann darüber hinaus erweitert worden sind. Schließlich reichen Genealogie, Heraldik und Sphragistik selbst bis in das Mittelalter zurück  ; und es waren die Mauriner, die zur Erkundung der mittelalterlichen Vergangenheit ihres Ordens Pa95 Fuhrmann, Über das Mittelalterliche am Mittelalter (wie Anm. 75), S. 15. Auch Arnold Esch, Beobachtungen zu Stand und Tendenzen der Mediävistik aus der Perspektive eines Auslandsinstituts, in  : Oexle (Hg.), Stand und Perspektiven (wie Anm. 28), S. 7–44, hier S. 9, betont die starke Methodenorientierung der deutschen Mediävistik. 96 Siehe neben Boshof, Mittelalterliche Geschichte (wie Anm.  84), S.  142–180, etwa Hans-Werner Goetz, Proseminar Geschichte  : Mittelalter, 4., aktual. u. erw. Aufl., Stuttgart 2014, S. 288–315. Siehe aber auch das fortwährende Bemühen um eine Systematisierung der Hilfs- oder Grundwissenschaften bei Ernst Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, 4., neu bearb. Aufl., Leipzig 1903  ; Ahasver von Brandt, Werkzeug des Historikers, 9., erg. Aufl., Stuttgart u. a. 1980, und Toni Diederich/Joachim Oepen (Hg.), Historische Hilfswissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln/Weimar/Wien 2005. 97 Vgl. etwa Boshof/Kloft/Düwell, Geschichte (wie Anm. 84).

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läographie, Chronologie und Diplomatik ausbildeten und verfeinerten.98 Nachdem sich bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein Kanon herausgebildet hatte,99 haben sich die Mediävisten spätestens zu Beginn des 19. Jahrhunderts, nachdem sie ihren politikgeschichtlichen Horizont aufgegeben oder verloren hatten, neuen Quellengruppen und damit verbunden neuen Methoden zugewandt. In mancherlei Hinsicht nahm die Mediävistik kulturwissenschaftliche Züge an, insofern etwa Bilder und Rituale als Quellen entsprechende Vorgehensweisen erforderlich machten.100 Auch in der Folgezeit wurde das Arsenal der methodischen Zugriffe stetig erweitert, so wenn neue Quellenbestände zur Erforschung der mittleren Zeit ausfindig gemacht wurden, die ein neues Instrumentarium zu ihrer Erforschung notwendig machten, wie etwa die Briefliteratur, die in den 1930er Jahren Carl Erdmann für die Erkundung mittelalterlicher Kulturgeschichte fruchtbar machte.101 Aber auch auf epistemologische Herausforderungen wie die Struktur- oder Mentalitätsgeschichte französischer Prägung reagierte die Mediävistik sensibel und aufgeschlossen, nicht zuletzt auch auf die der (neueren) Kulturgeschichte respektive der Kulturwissenschaft(en), die in ihr nicht nur günstige Anknüpfungspunkte fanden, sondern die bereits Arbeitsfelder erschlossen hatten. Denn in diesen fanden sich günstige Anknüpfungspunkte für in der Mediävistik bereits erschlossene Arbeitsfelder (beispielsweise Memorialkultur, Mentalitäten, Symbolische Kommunikation etc.).102 Wäre an dieser Stelle eine eingehende Analyse möglich, würde sie vermutlich zutage fördern, dass die Mediävistik aufgrund ihrer interdisziplinären Verfasstheit solche Impulse gewinnbringend rezipieren und zum Einsatz bringen konnte. Von alledem wird hier nicht berichtet, um einen Lobgesang anzustimmen, zumal manche der skizzierten Forschungsansätze im engen Verbund mit anderen Epochendisziplinen, zumal der Frühen Neuzeit, realisiert wurden. Wenn die methodischen oder epistemologischen Modifikationen zumindest angerissen werden, dann um zu zeigen, dass sie einmal vom Mittelalter, ein andermal von der Gegenwart ausgegangen sind.  98 Von Brandt, Werkzeug (wie Anm. 96), S. 11f. Vgl. Groebner, Das Mittelalter hört nicht auf (wie Anm. 2), S. 45f.  99 Siehe das immer wieder aufgelegte Werk von Benjamin Hederich, Anleitung zu den fürnehmsten Historischen Wissenschaften, Wittenberg 1709. 100 Siehe Wolfgang Hasberg, Mediävistik als Avantgarde. Kulturwissenschaftliche Strömungen in der Geschichtswissenschaft der Weimarer Republik, in  : Archiv für Kulturgeschichte 93, 2011, S. 303–332, insbes. S. 314–330. 101 Carl Erdmann (Hg.), Die Briefe Heinrichs IV., Leipzig 1937, und insbes. Ders., Studien zur Briefliteratur Deutschlands im elften Jahrhundert, Leipzig 1938. Darauf hat neuerlich aufmerksam gemacht Folker Reichert, Fackel in der Finsternis. Der Historiker Carl Erdmann und das „Dritte Reich“, Bd. 1, Darmstadt 2022, S. 295–300. 102 Siehe etwa Goetz, Moderne Mediävistik (wie Anm. 39), insbes. S. 153–370.

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Insofern das Erschließen neuer Quellenbestände methodische Zugriffe erforderlich machte, gingen diese aus der Epoche selbst (aus ihrer Alterität) hervor  ; insofern es neue epistemologische oder thematische Zuschnitte waren, handelte es sich um Anregungen aus der Mitte der gegenwärtigen Gesellschaft, zumindest einer größer zugeschnittenen scientific community, aus der sie übernommen wurden. Es ist mithin nicht allein die Alterität der Epoche, die das Methodenrepertoire bestimmt. Auch in methodologischer Hinsicht – so die Quintessenz – ist Mittelalter ein funktionaler Begriff. Er erfüllt einerseits die Funktion, einen (zeitlichen) Rahmen zu setzen, in dem die (vergangene) Kultur in einem (fest) umgrenzten Raum gleichförmig gewesen ist und sich in ähnlicher Form entwickelt hat. In dieser Form dient Mittelalter als Organisationsrahmen der Forschung. Auf der anderen Seite erfüllt Mittelalter die Funktion einer Orientierungsgröße, indem es – im Rahmen des triadischen Modells – einen mittleren Zeitraum beschreibt, an dem sich die Gesellschaften der Moderne ausrichten können. In dieser Funktion wird Mittelalter zu einer fast metaphysischen, zumindest metaphorischen Größe. Denn empirisch ist nicht einzuholen, was mit ihm suggeriert wird  : dass nämlich ein mittleres Zeitalter existiert habe. Das ist eine metaphorische Zuschreibung, die sich mit den Mitteln historischer Forschung letztlich nicht legitimieren lässt. Es handelt sich um eine sprachliche Übertragung aus dem Bereich der Anthropologie. So ist Mittelalter sowohl ein Begriff als auch eine Metapher. Als Metapher kann es hell oder finster, fremd oder vertraut sein. Will man es begrifflich fassen, entpuppt es sich – folgt man der Farbenlehre Peter Sloterdijks – als grau, als Ge-Gräu von Zwischenfarbtönen, als eine vom Sowohl-als-Auch geprägte Epoche.103

Vom Ge-Gräu des Mittelalters zur immerwährenden Aktualität der Andersartigkeit Wenn die Mediävisten ihr Grau in Grau malen, dann ist die Gestalt des (mittelalterlichen) Lebens längst alt geworden – und damit der wissenschaftlichen Erkundung zugänglich, so ließe sich in Abwandlung einer viel zitierten Sentenz von Georg Wilhelm Friedrich Hegel schließen.104 Denn die Historiker malen kein helles und kein finsteres, kein fremdes und kein vertrautes Mittelalter (mehr)  ; sie unterscheiden und beschreiben die Epoche – angelehnt an den von Sloterdijk adoptierten Duktus

103 Peter Sloterdijk, Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre, Frankfurt am Main 2022. 104 Zit. nach ebd., S. 36.

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Martin Heideggers – als Ge-Gräu.105 In langen Kontroversen haben sie die Gefahren der Metapher als Begriff erwogen und erkannt. Und seit Langem haben sie die Entzweitheit entlarvt, die mit der Metapher einhergeht und einem wissenschaftlichen Begriff nicht angemessen ist. Mittelalter befindet sich „halben Wegs zwischen einer metaphorischen und einer begrifflichen Größe.“106 Das haben die Mediävistinnen und Mediävisten implizit längst erkannt. Der „reflektierte Umgang mit dem Schema“ der dreiteiligen Epochengliederung und der Mittelstellung des Mittelalters ist schon lang keine Ausnahme mehr.107 Selbst die viel beschworene Aktualität des Mittelalters108 wird inzwischen sehr zu Recht als eine Grauzone beschrieben, wie Steffen Patzold an Beispielen aus der Epoche erläutert, die zunächst skurril, allenfalls kurios erscheinen, bei genauerem Hinsehen indes strukturelle Ähnlichkeiten zu Gegenwärtigem aufweisen. Das, was als relevant betrachtet wird, ändert sich mit den Veränderungen der wechselnden Gegenwarten. Einen Staat (im modernen Verständnis) sucht man in der Zeit des Mittelalters in der Tat vergeblich, wohl aber kann man verschiedene Formen von Herrschaft finden, die in einmal ähnlicher, einmal unähnlicher Weise auch in der Moderne eine Rolle spielen. Es hängt nämlich nicht zuletzt von der Abstraktionshöhe ab, auf der Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten formuliert werden. Je höher diese bemessen ist, desto mehr Ähnlichkeiten oder gar Kontinuitäten wird man finden  ; je konkreter der Vergleich ausfällt, desto geringer wird die Zahl festzustellender Übereinstimmungen sein. Auch dieser nicht selten vernachlässigte Aspekt von begrifflichen Vergleichen stellt mithin eine Grauzone dar, die wie die zeitliche Variabilität von Vergangenheiten und Gegenwarten ins Denken über das Mittelalter einzubeziehen sind, weil sie die Rede vom Mittelalter verflüssigen, respektive in ein Grau tauchen, das Nachdenken über seine Alterität immer wieder von Neuem erforderlich macht.

105 Ebd., S. 57. 106 In Anlehnung an ebd., S. 9. 107 So noch Joachim Heinzle, Einleitung  : Modernes Mittelalter, in  : Ders. (Hg.), Modernes Mittelalter (wie Anm.  30), S.  9–29, hier S.  11, in einer Art Zwischenbilanz. Vgl. etwa auch Frank Rexroth, Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen (HZ Beihefte NF 46), München 2007, bei dem die Konsequenzen eines fluiden Mittelalter-Begriffs beleuchtet werden. 108 Vgl. etwa Hans-Werner Goetz  (Hg.), Die Aktualität des Mittelalters, Bochum 2000  ; Fried, Aktualität des Mittelalters (wie Anm. 28)  ; Jacques Le Goff, Auf der Suche nach dem Mittelalter. Ein Gespräch, München 2004  ; Ridder/Patzold, Aktualität der Vormoderne (wie Anm. 83)  ; Manfred Seidenfuß/Thomas Martin Buck/Sven Pflefka/Friederike Stöckle, Die Aktualität des Mittelalters, in  : Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 7, 2008, S. 35–77  ; Oexle, Gegenwart des Mittelalters (wie Anm. 3), und Klein (Hg.), „Überall ist Mittelalter“ (wie Anm. 57).

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Innerhalb, aber vor allem außerhalb der Wissenschaft – auch dieses Verhältnis ist eine Grauzone – wurde das Mittelalter seit seiner Erfindung als Metapher genutzt, um die eigene Gegenwart im Erdreich der Vergangenheit zu verwurzeln und so Identität109 zu erlangen – durch Abgrenzung oder Identifikation. Rekurriert wurde auf das Mittelalter einmal als Kontrastfolie, auf der die gegenwärtige Fortschrittlichkeit zu erkennen ist, ein andermal als Wurzelwerk, aus dem sich das Herkommen erklären ließ – aktuell werden konnte es in beiderlei Ansichten. Während sich die Mediävistik seit geraumer Zeit darum bemüht zeigt, die Kontraste in reflektiertes Grau zu hüllen, dominiert in der Geschichtskultur, wo sie nicht wissenschaftlich gebändigt ist, weiterhin der Maximalkontrast von Schwarz und Weiß – oder Gold, das die Cover zahlreicher Kataloge zu den großen Mittelalter-Ausstellungen oder der Hochglanz-Illustrierten, die sich der Geschichte widmen, dominiert. In der Geschichtskultur sind die begrifflichen Bemühungen der Experten, die eine weitgehende Flexibilität des Begriffs hervorgebracht haben, noch längst nicht heimisch geworden. Hier feiert die ursprüngliche Dichotomie fröhliche Urständ, die in der metaphorischen Ansicht auf das Mittelalter begründet liegt. Zwar will auch hier das Grau bedacht sein  : Auch Romanautoren und Kuratoren haben längst Zweifel an der Metapher vom Mittelalter aufgenommen und konterkarieren sie gelegentlich selbst, auch Sachbuchautoren haben den Anreiz entdeckt, das Mittelalter als Konstruktion zu entlarven. Und die Grautöne des Mittelalters in Podcasts, Rundfunkbeiträgen oder TV-Magazinen hervorzuheben, gehört inzwischen zu gutem Ton und Bild. Aber die Versuchung der Alterität ist weiterhin mindestens ebenso groß wie die, im fernen Spiegel die Identität seiner Selbst zu betrachten. Die mit öffentlichen Mitteln großzügig unterstützten und aufwendig produzierten Fernsehserien „Wir Deutschen“ und „Die Deutschen“ in den öffentlichen Fernsehprogrammen von ARD und ZDF machen es vor  : Personengeschichte und Schauplätze bilden die Folie, auf der vor allem ereignisgeschichtliche Themen abgehandelt werden, und zwar in Form des Dokutainments, das in postmodernistischer Manier Information und Unterhaltung verbindet. Die Grundlage der Deutschen, so ist beiden Reihen zu entnehmen, bildet das Mittelalter.110 Aufgezeigt werden die Wege, die sie aus 109 Seit Hans Robert Jauß, Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur, in  : Ders., Alterität und Modernität. Gesammelte Aufsätze 1956–1976, München 1977, S. 9–49, wird als Kontrastbegriff zur Alterität häufig die Modernität genannt, was freilich einem dezidiert modernen Standpunkt entspricht. Wenn Alterität das Andere bezeichnet, wäre der angemessene Gegenbegriff Identität. 110 Guido Knopp/Peter Arens, Die Deutschen, 20 Teile, ZDF 2008–2010, davon sieben mittelalterliche Episoden. Vgl. dazu Guido Knopp/ Stefan Brauburger/Peter Arens  : Die Deutschen  : Vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, München 2009. Kaum Kontrast dazu bietet die Serie Wir Deutschen.  Eine Reise zu den Schauplätzen der Vergangenheit, 13 Teile, ARD 1991–1992, bei der 5–6 Episoden die Zeit des Mittelalters behandeln.

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der Finsternis genommen haben.111 Andere zeigen auf dem Markt der Populärkultur gerne die Finsternis des Mittelalters auf, weil sie die Epoche auf größtmögliche Weise von der aufgeklärten Neuzeit abzugrenzen scheint und das Zeitalter exotisch erscheinen lässt. Die Zahl entsprechender Romane, aber auch die von Sachbüchern oder geschichtskulturellen Angeboten aller Art dazu ist unübersehbar.112 Beide Beobachtungen erwecken den Anschein, als habe sich in der populären Geschichtskultur – trotz aller Grautöne – das entzweite Mittelalterbild erhalten, von dem Otto Gerhard Oexle und in seinem Gefolge viele andere gesprochen haben. Von diesem Anschein wird allerdings die Vermutung genährt, dass sich die Entzweiung nicht in einer illusionären Vorstellung vom Mittelalter begründet, sondern in der Trennung eines (wissenschaftsförmigen) Begriffs und einer Metapher vom Mittelalter realisiert, die sich entlang der – freilich graufarbigen – Trennlinie zwischen Mediävistik und (populärer) Geschichtskultur bewegt. Auch wenn sich beides, die These von der metaphorischen und begrifflichen Fassung des Noumenons Mittelalter sowie die daraus resultierende funktionale Entzweiung, nur hypothetisch formulieren lassen, scheinen sie doch geeignet, die Kontroversen um das Mittelalter neuerlich zu beflügeln, selbst wenn sie nur das Ge-Gräu vermehrten, aber dadurch – ohne Indifferenz zuzulassen – die (funktionale) Ambiguität des Mittelalters zum Thema machten.113 Der Diskurs um das Mittelalter als Epoche wird also weiter gehen und immer neue Kontroversen heraufbeschwören, wie das in der Mediävistik seit jeher der Fall gewesen ist. Der Überblick hat deutlich werden lassen, wie der Begriff „Mittelalter“ im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung immer wieder neu gefasst wurde, bis in die aktuelle Diskussion hinein, wo die Epoche für europäische Vergleiche oder in globaler Perspektive für die Forschung aufbereitet wird. Dabei hat sich längst ein ambivalenter Mittelalter-Begriff herausgebildet, der zunehmend diffusere Züge annimmt. Um zu vermeiden, dass er darüber seine heuristische Funktion einbüßt, scheint es hohe Zeit, den Diskurs um das Mittelalter als Epoche stärker kategorial zu führen, an-

111 So der Titel einer weiteren Fernsehserie, die dem Buch von Peter Arens, Wege aus der Finsternis. Europa im Mittelalter, München 2002, zugrunde liegt. 112 Oft findet sich dabei das finstere Mittelalter mit einer impliziten oder expliziten Kritik an seiner Religiosität resp. Kirchlichkeit verbunden, siehe etwa Horst Herrmann, Sex und Folter in der Kirche. 2000 Jahre Folter im Namen Gottes, München 1994. Hinzuweisen ist auch auf mittelalterliche Foltermuseen in Freiburg im Breisgau und Rüdesheim sowie das Mittelalterliche Kriminalmuseum in Rothenburg ob der Tauber. In der Belletristik werden die finsteren Seiten des Mittelalters gerne und häufig beleuchtet, vermutlich weil sie damit auf ein archaisches Interesse ihrer Leser stoßen. 113 So umreißt Sloterdijk, Wer noch kein Grau gedacht (wie Anm. 103), die Funktion des dem Sprachgebrauch Heideggers nachempfundenen „Halbbegriffs“ Ge-Gräu.

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statt – wie bisher – immer wieder Versuche zu unternehmen, in der historischen Zeit nach Merkmalen zu suchen, die es berechtigt erscheinen lassen, die Periode als eine in sich gleichförmige und von anderen Epochen zu separierende darzustellen. Kategorial meint dabei nicht nur die Dimensionen historischer Wahrnehmung (Gesellschaft, Arbeit, Politik, Kultur etc.), die als Inhaltskategorien bei der Beschreibung der Epoche zwar immer wieder Berücksichtigung gefunden haben, allerdings keineswegs in ausreichender Trennschärfe in den Kontroversen um die Epochendefinition mitund gegeneinander abgewogen wurden. Gemeint sind vor allem formale Kategorien wie Dauer und Wandel, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und insbesondere die Bewegungsbegriffe (wie Krise, Fortschritt, Revolution, Entwicklung, Zeitgeist), von denen schon Koselleck gesprochen hatte.114 Eine solche Konzentration vermöchte womöglich die mediävistischen Kontroversen um die epochale Alterität des Mittelalters aus ihren nicht selten metaphorischen und mitunter zufälligen Bahnen zu befreien und einer begrifflichen Schärfung zuzuführen, die heuristisch befruchtend wirken könnte.

114 Vgl. Anm. 25.

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Frühmittelalterliche Migrationen und Identitäten im Spiegel naturwissenschaftlicher DNA-Analysen1 Die Kontroverse um die Bedeutung der Genetik für die Geschichtswissenschaften und um die historische Deutung ihrer Ergebnisse hat erst 2021 in der deutschsprachigen Mediävistik weitere Kreise gezogen, nicht zuletzt angeregt durch das Buch über ‚Gene und Geschichte‘ von Mischa Meier und Steffen Patzold2 und durch einen als Einzelpublikation veröffentlichten Vortrag von Patrick J. Geary.3 Zuvor gab es nur einzelne Stimmen aus der Mediävistik oder ihrem Umfeld, etwa Jörg Feuchter,4 Elsbeth Bösl5 und Stefanie Samida.6 Man kann durchaus der Meinung sein, dass die Ergebnisse der Archäogenetik ein eher peripheres Thema für die Mittelalterforschung sind. Tatsächlich können Genanalysen zu vielen Forschungsfragen der Mediävistik wenig oder gar nichts beitragen. Dennoch ist der kürzlich aufgeflammte Deutungsstreit aus mehreren Gründen höchst relevant für die Fragestellungen dieses Bandes, und, so möchte ich behaupten, für die Verortung der Mittelalterforschung im Spektrum der Wissenschaften überhaupt. Mehr als bei vielen anderen hier behandelten 1 Dieser Artikel enthält unter anderem Ergebnisse eines Projekts, das vom European Research Council (ERC) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizont 2020 der Europäischen Union gefördert wurde (grant agreement n° 856453 ERC-2019-SyG). Ich danke Patrick Geary und Johannes Krause für ihre Anregungen und Korrekturen zu diesem Aufsatz und Nicola Edelmann für die Redaktion. 2 Mischa Meier/Steffen Patzold, Gene und Geschichte. Was die Archäogenetik zur Geschichtsforschung beitragen kann (Zeitenspiegel Essay), Stuttgart 2021. 3 Patrick J. Geary, Herausforderungen und Gefahren der Integration von Genomdaten in die Erforschung der frühmittelalterlichen Geschichte (Das mittelalterliche Jahrtausend 7), Göttingen 2020. Siehe auch Patrick J. Geary/Krishna Veeramah, Mapping European Population Movement through Genomic Research, in  : The Genetic Challenge to Medieval History and Archaeology (= Medieval ­Worlds 4), 2016, S. 65–78  ; doi  : 10.1553/medievalworlds_no4_2016s65. 4 Jörg Feuchter, Mittelalterliche Migrationen als Gegenstand der ‚Genetic History‘, in  : Felix Wiedemann/Kerstin Hofmann/Hans-Joachim Gehrke (Hg.), Vom Wandern der Völker  : Migrationserzählungen in den Altertumswissenschaften, Berlin 2017, S. 347–370  ; Ders., Für einen kritischen Dialog zwischen Geschichtswissenschaft und genetic history, in  : NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 26, 2018, S. 339–344  ; doi  : 10.1007/s00048–018–0196–9. 5 Elsbeth Bösl, Doing Ancient DNA. Zur Wissenschaftsgeschichte der aDNA-Forschung, Bielefeld 2017. 6 Stefanie Samida, Molekularbiologie und Archäologie  : Eine ungewöhnliche Beziehung, Wien 2021.

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Kontroversen geht es dabei tatsächlich um fundamentale Fragen der wissenschaftlichen Deutungshoheit.

Relevanz des Deutungskonflikts Erstens wird ungefähr seit den 1990er Jahren der Genetik in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend eine Schlüsselrolle bei der Suche nach Identitäten zugeschrieben, beflügelt durch das ‚Human Genome Project‘ (1990–2003) und seine Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Genetik kann uns sagen, wer wir wirklich sind, das ist eine verbreitete Annahme geworden.7 In der Literatur finden sich Zahlen von 30 Millionen Menschen und mehr, die bereits bei kommerziellen ‚direct-to-consumer‘ Firmen ihre genetische Herkunft (‚ancestry‘) haben analysieren lassen – ein Datenschatz, der für die Firmen vielfach verwertbar ist.8 Hinter diesem Interesse am eigenen Genom stehen hohe Erwartungen, dass die Genetik die besten Antworten auf die alte Frage bieten kann, woher wir kommen und wer wir sind. In dieser Rolle als ‚Identitätswissenschaft‘ haben einander im Lauf der Jahrhunderte Theologie, Philosophie, Geschichte, Rassenkunde, Psychologie und nun eben Genetik abgelöst. Diesen Anspruch vertreten viele Genetiker mehr oder weniger offensiv, ermutigt durch den raschen Fortschritt der Methoden der Genomentschlüsselung und ihrer bioinformatischen Deutung. Dabei wird Deutungshoheit auch über viele Zentralthemen der Geistes- und Sozialwissenschaften beansprucht  : Migration, Identität, Bevölkerungsentwicklung, Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse, Pandemien und andere Krankheiten, Lebensumstände und soziale Veränderungen. Wie noch zu zeigen ist, geschieht das oft mit wenig Verständnis für den Forschungsstand in den Geschichtswissenschaften und für eine interdisziplinäre Methodik.

7 Zahlreiche meist populärwissenschaftliche Bücher versprachen schon im Titel eine Antwort auf die Frage, ‚wer wir sind‘  : Luca und Franscesco Cavalli-Sforza, Chi siamo. La storia della diversità umana, Mailand 1993  ; David Miles, The Tribes of Britain. Who Are We  ? And Where Do We Come From  ?, London 2005  ; Adam Rutherford, A Brief History of Everyone Who Ever Lived. The Human Story Retold Through Our Genes, London 2016  ; David Reich, Who We Are and How We Got Here. Ancient DNA and the Science of the Past, New York 2018. 8 Marc Scully/Steven D. Brown/Turi E. King, Becoming a Viking. DNA Testing, Genetic Ances­try and Placeholder Identity, in  : Ethnic and Racial Studies 39, 2016, S. 162–180, doi  : 10.1080/01419870.2016.1 105991  ; Alexander Lang/Florian Winkler, Co-constructing Ancestry Through Direct-to-consumer Genetic Testing, in  : Elsbeth Bösl/Stefanie Samida (Hg.), Next Generation Sequenc­ing. Challenges for Science and Society (= Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis [TATuP] 30), 2021, S. 30–35.

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Dieser Deutungsstreit betrifft daher zweitens die Rolle der Geistes- und Sozialwissenschaften in einer zunehmend von den Naturwissenschaften und ihren Fächerkulturen geprägten Wissenschaftslandschaft.9 In diesem Sinn ist das Verhältnis von Geschichte und Genetik emblematisch für eine Reihe von Schnittstellen zwischen den Geisteswissenschaften und den ‚hard sciences‘, von der Umweltgeschichte bis zu den Digital Humanities. Historikerinnen und Historiker bestehen zwar oft auf dem instrumentellen Charakter der durch naturwissenschaftliche und digitale Verfahren gelieferten Daten, werden aber leicht selbst von der stärkeren Innovationsdynamik der zeitgemäßen ‚Tools‘ in die Defensive gedrängt. Wie die Erfahrung in diversen Panels großer Förderorganisationen zeigt, lassen sich selbst Vertreterinnen und Vertreter der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften (GSK) vom unleugbaren technischen Fortschritt naturwissenschaftlicher und digitaler Verfahren oft leichter überzeugen als von innovativen Fragestellungen und Ansätzen in ihrem eigenen Kompetenzbereich. Hier fehlt es öfters sowohl an der Urteilskraft, wie innovativ und wie adäquat (zum Beispiel) projektierte Genomanalysen oder KI-Anwendungen für eine historische Forschungsfrage sind, als auch an einem methodisch abgesicherten Innovationsbegriff innerhalb des geistes- und kulturwissenschaftlichen Methoden­ spektrums. Alle diese Probleme begegnen uns in zugespitzter Form im Verhältnis von Geschichte und Genetik. Im Fall der Archäogenetik kommt drittens dazu, dass hier der Bezug zur Geschichte fast notwendigerweise über die Archäologie vermittelt ist, da ja Proben nur von ausgegrabenen Skeletten entnommen werden können und umso aussagekräftiger sind, je mehr archäologische Befunde in die Interpretation einbezogen werden können. Das gilt ebenso bei anderen Methoden der ‚scientific archaeology‘, etwa der 14 C- oder der Isotopenanalyse.10 In vielen Fällen kommen Schriftquellen bei der Interpretation der Befunde gar nicht in Betracht, oder erst in höher aggregierten Deutungsebenen. Demgemäß wird in der Archäologie schon länger über Möglichkeiten und Grenzen von Genomuntersuchungen debattiert.11 Problematisch ist aber auch   9 Siehe dazu etwa John Haldon/Lee Mordechai/Timothy P. Newfield/Arlen F. Chase/Adam Izdebski/Piotr Guzowski/Inga Labuhn/Neil Roberts, History Meets Palaeoscience. Consilience and Collaboration in Studying Past Societal Responses to Environmental Change, in  : Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS), February 2018, (aufgerufen am 15.02.2023). 10 Susanne Hakenbeck, Potentials and Limitations of Isotope Analysis in Early Medieval Archaeology, in  : Post-Classical Archaeologies 3, 2013, S. 109–125. 11 Siehe The Genetic Challenge to Medieval History and Archaeology = Medieval Worlds 4, 2016, u. a. den Beitrag von Sebastian Brather, New Questions Instead of Old Answers. Archaeological Expectations of aDNA Analysis, S. 22–41, doi  : 10.1553/medievalworlds_no4_2016s22  ; Philipp von Rummel, Gene, Populationen und Identitäten. Genetic History aus archäologischer Sicht, in  : Forum Genetic

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das Verhältnis zwischen Geschichte und Archäologie. Archäologinnen und Archäologen wissen meist mehr über historische Zusammenhänge als Historikerinnen und Historiker über die archäologische Befundlage und nehmen daher gerne die historische Deutungshoheit über ihr Material in Anspruch. Das kann wiederum auf der historischen Seite auf Kritik stoßen. Hier gibt es im Grunde dasselbe Spannungsverhältnis, das in verschärfter Form zwischen Genetik und Geschichte auftreten kann. Historikerinnen und Historiker riskieren dabei, als Besserwisser ohne fundierte Materialkenntnis zu erscheinen. Viertens ist etwa seit der Jahrtausendwende ein alter Deutungskonflikt wieder aktuell geworden, der im Spannungsverhältnis von Natur- und Geistes-/Kulturwissenschaften schon lange angelegt ist. Wie weit sind menschliches Handeln und gesellschaftliche Entwicklung von Umweltbedingungen determiniert oder von den Akteuren nach kulturellen Mustern steuerbar  ? Durch Umweltkatastrophen, Klimawandel, Pandemien, aber eben auch durch die Fortschritte der Gentechnik wird diese Frage nahegelegt. Es ist kein Zufall, dass in der uralten Debatte über die Ursache für den ‚Fall Roms‘ in letzter Zeit Erklärungsmodelle an Einfluss gewonnen haben, die Klimawandel, Vulkanausbrüche und die Justinianische Pest als entscheidende Faktoren betrachten. Man wird Kyle Harpers geistreicher Formulierung „germs are deadlier than Germans“ zustimmen können. Waren sie deshalb aber für den Untergang des Römischen Imperiums ausschlaggebend  ?12 Die Justinianische Pest der 540er Jahre kommt nicht als Erklärung für den Zerfall Westroms im Jahrhundert davor in Frage, und trotz ihres wiederholten Aufflackerns nur als indirekter Grund für die islamischen Eroberungen ein Jahrhundert danach. Die Diskussion über naturwissenschaftlich ergründbare Determinanten gesellschaftlicher Entwicklungen ist längst ins Herz der Mediävistik vorgedrungen  ; der Harvard-Mediävist Michael McCormick ist ein Pionier in der Erforschung mikrobieller und klimatischer Gründe für historische Brüche und gesellschaftliche Umwälzungen.13 Die Fortschritte der Genetik bieten History. NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 26, 2018, S. 345– 350. 12 Kyle Harper, The Fates of Rome. Climate, Disease, and the End of an Empire, Princeton, 2017, S. 18. Zur Kritik siehe John Haldon/Hugh Elton/Sabine R. Huebner/Adam Izdebski/Lee Mordechai/ Timothy P. Newfield, Plagues, Climate Change, and the End of an Empire. A Response to Kyle Harper’s The Fate of Rome (1). Climate, in  : History Compass 16, 2018, e12508, doi  : 10.1111/hic3.12508  ; und die Entgegnung von Kyle Harper, Integrating the Natural Sciences and Roman History. Challenges and Prospects, ebd., e12520, doi  : 10.1111/hic3.12520. 13 Siehe u. a. Michael McCormick, History’s Changing Climate. Climate Science, Genomics and the Emerging Consilient Approach to Interdisciplinary History, in  : Journal of Interdisciplinary History 42, 2011, S. 252–273  ; Ders., Molecular Middle Ages. Early Medieval Economic History in the Twenty First Century, in  : Jennifer R. Davis/Michael McCormick (Hg.), The Long Morning of Medieval Eu-

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die Möglichkeit, diesen Ansatz von äußeren auf innere Bedingtheiten menschlicher Schicksale zu erweitern. Sind es die Gene, die letztlich unsere Entscheidungen, Überlebenschancen und Zugehörigkeiten festlegen  ?14 Das würde vielen Grundannahmen einer kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft widersprechen und eine ganz andere philosophische und historische Anthropologie erfordern. Es ist festzuhalten, dass die meisten Genetikerinnen und Genetiker nicht explizit derartige Positionen vertreten. Doch wie noch zu erörtern ist, können sie sich implizit durchaus auf die historischen Schlussfolgerungen genetischer Untersuchungen auswirken. Fünftens trifft diese Deutungsfrage gerade in der deutschsprachigen Geschichtsforschung auf besondere Sensibilitäten, die durch die düstere Geschichte der deutschen Rassenlehre und ihre verheerenden Folgen entstanden sind. Es hat nach 1945 Jahrzehnte gedauert, um den biologischen Determinismus und seine Verästelungen in den Geschichtswissenschaften zu überwinden.15 Gerade in der Forschungsrichtung, die sich bemühte, durch die Untersuchung von ethnischen Prozessen und Identitätskonstruktionen des Frühmittelalters den biologischen Determinismus zu überwinden, war die Befürchtung naheliegend, dass die Genetik die alten Vorstellungen in neuer Form wiederaufleben lassen könnte.16 Allerdings haben sich die Pioniere der Archäogenetik meist sehr deutlich von jedem Rassismus distanziert, von Cavalli-Sforza bis zur Jenaer Erklärung.17 Das Interesse richtete sich auf die genetische rope. New Directions in Early Medieval Studies, Aldershot 2008, S.  83–98  ; Ders., Climates of History, Histories of Climate. From History to Archaeoscience, in  : Journal of Interdisciplinary History, 50, Summer 2019, S. 3–30  ; Ders./Kyle Harper, Reconstructing the Roman Climate, in  : Walter Scheidel (Hg.), The Science of Roman History. Biology, Climate, and the Future of the Past, Princeton 2018, S. 11–52. 14 Siehe u. a. Ludger Honnefelder/Dietmar Mieth/Peter Propping/Ludwig Siep/Claudia Wiesemann (Hg.), Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, Berlin/New York 2003. 15 Grundlegend Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen ‚gentes‘, Köln/Graz 1961  ; Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts, München 52009  ; Patrick J. Geary, The Myth of Nations. The Medieval Origins of Europe, Princeton 2002. Forschungsüberblick  : Walter Pohl, Von der Ethnogenese zur Identitätsforschung, in  : Ders./Max Diesenberger/Bernhard Zeller  (Hg.), Neue Wege der Frühmittelalterforschung. Bilanz und Perspektiven (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 22), Wien 2018, S. 9–34. 16 Siehe z. B. Walter Pohl, Identität und Widerspruch. Gedanken zu einer Sinngeschichte des Frühmittelalters, in  : Ders. (Hg.), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8), Wien 2004, S. 23–36, hier S. 25–27. 17 Cavalli-Sforza, Chi siamo (wie Anm. 7), S. 331–364. Der Titel der deutschen Fassung des Buches lautete  : Verschieden und doch gleich. Ein Genetiker entzieht dem Rassismus die Grundlage, München 1996. Jenaer Erklärung  : Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung, 2019, (aufgerufen am 15.02.2023).

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Diversität der Menschheit und deren dynamische Entwicklung. Dabei stellte man sich eine Aufteilung in Populationen vor, ein Begriff, der wohl bewusst schwammig gedacht war. Er erlaubte aber, implizit Völker, Sprachgruppen und genetische Cluster zusammenzudenken und damit eine biologische Basis ethnischer oder nationaler Einheiten nahezulegen, auch wenn das selten explizit behauptet wurde.

Die Entwicklung der Archäogenetik18 Ein Pionier der historischen Genetik war seit den 1970er Jahren Luigi Luca Cavalli-Sforza.19 Die Entschlüsselung des Genoms und das ‚Human Genome Diversity Project‘ führten rasch zur Frage nach der Ausbreitung des Menschen und der Ausbildung seiner genetischen Vielfalt.20 Dabei wurde aus heutiger DNA mit mathematischen Methoden auf die Vergangenheit rückgeschlossen. Cavalli-Sforza und viele, die ihm folgten, nahmen dabei die Einteilung in Völker als gegeben an. Er arbeitete mit statistischen Mittelwerten von vorab festgelegten ethnischen oder nationalen Gruppen, die er verglich und daraus Baumdiagramme ableitete. Diese versuchte er wie­ derum mit den (in der Linguistik eigentlich bereits überholten) Baumdiagrammen der Sprachentwicklung zu harmonisieren.21 Die genetische Forschung der frühen 2000er Jahre hatte nur eingeschränktes Material zur Verfügung. Sie stützte sich vorwiegend auf diejenigen Abschnitte des Genoms, die von Generation zu Generation unverändert von der Mutter (mitochon­ driale DNA, mtDNA) oder vom Vater (Y-Chromosomen) an die Nachkommen wei-

18 Einen Überblick zum Folgenden bietet etwa Bösl, Doing Ancient DNA (wie Anm. 5). 19 Luigi L. Cavalli-Sforza/Walter F. Bodman, The Genetics of Human Populations, San Francisco 1971  ; Ders./Paolo Menozzi/Alberto Piazza, The History and Geography of Human Genes, Princeton 1996  ; Luigi L. Cavalli-Sforza, Gene, Völker und Sprachen. Die biologischen Grundlagen unserer Zivilisation, München 1999. 20 Nicht zu verwechseln mit dem ‚Human Genome Project‘  : Luigi L. Cavalli-Sforza, The Human Genome Diversity Project. Past, Present and Future, in  : Nature Reviews Genetics 6, 2005, S. 333–340. 21 Beruhend auf dem revisionistischen Ansatz von Joseph Greenberg  ; siehe u. a. Joseph Greenberg, Indo-European and its Closest Relatives. The Eurasiatic Language Family, Stanford 2000  ; Colin Renfrew, Archaeology and Language. The Puzzle of Indo-European Origins, London 1987. Zur Kritik an diesem Ansatz u. a. Richard Bateman/Ives Goddard/Richard O’Grady/Vicki A. Funk/Rich Mooi/W. John Kress/Peter Cannell/David F. Armstrong/Donn Bayard/Ben G. Blount/Catherine A. Callaghan/Luigi L. Cavalli-Sforza/Alberto Piazza/Paolo Menozzi/Joanna Mountain/Joseph H. Greenberg/Kenneth Jacobs/Yuji Mizoguchi/Milton Nunez/Robert L. Oswalt, Speaking of Forked Tongues. The Feasibility of Reconciling Human Phylogeny and the History of Language, in  : Current Anthropology 31, 1990, S. 1–24.

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tergegeben werden, ohne die Möglichkeit der Rekombination, die im größten Teil des Genoms zur Vermischung des mütterlichen und des väterlichen Erbguts führt. Nur selten kommen in mt-DNA und Y-Chromosomen Mutationen vor, die dann ebenso unverändert weitervererbt werden. Aus derartigen Unterschieden wurden sogenannte Haplogruppen abgeleitet, deren Verbreitung in verschiedenen Bevölkerungen voneinander abwich.22 Auch wenn das nur auf statistischen Häufigkeiten beruhte, ließen sich diese Abweichungen in eindrucksvollen Farben kartieren, was leicht zum Missverständnis führen konnte, man hätte nun ein Alemannen- oder Slawen-Gen gefunden. Die ausschließliche Verwendung von nicht-rekombinierender DNA hatte praktische Gründe, weil sie leichter zu sequenzieren ist  ; sie führte aber zu Verzerrungen, weil sie den ständigen Wandel der DNA durch Vermischung ausblendete und dadurch leicht die Illusion linearer Vererbung und Verzweigung herstellte. Es galt als großer Erfolg, als aus moderner DNA und der statistischen Mutationsrate der mtDNA, circa alle 3000 Jahre, auf eine ‚Urmutter‘ aller lebenden Menschen zurückgeschlossen wurde  : „African Eve“, die vor ungefähr 160.000 Jahren lebte.23 Weniger beachtet wurde, dass die nicht-rekombinierende rein weibliche oder männliche Linie nur einen Bruchteil der tatsächlichen Vorfahren eines Menschen repräsentiert, nämlich je einen pro Generation, während die Zahl der Ahnen exponentiell wächst, abzüglich des Ahnenschwundes, bei dem dieselben Individuen an mehreren Stellen des Stammbaumes auftauchen.24 Eine der frühen Anwendungen der Analyse nicht-rekombinierenden Erbgutes auf das Mittelalter war der Versuch, aus heutiger genetischer Verteilung in England auf die angelsächsische Wanderung zurückzuschließen.25 Die Methode, aus moderner 22 Martin Jones, The Molecule Hunt. Archaeology and the Search for Ancient DNA, London 2001  ; Colin Renfrew/Kate Boyle (Hg.), Archaeogenetics. DNA and the Population Prehistory of Europe, Cambridge 2000. 23 Bryan Sykes, The Seven Daughters of Eve, London 2001. 24 Johannes Krause, Die Reise unserer Gene. Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren, Berlin 2019, S. 26–27  ; Geary, Herausforderungen (wie Anm. 3), S. 35–36. 25 Siehe etwa Cristian Capelli/Nicola Redhead/Julia K. Abernethy/Fiona Gratrix/James F. Wilson/Torolf Moen/Tor Hervig/Martin Richards/Michael P.H. Stumpf/Peter A. Underhill/Paul Bradshaw/Alom Shaha/Mark G. Thomas/Neal Bradman/David B. Goldstein, A Y Chromosome Census of the British Isles, in  : Current Biology 13, 2003, S. 979–984  ; Mark G. Thomas/Michael P.H. Stumpf/Heinrich Härke, Evidence for an Apartheid-like Social Structure in Early Anglo-Saxon England, in  : Proceedings of the Royal Society B 273, 2006, S. 2651–2657  ; Stephen Leslie/Bruce Winney/Garrett Hellenthal/Dan Davison/Abdelhamid Boumertit/Tammy Day/Katarzyna Hutnik/Ellen C. Royrvik/Barry Cunliffe/Welcome Trust Case Control Consortium 2/International Multiple Sclerosis Genetics Consortium/Daniel J. Lawson/Daniel Falush/Colin Freeman/Matti Pirinen/Simon Myers/Mark Robinson/Peter Donnelly/Walter Bodmer, The Fine-scale Genetic Structure of the British Population, in  : Nature 519, 2015, S.  309–314. Die Ergebnisse dieser Studie

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DNA auf Wanderungsbewegungen vor Hunderten bis Tausenden von Jahren zurückzuschließen, erscheint freilich bei der fast ständigen Zuwanderung vom Kontinent nach Britannien wenig geeignet, nähere Informationen über die Verbreitung von Angelsachsen oder Skandinaviern zu gewinnen. Zuweilen wurde die genetische Verbreitung auch mit Kartierungen der Sprachverteilung verknüpft. Das bestätigte meist die wenig überraschende Tatsache, dass die Nachkommen der Briten eher im Westen und Norden der Insel, die der Zuwanderer über die Nordsee eher im Süden und Osten lebten. Auch in Ungarn knüpften sich bald große Hoffnungen daran, die aus den historischen Quellen nicht vor dem 9. Jahrhundert n. Chr. erschließbare Vorgeschichte ‚der‘ Ungarn zu erhellen.26 Die Resultate solcher Studien widersprachen einander teils allerdings beträchtlich, was auch zu Zweifeln an der Methode in der Genetik selbst führte.27 Einen Fortschritt brachte ein vielzitierter Aufsatz von John Novembre, in dem er zeigte, dass die genetische Verteilung in Europa im Wesentlichen der Geographie entsprach und sich dabei keine deutlichen ethnisch-nationalen Gruppen abzeichneten, sondern eher ein räumliches Kontinuum  : ‚Genes Mirror Geography‘.28 Eine wesentliche methodische Neuerung war, dass die Ergebnisse nicht mehr für bewurden von einem der Hauptautoren, Peter Donnelly, in einer Tageszeitung unter dem nicht untypisch plakativen Titel ‚The Secret History of Britain is Written in Our Genes‘ (Daily Telegraph, 17.3.2015) vorgestellt. Siehe auch Miles, The Tribes of Britain (wie Anm. 7)  ; Stephan Schiffels/Duncan Sayer, Investigating Anglo-Saxon Migration History with Ancient and Modern DNA, in  : Harald Meller/ Falko Daim/Johannes Krause/Roberto Risch (Hg.), Migration und Integration von der Urgeschichte bis zum Mittelalter. 9. Mitteldeutscher Archäologentag vom 20. bis 22. Oktober 2016 in Halle (Saale) (Tagungen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle, Saale 17), Halle (Saale) 2017, S. 255–266. 26 Kritische Diskussion  : Csanád Bálint, Some Problems in Genetic Research on Hungarian Ethnogenesis, in  : Acta Archaeologica Academiae Scientiarum Hungaricae 61, 2010, S. 283–294. 27 Siehe z. B. Mark A. Jobling/Rita Rasteiro/Jon H. Wetton, In the Blood. The Myth and Reality of Genetic Markers of Identity, in  : Ethnic and Racial Studies 39, 2016, S. 142–161. 28 John Novembre/Toby Johnson/Katarzyna Bryc/Zoltan Kutalik/Adam R. Boyko/Adam Auton/ Amit Indap/Karen S. King/Sven Bergmann/Matthew R. Nelson/Matthew Stephens/Carlos D. Bustamante, Genes Mirror Geography within Europe, in  : Nature 456, 2008, S.  98–101. Ähnliche Hinweise für den Zusammenhang zwischen geographischer Nähe und genetischer Ähnlichkeit auf lokaler Ebene, wobei auch zwischen lokalen und nicht lokalen Familiennamen unterschieden wurde, ergab eine britische Studie  : Bruce Winney/Abdelhamid Boumertit/Tammy Day/Dan Davison/ Chikodi Echeta/Irina Evseeva/Katarzyna Hutnik/Stephen Leslie/Kristin Nicodemus/Ellen C. Royrvik/Susan Tonks/Xiaofeng Yang/James Cheshire/Paul Longley/Pablo Mateos/Alexandra Groom/Caroline Relton/Tim Bishop/Kathryn Black/Emma Northwood/Louise Parkinson/ Timothy M. Frayling/Anna Steele/Julian R. Sampson/Turi King/Ron Dixon/Derek Middleton/Barbara Jennings/Rory Bowden/Peter Donnelly/Walter Bodmer, People of the British Isles. Preliminary Analysis of Genotypes and Surnames in a UK-control Population, in  : European Journal of Human Genetics 20, 2012, S. 203–210.

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stimmte ethnische oder regionale Gruppen statistisch zusammengefasst, sondern jedes Individuum einzeln dargestellt wurde. Dabei wurden die größten errechneten Abweichungen auf zwei Achsen auf einer sogenannten Hauptkomponentenanalyse (PCA-Plot) eingetragen. Dieses Abgehen von Völkern als Analyse-Einheit war auch die Voraussetzung für die Geschichtswissenschaft, mit der Genetik ins Gespräch zu kommen, worum sich Patrick Geary seit damals sehr bemühte. Um 2005 gab es wesentliche Fortschritte bei den Methoden der Genom-Sequenzierung durch ‚Next Generation Sequencing‘ (NGS), durch die Untersuchung von SNPs (Single Nucleotid Polymorphisms) und durch die Möglichkeit, das ganze Genom zu sequenzieren (Whole Genome Sequencing – WGS).29 Das wird heute zum Großteil automatisiert erledigt und dadurch billiger. Zudem erfolgte ein Durchbruch bei der Analyse alter DNA, die nun aus Knochen und Zähnen von oft viele Jahrtausende alten Skeletten gewonnen wurde.30 Die moderne Kontamination der alten DNA war lange ein Problem, da die Proben zwar bei der Entnahme und Analyse steril gehandhabt werden konnten, aber kaum bei der Ausgrabung, Bearbeitung und Lagerung. Heute gibt es auch dafür Algorithmen, die moderne Verunreinigungen quantifizieren können. Dabei macht sich die Genetik chemische Veränderungen der DNA zunutze, die sich im Laufe der Zeit ansammeln und es so zulassen, alte DNA von moderner menschlicher Kontamination zu unterscheiden.31 Die Daten, die bei der Sequenzierung entstehen, haben zunächst wenig Aussagekraft. Vor allem gilt das für die noch erhaltenen Fragmente des Genoms, die aus prähistorischen Skeletten gewonnen werden konnten. Sowohl die Gewinnung aussagekräftiger Daten als auch die populationsgenetischen Auswertungen arbeiten mit immer weiter verfeinerten Computermodellierungen. Das mit viel simpleren statistischen Verfahren gespeiste Stammbaummodell der Beziehungen zwischen Bevölkerungen verlor an Bedeutung. Es wurde nun möglich, nicht nur die zunehmende Diversifizierung der Weltbevölkerung darzustellen, wie es das ‚Human Genome Di29 Mark Stoneking/Johannes Krause, Learning about Human Population History from Ancient and Modern Genomes, in  : Nature Reviews Genetics 12, 2011, S. 603–614  ; Krishna R. Veeramah/Michael F. Hammer, The Impact of Whole-genome Sequencing on the Reconstruction of Human Population History, in  : Nature Reviews Genetics, 4 February 2014, S. 109–122  ; Elsbeth Bösl/Stefanie Samida, Introduction  : New Sequencing Methods – New Data and New Challenges, in  : Dies. (Hg.), Next Generation Sequencing (wie Anm. 8), S. 11–17, doi  : 10.14512/tatup.30.2.11. 30 Ermanno Rizzi/Martina Lari/Elena Gigli/Gianluca de Bellis/David Caramelli, Ancient DNA Studies. New Perspectives on Old Sample, in  : Genetics Selection Evolution 44, 2012, doi  : 10.1186/1297–9686–44–21. 31 Johannes Krause/Adrian W. Briggs/Martin Kircher/Tomislav Maricic/Nicolas Zwyns/Anatoli Derevianko/Svante Pääbo, A Complete mtDNA Genome of an Early Modern Human from Kostenki, Russia, in  : Current Biology 20, 2010, S. 231–236.

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versity Project‘ versucht hatte, sondern auch ihre Angleichung durch Vermischung. ‚Admixture‘, ‚Beimischung‘, wurde dadurch zu einem Schlüsselkonzept.32 Ständig verbesserte bioinformatische und populationsgenetische Methoden erlauben es heute, selbst bei genetischen Unterschieden im Bereich zwischen 0,01 % und 0,001 % signifikante Unterschiede zu errechnen und graphisch zu visualisieren. Dabei kann auf die ‚Ancestry‘, die genetische Herkunft, und die jeweiligen Mischungsverhältnisse geschlossen werden  ; Verwandtschaftsverhältnisse können bis zu sechs und mehr Generationen rekonstruiert werden (Identity-By-Descent, Recent Relatedness und ähnliche Verfahren). Zunächst wurden die neuen Methoden verwendet, um Kernfragen der Prähistorie zu bearbeiten  : die Ausbreitung des Menschen über alle Kontinente, die Expansion des Homo sapiens und das Verschwinden der Neandertaler, die Neolithische Revolution und die Migrationsbewegungen der letzten vorgeschichtlichen Jahrtausende auf allen Kontinenten. Zu all diesen Fragen gab es im letzten Jahrzehnt wesentliche neue Erkenntnisse, wobei die beiden Max-Planck-Institute in Leipzig und Jena eine Schlüsselrolle spielten. Nach geltender Lehre ist die heutige europäische Bevölkerung aus drei sehr unterschiedlichen Gruppen zusammengewachsen  : aus der eiszeitlichen Sammler- und Jägerbevölkerung, im 6. Jahrtausend v. Chr. aus Anatolien eingewanderten neolithischen Bauern und einer zu Beginn des 3. Jahrtausends aus der eurasischen Steppe zugewanderten Bevölkerung, die auch unter dem archäologischen Etikett Yamnaya gehandelt wird.33 Im Ergebnis ihrer Vermischung war die Bevölke32 Nick Patterson/Priya Moorjani/Yontao Luo/Swapan Mallick/Nadin Rohland/Yiping Zhan/ Teri Genschoreck/Teresa Webster/David Reich, Ancient Admixture in Human History, in  : Genetics 192, 2012, S. 1065–1093. 33 Iosif Lazaridis/Nick Patterson/Alissa Mittnik/Gabriel Renaud/Swapan Mallick/Karola Kirsanow/Peter H. Sudmant/Joshua G. Schraiber/Sergi Castellano/Mark Lipson/Bonnie Berger/Christos Economou/Ruth Bollongino/Qiaomei Fu/Kirsten  I. Bos/Susanne Nordenfelt/Heng Li/Cesare de Filippo/Kay Prüfer/Susanna Sawyer/Cosimo Posth/Wolfgang Haak/ Fredrik Hallgren/Elin Fornander/Nadin Rohland/Dominique Delsate/Michael Francken/ Jean-Michel Guinet/Joachim Wahl/George Ayodo/Hamza A. Babiker/Graciela Bailliet/Elena Balanovska/Oleg Balanovsky/Ramiro Barrantes/Gabriel Bedoya/Haim Ben-Ami/Judit Bene/Fouad Berrada/Claudio M. Bravi/Francesca Brisighelli/George B. J. Busby/Francesco Cali/Mikhail Churnosov/David E. C. Cole/Daniel Corach/Larissa Damba/George van Driem/ Stanislav Dryomov/Jean-Michel Dugoujon/Sardana A. Fedorova/Irene Gallego Romero/ Marina Gubina/Michael Hammer/Brenna M. Henn/Tor Hervig/Ugur Hodoglugil/Aashish R. Jha/Sena Karachanak-Yankova/Rita Khusainova/Elza Khusnutdinova/Rick Kittles/Toomas Kivisild/William Klitz/Vaidutis Kučinskas/Alena Kushniarevich/Leila Laredj/Sergey Litvinov/Theologos Loukidis/Robert W. Mahley/Béla Melegh/Ene Metspalu/Julio Molina/ Joanna Mountain/Klemetti Näkkäläjärvi/Desislava Nesheva/Thomas Nyambo/Ludmila Osipova/Jüri Parik/Fedor Platonov/Olga Posukh/Valentino Romano/Francisco Rothhammer/

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rung Europas bereits am Ende der Bronzezeit genetisch recht einheitlich. Diese seit dem Neolithikum zunehmende genetische Angleichung der europäischen Bevölkerung ist ein Beleg für die Wichtigkeit der ‚Admixture‘ in der Menschheitsgeschichte. Johannes Krauses ‚Reise unserer Gene‘ fasste diese Resultate mit journalistischer Hilfe öffentlichkeitswirksam zusammen.34 Bis gegen Ende der 2010er Jahre wurden aDNA-Untersuchungen fast nur für die prähistorischen Epochen eingesetzt. In diesem Bereich führten die neuen Instru­ mente der aDNA-Analyse zu wesentlichen neuen Erkenntnissen, etwa über die Verbreitung des Menschen über die Erde und über die verschiedenen Gruppen, die Europa besiedelten. Freilich ist schon am Beispiel des Neolithikums in Europa diskutiert worden, wie weit genetisch erschlossene Bevölkerungsverlagerungen mit der Ausbreitung von Sprachen (etwa der indogermanischen Idiome) und von archäologischen ‚Kulturen‘ (etwa der Linearbandkeramik- oder der Glockenbecherkultur) in Zusammenhang gebracht werden können.35 Insgesamt war das Interesse an den neuen genetischen Verfahren im Bereich der prähistorischen Archäologie aber groß, da sie zu vielen offenen Fragen wesentliche neue Befunde liefern konnten. Wie weit auch die historische Archäologie von Genomuntersuchungen profitieren kann, ist derzeit noch im Stadium der Erprobung. Für die Periode seit der Eisenzeit

Igor Rudan/Ruslan Ruizbakiev/Hovhannes Sahakyan/Antti Sajantila/Antonio Salas/Elena B. Starikovskaya/Ayele Tarekegn/Draga Toncheva/Shahlo Turdikulova/Ingrida Uktveryte/ Olga Utevska/René Vasquez/Mercedes Villena/Mikhail Voevoda/Cheryl A. Winkler/Levon Yepiskoposyan/Pierre Zalloua/Tatijana Zemunik/Alan Cooper/Cristian Capelli/Mark G. Thomas/Andres Ruiz-Linares/Sarah A. Tishkoff/Lalji Singh/Kumarasamy Thangaraj/Richard Villems/David Comas/Rem Sukernik/Mait Metspalu/Matthias Meyer/Evan E. Eichler/Joachim Burger/Montgomery Slatkin/Svante Pääbo/Janet Kelso/David Reich/Johannes Krause, Ancient Human Genomes Suggest Three Ancestral Populations for Present-day Europeans, in  : Nature 513, 2014, S. 409–413  ; Wolfgang Haak/Iosif Lazaridis/Nick Patterson/Nadin Rohland/Swapan Mallick/Bastien Llamas/Guido Brandt/Susanne Nordenfelt/Eadaoin Harney/Kristin Stewardson/Qiaomei Fu/Alissa Mittnik/Eszter Bánffy/Christos Economou/Michael Francken/ Susanne Friederich/Rafael Garrido Pena/Fredrik Hallgren/Valery Khartanovich/Aleksandr Khokhlov/Michael Kunst/Pavel Kuznetsov/Harald Meller/Oleg Mochalov/Vayacheslav Moiseyev/Nicole Nicklisch/Sandra L. Pichler/Roberto Risch/Manuel A. Rojo Guerra/ Christina Roth/Anna Szécsényi-Nagy/Joachim Wahl/Matthias Meyer/Johannes Krause/Dorcas Brown/David Anthony/Kurt Werner Alt/David Reich, Massive Migration from the Steppe was a Source for Indo-European Languages in Europe, in  : Nature 522, 2015, S. 207–211  ; Reich, Who We Are (wie Anm. 7), S. 99–122  ; Krause, Die Reise unserer Gene (wie Anm. 24), S. 93–134. 34 Krause, Die Reise unserer Gene (wie Anm. 24). 35 Susanne Hakenbeck, Genetics, Archaeology and the Far Right. An Unholy Trinity, in  : World Archaeo­logy 51, 2019, S. 517–527, doi  : 10.1080/00438243.2019.1617189  ; Geary, Herausforderungen (wie Anm. 3), S. 22–23.

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erschwerte die relative Einheitlichkeit der europäischen Bevölkerung genetische Unterscheidungen. Doch zunehmend erlaubte die Verfeinerung des Instrumentariums, auch diesen Bereich in Betracht zu ziehen. Erst jetzt sind die Methoden differenziert genug, um sie auch für rezentere Perioden und bei genetisch relativ einheitlicheren Bevölkerungen einzusetzen.36 Viele Projekte sind derzeit im Laufen oder in der Entwicklung. Die breite Verfügbarkeit von Referenzdaten alter DNA wird sicher bessere Erkenntnismöglichkeiten bieten als die wenig erfolgreichen Versuche, mit moderner DNA etwa die angelsächsische Wanderung zu ergründen. Eine Pionierarbeit war im Jahr 2016 der Aufsatz von Stefan Schiffels und anderen über einige aDNA-Befunde der angelsächsischen Zeit und frühere Vergleichsbeispiele, insgesamt zehn Proben.37 Freilich wurde hier der Volksname ‚Angelsachsen‘ recht unkritisch gebraucht.38 Wie weiter unten noch zu diskutieren ist, haben Genetiker bei der Untersuchung historischer Perioden auf schriftlichen Quellen basierende Völkernamen sehr sorglos verwendet.39 Eine weitere frühe aDNA-Untersuchung in einem frühmittelalterlichen Gräberfeld war die 2018 veröffentlichte Studie zum Gräberfeld von Niederstotzingen, wo 13 Proben entnommen wurden und die Verwandtschaft einiger der dort Bestatteten gezeigt werden konnte.40 Bahnbrechend war ein von Patrick Geary geleitetes Projekt, in dem erstmals Vertreterinnen und Vertreter von Geschichtswissenschaft, Archäologie und Genetik von Beginn an eng zusammengearbeitet haben.41 36 Krishna R. Veeramah, The Importance of Fine-scale Studies for Integrating Paleogenomics and Archaeology, in  : Current Opinion in Genetics & Development 53, 2018, S.  83–89, doi  : 10.1016/j. gde.2018.07.007. 37 Stephan Schiffels/Wolfgang Haak/Pirita Paajanen/Bastien Llamas/Elizabeth Popescu/Louise Loe/Rachel Clarke/Alice Lyons/Richard Mortimer/Duncan Sayer/Chris Tyler-Smith/Alan Cooper/Richard Durbin, Iron Age and Anglo-Saxon Genomes from East England Reveal British Migration History, in  : Nature Communications 7, 2016, 10408, doi  : 10.1038/ncomms10408. 38 Meier/Patzold, Gene und Geschichte (wie Anm. 2), S. 73–94, und siehe unten S. ■. 39 Die Bezeichnung ‚Angelsachsen‘ (Anglisaxones o.ä.) wird zudem erst im 9. Jahrhundert in den Quellen verwendet, und auch das nicht durchgehend  : Walter Pohl, Ethnic Names and Identities in the British Isles. A Comparative Perspective, in  : John Hines (Hg.), The Anglosaxons from the Migration Period to the Eighth Century. An Ethnographical Perspective, Woodbridge 1997, S. 7–40. 40 Niall O’Sullivan/Cosimo Posth/Valentina Coia/Verena J. Schuenemann/T. Douglas Price/Joachim Wahl/Ron Pinhasi/Albert Zink/Johannes Krause/Frank Maixner, Ancient Genome-wide Analyses Infer Kinship Structure in an Early Medieval Alemannic Graveyard, in  : Science Advances 4, 2018, doi  : 10.1126/sciadv.aao1262. 41 Carlos Eduardo Guerra Amorim/Stefania Vai/Cosimo Posth/Alessandra Modi/István Koncz/ Susanne Hakenbeck/Maria La Rocca/Balázs Gusztáv Mende/Dean Bobo/Walter Pohl/Luisella Pejrani Baricco/Elena Bedini/Paolo Francalacci/Caterina Giostra/Tivadar Vida/Daniel Winger/Uta von Freeden/Silvia Ghirotto/Martina Lari/Guido Barbujani/Johannes Krause/ David Caramelli/Patrick J. Geary/Krishna R. Veeramah, Understanding 6th-Century Barbarian

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Dabei wurden Stichproben zu einer aufgrund schriftlicher Quellen gut datier- und lokalisierbaren Migration genommen, nämlich zu der Wanderung von Langobarden und anderen Bevölkerungsgruppen im Jahr 568 von Pannonien nach Italien. Zunächst wurden je ein langobardenzeitliches Gräberfeld in Pannonien (Szólád am Plattensee) und in Norditalien (Collegno in Piemont) möglichst vollständig beprobt (Collegno nur in der früheren Belegungsphase). Dabei ergaben sich in beiden Gräberfeldern zwei unterscheidbare genetische Gruppen, eine eher mittel- und nordeuropäische und eine eher mediterrane (die mangels genügend aDNA-Vergleichsbeispielen in der Auswertung vor allem mit modernen Genproben verglichen werden mussten). Die genetischen Cluster entsprachen relativ weitgehend den Unterschieden in der Grabausstattung. Die erste Gruppe ist durch Beigaben, u. a. von Waffen in Männergräbern und Fibeltracht bei Frauen, gekennzeichnet, die zweite durch Beigabenarmut.42 Inzwischen haben weitere Untersuchungen ergeben, dass die beigabenarme Gruppe in Collegno etwa der Bevölkerung der Region vor der langobardischen Besetzung entspricht.43 In Pannonien findet sich die Koexistenz von zwei genetisch unterschiedlichen Gruppen auch in früheren Gräberfeldern des 5. und frühen 6. Jahrhunderts, wobei wie in Szólád zwar kaum direkte Eheverbindungen zwischen den beiden Gruppen feststellbar sind, aber im Lauf der Zeit doch Spuren von ‚admixture‘ sichtbar werden.44 Die Aktivitäten der mit Beigaben ausgestatteten dominierenden Kriegergruppe werden in den Schriftquellen immer wieder erwähnt, wo sie mit verschiedenen Volksnamen bezeichnet wird. Der genetische Befund legt nahe, dass sie von Norden her zugewandert war. Ob es sich um Heruler, Sueben, Langobarden oder um Angehörige anderer im 5./6. Jahrhundert in Pannonien erwähnter Völker handelt, ist weder aufgrund des genetischen noch des archäologischen Befundes entscheidbar. Social Organization and Migration through Paleogenomics, in  : Nature Communications 9, 2018, 3547, doi  : 10.1038/s41467–018–060254–4. 42 Geary, Herausforderungen (wie Anm. 3), S. 38–43 und S. 53–56. 43 Stefania Vai/Andrea Brunelli/Alessandra Modi/Francesca Tassi/Chiara Vergata/Elena Pilli/ Martina Lari/Roberta Rosa Susca/Caterina Giostra/Luisella Pejrani Baricco/Elena Bedini/ István Koncz/Tivadar Vida/Balázs Gusztáv Mende/Daniel Winger/Zuzana Loskotová/Krishna Veeramah/Patrick J. Geary/Guido Barbujani/David Caramelli/Silvia Ghirotto, A Genetic Perspective on Longobard-Era Migrations, in  : European Journal of Human Genetics 27, 2019, S. 647– 656, doi  : 10.1038/s41431–018–0319–8. 44 Deven N. Vyas/István Koncz/Alessandra Modi/Balázs Gusztáv Mende/Yijie Tian/Paolo Francalacci/Martina Lari/Stefania Vai/Péter Straub/Zsolt Gallina/Tamás Szeniczey/Tamás Hajdu/ Rita Radzevičiūtė/Zuzana Hofmanová/Sándor Évinger/Zsolt Bernert/Walter Pohl/David Caramelli/Tivadar Vida/Patrick J. Geary/Krishna R. Veeramah, Investigating Community Formation through Dense Spatial and Temporal Sampling of 5th–6th Century Cemeteries in Pannonia, in Begutachtung.

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Es ist gut möglich, dass die meisten dieser Gruppen in sich genetisch uneinheitlicher waren als die Unterschiede, die erlauben würden, sie voneinander abzugrenzen. Diese Befunde sind besonders in Italien kontrovers diskutiert worden. Viele italienische Archäologinnen und Archäologen, unter anderem die Ausgräberin von Collegno, Caterina Giostra, gingen davon aus, dass die mit Beigaben bestattete erste Gruppe zweifellos Langobarden waren.45 Doch dieser Sachverhalt ist komplexer. Im langobardischen Königreich mit Waffen Bestattete und ihre Angehörigen waren rechtlich und sozial Angehörige des Langobardenheeres oder strebten zumindest danach  ; damit galten sie auch als Langobarden. Das ist aber keineswegs gleichbedeutend mit ihrer Herkunft von den Langobarden des 5. oder früheren 6. Jahrhunderts. Naheliegend ist, dass sie mit einiger Wahrscheinlichkeit 568 oder bald darauf aus Pannonien gekommen waren. Wir wissen aber, dass 568 mit dem Langobardenheer viele ethnische Gruppen nach Italien zogen, die teilweise unterscheidbar blieben. Wie sie sich selbst zuordneten, ist aus ihren Überresten nicht abzuleiten. Deutlich ist, dass sie zur herrschenden Kriegerschicht des Langobardenreichs gehörten. Über die Zusammensetzung dieser Schicht, in Italien wie im Karpatenbecken, kann die Genetik noch mehr herausfinden. Wie genau diese Befunde gedeutet werden können, erfordert aber noch tiefgehende methodische und interdisziplinäre Diskussionen.

Probleme der Archäogenetik historischer Zeiten Es ist wichtig zu betonen, dass es sich bei den Resultaten der Archäogenetik nicht einfach um ‚hard facts‘ handelt, also um eindeutige und unbezweifelbare Daten. Die Ergebnisse der Sequenzierung des Genoms allein ergeben noch keine brauchbaren historischen Informationen. Erst die Ergebnisse komplexer und mehrstufiger Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Vergleichsanalysen erlauben es, aus den Daten sinnvolle Aussagen abzuleiten. Doch gerade dass wir als Mediävistinnen und Mediävisten nicht einfach mit harten Daten konfrontiert werden, kann die Zusammenarbeit mit Genetikerinnen und Genetikern erleichtern, zumindest mit jenen, die mit diesen methodischen Voraussetzungen offen umgehen. Wie es Patrick Geary formuliert hat  : „Genetische Daten lügen nicht, aber wie alle anderen Daten sagen sie auch nicht die Wahrheit.“46 45 Vai u. a., A Genetic Perspective (wie Anm. 43)  ; siehe auch Caterina Giostra, Goths and Lombards in Italy. The Potential of Archaeology with Respect to Ethnocultural Identification, in  : Post-Classical Archaeologies 1, 2011, S. 7–36. 46 Geary, Herausforderungen (wie Anm. 3), S. 33.

Migrationen und Identitäten im Spiegel naturwissenschaftlicher DNA-Analysen 

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Freilich, eine Reihe von Faktoren führt dazu, dass in der Öffentlichkeit ein anderes Bild vermittelt wird  : die Aufbruchstimmung einer neuen Disziplin, die Profilierungsinteressen naturwissenschaftlicher Journale, die medienwirksame Zuspitzung von Ergebnissen und die szientistische Faktengläubigkeit einer breiteren Öffentlichkeit tragen alle dazu bei, dass unrealistische Erwartungen in die Möglichkeiten der Genforschung geweckt werden. Aber das löst auch kontroverse Debatten und Deutungskämpfe aus, nicht zuletzt, da jetzt die Geschichtswissenschaft direkt herausgefordert ist. Interessant ist, dass diese Diskussion bisher vor allem in Deutschland geführt wird. Die Debatte hat schon vor einigen Jahren vor allem in der Archäologie begonnen, unter anderem mit kritischen Beiträgen von Stefanie Samida, Elsbeth Bösl, Stefan Burmeister, Sebastian Brather sowie von dem Mediävisten Jörg Feuchter.47 2015 fanden zwei interdisziplinäre Tagungen zum Thema statt, bei denen die Frage recht kontrovers diskutiert wurde. Im Oktober fand in Berlin die Tagung ‚Genetic History  : A Challenge to Historical and Archaeological Studies‘ statt  ;48 im November 2015 ging es in Freiburg um ‚Archäologie, Geschichte und Biowissenschaften. Interdiszi­plinäre Perspektiven‘.49 Von Anfang an waren Mediävisten und Mediävistinnen in diese Diskussionen eingebunden.50 Statt diesen Debatten im Einzelnen zu folgen, möchte ich hier einige wesentliche Kritikpunkte zusammenfassen. Manche der methodischen Probleme der Archäogenetik sind inzwischen weitgehend überwunden. Überholt sind etwa die Aussagen über die entfernte Vergangenheit aufgrund von moderner DNA. Auch die a-priori-Annahme ethnischer Einheiten, denen dann bestimmte Gruppen von Proben zugeordnet wurden, ist nicht mehr zeitgemäß. Dennoch ist das ein junges Forschungsfeld in Aufbruchstimmung und mit in mancher Hinsicht noch wenig gefestigter Methodik. Das verbindet sich öfters mit einem hohen Selbstbewusstsein, dass nun die Genetik diejenigen Fragen lösen könne, an denen sich Archäologie und Geschichte generationenlang vergeblich abgearbeitet haben. Wie es der Harvard-Archäogenetiker Da47 Stefanie Samida/Jörg Feuchter, Why Archaeologists, Historians and Geneticists Should Work Together – and How, in  : The Genetic Challenge to Medieval History and Archaeology = Medieval Worlds 4, 2016, S. 5–21, doi  : 10.1553/medievalworlds_no4_2016s5. 48 Viele Beiträge wurden online mit Open Access publiziert im Themenheft The Genetic Challenge To Medieval History and Archaeology, in  : Medieval Worlds 4, 2016 (Gastherausgeber  : Jörg Feuchter/ Stefanie Samida  ; , aufgerufen am 15.02.2023)  ; siehe auch Walter Pohl, Editor’s Introduction  : The Genetic Challenge to Medieval History and Archaeology, in  : ebd., S. 2–4, doi  : 10.1553/medievalworlds_no4_2016s2. 49 Siehe den Tagungsbericht von Michel Summer unter (aufgerufen am 15.02.2023). 50 Samida/Feuchter, Why Archaeologists (wie Anm. 47).

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vid Reich ausgedrückt hat  : „Since 2009, whole-genome data have begun to challenge long-held views in archaeology, history, anthropology, and eventually linguistics – and to resolve controversies in those fields.“51 Bei solchen Ansprüchen auf Deutungshoheit konnte die Kritik aus den angesprochenen Disziplinen nicht ausbleiben. (1) Weitreichende Aussagen auf unzureichender Datengrundlage

Genetische Studien der Ausbreitung des Menschen mussten mit sehr wenigen Proben auskommen. Zum Beispiel führte die Entdeckung eines 70.000 Jahre alten Fingerknochens in der Denisova-Höhle im Altai zur Entdeckung eines weiteren genetischen Stranges der Menschheitsentwicklung, des sogenannten Denisova-Menschen.52 Um die groben Entwicklungslinien genetisch sehr unterschiedlicher Menschentypen nachzuzeichnen, die sich in Zehntausenden von Jahren entwickelt und teils vermischt haben, war das ausreichend. Auch im Hinblick auf die jüngere prähistorische Zeit war es üblich, die analysierten Proben über große Entfernungen und Zeiträume zu streuen, um einen weiten Horizont abdecken zu können. Für die genetisch viel einheitlichere Bevölkerung Europas in historischer Zeit und die Einordnung der Ergebnisse in ein detailliertes historisches Narrativ ist eine viel breitere Datenbasis nötig. Auch hier wurde aber öfters aufgrund einiger weniger Proben aus einer Anzahl von Gräberfeldern ein übergreifendes Narrativ konstruiert. Da die Sequenzierung des Genoms nach dem aktuellen Methodenstand teuer und aufwendig ist, war diese Beschränkung verständlich, konnte aber leicht zu voreiligen Schlüssen führen. Zumindest müsste dabei die Beprobungsstrategie begründet und der dadurch entstehende systematische Fehler (ascertainment bias) transparent gemacht werden. Die ersten Analysen kompletter Gräberfelder aus der Völkerwanderungszeit haben gezeigt, dass in vielen Gräberfeldern recht unterschiedliche Gruppen bestattet sind.53 (2) Historische Schlussfolgerungen ohne Historiker und Historikerinnen

In den meisten genetischen Studien leisten die Autorinnen und Autoren selbst die historische Interpretation, wobei Geschichtswissenschaft und auch Archäologie nicht oder nur peripher zitiert oder einbezogen werden. Das führt zu teils kuriosen Behauptungen. In einer Studie von 2015 über ,admixture‘ im östlichen Europa wird eine Phase gesteigerter Vermischung datiert auf „the end of the first millennium, a 51 Reich, Who We Are (wie Anm. 7), S. XXI. 52 Krause, Die Reise unserer Gene (wie Anm. 24), S. 21–30. Mit relativ wenigen Proben musste auch das bahnbrechende Neandertaler-Projekt unter der Leitung von Svante Pääbo auskommen, für das er 2022 den Nobelpreis bekommen hat  : Svante Pääbo, Neanderthal Man. In Search of Lost Genomes, New York 2014. 53 Amorim u. a., Understanding 6th-Century Barbarian Social Organization (wie Anm. 41).

Migrationen und Identitäten im Spiegel naturwissenschaftlicher DNA-Analysen 

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time known as the European Migration period, or Völkerwanderung“.54 Viele der historischen Schlussfolgerungen, die Genetiker aus ihren Befunden ableiten, beruhen auf der irrigen Annahme, dass die Geschichte, soweit sie eben erforscht werden konnte, im Internet oder in Handbüchern ohne Vorverständnis für alle greifbar ist. Tatsächlich sind historische Narrative meist allgemein zugänglich und verständlich  ; das gilt allerdings nicht für die kritische Methode, mit der bestehendes Wissen überprüft werden muss und neue Erkenntnisse in diesen Zusammenhang eingefügt werden. Meier und Patzold haben dazu festgestellt  : „Spätestens wenn Archäogenetiker auf Basis ihrer Daten anfangen, Aussagen über Geschichte zu treffen, unterliegen sie genau denselben erkenntnistheoretischen Grenzen wie alle anderen historischen Wissenschaften auch.“55 Das wird in letzter Zeit zunehmend, wenn auch lückenhaft, von genetischer Seite akzeptiert.56 (3) Verschiebung knapper Fördergelder auf teure Genom-Analysen

Genanalysen sind teuer, und es entsteht der Eindruck, dass sie auf Kosten archäologischer und historischer Projekte bevorzugt finanziert werden. Sollen knappe Fördermittel eher für neue Grabungen, für die Restauration und Bearbeitung von Funden oder für teure genetische Verfahren verwendet werden  ? Sind archäologische Großprojekte ohne das ganze Spektrum an mikrobiologischen Verfahren überhaupt noch förderfähig  ? Aus Sicht der Geschichtsforschung ist allerdings auch zu beobachten, dass für Projekte mit historischen Fragestellungen und naturwissenschaftlichen Methoden auch Fördermittel aus dem naturwissenschaftlichen Bereich lukriert werden können. Was innerhalb der Geisteswissenschaften aber diskutiert werden sollte, sind die Kriterien, nach denen historische Projektanträge mit naturwissenschaftli54 George B.  J. Busby/Garrett Hellenthal/Francesco Montinaro/Sergio Tofanelli/Kazima Bulayeva/Igor Rudan/Tatijana Zemunik/Caroline Hayward/Draga Toncheva/Sena Karachanak-Yankova/Desislava Nesheva/Paolo Anagnostou/Francesco Cali/Francesca Brisighelli/ Valentino Romano/Gérard Lefranc/Catherine Buresi/Jemni Ben Chibani/Amel Haj-Khelil/ Sabri Denden/Rafal Ploski/Paweł Krajewski/Tor Hervig/Torolf Moen/Rene J. Herrera/James F. Wilson/Simon Myers/Cristian Capelli, The Role of Recent Admixture in Forming the Contemporary West Eurasian Genomic Landscape, in  : Current Biology 25, 2015, S. 2518–2526, S. 2521, doi  : 10.1016/j.cub.2015.08.007. 55 Meier/Patzold, Gene und Geschichte (wie Anm. 2), S. 124. 56 Siehe z. B. das Editorial unter dem Titel ‚Use and Abuse of Ancient DNA. Researchers in Several Complementary Disciplines Need to Tread Carefully over the Shared Landscapes of the Past‘, in  : Nature 555, 2018, S. 559  : „Two recommendations can be made for the public behaviour of scientists and other scholars. The first  : give ample credit to the insights of complementary disciplines. The second  : refute statements that mis-construe what your insights actually reveal and that can be used politically to justify disrespect, or worse, to groups of people.“

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chen oder digitalen Anteilen bewertet werden sollen. Nur Spezialisten in diesen Bereichen können diese Elemente eines Antrags kompetent beurteilen  ; sie neigen aber auch dazu, die technische Innovation ins Zentrum ihrer Begutachtung zu stellen, und nicht die Funktionalität für das Projektziel. Nötig ist sicherlich, bei Bewertungen historischer Projekte die jeweilige Forschungsfrage ins Zentrum zu stellen und eher die Angemessenheit der jeweiligen Methoden als deren technische Eleganz zu beurteilen. Dabei sollten sich Historikerinnen und Historiker in Panels von Förderorganisationen im interdisziplinären Bereich methodische Grundkenntnisse aneignen. Die Erfahrung zeigt, dass es auch wünschenswert wäre, wenn manchmal hervorragende geisteswissenschaftliche Projekte mit ähnlichem Enthusiasmus verteidigt würden, wie es im Bereich der Scientific Archaeology meist getan wird. (4) Unterschiedliche Publikationskulturen

Genetische Geschichte hat das gesellschaftliche Wahrnehmungsfeld vor allem durch sensationelle Schlagzeilen in populären Medien erreicht  ; meist geht es darum, wer ‚in Wirklichkeit‘ von den Wikingern, den Hunnen oder der prähistorischen Bevölkerung der eigenen Region abstammt. Das liegt nicht nur an sensationsgierigen Journalistinnen und Journalisten, sondern auch an der Publikationspolitik der großen Journale wie ‚Science‘ und ‚Nature‘, denen es gerade im Bereich der Genforschung oft eher um öffentliche Aufmerksamkeit als um Nachhaltigkeit geht.57 Dabei spielt auch die Geschwindigkeit eine Rolle, mit der neue Ergebnisse publiziert werden, bevor andere ähnliche Resultate veröffentlichen. Einer tiefgreifenden interdisziplinären Diskussion der Interpretation der Daten vor der Publikation ist das wenig förderlich. (5) Unkritischer Begriffsgebrauch

Die historische Genetik bedient sich relativ unreflektiert beim Begriffsrepertoire der GSK-Disziplinen, ohne sich näher mit der Bedeutung der Begriffe in anderen Forschungsfeldern auseinanderzusetzen.58 Beispiele dafür sind der Begriff ‚identity‘ für

57 Stefanie Samida, Über mediale Präsenz und Prominenz DNA-gestützter Vergangenheitsforschung, in  : NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 28, 2020, S. 181–192, doi  : 10.1007/s00048–020–00249–5. 58 Stefanie Eisenmann/Eszter Bánffy/Peter van Dommelen/Kerstin P. Hofmann/Joseph Maran/ Iosif Lazaridis/Alissa Mittnik/Michael McCormick/Johannes Krause/David Reich/Philipp W. Stockhammer, Reconciling Material Cultures in Archaeology with Genetic Data The Nomenclature of Clusters Emerging from Archaeogenomic Analysis, in  : Scientific Reports 8, 2018, 13003, doi  : 10.1038/s41598–018–31123-z  ; Ewan Birney/Michael Inouye/Jennifer Raff/Adam Rutherford/ Aylwyn Scally, The Language of Race, Ethnicity, and Ancestry in Human Genetic Research, in  : arXiv  :2106.10041 [q-bio.PE], preprint, doi  : 10.48550/arXiv.2106.10041.

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die Verortung eines Individuums in einer direkten Abstammungslinie, oder ‚ancestry‘, der eben nicht nachweisbare direkte Abstammung bezeichnet, sondern nur die genetische Ähnlichkeit zu einer älteren Vergleichsgruppe. Wo direkte Abstammung und damit Verwandtschaft nachweisbar oder zumindest erschließbar ist, wird oft von ‚kinship‘ gesprochen, auch wenn das aus sozialanthropologischer Sicht problematisch ist.59 Binäre und normative Modelle von ‚kinship‘ sind vor allem im englischsprachigen Raum in Diskussion geraten.60 Debatten gibt es auch um den Gebrauch des Begriffs ‚Population‘ – es würde sich anbieten, ihn rein instrumentell etwa als ‚nach bestimmten Kriterien definierte Menge von Individuen‘ zu verstehen  ; doch schwingt im genetischen Gebrauch öfters die Erwartung mit, darin eine objektiv abgrenzbare Gruppe zu erfassen, etwa ein ‚Volk‘. Die Problematik des Migrationsbegriffes wird im Folgenden noch erörtert. Es ist klar, dass derartige Begriffe auch innerhalb der historischen Wissenschaften nicht einheitlich verwendet werden. Dennoch erschwert die terminologische Unbekümmertheit der Archäogenetik die Verständigung zwischen den Disziplinen. (6) Migration als historisches Ereignis und als Interpretationsmodell genetischer Daten61

Das affektgeladene Völkerwanderungs-Paradigma des 19. und früheren 20. Jahrhunderts hat in der Geschichtswissenschaft und bei Laien die historischen Vorstellungen lange Zeit geprägt.62 Noch in den politischen Reaktionen auf die Wanderungsbewegungen nach Europa im Jahr 2015 sind solche Schreckbilder beschworen worden.63 59 Marshall Sahlins, What Kinship Is – and Is Not, Chicago 2013. 60 Joanna Brück, Ancient DNA, Kinship and Relational Identities in Bronze Age Britain, in  : Antiquity 95 (379), 2021, S. 275–284, doi  : 10.15184/aqy.2020.216  ; Rachel J. Crellin, Making Posthumanist Kin in the Past, in  : Antiquity 95 (379), 2021, S. 238–240, doi  : 10.15184/aqy.2020.235. 61 Stefan Burmeister, Archaeological Research on Migration as a Multidisciplinary Challenge, in  : The Genetic Challenge To Medieval History and Archaeology (= Medieval Worlds 4), 2016, S. 42–64, doi  : 10.1553/medievalworlds_no4_2016s42  ; Jörg Feuchter, Mittelalterliche Migrationen als Gegenstand der „Genetic History“, in  : Felix Wiedemann/Kerstin P. Hofmann/Hans-Joachim Gehrke  (Hg.), Vom Wandern der Völker. Migrationserzählungen in den Altertumswissenschaften (Berlin Studies of the Ancient World 41), Berlin 2017, S. 347–370  ; Martin Furholt, Massive Migrations  ? The Impact of Recent aDNA Studies on Our View of Third Millennium Europe, in  : European Journal of Archaeology 21, 2017, S. 1–33, doi  : 10.1017/eaa.2017.43. 62 Geary, The Myth of Nations (wie Anm.  15)  ; Walter Pohl, Die Völkerwanderung, Stuttgart ²2005  ; Guy Halsall, Barbarian Migrations and the Roman West, 376–568, Cambridge 2007  ; Walter Pohl, Völkerwanderung, in  : Michael Borgolte (Hg.), Migrationen des Mittelalters  : Ein Handbuch, Berlin 2014, Paperback 2017, S. 231–238. 63 Walter Pohl, Dinamiche etniche nel corso delle migrazioni, in  : Le Migrazioni nell’Alto Medioevo (Settimane di studio della Fondazione Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo 66a), Spoleto 2019, S. 1–22.

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Lange hat die Geschichtsforschung dazu geneigt, längerfristige Wanderungsbewegungen zu dramatischen Ereignissen zu verdichten. Erst die jüngere Forschung hat gezeigt, dass spätantik-frühmittelalterliche Bevölkerungsbewegungen in vielen verschiedenen Formen abliefen.64 Doch die alten Vorstellungen sind noch verbreitet und machen den Gebrauch des Begriffes ‚Migration‘ für die Übersetzung genetischer Befunde in historische Narrative problematisch. Das wird auch in der kurzen Erörterung des unterschiedlichen Gebrauchs der Begriffes Migration in der Genetik und der Archäologie festgestellt, die die Autoren einem 2021 erschienenen Artikel über bronzezeitliche Migrationen nach England beigefügt haben  : Population geneticists use ‚migration‘ to refer to any movement of genetic material from one region to another which would see even low-level symmetrical exchanges of mates between adjacent communities as representing migration, while archaeologists restrict its use to processes that result in significant demographic change due to permanent translocation of people from one region to another.65 64 Geary, Herausforderungen (wie Anm. 3), S. 20–21. 65 Nick Patterson/Michael Isakov/Thomas Booth/Lindsey Büster/Claire-Elise Fischer/Iñigo Olalde/Harald Ringbauer/Ali Akbari/Olivia Cheronet/Madeleine Bleasdale/Nicole Adamski/Eveline Altena/Rebecca Bernardos/Selina Brace/Nasreen Broomandkhoshbacht/Kimberly Callan/Francesca Candilio/Brendan Culleton/Elizabeth Curtis/Lea Demetz/Kellie Sara Duffett Carlson/Ceiridwen J. Edwards/Daniel M. Fernandes/M. George B. Foody/Suzanne Freilich/Helen Goodchild/Aisling Kearns/Ann Marie Lawson/Iosif Lazaridis/Matthew Mah/Swapan Mallick/Kirsten Mandl/Adam Micco/Megan Michel/Guillermo Bravo Morante/Jonas Oppenheimer/Kadir Toykan Özdoğan/Lijun Qiu/Constanze Schattke/Kristin Stewardson/J. Noah Workman/Fatma Zalzala/Zhao Zhang/Bibiana Agustí/Tim Allen/Katalin Almássy/Luc Amkreutz/Abigail Ash/Christèle Baillif-Ducros/Alistair Barclay/László Bartosiewicz/Katherine Baxter/Zsolt Bernert/Jan Blažek/Mario Bodružić/Philippe Boissinot/Clive Bonsall/Pippa Bradley/Marcus Brittain/Alison Brookes/Fraser Brown/Lisa Brown/ Richard Brunning/Chelsea Budd/Josip Burmaz/Sylvain Canet/Silvia Carnicero-Cáceres/ Morana Čaušević-Bully/Andrew Chamberlain/Sébastien Chauvin/Sharon Clough/Natalija Čondić/Alfredo Coppa/Oliver Craig/Matija Črešnar/Vicki Cummings/Szabolcs Czifra/Alžběta Danielisová/Robin Daniels/Alex Davies/Philip de Jersey/Jody Deacon/Csilla Deminger/Peter W. Ditchfield/Marko Dizdar/Miroslav Dobeš/Miluše Dobisíková/László Domboróczki/ Gail Drinkall/Ana Đukić/Michal Ernée/Christopher Evans/Jane Evans/Manuel FernándezGötz/Slavica Filipović/Andrew Fitzpatrick/Harry Fokkens/Chris Fowler/Allison Fox/Zsolt Gallina/Michelle Gamble/Manuel R. González Morales/Borja González-Rabanal/Adrian Green/Katalin Gyenesei/Diederick Habermehl/Tamás Hajdu/Derek Hamilton/James Harris/ Chris Hayden/Joep Hendriks/Bénédicte Hernu/Gill Hey/Milan Horňák/Gábor Ilon/Eszter Istvánovits/Andy M. Jones/Martina Blečić Kavur/Kevin Kazek/Robert A. Kenyon/Amal Khreisheh/Viktória Kiss/Jos Kleijne/Mark Knight/Lisette M. Kootker/Péter F. Kovács/Anita Kozubová/Gabriella Kulcsár/Valéria Kulcsár/Christophe Le Pennec/Michael Legge/Matt Leivers/

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Es besteht daher die Gefahr, dass ‚migration‘ im genetischen Sinn in der historischen Interpretation als Beweis für eine historische Migration genommen wird. ‚Gene flow‘ und die Verbreitung genetischer ‚ancestries‘ sind allein aber noch nicht ausreichend, um migratorische Ereignisse zu beweisen, ebenso wenig es wie die archäologisch festgestellte Ausbreitung bestimmter Typen von Fundgut kann. Solche Befunde bedürfen einer sorgsamen interdisziplinären Abstimmung zunächst unabhängig voneinander erzielter disziplinärer Ergebnisse. (7) Tendenz zur Biologisierung von Ethnizität

Bis in die 2000er Jahre herrschte in der Paläogenetik die Grundannahme, dass Völkername, archäologische Kultur und Sprache letztlich Ausdruck einer genetisch bestimmbaren Gruppe wären.66 Als methodisches Apriori ist diese Annahme seither aufgegeben, weil die Analyseeinheit nicht mehr die Gruppe, sondern das Individuum ist. Dennoch werden noch zu oft bestimmte genetische Cluster recht unbekümmert mit Volksnamen versehen, auch wenn inzwischen vielen Genetikerinnen und Genetikern das Problem bewusst ist. Meier und Patzold haben an der (in vieler Hinsicht bahnbrechenden) Studie von Stefan Schiffels und anderen im angelsächsischen Bereich zutreffend moniert  : „Das Label ‚Anglo-Saxon‘ dient als Bezeichnung für eine Periode der britischen Geschichte (…), archäologisches Fundmaterial, das sich durch Louise Loe/Olalla López-Costas/Tom Lord/Dženi Los/James Lyall/Ana B. Marín-Arroyo/Philip Mason/Damir Matošević/Andy Maxted/Lauren McIntyre/Jacqueline McKinley/Kathleen McSweeney/Bernard Meijlink/Balázs G. Mende/Marko Menđušić/Milan Metlička/Sophie Meyer/Kristina Mihovilić/Lidija Milasinovic/Steve Minnitt/Joanna Moore/Geoff Morley/ Graham Mullan/Margaréta Musilová/Benjamin Neil/Rebecca Nicholls/Mario Novak/Maria Pala/Martin Papworth/Cécile Paresys/Ricky Patten/Domagoj Perkić/Krisztina Pesti/Alba Petit/Katarína Petriščáková/Coline Pichon/Catriona Pickard/Zoltán Pilling/Theron Douglas Price/Siniša Radović/Rebecca Redfern/Branislav Resutík/Daniel T. Rhodes/Martin B. Richards/Amy Roberts/Jean Roefstra/Pavel Sankot/Alena Šefčáková/Alison Sheridan/Sabine Skae/Miroslava Šmolíková/Krisztina Somogyi/Ágnes Somogyvári/Mark Stephens/Géza Szabó/Anna Szécsényi-Nagy/Tamás Szeniczey/Jonathan Tabor/Károly Tankó/Clenis Tavarez Maria/Rachel Terry/Biba Teržan/Maria Teschler-Nicola/Jesús F. Torres-Martínez/Julien Trapp/Ross Turle/Ferenc Ujvári/Menno van der Heiden/Petr Veleminsky/Barbara Veselka/ Zdeněk Vytlačil/Clive Waddington/Paula Ware/Paul Wilkinson/Linda Wilson/Rob Wiseman/Eilidh Young/Joško Zaninović/Andrej Žitňan/Carles Lalueza-Fox/Peter de Knijff/Ian Barnes/Peter Halkon/Mark G. Thomas/Douglas J. Kennett/Barry Cunliffe/Malcolm Lillie/ Nadin Rohland/Ron Pinhasi/Ian Armit/David Reich, Large-scale Migration into Britain during the Middle to Late Bronze Age, in  : Nature 601, 2022, S. 588–594, doi  : 10.1038/s41586–021–04287–4. 66 Siehe etwa Stefan Burmeister, Does the Concept of Genetic Ancestry Reinforce Racism  ? A Commentary on the Discourse Practice of Archaeogenetics, in  : Bösl/Samida (Hg.), Next Generation Sequencing (wie Anm. 8), S. 41–46, doi  : 10.14512/tatup.30.2.41.

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bestimmte Formen auszeichnet (…), eine ethnisch denominierte Gruppe von Menschen [und] einen Typus des menschlichen Genoms“.67 Allerdings hat gerade die Schiffels-Studie das wesentliche Ergebnis gebracht, dass im Gräberfeld von Oakington das genetische Profil eines untersuchten Individuums nicht mit dem kulturellen Habitus übereinstimmt.68 Vielfach ist der Gebrauch ethnischer Etiketten in der Genetik einfach achtlos. In der Benennung von ‚ancestries‘, die sich aus einem individuellen Genom zurückverfolgen lassen, oder den ‚outgroups‘, von denen es sich unterscheidet, werden bislang recht unterschiedslos Völkernamen, Regionen, Fundplätze und Epochenbezeichnungen verwendet.69 Die Verwendung ethnischer Etiketten für genetische ‚ancestries‘ fällt jedoch um Jahrzehnte hinter den Forschungsstand zurück, den die Mittelalterforschung bereits erreicht hat. Berücksichtigt werden sollte auch, dass biologische Verwandtschaft nicht mit sozialer Verwandtschaft, Sex nicht mit Gender übereinstimmen muss. (8) Risiko des nationalistischen Missbrauchs genetischer Daten

Jeder missverständliche und schon gar bewusst biologistische Gebrauch ethnischer Kategorien begünstigt falsche Interpretationen in den Medien und ideologischen Missbrauch. Genetische Daten werden verbreitet für Zwecke der Identitätspolitik verwendet.70 Zum Beispiel werden in einer 2022 als pre-print publizierten und in manchem durchaus differenziert angelegten ungarischen Studie die „Conquerors“ (also die landnehmenden Ungarn von ca. 900 AD) als solche bis in die Bronzezeit in Westsibirien zurückverfolgt, wo sie sich von den (ebenfalls über Jahrtausende zurückprojizierten) ugrischen Mansis trennen.71 Damit wird eine nationale Identität im

67 Meier/Patzold, Gene und Geschichte (wie Anm.  2), S.  89  ; Schiffels u. a., Iron Age and Anglo-­ Saxon Genomes (wie Anm. 37). 68 Siehe auch Geary, Herausforderungen (wie Anm. 3), S. 49–51. 69 Aaron Panofsky/Catherine Bliss, Ambiguity and Scientific Authority. Population Classification in Genomic Science, in  : American Sociological Review 82, 2017, S. 59–87, doi  : 10.1177/0003122416685812  ; Eisenmann u. a., Reconciling Material Cultures (wie Anm. 58). 70 Hakenbeck, Genetics, Archaeology and the Far Right (wie Anm. 35). 71 Zoltán Maróti/Endre Neparáczki/Oszkár Schütz/Kitti Maár/Gergely Varga Bence Kovács/ Tibor Kalmár/Emil  Nyerki/István Nagy/Dóra Latinovics/Balázs Tihanyi/Antónia Marcsik/ György Pálfi/Zsolt Bernert/Zsolt Gallina/Ciprián Horváth/Sándor Varga/László Költő/István Raskó/Péter Nagy/Csilla Balogh/Albert Zink/Frank Maixner/Anders Götherström/Robert George/Csaba Szalontai/Gergely Szenthe/Erwin Gáll/Attila Kiss/Zsófia Rácz/Bence Gulyás/Bernadett Ny. Kovacsóczy/Szilárd Sándor Gaál/Péter Tomka/Tibor Török, Whole Genome Analysis Sheds Light on the Genetic Origin of Huns, Avars and Conquering Hungarians, pre-print in  : (aufgerufen am 15.02.2023).

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Stil des späten 19. Jahrhunderts auf eine (ebenfalls auf klare Identifikationen mit Sarmaten und Hunnen zugespitzte) Abfolge von Prozessen der ‚admixture‘ aufgepfropft. Den Autorinnen und Autoren scheint der Widerspruch zwischen diesen beiden sehr unterschiedlichen Modellen – lineare Herkunftserzählung und Rekonstruktion von komplexen Vermischungen – gar nicht aufzufallen. In einer Weise, die an die Zeit vor einem Jahrhundert erinnert, wird in vielen osteuropäischen Ländern die ferne Vergangenheit wieder als Identitätsressource verwendet.72 Die genetische ‚ancestry‘ kann dazu dienen, die Distanz zwischen den mittelalterlichen Vorfahren in ihren stolzen Reichen und der Gegenwart zu überbrücken, bis hin zur Behauptung, die eigene Nation habe schon immer existiert. Das Risiko des Missbrauchs genetischer Ergebnisse erfordert auch von der Genetik besondere Vorsicht bei der Kategorisierung und Interpretation ihrer Daten. Es sollte allerdings kein Argument dafür sein, archäogenetische Forschung überhaupt einzustellen, denn dann würde man sie ganz denjenigen überlassen, die sie missbrauchen wollen. (9) Wissenschaftliche Deutungsmacht gegenüber betroffenen Gruppen

Im Fall des ideologischen Missbrauchs genetischer Ergebnisse ist die Deutungshoheit der Wissenschaft gegenüber den Mächten, die wissenschaftliche Ergebnisse zu bestimmten politischen Zwecken missbrauchen wollen, oft begrenzt. Die Forderung ist naheliegend, bei den methodischen und erkenntnistheoretischen Grundsätzen keine Kompromisse zu schließen. Viel komplizierter gelagert ist ein anderer Fall von Konflikten zwischen genetischer Forschung und gesellschaftlichen Interessen, der vor allem in den USA zunehmend in Diskussion gerät und bei dem es zwischen der ‚weißen‘ Wissenschaft und nicht-weißen Bevölkerungsgruppen um die Deutungshoheit geht. Anlass sind zunächst Genomuntersuchungen bei indigenen Gemeinschaften oder

72 Im Internet findet sich etwa eine Karte des ‚Slawen-Gens‘ (eigentlich eine Haplogruppe) mit der Behauptung, sie zeige „the common genetic origin of all Slavs. Slavs are not only a nation, but a unique race of people“  : (aufgerufen am 15.02.2023). Gegenüber solchen Betonungen slawischer ‚rassischer‘ Einheit stehen Bemühungen, die Diversität der Bevölkerung mancher slawischer Nationen zu betonen, was in der Ukraine 2022 bestürzende politische Relevanz gewann  ; vgl. Taras K. Oleksyk/Walter W. Wolfsberger/Alexandra M. Weber/Khrystyna Shchubelka/Olga T. Oleksyk/Olga Levchuk/Alla Patrus/Nelya Lazar/Stephanie O. CastroMarquez/Yaroslava Hasynets/Patricia Boldyzhar/Mikhailo Neymet/Alina Urbanovych/Viktoriya Stakhovska/Kateryna Malyar/Svitlana Chervyakova/Olena Podoroha/Natalia Kovalchuk/Juan L. Rodriguez-Flores/Weichen Zhou/Sarah Medley/Fabia Battistuzzi/Ryan Liu/ Yong Hou/Siru Chen/Huanming Yang/Meredith Yeager/Michael Dean/Ryan E. Mills/Volodymyr Smolanka, Genome Diversity in Ukraine, in  : GigaScience 10, January 2021, giaa159, doi  : 10.1093/ gigascience /giaa159.

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ihren – tatsächlichen oder vorgestellten – Vorfahren.73 Wer definiert die Zugehörigkeit zu den ‚first nations‘, die ‚harte‘ naturwissenschaftliche Deutungshoheit über Herkunft und biologische Identität oder die kulturelle Erinnerung und das Zugehörigkeitsbewusstsein der betroffenen (oder sich betroffen fühlenden) Gemeinschaft  ? Zunächst muss dazu betont werden, dass genetische Klassifizierungen ja nicht über soziale Identitäten entscheiden können. Allerdings wird der Fall dadurch kompliziert, dass die in manchen Fällen profitable Zugehörigkeit zu einer geschützten Gemeinschaft auch erschlichen werden kann, wofür genetische Nachweise relevant sein können. Ähnlich gelagert war der Fall einer neuen These über die Herkunft und den Zeitpunkt der Einwanderung auf der Pazifik-Inselgruppe Vanuatu, die David Reich aufgrund von vier analysierten Individuen aufstellte.74 Auf diese „sweeping claims“ antwortete ein Journalist mit einem ausführlichen Bericht im New York Times Magazine.75 Er konfrontierte den offensiven Wahrheitsanspruch des Genetikers aus Harvard sehr subtil mit den Vorstellungen der Indigenen von ihrer eigenen Vergangenheit, aber auch mit den Deutungen von im Bereich der Anthropologie und Archäologie zu diesen Fragen Forschenden, deren mehr hermeneutische und integrative Ansätze von der naturwissenschaftlichen Wahrheitslogik ebenfalls marginalisiert wurden. Lag die Sympathie des Autors der New York Times näher beim einheimischen Gewährsmann, für den die prähistorischen Höhlenmalereien seiner Insel von Geistern, nicht von Menschen, und schon gar nicht von den genetisch erschlossenen Einwanderern aus Asien gemalt worden waren  ? Zunehmend werden in der akademischen Welt der USA Stimmen laut, die solche ‚native truths‘ als gleichwertig mit den Ergebnissen der westlichen Wissenschaft betrachten.76 Das hängt auch mit der aktuellen Debatte über ‚Critical race theory‘ zusammen. Das alles sollte gerade in

73 Kim TallBear, Native American DNA. Tribal Belonging and the False Promise of Genetic Science, Minneapolis/London 2013. 74 Pontus Skoglund/Cosimo Posth/Kendra Sirak/Matthew Spriggs/Frederique Valentin/Stuart Bedford/Geoffrey R. Clark/Christian Reepmeyer/Fiona Petchey/Daniel Fernandes/Qiaomei Fu/Eadaoin Harney/Mark Lipson/Swapan Mallick/Mario Novak/Nadin Rohland/Kristin Stewardson/Syafiq Abdullah/Murray P. Cox/Françoise R. Friedlaender/Jonathan S. Friedlaender/Toomas Kivisild/George Koki/Pradiptajati Kusuma/D. Andrew Merriwether/Francois-Xavier Ricaut/Joseph T.S. Wee/Nick Patterson/Johannes Krause/Ron Pinhasi/David Reich, Genomic Insights Into the Peopling of the Southwest Pacific, in  : Nature 538, 2016, S. 510–513. 75 Gideon Lewis-Kraus, Is Ancient DNA Research Revealing New Truths – or Falling Into Old Traps  ? New York Times Magazine, 17.1.2019, (aufgerufen am 15.02.2023). 76 Jennifer Raff, Origin. A Genetic History of the Americas, New York 2022.

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den Geschichtswissenschaften aus schlechten historischen Erfahrungen heraus als Herausforderung zu einer kritischen Selbstprüfung verstanden werden. Dieser Deutungskonflikt wird uns auch als Historikerinnen und Historiker noch länger beschäftigen. Auf die in Jahrhunderten entwickelten und differenzierten epistemologischen Regeln für die Gültigkeit wissenschaftlicher Aussagen sollten wir nicht verzichten – dadurch würden sich Verschwörungstheoretiker, Holocaust-Leugner und andere Vertreter von ‚alternative truths‘ nur bestätigt fühlen. Doch müssen wir uns der eurozentrischen und kolonialistischen Vergangenheit unserer Geisteswie Naturwissenschaften stellen. Nichts in unserem Auftreten sollte an die Arroganz von Gelehrten der Kolonialzeit erinnern, die aus den ‚Häusern der Wissenschaft‘ auf den Gegenstand ihrer Untersuchungen herunterblicken. Die Versuchung mag in der Genetik größer sein als in der Mediävistik, aber die Herausforderung betrifft uns gleichermaßen.

Chancen einer Zusammenarbeit zwischen Geschichte und Archäogenetik In diesen und einigen weiteren Punkten, die man noch nennen könnte, stimme ich mit vielem überein, was in den letzten Jahren kritisch zur ‚genetischen Herausforderung‘ geäußert wurde. Die Deutungshoheit über historische Schlussfolgerungen sollten wir zurückgewinnen. Die Frage ist nur, wie wir als Mediävistinnen und Mediävisten damit umgehen. Elsbeth Bösl unterscheidet dabei zwischen drei möglichen Rollen  : Gatekeepern, die die Deutungshoheit ihrer Disziplin verteidigen, Übersetzern, die der Mediävistik Ergebnisse der Naturwissenschaften vermitteln wollen, und Kooperationsbefürwortern. Im Sinn der Letzteren sollte das Ziel sein, gemeinsam mit allen betroffenen Disziplinen eine interdisziplinäre Methodologie in den Bereichen zu entwickeln, in denen sie uns weiterhelfen kann. Es wäre schade, wenn sich die Debatte auf die Polemik beschränken würde, die in manchen der prononciertesten Stellungnahmen von mediävistischer und archäologischer Seite angeklungen ist. Dabei ist auch anzuerkennen, dass manche problematischen Entwicklungen auch in der Genetik selbst diskutiert werden und teils durch methodische Fortschritte bereits überholt sind. Die Archäogenetik ist eine neue Wissenschaft in rasanter Entwicklung, in der noch vieles im Fluss ist. Der Name selbst variiert noch stark, wie auch Jörg Feuchter und Stefanie Samida festgestellt haben  : Genetic History, Archäogenetik, Paläogenetik, Palaeogenomics, Molekulare Archäologie, Genetic Archaeology, Molecular Anthropology.77 In der Archäologie lässt sich das Forschungsfeld in 77 Elsbeth Bösl/Jörg Feuchter, Genetic History – Eine Herausforderung für die Geschichtswissen-

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die Scientific Archaeology einordnen. Innerhalb der Genetik lässt es sich gar nicht leicht verorten, wie ein Blick in gängige Wissenschafts-Systematiken lehrt. Zum Teil arbeitet die Archäogenetik populationsgenetisch, hat aber auch in der Gewinnung und Sequenzierung alter DNA aus Knochen (vor allem aus dem Felsenbein, eine von Ron Pinhasi entwickelte Methode) und Zähnen eigene differenzierte Verfahren und Algorithmen entwickeln müssen. Sie ist auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen, vor allem mit Archäologie und physischer Anthropologie. Dass bei der Untersuchung von Individuen aus historischen Zeiten auch Ergebnisse der Geschichtswissenschaften von Nutzen sind, wird zunehmend anerkannt. Einander als Hilfswissenschaften einzufrieden, würde diese Zusammenarbeit nicht befördern. In vielen Fragen der Archäogenetik historischer Zeiten kann die Mediävistik wenig beitragen, und in den meisten Feldern der Mittelalterforschung ist wenig von der Genetik zu erwarten.78 Es gibt aber eine Reihe von Gebieten, in denen eine Zusammenarbeit vielversprechend ist. Das betrifft vor allem die Frühmittelalterforschung und im Besonderen die Periode der ‚Transformation der Römischen Welt‘.79 Für viele der großen Fragen, die in den letzten Jahrzehnten kontrovers diskutiert wurden, könnten Genuntersuchungen wertvolle Beiträge liefern, auch wenn der Anspruch, die Genetik könnte diese Fragen lösen, unrealistisch wäre. Wie hat sich der Zerfall des Römischen Reiches auf die Bevölkerungsentwicklung ausgewirkt (oder umgekehrt)  ? Welchen Einfluss haben darauf die Wanderungen barbarischer Gruppen gehabt  ? Wie groß waren diese Gruppen, und wie waren sie zusammengesetzt  ? Waren die Völker, die in den schriftlichen Quellen als politische Akteure erscheinen, relativ einheitlichen Ursprungs oder eher ad hoc gebildet, vielleicht sogar Erzeugnisse „ethnographischer Ideologie“  ?80 Wie weit haben sich die Lebensbedingungen geändert  ? Wie haben sich Klimawandel und Epidemien in dieser Zeit gesellschaftlich ausgeschaften, in  : Neue Politische Literatur. Berichte aus Geschichts‐ und Politikwissenschaft 64, 2019, S. 237–268, doi  : 10.1007/s42520–019–00111–6. 78 Meier/Patzold, Gene und Geschichte (wie Anm.  2), S.  126  ; Geary, Herausforderungen (wie Anm. 3), S. 11. 79 Hans-Werner Goetz/Jörg Jarnut/Walter Pohl (Hg.), Regna and Gentes. The Relationship between Late Antique and Early Medieval Peoples and Kingdoms in the Transformation of the Roman World (The Transformation of the Roman World 13), Leiden/Boston/Köln 2003  ; Walter Pohl, The Transformation of the Roman World Revisited, in  : Jamie Kreiner/Helmut Reimitz (Hg.), Motions of Late Antiquity. Essays on Religion, Politics, and Society in Honour of Peter Brown, Turnhout 2016, S. 45– 62  ; Ian Wood, The Transformation of the Roman West, Leeds 2018. Vgl. dazu auch den Beitrag von Ian Wood in diesem Band. 80 Patrick Amory, People and Identity in Ostrogothic Italy, 489–554, Cambridge 1997  ; zur Kritik  : Walter Pohl, Gotische Identitäten, in  : Ulrich Wiemer (Hg.), Theoderich der Große und die Goten in Italien, München 2020, S. 315–339.

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wirkt  ? Welche Wandlungen der Verwandtschaftsstrukturen, Geschlechterrollen und Geschlechterverhältnisse lassen sich feststellen  ? Selbst in den Kernländern des schwindenden Westreiches erlauben die Schriftquellen in vielen dieser Fragen eine gewisse Bandbreite an Interpretationen. Für die außerrömischen Gebiete bieten die Texte meist nur lückenhafte Außenwahrnehmungen, allerdings mit einer relativ differenzierten und konsistenten Aufgliederung in Völker. Dazu haben wir vielfach reiche archäologische Befunde, die es wegen der in vielen Teilen Europas vorherrschenden Grabbeigabensitte erlauben, das recht allgemeine Bild der Schriftquellen mit einer Vielzahl individueller Profile zu konfrontieren. Naturwissenschaftliche Verfahren können dazu weitere Dimensionen ergänzen. Diese günstige Befundlage – Gruppenzuordnungen und von Stereotypen gefärbte ethnographische Wahrnehmungen in den Schriftquellen, archäologische Spuren des individuellen kulturellen Habitus im Grab sowie genetische und biochemische Informationen zu Herkunft und biologischer Verwandtschaft – gibt auch die Möglichkeit, Material zu einer allgemeinen methodischen Frage zu sammeln  : Wie weit und in welchen Fällen korrelieren genetische Cluster und damit biologische Beziehungen mit sozialer Gruppenbildung und kulturellen Gemeinsamkeiten  ? Diese Frage lässt sich sowohl bei Mikrostrukturen (Familien, Verwandtschaft) als auch im Makrobereich (Völker, ethnische Gruppen) neu stellen. Voraussetzung dafür ist natürlich die zunächst getrennte Interpretation der Daten. Das soll im Folgenden etwas detaillierter erörtert werden.81 (1) Bevölkerungsentwicklung

Die archäologischen Befunde erlauben vor allem dort, wo Grabfunde durch Beigaben gut datierbar sind, ein differenziertes Bild der Siedlungsgeschichte vieler Regionen. Die Genetik kann darüber hinaus bei ausreichenden Datenmengen auf demographische Entwicklungen schließen. In Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen kann sie auch eine Reihe von weiteren Parametern erforschen. Das betrifft vor allem die Zusammensetzung der jeweiligen Bevölkerung. Interessant sind dabei zum Beispiel Gräberfelder mit mehreren genetisch unterscheidbaren Gruppen, was etwa im 6. Jahrhundert in den langobardischen Siedlungsgebieten in Pannonien und Italien vorkommt.82 Die Archäologie kann oft nicht klären, ob und wann kulturelle Veränderungen im Grabritus oder Grabinventar einen Bevölkerungswechsel oder einen kul81 Siehe dazu auch das Kapitel ‚Auf dem Weg zu einer neuen integrierten genomischen Methodik‘ in Geary, Herausforderungen (wie Anm. 3), S. 29–32. 82 Amorim u. a., Understanding 6th-Century Barbarian Social Organization (wie Anm. 41).

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turellen Wandel abbilden. Dazu können Genomuntersuchungen oder Strontium-Isotopenanalysen wesentliche Befunde beitragen. Voraussetzung ist allerdings bislang Körperbestattung, sodass etwa die Ausbreitung der frühen Slawen, die Brandbestattung pflegten, zumindest derzeit noch schwer zu untersuchen ist. (2) Migrationen

Die Ausbreitung des Menschen über die Kontinente und die prähistorischen Wanderungen waren bis vor wenigen Jahren das fast ausschließliche Arbeitsgebiet der Archäogenetik. Die dabei angewandten Methoden können nun auch auf historische Wanderungen übertragen werden, wenn auch mit den methodischen Einschränkungen, die oben bereits angedeutet wurden. Die erschlossene ‚ancestry‘ lässt sich in den meisten Fällen geographisch lokalisieren, wobei derzeit ein Problem darin besteht, dass dabei oft moderne Genomdaten herangezogen werden müssen. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit von Daten aus alter DNA wird diese methodische Lücke aber bald geschlossen sein. Die Genetik kann aber kaum sauber auf einzelne Migrationsereignisse schließen oder diese genauer datieren. Auch beim Herkunftsraum der Zugewanderten lassen die Daten oft mehrere Deutungen zu. Hier erlaubt die Konfrontation mit historischen und archäologischen Quellen auch, diese Methoden und die damit in der Prähistorie getroffenen Schlussfolgerungen zu kalibrieren oder eventuell auch kritisch zu hinterfragen. Bisherige Ergebnisse haben meist den Erwartungen aufgrund der historischen Quellen mehr oder weniger entsprochen, allerdings auch geholfen, sie zu differenzieren. (3) Zusammensetzung ethnischer Gruppen

Die Erforschung der ‚Ethnogenesen‘ der Völkerwanderungszeit seit Wenskus und Wolfram hat gezeigt, dass die Zusammensetzung der ethnisch benannten wandernden Verbände der Völkerwanderungszeit kaum einheitlich war und sich tiefgreifend ändern konnte.83 Vieles deutet darauf hin, dass sie nicht biologisch, sondern letztlich subjektiv bestimmt waren. Dieser aus schriftlichen Quellen recht gut abgesicherte Befund wurde allerdings seither von zwei Seiten in Frage gestellt  : Sowohl von denen, die weiterhin im Wesentlichen eine tatsächliche gemeinsame Herkunft der Völ-

83 Wenskus, Stammesbildung (wie Anm. 15)  ; Herwig Wolfram, How Many Peoples Are (in) a People  ?, in  : Walter Pohl/Clemens Gantner/Richard Payne (Hg.), Visions of Community in the Post-Roman World. The West, Byzantium and the Islamic World, 300–1100, Farnham/Burlington 2012, S. 101–108  ; Walter Pohl, Introduction  : Strategies of Identification. A Methodological Profile, in  : Ders./Gerda Heydemann  (Hg.), Strategies of Identification. Ethnicity and Religion in Early Medieval Europe, Turnhout 2013, S. 1–64  ; Geary, Herausforderungen (wie Anm. 3), S.16–21.

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ker annehmen wollen,84 als auch von denen, die die Völker des Frühmittelalters für schattenhafte Fiktionen halten.85 Letztlich beruhten die Gegenargumente von beiden Seiten darauf, dass sie Ethnizität weiterhin biologisch definierten – auch bei ihren Gegnern, die dann eben Ethnizität als Kategorie überhaupt ablehnten.86 Was kann die Archäogenetik zu dieser Debatte beitragen  ? Der genetische Befund erlaubt, im Gegensatz zur in der Genetik lange vorherrschenden Meinung, keine klare Zuordnung von genetischen Clustern zu historisch genannten Völkern. Doch kann er den Grad der Einheitlichkeit oder Diversität im Siedlungsgebiet dieser Völker ausweisen, der dann wiederum Rückschlüsse auf ihre Zusammensetzung erlaubt. Unklar ist dabei noch, wie weit überhaupt genetische Unterschiede innerhalb der mitteleuropäischen Bevölkerung germanischer Sprachen festgestellt werden können. Deutlicher sichtbar ist die genetische Distanz im Awarenreich zwischen aus dem östlichen Zentralasien zugewanderten Gruppen und der restlichen Bevölkerung des Karpatenbeckens. Hier lassen sich dann auch Prozesse der Vermischung, ‚admixture‘ zwischen den beiden Gruppen rekonstruieren, wie erste Ergebnisse zeigen.87 (4) Biologische und soziale Verwandtschaft

Enge Verwandtschaft lässt sich mit genetischen Methoden gut feststellen, und inzwischen gibt es Algorithmen, die Verwandtschaftsgruppen bis zum 6. Grad und ihre wahrscheinlichste Anordnung in einem Stammbaum zu berechnen erlauben. Wenn ganze Gräberfelder analysiert werden, dann entsteht dabei ein guter Überblick auf die 84 Siehe etwa Jean-Michael Carrié, Une question en débat  : la transformation du monde romain et le rôle des barbares, Debatte mit François Baratte/Walter Pohl/Gisela Ripoll, in  : Perspective (Paris, INHA) 1, 2008, S. 19–28, doi  : 10.4000/perspective.3489. 85 Walter Goffart, Barbarian Tides. The Migration Age and the Later Roman Empire, Philadelphia 2006. 86 Ein gutes Beispiel dafür ist Erich Gruen, Did Ancient Identity Depend on Ethnicity  ? A Preliminary Probe, in  : Phoenix 67, 2013, S. 1–22, doi  : 10.7834/phoenix.67.1–2.0001, der eine besonders enge Definition von Ethnizität wählt (die sogar die Autochthonie umfasst), um mit ihrer Hilfe nachzuweisen, dass Ethnizität in der Antike keine Rolle spielte. 87 Guido Alberto Gnecchi-Ruscone/Anna Szécsényi-Nagy/István Koncz/Gergely Csiky/Zsófia Rácz/Adam B. Rohrlach/Guido Brandt/Nadin Rohland/Veronika Csáky/Olivia Cheronet/ Bea Szeifert/Tibor Ákos Rácz/András Benedek/Zsolt Bernert/Norbert Berta/Szabolcs Czifra/ János Dani/Zoltán Farkas/Tamara Hága/Tamás Hajdu/Mónika Jászberényi/Viktória Kisjuhász/ Barbara Kolozsi/Péter Major/Antónia Marcsi/Bernadett Ny. Kovacsóczy/Csilla Balogh/Gabriella M. Lezsák/János Gábor Ódor/Márta Szelekovszky/Tamás Szeniczey/Judit Tárnoki/Zoltán Tóth/Eszter K. Tutkovics/Balázs G. Mende/Patrick Geary/Walter Pohl/Tivadar Vida/Ron Pinhasi/David Reich/Zuzana Hofmanová/Choongwon Jeong/Johannes Krause, Ancient Genomes Reveal Origin and Rapid Trans-Eurasian Migration of 7th  Century Avar Elites, in  : Cell 185, 2022, S. 1–12, https://doi.org/10.1016/j.cell.2022.03.007.

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biologischen Beziehungen zwischen den Bestatteten. Freilich ergibt sich daraus dann nicht eine in der sozialen Welt tatsächlich existierende Familie oder Sippe, sondern ein Modell, das biologische Beziehungen sichtbar macht. Dieses Muster kann dann mit den archäologischen Befunden wie Grabausstattung oder Position im Gräberfeld verknüpft werden, was Hinweise auf die jeweilige soziale und kulturelle Bedeutung der biologischen Verwandtschaft ergibt.88 Umgekehrt hängt die genetische Entwicklung von sozialen und kulturellen Mustern ab, vor allem von den Strategien der Partnerwahl und Fortpflanzung. Bei günstiger Befundlage kann auch abgelesen werden, ob eine Vorrangstellung in der Gemeinschaft vererbbar war oder ob der im Grabritus demonstrierte soziale Status zwischen unterschiedlichen Gruppen wechselte. (5) Geschlechterverhältnisse

Die Rekonstruktion biologischer Familienstrukturen erlaubt auch wesentliche neue Erkenntnisse über Geschlechterverhältnisse und die Rolle von Frauen in den untersuchten Gemeinschaften.89 Präziser als die physische Anthropologie kann die Genetik das Geschlecht (oder in einigen Fällen einen biologischen Transgender-Status) feststellen. Das wiederum erlaubt etwaige Unterschiede zwischen dem biologischen Geschlecht und kulturellen Markern (z. B. Waffenbeigabe) zu entdecken.90 Sehr aufschlussreich sind auch Befunde von Patrilokalität oder Matrilokalität, über Herkunft der Frauen und die genetische Distanz von Männern zu den Müttern ihrer Kinder. Nicht selbstverständlich war es offenbar auch, dass die Mütter am selben Ort wie ihre Kinder bestattet wurden. Schließlich lassen Daten über Ernährungsweise, Abnützungsspuren durch harte Arbeit, Verletzungen, Krankheiten u.  ä. Rückschlüsse auf geschlechtsspezifische Belastungen zu. Fälle, bei denen Frauen oder Männer Kinder von mehreren Partnerinnen oder Partnern hatten (z. B. Frauen auch von ihrem 88 Eine anthropologische Sicht auf ‚kinship‘, Verwandtschaft, als „mutuality of being“ gibt Sahlins, What Kinship Is (wie Anm. 59). Er lehnt auch eine klare Scheidung in ‚metaphorische‘ und ‚reale‘ (biologische) Verwandtschaft ab, da „sexual intercourse is not prior to social relations between persons, rules of marriage, etc.“ (S. 63). Biologische und soziale Verwandtschaft sind daher vielfältig verknüpft  : „The different cultural discourses of procreation are highly variable as concerns the substantive relations of the parents with their offspring“ (S. 86). 89 Zu Gender-Problemen in der Archäologie  : Rosemary A. Joyce, Ancient Bodies, Ancient Lives. Sex, Gender, and Archaeology, London/New York 2008. 90 Ein berühmtes Beispiel  : Michael Greshko, Famous Viking Warrior Was a Woman, DNA Reveals, in  : National Geographic, September 12, 2017, (aufgerufen am 16.02.2023)  ; Ulla Moilanen/Tuija Kirkinen/Nelli-Johanna Saari/Adam B. Rohrlach/Johannes Krause/Päivi Onkamo/Elina Salmela, A Woman with a Sword  ? – Weapon Grave at Suontaka Vesitorninmäki, Finland, in  : European Journal of Archaeology 25, 2021, S. 1–19.

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Schwager oder Sohn, Leviratsbeziehungen), geben ebenfalls wesentliche Informationen über die soziale und nicht bloß die biologische Ebene der Geschlechter- und Verwandtschaftsverhältnisse. (6) Veränderung der Lebensformen

Das Leben in lokalen Gemeinschaften, und damit die Existenzbedingungen der überwiegenden Mehrheit der damaligen Bevölkerung, ist für die ersten Jahrhunderte nach dem Zerfall Westroms aus schriftlichen Quellen kaum zu erschließen. Das gilt umso mehr für die Gebiete an der Donau, in denen die römische Infrastruktur zusammengebrochen war oder nie existiert hatte. Im Zusammenspiel von Archäologie, Anthropologie, Genetik und Isotopenanalyse lassen sich zu vielen Lebensbereichen wichtige Spuren verfolgen. Die Untersuchung von Ernährungsgewohnheiten bzw. Mangelerscheinungen hat bereits manche Hinweise auf Änderungen des Nahrungsangebotes, lokale/regionale Schwankungen in der Nahrungsmittelversorgung oder status- oder geschlechtsabhängige Ernährung ergeben.91 Wichtig sind die Altersverteilung in Gräberfeldern und die unterschiedliche Ausstattung der Gräber je nach Altersstufe. In der Zusammenarbeit der Disziplinen können auch die Inzidenz und die Auswirkungen von Krankheiten festgestellt werden.92 Wieweit Unterschiede in diesen und ähnlichen Punkten mit Verwandtschaft oder unterschiedlicher ‚ancestry‘ korrelierten, kann sich aus dem Abgleich mit genetischen Resultaten ergeben. (7) Pathogene und Pandemien

Die genetische Erforschung von Krankheitserregern wird seit einiger Zeit von der Genetik mit einigem Aufwand betrieben, nicht zuletzt am Max-Planck-Institut in Leipzig. Ein Meilenstein war dabei der Nachweis, dass sowohl der ‚Schwarze Tod‘ des 14. Jahrhunderts als auch die ‚Justinianische Pest‘ des 6. Jahrhunderts von Yersinia pestis ausgelöst wurden.93 Nun kann man mit Meier und Patzold fragen, ob es der 91 Eine rezente Fallstudie   : Norbert Faragó/Erwin Gáll/Bence Gulyás/Antónia Marcsik/Erika Molnár/Annamária Bárány/Gergely Szenthe, Dietary and Cultural Differences between Neighbouring Communities. A Case Study on the Early Medieval Carpathian Basin (Avar and post-Avar period, 7th–9th/10th centuries AD), in  : Journal of Archaeological Science  : Reports 42, 2022, 103361. 92 Krause, Die Reise unserer Gene (wie Anm. 24), S. 171–226. 93 Marcel Keller/Maria A. Spyrou/Christiana L. Scheib/Gunnar U. Neumann/Andreas Kröpelin/ Brigitte Haas-Gebhard/Bernd Päffgen/Jochen Haberstroh/Albert Ribera i Lacomba/Claude Raynaud/Craig Cessford/Raphaël Durand/Peter Stadler/Kathrin Nägele/Jessica S. Bates/ Bernd Trautmann/Sarah A. Inskip/Joris Peters/John E. Robb/Toomas Kivisild/Dominique Castex/Michael McCormick/Kirsten  I. Bos/Michaela Harbeck/Alexander Herbig/Johannes Krause, Ancient Yersinia Pestis Genomes from across Western Europe Reveal Early Diversification during the First Pandemic (541–750), in  : Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS)

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Geschichtsforschung überhaupt weiterhilft, zu wissen, dass die beiden Pestwellen von diesem Erreger ausgelöst wurden.94 Meier und Patzold konzedieren selbst, dass die Sequenzierung der verschiedenen Varianten des Krankheitskeims relevant ist – dass Virusvarianten große Bedeutung für das Pandemiegeschehen haben können, haben wir bei COVID gelernt. Sie können zudem bei ausreichenden Daten in ihre Herkunftsgebiete zurückverfolgt werden, was die Ausbreitungswege klären hilft  ; manches spricht dafür, dass sie recht verzweigt waren. Die zunehmend raschere Anpassung von vielerlei Krankheitserregern an den Menschen ist für die Geschichte auch ein durchaus relevantes Thema. Die Erforschung von Yersinia pestis hat zum Beispiel eine Erklärung dafür geliefert, warum sich die Pest in mittelalterlichen Städten so rasch verbreiten konnte  : Der Erreger löste bei den Flöhen, die er befiel, die Bildung eines Sekrets aus, das den Saugrüssel verstopfte und die Aufnahme des gesaugten Blutes verhinderte  ; die Flöhe blieben hungrig und fielen einen Menschen nach dem anderen an, die sie alle anstecken konnten.95 Über die ‚Justinianische Pest‘ im Orient und in Italien sind wir aus schriftlichen Quellen, etwa dem ausführlichen Bericht bei Prokop, recht gut informiert.96 In vielen Gebieten Europas hat erst der Nachweis von Yersinia pestis gezeigt, dass sie auch betroffen waren. Er hilft auch, zu verstehen, wie mit den Pestopfern umgegangen wurde. Massengräber aus dem 6. Jahrhundert sind bisher kaum erschlossen worden  ; gleichzeitig durchgeführte Mehrfachbestattungen können ein Hinweis sein, müssen aber nicht. Viele Tote erhielten auch ein ordentliches Begräbnis. Ungeklärt ist noch, wie weit eher abgeschiedene ländliche Gemeinschaften mit geringer Mobilität betroffen waren – oder ob, auf der anderen Seite, unter den hochmobilen Reiterkriegern aus der Steppe viele Opfer zu beklagen waren. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Suche nach Yersinia pestis in Zähnen oder Knochen wesentlich mehr falsch-negative Ergebnisse liefert als heutige COVID-Schnelltests, sodass von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist.

116, 2019, S. 12363–12372. 94 Meier/Patzold, Gene und Geschichte (wie Anm. 2), S. 58–61. 95 B. Joseph Hinnebusch/Clayton O. Jarrett/David M. Bland, ‚Fleaing‘ the Plague. Adaptations of Yersinia Pestis to Its Insect Vector That Lead to Transmission, in  : Annual Review of Microbiology 71, 2017, S. 215–232. 96 Prokop, Bella 2.22–23, ed. Henry  B. Dewing, Procopius, History of the Wars 1, Cambridge 1914, S. 451–473  ; Lester K. Little (Hg.), Plague and the End of Antiquity. The Pandemic of 541–750, Cambridge 2007  ; darin auch Michael McCormick, Toward a Molecular History of the Justinianic Pandemic, S. 290–312.

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Das Projekt HistoGenes Zum Abschluss dieses Überblicks möchte ich ein interdisziplinäres Projekt vorstellen, in dem versucht wird, dieses Erkenntnispotenzial für ein besseres historisches Bild vom Frühmittelalter zu nützen, die oben dargestellten Probleme so weit wie eben möglich zu vermeiden und dabei die Methodik der Zusammenarbeit zwischen allen befassten kultur- und naturwissenschaftlichen Disziplinen weiterzuentwickeln. Der Aufbau des Projektes ergab sich aus einem weitgehenden Konsens der recht umfangreichen beteiligten Forschungsgruppe aus mehreren Ländern und Fachrichtungen über die Probleme des Feldes und den deshalb einzuschlagenden Weg. Das Projekt hat im Mai 2020 begonnen und läuft bis 2026. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrages gibt es eine sehr anregende Zusammenarbeit, einen funktionierenden und sehr komplexen Workflow und vielversprechende Teilergebnisse, aber erst wenige publizierte Resultate.97 Das Projekt ‚HistoGenes. Integrating genetic, archaeological and historical perspectives on Eastern Central Europe, 400–900 AD‘, wird aus einem ERC Synergy Grant finanziert.98 Die Principal Investigators sind zwei Mediävisten, Patrick J. Geary (Institute for Advanced Study, Princeton) und Walter Pohl (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien), der ungarische Archäologe Tivadar Vida von der ELTE-Universität Budapest sowie der Genetiker Johannes Krause vom MPI für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Leitend beteiligt sind auch die Genetikerinnen Zuzana Hofmanová vom MPI Leipzig und Anna Szécsényi-Nagy vom Laboratorium für Archäogenetik in Budapest, der Populationsgenetiker Krishna Veeramah von der SUNY Stony Brook in New York, die Anthropologin Margit Berner vom Naturhistorischen Museum in Wien und die Isotopen-Spezialistin Corina Knipper am Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie in Mannheim.

97 Die im Zusammenhang des Projektes diskutierten und fertiggestellten Studien von Gnecchi-Ruscone u. a., Ancient Genomes (wie Anm.  87)  ; und von Deven N. Vyas/István Koncz/Alessandra Modi/Balázs Gusztáv Mende/Yijie Tian/Paolo Francalacci/Martina Lari/Stefania Vai/Péter Straub/Zsolt Gallina/Tamás Szeniczey/Tamás Hajdu/Rita Radzevičiūtė/Zuzana Hofmanová/Sándor Évinger/Zsolt Bernert/Walter Pohl/David Caramelli/Tivadar Vida/Patrick J. Geary/Krishna R. Veeramah, Investigating Community Formation (wie Anm. 44), sind aus kleineren Vorprojekten entstanden. 98 Webseite  : (aufgerufen am 16.02.2023). Mehr über das Projekt  : Patrick J. Geary/Johannes Krause/Walter Pohl/Tivadar Vida, Integrating Genetic, Archaeological, and Historical Perspectives on Eastern Central Europe, 400–900 AD  : Brief Description of the ERC Synergy Grant – HistoGenes 856453, in  : Historical Studies on Central Europe 1, 2021, S. 213–228, doi  : 10.47074/HSCE.2021–1.09.

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Thema des Projektes ist die Bevölkerungsgeschichte Ostmitteleuropas vom 5. bis zum 9. Jahrhundert. Das Karpatenbecken ist die Region in Europa mit den meisten bezeugten Bevölkerungsbewegungen in dieser Epoche  : Explizit in den Schriftquellen genannt werden Zu- oder Abwanderungen von Sueben, Vandalen, Alanen, Sarmaten, Goten, Gepiden, Hunnen, Rugiern, Skiren, Herulern, Langobarden, Pannoniern, Awaren, Kutriguren, Bulgaren, Slawen, Franken und anderen.99 Die meisten davon errichteten mehr oder weniger kurzfristige Herrschaftsbereiche, nur die Awaren geboten etwa ein Vierteljahrtausend lang über die Region.100 Aus dieser Epoche sind außergewöhnlich gute archäologische Daten verfügbar, insgesamt über 100.000 erschlossene Gräber, viele davon mit Beigaben und einem vergleichsweise guten Publikationsstand.101 Mit einer in der aDNA-Forschung bisher nicht erreichten Zahl von über 6000 Proben, die daraus gewonnen wurden, ergibt sich nicht nur für viele Forschungsfragen eine gute Datengrundlage, diese allgemein zugänglichen Genomdaten werden dann auch als Referenzgruppen für viele weitere Projekte zur Verfügung stehen. Auf der Grundlage der schriftlichen und archäologischen Quellen, deren Untersuchung im Lauf des Projektes vertieft werden soll, und der neuen genetischen und bioarchäologischen Daten lassen sich zahlreiche Fragen differenzierter beantworten oder auch neu stellen. Die Untersuchung bewegt sich dabei zum einen auf der Makro-Ebene, wo große Bevölkerungsverschiebungen beobachtet werden können. Welchen Einfluss hatten Migrationen auf die Bevölkerungsentwicklung  ? Kamen und gingen nur herrschende Gruppen, während die provinziale Bevölkerung und allmählich dazugekommene ‚barbarische‘ Siedler ansässig blieben  ? Oder gab es stärkere Brüche in der Siedlungsgeschichte  ? Diese Entwicklung verlief offenbar in verschiedenen Gebieten unterschiedlich. Wie stark war das zentralasiatische Element im 99 Siehe u. a. Roland Steinacher, Rom und die Barbaren. Völker im Alpen- und Donauraum (300– 600), Stuttgart 2017  ; Walter Pohl, Barbarische Herrschaftsbildungen in Spätantike und frühbyzantinischer Zeit, in  : Fritz Mitthof/Peter Schreiner/Oliver Jens Schmitt (Hg.), Handbuch zur Geschichte Südosteuropas, Bd. 1  : Herrschaft und Politik in Südosteuropa von der römischen Antike bis 1300, 2. Teilband, Berlin/Boston 2019, S. 543–599. 100 Walter Pohl, The Avars. A Steppe Empire in Central Europe, 567–822, Ithaca 2018. 101 Siehe etwa Falko Daim, Avars and Avar Archaeology. An Introduction, in  : Goetz/Jarnut/ Pohl (Hg.), Regna and Gentes (wie Anm. 79), S. 463–570  ; Tivadar Vida, The Many Identities of the Barbarians in the Middle Danube Region in the Early Middle Ages, in  : Jorge López Quiroga/Michel Kazanski/Vujadin Ivanišević (Hg.), Entangled Identities and Otherness in Late Antique and Early Medieval Europe. Historical, Archaeological and Bioarchaeological Approaches, Oxford 2017, S.  120–131  ; Csanád Bálint, The Avars, Byzantium and Italy. A Study in Chorology and Cultural History, Budapest 2019  ; Zsófia Rácz/Gergely Szenthe (Hg.), Attila’s Europe  ? Structural Transformation and Strategies of Success in the European Period, Budapest 2021.

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Awarenreich, und wie weit hat es sich mit anderen Bevölkerungsgruppen vermischt  ? Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass tatsächlich eine größere Gruppe der Führungsschicht des Khaganats aus dem östlichen Zentralasien stammte. Das erleichtert die genetische Unterscheidung und die Rekonstruktion von ‚admixture‘.102 Schwieriger zu erfassen ist die Slawisierung großer Gebiete Ostmitteleuropas, die sich wegen der vorherrschenden Brandbestattung und der fast ausschließlichen Verwendung organischer Materialien bis zum 8. Jahrhundert auch archäologisch nur schwer nachvollziehen lässt. Handelte es sich um Zuwanderungen, oder wurden große Gruppen der Vorbevölkerung slawisiert  ?103 Erst im 9. Jahrhundert findet sich an der Mittleren Donau verbreitet Körperbestattung in slawischen Gruppen zugeschriebenen Gräbern. Es muss allerdings noch einmal betont werden, dass es nicht Ziel des Projektes sein kann, aufgrund genetischer Daten eine ethnische Zuordnung von Individuen oder lokalen Bevölkerungen vorzunehmen. Auf der Mikro-Ebene erlauben die naturwissenschaftlichen Methoden im Kontext einer verfeinerten archäologischen und anthropologischen Untersuchung, ein viel besseres Bild lokaler Gemeinschaften zu gewinnen  : innere Struktur und sozialer Status, Sex und Gender, Ernährung, Arbeitsbelastung, Mobilität, regionaler Austausch, Spuren von Kampf und Gewalt, Verletzungen und Krankheiten, der Umgang mit dem Körper (z. B. Schädeldeformation) und manches mehr. Besonders vielversprechend sind erste Ergebnisse zur biologischen Verwandtschaft und zu den Geschlechterverhältnissen. Sie sind unter anderem dazu geeignet, einem verbreiteten Missverständnis abzuhelfen  : Im Lauf von wenigen Generationen kann sich die ‚ancestry‘ innerhalb einer Verwandtschaftsgruppe stark verschieben. Nicht der ‚Stammvater‘ prägt das genetische Profil einer patrilinearen Familie, sondern viel mehr die Mütter, die von Generation zu Generation von außen dazukommen. Dabei sind im Untersuchungszeitraum sehr unterschiedliche Reproduktionsstrategien erkennbar. Zu diesen Studien auf Mikro-Ebene können die Schriftquellen wenig beitragen. In der aggregierten Form werden die Ergebnisse aber eine wesentlich plastischere historische Erzählung von den Lebensverhältnissen in Ostmitteleuropa und ihrer Veränderung zwischen Antike und Mittelalter ermöglichen.

102 Gnecchi-Ruscone u. a., Ancient Genomes (wie Anm. 87). 103 Florin Curta, The Making of the Slavs. History and Archaeology of the Lower Danube Region, c. 500–700, Cambridge 2001  ; Danijel Dzino, Becoming Slav, Becoming Croat. Identity Transformations in Post-Roman and Early Medieval Dalmatia, Leiden/Boston 2010  ; Gabriel Fusek, Frühe Slawen im Mitteldonaugebiet, in  : Jürgen Bemmann/Michael Schmauder  (Hg.), Kulturwandel in Mitteleuropa. Langobarden – Awaren – Slawen, Bonn 2008, S. 645–656  ; Pohl, Avars (wie Anm. 100), S. 117–162.

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Auf der Meta-Ebene erprobt das HistoGenes-Projekt die folgenden methodischen Grundsätze für interdisziplinäre Forschungen im Bereich der Archäogenetik historischer Zeiten, die hoffentlich die existierenden Deutungskonflikte abbauen können  : – In den Schriftquellen benannte (historische), archäologisch fassbare (kulturelle) und genetisch erschlossene biologische Gruppen müssen getrennt konstituiert werden, um in einem weiteren Schritt mögliche Überlappungen und Unterschiede der jeweiligen Zuordnung klären zu können. – Die Chronologie muss ebenfalls unabhängig voneinander erarbeitet und dann verglichen werden. Die bioinformatische Methode, Verwandtschaftsverhältnisse bis zu sechs Generationen zu Stammbäumen ordnen zu können, erlaubt die Konstruktion einer hypothetischen Generationenabfolge. In einem zweiten Schritt kann diese Relativchronologie mit derjenigen der Grabbeigaben, mit den Ergebnissen von 14C-Untersuchungen und mit eventuellen absolut-chronologischen Hinweisen (z. B. Münzbeigaben) abgeglichen werden. – Wo möglich werden ganze Gräberfelder archäologisch, genetisch und mit anderen naturwissenschaftlichen Methoden untersucht – statt des bisher vorherrschenden genetischen Eklektizismus, der die Unterschiedlichkeit der in einem Gräberfeld Bestatteten vernachlässigt. – Alle Disziplinen sind am Projekt von seiner Entwicklung, der Festlegung der Forschungsfragen und der Beprobungsstrategie bis zur Interpretation der Ergebnisse beteiligt. – Terminologie und Methodik werden ständig begleitend diskutiert und weiterentwickelt. – Die zugrunde liegende Absicht des Projektes, und dieses Aufsatzes, lässt sich gemäß dem Thema dieses Bandes auch so umschreiben  : von Deutungskonflikten zur Entwicklung gemeinsamer Deutungsstrategien. Ob das gelingt, wird sich zeigen.

Juliane Schiel

Zur Anwendung hochmoderner Theorien auf das Mittelalter am Beispiel der ‚Critical Race Theory‘ Ein Beitrag zum wissenschaftlichen Umgang mit einer kontroversen Forschungssituation1 Die Geschichtswissenschaften als Seismograph Die Geschichtswissenschaften fungieren seit jeher als Seismograph gesellschaftlicher Zustände. Die Fragen, die Historikerinnen und Historiker an die Vergangenheit richten, die Themen, die sie als relevant identifizieren, die Kontroversen, die sie ausfechten, stehen immer in einem Wechselverhältnis zur eigenen Gegenwart, egal, wie weit der Untersuchungsgegenstand zeitlich oder räumlich vom eigenen Standpunkt entfernt scheint. Die Geschichte der Geschichtswissenschaften ließe sich deshalb von den großen Methodenstreiten des 19. und 20. Jahrhunderts bis zu den jüngsten Wellenbewegungen der sich zunehmend überschlagenden Turns als eine seismographische Nachverfolgung von Spiegelgeschichten erzählen  ; Geschichten, die sich wechselseitig bedingen und antreiben und zuweilen bizarre Zerrbilder entstehen lassen. So trafen die Vertreter des Historismus den Nerv ihrer Zeit, als sie, da junge Nationen ihre politische und kulturelle Identität suchten und sich auf internationalen Weltausstellungen miteinander maßen, groß angelegte Editionsprojekte und Sammlungen initiierten und Archive und Museen gründeten, um die geschichtliche Herkunft der verschiedenen Völker erstmals empirisch zu erforschen.2 Die Erfahrung des totalen Krieges, die Einführung demokratischer Systeme und des allgemeinen Wahlrechts brachte wenig später eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte hervor, die 1 Herzlich danken möchte ich Valeska Huber, Claudia Moddelmog, Claude Chevaleyre, Thomas Bammer und meinen Globalgeschichte-Master-Studierenden an der Universität Wien, mit denen ich in Vorbereitung auf diesen Beitrag viele anregende und zuweilen aufwühlende Gespräche zum Thema hatte und die teilweise frühere Textfassungen gegengelesen und kritisch kommentiert haben. 2 Leopold von Ranke, Vorrede zu den ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535‘ (Orig. 1824), in  : Wolfgang Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990, S. 42–46  ; Johan Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, München 1937, S. 332–344. Kritisch dazu  : Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (= Unzeitgemäße Betrachtung II), in  : Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München/ Berlin/New York 1980, Abt. III, Bd. 1, S. 241–330.

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dafür eintrat, dass ihr Untersuchungsgegenstand nicht auf die „Geschichte der großen Männer und Taten“ beschränkt sein konnte, sondern die Geschichte aller „Menschen in der Zeit“ umfassen musste.3 Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs wiederum rückte das ambivalente Verhältnis der Geschichtswissenschaften zur Macht in den Blick. Dem Vorwurf von der Geschichte als Legitimierungswissenschaft setzte die Nachkriegsgeneration deshalb eine Vertheoretisierung der Geschichtswissenschaft entgegen und suchte mit strukturalistischen Modernisierungstheorien das Unfassbare als Ausnahme domestizierbar zu machen.4 Die darauffolgende Teilung der Welt in Ost und West spiegelte sich in der Themenwahl und den wissenschaftlichen Deutungsstreitigkeiten zwischen Historikerinnen und Historikern mit unterschiedlichen Parteibüchern wider, in welcher die Haltung zur Marx’schen Gesellschaftsanalyse und materialistischen Konzeptionen von Geschichte unter Historikerinnen und Historikern kapitalistischer und sozialistischer Länder zur Gretchenfrage wurde.5 Die Generation der 68er-Revolution adressierte das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum, von Struktur und Agency und stellte die Frage nach der Macht und politischen Verantwortung auf neue, radikalere Weise.6 Der Fall des Eisernen Vorhangs, die Öffnung der Grenzen und die spürbare Globalisierung aller Lebensbereiche hatten schließlich nicht nur kurzzeitig das euphorische Gefühl befördert, am „Ende der Geschichte“ angelangt zu sein.7 Sie hatten auch den Aufstieg einer Kulturgeschichte mitbefördert, die für eine Überwindung der Nationalgeschichtsschreibung eintrat und dem jungen Feld der Globalgeschichte als einer fröhlichen, hoffnungsfrohen

3 Marc Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, Stuttgart 2002 (nach der von Etienne Bloch edierten franz. Ausgabe, hg. von Peter Schöttler), S. 23–54. 4 Reinhart Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in   : Werner Conze  (Hg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, S.  10–28  ; Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, in  : Ders., Die Gegenwart als Geschichte. Essays, München 1995, S. 13–59, 266–284. 5 Vgl. die dezidiert nicht-marxistische Gesellschaftsanalyse der Bielefelder Schule auf der einen und die marxistisch inspirierte Sozial- und Arbeitergeschichte à la E. P. Thompson oder Eric Hobsbawm  : Bettina Hitzer/Thomas Welskopp (Hg.), Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen, Bielefeld 2010  ; Edward P. Thompson, The Making of the English Working Class, London 1968  ; Eric Hobsbawm, The Age of Revolution, 1789–1848, New York 1962. Auch innerhalb der mediävistischen Sozialgeschichte war die Grenze zwischen den Anhängern der marxistischen Sozialgeschichte und den Anhängern der Weberianischen Gesellschaftsanalyse spürbar  : Michael Borgolte, Sozialgeschichte des Mittelalters. Eine Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit, München 1996. 6 Michael Maset, Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung, Frankfurt am Main 2002. 7 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, London 1992.

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Geschichte grenzüberschreitenden Kulturtransfers und Kulturaustauschs den Boden bereitete.8 Heute ist diese optimistische Sicht auf Geschichte einer eher düsteren, vor allem aber (selbst)kritischeren Geschichtsschreibung gewichen. Die selbstsicheren Globalhistorikerinnen und -historiker der ersten Generation wurden an vielen Orten abgelöst von einer Generation, die die postkoloniale Kritik à la Edward Said, Homi Bhabha, Gayatri Chakravorty Spivak oder Dipesh Chakrabarty vor dem Hintergrund nicht überwundener Geschlechterungerechtigkeit und anhaltender Klassen- und Rassenunterschiede in Gesellschaft und Wissenschaft mit neuer Vehemenz vorbringt und auf sich selbst anwendet.9 Es ist eine Generation, die im Angesicht wachsender globaler Ungleichheiten, neuer Kriege und eines rasant voranschreitenden Klimawandels Selbstverständlichkeiten modernen Denkens als eurozentrische, aber überaus (wirkungs)mächtige Fortschrittsnarrative entlarvt  ; eine Generation, die die unterdrückten Stimmen der Geschichte auf Platz eins der geschichtswissenschaftlichen Agenda setzt und verbissen um Begriffe, Kategorien und Deutungen ringt. Während die fortschreitende Digitalisierung die Grenze zwischen virtuell und real, zwischen unecht und echt, zwischen FakeNews und tatsächlicher Berichterstattung unscharf werden lässt, wird auf gesellschaftlicher wie auf wissenschaftlicher Ebene (wieder) gestritten  : und zwar um richtig oder falsch, um Wahrheit oder Lüge, um politisch korrekt oder inkorrekt, um moralisch erlaubt oder unerlaubt. Die Mediävistik hat in dieser seismographischen Suchbewegung der Geschichtswissenschaften – wie Hans-Werner Goetz in seiner Einführung konstatiert – ­ihren Status als Leitwissenschaft schon lange verloren. Möglicherweise ist es dem wirkmäch­tigen Theorem Reinhart Kosellecks über die ‚Sattelzeit‘ oder dem in alle ­geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen eingedrungenen Foucault’schen Mo­derne-­Narrativ

8 Vgl. Überblicksdarstellungen dieser Entwicklung unter anderem bei Matthias Middell, The Routledge Handbook of Transregional Studies, New York 2019  ; Matthias Middell, The Practice of Global History. European Perspectives, London 2019  ; Sebastian Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013  ; Sebastian Conrad, What is Global History  ?, Princeton 2016. Vgl. auch den Beitrag von Thomas Ertl in diesem Band. 9 Vgl. Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002  ; Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000  ; Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak  ? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008  ; Maria do Mar Castro Varela, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005. Häufig sind es auch dieselben Personen, die heute skeptischere Töne anschlagen als in der Gründungszeit der Globalgeschichte. Vgl. hierzu Stefanie Gänger/Jürgen Osterhammel, Denkpause für Globalgeschichte, in  : Merkur 74, 2020, H. 8, S. 79–86.

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geschuldet,10 dass die Zeit um 1800 zum großen historiographiegeschichtlichen Wendepunkt-Moment erklärt wurde und die Mittelalterforschung nicht mehr notwendiger Bestandteil einer universal gültigen Abstammungsgeschichte ist, sondern als Alterität im Eigenen, oder genauer gesagt  : als das Andere vor dem Eigenen, in den Exotenstatus gerückt ist. Zweifellos wirkte ‚das Mittelalter‘ mit der Integration der Area Studies in eine globalgeschichtlich gewendete, internationalisierte Geschichtswissenschaft selbst immer mehr wie eine eurozentrische Verengung. Diese allmähliche Marginalisierung des Mittelalters hatte jedenfalls einer fragwürdigen Entpolitisierung weiter Teile der Mediävistik Vorschub geleistet  : Lange Zeit machte es den Eindruck, als könne die Erforschung der Zeit vor dem europäischen Kolonialzeitalter von postkolonialer Kritik unberührt bleiben. Homi Bhabhas Votum  : „Postcolonial criticism bears witness to the unequal and uneven forces of cultural representation involved in the contest for political and social authority within the modern world order“ schien das Mittelalter nicht zu betreffen.11 Die frühe Studie von Janet L. Abu-Lughod „Before European Hege­ mony. The World System A.D. 1250–1350“, das die Grundlagen für eine Dezentrierung Europas in der Spätmittelalter-Geschichtsschreibung legt, ist damals (wie heute) unter Mediävistinnen und Mediävisten verhältnismäßig wenig wahrgenommen worden.12 Nach den großen Deutungsstreitigkeiten zum Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus im Zeichen des Kalten Krieges13 hat sich die jüngere Mediävistik in ihrer Themenwahl zwar immer wieder inspirieren lassen von den Fragen und Themen der Gegenwart und den Theorie- und Methodenangeboten der neueren Abteilungen der Geschichtswissenschaften, als wissenschaftliche Stimme mit eigenem politischen Gewicht hat sie sich jedoch kaum noch begriffen.14 10 Reinhart Koselleck, Einleitung, in  : Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XIII–XXVIII, hier S. XV  ; Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000  ; Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966. 11 Homi Bhabha, The Location of Culture, New York 1994, S. 171–194. 12 Janet L. Abu Lughod, Before European Hegemony. The World System A.D. 1250–1350, Oxford 1989. 13 Vgl. Maurice Dobb, Studies in the Development of Capitalism, London 1946  ; Paul Marlor Sweezy, The Transition from Feudalism to Capitalism, London 1976  ; Robert Brenner, Agrarian Class Structure and Economic Development in Pre-Industrial Europe, in  : Past & Present 70 (1976), S. 30–75  ; Ludolf Kuchenbuch, Feudalismus. Materialien zur Theorie und Geschichte, Frankfurt am Main/Wien 1977  ; Ludolf Kuchenbuch, Marx, feudal. Beiträge zur Gegenwart des Feudalismus in der Geschichtswissenschaft 1975–2021, Berlin 2022. 14 Dezidiert eingetreten für eine politische Einmischung der Mediävistik in politische und gesellschaftliche Debatten ist Michael Borgolte mit seiner Europaforschung  : vgl. unter anderen Michael Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt, 1050–1250 (Handbuch der Geschichte Europas III), Stuttgart 2002  ; Ders., Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes, 300–1400 n. Chr. (Siedler Geschichte Europas), München 2006.

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In diesen Rahmen ordnet sich auch die Entwicklung der ‚Critical Race Theory‘ und ihre Bedeutung für geschichtswissenschaftliches Forschen ein. In den 1970er und 1980er Jahren in den USA als politische Bewegung entstanden, hatte die ‚Critical Race Theory‘ unter Rückgriff auf die ‚Critical Legal Studies‘ für die Intersektionalität von ‚Rasse‘, ‚Klasse‘, ‚Geschlecht‘ und ‚Behinderung‘ bei der rechtlichen und sozialen Diskriminierung von Gruppen in der US-amerikanischen Gesellschaft sensibilisieren wollen. Dieser Ansatz ist im Zuge der neueren, postkolonial inspirierten Globalgeschichte zunehmend auch für die Analyse historischer Gesellschaften herangezogen worden.15 Der Fokus lag aber klar auf kolonialen und postkolonialen Gesellschaften der Moderne  ; mediävistische Diskussionen zur Bedeutung von Hautfarben oder dem Umgang mit Minderheiten blieben zunächst unberührt von den teils explosiven Auseinandersetzungen zwischen Aktivistinnen und Aktivisten der ‚Critical Race Theory‘ und den mit der modernen Welt befassten Geschichtswissenschaften.

Die ‚Critical Race Theory‘ und das Mittelalter Die 2017/18 rund um eine Mittelalter-Konferenz und ein mediävistisches Buch entflammte Debatte um ‚Race‘ und ‚Diversity‘ hat diese Situation schlagartig verändert. 2017 versammelten sich an einer der weltweit größten Mediävistik-Konferenzen, dem International Medieval Congress in Leeds, über 2000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus mehr als 60 Ländern zum Thema ‚Otherness‘ im Mittelalter,16 und 2018 erschien das viel diskutierte Buch der Literaturwissenschaftlerin Geraldine Heng, „The Invention of Race in the European Middle Ages“, in Cambridge University Press.17 Beide Ereignisse führten den seismographischen Charakter geschichtswissenschaftlicher Kontroversen in aller Deutlichkeit vor Augen und riefen die Mediävistik zurück an den politischen Verhandlungstisch. 2017 löste der Eindruck eines Teils der Teilnehmenden, dass die zentralen wissenschaftlichen Vorträge und Podiumsdiskussionen der Leeds-Konferenz zu mittelalterlicher Alterität mehrheitlich von „weißen Männern“ bestritten würden, auf der einen Seite selbstironische Witze und auf der anderen erboste Twitter-Kommentare aus.18 2018 plädierte Heng für eine „long history of race-ing“ und analysierte die mittelalterlichen Machtstrukturen von 15 Vgl. Kimberlé Crenshaw/Neil Gotanda/Gary Peller/Kendall Thomas (Hg.), Critical Race Theory. The Key Writings that Formated the Movement, New York 1995. 16 (aufgerufen am 16.02.2023). 17 Geraldine Heng, The Invention of Race of Race in the European Middle Ages, Cambridge 2018. 18 Vgl. beispielsweise (aufgerufen am 16.02.2023).

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ihren marginalisierten Rändern her neu.19 In sechs Fallstudien, von den Juden als Figur absoluter Differenz im Eigenen über die Sarazenen als Prototyp des äußeren Feinds und die Darstellung schwarzer Menschen in Kunst und Literatur bis hin zu den Indigenen Nordamerikas, den Mongolen und den Sinti und Roma, identifiziert sie zentrale Figuren und entscheidende Momente des mittelalterlichen „race-mak­ ing“. Die ‚Critical Race Theory‘ auf die Zeit vor 1500 nicht anzuwenden, würde das Mittelalter in seiner vermeintlich neutralen Rolle und als Projektionsfläche für romantische Alteritätsfantasien des Westens festschreiben, so ihr Argument. Wenn das Konzept von Rasse gemäß Ann Stoler als ein „empty vacuum“ aufzufassen ist und „a structural relationship for the articulation and management of human differences, rather than a substantive content“ bezeichnet, lasse sich Rasse ebenso gut für die Zeit des Mittelalters erforschen wie für das Zeitalter von Nationalismus, Kolonialismus und Imperialismus, so ihr Grundsatz.20 Hengs Buch wurde seitdem von einem Teil des Fachs als „paradigm-shifting must-read“ gefeiert und mit wissenschaftlichen Preisen überhäuft und von einem anderen Teil für die politische Vereinnahmung und anachronistische Auswertung historischer Quellen kritisiert.21

Who gets to speak for us? „Who gets to speak for us  ?“, ist nicht nur die Frage, die die seit 2013 von den USA ausgehende und weltweit rapide an Bedeutung gewinnende ‚Black-Lives-Matter‘-Bewegung stellt. Es ist auch die Frage der Vertreterinnen und Vertreter der postkolonialen Kritik und der ‚Critical Race Theory‘, die seit den Ereignissen von 2017/18 nun auch innerhalb der Mediävistik angekommen ist. Geraldine Heng beginnt ihr Buch, das ihrer eigenen Aussage zufolge so viele Leserinnen und Leser wie möglich erreichen soll, explizit mit dieser Frage.22 Als Mitglied der chinesischen Mehrheitsgesellschaft im dekolonisierten Singapur aufgewachsen, sei sie erst allmählich mit der Bedeutung

19 Heng (wie Anm. 17), S. 23. 20 Heng (wie Anm. 17), S. 19  ; Ann Laura Stoler, Racial Histories and Their Regimes of Truth, in  : Political Power and Social Theory 11, 1997, S. 183–206, hier  : S. 191. 21 Zur Rezeption vgl. besonders ausführlich und fundiert S. J. Pearce, The Inquisitor and the Moseret. ‚The Invention of Race in the European Middle Ages‘ and the New English Colonialism in Jewish Historiography, in  : Medieval Encounters 26, 2020, S. 145–190. Vgl. auch Juliane Schiel, Rezension zu  : Heng, Geraldine  : The Invention of Race in the European Middle Ages, Cambridge 2018, in  : H-Soz-Kult, 22.01.2020, (aufgerufen am 16.02.2023). 22 Heng (wie Anm. 17), S. 6.

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der Kategorie ‚Race‘ konfrontiert worden. Ein Gespräch mit einem älteren britischen Kollegen sollte viele Jahre später jedoch zu ihrem akademischen Klickmoment werden  : Der Kollege kritisierte Hengs postkoloniale Lesart mittelalterlicher Literatur als inadäquat wegen eines mangelnden Verständnisses für die Bedeutung des Altfranzösischen. „The irony was remarkable“, schreibt Heng  : „When the importance of French – an imperial language – is not sufficiently thematised and its literature sufficiently held up for attention, female nonwhite postcolonial subjects do not adequately practice ‚postcolonial‘ critical readings of medieval texts. A white Englishman at the metropolitan heart of the old British Empire had pronounced this ex cathedra.“23 Das gleichermaßen mutige wie umstrittene Buch hat in den vergangenen fünf Jahren wie wohl kaum eine andere Publikation der Mittelalterforschung polarisiert und fachwissenschaftliche wie (hochschul)politische Lagerkämpfe nach sich gezogen. Dabei hat sich die in erster Linie in den USA und mehrheitlich über Social Media geführte Debatte nicht zuletzt unter dem Eindruck der ‚Black-Lives-Matter‘-Bewegung immer stärker politisch und emotional aufgeheizt. Die Diskussionen auf Twitter und die Kolumnen der Tagespresse scheinen häufig beidseitig von absichtlichen und unabsichtlichen Missverständnissen geprägt, gut gemeinte wie ungewollte und falsche Solidarisierungen wirken oft eher eskalierend als deeskalierend.24 Mir geht es nun hier in diesem Beitrag nicht um eine erneute Besprechung des Buchs von Geraldine Heng und dessen komplexer Rezeption, sondern um die dahinterstehenden Anliegen beider Lager mit ihren jeweiligen wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Potenzialen. Da die Hitze der Debatte um ‚Race‘ und ‚Diversity‘ dabei gerade erst von den USA auf Europa überzugreifen beginnt, wäre es allerdings vermessen und verfrüht, diese Positionen hier (ähnlich wie andere Beiträge in diesem Band) zusammenfassend darstellen zu wollen. Hinzu kommt, dass sich die Diskussion in den europäischen Ländern je nach Form und Ausmaß ihrer vergangenen kolonialen Verwicklungen unterschiedlich niederschlägt. Die wissenschaftlich produktiven und hochschulpolitisch notwendigen ebenso wie die intellektuell und gesellschaftlich besorgniserregenden Anteile der Auseinandersetzung scheinen aber inzwischen zumindest so offenkundig, dass ich eine Reflexion entlang von notwendigerweise sehr subjektiven Beobachtungen wagen möchte. Dabei zielen meine Überlegungen auf die Frage ab, welche Antworten die europäische Mediävistik auf die hochexplosive Mischung politischer und wissenschaftlicher Anliegen finden kann.

23 Heng (wie Anm. 17), S. 2. 24 Vgl. z. B. (aufgerufen am 16. 02.2023).

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Beobachtungen aus einem benachbarten Themenfeld Meine Beobachtungen setzen mit Veränderungen in meinem eigenen Forschungsfeld und meiner Tätigkeit als Hochschullehrerin ein. Als ich 2010 begann, mich mit der mittelmeerischen Sklaverei des Spätmittelalters zu beschäftigen, fand ich mich im doppelten Sinne in einem Exotenstatus wieder. In mediävistischen Kreisen konzen­ trierten sich die Diskussionen auf abstrakte Definitionen von Sklaverei und die Frage, ob die Personen, die ab dem 14. Jahrhundert vermehrt vom Schwarzen Meer, vom östlichen Mittelmeer und vom Balkan in italienischen Haushalten zu finden waren, wirklich als Sklaven bezeichnet werden konnten. Obwohl einzelne Historiker wie Charles Verlinden, Sergej Karpov und Michel Balard jahrzehntelang archivalische Belege für Sklaven im mittelalterlichen Europa gesammelt und publiziert hatten,25 löste dieses Thema unter Mediävistinnen und Mediävisten weiterhin oft genug Erstaunen oder Irritation und zuweilen sogar Widerstand aus. Außerhalb mediävistischer Kreise stieß das Thema hingegen auf großes Interesse und Begeisterung. Die Sklavereiforschung hatte unter dem Eindruck der postkolonialen Kritik gerade begonnen, ihr herkömmliches Verständnis von Sklaverei als Teil eines westlichen Moderne-Narrativs zu hinterfragen und aus seiner transatlantischen Verengung zu lösen. Lange Zeit waren die in Ketten gelegten, schwarzafrikanischen Plantagenarbeiter Sinnbild einer westlichen Erfolgsgeschichte gewesen  : Die französische Aufklärung und die Revolutionen der westlichen Welt hatten nicht nur die Einführung allgemeiner Menschenrechte, sondern auch die weltweite Abschaffung der Sklaverei initiiert, so die bisherige Erzählung. Die Vertreterinnen und Vertreter der postkolonialen Kritik hatten die eurozentrische, fortschrittsgläubige und imperialistische Dimension dieses Narrativs entlarvt und die Aufmerksamkeit stattdessen neu auf das Fortbestehen und die Wiederkehr von Sklaverei und Sklaverei-ähnlichen Ausbeutungsverhältnissen in kolonialen und postkolonialen Gesellschaften gelenkt.26 Sklaverei wurde nicht länger als Rechtsinstitution definiert und erforscht, sondern als wandelbare und extrem anpassungsfähige „practices of slaving“.27 Eine Fallstudie zu den mittelalterlichen und mittelmeerischen Versklavungspraktiken wurde in diesem Sinne als willkommene Verlängerung postkolonialer Kritik in die Vormoderne begrüßt  : Das fortschrittsgläubige, eurozentrische Moderne-Narrativ hatte nicht nur das Fortbestehen von Verskla25 Charles Verlinden, L’esclavage dans l’Europe médiévale, 2 Bde., Brügge 1955/1977  ; Sergej Pavlovic Karpov, L’impero di Trebisonda, Venezia, Genova e Roma 1204–1461. Rapporti politici, diplomatici e commerciali, Rom 1986. Michel Balard, La mer noire et la Romanie génoise (XIIIe–XVe siècle), London 1989. 26 Susan Buck-Morss, Hegel and Haiti, in  : Critical Inquiry 26,4, 2000, S. 821–865. 27 Joseph C. Miller, The Problem of Slavery as History. A Global Approach, New Haven/London 2012.

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vungspraktiken seit dem Abolitionismus unsichtbar gemacht, sondern auch deren Existenz im christlichen Europa vor dem Kolonialzeitalter. Zehn Jahre später gehören die Sklavereien des Mittelalters zu jeder Weltgeschichte der Sklaverei.28 Exotenstatus haben in den globalgeschichtlichen Kompendien heute die Vertreterinnen und Vertreter der babylonischen und ägyptischen Geschichte oder der außereuropäischen Gesellschaften etwa Chinas, Japans oder Altamerikas vor und jenseits der europäischen Expansion.29 Innerhalb der Mediävistik sind internationale Fachtagungen und Themenhefte zu Sklaverei und Unfreiheit im Mittelalter inzwischen an der Tagesordnung.30 Neu sind hingegen sowohl innerhalb der Community der Sklavereiforschung als auch in mediävistischen Kreisen zwei Anliegen  : Erstens wird die Forderung immer lauter, dass die Erforschung der (mittelalterlichen) Sklavereigeschichte einhergehen muss mit der Beherrschung nicht-europäischer Quellensprachen (bzw. archäologischer und kunsthistorischer Expertise zu nicht-europäischen Kulturen der Vergangenheit) und der systematischen Einbeziehung der außerhalb des Westens entstehenden, häufig nicht-englischsprachigen Forschungsliteratur. Zweitens wird immer häufiger gefordert, dass bei der Zusammensetzung von Konferenz-Panels oder Sammelpublikationen nicht nur auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis unter den Beitragenden zu achten ist, sondern auch auf die Vertretung von Kolleginnen und Kollegen nicht-weißer Hautfarbe und nicht-westlicher Forschungseinrichtungen. Als Thema der akademischen Lehre hat die Geschichte von Sklaverei und unfreier Arbeit, von sozialer Ungleichheit und Zwang immer schon viele Studierende angezogen. Auch hier sind jedoch über die letzten zehn Jahre deutliche Akzentverschiebungen zu beobachten. Zu Beginn der 2010er Jahre (damals unterrichtete ich noch an der Universität Zürich) war es die Neugier gegenüber dem Unbekannten und das Bedürfnis, eine Wissenslücke zu schließen, was die meisten meiner Studierenden antrieb. 28 Vgl. beispielsweise The Cambridge World History of Slavery, 4 Bde., Cambridge 2011–2017  ; Michael Zeuske, Handbuch Geschichte der Sklaverei. Eine Globalgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2019  ; Andreas Eckert, Geschichte der Sklaverei. Von der Antike bis ins 21. Jahrhundert, München 2021  ; Paul Ismard/Benedetta Rossi/Cécile Vidal (Hg.), Les mondes de l’esclavage. Une histoire comparée, Paris 2021. 29 Vgl. beispielsweise Damian Pargas/Juliane Schiel (Hg.), The Palgrave Handbook of Global Slavery throughout History, London 2022 (im Druck). 30 Vgl. beispielsweise  : Elizabeth Casteen (Binghamton University), Medieval Unfreedoms. Slavery, Servitude, and Trafficking in Humans before the Trans-Atlantic Slave Trade, 19–20 October 2018  ; Clara Almagro-Vidal/Maria Filomena Lopes de Barros (Universidade de Evora), The Ties that Bind. Rethinking Dependences in the Medieval Iberian Peninsula and Beyond, 3–4 September 2018  ; Niall O Suilleabhain (Trinity College, Dublin), Unfreedom in the Premodern World. Comparative Perspectives on Slavery, Servitude and Captivity, 23–24 June 2022.

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Seit ich vor vier Jahren an das Wiener Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte wechselte, erlebe ich die Studierenden in ihrer Motivation für das Fach Geschichte und in ihrer Themenwahl zunehmend als politisch engagierte Bürgerinnen und Bürger mit einem persönlichen, häufig biografisch begründeten Anliegen. In Wien gibt es neben dem Curriculum für Allgemeine Geschichte einen deutschsprachigen Masterstudiengang Globalgeschichte und einen englischsprachigen Erasmus-Mundus-Studiengang „European Master of Global Studies and Global History“ (EMGS), der von der Universität Leipzig koordiniert wird und insgesamt sechs Universitäten in ganz Europa umfasst.31 Für die Studierenden des deutschsprachigen Globalgeschichte-Masters ist das Erleben der eigenen Lebenswelt als global vernetzt eine Selbstverständlichkeit, unabhängig davon, ob sie selbst einen Migrationshintergrund haben oder nicht. Ungleiche Voraussetzungen und Chancen in der akademisch-universitären Welt bleiben für sie allerdings meist eher abstrakt. Die internationalen Studierenden hingegen, die ein kompetitives Aufnahmeverfahren durchlaufen haben und aus allen Teilen der Welt (darunter auch viele aus dem Global South) stammen, um für ein Jahr an der Universität Wien „Global Studies and Global History“ zu studieren, sind vom ersten Tag an nicht nur mit Forschungsfragen und Themen der Globalgeschichte konfrontiert, sondern auch mit ihrer eigenen alltäglichen Ungleichbehandlung durch Behörden und Verwaltungen ihrer Gastländer und Gastinstitutionen – je nachdem, ob sie aus einem EU-Staat stammen oder Drittstaatsangehörige sind. Für sie hat das Studium der Globalgeschichte an einer westlichen Universität von vornherein und tagtäglich auch eine politische und eine biografische Komponente, ob sie sich dazu aktiv verhalten oder nicht. Alle diese Studierenden, die deutschsprachigen wie die auf Englisch unterrichteten, internationalen EMGS-Jahrgänge, interessieren sich für Lehrveranstaltungen über das Mittelalter nicht, weil sie schon immer eine persönliche Vorliebe für diese Epoche hatten, sondern weil sie die Verbindung von Themen ihrer Generation mit einer ihnen fernen Zeit irritiert, reizt und neugierig macht. Sie stellen sich meist vor und sagen, dass sie nichts wissen über das Mittelalter und Latein erst zu lernen beginnen, aber dass sie verstehen wollen, wie viel die Geschichte von Sklaverei, unfreier Arbeit und sozialer Ungleichheit im Mittelalter mit Klasse, Rasse und Gender zu tun hat. Sie sind, mit anderen Worten, hoch versiert in der Reflexion und Anwendung aktueller Theorien wie dem Ansatz der ‚Intersectionality‘ und der ‚Critical Race Theory‘, aber sie verstehen wenig von mediävistischer Quellenkritik. Während die Zürcher Studierenden der 2010er Jahre viel Zeit darauf verwendeten zu erlernen, was eine wissenschaftliche These ist und wie man eine eigenständige wissenschaftliche Position argumentiert, steht bei den Wiener 31 (aufgerufen am 16.02.2023).

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Globalgeschichte-Studierenden der 2020er Jahre nicht selten die eigene Position und eine Ausgangshypothese am Anfang ihrer Themenwahl. Nicht selten wird die Themenwahl auch in der Einleitung zur Seminararbeit biografisch-persönlich begründet. Dementsprechend hat sich auch das Unterrichten des akademischen Schreibens für mich verändert. Musste ich im Zürich der 2010er Jahre in erster Linie erklären, wie man aus den verschiedenen empirischen Befunden eine Geschichte mit einem wissenschaftlichen Argument, einem Ziel und einem roten Faden baut, geht es in den Sprechstunden heute häufig darum, dafür zu sensibilisieren, dass die empirischen Befunde eigene Annahmen manchmal falsifizieren, fast immer aber verkomplizieren, und dass die Kunst der wissenschaftlichen Argumentation darin besteht, die Analyse der historischen Dokumente so aufzubereiten, dass sich die Leserschaft selbst von der vorgeschlagenen Interpretation überzeugen kann, ohne sich für eine bestimmte Lesart vereinnahmt zu fühlen. In der Lehrpraxis erlebe ich dabei von der Bachelor-Stufe bis hin zum Doktorat alle Nuancen dieser Thematik  : Es gibt solche, die ihr Studium als politische Aktivistinnen und Aktivisten beginnen und im Laufe der Zeit zu begabten Interpreten vormoderner Überlieferung werden, und es gibt solche, die über das Studium mittelalterlicher Quellen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Beobachterposition als Zeitgenossen und Historikerinnen gelangen. Es gibt solche, die mich um Unterstützung ansuchen, weil sie für die persönlich-biografische Begründung ihres Forschungsthemas offen rassistische Anfeindungen erfahren, und es gibt solche, die meine inhaltlichen und methodischen Einwände gegen die Interpretation einer mittelalterlichen Quelle als durchweg rassistisch als unqualifizierten Ausdruck einer Angehörigen des weiß dominierten Establishments zurückweisen. Ob in Forschung oder Lehre  : Die Ebenen fachlicher und politischer Auseinandersetzung haben sich – wie schon so oft in der Geschichte der Geschichtswissenschaften – vermischt  ; ein Befund auf fachlicher Ebene wird von beiden Lagern häufig als Argument auf politischer Ebene verwendet und umgekehrt. Im Kern jedoch geht es in all diesen Auseinandersetzungen um die Subjektposition der Mediävistin bzw. des Mediävisten und sein bzw. ihr Verhältnis zum historischen Gegenstand und zum Fach. Kurz, man könnte auch sagen, es geht anlässlich der Diskussion um die Anwendung der ‚Critical Race Theory‘ auf das Mittelalter und unter dem Eindruck der aktuellen ‚Black-Lives-Matter‘-Bewegung um eine Neupositionierung der Mittelalterforschung – im Fach und innerhalb der Gesellschaft. Um die fachliche und die politische Dimension dieser Debatte etwas zu entflechten und die Anliegen beider Lager in ihren jeweiligen Potenzialen besser herausarbeiten zu können, möchte ich für den gegenwärtigen Stand der Auseinandersetzung drei Ebenen unterscheiden und dafür plädieren, diese in der weiteren Klärung getrennt voneinander zu verhandeln.

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Drei Ebenen einer Debatte und der Versuch einer Entflechtung Die erste Ebene betrifft die vielschichtig verwendbare und interpretierbare Frage der Vertreterinnen und Vertreter postkolonialer Kritik  : „Who gets to speak for us  ?“ Doch wer ist „us“, wenn wir über die Unterdrückung mittelalterlicher Minderheiten nachdenken  ? Kann ich die rassifizierenden Elemente mittelalterlicher Versklavungspraktiken besser identifizieren, wenn ich selbst aus dem Schwarzmeerraum, aus den slawischen Ländern oder aus Afrika nach Westeuropa gekommen bin  ? Bin ich besonders anfällig für die Fortschreibung imperialistischer Narrative, wenn ich als Mensch weißer Hautfarbe im globalen Norden sozialisiert wurde  ? Mir scheint, es ist an der Zeit, dass wir die neue Tendenz, das eigene Forschungsthema mit einem persönlich-biografischen Statement einzuleiten, selbstkritisch auf Intention und Wirkung prüfen. Dass Historikerinnen und Historiker neben der Perspektive der untersuchten historischen Quelle auch die eigene Beobachterperspektive reflektieren und explizit machen, gehört seit den Erschütterungen der durch Edward Said ausgelösten Orientalismus-Debatte –  zumindest dem Anspruch nach – zum Grundwerkzeug nicht nur ethnologisch-anthropologischen, sondern auch geschichtswissenschaftlichen Arbeitens.32 Der von Michael Werner und Bénédicte Zimmermann proklamierte Ansatz einer ‚histoire croisée‘ etwa hat gefordert, das eigene Forschungsvorhaben in einem dreidimensionalen Raum zu konzipieren  : Die Historizität des zu untersuchenden Sachverhalts, die Historizität der gewählten Analysekategorien und die Historizität des Verhältnisses der Forscherin bzw. des Forschers zu ihrem/seinem Forschungsobjekt sind zu reflektieren und in der Durchführung in eine produktive Beziehung zueinander zu bringen.33 In noch radikalerer Weise hat die Sozialhistorikerin Caroline Arni jüngst eine rekursive Geschichtsschreibung gefordert, welche die historische Konzeption auf die gleiche Stufe stellt wie das Konzept der Historikerin. Die rekursive Bewegung eröffne in einem Verfahren der konzeptionellen Anreicherung die „Möglichkeit, Gegenwart und Vergangenheit auf methodisch kontrollierte Weise und jenseits vertrauter Pfade aufeinander zu beziehen  : nicht als komplementäre Beziehung zweier Reservoirs, deren eine –  die Vergangenheit – Material enthält, während die andere – die Gegenwart – die Fragen liefert, sondern als ein Verhältnis der wechselseitigen Analyse.“34 In eine ähnliche Richtung zielt 32 Edward Said, Orientalism, New York 1978. 33 Michael Werner/Bénédicte Zimmermann, Beyond Comparison. Histoire Croisée and the Challenge of Reflexivity, in  : History and Theory 45, 2006, S. 30–50. 34 Caroline Arni, Nach der Kultur. Anthropologische Potentiale für eine rekursive Geschichtsschreibung, in  : Historische Anthropologie 26,2, 2018, S. 200–223, hier S. 222  ; vgl. dazu auch die Replik von Julia Heinemann/Margareth Lanzinger/Juliane Schiel, Von der ‚Aneignung‘ zur ‚Rekursion‘. Drei Reflexionen zu Caroline Arnis Aufruf, in  : Historische Anthropologie 27, 2019, S. 281–295.

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das historisch-semantisch ansetzende Projekt ‚Grammars of Coercion‘ der COST Action WORCK  : Durch die Analyse historischer Ausdrucksweisen sozialer Taxonomien und ungleicher Machtverhältnisse und deren Vergleich mittels digitaler Annotationsund Analysetools soll zu einer neuen, dezentrierten Wissenschaftssprache gefunden werden.35 Wird das persönlich-biografische Statement zur Begründung des Forschungsthemas aber als Schutzschild oder Waffe eingesetzt, die die Richtigkeit oder Berechtigung einer historischen Interpretation mit dem eigenen Beobachterstandpunkt begründet, steht unser Grundverständnis wissenschaftlichen Arbeitens in Frage. Wenn die Selbstpositionierung der Historikerin zu ihrem Gegenstand als Selbstlegitimierung missverstanden wird, geschieht (möglicherweise ungewollt) eine Selbstessentialisierung und eine Essentialisierung der Kategorien, die kritisch dekonstruiert werden sollten, die jede inter-subjektive, wissenschaftliche Verständigung über die Deutung historischer Sachverhalte verunmöglicht. So sehr die Beherrschung einer für die Fragestellung relevanten Quellensprache für die Beurteilung der Qualität von Forschungsergebnissen herangezogen werden kann, so wenig darf die (erborene oder angeeignete) Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur, Religion, Ethnie oder Sprachgemeinschaft (bzw. die gut gemeinte politische Fürsprecherschaft für unterdrückte Minderheiten und deren Vorfahren) darüber bestimmen, wer wen wie kritisieren und beurteilen darf. Wenn Kolleginnen, die seit Jahren hoch angesehene Forschung zum Zusammenhang von Sklaverei, Herkunft, Religion und Hautfarbe im Mittelalter betreiben, trotzdem für eine persönliche Einschätzung zur gegenwärtigen Debatte um ‚Race‘ und ‚Diversity‘ in der Mediävistik anonym bleiben möchten, weil sie sich sorgen, als Vertreterinnen staatlicher Hochschulen in den USA in Schwierigkeiten zu geraten oder gar ihre Anstellung zu riskieren, sind wir im Begriff, uns auf einen gefährlichen Holzweg zu begeben. Wissenschaft lebt von der kontroversen Auseinandersetzung und dem sachlichen Ringen um die intersubjektiv richtige Lesart. Politische Eigen- und Fremdzuschreibungen haben deshalb als Sachargumente in einer wissenschaftlichen Verständigung keinen Raum. Die neue Sensibilität für die impliziten Annahmen und blinden Flecken des eigenen Beobachterstandpunkts und des Standpunkts der Anderen ist richtig und wichtig, aber sie darf nicht dazu 35 Vgl. COST Action CA18205 „Worlds of Related Coercions of Work“ (WORCK)  : (aufgerufen am 16.02.2023), sowie die dazugehörige Datenplatt­form (aufgerufen am 16.02.2023). Ein erstes Zwischenergebnis dieses Prozesses erscheint im Sommer 2023  : Claude Chevaleyre/Juliane Schiel  (Hg.), Work Semantics / Arbeitssemantiken, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 34, 2023 (in Begutachtung).

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führen, dass wir die Lesart der Anderen aufgrund ihres Beobachterstandpunkts delegitimieren. Die zweite Ebene der Debatte betrifft die Frage, wie sich die Dekonstruktion mittelalterlicher Machtverhältnisse zu den ungleichen Bedingungen der forschenden Mediävistinnen und Mediävisten heute verhält. Inwiefern erwächst aus den mit neuer Dringlichkeit gestellten geschichtswissenschaftlichen Fragen nach sozialer Ungleichheit und Formen von Zwang auch eine politische Verantwortung gegenüber den Machtverhältnissen heute – und weil wir uns dort nun mal befinden, allem voran im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb  ? Ist die Erforschung von Rassifizierungsprozessen und Versklavungspraktiken im Mittelalter unabhängig von einer Reflexion der Zugangsmöglichkeiten der Forschenden zu einem globalisierten akademischen Arbeitsmarkt zu denken  ? Wenn wir den langen Weg Revue passieren lassen, den die zweite und dritte Frauenbewegung im Westen gegangen ist, um die Frauen- und Geschlechtergeschichte an den Universitäten zu etablieren und Geschlecht zu einer Grundkategorie geschichtswissenschaftlicher Analyse zu machen, und wenn wir uns vergegenwärtigen, wie mühsam die Durchsetzung von Geschlechtergerechtigkeit im akademischen Betrieb bis heute geblieben ist, so ist der neue Kampf gegen Rassismus in der Wissenschaft und an den Hochschulen überfällig. Während die Gleichstellungsbeauftragten und Personalabteilungen westlicher Universitäten Bewerbungskomitees und Berufungskommissionen dazu anhalten, die schlechtere Bewertung einer Frau bei gleicher Qualifikation explizit zu begründen, und über das Verhältnis männlicher und weiblicher Bewerbungen und ihren jeweiligen Erfolg Statistiken führen, steckt die Entwicklung von Kriterien für die vergleichende Bewertung von Kandidatinnen und Kandidaten nicht-westlicher Bildungseinrichtungen noch in den Kinderschuhen. Die eigene Unkenntnis des akademischen Betriebs und der Wissenschaftskulturen außerhalb der westlichen Welt und die damit einhergehende fehlende Sensibilität für nicht-westliche akademische Lebensläufe wird in diesen Entscheidungsprozessen nach wie vor kaum reflektiert. Die geringere internationale Sichtbarkeit und Vernetzung der Kolleginnen und Kollegen ohne Anbindung an eine westliche Forschungseinrichtung wird weiterhin in erster Linie als Bringschuld angesehen. Die Anstellung eines in Oxford oder Harvard ausgebildeten Kollegen indischer, chinesischer oder slawischer Herkunft gilt gemeinhin als hinreichendes Zeichen akademischer Diversität. Auch grenzüberschreitende Förderprogramme und Netzwerke, die dafür eintreten, ungleichen Zugangsmöglichkeiten am akademischen Arbeitsmarkt gezielt entgegenzuwirken, gleichen die durch die Förderrichtlinien intendierte Wirkung zu wenig ab mit den tatsächlichen Effekten und nicht-intendierten Verzerrungen.36 Dass sich das 36 Ein treffendes Beispiel ist COST, eines der ältesten Förderinstrumente der Europäischen Union. Im

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Gefühl von Ohnmacht auf der Seite derjenigen, die sich der strukturellen Übermacht westlicher, von Weißen dominierter Bildungseinrichtungen gegenübersehen, gerade dort in wütender politischer Agitation und in einer Vermengung der inhaltlichen und der politischen Ebene, der sachlichen und der persönlichen Ebene entlädt, wo es um die postkolonial inspirierten Themen von Migration und Kolonialismus, von Sklaverei, sozialer Ungleichheit und Rassismus geht, ist vor diesem Hintergrund nur zu verständlich. Tatsächlich muss sich gerade die global gewendete Sozialgeschichte (nicht nur des Mittelalters) fragen, welche politische Verantwortung ihr aus der Wahl ihrer Forschungsthemen erwächst. Gerade hier gilt es besonders sorgfältig zu prüfen, wo ihr Hang zur Selbstkritik schlussendlich mehr der heimlichen Selbstvergewisserung als Gut-Mensch-Historikerinnen und -historiker dient und wo die globalgeschichtlichen Forschungsfragen und länderübergreifenden Förderlogiken ungewollt akademische Ungleichheiten perpetuieren bzw. teilweise sogar verstärken.37 Für eine Veränderung der Zugangschancen zum akademischen Arbeitsmarkt bedarf es einer beharrlichen Lobbyarbeit und einer Überarbeitung der Bewertungskriterien auf der Ebene der akademischen Selbstverwaltung, in den Dekanaten und Rektoraten westlicher Universitäten, bei den nationalen, europäischen und internationalen Förderinstitutionen. Das kann ohne die Unterstützung der privilegierten, aber für die Problematik sensibilisierten Kolleginnen und Kollegen nicht gelingen. Die dritte Ebene der Debatte schließlich betrifft die Frage, welche Rolle die Mediävistik in Debatten um ‚Race‘ und ‚Diversity‘ in Wissenschaft und Gesellschaft künftig spielen kann bzw. soll. Die Mediävistik ist in diese Auseinandersetzung aufgrund des oben geschilderten von außen und innen beförderten politischen Dornrös­chen­ schlafs erst in jüngster Zeit hineingeraten. Das kann ein Nachteil sein, weil das Unverständnis für die Problemlage im Fach möglicherweise besonders groß ist. Die überkommene Alteritätsposition des Mittelalters kann aber auch eine Chance sein. Kalten Krieg zunächst für die wissenschaftliche Verständigung zwischen Ost und West eingerichtet, identifiziert es heute sogenannte ‚Inclusiveness Target Countries‘ mit geringerer Forschungsaktivität, deren Vertreterinnen und Vertreter durch spezifische Grants und Reglemente gezielt gefördert werden sollen (vgl. , aufgerufen am 16.02.2023). Die Bilanz der in diesen Förderinstrumenten aktiven Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fällt jedoch häufig ernüchternd aus (vgl. , aufgerufen am 16.02.2023). Eine systematische Einbeziehung nicht-westlicher Forscherinnen und Forscher bei der Entwicklung der Förderrichtlinien wäre hier, wie auch in vergleichbaren Förderprogrammen, ein dringendes Gebot der Stunde. 37 Walter Johnson, On Agency, in  : Journal of Social History 37, 2003, S. 113–124  ; Jeremy Adelman, What is Global History Now  ?, in  : (aufgerufen am 16.02.2023).

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Mediävistinnen und Mediävisten sind Experten komplexer Alteritäten. Das Mittelalter ist eben weder die Vorgeschichte noch die Negativfolie der multiplen Modernen, die sich die kritischere neue Globalgeschichte angeschickt hat zu erforschen.38 Insofern würde ich auch der Grundannahme von Geraldine Heng klar widersprechen. Heng schreibt zu Beginn ihres oben erwähnten Buches  : „If we grant that the present can be non identical to itself […], we should also grant the corollary  : that the past can also be non identical to itself, inhabited too by that which was out of its time – marked by modernities that estrange medieval time in ways that render medieval practices legible in modern terms.“39 Es kann nicht darum gehen, der komplexen Moderne ein Mittelalter gegenüberzustellen, das moderne Elemente enthält. Vielmehr ist das Mittelalter (ebenso) multipel, ungleich und widersprüchlich (wie die Moderne) – in sich selbst ebenso wie in ihrem Verhältnis zur sogenannten Moderne. Was gute mediävistische Forschung im Kern ausmacht, ist die quellenkritische Aufbereitung dieser Komplexität, die Strukturen der Ungleichheit aufzeigt und Analysen liefert, ohne sich dabei in lineare Fortschrittserzählungen oder in eine Geschichte ungleicher Geschwindigkeiten hineinpressen zu lassen. Die neue postkolonial begründete Sensibilität für die wissenschaftliche Analysesprache wie für die eigene Beobachterposition kann in der Sensibilität der Mediävistinnen und Mediävisten für die semantische Alterität der älteren Sprachen und ihrer komplexen textuellen Ausdrucksweisen eine empirische Erdung erfahren.40 Für die Erforschung mittelalterlicher Formen und Prozesse des ‚race-ing‘ gibt es viel zu tun. Egal ob wir die Erzählung von den drei Söhnen Noahs als konzeptionelle Grundlage für die tripartite Teilung der mittelalterlichen Ständegesellschaft in Adel, Klerus und arbeitende Bevölkerung erforschen oder uns mit der Entstehung und Verwendung von Heirats- und Geburtsregistern und den Selbstdarstellungen des hoch- und spätmittelalterlichen Adels beschäftigen,41 ob wir 38 Shmuel N. Eisenstadt (Hg.), Multiple Modernities, London/New York 2002. 39 Heng (wie Anm. 17), S. 22. 40 Vgl. hierzu die Pionierarbeiten von Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt am Main/New York 1996  ; Uta Kleine/Ludolf Kuchenbuch, Textus im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Göttingen 2006  ; Ludolf Kuchenbuch, Reflexive Mediävistik. Textus, Opus, Feudalismus, Frankfurt am Main 2012. 41 David M. Whitford, The Curse of Ham in the Early Modern Era. The Bible and Justifications for Slavery, Surrey/Burlington 2009  ; Christopher H. Johnson/David Warren Sabean/Simon Teuscher/ Francesca Trivellato (Hg.), Transregional and Transnational Families in Europe and Beyond, New York/Oxford 2011  ; Christopher H. Johnson/Bernhard Jussen/David Warren Sabean/Simon Teuscher (Hg.), Kinship and Blood in Western History. Genealogy – Race – Genes, New York/Oxford 2013  ; Christopher H. Johnson/Bernhard Jussen/David Warren Sabean/Simon Teuscher  (Hg.), Matter for Metaphors from Ancient Rome to the Present, New York 2015. Außerdem  : Frank Rex-

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mittelalterliche Pilger- und Reiseberichte im Hinblick auf die Darstellung fremder Kulturen, Religionen und Gesellschaften untersuchen oder den Beschreibungen von Versklavten und Bediensteten in der europäischen Briefkultur nachgehen,42 ob wir Religionstraktate und theologische Abhandlungen auf ihre Narrativierung von Identität und Alterität, von Überlegenheit und Unterlegenheit prüfen43 oder die Bedeutung von Status, Herkunft und Hautfarben im Mittelalter studieren  :44 Die Frage nach mittelalterlichen Formen und Prozessen des ‚race-ing‘ kann – ähnlich wie die Frage nach mittelalterlichen Praktiken des ‚slaving‘ – konzeptionell und wissenschaftspolitisch ungemein produktiv und wertvoll sein, wenn sich die Mediävistik nicht als Lieferantin von empirischem Material und wissenschaftlichen Argumenten für eine andernorts geführte Diskussion versteht, sondern sich fachlich und politisch einmischt. Genau daran aber mangelt es noch. Die Widerständigkeit und der Eigen-Sinn mittelalterlicher Komplexitäten kann dazu beitragen, die Annahmen und Diskussionen der Vertreterinnen und Vertreter der ‚Critical Race Theory‘ zu verkomplizieren und intellektuell zu bereichern.45 In diesem Sinne hat die Mediävistik in der seismograroth, Das Milieu der Nacht. Obrigkeiten und Randgruppen im spätmittelalterlichen London, Göttingen 1999. 42 Zu Fremdbeschreibungen in Pilger-, Reise- und Missionsberichten vgl. Almut Höfert, Den Feind beschreiben. Türkengefahr und europäisches Wissen über das Osmanische Reich, Frankfurt am Main 2003  ; Juliane Schiel, Mongolensturm und Fall Konstantinopels. Dominikanische Erzählungen im diachronen Vergleich (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 19), Berlin 2011  ; zur Beschreibung von Versklavten und Bediensteten in Briefen sei auf die im Entstehen begriffene Dissertation von Corinna Peres („Versklavte für Haus und Hof. Drei Milieustudien zum mittel- und oberitalienischen Raum (1350–1550)“) an der Universität Wien verwiesen. 43 Almut Höfert, Between Europe and Islam. Shaping Modernity in a Transcultural Space, Brüssel 2000  ; Benjamin Scheller, Die Stadt der Neuchristen. Konvertite Juden und ihre Nachkommen im Trani des Spätmittelalters zwischen Inklusion und Exklusion, Berlin 2013  ; Ulrich Gotter/Ulrich Rüdiger/ Dorothea Weltecke  (Hg.), Religiöse Vielfalt und der Umgang mit Minderheiten. Vergangene und gegenwärtige Erfahrungen, Konstanz/München 2015  ; Dorothea Weltecke, Minderheiten und Mehrheiten. Erkundungen religiöser Komplexität im mittelalterlichen Afro-Eurasien, Berlin 2020  ; Hannah Barker, What Caused the Fourteenth-Century Tatar-Circassian Shift  ?, in  : Felicia Rosu (Hg.), Slavery in the Black Sea Region, c. 900–1900. Forms of Unfreedom at the Intersection between Christianity and Islam, Leiden 2021, S. 339–363. 44 Valentin Groebner, Haben Hautfarben eine Geschichte  ? Personenbeschreibungen und ihre Kategorien zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert, in  : Zeitschrift für historische Forschung 30, 2003, S. 1–18  ; Valentin Groebner, Mit dem Feind schlafen. Nachdenken über Hautfarben, Sex und ‚Rasse‘ im spätmittelalterlichen Europa, in  : Historische Anthropologie 15, 2007, S. 431–448  ; Sally McKee, Inherited Status and Slavery in Renaissance Italy and Venetian Crete, in  : Past&Present 182, 2004, S. 31–53  ; Kate P. Lowe/Thomas Earl (Hg.), Black Africans in Renaissance Europe, Cambridge 2005. 45 Zum Konzept des Eigen-Sinns vgl. Alf Lüdtke, Fabrikalltag, Arbeitserfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993.

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phischen Suchbewegung der Geschichtswissenschaften möglicherweise sogar eine neue politische Verantwortung.

KONTROVERSE THEMEN UND FACHGEBIETE

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With ideas of a new green revolution in the air, it is an appropriate time to look back at the debate on Andrew Watson’s green revolution. Watson published his first paper in 1974, ‘The Arab agricultural revolution and its diffusion, 700–1100’, and followed this in 1983 with a book developing his ideas, ‘Agricultural Innovation in the Early Islamic World’.1 Other papers followed in the next fifteen years, amplifying this or that point and responding to published reactions.2 Reactions were indeed rapid and there were both early and continuing criticisms. However, there has also been a good deal of acceptance of his theories and in some academic cultures acceptance is nowadays a norm.

Watson’s thesis This is what Watson proposed. Plants of eastern origin, especially from South East Asia and India, were carried westwards via Oman, Persia and Iraq by early medieval Arab conquerors and settlers, as far as Andalucia in southern Spain and ultimately, with other intermediaries, to West Africa  ; by the end of the eleventh century cultivation of all but two of the new introductions was established across the whole Arab world. Although there were many others, less well documented, he specified 16 food and one fibre plant in his original article, adding another food plant in the book. These were sorghum (Sorghum bicolor), rice (Oryza sativa), sugar cane (Saccharum of1 Andrew M. Watson, The Arab Agricultural Revolution and its Diffusion, 700–1100, in  : Journal of Economic History 34, 1974, pp. 8–35  ; Id., Agricultural Innovation in the Early Islamic World. The Diffusion of Crops and Farming Techniques, 700–1100, Cambridge 1983. 2 For example, Andrew M. Watson, A Medieval Green Revolution. New Crops and Farming Techniques in the Early Islamic World, in  : Abraham L. Udovitch (ed.), The Islamic Middle East, 700–1900. Studies in Economic and Social History, Princeton NJ 1981, pp. 29–58  ; Andrew M. Watson, The Imperfect Transmission of Arab Agriculture into Christian Europe, in  : Helmut Hundsbichler (ed.), Kommunikation zwischen Orient und Okzident. Alltag und Sachkultur. Internationaler Kongress Krems an der Donau 6. bis 9. Oktober 1992 (Sitzungsberichte der Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 619), Vienna 1994, pp. 199–212  ; Andrew M. Watson, Arab and European Agriculture in the Middle Ages  : a Case of Restricted Diffusion, in  : Del Sweeney (ed.), Agriculture in the Middle Ages. Technology, Practice, and Representation, Philadelphia PA 1996, pp. 62–75.

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ficinarum), hard wheat (Triticum durum), banana (Musa sapientium), plantain (Musa paradisiaca), water melon (Citrullus lanatus), spinach (Spinacia oleracea), aubergine (Solanum melongena), artichoke (Cynara cardunculus), taro (Colocasia antiquorum), sour (i.e. Seville) orange (Citrus x. aurantium), lemon (Citrus limon), lime (Citrus aurantifolia), mango (Mangifera indica), coconut palm (Cocos nucifera) and cotton (Gossypium arboreum, Gossypium herbaceum)  ; pummelo (Citrus grandis) was the fruit added later. The two plants with less widespread cultivation were mango and coconut palm. This diffusion of plants was accomplished within the 400 years from the Arab explosion of the seventh century and was possible because of the vast unified polity established, with its single language, religion and legal system  ; even after the end of political unity “a sense of nationhood prevailed”. It was revolutionary not only because of the introduction of new plant species, but because cultivation of these plants required new farming techniques, which in their turn brought major economic, political and social changes. These new techniques involved the creation of irrigation systems, often with state backing, as well as regular manuring, multiple ploughing and intensive rotation  ; this made a summer growing season possible in Mediterranean lands, in addition to the traditional winter cropping of such environments. The longer working season created a need for more labour, largely met through share-cropping, and it increased farming product significantly. Meanwhile, populations grew, cities expanded and demand for cultivated product increased  ; the maintenance of a central fiscal system meant that surplus was not diverted to great landowners  ; large estates were broken up and peasant proprietorship supported. From the late eleventh century the system declined as attacks from crusaders and Christian conquerors, excessive taxation and uneconomic granting of immunities eroded the all-important political and cultural unity. Christian rulers failed to maintain the irrigation systems and replaced many of the introduced crops with cereals and pulses or grazing, although plants like spinach, hard wheat, sorghum and artichoke slowly spread north and west into Christian Europe. Diffusion was slow because Christians were not interested in ‘new things’  ; population levels were low  ; collective property rights and co-operative labour “hampered” efforts to increase productivity.3 However, with growing populations, cities and trade, by the thirteenth century innovation was embraced in the West  ; indeed, many of the new plants were ultimately taken to the New World by European colonisers.

3 Watson, The Imperfect Transmission (n. 2), pp. 204, 207–208.

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The debate The debate on Watson has been largely an English-language debate, although there is a significant bibliography on plant and agronomic history in Spanish and there are a few papers in other European languages, especially French  ; the English language dominance is partly because papers in archaeological science tend to be written in English.4 From the outset, the thesis attracted criticism – criticism of the methodological approach, of the understanding of evidence and of exaggerated conclusions. While some of the early objections emphasized Watson’s mistakes, many focussed on evidence of the initial appearance of the selected plants.5 The early review by French ethnobiologist and specialist in the Arab world, Françoise Aubaile-Sallenave, also highlighted the difficulties of precisely interpreting names recorded in different languages.6 She argued that sorghum, hard wheat and taro were known in Egypt, and other Mediterranean regions, in the Roman period and that summer sowing of vegetables like onions and cabbage was already well established. While the citrus fruit citron (Citrus medica) had been known in Persia and the East Mediterranean since the fourth century BC, knowledge of other citrus fruits was confounded by the fact that the words for citrus are confused and unstable  ; knowledge of artichokes, on the other hand, was confounded by the fact that many of the Arabic words for artichoke denote wild varieties. This review encapsulates many of the repeated objections to the thesis, which can be organized in six categories  : dependence on written references  ; failure to appreciate regional differences in topography  ; denial of earlier knowledge of supposedly new agricultural techniques  ; exaggeration of changes to patterns of proprietorship  ; ignorance of the real status of agricultural labourers  ; denial of earlier knowledge of supposedly new plants. I will take each of these in turn, reserving a special section for plant introductions, since these have occupied much of the debate, in great detail. A significant proportion of the debate focusses on Iberia, as the westernmost point of plant diffusion in the medieval period and an important source of Arabic agronomic writing, but all of the medieval Arabic world is relevant.

4 I am grateful to Eduardo Manzano for sharing his view that there is little bibliographical comment of note in Arabic. 5 For a succint catalogue of mistakes, see the review by historian and Islamic archaeologist, Jeremy Johns, A Green Revolution  ?, in  : Journal of African History 25, 1984, pp. 343–344. 6 Françoise Aubaile-Sallenave, L’agriculture musulmane aux premier temps de la conquête. Apports et emprunts, à propos de Agricultural Innovation in the Early Islamic World de Andrew M. Watson, in  : Journal d’Agriculture Traditionelle et de Botanique Appliqué 31, 1984, pp. 245–256.

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Watson depended for his evidence on written references to the existence of plants, paying little attention to archaeological evidence and, indeed, commenting that “help from archaeology is slight” since work on the remains of plants was unreliable and difficult to date.7 He made extensive use of the series of detailed agronomic manuals produced in Moslem Iberia – al-Andalus – between the late tenth and early thirteenth centuries.8 In particular, he treated references in the late tenth-century text known as the Calendar of Córdoba as if they were precisely descriptive of plants growing in and around Córdoba at that time (as many subsequent commentators have also done).9 The problem that arises from depending on written references alone is the obvious one, as a Spanish botanist and a historian of Arabic science point out, that a written reference may well indicate clear knowledge of a plant but does not necessarily indicate that the plant was grown in the author’s home region  ;10 this is exacerbated by the fact that texts borrow from other texts, as the Arabic manuals (including the Calendar of Córdoba) often borrowed from the Roman and Byzantine agronomic traditions, and by the fact that the observations of contemporary geographers were enhanced with later additions.11 Moreover, words in texts do not always proclaim their meanings precisely, as linguists and botanists from several countries indicate  : words for sorghum, millet and maize are often confused, as are words for artichoke and cardoon and the multiplicity of words for citrus fruit.12 The species references  7 Watson, Agricultural Innovation (n. 1), pp. 4–5. On plant remains, see further below.  8 Lucie Bolens, Agronomes andalous du moyen-âge, Geneva 1981  ; cf. Karl W. Butzer, The Islamic Traditions of Agroecology  : Crosscultural Experience, Ideas and Innovations, in  : Ecumene 1, 1994, pp. 7–50. There is a series of later, Yemeni, manuals continuing this tradition  ; for a survey, see Daniel M. Varisco’s overview at (accessed 17/02/2023).   9 Le calendrier de Cordoue, ed. Reinhart Dozy, trans. Charles Pellat, Leiden 1961. For reasoned assessments of what may have been growing near Córdoba at that time, see Ángel C. López y López, Estudio particular de las especies botánicas que se citan en el Calendario de Córdoba de ‘Arīb ibn Sa‘īd, in  : Expiración García Sánchez (ed.), Ciencias de la naturaleza en al-Andalus. III. Textos y estudios, Granada 1994, pp. 43–78, and Miquel Forcada, The Garden in Umayyad Society in al-Andalus, in  : Early Medieval Europe 27, 2019, pp. 349–373 at pp. 368–373. 10 Jacinto Esteban Hernández Bermejo/Expiración García Sánchez, Economic Botany and Ethnobotany in al-Andalus (Iberian Peninsula  : Tenth-Fifteenth Centuries), an Unknown Heritage of Mankind, in  : Economic Botany 52, 1998, pp. 15–26 at p. 21. 11 For detailed consideration of the limitations of textual references, see Expiración García Sánchez, Caña de azúcar y cultivos asociados en al-Andalus, in  : Antonio Malpica (ed.), Paisajes del Azúcar. Actas del quinto seminario internacional sobre la caña de azúcar. Motril, 20–24 de septiembre de 1993, Granada 1995, pp. 41–68. 12 Aubaile-Sallenave, L’agriculture musulmane (n.  6), pp.  250–252  ; Expiración García Sánchez, La producción frutícola en al-Andalus. Un ejemplo de biodiversidad, in  : Estudios Avanzados 16, 2011, pp. 51–70  ; Marie-Pierre Ruas/Perrine Mane/Charlotte Hallavant/Michel Lemoine, Citrus

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can be very unclear. In particular translation of Arabic to Latin and thence to modern languages can multiply confusions.13 Although recognizing that there were regional differences in “acclimatization”, Watson treated all the lands conquered by the Arabs as if they were physically similar, multiple cropping affecting the “whole spectrum of landtypes”  ;14 he suggested that as long as sufficient water was provided and agricultural practice improved, then most of the plants introduced would grow to maturity. Somewhat inconsistently, he accepted from the start that mango and coconut palm would not grow everywhere  ; however, overall he made little allowance for regional diversity, for the most part discounting the fact that soil profiles vary from place to place and, as geomorphologists point out, that land degradation due to soil erosion is an alternative factor in prompting exploitation of new land surfaces and the development of new techniques.15 Since the impact of innovations must in the end be local, diversity of response is not merely regional but micro-regional  : English historians Peregrine Horden and Nicholas Purcell noted the “inexorable disunity of the microregions” and devoted a whole section to microtopography and microecologies in their study of the Mediterranean.16 Technological inventions were powerless to transform cultivation practice, they argued, without “enabling circumstances”  ; in other words, without suitable local conditions. Indeed, as Marie-Pierre Ruas and her French historian and archaeobotanist Fruit in Historical France. Written Sources, Iconographic and Plant Remains, in  : Véronique ZechMatterne/Girolamo Fiorentino (eds), AGRUMED  : Archaeology and History of Citrus Fruit in the Mediterranean. Acclimatization, Diversifications, Uses, Naples 2017, pp. 157–184 at pp. 158–159  ; doi  : doi.org/10.4000/books.pcjb.2107 (accessed 25/11/2021)  ; Charlène Bouchaud/Jacob Morales/ Valérie Schram/Marijke Van der Veen, The Earliest Evidence for Citrus in Egypt, in  : Zech-Matterne/Fiorentino (eds), AGRUMED (n. 12), pp. 51–83 at pp. 65–66. Cf. Paolo Squatriti, Of Seeds, Seasons, and Seas. Andrew Watson’s Medieval Agrarian Revolution Forty Years Later, in  : Journal of Economic History 74, 2014, pp. 1205–1220 at p. 1209. 13 Hernández Bermejo/García Sánchez, Economic Botany (n. 10), p. 17. 14 Watson, Agricultural Innovation (n. 1), p. 126. 15 Daniel A. Contreras/Vincent Robin/Regina Gonda/Rachel Hodara/Marta Dal Corso/Cheryl Makarewicz, (Before and) After the Flood. A Multiproxy Approach to Past Floodplain Usage in the Middle Wadi el-Hasa, Jordan, in  : Journal of Arid Environments 110, 2014, pp. 30–43, at pp. 41–42  ; this group of archaeological scientists, most of whom worked at the Christian-Albrechts University of Kiel, and especially its Institute for Ecosystem Research, was led by an American environmental archaeologist. For the geomorphological point, see also the review by Johns, A green revolution  ? (n. 5), p. 343  ; cf. Squatriti, Of Seeds, Seasons, and Seas (n. 12), pp. 1210–1211. In fact, in his final pages, again inconsistently, Watson allows that there was unused land between intensively cultivated stretches, Watson, Agricultural Innovation (n. 1), p. 141. 16 Peregrine Horden/Nicholas Purcell, The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History, Oxford 2000, pp. 296–297, 51–172.

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colleagues suggested, the adoption of new techniques fluctuates with local circumstances and there is rarely a single moment of transformation.17 Another kind of objection has been that Watson’s ‘new’ agricultural techniques were already known and used  ; or, conversely, that although there is much detail of cultivation, harvesting and storage practice in the agronomic manuals, there is little evidence of their early application. The North American Byzantine historian Michael Decker pointed out that summer cropping and sophisticated rotation regimes were familiar in Roman and Byzantine agriculture and in Sasanian Persia, the latter point reflecting a study by Danish historian Peter Christensen.18 Marijke van der Veen, an archaeobotanist of Dutch formation working in England for the last thirty years, agreed, specifying the summer crops water melon, sorghum, cotton, rice, citron, lemon/lime and others found variously in pre-Islamic Egypt, Libya, Nubia and Aksum. However, she added that their dispersal was much greater in the Arab period and they consequently became incorporated into the agricultural economies of north Africa and the Middle East.19 The introduction of irrigation systems is itself the subject of a major debate. Watson’s argument was that since the new crops needed sufficient water to mature and since Mediterranean regions tended to be dry, the Arabs dug new channels and underground canals to tap the water table, established storage pools and cisterns, and developed new lifting devices, powered by men, animals or water. Thereby complex irrigation systems were created and environments transformed.20 He allowed that irrigation was not entirely new but argued that upkeep of the old systems had collapsed in the West while in the East the systems depended on flood capture, had poor flood control and were very labour intensive. Decker, in response in 2009, insisted that pre-Islamic Meso­ potamian irrigation had permitted intensive hydraulic agriculture and suggested that the Spanish systems depended on a pre-existing network. Peter Christensen had argued, in a detailed study of Mesopotamia, that the high point for irrigation systems in 17 Marie-Pierre Ruas/Perrine Mane/Carole Puig/Charlotte Hallavant/Bénédicte Pradat/Mohamed Ouerfelli/Jérôme Ros/Danièle Alexandre-Bidon/Aline Durand, Regard pluriel sur les plantes de l’héritage arabo-islamique en France médiévale, in  : Catherine Richarté/Roland-Pierre Gayraud/Jean-Michel Poisson (eds), Héritages arabo-islamiques dans l’Europe méditerranéenne, Paris 2015, pp. 347–376 at pp. 348–349. 18 Michael Decker, Plants and Progress. Rethinking the Islamic Agricultural Revolution, in  : Journal of World History 20, 2009, pp. 187–206 at p. 189  ; Peter Christensen, The Decline of Iranshahr. Irrigation and Environment in the Middle East, 500 BC–AD 1500, Copenhagen 1993. 19 Marijke Van der Veen, Consumption, Trade and Innovation. Exploring the Botanical Remains from the Roman and Islamic Ports at Quseir al-Qadim, Egypt (Journal of African Archaeology Monograph 6), Frankfurt am Main 2011, pp. 4, 111, 116. 20 Watson, Agricultural Innovation (n. 1), pp. 103–111.

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that region was the sixth century and that the flood plain saw a “dramatic decline” in settlement and cultivation in the centuries following Arab conquests.21 Horden and Purcell pointed out that using the Nile to provide water for agriculture was ancient practice, and knowledge of it well established, observing that the irrigation systems of the ancient Mediterranean have been under-rated. Likewise, American geographer Karl Butzer and his European colleagues, in a detailed examination of irrigation systems in Valencia in Spain, argued for strong continuities with the Roman past, although allowing for some elements of Arab innovation.22 Spanish historian of Arabic science, Expiración García Sánchez, however, had previously noted the well documented installation of irrigation systems by the eleventh-century ruler al-Muꜥtaṣim on the south coast of Spain and had claimed that the introduction of new crops had brought changes to the Spanish landscape in some areas, with the creation of large irrigation areas.23 Meanwhile, during the 1960s the American Thomas Glick had already worked on irrigation systems in Valencia for his Harvard PhD, publishing a path-breaking book in 1970 which, although focussing on practice in the late middle ages, suggested that despite irrigation systems being known in antiquity the extensive systems of al-Andalus had Arab origins.24 This initiated a wide-ranging debate, which continues to this day, on the chronology and social context of this technological development. French historian Pierre Guichard had previously claimed that there was significant immigration into south-east Spain in the eighth and ninth centuries, especially by Berber peasant communities, and archaeologist Patrice Cressier subsequently developed this by showing that irrigation systems were physically associated with new settlements in this region, in a tenth-century “complete rupture” with the previous use of space.25 21 Decker, Plants and Progress (n. 18), p. 190  ; Christensen, The Decline of Iranshahr (n. 18), especially pp. 67–72. 22 Horden/Purcell, The Corrupting Sea (n. 16), pp. 239–251  ; Karl W. Butzer/Juan F. Mateu/Elisabeth K. Butzer/Pavel Kraus, Irrigation Agrosystems in Eastern Spain. Roman or Islamic Origins  ?, in  : Annals of the Association of American Geographers 75, 1985, pp. 479–509  ; although the focus of this paper is on fieldwork and irrigation, the concluding section is highly critical of many aspects of Watson’s thesis, pp. 500–504. 23 García Sánchez, Caña de azúcar (n. 11), pp. 50, 67. 24 Thomas Glick, Irrigation and Society in Medieval Valencia, Cambridge MA 1970. 25 Pierre Guichard, Le peuplement de la région de Valence aux deux premiers siècles de la domination musulmane, in  : Mélanges de la Casa de Velázquez 5, 1969, pp. 103–158  ; Id., Al-Andalus. Estructura antropológica de una sociedad islámica en occidente, Barcelona 1976 (first published in French, 1973). For the link between settlements and irrigation  : Patrice Cressier, Châteaux et terroirs irrigués dans la province d’Almería (Xe–XVe siècles), in  : André Bazzana (ed.), Castrum 5. Archéologie des espaces agraires méditerranéens au Moyen Âge, Madrid/Rome/Murcia 1999, pp. 439–453  ; Id., , La maîtrise de l’eau en al-Andalus. Un marqueur d’orientalisation et une source de conflits historiographiques, in  : Richarté/Gayraud/Poisson (eds), Héritages arabo-islamiques (n. 17), pp. 301–314. For sustained

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Miquel Barceló i Perelló, professor of medieval history in the Autonomous University of Barcelona, in focussing on the social context of hydraulic systems, argued for peasant communal initiatives and the extension of peasant networks controlling the new agriculture in Murcia, Valencia and ultimately the Balearic Islands, working closely with archaeologists and involving himself in field survey.26 The notion of collective peasant enterprise, of Berber origin, has provoked two kinds of reaction  : on the one hand, objections to the association between peasant communalism and hydraulic systems, and to Berber origins  ;27 and on the other hand, further sustained fieldwork and excavation. American historian and anthropologist Daniel Varisco argued, against Glick, that irrigation systems were environmentally rather than culturally determined and therefore that one could not demonstrate that andalusi systems derived from Syrian or Yemeni practice  ; neither North African nor Middle Eastern systems were relevant.28 Spanish historian of Arabic cultures, Eduardo Manzano, in a blast against hydraulic archaeology, has maintained that there has been an “exponential growth of an abundant bibliography that assumes that irrigation techniques and practices were cultural traits that Arab and Berber settlers brought with them to al-Andalus”. He argued that there has been an over-interpretation of archaeological results and an increasing divergence between such interpretations and any kind of textual reference. He identifies the underlying assumptions as “diffusionist”, questions the validity of supposing Arab and Berber cultures easily assimilable, wonders what happened to the indigenous population, points out that there is no early “Berber” material record, and maintains that we have no evidence, either written or archaeological, of an early andalusi irrigation system. Instead, he proposes that changes happened because of a strong state system and the curiosity of learned scholars.29 objections to Guichard’s thesis, see Eduardo Manzano Moreno, Conquistadores, emires y califas. Los Omeyas y la formación de Al-Andalus, Barcelona 2006, pp. 129–146. 26 Miquel Barceló/Helena Kirchner/Carmen Navarro, El agua que no duerme. Fundamentos de la arqueología hidráulica andalusí, Granada 1996  ; Miquel Barceló, De la congruencia y la homogeneidad de los espacios hidráulicos en al-Andalus, in  : Antonio Malpica Cuello (ed.), El agua en la agricultura de al-Andalus, Barcelona/Madrid 1995, pp. 25–39  ; Id., Immigration berbère et établissements paysans à Ibiza (902–1235), in  : Jean-Marie Martin (ed.), Castrum 7. Zones côtières littorales dans le monde méditerrranéen du Moyen Age. Défense, peuplement, mise en valeur, Rome/Madrid 2001, pp. 291–321. 27 For a survey, see Lorenzo Cara Barrionuevo/Antonio Malpica Cuello (eds), Agricultura y regadío en al-Andalus. Síntesis y problemas, Almería 1995. 28 Daniel M. Varisco, The Adaptive Dynamics of Water Allocation in al-Ahjur, Yemen Arab Republic, University of Pennsylvania PhD 1982, especially pp. 24–32  ; at (accessed 6/12/2021). 29 Eduardo Manzano Moreno, El asentamiento y la organización de los ŷund-s sirios en al-Andalus, in  : Al-Qanṭara 14, 1993, pp. 327–359  ; Id., Entre faits et artefacts. Interprétations historiques et

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Although large irrigation systems supplying extensive huertas (market gardens) were developed in parts of southern Spain and the Balearic islands, and still continue in use, dating the origins of these systems is particularly difficult. Catalan historian and archaeologist Helena Kirchner has argued that the origins can be deduced from the layout of existing systems but although there is an attractive logic here it is a long way from precisely datable material evidence and has stimulated some of the objections noted above.30 Excavation of sites in early medieval al-Andalus has nevertheless continued and has produced results.31 Of some relevance here is the clear evidence of a system to supply and store water in parts of the Šaqunda suburb of Córdoba in the emirate of the late eighth/early ninth century, although insufficient to deal with major floods.32 More directly relevant to agriculture are excavations in the province of Tudmīr, in south-eastern Spain. Spanish archaeologist Sonia Gutiérrez shows how the early settlements in the estuary of the River Segura were associated with irrigation “microsystems”, where water was raised by a water wheel with chains of arcaduces, ceramic water pots, of a distinctive type. These arcaduces are critical since they come from layers above older systems and since their sherds are of a late eighth/ninth-century type, a type only in use until the mid-eleventh century, and they occurred within an eighth-/ninth-century archaeological assemblage.33 As this represented a change from late antique practice, the introduction of this particular type of water pot is données archéologiques en al-Andalus, in  : Luc Bourgeois/DanièleAlexandre-Bidon/Laurent Feller/Perrine Mane/Catherine Verna/Mikaël Wilmart (eds), La culture matérielle  : un objet en question. Anthropologie, archéologie et histoire, Caen 2018, pp. 93–111. 30 Helena Kirchner, Original Design, Tribal Management and Modifications in Medieval Hydraulic Systems in the Balearic Islands (Spain), in  : World Archaeology 41, 2009, pp. 151–168  ; Ead., Redes de asentamientos andalusíes y espacios irrigados a partir de qanât(s) en la sierra de Tramuntana de Mallorca. Una reconsideración de la construcción del espacio campesino en Mayûrqa, in  : Ead. (ed.), Por una arqueología agraria. Perspectivas de investigación sobre espacios de cultivo en las sociedades medievales hispánicas (BAR International Series 2062), Oxford 2010, pp. 79–94. 31 Manzano Moreno, Entre faits et artefacts (n. 29), includes a useful survey of recent Spanish archaeology. For fuller surveys, see Juan Antonio Quirós Castillo/Belén Bengoetxea Rementeria, Arqueología (iii) (Arqueología Postclásica), Madrid 2006, and Javier Martínez Jiménez/Isaac Sastre de Diego/Carlos Tejerizo García, The Iberian Peninsula between 300 and 850. An Archaeological Perspective, Amsterdam 2018, although neither deals with the irrigation issues at length  ; they do so at pp. 434–440 and pp. 305–308 respectively. 32 María Teresa Casal García, Características generales del urbanismo cordobés de la primera etapa emiral. El arrabal de Šaqunda, in  : Anejos de Anales de Arqueología Cordobesa 1, 2008, pp. 109–134 at pp. 124–127, with photographs. 33 Gutiérrez draws on the analytical work of Luis A. García Blánquez, Los arcaduces islámicos de Senda de Granada. Tipología y encuadre cronológico, in  : Arqueología y territorio Medieval 21, 2014, pp. 69–103.

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associated with an immigrant population.34 Hence, there is a case to associate Arab or Berber or Egyptian immigrants with a new type of irrigation technology, possibly as early as the late eighth and ninth centuries and certainly before the twelfth century. How far the Arab invasion was responsible for the ultimate widespread use of large irrigation systems will doubtless remain debated  ; that peasant collectives were responsible looks unlikely. Although it is accepted that the development of irrigation systems brought changes to the landscape of al-Andalus, Watson’s original argument that there were also changes to the nature of proprietorship has been widely challenged, as by French orientalist Claude Cahen in his short review of the book.35 So also, Aubaile-Salle­ nave, in her review, commented that parcellation of landed property began in the pre-Islamic period although great estates continued in some regions, while Horden and Purcell massaged the point by arguing that it was the Islamic state’s strong fiscal system which maintained the autonomy of many small producers, preventing competition from great landlords.36 They also observed that there were both larger and smaller proprietors across the Arab world and that the size of property units “ebbed and flowed”  ; large estates certainly continued in Iraq in the shift from the Sasanian to the Islamic period.37 However, although periodically dismissed, this part of Watson’s thesis has not attracted lengthy objections. Nevertheless, there is other published comment which contributes  : while it is not framed within the terms of the Watson debate, Eduardo Manzano’s detailed analysis of the rural population of al-Andalus in the emirate period (pre-929) shows that the conquering armies settled across a wide area of southern Iberia, took over farms and established some large estates. Highly productive farming, measured in enormous quantities of wheat and rye, generated considerable income for the state.38 There certainly were some large estates in the Arab world. 34 Sonia Gutiérrez Lloret, The Case of Tudmīr. Archaeological Evidence for the Introduction of Irrigation Systems in al-Andalus, in  : Early Medieval Europe 27, 2019, pp. 394–415. Cf. Miquel Barceló, Acerca de nada. Consideraciones sobre dos artículos de S. Gutiérrez, in  : Cara Barrionuevo/Malpica Cuello (eds), Agricultura y regadío en al-Andalus (n. 27), pp. 273–291. 35 Claude Cahen, Review of Agricultural Innovation in the Early Islamic World by Andrew M. Watson, in  : Journal of the Economic and Social History of the Orient 29, 1986, pp. 217–218. 36 Aubaile-Sallenave, L’agriculture musulmane (n.  6), p.  252  ; Horden/Purcell, The Corrupting Sea (n. 16), p. 253. 37 Horden/Purcell, The Corrupting Sea (n. 16), pp. 252–253  ; Michael G. Morony, Landholding in Seventh-century Iraq. Late Sasanian and Early Islamic Patterns, in  : Udovitch (ed.), The Islamic Middle East (n. 2), pp. 135–175. 38 Manzano Moreno, Conquistadores, emires y califas (n. 25), pp. 274–311  ; pp. 298–302 for wheat and rye returns, including a brief paragraph at p. 298 dismissing Watson’s thesis.

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The free status of agricultural workers is also a theme which has been dismissed but not discussed at great length  ; comments, like Watson’s, tend to be general, without specific context. Aubaile-Sallenave commented that Watson ignored the slave revolts of the ninth to eleventh centuries  ; the environmental historian Paolo Squatriti, of Italian origin based in the United States, commended Horden and Purcell for bringing class relations into the debate by showing that elites were in fact sustained by the Arab agricultural revolution – and peasants now had to work in summer as well as winter  ; Horden and Purcell wrote of the need to organize and control labour in order to exploit land more intensively – freedom was limited.39 García Sánchez’s comments are specific to Spain, stressing the high and demanding labour requirements of sugar and rice cultivation  ; she noted the shift in the Guadalquivir valley in the twelfth and thirteenth centuries from very labour-intensive sugar cane and cotton crops to the less labour-intensive grapes, olives and pasture.40

Watson’s List of Plants It is the chronology of plant introductions that has stimulated the greatest volume of comment on the thesis and indeed occupies nearly half of Watson’s book. Since it is so central to the book, and since it has attracted involvement from a very wide range of scholars, with considerable attention to individual plant chronologies, I shall deal with it in detail here. Firstly, sorghum. As Françoise Aubaile-Sallenave pointed out in 1984, sorghum was known in Egypt in the first century AD, centuries before the Arab conquest, and subsequently physical remains of sorghum have been identified in fourth-century Egypt  ; it is believed to have originated in Libya in prehistory.41 However, it appears to have been a minor crop at that time and is one of the plants unsuited to Mediterranean conditions. It is found, again minor, in destruction layers and drainage channels in early medieval settlements in northern Italy, the earliest find coming from a late fifth-century context  ; its cultivation expanded after c. 1000.42 It is also described as growing in north-west Iberia by the eleventh-century 39 Aubaile-Sallenave, L’agriculture musulmane (n. 6), p. 252  ; Squatriti, Of seeds, seasons, and seas (n. 12), pp. 1211–1212  ; Horden/Purcell, The Corrupting Sea (n. 16), p. 294. 40 García Sánchez, Caña de azúcar (n. 11), pp. 67–68. 41 Aubaile-Sallenave, L’agriculture musulmane (n. 6), p. 249  ; Van der Veen, Consumption, Trade and Innovation (n. 19), pp. 111, 114. 42 Elisabetta Castiglioni/Mauro Rottoli, Il sorgo (Sorghum bicolor) nel medioevo in Italia settentrionale, in  : Archeologia Medievale 37, 2010, pp. 485–495  ; Giovanna Bosi/Elisabetta Castiglioni/Rossella Rinaldi/Marta Mazzanti/Marco Marchesini/Mauro Rottoli, Archaeobotanical Evidence

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geographer al-Bakrῑ, citing a tenth-century Spanish slave trader from Tortosa, who commented that sorghum and millet, along with the juice of apples, were the best products from this land.43 The geographer’s description supports the suggestion of modern scholars, ethnographer and archaeobotanists, that it is reasonable to suppose the Arab conquest an agent in increasing the spread of cultivation of sorghum but not in introducing it. There are references to the cultivation of rice in Iraq in the Sasanian period (third to seventh century AD), in Egypt in the second century, as also in Israel and Turkey in the pre-Islamic period  ; there are plant remains from first-century Iran and from Egypt, although they are rare.44 Rice was introduced to Spain by the eleventh century, where there was much comment on cultivation requirements  ; as the French historian of the western Moslem world, Vincent Lagardère, demonstrates, there are many references to rice growing in the vegas of Valencia from the twelfth century onwards.45 Historians and archaeobotanists suggest that it is reasonable to suppose the Arab conquest significant in introducing rice in the West but not in so doing in the East Mediterranean. Assessing the occurrence of hard (durum) wheat is particularly problematic. Watson allowed that it was cultivated in Egypt, in pre-Islamic – Byzantine – times and recent assessments argue that it was cultivated widely in the East Mediterranean, as well as Sicily, in the Roman period.46 Naked wheats (Triticum aestivum and Triticum durum) are particularly useful to human populations because they are high in calories and are relatively easy to process  : the grains are easily separated from the glumes (the bracts forming the husk of the grain)  ; in contrast, processing the hulled wheats emmer (T. dicoccum), einkorn (T. monococcum) and spelt (T. spelta) requires an extra stage of dehusking before the grains can be milled.47 However, while Triticum of Food Plants in Northern Italy during the Roman Period, in  : Vegetation History and Archaeobotany 29, 2020, pp. 681–697. 43 Abū ꜥUbaid al-Bakrī, Geografía de España (Kitāb al-masālik wa-l-mamālik), trans. Eliseo Vidal Beltrán, Zaragoza 1982, p. 22. 44 Decker, Plants and progress (n. 18), pp. 194–197  ; Van der Veen, Consumption, Trade and Innovation (n. 19), pp. 46, 82, 113, 114. Both writers suggest that rice could have been an early import in the East Mediterranean, van der Veen’s comment relating to the Roman period  ; she makes it clear it was grown in the tenth century. 45 Vincent Lagardère, Le riziculture en al-Andalus VIIIe – XVe siècles, in  : Studia Islamica 83, 1996, pp. 71–87. 46 Aubaile-Sallenave, L’agriculture musulmane (n. 6), p. 249  ; Decker, Plants and progress (n. 18), pp. 192–193. 47 See the excellent description of their respective qualities by the Spanish archaeobotanist Natàlia Alonso, A First Approach to Women, Tools and Operational Sequences in Traditional Manual Ce-

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aestivum is ground and sieved to produce fine bread flour of high quality, Triticum durum has a harder grain which breaks down into granules and needs two phases of sieving after grinding  ; it stores well and although unsuitable for bread making it is good for semolina, couscous and pasta. In archaeological contexts the seeds of T. durum are difficult to distinguish from T. aestivum, which means that in practice hard wheat is very difficult to isolate and identify  ; consequently, finds of naked wheat are usually reported as Triticum aestivum/durum. However, the chaff of the two species is distinguishable and, when it is preserved, this has allowed the identification of hard wheat. The domestication of wild plants that became staple foods has of course been a subject of major significance for archaeologists and archaeobotanists for many decades. How far the occurrence of free-threshing tetraploid wheats in prehistoric contexts in the Near East included hard wheat remains arguable for some scholars, although there have been finds of T. durum chaff in rubbish from human settlements in northern Syria in the Middle and Late Bronze Age.48 It is also quite clear that hard wheat was grown in or near Egypt in the first and second centuries AD  : very large quantities of its chaff were imported to the Roman mining settlement at Mons Claudianus, especially for use in mud brick and in wall plaster, and orders for chaff are recorded on surviving ostraca.49 Hard wheat chaff of the Roman period has also been found by Spanish archaeobotanists in northern Iberia, in Catalonia.50 It is therefore clear that hard wheat was widely cultivated before the Arab conquest although, as biomolecular archaeologist Robert Sallares argues, it may not – especially in north real Grinding, in  : Archaeological and Anthropological Sciences 11, 2019, pp. 4307–4324, accessible at (accessed 24/11/2021)  ; compare the useful diagram of millet in Andrés Teira Brión, Cultivos e froiteiras na Idade Media en Galicia. O conxunto carpolóxico da escavación do Banco de España (Santiago de Compostela), in  : Gallaecia 34, 2015, pp. 209–226 at p. 215. 48 See Anton C. Zeven, The Spread of Bread Wheat over the Old World since the Neolithicum as Indicated by its Genotype for Hybrid Necrosis, in  : Journal d’Agriculture Traditionelle et de Botanique Appliqué 27, 1980, pp. 19–53 at pp. 31–32  ; Willem Van Zeist, Evidence for Agricultural Change in the Balikh Basin, Northern Syria, in  : Chris Gosden/Jon Hather (eds), The Prehistory of Food. Appetites for Change, London 1999, pp. 350–373 at pp. 357–361. ‘Tetraploid’ refers to the number of chromosomes in the wheat  : T. dicoccum (emmer) is a tetraploid wheat but is not free-threshing  ; T. durum is tetraploid and is free-threshing  ; T. aestivum is free-threshing but hexaploid. 49 Marijke Van der Veen/Sheila Hamilton-Dyer, A Life of Luxury in the Desert  ? The Food and Fodder Supply to Mons Claudianus, in  : Journal of Roman Archaeology 11, 1998, pp. 101–116 at pp. 110– 115. 50 Leonor Peña-Chocarro/Guillem Pérez-Jordà/Natàlia Alonso/Ferran Antolìn/Andrés Teira Brión/João Pedro Tereso/Eva María Montes Moya/Daniel López Reyes, Roman and Medieval Crops of the Iberian Peninsula. A First Overview of Seeds and Fruits from Archaeological Sites, in  : Quaternary International 499A, 2019, pp. 49–66 at p. 59.

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Africa – have been the dominant cereal it later became.51 The research of archaeologists, and especially of archaeobotanists, has been critical in assessing the spread of this plant. In contrast, a good case has been made that Arab agency was responsible for the introduction and wide diffusion of sugar cane, whose cultivation may have originated in south Asia, although it appears to have already been established in the valleys of Tigris and Euphrates by the time of Arab conquest.52 This case has attracted widespread support from historians, archaeologists, archaeobotanists, and Arabists. Written references to sugar occur in many parts of the Islamic world from the eighth century AD onwards and it appears to have been grown in Egypt from that period, becoming common by the tenth century  ; the remains of sugar cane featured in Islamic levels at the Egyptian port of Quseir al-Qadim, a transport hub for trans-shipment of goods from Indian Ocean trade from the eleventh century onwards.53 The range of references to sugar cane in different kinds of tenth-century text from al-Andalus suggest to the specialists in Arabic science that cultivation was likely there by the end of that century  ; indeed, the early tenth-century historian Aḥmad al-Rāzī, who wrote a description of Spain, commented on the quantities of sugar cane around Salobreña on the Granada coast.54 It certainly became well established, despite high water requirements, in parts of al-Andalus and, although phased out with Christian conquest in some regions of Iberia, it continued to supply a very active trade from the vegas of Valencia into the seventeenth century.55 Cotton appears to have been grown along the shores of the Persian Gulf from at least the fourth century BC, as well as in India and north Africa, and textiles made from imported cotton were widely used in the Levant in the earliest Christian centuries, as the archaeobotanist Charlène Bouchaud makes clear.56 That cotton was grown 51 Robert Sallares, The Ecology of the Ancient Greek World, London 1991, p. 320  ; he addresses the Watson thesis directly, pp. 319–321. 52 Antonio Malpica Cuello, Medio físico y territorio. El ejemplo de la caña de azúcar a finales de la edad media, in  : Id. (ed.), Paisajes del azúcar (n. 11), pp. 11–40 at p. 16  ; Malpica is a Spanish medieval archaeologist. 53 Van der Veen, Consumption, Trade and Innovation (n. 19), pp. 91, 113, 116  ; people did live at the port and remains of the plants they consumed have been recovered, as well as those of goods passing through the port. 54 García Sánchez, Caña de azúcar (n. 11)  ; López y López, Estudio particular de las especies botánicas (n. 9), p. 70  ; Évariste Lévi-Provençal, La “description de l’Espagne” d’Aḥmad al-Rāzī, in  : Al-Andalus 18, 1953, pp. 51–108 at p. 67. 55 Santiago La Parra López, Un paisaje singular. Borjas, azúcar y moriscos en la huerta de Gandía, in  : Malpica (ed.), Paisajes del azúcar (n. 11), pp. 117–171. 56 Charlène Bouchaud, Al-quṭun. Importation des produits et introduction de la culture du coton en

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in Egypt and in Palestine from at least the first century AD is clear from textual references and from a series of third- and fourth-century ostraca recording rents and payments due in cotton.57 Plant remains featured in pre-Islamic levels at Quseir al-Qadim and it was grown in Libya and Ethiopia before the explosion of Islam.58 However, Decker points out that flax was a more important textile crop in Egypt throughout the period of the Arab agricultural revolution and was not overtaken by cotton till the thirteenth century  ; its spread here can hardly be attributed to the Arabs.59 Cotton was also grown in Sicily from the late eleventh century, replacing flax, to become a major source of supply.60 There are references to the cultivation of cotton in a range of tenth-century andalusi texts, including a model share-cropping contract in a jurist’s formulary, and by the eleventh century it was being exported from Seville  ; cotton textiles were already available in northern Iberia in the mid-tenth century  : the bishop of León gave two cotton chasubles (casullas de algoton) to the monastery of San Juan en Vega round about 950, most likely imported from the south.61 Although again this was a plant present in the East Mediterranean in pre-Islamic times, there was clearly also significant diffusion of the plant westwards in the Arab period. The word ‘cotton’ is, after all, a direct borrowing from Arabic. As indicated above, written references to citrus present problems because of the instability of terms for different citrus fruits and the easy hybridization between varieties. However, the citron (Citrus medica) was grown in Palestine in the fifth and fourth centuries BC, when already well established in Persia, as the Israeli archaeo­ botanist Dafna Langgut clarifies  ; Watson himself acknowledged this, adding that it may have been widely diffused in the Mediterranean by the time of Palladius (late fourth/fifth century AD).62 Citrus pollen and citrus seeds are certainly preserved Mediterranée, in  : Richarté/Gayraud/Poisson (eds), Héritages arabo-islamiques (n. 17), pp. 315– 331. 57 Decker, Plants and Progress (n. 18), pp. 197–201. 58 Van der Veen, Consumption, Trade and Innovation (n. 19), pp. 111, 114. 59 Decker, Plants and progress (n. 18), p. 205. 60 Chris Wickham, The Donkey and the Boat, Oxford 2023, pp. 243–249, 435–436, and often – I am grateful to Chris for sight of these chapters in advance of publication. 61 Ibn al-‘Aṭṭār, Formulario notarial y judicial andalusí del alfaquí y notario cordobés m. 399/1009, trans. Pedro Chalmeta and Marina Marugán, Madrid 2000, no. 42, cf. also no. 51  ; López y López, Estudio particular de las especies botánicas (n. 9), p. 70  ; Hernández Bermejo/García Sánchez, Economic botany (n. 10), p. 23  ; Colección documental del archivo de la catedral de León (775–1230), vol. 1 (775–952), ed. Emilio Sáez, León 1987, no. 220. 62 Dafna Langgut, The History of Citrus medica (citron) in the Near East. Botanical Remains and Ancient Art and Texts, in  : Zech-Matterne/Fiorentino (eds), AGRUMED (n. 12), pp. 84–94  ; Watson, Agricultural Innovation (n. 1), pp. 42–44.

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from Egypt and Italy by the first century AD and there is a series of references to the citron in first- to third-century papyri and ostraca.63 In the view of historian of Arabic science, Angel López y López, citron may well have arrived in Spain in the tenth century.64 Lime (Citrus aurantifolia), on the other hand, featured in eleventh-century and later Islamic-period levels at Egyptian Quseir al-Qadim and is reasonably considered an introduction of the Islamic period.65 The arrival of limes in Spain appears to have been much later, although Seville oranges (Citrus x aurantium) were introduced into the botanical gardens of the taifa rulers of al-Andalus in the eleventh century, as the eleventh-century agronomists record.66 Ibn Wāfid, a physician, bota­nist and pharmacologist who died in 1074–1075, wrote an influential manual on agriculture and was responsible for stocking the garden of the ruler Al-Maꜥmūn in Toledo  ; the agronomist Ibn Baṣṣāl travelled widely in the Middle East and returned to follow Ibn Wāfid in developing Al-Maꜥmūn’s garden, subsequently transferring to Seville  ; his agronomical work (which includes instructions for planting citron and orange) is unusual because it has no references to earlier agronomists and seems to be based on his personal experience.67 Seville oranges of course continue to flourish in southern Spain. Overall, then, it looks as if it is reasonable to suggest Arab introduction and diffusion of sour oranges and, ultimately, limes  ; lemons were an even later introduction. Some of the plants discussed above that were present in the Greco-Roman world of the East Mediterranean clearly spread farther west in the Islamic period  ; this is a pattern which could also apply to taro, artichoke and water melon. As archaeobotanists demonstrate, remains of water melon have been found in the Greco-Roman world and water melon is referenced in pre-Islamic contexts in Egypt  ; it is referenced by the early Iberian agronomists, as experts in Arabic science note, but remains of that period 63 Bouchaud/Morales/Schram/Van der Veen, The Earliest Evidence for citrus in Egypt (n.  12), especially pp. 65–68  ; Alessandra Celant/Girolamo Fiorentino, Macro-remains of Citrus Fruit in Italy, in  : Zech-Matterne/Fiorentino (eds), AGRUMED (n. 12), pp. 130–138. 64 López y López, Estudio particular de las especies botánicas (n. 9), p. 47. 65 Van der Veen, Consumption, Trade and Innovation (n. 19), pp. 86, 88, 116. 66 García Sánchez, Caña de azúcar (n. 11), pp. 63–67. 67 La traducción castellana del “Tratado de Agricultura”  de Ibn Wāfid, trans. José M. Millás Vallicrosa, Madrid 1943 (I have not been able to see the more recent translation, Ibn Wāfid, Tratado de agricultura. Traducción Castellana (Ms. s. XIV), ed. and trans. Cipriano Cuadrado Romero (Anejos de Analecta Malacitana 14, 1997)). Ibn Baṣṣāl  : Libro de Agricultura, ed. and trans. José M. Millás Vallicrosa and Mohamed ꜥAzīmān, Tetuán 1955.  See also and (accessed 13/12/2021)  ; Hernández Bermejo/García Sánchez, Economic botany (n. 10), pp. 22–23  ; Butzer, The Islamic traditions of agroecology (n. 8), pp. 24–25.

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have not yet been found in Iberia.68 By the seventeenth century it was grown in many parts of Europe. Taro, by contrast, although a staple food in South East Asia and the Pacific, is a tropical and subtropical plant that did not become common in Europe. It is recorded as a food in the Roman world but archaeobotanist Marijke van der Veen shows that it was not present at Quseir al-Qadim in Egypt until the eleventh-century Islamic period, when it was consumed locally, and she observes that remains are very rarely found.69 Ultimately it came to be cultivated in some parts of the western Mediterranean – the Canary Isles and Azores, for example – but references in the Iberian peninsula do not begin until the late middle ages  ; it does not feature in the early agronomists’ lists, such as that of the Calendar of Córdoba or Ibn Baṣṣāl.70 Artichoke is a variety of the wild cardoon, which is native to the Mediterranean  ; Decker argued that artichoke was cultivated throughout the Mediterranean in the Roman Empire and was known as a garden plant by the late Empire. It features as a garden plant in the eleventh-century Iberian agronomists’ lists but plant remains have yet to be found from this period or indeed elsewhere in Europe in the middle ages.71 In the long run cultivation certainly spread to western Europe, however. How far Arab agency was responsible for the wide diffusion of these three plants therefore remains questionable. There is no known pre-Islamic knowledge in the Mediterranean world of remains of lime, banana, aubergine or spinach.72 References to lime do not occur in andalusi texts until the fourteenth century.73 Remains of banana and aubergine were recovered from Islamic levels at Quseir al-Qadim and both feature in the earliest andalusi agronomic texts, of the late tenth century, from which point both may well have been cultivated in southern Iberia.74 Bananas, which cannot tolerate extreme cold, were

68 Ruas/Mane/Puig/Hallavant/Pradat/Ouerfelli/Ros/Alexandre-Bidon/Durand, Regard pluriel sur les plantes de l’héritage arabo-islamique (n.  17), p.  351  ; Van der Veen, Consumption, Trade and Innovation (n. 19), p. 111  ; Hernández Bermejo/García Sánchez, Economic botany (n. 10), p. 22. 69 Aubaile-Sallenave, L’agriculture musulmane (n. 6), p. 250  ; Van der Veen, Consumption, Trade and Innovation (n. 19), pp. 95–96, 109, 116. 70 See López y López, Estudio particular de las especies botánicas (n. 9)  ; Hernández Bermejo/García Sánchez, Economic Botany (n. 10), pp. 22–23. 71 Decker, Plants and Progress (n. 18), pp. 202–203  ; Ruas/Mane/Puig/Hallavant/Pradat/Ouerfelli/Ros/Alexandre-Bidon/Durand, Regard pluriel sur les plantes de l’héritage arabo-islamique (n. 17), pp. 351, 357  ; García Sánchez, Caña de azúcar (n. 11), p. 55. 72 Ruas/Mane/Puig/Hallavant/Pradat/Ouerfelli/Ros/Alexandre-Bidon/Durand, Regard pluriel sur les plantes de l’héritage arabo-islamique (n. 17), p. 351. 73 García Sánchez, Caña de azúcar (n. 11), p. 65  ; see above, p. 245–246. 74 López y López, Estudio particular de las especies botánicas (n. 9), pp. 49–50, 74  ; Van der Veen, Consumption, Trade and Innovation (n. 19), pp. 93, 97–98, 113, 116.

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only ever cultivated in limited areas of al-Andalus, such as the vegas of Granada  ; aubergine seeds have been recovered from ditches with Islamic and Norman fill (eleventh- and twelfth-century) in Mazara del Vallo in Sicily and aubergine was cultivated in Egypt and in Yemen by the later middle ages and in time became widely cultivated in western Europe.75 Spinach also came to be cultivated widely in western Europe, but although it features in early agronomic texts from al-Andalus, plant remains of the early Islamic period are rare  ; there are thirteenth-century remains in Sicily and the earliest French remains are from Montaillou on the lower slopes of the Pyrenees in a late twelfth-/early thirteenth-century context  ; it was grown in England from at least the fourteenth century.76 For these plants, Arab agency may well have been responsible for their introduction, but clearly there were other contributors to their wider diffusion and adoption. Watson himself pointed out that the coconut palm does not grow well in most Arab regions and it clearly was not successfully introduced into Mediterranean regions from its south-east Asian origins, although it was carried to parts of Africa. Similarly, mango plants were introduced to Africa and are mostly grown in tropical and subtropical regions, rather than Mediterranean areas.77 However, like bananas, they do grow now on the south coast of Andalucia, in the province of Granada. There are fragments of coconut in Roman and Islamic levels at Egyptian Quseir al-Qadim, where coconut appears to have been an object of trade, especially for fibre, and was not grown locally  ; holes drilled in the fragments to drain off milk, however, indicate that it was consumed at Quseir.78 It has become clear, especially with the input of new material from archaeobotanists, that some plants on Watson’s list were already cultivated widely in pre-Islamic times (e.g. sorghum and hard wheat)  ; some were cultivated in pre-Islamic times in the East Mediterranean but were spread west by the Arabs (like rice and cotton)  ; some were cultivated in the East Mediterranean in pre-Islamic times and spread ultimately to the West, although the agent is uncertain (water melon, artichoke, taro to some parts)  ; some were Arab introductions and widely diffused by Arab agency 75 Milena Primavera, Introduzione di nuove piante e innovazioni agronomiche nella Sicilia medievale. Il contributo dell’archeobotanica alla rivoluzione agricola araba di Andrew Watson, in  : Archeologia Medievale 45, 2018, pp. 439–444 at p. 443  ; García Sánchez, Caña de azúcar (n. 11), pp. 59–62. 76 Primavera, Introduzione di nuove piante (n. 75), p. 443  ; Ruas/Mane/Puig/Hallavant/Pradat/ Ouerfelli/Ros/Alexandre-Bidon/Durand, Regard pluriel sur les plantes de l’héritage arabo-islamique (n. 17), pp. 361–362. 77 Watson, Agricultural Innovation (n. 1), pp. 55–57, 72–73. 78 Van der Veen, Consumption, Trade and Innovation (n. 19), pp. 48–49, 77, 188, with photographs of the fragments with drilled holes.

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(sugar cane, oranges, limes)  ; and some were Arab introductions although other factors contributed to their diffusion (bananas, aubergines and probably spinach).

Some considerations, by way of conclusion Looking at the Watson debate now, at the end of 2021, there remains a stark divide between those scholars who dismiss the thesis or regard it as substantially flawed and those who operate from the belief that it is a true description of processes that did occur. The introduction to a special volume on diet in Iberia, published in 2019, includes the sentence  : “The presence of Islamic rule over much of the peninsula for nearly 800 years (711–1492 AD) was responsible for the introduction and spread of new technology and agricultural practices and products, the so-called green revolution”.79 By contrast, in his preface to the online edition of his major work on irrigation in Mesopotamia, also published in 2019, Christensen makes a point of saying that the Arab conquests brought no significant changes if we are thinking about long-term development and the interaction between humans and the physical environment in which they live.80 In his overview of the debate Paolo Squatriti concluded that whether you believe or not depends on your personal historiographical orientation  : some kinds of scholar are culturally inclined to preference European contributions, others to value the Arabic  ; some accept the Watson view, others do not.81 This is partly a matter of academic discipline  : historians who work from written evidence are bothered by the failure to appreciate the problems of understanding individual words in ancient texts and the real complications of textual transmission, as well as by ignorance of relevant written sources  ; archaeologists who work on excavated material remains acknowledge the fact that plant species do spread from one part of the world to another, especially from east to west, and that some of this spread can be located in the period of Arab explosion. But that cannot be the whole explanation. After all, some text-based historians have found the thesis easy to accept  : in comparing what he identified as three agrarian revolutions of the early middle ages (European, Chinese and Islamic), Michael Mitterauer accepted that the Arab agricultural revolution was a fact, even if he pointed out some of its limitations.82 And plenty 79 Olalla López-Costas/Michelle Alexander, Paleodiet in the Iberian Peninsula. Exploring the Connections between Diet, Culture, Disease and Environment Using Isotopic and Osteoarchaeological Evidence, in  : Archaeological and Anthropological Sciences 11, 2019, pp. 3653–3664. 80 Christensen, The Decline of Iranshahr (n. 18), doi  : 10.5040/9781350988590 (accessed 16/12/2021). 81 Squatriti, Of Seeds, Seasons, and Seas (n. 12), p. 1215. 82 Michael Mitterauer, Roggen, Reis und Zuckerrohr. Drei Agrarrevolutionen des Mittelalters im Vergleich, in  : Saeculum 52, 2001, pp. 245–265  ; limitations, for example, at p. 259.

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of archaeologists have shown that some of Watson’s selected plants were present, and cultivated, in parts of the Near East and East Mediterranean long before the emergence of Islam. It is in fact extremely interesting that contributors to the debate come from a wide range of disciplines  : not only historians and archaeologists, and different kinds of historian and archaeologist, but plant scientists, historians of science, Arabic specialists, orientalists, ethnographers, anthropologists, geomorphologists, and geographers. Their views on the Watson thesis do not divide neatly along disciplinary lines. It is also interesting that they come from several different countries and from different national historiographical traditions, from Israel to North America. Their views do not divide by national tradition either and can indeed cut across those traditions. What is striking is that this is overwhelmingly a European and North American debate. That may suggest that a concern to assess Arab cultural impact on world history underlies much of it. Overall, the results of archaeological excavation and analysis have made a significant difference to assessment of the issues arising from Watson’s thesis. There is much more relevant material available now, especially archaeobotanical, than there was when Watson wrote his initial paper and book. This means that it really is possible to locate and date the presence of plant remains, whether seeds or chaff or pollen, in pre-Islamic levels and in many cases in such quantities and contexts as to make it clear that cultivation of them was local, although archaeobotanists would be the first to say that archaeobotany cannot tell us everything  : absence of remains of a particular plant does not necesarily mean absence of the plant. The key archaeobotanical work of the last twenty-five or so years has been augmented with analysis of the stable isotopes of the collagen of bones and the enamel of teeth from human and animal populations.83 Plants acquire carbon during photosynthesis, fixing it by one of two pathways, C3 or C4, which reflect different relationships between the stable isotopes and carbon. Traces of plants that have been consumed within the last ten to fifteen years of life survive in bone, and analysis can establish isotopic signatures which may reveal aspects of diet in the populations studied, in particular whether C3 (including wheat, oats, barley, rice) or C4 (including millet, sorghum, maize, sugarcane) plants were preferred.84 Although there are important consequences for prehistoric populations, and the technique has been applied for at least the last forty years, stable isotope 83 For full explanation of the technique, see Margaret J. Schoeninger/Katherine Moore, Bone Stable Isotope Studies in Archaeology, in  : Journal of World Prehistory 6, 1992, pp. 247–296. There is a 2017 Youtube guide from the University of Leiden at  : (accessed 6/12/2021). 84 Stable isotopes of nitrogen are also important in reconstructing diet and contribute to understanding past consumption of meat and fish. Stable isotope analysis has other useful applications, from assessing breast feeding practice to spatial mobility.

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analysis of bone from medieval cemeteries in Iberia has flourished in recent years and the resulting analyses have a tendency to be framed within a Watson problematic  : was Islamic rule responsible for the introduction of new agricultural practices  ?85 What were the consequences of changing political rule on human and faunal diets  ?86 Interestingly, results so far suggest that no dietary difference is detectable between Christian and Islamic populations,87 although there is a possibility that tooth enamel apatite from an Islamic cemetery at Écija, near Seville, reflects consumption of sugarcane.88 Moreover, since current techniques cannot differentiate sorghum from millet isotopically, the approach is at the present time of very limited use in identifying the introduction of plants in the early to central middle ages. Analysis of macrobotanic plant remains, however, has in recent years produced some serious attempts at assessment both of Watson’s plant introductions and of the cultural differences made by Arab invasion in early and central medieval contexts. Marijke van der Veen’s work in Egypt resulted in a highly credible differentiation between plants already known in the region in the pre-Islamic period (like water melon, cotton), those (like sorghum, rice) known but spread more widely in the Islamic period and those (sugarcane, banana, taro, aubergine) that were new introductions.89 Although primarily concerned to identify the periods when new introductions reached France, in the course of their investigation Marie-Pierre Ruas and colleagues offered a persuasive survey of the presence of Watson’s plants in the ancient world and their passage to western Europe.90 In a much more regionally limited study, Natàlia Alonso and colleagues elegantly demonstrated that the range of plants 85 López-Costas/Alexander, Paleodiet in the Iberian Peninsula (n. 79)  ; cf. Sarah Inskip/Gina Carroll/Andrea Waters-Rist/Olalla López-Costas, Diet and Food Strategies in a Southern al-Andalusian Urban Environment during Caliphal Period, Écija, Sevilla, in  : Archaeological and Anthropological Sciences 11, 2019, pp. 3857–3874. 86 Michelle M. Alexander/Alejandra Gutiérrez/Andrew R. Millard/Michael P. Richards/Christopher M. Gerrard, Economic and Socio-cultural Consequences of Changing Political Rule on Human and Faunal Diets in Medieval Valencia (c. Fifth–Fifteenth Century AD) as evidenced by stable isotopes, in  : Archaeological and Anthropological Sciences 11, 2019, pp. 3875–3893. 87 López-Costas/Alexander, Paleodiet in the Iberian Peninsula (n.  79)  ; George Dury/Andrew Lythe/Nicholas Marquez-Grant/Almudena García-Rubio/Glenda Graziani/Juanjo Mari/ Maggie Ziriax/Rick Schulting, The Islamic Cemetery at 33 Bartomeu Vicent Ramon, Ibiza. Investigating Diet and Mobility through Light Stable Isotopes in Bone Collagen and Tooth Enamel, in  : Archaeological and Anthropological Sciences 11, 2019, pp. 3913–3930. 88 Inskip/Carroll/Waters-Rist/López-Costas, Diet and Food Strategies (n. 85)  ; the argument is that analysis suggests consumption of a C4 plant with high carbon content but very low protein. 89 Van der Veen, Consumption, Trade and Innovation (n. 19). 90 Ruas/Mane/Puig/Hallavant/Pradat/Ouerfelli/Ros/Alexandre-Bidon/Durand, Regard pluriel sur les plantes de l’héritage arabo-islamique (n. 17).

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found in Islamic contexts in northeast Spain (Catalonia and Andorra) was wider than that found in Christian contexts. What is particularly noteworthy here is the fact that the wider Islamic range did not include Watson’s list of plants but, rather, a much greater range of fruits like figs, olives, apples and walnuts, as well as a small quantity of introduced pomegranate seed at one site.91 That pattern, of more abundant finds of fruit remains in Islamic than in Christian regions, is reflected in the survey of all macrobotanic remains from Roman and medieval Iberia by Leonor Peña-Chocarro and colleagues, here applying to al-Andalus in the south as well as to north-eastern Iberia.92 As it stands, although one can identify diametrically opposed views on Watson’s theory, what is interesting is that the thesis still stimulates a range of responses  ; and most recent assessments are in fact mixed. Notwithstanding the new knowledge, especially of plant remains, it is impossible to quantify the stages by which plants were introduced and that means that little can be conclusive. There simply is not enough evidence to determine the rate at which plants spread. Debate thereby continues. With regard to the diffusion of plants, clearly some of Watson’s list were introduced to Iraq long before the Arabs and some were known in the ancient Mediterranean  ; equally clearly some were new introductions to east or west Mediterranean, most plausibly in the period of consolidated Arab political control, although Arab agency is often arguable. Where serious doubts remain, they are mostly about volume and chronology  : how quickly and how widely and how comprehensively were new plants adopted  ? Clearly there is much more evidence of eleventh-century and later adoption of new plants than of eighth-century adoption. Moreover, were they introduced through ruler, landowner or peasant initiative  ? Were they confined to rulers’ botanical gardens or embedded in local agricultural practice  ? These questions have a bearing on the rate of diffusion and they are difficult to answer. After all, many kinds of evidence suggest that cereals like wheat and barley remained staples, although some of the introductions became established in favourable environments  : Seville oranges still grow in southern Spain. With regard to technical innovations, there are more and stronger objections to Watson’s views  : large irrigated systems certainly became established in western Europe by the end of the middle ages, especially in Spain, but 91 Natàlia Alonso/Ferran Antolìn/Helena Kirchner, Novelties and Legacies in Crops of the Islamic Period in the Northeast Iberian Peninsula. The Archaeobotanical Evidence in Madîna Balagî, Madîna Lârida, and Madîna Turṭûša, in  : Quaternary International 346, 2014, pp. 149–161, especially pp. 158– 160 and the table at p. 155. 92 Peña-Chocarro/Pérez-Jordà/Alonso/Antolìn/Teira Brión/Tereso/Montes Moya/López Reyes, Roman and Medieval Crops of the Iberian Peninsula (n. 50), passim but especially the map at p. 57.

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Arab agency is often questioned. Alternative economic forces could well have played a role and are frequently adduced. With regard to the status of agricultural workers and to changes to proprietorship, Watson’s views are consistently challenged. The Watson debate is necessarily medieval because it arises from a particular medieval political and cultural process, although it has repercussions on our approaches to prehistory and to the integration of the ‘New World’ in the early modern period. The things that have determined the views of commentators, however, are not distinctively medieval. Moreover, although medieval Latin and Romance literature often plays on the theme of victorious Christians against evil Saracens, there is very little of this dichotomy, or its converse, in the debate  ; indeed, there is a tendency for Ara­ bic experts to criticise the Watson theory. One element in determining views has been intolerance of ignorance  ; another stems from perceiving a failure of logic and a dependence on unsupported assumptions  ; another is openness to new evidence  ; another is a commitment to the importance of peasant agency  ; another is suspicion of classical economic theory or of grand theoretical explanations  ; and another, with Squatriti, is the reviewer’s predetermined historiographical orientation or, to put it another way, confirmation bias. Monocausal explanations are rarely satisfactory, as the multiplicity of approaches to the Watson thesis underline  ; the wide range of commentators has confirmed some elements of the overarching theory and refuted others  ; most importantly they have introduced nuance.

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Klassenkampf im Mittelalter? Der Stellingaaufstand in der Mittelalterforschung der DDR

Die SED und mit ihr die DDR verstand sich von Anfang an1 als legitime Erbin alles Progressiven in der Geschichte des deutschen Volkes  : Natürlich beginnt die Geschichte der DDR nicht erst 1945. Sie hat ihre historischen Wurzeln in den revolutionären Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung, in den progressiven und humanistischen Traditionen der ganzen deutschen Geschichte, einer Geschichte also, die weit bis ins Mittelalter und in die Entstehungszeit des deutschen Volkes zurückreicht.

Dementsprechend pflege und erschließe man diese Traditionen „von der Stellinga des frühen Mittelalters […] bis zum antifaschistischen Widerstandskampf der dreißiger und beginnenden vierziger Jahre.“2 Der Rückgriff in die Geschichte sollte folglich keineswegs auf die Neuzeit beschränkt bleiben  ;3 bereits Friedrich Engels hatte ja pointiert darauf aufmerksam gemacht, dass der Sozialismus auf einer Entwicklungslinie liege, die bis zur antiken Sklaverei zurückreiche.4 Doch die Geschichte 1 Der etwa von dem Moskauer Exilkommunisten Alexander Abusch zum Ausdruck gebrachte Geschichtspessimismus blieb Episode  ; vgl. Alexander Abusch, Irrweg einer Nation, Berlin 1946. Seit der Gründung der DDR dominierte eine positive Indienstnahme der Geschichte  ; vgl. etwa das Lehrbuch der Politischen Grundschulen. Die Entwicklung Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung bis zum Sturz des Faschismus, Berlin 1951 (21952). Vgl. allgemein zum ‚Narrativ‘ einer ‚deutschen Misere‘ Sascha Penshorn, Die deutsche Misere. Geschichte eines Narrativs, Dissertation, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, 2018 (http://publications.rwth-aachen.de/ record/784668/files/784668.pdf  ; aufgerufen am 19.02.2023), zum Narrativ in der SBZ S. 165–233 und S. 234–266 zum „Ende der Misere“ in der DDR nach der Staatsgründung. 2 Wir sind legitime Erben alles Progressiven in der Geschichte. ND-Gespräch mit Prof. Dr. Walter Schmidt über die Einheit von sozialistischem Patriotismus und proletarischem Internationalismus, in  : Neues Deutschland vom 14./15. Januar 1978, 33. Jahrgang, Nr. 12, S. 10. 3 Während es in den fünfziger Jahren einzelne Stimmen gab, die das Mittelalter bewusst marginalisieren wollten, blieb dies – wie die bereits genannte ‚Misere-Theorie‘ (vgl. Anm. 1) – im Grunde nebensächlich und das Mittelalter durchgängig Teil der ‚eigenen‘ Geschichte, im Vergleich mit der Neuzeit (und dort insbesondere mit Themen der deutschen Arbeiterbewegung) aber natürlich trotzdem von untergeordneter Bedeutung. Vgl. dazu auch unten Anm. 62. 4 Vgl. Friedrich Engels, Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft („Anti-Dühring“)

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des Mittelalters bot nur bedingt lohnende Vorbilder. Eine Ausnahme war der sogenannte Stellingaaufstand, der deswegen bis hinab auf die Ebene der Schulbücher oder in Stadtgeschichten präsent war. Die Bedeutung dieses nur schwer zu greifenden Aufstandes eines Teils der sächsischen Bevölkerung gegen die sächsisch-fränkische Oberschicht zu Beginn der 840er Jahre, der wohl blutig niedergeschlagen wurde,5 war indes keineswegs von vornherein für jeden ersichtlich und auch die sich daran knüpfende Bewertung schwierig. Im Zuge der Diskussionen über die Präsentation der Nationalgeschichte im neugegründeten Museum für Deutsche Geschichte6 wurde auf einer Tagung des Wissenschaftlichen Rates des Museums am 4. und 5. Februar 1954 über die Thesen der Abteilung Mittelalter von Roland Franz Schmiedt moniert, dass zu den Aufständen der Stellinga keine „Einschätzung“ vorgenommen werde. Man müsse sich entscheiden, ob dies ein progressiver Kampf gewesen sei oder einen anderen Charakter habe  : „Ich selbst stehe auf dem Standpunkt, daß dieser Kampf einen progressiven Charakter trägt, da die Stellinga um ihre Freiheit kämpfen.“ Das Pro­ blem lag für Schmiedt in der Zweischneidigkeit des Ereignisses  : „Es ist einerseits ein Kampf der Bauern um ihre Freiheit, auf der anderen Seite ist es aber auch ein Kampf der Bauern gegen die damals fortschrittliche Produktionsweise, nämlich gegen den Feudalismus, und ich glaube, man müßte in die Thesen eine Einschätzung bringen.“7 In der Diskussion nahm nach einer Reihe anderer Wortmeldungen dann Erik Hühns als Mitautor der Thesen auf Schmiedt Bezug und räumte ein, dass die Einschätzung der Stellinga ein schwieriges Kapitel sei. Seiner Meinung nach sei eine Fragestellung nicht befriedigend, die auf das Bauen von „Schubfächern“ hinauslaufe  : Ist der Aufstand progressiv  ? Ist der Stellinga-Aufstand Reaktion  ? Warum sollen wir ihn in eine Schublade stecken  ? Jedem Freiheitskampf der Bauern wird unsere Sympathie gehören, das ist keine Frage. Aber man muß diese Aufstände nach zwei Seiten betrachten  ; sie haben zwei Seiten. Sie sind getragen von Bauern, die um ihre Freiheit kämpfen, die wir begrüßen und positiv einschätzen. Andererseits ist der Feudalismus in dieser Zeit progressiv, (Marx-Engels-Werke 20/Marx-Engels-Gesamtausgabe 1/27), Berlin 1962, S. 168/Berlin 1988, S. 370  : „In diesem Sinne sind wir berechtigt zu sagen  : Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus“. 5 Vgl. zur aktuellen Forschungsliteratur unten Anm. 172 und 180. 6 Vgl. David E. Marshall, Das Museum für deutsche Geschichte – A Study of the Presentation of History in the Former German Democratic Republic (Studies in Modern European History 56), New York 2010  ; Stefan Ebenfeld, Geschichte nach Plan  ? Die Instrumentalisierung der Geschichtswissenschaft in der DDR. Am Beispiel des Museums für Deutsche Geschichte in Berlin (1950–1955), Marburg 2001  ; Karen Pfundt, Die Gründung des Museums für Deutsche Geschichte 1952 in der DDR. Berlin, Freie Univ., Diplomarbeit, 1994. 7 Vgl. Tagung des Wissenschaftlichen Rates am 4. und 5. Februar 1954 über die Thesen der Abteilung Mittelalter (1. Tag) (Archiv Museum für Deutsche Geschichte, Nr. 54, Bl. 43f.).

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und die Durchsetzung des Feudalismus ist in dieser Zeit eine progressive Angelegenheit. Warum soll ich nun also hier sagen  : progressiv – reaktionär – warum soll ich nicht beide Seiten der Angelegenheit zeigen  ?8

Doch zu groß war die Verlockung der Inbesitznahme für die eigenen Geschichtstraditionen,9 als dass diese Dialektik vertieft worden wäre. Im zentralen Lehrbuch für den Geschichtsunterricht der sechsten Klasse wurde der Stellingaaufstand entsprechend als der „größte Bauernaufstand während der Entstehungszeit des Feudalismus“ herausgehoben  : „Bauern erhoben sich hier gegen die Herren, um ihre alte Freiheit wiederzuerkämpfen bzw. ihre Freiheit zu verteidigen.“ Zwar seien die Bauern aufgrund ihrer fehlenden Organisation und Zersplitterung der Kräfte unterlegen, aber trotzdem hätten sie nicht vergebens gekämpft  : „Aus Furcht vor den Widerstandsaktionen der Bauern sahen sich die Feudalherren vielfach gezwungen, die Verpflichtungen der Bauern zu Frondiensten und Abgaben schriftlich genau festzulegen, so daß eine weitere Verschärfung der Ausbeutung vorläufig verhindert wurde.“10 In parallel veröffentlichten Unterrichtshilfen wurde ergänzend festgehalten, auf welche beiden Erkenntnisse der Lehrer in dieser Stunde hinzuführen hätte und worin die Erziehungsschwerpunkte liegen sollten. Die feudale Ausbeutung sei die Ursache des Klassenkampfes  ; der mutige Widerstand der Bauern habe jedoch zunächst eine weitere Verschärfung verhindert. Ergo müsse man für den mutigen Widerstand der Bauern Partei ergreifen und durch das Anknüpfen an das Wissen der Schüler aus der Unterstufe über die Bodenreform darauf hinweisen, „daß die endgültige Befreiung der Bauern erst bei uns möglich war.“11   8 Ebd., Bl. 57.   9 Vgl. zur allgemeinen Diskussion über das Erbe- und Traditionsverständnis die entsprechenden Beiträge im Sammelband Helmut Meier/Walter Schmidt (Hg.), Erbe und Tradition in der DDR. Die Diskussion der Historiker, Berlin 1988 (Köln 1989). 10 Geschichte. Lehrbuch für Klasse 6. Ausgabe 1967, Berlin 1967 (111977), S. 54f. Vgl. auch Geschichte. Lehrbuch für Klasse 6. Ausgabe 1989, Berlin 1989, S. 64f.: „Die Stellinga kämpften für die Unabhängigkeit des sächsischen Stammesverbandes vom fränkischen Großreich, gegen die sächsischen Feudalherren und die Kirche.“ Das „Wichtigste“ des Widerstands habe dabei in der Fiktion der Möglichkeit weiterer Aufstände gelegen  : Aus Furcht vor einem Überhandnehmen von Aktionen seien die Feudalherren bereit gewesen, Zugeständnisse zu machen  : „Dadurch sicherten sich die Bauern einen größeren Anteil an dem von ihnen erwirtschafteten Mehrprodukt. Damit waren die Bauern in der Lage, sich allmählich ebenfalls modernere landwirtschaftliche Geräte anzuschaffen und so ihre Bauernwirtschaft weiterzuentwickeln.“ Fortschrittliche Entwicklungen hätten sich deswegen in der Grundherrschaft durchsetzen können. 11 Unterrichtshilfen Geschichte 6. Klasse. Materialien und Hinweise zur Vorbereitung des Unterrichts, ausgearbeitet von Werner Hertzsch, Sonja Martini und Hans Wermes (Kollektivleitung) u. a., Berlin 1967 (51975), S. 79. Vgl. auch Waldemar Waade, Zur wirkungsvollen Gestaltung der Rolle der

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In ähnlicher Diktion liest man in einer Stadtgeschichte Erfurts  : „Obwohl die Erhebung schließlich unterdrückt werden konnte, gelang es den Bauern in Sachsen und anderen ostfränkischen Gebieten teilweise, die Intensität der Ausbeutung einzuschränken.“ Und auch das von Hühns problematisierte retardierende Moment des Aufstandes für die Durchsetzung des Feudalismus12 konnte man positiv wenden  : „[D]eutlicher denn je“ sei dabei der „Klassenkampf als Haupttriebkraft des gesellschaftlichen Fortschritts sowie als konstruktives Element bei der Herausbildung des Feudalismus“ in Erscheinung getreten. Platz fand dieser Hinweis in der Geschichte einer thüringischen Stadt, da der Aufstand „auch“ die dortige Entwicklung beeinflusst habe.13 Die dem Thema in der DDR zugemessene Relevanz war infolgedessen hoch. Doch zugleich war der Stellingaaufstand Gegenstand eines ‚marxistischen‘ Meinungsstreits,14 dessen Kontroversität paradigmatisch für die darüberliegende allgemeine Feudalismusdiskussion in der ostdeutschen Geschichtswissenschaft ist,15 diese im Grunde in nuce abbildet, wenngleich sie im engeren Sinne lediglich von Hans-Joachim Bartmuß und Eckhard Müller-Mertens geführt wurde. Wie die Feudalismusdiskussion blieb die Kontroverse um den Stellingaaufstand aufgrund der unterschiedlichen konzeptionellen Vorstellungen der Kombattanten allerdings ebenfalls eine Aporie. Die Hintergründe hierfür sind (auch) in der unterschiedlichen Volksmassen im Geschichtsunterricht der Klassen 5 und 6, in  : Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde 21, 1979, S. 338–345, hier S. 341f.: „Damit [mit dem Stellingaaufstand] erfahren die Schüler im Geschichtsunterricht erstmals von einem inneren Kampf der Volksmassen (hier identisch mit der feudalabhängigen Bauernschaft), der zwar seine weitgesteckten – doch objektiv nicht realisierbaren – Ziele nicht erreichte, ihnen aber doch einen nicht unbeträchtlichen Nutzen brachte.“ 12 Vgl. Tagung des Wissenschaftlichen Rates am 4. und 5. Februar 1954 über die Thesen der Abteilung Mittelalter (1. Tag) (wie Anm. 7, Bl. 57). 13 Geschichte der Stadt Erfurt, hg. im Auftrag des Rates der Stadt Erfurt von Willibald Gutsche, Weimar 1986 / Zweite bearb. Auflage Weimar 1989, Kapitel II  : Werner Mägdefrau/Erika Langer, Die Stadtwerdung unter feudaler Herrschaft von der ersten urkundlichen Erwähnung bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts, S. 31–52, hier S. 41. 14 Vgl. zur Spezifik des Begriffs Martin Sabrow, Der „ehrliche Meinungsstreit“ und die Grenzen der Kritik. Mechanismen der Diskurskontrolle in der Geschichtswissenschaft der DDR, in  : Gustavo Corni/ Martin Sabrow (Hg.), Die Mauern der Geschichte. Historiographie in Europa zwischen Diktatur und Demokratie, Leipzig 1996, S. 79–117. 15 Vgl. dazu rückblickend Bernhard Töpfer, Feudalismus-Debatte, in  : Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus 4, 1999, S.  378–390  ; Bernhard Töpfer, Die Herausbildung und die Entwicklungsdynamik der Feudalgesellschaft im Meinungsstreit von Historikern der DDR, in  : Natalie M. Fryde/Michel Mollat du Jourdin/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Die Gegenwart des Feudalismus = Présence du féodalisme et présent de la féodalité = The Presence of Feudalism (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 173), Göttingen 2002, S. 271–292. Vgl. auch Anm. 117.

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wissenschaftlichen Sozialisation von Bartmuß und Müller-Mertens zu suchen und reichen partiell bis in die (deutsche) Mittelalterforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Die Kontroverse ist also auch aus wissenschaftsgeschichtlichem Rückblick relevant. *** Der Ausgangspunkt der Debatte liegt im Jahr 1955, dem Jahr, als die SED mit dem am 5. Juli verabschiedeten Geschichtsbeschluss über „Die Verbesserung der Forschung und Lehre in der Geschichtswissenschaft der Deutschen Demokratischen Republik“16 den absoluten Lenkungswillen der Partei nicht nur in Bezug auf die institutionelle Organisation der Geschichtswissenschaft, sondern auch auf die inhaltliche Ausrichtung demonstrierte  :17 Die marxistischen Historiker […] tragen […] die hohe Verantwortung, im Kampf gegen die reaktionäre imperialistische Geschichtsfälschung ein neues, wissenschaftliches Geschichtsbild zu schaffen und damit den Werktätigen in ganz Deutschland zu helfen, die Lehren der Vergangenheit zu begreifen, die Gegenwart richtig zu verstehen und die Zukunft aktiv und bewußt zu erbauen.18

Die „ideologischen Hauptaufgaben“ lagen auf der Hand  : Unsere Geschichtswissenschaft kann ihre nationale Aufgabe nur dann erfüllen, wenn sie auf der Grundlage der einzig wissenschaftlichen Theorie und Methode zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Entwicklung, des von den größten Söhnen unseres Volkes, von Marx und Engels, ausgearbeiteten historischen Materialismus steht und ihn auf die Erforschung und Darstellung aller Probleme und Vorgänge der Geschichte unseres Volkes schöpferisch anwendet.19 16 Vgl. Beschluß des Zentralkomitees. Die Verbesserung der Forschung und Lehre in der Geschichtswissenschaft der Deutschen Demokratischen Republik, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 3, 1955, S. 507–527. Vgl. auch  : Die Partei der Arbeiterklasse und die Geschichtswissenschaft. Anläßlich des Beschlusses des ZK der SED „Die Verbesserung der Forschung und Lehre in der Geschichtswissenschaft der DDR“, in  : Ebd., S. 675–684. Vgl. zum Beschluss rückblickend Horst Haun, Der Geschichtsbeschluß der SED 1955. Programmdokument für die „volle Durchsetzung des Marxismus-Leninismus“ in der DDR-Geschichtswissenschaft (Berichte und Studien 7), Dresden 1996. 17 Vgl. etwa Ilko-Sascha Kowalczuk, Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front. Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 1945 bis 1961 (Forschungen zur DDR-Gesellschaft), Berlin 1997, S. 229–236. 18 Beschluß des Zentralkomitees (wie Anm. 16), S. 510. 19 Ebd., S. 513.

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Inhaltlich müsse man „vor allem das Wirken und die Kämpfe der Massen des deutschen Volkes von den Anfängen der deutschen Geschichte bis zur Gegenwart erforschen und darstellen“, praktisch eine „Auseinandersetzung mit der reaktionären Verfälschung der deutschen Vergangenheit“ führen, wie sie die ‚bürgerliche‘ Geschichtswissenschaft produziere20. Denn die „reaktionären westdeutschen Historiker“ verschwiegen oder entstellten „die großen revolutionären und nationalen Traditionen unseres Volkes“, was die „Kraft unseres Volkes im Kampf um Frieden, Einheit und Demokratie“ lähmen solle.21 Doch die erste Beschäftigung mit dem Stellingaaufstand in der DDR war weit davon entfernt, dieser sich seit mehreren Jahren herauskristallisierenden Maxime zu entsprechen. Während innerhalb der entsprechenden parteipolitischen Stellen noch um die letzten Formulierungen des Geschichtsbeschlusses gerungen wurde,22 war an der Humboldt-Universität eine Dissertation von Heinz Joachim Schulze aus Quedlinburg angenommen worden, die den „Aufstand der Stellinga in Sachsen und sein[en] Einfluß auf den Vertrag von Verdun“ zum Thema hatte.23 Als Prüfer fungierten der im gleichen Jahr der DDR den Rücken kehrende Albrecht Timm24 sowie Willy Flach, der drei Jahre später nach einer Berufung an die Universität Bonn als Professor für Historische Hilfswissenschaften und Rheinische Landesgeschichte ebenfalls emigrierte, dabei jedoch so schwer erkrankte, dass er kurze Zeit später verstarb.25 Als zentrales Ergebnis der Untersuchung hielt Schulze fest, dass der Aufstand nicht nur die Zweiteilung des Frankenreichs in Aachen vom März 842 zugunsten Lothars 20 21 22 23

Ebd., S. 507. Ebd., S. 509. Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Beschlusses Haun, Geschichtsbeschluß (wie Anm. 16), S. 8–16. Vgl. Heinz-Joachim Schulze, Der Aufstand der Stellinga in Sachsen und sein Einfluß auf den Vertrag von Verdun, Berlin masch. phil. Diss. 1955. 24 Die wechselhafte Karriere Albrecht Timms, zunächst als Mitarbeiter Walther Darrés während der Zeit des Nationalsozialismus über Tätigkeiten an den Universitäten in Halle, Rostock und Berlin sowie am Museum für Deutsche Geschichte in der DDR zum ersten Inhaber eines Lehrstuhls für Wirtschaftsund Technikgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland, würde eine eigene Darstellung lohnen  ; vgl. den selektiven autobiographischen Text Albrecht Timm, Zur Wissenschaftsgeschichte. Mein Weg u. mein Wollen, St. Augustin 1975, etwa S. 66 zu seiner Ausreise aus der DDR. Vgl. auch  : Albrecht Timm, Das Fach Geschichte in Forschung und Lehre in der Sowjetischen Besatzungszone seit 1945 (Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland), Bonn 1957 (21958/31961/41966). 25 Vgl. Volker Wahl, Thüringer Archivar, Landeshistoriker und Goetheforscher. Willy Flach (1903– 1958) – Ein Lebensbild, in  : Ders. (Hg.), Willy Flach. Beiträge zum Archivwesen, zur thüringischen Landesgeschichte und zur Goetheforschung, Weimar 2003, S.  10–55  ; Theo Kölzer, Zwischen den Fronten des Kalten Krieges  : Willy Flach (1903–1958), in  : Matthias Becher (Hg.), 150 Jahre Historisches Seminar. Profile der Bonner Geschichtswissenschaft. Erträge einer Ringvorlesung (Bonner historische Forschungen 64), Siegburg 2013, S. 195–211. Vgl. zum Tod auch Anm. 66.

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wieder revidiert, sondern darüber hinaus die „Stämme“ östlich des Rheins „freiwillig“ unter Ludwig dem Deutschen geeint habe. Als „erste gemeinsame politische Aktion gegen die alte Zentralgewalt zugunsten einer neuen, des eigenen ostfränkischen Königtums“,26 komme dem Ereignis deswegen eine herausgehobene Wichtigkeit zu. Entscheidend sei ein gemeinsames Interesse gewesen  : „Die noch nicht gefestigten feudalen Verhältnisse waren noch von Bauernaufständen bedroht. Der Adel der ostrheinischen Gebiete brauchte eine Zentralgewalt, die solche Aufstände verhinderte oder bekämpfte. Ludwig hatte durch den Krieg gegen die Stellinga bewiesen, daß er solchen Aufgaben gewachsen war.“27 Dieses Ergebnis rief Hans-Joachim Bartmuß auf den Plan, der in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg einen Beitrag „Zur Frage der Bedeutung des Stellingaaufstandes“ publizierte und die Ausführungen Schulzes als Anstoß für seine eigene Beschäftigung benutzte, indem er an den abschließenden Exkurs Schulzes anknüpfte.28 Dort hatte dieser nämlich den zuvor entwickelten Gedankengang eines Einflusses des Aufstandes auf den Vertrag von Verdun weiterentwickelt und auf die „Frage der Herausbildung eines ostfränkisch - deutschen Reiches“ übertragen. Da die Teilung von Verdun ein entscheidender Schritt gewesen sei, komme auch dem Aufstand eine zumindest „fördernde Wirkung“ zu,29 woraus Bartmuß ableitete, für Schulze bedeute der Aufstand den „eigentliche[n] Ausgangspunkt“ für die Entstehung eines „deutschen Staates“.30 Anschließend durchmusterte Bartmuß zunächst die über den Aufstand berichtenden Quellen31 und stellte heraus, dass dort trotz unterschiedlicher Begrifflichkeit eigentlich eine einzige soziale Bevölkerungsgruppe, nämlich feudalabhängige Bau-

26 Vgl. Schulze, Aufstand der Stellinga (wie Anm. 23), S. 146. 27 Ebd., S. 147f. 28 Hans-Joachim Bartmuss, Zur Frage der Bedeutung des Stellinga-Aufstandes, in  : Wissenschaftliche Zeitschrift Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 7, 1957/1, S. 113–124. 29 Vgl. Schulze, Aufstand der Stellinga (wie Anm. 23), S. 131–148, Zitat S. 131. 30 Bartmuss, Zur Frage der Bedeutung (wie Anm. 28), S. 113. 31 Vgl. Annales Xantenses, ed. Bernhard von Simson, MGH SS rer. Germ. 12, Hannover/Leipzig 1909 (ND 2003), S. 1–33, hier a. 841/842, S. 11–13  ; Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum orientalis, ed. Friedrich Kurze, MGH SS rer. Germ. 7, Hannover 1891 (ND 1993), a. 842, S. 33f.; Annales Bertiniani. Annales de Saint-Bertin, ed. Félix Grat (†), Jeanne Vielliard und Suzanne Clémencet, Paris 1964, a. 841/842, S. 38 und 42f.; Nithard, Historiarum libri quattuor. Histoire des fils de Louis le Pieux, ed. Philippe Lauer, überarbeitet von Sophie Glansdorff (Les classiques de l’histoire au Moyen Âge 51), Paris 2012 / ed. Georg Heinrich Pertz, überarbeitet von Ernst Müller, MGH SS rer. Germ. 44, Hannover/Leipzig 1907 (ND 1965), lib. IV, c. 2, 4 und 6, S. 132, S. 142 und S. 152–154 (Ed. Lauer/Glansdorff) / S. 41f., 45 und 48 (Ed. Pertz/Müller).

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ern, als Aufständische bezeichnet würden.32 Einstimmigkeit habe auch bezüglich des Ziels des Aufstandes geherrscht  ; dieser habe sich gegen dominos gerichtet, „die unterdrückt bzw. aus dem Lande gejagt werden sollten“.33 Über den Auslöser des Aufstandes habe es hingegen keine Einigkeit gegeben. Während Nithard und Prudentius hierfür Lothar I. verantwortlich machten, schwiegen der Xantener Annalist und Rudolf von Fulda.34 Doch sei es „höchst fraglich“, ob Lothar wirklich die Stellinga zum Aufstand verlockt habe. Als Kaiser und Feudalherr habe er eigentlich kein Inter­esse an einem Aufstand feudalabhängiger Bauern haben können. Dagegen spreche auch, dass er nie nach Sachsen gezogen sei, um seinen angeblichen Bundesgenossen zu helfen. Die Anstiftung durch Lothar müsse man daher als „bewußt verbreitetes Gerücht“ verstehen.35 Damit rücke das „soziale Moment“ und das einmütig von den Geschichtsschreibern überlieferte Ziel des Aufstands wieder in den Mittelpunkt. Dieser erscheine demnach als „soziale Aktion feudalabhängiger Bauern, die ihre alte Freiheit wiedererlangen wollten.“36 Wie bereits bei der Eingliederung Sachsens in den fränkischen Herrschaftsverband durch Karl den Großen sei abermals eine ‚nationale‘, sächsische Eigenart innerhalb des gleichsam sächsischen „Staatswesens“ zum Tragen gekommen. Als unorganisierter, spontaner sowie örtlich begrenzter Aufstand hätten sich – so resümierte Bartmuß seine Ergebnisse – sächsische feudalabhängige Bauern gegen ihre sächsischen Grundherren erhoben, wodurch sie sich gleichzeitig gegen die fränkische Herrschaft in Sachsen gewendet hätten, da die sächsischen Feudalherren als Grafen die Stützen der fränkischen Herrschaft gewesen seien.37 Als eine „Haupt­ 32 Vgl. Bartmuss, Zur Frage der Bedeutung (wie Anm. 28), S. 113f. 33 Ebd., S. 114. 34 Die Zuweisung des hier relevanten Teils der Annales Fuldenses an Rudolf von Fulda, von der die ostdeutsche Mediävistik ausging, wird in der jüngeren Forschung abgelehnt. Auf den ersten, bis 829 reichenden Abschnitt, der eine Kompilation älterer Quellen (insbesondere der Annales regni Francorum) sei, folge eine entweder in Mainz oder in Fulda weitergeführte Passage bis 882  ; vgl. dazu Sören Kaschke, Nachtrag Annales Fuldenses, in  : Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte. Dritter Teil. Jahrbücher von Fulda, Regino Chronik und Notker Taten Karls, unter Benutzung der Übersetzungen von C. Rehdantz, E. Dümmler und W. Wattenbach neu bearb. von Reinhold Rau (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 7), Darmstadt 4., gegenüber der 3. um einen Nachtrag erweiterte Auflage 2002, S. 449–458, hier S. 450  ; vgl. zu den Gründen Franz Staab, Klassische Bildung und regionale Perspektive in den Mainzer Reichsannalen (sog. Annales Fuldenses) als Instrument der geographischen Darstellung, und der Lebensverhältnisse im Frankenreich, in  : Claudio Leonardi  (Hg.), Gli Umanesimi medievali. Atti del II congresso dell’„Internationales Mittellateinerkomitee“ Firenze, Certosa del Galluzzo, 11–15 settembre 1993, Florenz 1998, S. 637–671, besonders S. 667. 35 Vgl. Bartmuss, Zur Frage der Bedeutung (wie Anm. 28), S. 114–116, Zitat S. 116. 36 Ebd., S. 117. 37 Vgl. ebd., S. 117–119.

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ursache“ für den Vertrag von Verdun sei der Stellingaaufstand daher keineswegs anzusehen und dementsprechend auch nicht bedeutsam für den Zusammenschluss der ostrheinischen Stämme unter Ludwig dem Deutschen. Vielmehr erscheine er als „eine Aktion, die nur die sächsischen Feudalherren unmittelbar berührte und vermutlich ihren Zusammenschluß auch gefördert hat.“38 Obschon Bartmuß seine Ausführungen sowohl einleitend als auch abschließend mit einer Abgrenzung von den Positionen Schulzes versah, war sein eigentlicher Gegner Eckhard Müller-Mertens, doch wurde diese Auseinandersetzung im Anmerkungsapparat geführt – dort allerdings mit harten Bandagen  : „So darf man [gemeint ist Müller-Mertens’ Argumentationsgang] an eine wissenschaftliche Fragestellung auf keinen Fall herangehen.“39 Müller-Mertens hatte sich freilich noch gar nicht mit dem Stellingaaufstand in einer eigenständigen Publikation befasst.40 In seinem Büchlein über „Das Zeitalter der Ottonen“, auf das Bartmuß hier Bezug nahm, war er lediglich kurz darauf eingegangen, hatte den Aufstand allerdings als Zäsur markiert, da die sächsischen Feudalherren zu schwach gewesen seien, den Widerstand der Stellinga auf sich allein gestellt zu brechen.41 Grundlage seiner These war die Feststellung, dass es „[i]m 9. und 10. Jahrhundert […] in Deutschland noch eine große Zahl freier Bauern“ gegeben habe, „die, zumindest in Sachsen, die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten.“42 Doch damit war ein ganz anderer Gegenstandsbereich berührt, der innerhalb der theoretischen Axiomatik des Historischen Materialismus elementare Geltung hatte. Unter der Voraussetzung einer stufenförmigen Abfolge von Gesellschaftsformationen kam dem Erkennen der ‚richtigen‘ Zäsuren zentrale Geltung zu und manifestierte ein, vielleicht sogar das zentrale (wissenschaftsimmanente) Distinktionsmerkmal zur ‚bürgerlichen‘ Form des Geschichtsverständnisses.43 An die Stelle einer konstrukti38 Ebd., S. 119. 39 Vgl. ebd., S. 123 Anm. 94. 40 Vgl. allerdings auch seine Ausführungen in einem aus dem Frühjahr 1956 stammenden, unveröffentlichten Text mit dem Titel „Gedanken über die Entstehung des Deutschen Reiches“ unten bei Anm. 156. 41 Vgl. Eckhard Müller-Mertens, Das Zeitalter der Ottonen. Kurzer Abriß der politischen Geschichte Deutschlands im zehnten Jahrhundert, Berlin 1955, S. 32–34. Vgl. zum Buch auch die Selbsteinschätzung Eckhard Müller-Mertens, Existenz zwischen den Fronten. Analytische Memoiren oder Report zur Weltanschauung und geistig-politischen Einstellung, Leipzig 2011, S. 111. 42 Müller-Mertens, Zeitalter der Ottonen (wie Anm. 41), S. 32. 43 Aus der Masse einschlägiger Zitate vgl. etwa den Bericht über die Sektion Methodologie des XI. Internationalen Historikerkongresses in Stockholm im August 1960 von Joachim Streisand, Sektion I (Methodologie), in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9, 1961, S. 149–153, hier S. 150  : „An der Stellungnahme zum Periodisierungsproblem wird also der Gegensatz zwischen Idealismus und Materi-

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vistischen Annahme, wie sie etwa Johann Gustav Droysen bereits im 19. Jahrhundert formuliert hatte,44 trat die Folgerung einer ermittelbaren Wahrheit  : Denn wissenschaftliche Periodisierung der Geschichte bedeutet auf der Grundlage des dialektischen und historischen Materialismus nicht einfach Setzen von Zäsuren, sondern Erfassen der wesentlichen gesetzmäßigen Zusammenhänge des objektiven gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses, der durch die Kategorien gesellschaftliche Evolution, soziale Revolution und ökonomische Gesellschaftsformation erfaßt wird.45

Dabei sollten zugleich „[i]n der Periodisierung […] die Grundkonzeption, die Grundzüge des Geschichtsbildes über die Vergangenheit unseres Volkes zum Ausdruck kommen. Darin besteht die entscheidende politisch-ideologische Aufgabe und Bedeutung der Diskussion“.46 Der Stellingaaufstand wiederum lag aufgrund seiner zeitlichen Nähe zum Vertrag von Verdun und den daran anknüpfenden Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts an einer neuralgischen Stelle des Frühmittelalters und tangierte deswegen automatisch die allgemeine Periodisierung der mittelalterlichen Geschichte. alismus besonders unmittelbar deutlich. Die bürgerlich-idealistische Historiographie geht hier zwei, im wesentlichen gleiche Wege. Sie sieht in der Periodisierung entweder eine Angelegenheit des subjektiven Beliebens des Historikers bei der literarischen Darstellung der Ereignisse, betrachtet aber im übrigen die Geschichte als bloße Anhäufung von Einzeltatsachen bzw. äußerlichen ‚Ereigniszusammenhang‘ – oder sie gesteht zwar zu, daß die Periodisierung eine gewisse sachliche Bedeutung habe, wählt aber dann die Einschnitte auf Grund einer willkürlichen Verabsolutierung bestimmter Weltanschauungen, Religionen, politischer Ideen usf. aus, denen aus rein subjektiven Gründen eine Vorrangstellung beigemessen wird. Damit wird an die Stelle der wissenschaftlichen Erforschung der objektiven historischen Wahrheit die unwissenschaftliche Konstruktion subjektiver unhistorischer Schemata gesetzt.“ 44 Johann Gustav Droysen, Historik. Teilband 3.2  : Die Historik-Vorlesungen „letzter Hand“. Textvarianten, editorischer Bericht und werkbiographisches Nachwort. Unter Berücksichtigung der Vorarbeiten von Peter Leyh hg. von Horst Walter Blanke, Stuttgart u. a. 2020, S. 686 (III. Die Epochen der Geschichte § 19)  : „Ich habe kaum nötig, hier ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, daß es in der Geschichte sowenig Epochen gibt wie auf dem Erdkörper die Linien des Aequators und der Meridiankreise, daß es nur Betrachtungsformen sind, in die der denkende Geist dem empirisch Vorhandenen Formen giebt, um sie so desto gewisser zu fassen.“ 45 Wolfgang Küttler, Zur Frage der methodologischen Kriterien historischer Formationsbestimmung, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 22, 1974, S. 1029–1048, hier S. 1032. 46 Vgl. Beratung der Abt. Wissenschaften mit der Fachkommission Geschichte und Gen. Parteisekretären der geschichtswissenschaftlichen Institutionen zum Thema „Das 30. Plenum des ZK und die Aufgaben der Historiker“, 20. Februar 1957 (Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, DY 30, IV 2/9.04/134), Zitat nach Martin Sabrow, Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969 (Ordnungssysteme 8), München 2001, S. 239. Neue Archivsignatur des Bestandes  : Bundesarchiv [künftig zitiert als BArch], DY 30/83267.

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Der entscheidende Punkt war die Konsequenz der zugrunde gelegten „Aufgabe und Bedeutung“.47 Wenn man auf die „Erforschung der objektiven historischen Wahrheit“ zielt,48 können nicht zwei (oder mehrere) Periodisierungskonzepte nebeneinanderstehen  ; wenn in der Periodisierung die „Grundzüge des Geschichtsbildes“49 zum Ausdruck kommen, dann reicht die Bedeutung der eigenen Annahme über den engeren Fachdiskurs hinaus. Die darin liegende Wirkung ist evident  : Die ‚richtige‘ Periodisierung ist nicht mehr nur ein Modell neben anderen, sondern eine allgemeingültige, ‚wahrheitsgemäße‘ Aussage über den Verlauf der Geschichte. Jenseits der Auseinandersetzung auf der inhaltlichen Ebene hatte die Frage der Periodisierung dadurch zugleich eine herausgehobene systemische Bedeutung, da diesbezügliche Deutungshoheit – frei nach Pierre Bourdieu50 – hohes soziales und symbolisches Kapital der Person innerhalb der ostdeutschen Geschichtswissenschaft garantierte. Entsprechend aufreibend wurde in allen historischen Epochen um die genaue Einteilung der Geschichte gerungen. An den in verschiedenen Foren und von einer Reihe von Diskutanten geführten Beratungen über den Verlauf des Mittelalters entzündete sich eine „erste Periodisierungsdiskussion in der Geschichtswissenschaft der DDR“,51 die hier nicht ausgebreitet werden kann, die allerdings den spezifischen Hintergrund (und Ausgangspunkt) der Kontroverse von Bartmuß und Müller-Mertens bildete. Diese drehte sich folglich auch (oder vielleicht sogar primär) um die jeweilige Stellung der beiden Kontrahenten im Gefüge der ostdeutschen Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und der Mediävistik im Speziellen. Letztere wiederum war in den fünfziger Jahren einer strukturellen Besonderheit unterworfen. Im Gegensatz zur Neueren Geschichte (oder zu anderen geisteswissenschaftlichen Fächern), wo durch die Rückkehr emigrierter oder durch die Aufnahme von Wissenschaftlern, die im Nationalsozialismus unter unterschiedlichen Formen der Repression gelitten hatten, eine konforme „Gründergeneration“ bereitstand,52 die durch 47 48 49 50

Vgl. Anm. 46. Vgl. Anm. 43. Vgl. Anm. 46. Vgl. zum Einsatz von Bourdieus Feldsoziologie zur Analyse der Geschichtswissenschaft beispielsweise Olaf Blaschke/Lutz Raphael, Im Kampf um Positionen. Änderungen im Feld der französischen und deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, in  : Jan Eckel/Thomas Etzemüller (Hg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 69–109. 51 Vgl. Horst Haun, Die erste Periodisierungsdiskussion in der Geschichtswissenschaft der DDR. Zur Beratung über die Periodisierung des Feudalismus 1953/54, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 27, 1979, S. 856–867. 52 Vgl. Ralph Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 135), Göttingen 1999, S. 294–335.

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„Berufungen aus den ‚Universitäten des Klassenkampfs‘“ ideologisch gesichert werden konnte,53 gab es im Bereich der Mittelalterlichen Geschichte keine marxistischen Kapazitäten, die für den Wiederaufbau herangezogen werden konnten. Diese war in der SBZ und dann in der DDR deswegen zunächst von einer personellen Kontinuität geprägt.54 Die ‚Gründergeneration‘ der ostdeutschen Mediävistik55 umfasste fünf Professoren  : Fritz Rörig (* 2. Oktober 1882  ; † 29. April 1952) in Berlin, Adolf Hofmeister (* 9. August 1883  ; † 7. April 1956) in Greifswald, Friedrich Richard Schneider (*  14. Oktober 1887  ; †  11. Januar 1962) in Jena, Heinrich Sproem­berg (*  25. November 1889  ; †  19. Juni 1966) zuerst in Rostock, dann in Leipzig, und Martin Lintzel (* 28. Februar 1901  ; † 15. Juli 1955) in Halle. Beginnend mit dem Tod Rörigs wurde dieses Quintett ‚bürgerlicher‘ Ordinarien, das die ersten Jahre des Neuaufbaus getragen hatte,56 im Laufe der fünfziger Jahre nach und nach emeritiert und/oder starb und machte damit den Weg für einen personellen wie inhaltlich-methodischen Neuanfang frei. Innerhalb dieses Machtvakuums kreuzten sich nun die Karrieren von Hans-Joachim Bartmuß und Eckhard Müller-Mertens. Aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, besuchte Bartmuß (* 19. Juli 1929 in Großkorbetha, † 6. Januar 2023) 1948/49 zunächst einen Ausbildungslehrgang für 53 Vgl. Ebd. Jessen unterscheidet zwischen drei Gruppen  ; zunächst habe es natürlich auch „[p]ersonelle Kontinuität und Restauration“ gegeben (S.  295–315), zugleich aber „‚Doppelstaatsbürger‘ von Partei und Fach“ (S. 315–327), die „wissenschaftliche Ausbildung und Praxis vorweisen und zugleich als NS-Verfolgte, Emigranten oder frühe Mitglieder der KPD ihre politisch-moralische Reputation ins Spiel bringen“ konnten (S. 316) sowie „Berufungen aus den ‚Universitäten des Klassenkampfs‘“, also Berufungen von Personen, bei denen politische Haltung und entsprechender Einsatz wissenschaftliche Anforderungen oder Standards ersetzte (S. 327–335). 54 Für Heinrich Sproemberg bedeutete das Jahr 1945 zwar eine Zäsur, da er im Oktober des folgenden Jahres als ordentlicher Professor für mittlere und neuere Geschichte in Rostock doch noch zu einem Ordinariat gelangte. Doch auch Sproemberg, der zwischen 1933 und 1945 in einem Widerspruch zur nationalsozialistischen Herrschaft gestanden hatte und wissenschaftlich isoliert worden war, war weder Kommunist noch fühlte er sich dem Marxismus oder dem Historischen Materialismus besonders zugewandt  ; vgl. zu Sproemberg Veit Didczuneit, Heinrich Sproemberg – ein Außenseiter seines Faches, in  : Ders./Manfred Unger/Matthias Middell (Hg), Geschichtswissenschaft in Leipzig. Heinrich Sproemberg (Leipziger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik), Leipzig 1994, S. 11–90. 55 Vgl. hierzu auch Simon Groth, „Der Bruch mit dieser Vergangenheit muß ein vollständiger sein“. Der Feudalismus als Zukunft der Vergangenheit in der Mittelalterforschung der DDR, in  : Ders. (Hg.), Der geschichtliche Ort der historischen Forschung. Das 20. Jahrhundert, das Lehnswesen und der Feudalismus (Normative Orders 28), Frankfurt am Main/New York 2020, S. 143–186, hier S. 150–153. 56 Vgl. dazu auch Heinz Heitzer/Karl-Heinz Noack/Walter Schmidt (Hg.), Wegbereiter der DDR-Geschichtswissenschaft. Biographien, Berlin 1989, mit Beiträgen zu Martin Lintzel (von Walter Zöllner, S. 136–148), Fritz Rörig (von Peter Neumeister, S. 216–230)  ; Friedrich Schneider (von Werner Mägdefrau, S. 260–279) und Heinrich Sproemberg (von Gerhard Heitz und Manfred Unger, S. 300–317).

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Grundschullehrer (Neulehrerkurs) in Köthen und arbeitete anschließend als Schulamtsbewerber, dann als nebenamtliche Lehrkraft an der Käthe-Kollwitz-Oberschule in Merseburg.57 Parallel studierte er ab 1950/51 die Fächer Geschichte und Germanistik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Nach Einführung des Einfachstudiums im Kontext der Hochschulreform von 1951 wählte er Geschichte als Studienfach und als Spezialisierungsrichtung die Geschichte des Mittelalters. Als seine akademischen Lehrer betrachtete er Martin Lintzel und Albrecht Timm.58 Im Sommer 1954 legte er das Diplom-Examen ab und wurde anschließend wissenschaftlicher Assistent, später dann Oberassistent am Institut für Deutsche Geschichte in Halle. Direktor dieses Instituts war der Neuzeithistoriker Leo Stern.59 Unabhängig von den vorhandenen Kräften sollten die 1952 auch in Berlin und Leipzig neugegründeten Institute die deutsche Geschichte von ihren Anfängen bis in die Zeitgeschichte behandeln und sich „besonders mit den revolutionären Traditionen und dem nationalen Kulturerbe unseres Volkes“ beschäftigen.60 Dementsprechend las Stern in Halle eine auf acht Semester angelegte „Deutsche Geschichte“, die bis in die Vor- und 57 Vgl. (auch zum Folgenden) Hans-Joachim Bartmuß 60 Jahre, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 37, 1989, S. 635  ; Lothar Mertens, Art. Bartmuß, Hans-Joachim, in  : Ders., Lexikon der DDR-Historiker. Biographien und Bibliographien zu den Geschichtswissenschaftlern aus der Deutschen Demokratischen Republik, München 22012, S. 117f. 58 Vgl. Lebenslauf Hans-Joachim Bartmuss, Halle/S., 15. Juni 1990 (Universitätsarchiv Halle-Wittenberg [künftig zitiert als UAHW], Rep. 11, PA 32066, Hans-Joachim Bartmuß). 59 Stern wurde am 27. März 1901 in Woloka, einem Dorf bei Czernowitz in der damals zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie gehörenden Bukowina als eines von zwölf Kindern in eine kleinbäuerliche jüdische Familie geboren und war seit dem Tod seines Vaters im folgenden Jahr Halbwaise. Er studierte Rechtswissenschaften, Nationalökonomie und Geschichte in Wien und wurde 1923 österreichischer Staatsbürger. Nach der Promotion (1925) arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent bei Max Adler, lehrte von 1927 bis 1934 an der Wiener Volkshochschule als Dozent und war Bildungsreferent der Freien Gewerkschaften. Ab dem Sommersemester 1946 gab Stern Gastvorlesungen an der Wiener Universität, beendete diese Tätigkeit jedoch mit dem Sommersemester 1947 aufgrund von Arbeitsüberlastung und antisemitischen Ausfällen gegen seine Person. Sein Ruf nach Halle erfolgte zum 1. März 1950 als Professor für Neuere Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiterbewegung. Vgl. grundsätzlich Gerhard Oberkofler/Manfred Stern, Leo (Jonas Leib) Stern. Ein Leben für Solidarität, Freiheit und Frieden, Innsbruck 2019  ; Helmut Meier (Hg.), Leo Stern (1901– 1982). Antifaschist, Historiker, Hochschullehrer und Wissenschaftspolitiker (Gesellschaft, Geschichte, Gegenwart 30), Berlin 2002  ; Mario Keßler, Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR (Zeithistorische Studien 18), Köln 2001, S. 260–290. 60 Vgl. Hans Hübner, Lehre und Forschung im Institut für Deutsche Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1, 1953, S.  495– 498, hier S. 495. Die Gründung der Institute sei nicht nur aufgrund der Hochschulreform, sondern auch aufgrund der besonderen Aufgaben der fortschrittlichen deutschen Geschichtswissenschaft notwendig gewesen.

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Frühgeschichte zurückgriff.61 Nicht nur in diesem Kontext verteidigte er die Mittelalterliche Geschichte gegen vereinzelte Versuche der Marginalisierung und hob die Bedeutung der Epoche hervor. So hatte er beispielsweise auf einer theoretischen Konferenz der Abteilung Propaganda beim ZK der SED über „Die Bedeutung der Arbeiten des Genossen Stalin über den Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft für die Entwicklung der Wissenschaften“ die Einstellung „mancher Genossen, die an der historischen Front arbeiten“, kritisiert, die Geschichte des deutschen Volkes erst mit dem Bauernkrieg beginnen zu lassen und alles, was dem sogenannten ‚dunklen Mittelalter‘ zugehört, sozusagen als eine ‚einzige reaktionäre Masse‘ abzutun und die reichen Quellen über die mittelalterliche Geschichte des deutschen Volkes zu ignorieren. Kein Zweifel, daß sich hierin ein Stück Sektierertum äußert, jedenfalls aber eine gewisse Scheu, an Dinge zu rühren, für deren Klärung angeblich weder die Zeit gekommen noch die Kader vorhanden sind, noch auch die genügende theoretische Fundierung, um die deutsche Geschichte namentlich der Epoche des Feudalismus von der moralischen Hypothek zu befreien, die auf ihr durch die herkömmliche teutonische, romantisch-reaktionäre, germanozentrische, dynastisch-feudale Geschichtsschreibung lastet.62

Vor diesem Hintergrund erklärte sich Stern auch bereit, innerhalb des ersten wissenschaftlichen Großprojekts der ostdeutschen Geschichtswissenschaft, der Erarbeitung einer verbindlichen Darstellung der deutschen Geschichte, die Verantwortung für das Mittelalter zu übernehmen.63 Doch Stern war kein Mittelalterhistoriker  ; sein 61 Vgl. Leo Stern, Einführungsvorlesung über Deutsche Geschichte (eigenhändiges Manuskript aus dem Nachlass Leo Stern, Familienarchiv), in  : Oberkofler/Stern (Hg.), Leo (Jonas Leib) Stern (wie Anm. 59), S. 141–149. 62 Leo Stern, Diskussionsbeitrag auf der Theoretischen Konferenz der SED zum Referat von Fred Oelßner „Die Bedeutung der Arbeiten des Genossen Stalin ‚Über den Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft‘ für die Entwicklung der Wissenschaften“, in  : Die Bedeutung der Arbeiten des Genossen Stalin über den Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft für die Entwicklung der Wissenschaften. Protokoll der theoretischen Konferenz der Abt. Propaganda beim ZK der SED vom 23. bis 24. Juni 1951 im Haus der Presse zu Berlin, Berlin 1952, S. 189–205, hier S. 198. 63 Vgl. dazu auch Hans-Joachim Bartmuss, Leo Sterns Beitrag zur Erforschung und Darstellung der Geschichte des Feudalismus in Deutschland, in  : Hans Hübner (Hg.), Leo Stern im Dienst der Wissenschaft und sozialistischen Politik. Ansprachen und Vorträge des Festlichen Kolloquiums aus Anlaß des 75. Geburtstages von Leo Stern, das die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gemeinsam mit der Akademie der Wissenschaften der DDR am 29. März 1976 veranstaltete (Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 18 [T 11]), Halle 1976, S. 39–44, dort etwa S.  39  ; vgl. auch Walter Zöllner, Die Entwicklung des Faches Mittelalterliche Geschichte an der Martin-Luther-Universität, in  : Hermann-J. Rupieper (Hg. im Auftrag der Rektoratskommission für das Universitätsjubiläum), Beiträge zur Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Schwerpunkt – und damit auch der Schwerpunkt des Hallenser Instituts – war die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung.64 Lintzel wiederum, dessen Lehrstuhl dem Institut für Allgemeine Geschichte zugeordnet war, stellte aufgrund einer wiederausgebrochenen Depression im Herbst 1953 zunächst seine Lehrtätigkeit ein65 und nahm sich am 15. Juli 1955 das Leben.66 Der Fachbereich stand vor der merkwürdigen Situation, eigentlich über keinen wirklichen Lehrstuhlinhaber mehr zu verfügen, aber durch die Übernahme des entsprechenden Teils des Lehrbuchs durch Stern innerhalb einer eigenständigen organisatorischen Einheit trotzdem von großer Wichtigkeit zu sein. Was fehlte, waren die hierfür eigentlich erforderlichen Voraussetzungen.67 Mit der konkreten Abfassung der insgesamt drei Bände zum Mittelalter beauftragte Stern dann seine Assistenten und für den ersten Teil Hans-Joachim Bartmuß.68 Gleichzeitig arbeitete Bartmuß an seiner von Stern betreuten Dissertation über das Thema „Zur Entstehung des frühfeudalen deutschen Staates“, die 1966 als Monographie gedruckt wurde.69 In die SED war Bartmuß 1948 eingetreten. In ein politisch linkes Elternhaus hineingeboren, war der sechs Jahre ältere Eckhard Müller-Mertens (* 28. August 1923  ; † 14. Januar 2015, jeweils in Berlin) bereits früh mit dem Kommunismus in Berührung gekommen. Die Zeit des Nationalsozialismus hatte er in wirtschaftlicher Not verbracht, da seine Mutter 1933 aus dem Schuldienst entlassen worden war.70 Im Zweiten Weltkrieg diente er bei der Mari1502–2002, Halle an der Saale 2002, S. 290–307, hier S. 301  : „Die Zusage Sterns für ein solches Projekt ist wohl damit zu erklären, daß er in Wien studiert und dort eine bleibende Hochachtung vor der mediävistischen Quellenforschung erworben hatte.“ 64 Vgl. Hübner, Lehre und Forschung (wie Anm. 60). 65 Vgl. UAHW, Rep. 11, PA 10179, Martin Lintzel, Tl. 1, Bl. 36. 66 Vgl. dazu auch Udo Grashoff, „In einem Anfall von Depression …“. Selbsttötungen in der DDR, Berlin 2006, allgemein S. 190–210 und S. 202–204 zu Lintzel sowie S. 204–210 zu Flach. 67 Vgl. hierzu auch Zöllner, Entwicklung (wie Anm. 63), S. 300–304. 68 Vgl. Lebenslauf Hans-Joachim Bartmuss, Halle/S., 15. Juni 1990 (wie Anm. 58)  : „Meine Hauptaufgabe bestand vom ersten Tage meiner Assistententätigkeit an darin, Grundlagen für ein Lehrbuch zur frühmittelalterlichen deutschen Geschichte zu erarbeiten.“ 69 Vgl. Hans-Joachim Bartmuss, Zur Entstehung des frühfeudalen Staates. Eine kritische Auseinandersetzung mit den wichtigsten Thesen der bürgerlichen deutschen Mediaevistik über die Ursachen und Triebkräfte im Entstehungsprozeß des frühfeudalen deutschen Staates und die Politik der beiden ersten Könige aus dem sächsischen Herrscherhause, Halle masch. phil. Diss. 1961  ; gedruckt als  : Die Geburt des ersten deutschen Staates. Ein Beitrag zur Diskussion der deutschen Geschichtswissenschaft um den Übergang vom ostfränkischen zum mittelalterlichen deutschen Reich (Schriftenreihe des Instituts für deutsche Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg 2), Berlin 1966. 70 Vgl. dazu Müller-Mertens, Existenz (wie Anm. 41), S. 22–48. Sein Vater war im selben Jahr auf Beschluss der Berliner KPD-Leitung nach Skandinavien geflohen, die Ehe bereits 1930 geschieden worden.

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neflak in Norwegen, wo er in britische Kriegsgefangenschaft geriet, aus der er am 1. September 1945 entlassen wurde.71 Im folgenden Jahr begann er ein Studium der Fächer Geschichte, Soziologie und Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1951 wurde er dort von Fritz Rörig, den er als seinen Lehrer verstand,72 mit einer Studie über „Hufenbauern und Herrschaftsverhältnisse in brandenburgischen Dörfern nach dem Landbuch Karls  IV. von 1375“ promoviert73 und durfte bereits im folgenden Jahr eine Vorlesung zur Geschichte des Mittelalters halten.74 1956 folgte die Habilitation über die Geschichte der brandenburgischen Städte im Mittelalter.75 Anschließend lehrte er vier Jahre als Dozent, wurde 1960 Professor mit Lehrauftrag und 1964 Professor mit vollem Lehrauftrag für die Geschichte des Mittelalters an der Humboldt-Universität. In die SED war er 1949 eingetreten.76 Während Müller-Mertens also in fast beispielloser Kürze an der renommierten Berliner Universität Karriere machte, dabei zudem von einem Leipziger Mittelalterarbeitskreis um Heinrich Sproemberg profitierte77 und 1963 bereits eine zweite 71 Vgl. ebd., S. 11–21 zum Kriegsende in Norwegen bis zu seiner Entlassung in Hannover. 72 Vgl. neben der Literatur in der folgenden Anm. ebd., S. 100, S. 106, S. 222 oder S. 406. 73 Berlin masch. phil. Diss. 1951  ; gedruckt ist eine Zusammenfassung, vgl. Eckhard Müller-Mertens, Hufenbauern und Herrschaftsverhältnisse in brandenburgischen Dörfern nach dem Landbuch Karls IV. von 1375, in  : Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschaftsund sprachwissenschaftliche Reihe 1, 1/1951/52, S. 35–79. Zum Kontext Ders., Einleitung. Fritz Rörig, das Landbuch Karls IV. und das märkische Lehnbürgertum, in  : Evamaria Engel/Benedykt Zientara  (Hg.), Feudalstruktur, Lehnbürgertum und Fernhandel im spätmittelalterlichen Brandenburg, Weimar 1967, S. 1–28, etwa S. 5  : „Die von Rörig angeregte und geförderte erste, noch summarische Analyse des Landbuches bestätigte in bestechender Weise die Richtigkeit seiner [Rörigs] Vorstellungen über die Aussagekraft der Gesamtquelle.“ 74 Rückblickend resümierte Müller-Mertens dazu, damit habe auf dem Gebiet der mittelalterlichen Geschichte an der Humboldt-Universität der Lehrbetrieb auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus begonnen und es sei wohl überhaupt die erste marxistische Mittelaltervorlesung an einer Universität der DDR gewesen  ; vgl. dazu den mit „Mediävistik“ überschriebenen kurzen Abriss der Geschichte der Mediävistik an der Berliner Universität mit dem Datum 10. Juni 1983 (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften [künftig zitiert als ABBAW], Nachlass [künftig zitiert als NL] Müller-Mertens, Nr. 86). Ernst Werner konnte allerdings schon im Herbstsemester des Studienjahres 1951/52 eine Vorlesung zur „Deutsche Geschichte bis 1648“ in Leipzig halten, so dass Müller-Mertens Selbstzuschreibung nicht ganz zutreffend ist  ; vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis Universität Leipzig. Studienjahr 1951/52 – Herbstsemester, S. 58. 75 Gedruckt als Eckhard Müller-Mertens, Untersuchungen zur Geschichte der brandenburgischen Städte im Mittelalter (I) (II) (III und IV), in  : Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, V, 3/1955/56, S. 191–221  ; V, 4/1955/56, S. 271– 307 und VI, 1/1956/57, S. 1–28. Vgl. dazu auch Müller-Mertens, Existenz (wie Anm. 41), S. 108–110. 76 Vgl. ebd., S. 81. 77 Vgl. Eckhard Müller-Mertens an Heinrich Sproemberg, 12. Januar 1952 (ABBAW, NL Sproemberg, Nr., 155, Korrespondenz 1952). Die „Ausarbeitung meiner Vorlesung“ mache, so gestand Müller-Mertens

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(schmale) Monographie vorlegen konnte,78 war Bartmuß in Halle nicht nur mehr oder weniger auf sich allein gestellt, sondern darüber hinaus in den hochgradig ineffizienten Produktionsprozess des Lehrbuchs eingebunden.79 Zur Überwindung des vermeintlich schädlichen bürgerlichen Individualismus legte der Plan einer neuen Gesamtdarstellung80 nämlich großen Wert auf eine Arbeit im Kollektiv und auf eine Erörterung in einem allgemeinen, nationalen und internationalen, (sozialistischen) Rahmen. Dies bedeutete, dass Bartmuß beim Abfassen nicht nur der vorgegebenen Leitlinie Sterns folgen, sondern ebenfalls die öffentlich eingeworbene Kritik an den ersten Konzepten integrieren81 und seine Entwürfe und Dispositionen in Treffen des Lehrbuchkollektivs immer wieder zur Diskussion stellen musste. Sproemberg ein, „große Schwierigkeiten“  : „Leider steht mir nicht die erforderliche Zeit zur Verfügung, um sie wirklich gründlich und befriedigend auszuarbeiten“, weswegen er um die Aufnahme in den Leipziger Kreis bat. Vgl. dazu auch Groth, Der Feudalismus als Zukunft der Vergangenheit (wie Anm. 55), S. 153–155. Zusammen mit Bernhard Töpfer pendelte er folgend für einige Zeit nach Leipzig, um sich dort dem mediävistischen Arbeitskreis Sproembergs anzuschließen. 78 Vgl. Eckhard Müller-Mertens, Karl der Grosse, Ludwig der Fromme und die Freien. Wer waren die liberi homines der karolingischen Kapitularien (742/743–832)  ? Ein Beitrag zur Sozialgeschichte und Sozialpolitik des Frankenreiches (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 10), Berlin 1963. 79 Vgl. dazu allerdings auch die rückblickende, den Entstehungsprozess positiv auslegende Selbsteinschätzung  : „Weder stimmt es, dass das Lehrbuch, zumindest bezüglich der drei Bände Mittelalter, durch politische Vorgaben eingeengt worden sei […], noch stimmt es, dass die Thesen zum Lehrbuch Mittelalter nicht mit Mediävisten diskutiert worden wären […], und es stimmt auch nicht, dass bis Ende 1963 nichts publiziert worden wäre […] oder dass das Lehrbuch gar gescheitert sei […]. Im Gegenteil  : Obwohl gar keine Vorarbeiten von marxistischer Seite vorlagen, wurde in Halle intensiv an diesem Lehrbuch gearbeitet, es gab viele Diskussionen um die Disposition und unseren Periodisierungsvorschlag, die auch öffentlich […] geführt worden sind […]. Allerdings erschien dann der 1. Band (Frühmittelalter) erst 1963, und die beiden anderen Bände folgten 1964. Das war jedoch nicht durch ständiges ‚Umarbeiten‘ […] verursacht, sondern hing damit zusammen, dass weitere Forschungen über Detailfragen notwendig waren und wir als Autoren in dieser Zeit auch an unseren Dissertationen arbeiten mussten“  ; so Hans-Joachim Bartmuss, Leo Stern als sozialistische Wissenschaftspersönlichkeit – Motivation und praktisches Handeln – Einführungsvortrag, in  : Meier (Hg.), Leo Stern (wie Anm. 59), S. 19–51, hier S. 45 Anm. 37. Vgl. auch Ders., Leo Sterns Beitrag (wie Anm. 63), S. 40, wo Bartmuß eine gründliche wissenschaftliche Diskussion neuer Ergebnisse in einem internationalen Kontext als die zwei Leitprinzipien Sterns bei der Abfassung des Lehrbuchs bestimmte. 80 Vgl. Entwurf. Richtlinien für die Arbeit des Autorenkollektivs „Lehrbuch der deutschen Geschichte“ (ABAAW, Zentralinstitut für Geschichte [künftig zitiert als ZIG], Nr. 676/1)  : „Das Lehrbuch der deutschen Geschichte ist die erste umfassende wissenschaftliche Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte auf der Grundlage des historischen Materialismus.“ 81 Vgl. Leo Stern, Erste Zwischenbilanz einer wissenschaftlichen Kritik, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2, 1954, S. 903–928  ; Ders., Erste Zwischenbilanz einer wissenschaftlichen Kritik (II), in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 3, 1955, S.  53–89  ; Ders., Erste Zwischenbilanz einer wissenschaftlichen Kritik (III), in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 3, 1955, S. 212–242.

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Die Planungen für das mehrbändige „Lehrbuch der deutschen Geschichte“ 82 reichen in das Jahr 1952 zurück, und ursprünglich war eine schnelle Ausarbeitung und Publikation vorgesehen.83 Die Debatte um Zuschnitt, Ausrichtung und Inhalt zog sich indes durch die gesamten 50er Jahre  ; erst 1959 erschien der erste Band84 und weitere vier Jahre später dann der von Bartmuß maßgeblich verfasste Lehrbuchbeitrag „Deutschland in der Feudalepoche von der Wende des 5./6.  Jahrhunderts bis zur Mitte des 11. Jh.“.85 Als ‚offizielle‘ Geschichtsschreibung kam der Reihe natürlich grundsätzlich ein großes Renommee zu (respektive  : sollte ihr zukommen). Doch erstens erschien Bartmuß’ Abschnitt nicht allein unter seinem Namen, sondern auch unter demjenigen Sterns, der zudem an erster Stelle genannt wurde,86 und zweitens bedingte der lange Produktionsprozess, dass die Reihe in einem gewissen Sinne beim Erscheinen bereits veraltet war. Während die arrivierten ‚bürgerlichen‘ Mediävisten eine Beteiligung an dem Projekt von Anfang an abgelehnt hatten,87 nahm Müller-Mertens als Vertreter der sich etablierenden neuen Generation an vielen der entsprechenden Treffen teil und prallte auch dort mit seiner eigenen Periodisierungskonzeption auf die divergente Sicht82 Zunächst als „Lehrbuch der Geschichte des deutschen Volkes“ geplant, firmierte das Projekt nach der Kritik des sowjetischen Historikers W. G. Brjunin, der einwandte, „Volk“ sei als Begriff nicht treffend, da er die „Ausbeuterklassen“ nicht berücksichtige, als „Lehrbuch der Geschichte Deutschlands“, wohingegen die einzelnen Abschnitte als „Lehrbuch der deutschen Geschichte“ erschienen. Vgl. dazu auch die Literatur in der folgenden Anm. 83 Vgl. Martin Sabrow, Planprojekt Meistererzählung. Die Entstehungsgeschichte des „Lehrbuchs der deutschen Geschichte“, in  : Ders. (Hg.), Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Der Umgang mit der Vergangenheit in der DDR (Zeithistorische Studien 14/Herrschaftsstrukturen und Erfahrungsdimensionen der DDR-Geschichte 3), Köln/Weimar/Wien 2000, S. 227–286  ; Sabrow, Diktat des Konsenses (wie Anm. 46), S. 183–252. 84 Vgl. Gerhard Schilfert, Deutschland von 1648 bis 1789. Vom Westfälischen Frieden bis zum Ausbruch der Französischen Revolution (Lehrbuch der Deutschen Geschichte. Beiträge 4), Berlin 1959. 85 Vgl. Leo Stern/Hans-Joachim Bartmuss, Deutschland in der Feudalepoche von der Wende des 5./6.  Jh. bis zur Mitte des 11.  Jh. (Lehrbuch der Deutschen Geschichte. Beiträge 2/1), Berlin 1963 (21970, 31973, 41986)  ; Leo Stern/Horst Gericke, Deutschland in der Feudalepoche von der Mitte des 11. bis zur Mitte des 13. Jh. (Lehrbuch der Deutschen Geschichte. Beiträge 2/2), Berlin 1964 (21978, 3 1983)  ; Leo Stern/Eberhard Voigt, Deutschland in der Feudalepoche von der Mitte des 13. bis zum ausgehenden 15. Jh. (Lehrbuch der Deutschen Geschichte. Beiträge 2/3), Berlin 1964 (2. Auflage bearb. von Johannes Schildhauer 1976, 31984). 86 Dazu auch Müller-Mertens, Existenz (wie Anm. 41), S. 107  ; Zöllner, Entwicklung (wie Anm. 63), S. 301. 87 Vgl. Stern/Bartmuss, Lehrbuch (wie Anm. 85), S. 1  : „Während sich die in der Deutschen Demokratischen Republik damals tätigen bürgerlichen Mediävisten von dieser Arbeit ausschlossen, hatte sich unter meiner Leitung ein Kreis von jungen marxistischen Mediävisten erst herauszubilden begonnen.“

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weise Bartmuß’, der seine Thesen gegen den über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügenden88 und von der Richtigkeit seiner eigenen Ansicht überzeugten ‚Kollegen‘ verteidigen musste.89 Hinzu kam, dass sich beide auch persönlich nicht sonderlich schätzten.90 Verhältnismäßig harsch fielen daher zuweilen die Urteile übereinander aus.91 Ihr Gegensatz blieb nicht nur ein engerer mediävistischer Diskurs, sondern wurde auch auf die politische Ebene gehoben. Im Sommer 1962 forderte die Abteilung Wissenschaften im ZK der SED eine Analyse der bisherigen Forschungen auf dem Gebiet der Mittelalterlichen Geschichte seit 1955 an. Als Verfahren schlug Müller-Mertens vor, dass die Ausarbeitung von dem jeweiligen Spezialisten entsprechend dem eigenen Schwerpunkt vorgenommen werden sollte. Während er selbst zusammen mit der Fachrichtung Geschichte an der Universität Berlin die Forschungen „Zur Entstehung feudaler Produktionsverhältnisse und des Staates in Deutschland sowie zur Politik 88 Vgl. Müller-Mertens, Existenz (wie Anm. 41), S. 108  : „Ich kann nicht leugnen, daß ich in Sproem­ bergs Leipziger Nachwuchsseminar mit einem bestimmten Dünkel auftrat. Ich kam aus Berlin, war promoviert, führte selbst Lehrveranstaltungen durch, wurde in Berlin von vielen Stellen in mediävistischen Fragen herangezogen, und ich meinte, im historischen Materialismus wirklich versiert und kompetent zu sein. Die Jahre 1950 bis 1956 waren für mich nicht nur eine Zeit des Hochflugs, sondern auch eines sich herausbildenden Hochmutes.“ 89 Vgl. ABBAW, ZIG, Nr. 871, Nr. 872, Nr. 873 und Nr. 874. 90 Vgl. Müller-Mertens, Existenz (wie Anm. 41), S. 401  : „Zwischen ihm [Bartmuß] und mir bestanden nicht nur grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten, sondern auch unüberwindliche persönliche Animositäten.“ 91 Vgl. neben der schon zitierten Passage oben bei Anm. 39 auch  : Bartmuss, Zur Frage der Bedeutung (wie Anm. 28), S. 120 Anm. 23  : „In seinem stark umstrittenen und in Fachkreisen äußerst heftig angegriffenem Buch ‚Das Zeitalter der Ottonen‘ hat E. Müller-Mertens, von diesen neueren Forschungen unbelastet (vgl. Literaturverzeichnis  !), die Behauptung aufgestellt, im 9. und 10.  Jh. hätten die freien Bauern in Sachsen die Mehrheit der Bevölkerung ausgemacht (S. 32), worauf er sogar die Stärke Heinrichs I. zurückführen zu können glaubt (S. 51). Dabei ist Müller-Mertens auch nicht im entferntesten in der Lage, diese Behauptungen mit eigenen Forschungen zu stützen. Beim gegenwärtigen Stande der Forschung entbehren diese Behauptungen jedenfalls jeglicher Grundlage. Müller-Mertens unterschätzt m.E. die Ausmaße der sächsischen Sonderentwicklung ganz beträchtlich, wodurch ihm, bei allzu schematischer Betrachtungsweise, der tiefere Einblick in die besonderen sozioökonomischen Verhältnisse Sachsens im 9. und beginnenden 10. Jh. versagt bleiben muß.“ Vgl. andersherum die Besprechung der Dissertation von Bartmuß (wie Anm. 69) durch Müller-Mertens in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 15, 1967, S. 346–350, wo er das Buch zwar als „erste[n] marxistische[n] Versuch einer Zusammenfassung der Auseinandersetzung der deutschen Geschichtswissenschaft über den Übergang vom ostfränkischen zum deutschen Reich“ würdigte (S. 347), doch sei Bartmuß, „[a]us dem guten Willen, möglichst viel zu leisten“, mit dem Gegenstand überfordert gewesen und habe sich in Widersprüche (Staat als Produkt der Klassengegensätze oder als Ergebnis der Konkurrenz innerhalb der herrschenden Klasse) verstrickt. Zudem finde sich beim Autor eine „fragwürdige Handhabung der Quellen“ (S. 349).

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des frühmittelalterlichen Reiches“ zusammenfassen wollte, hatte er vorgesehen, dass Bartmuß und dessen Hallenser Kollegen eine „Analyse des Abschnittes ‚Allgemeines‘ sowie des Abschnittes ‚Zur Auseinandersetzung mit der westdeutschen Geschichtsschreibung‘“ beitragen sollten.92 Am 27. Juli trafen sich dann Müller-Mertens und Bartmuß sowie Martin Erbstößer und Evamaria Engel93 und verabredeten, sich am 5. September für eine Endredaktion der Beiträge zusammenzufinden.94 Zwei Tage nach diesem Treffen im September schickte Bartmuß einen sechsseitigen Brief an Müller-Mertens  : Da Du am Mittwoch nicht mehr genügend Zeit hattest, um mit mir über einige Fragen zu sprechen, die Deinen Abschnitt der Analyse – speziell die Ausführungen über meine Arbeiten – betreffen, muß ich Dir meine Stellungnahme schriftlich mitteilen. Ich halte das für sehr wichtig, weil leider sehr vieles, was über meine Arbeiten in der Analyse steht, sachlich nicht zutrifft.95

Anschließend summierte er Zitate aus seiner Dissertation, aus denen seine Positionen hervorgingen, und schloss mit der Bemerkung  : „Im Interesse einer weiteren ungetrübten Zusammenarbeit zwischen den Berliner und Hallenser Genossen hoffe ich, daß damit die Fronten in unserer Kontroverse klar umrissen und auf eine sachliche Ebene gebracht sind.“96 Am 11. September respondierte Müller-Mertens in 14 Zeilen  : Er habe den Brief mit den Berliner Genossen besprochen und gerade diese hätten es damals für geboten empfunden, auch kritische Feststellungen zu treffen. Man könne sich zudem der Meinung nicht anschließen, dass „Unsachlichkeiten“ zu verzeichnen seien. Die enthaltenen Feststellungen seien alle belegbar und würden überdies im zugesandten Brief nochmals unterstrichen. Gleichwohl wolle man ihm entgegenkommen und habe einen Passus gestrichen sowie einige Präzisierungen vorgenommen. Er selbst halte es überdies für „gut und nützlich, wenn wir uns recht bald einmal im engeren Kreis über grundsätzliche theoretische und ideologische Fragen

92 Vgl. Eckhard Müller-Mertens, [Abfassungsplan], 12. Juli 1962 (ABBAW, NL Müller-Mertens, Nr. 86). 93 Das Beschlussprotokoll der Beratung vermerkt, dass Greifswalder Vertreter entschuldigt, Rostocker unentschuldigt fehlten  ; vgl. Evamaria Engel, Beschlußprotokoll über die Beratung am 27. Juli 1962 zur Auswertung und Einschätzung der seit 1955 auf dem Gebiet des Mittelalters erschienenen Literatur (ABBAW, NL Müller-Mertens, Nr. 86). 94 Ebd. 95 Hans-Joachim Bartmuß an Müller-Mertens, 7. September 1962 (ABBAW, NL Müller-Mertens, Nr. 86). 96 Ebd., S. 6.

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unserer Arbeit unterhalten würden.“97 Einen Tag später schickte Müller-Mertens die Analyse an die Abteilung Wissenschaften.98 Unabhängig von den Präzisierungen, die Bartmuß an Müller-Mertens geschickt hatte, dürfte es eher der Ton des Berichts sein, an dem sich Bartmuß gestört hatte. Denn dort betonte Müller-Mertens, dass die Berliner Genossen seine Ansicht im Meinungsstreit teilten, man jedoch aktiv an bislang nicht gelöste Punkte herangehen wolle, während das Hallenser Kollektiv im Lehrbuch nicht auf die Kontroverse eingegangen sei. Damit hatte er nicht nur auf den Gegensatz zwischen Berlin und Halle dezidiert aufmerksam gemacht, sondern zusätzlich durchklingen lassen, dass man in Berlin intensiv an einer Lösung arbeite, während man in Halle dem Problem (zumindest im Lehrbuch) ausgewichen sei.99 Im Ringen um Aufmerksamkeit bei den entscheidenden staatlichen Stellen, die eben auch für die Verteilung von Ressourcen zuständig waren, hatte sich Müller-Mertens damit gegenüber Bartmuß (und Halle) in durchaus geschickt subtiler Weise positioniert und abgegrenzt. Nachdem das Lehrbuch abgeschlossen worden war und Bartmuß sein Promotionsverfahren erfolgreich beendet hatte, veröffentliche er 1962 in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft einen Aufsatz, der die zentrale These seiner Dissertation beinhaltete und auf den Punkt brachte  : Innerhalb der Entstehungsgeschichte des Deutschen Reichs beginne mit der Erhebung Heinrichs I. etwas Neues, so dass mit dieser „eine außerordentlich bedeutsame Periodisierungszäsur der deutschen Feudalgeschichte anzusetzen“ sei.100 Durch den Gegensatz zwischen den mittleren und kleinen Feudalherren zu den großen Feudalherren (‚Herzöge‘ und ‚Herzogsprätendenten‘) sei es zur Ausbildung eines starken Königtums gekommen.101 Aus Angst vor einer Mediatisierung hätten jene, gemeinsam mit den geistlichen Feudalherren, die in beständiger Konkurrenz zu den großen Feudalherren gestanden hätten,102 lie 97 Eckhard Müller-Mertens an Hans-Joachim Bartmuß (Abschrift), 11. September 1962 (ABBAW, NL Müller-Mertens, Nr. 86).  98 Eckhard Müller-Mertens an das Zentralkomitee der SED, Abt. Wissenschaften, z. Hd. Gen. Dr. [Raimund] Wagner (Abschrift), 12. September 1962 (ABBAW, NL Müller-Mertens, Nr. 86).  99 Vgl. Eckhard Müller-Mertens, Zur Entstehung feudaler Produktionsverhältnisse und des Staates in Deutschland (ABBAW, NL Müller-Mertens, Nr. 86). Vgl. allerdings Stern/Bartmuss, Lehrbuch (wie Anm. 85), S. 162 mit Anm. 1 (S. 276f.). 100 Vgl. Hans-Joachim Bartmuss, Ursachen und Triebkräfte im Entstehungsprozeß des „frühfeudalen deutschen Staates“, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 10, 1962, S. 1591–1625, Zitat S. 1625. 101 Vgl. zu diesem Punkt auch Bartmuss, Geburt (wie Anm. 69), S. 129–131, wo er den sogenannten ‚jüngeren Stammesherzogtümern‘ eine eigene ‚Staatlichkeit‘ zuerkennt. 102 Vgl. Bartmuss, Ursachen und Triebkräfte (wie Anm. 100), S. 1601f.: „Die großen weltlichen Feudalherren und die Kirche kann man geradezu als die beiden ‚Großerben an dem karolingischen Nachlaß‘ bezeichnen. Nachdem ihnen das Königsgut fast vollständig zum Opfer gefallen war, mußten

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ber einem fernen König gedient, als einem nahen ‚Herzog‘ unterworfen zu sein,103 so dass sowohl Heinrich  I. als auch Otto  I. ihre Herrschaft der Unterstützung dieser Feudalherren verdankten.104 Dabei habe Heinrich als einziger der ostfränkischen Feudalherren die notwendige Stärke zur Errichtung eines starken Königtums besessen, da er, anders als die anderen großen Feudalherren der einzelnen ‚jüngeren Stammesherzogtümer‘, „mit den geistlichen und den mittleren und kleineren weltlichen Feudalherren seines Herzogtums im guten Einvernehmen stand“,105 wofür Bartmuß die „besonders scharfen Klassengegensätze in Sachsen“ verantwortlich machte, die „es den sächsischen Feudalherren nicht erlaubt“ hätten, „Konkurrenzkämpfe untereinander auszutragen“, sondern sie dazu gezwungen hätten, „einheitlich zu handeln“.106 Bereits im 8. Jahrhundert habe in Sachsen ein sächsischer ‚Adel‘ im Sinne einer „abgeschlossene[n] soziale[n] Gruppe“ existiert, woraus sich im Umkehrschluss „eine große Zahl abhängiger Bauern“ ergebe.107 Müller-Mertens’ These einer Mehrheit von freien Bauern in Sachsen108 müsse deswegen zurückgewiesen werden.109 Doch diese wurde nicht alleine von Müller-Mertens vertreten, hatte vielmehr auch in der sowjetischen Mediävistik ihre Fürsprecher, wo etwa Aleksandr Njeussychin in seinem 1961 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch über „Die Entstehung der abhängigen Bauernschaft als Klasse der frühfeudalen Gesellschaft in Westeuropa vom 6. bis 8. Jahrhundert“110 die gegenüber Bartmuß genau gegenteilige Ansicht formuliert hatte. Aus der altsächsischen Verfassung gehe hervor, „daß der sächsische Aufstand von 841 bis 842 zu den Bauernaufständen zählt, die sich unmittelbar gegen die Konstituierung der Feudalgesellschaft richteten.“111 Denn die Sozialstruktur der Bauern „bestand im 9. Jahrhundert – trotz des Anwachsens des vorwiegend kirchlichen, aber auch königlichen und weltlichen Großgrundbesitzes nach der fränkischen Eroberung der Sachsen – immer noch weitgehend aus ehemals gleichberechtigten sie sich gegeneinander wenden, wenn sie weitere größere Komplexe ihren Feudalherrschaften einverleiben wollten.“ Für die geistlichen Feudalherren sei der königliche Schutz die wesentliche Bedingung ihrer Königstreue gewesen (S. 1604). 103 Vgl. ebd., S. 1611f. 104 Vgl. ebd., S. 1616–1618. 105 Ebd., S. 1624. 106 Ebd., S. 1609. 107 Ebd., S. 1593. 108 Vgl. oben Anm. 42. 109 Vgl. Bartmuss, Ursachen und Triebkräfte (wie Anm. 100), S. 1594f. 110 Vgl. Alexandr I. Njeussychin, Die Entstehung der abhängigen Bauernschaft als Klasse der frühfeudalen Gesellschaft in Westeuropa vom 6. bis 8. Jahrhundert. Deutsche Ausgabe besorgt von Bernhard Töpfer (ins Deutsche übertragen von Peter Wick), Berlin 1961 (Moskau 1956). 111 Ebd., S. 334.

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Stammes- und Gemeindemitgliedern, die […] vor der fränkischen Eroberung das gesamte sächsische Volk umfasste.“112 Diese seien zwar „schon vor den fränkischen Feldzügen nach Sachsen teilweise in Abhängigkeit vom alten sächsischen Stammes­ adel […] geraten, aber noch nicht zu feudalabhängigen Hintersassen geworden.“113 Während Njeussychin den Stellingaaufstand also als Aufstand ‚gegen‘ die Feudalisierung interpretierte, hatte Bartmuß diesen als Aufstand ‚innerhalb‘ der Feudalordnung und damit als ‚Klassenkampf ‘ gefasst.114 Damit wurde der Stellingaaufstand zur Nagelprobe für die Beurteilung der ‚Genesis der Feudalgesellschaft in Deutschland‘ als dem elementaren Metaproblem des Frühmittelalters. Hierzu hatte zunächst Müller-Mertens einen Aufsatz publiziert,115 auf den Bartmuß dann mit einer kurzen Replik eigens einging.116 Eingebunden waren beide Beiträge in „die eigentliche ‚Feudalismus-Diskussion‘“, die für Müller-Mertens 1963 begann und die er „provozierte“.117 Seine zentrale Frage war, „ob die Germanenstämme des barbarischen Nordens überhaupt von sich aus unmittelbar und unvermittelt den Weg in den Feudalismus […] eingeschlagen hätten“ oder ob man nicht eigentlich von einer notwendigen Verbindung zur „feudalisierten Spätantike“ ausgehen sowie „die feudale Wirkung des fränkischen Königtums und der Kirche sowie der fortgeführten galloromanischen, rätoromanischen und noricoromanischen Einrichtungen“ für die Feudalisierung der Gesellschaft berücksichtigen müsse.118 Ziele „die eigenständige gesellschaftliche Entwicklung bei den germanischen Großstämmen“ nicht eher „auf eine untere barbarisch-vorfeudale Stufe der Klassengesellschaft […], die ihren Ausdruck gefunden haben dürfte in weit verbreitetem freien Kleineigentum, in ausgedehnter patriarchalischer Sklaverei und Hausherrschaft, in 112 Ebd., S. 332. 113 Ebd. 114 Vgl. Stern/Bartmuss, Lehrbuch (wie Anm.  85), S.  130f. Streng genommen wurde der Stellingaaufstand dort zwar nicht als ‚Klassenkampf ‘ bezeichnet, aber festgehalten, dass der Aufstand „wie auch alle anderen Äußerungen des bäuerlichen Klassenkampfes im Frühfeudalismus“ nicht vergebens gewesen sei (S. 131). 115 Vgl. Eckhard Müller-Mertens, Die Genesis der Feudalgesellschaft im Lichte schriftlicher Quellen. Fragen des Historikers an den Archäologen, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 12, 1964, S. 1384–1402. 116 Vgl. Hans-Joachim Bartmuss, Die Genesis der Feudalgesellschaft in Deutschland. Bemerkungen zu einigen neuen Hypothesen von E. Müller-Mertens, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 13, 1965, S. 1001–1010. 117 Vgl. Müller-Mertens, Existenz (wie Anm.  41), S.  105. Vgl. auch Eckhard Müller-Mertens, Feudalismusdiskussionen in der DDR. Einführung und Ausblick, in  : Ders. (Hg.), Feudalismus. Entstehung und Wesen (Studienbibliothek DDR-Geschichtswissenschaft 4), Berlin 1985, S. 9–46, hier S. 15 mit einer weniger pointierten Formulierung. 118 Müller-Mertens, Genesis (wie Anm. 115), S. 1393.

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Gefolgschafts- und Klientelverhältnissen, in Tributherrschaft und -knechtschaft, in der Abhängigkeit überschichteter Bevölkerungen und damit verbundener Leibeigenschaft und Hörigkeit sowie vorfeudalen und feudalähnlichen Abhängigkeiten“  ?119 Müsse man insofern nicht von „Produktionsverhältnissen sui generis“120 ausgehen  ? Doch sei Müller-Mertens – so Bartmuß in seiner Kritik – nicht bei diesen aufgeworfenen Fragen stehengeblieben. Denn obwohl er die Vorläufigkeit seiner Ergebnisse betone, unternehme er „von einer derartig unsicheren Basis aus Abstecher in die ‚Gefilde historischer Spekulation‘, um die ‚möglichen Konsequenzen‘ seiner Überlegungen ‚anzudeuten‘“. Doch von dort sei es nur ein kleiner Schritt, um diese ‚Konsequenzen‘ als ‚reale Gegebenheiten‘ zu verwenden.121 Die Eroberung des sächsischen Raumes durch Karl den Großen habe jedoch – anders als von Müller-Mertens behauptet – lediglich eine ohnehin schon angelaufene Entwicklung katalysiert  : „Wir müssen damit rechnen, daß die selbständige soziale Entwicklung Sachsens schon zur Zeit seiner Unterwerfung durch die Franken einen sehr beachtlichen Stand erreicht hatte.“122 Weder die Überführung freier Bauern in die feudale Abhängigkeit noch die Umwandlung von ohnehin existenten sächsischen Unfreien in feudalabhängige Bauern hätten dementsprechend eines äußeren Anstoßes bedurft  : „Grundsätzlich lief die Entwicklung der germanischen Großstämme im frühen Mittelalter zum Feudalismus.“123 Der hier zum Tragen kommende Unterschied des Geschichtsbildes ist fundamental. Während Bartmuß die gesetzmäßige Entwicklung der Gesellschaftsformationen für den sächsischen Raum in gänzlicher Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen hypostasierte, diesen folglich nur die Rolle der Unterstützung oder Beschleunigung des Prozesses zuwies, unterminierte Müller-Mertens die Zwangsläufigkeit der Entwicklung, indem er einen (deutschen) ‚Sonderweg‘ der Geschichte zumindest als theoretische Möglichkeit aufzeigte und die Feudalisierung selbst als Produkt äußerer Einflüsse darstellte. Beide Sichtweisen waren (und blieben) inkommensurabel. In einem vertraulichen Entwurf über die Publikationen zur Geschichte des Mittelalters am Ende der sechziger Jahre musste daher resümiert werden  :

119 Ebd. 120 Ebd., S. 1402  : „Noch ist die Genesis der Feudalgesellschaft weithin in Dunkel gehüllt. Zwei Probleme wurden im besonderen demonstriert  : das Phänomen vorfeudaler Herrschafts-, Knechtschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse. Sie nicht als urgesellschaftliche Ausläufer oder Vorläufer des Feudalen zu deuten, sondern als Produktionsverhältnisse sui generis, wurde erwogen, ohne schon klären zu können, wieweit sie die Gesellschaft bestimmt haben mögen.“ 121 Bartmuss, Genesis (wie Anm. 116), S. 1001. 122 Ebd., S. 1008. 123 Ebd., S. 1010.

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Insgesamt gesehen muß jedoch festgestellt werden, daß weder die durch die um den Feudalismus geführte Grundsatzdiskussion noch durch die Diskussion um die Entstehung des frühfeudalen deutschen Staates die aufgeworfenen theoretischen Hauptfragen beantwortet wurden. So kann bisher nicht von einer die Meinung der Mediävisten der DDR repräsentierenden Präzisierung des marxistischen Feudalismus-Begriffes gesprochen werden. In einer Reihe zentraler Fragen kristallisierten sich unterschiedliche und selbst entgegengesetzte Meinungen heraus.124

Die über die Arbeiten von Bartmuß und Müller-Mertens hinausgehende allgemeine Debatte über den Feudalismus blieb zudem keineswegs auf die engere Mediävistik begrenzt. So beteiligte sich seit der Mitte des Jahrzehnts auch Joachim Herrmann an der Diskussion.125 Herrmann126 hatte von 1951 bis 1955 an der Humboldt-Universität zu Berlin zunächst Geschichte, dann Ur- und Frühgeschichte studiert127 und war 1954 in die SED eingetreten. 1958 legte er seine Dissertation zum Thema „Die vor- und frühgeschichtlichen Wehranlagen Groß-Berlins und des Bezirkes Potsdam“ vor.128 Zwei Jahre zuvor war er im Anschluss an sein Studium wissenschaftlicher Assistent am Institut für Vor- und Frühgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (ab 1972 Akademie der Wissenschaften der DDR) geworden. 1969

124 Autorenkollektiv unter der Leitung von Günter Vogler, Einschätzung der Publikationen zur Geschichte des Mittelalters in der DDR, Dezember 1969 (unkorrigiert / Vertraulich  !) (BArch DY 30/36115 / ABBAW, NL Müller-Mertens, Nr. 86), S. 1–33, hier S. 10f. 125 Vgl. Anne Kluger, „und je nachdem, welche Seiten von dem einzelnen Forscher besonders hervorgehoben werden, fällt das historische Urteil aus“. Joachim Herrmann und die prähistorische Feudalismusforschung in der DDR, in  : Groth (Hg.), Der geschichtliche Ort (wie Anm. 55), S. 187–216. 126 Vgl. zu Herrmann auch Sebastian Brather, Joachim Herrmann (1932–2010). Archäologe, in  : Friedrich Beck/Klaus Neitmann (Hg.), Lebensbilder brandenburgischer Archivare und Historiker. Landes-, Kommunal- und Kirchenarchivare, Landes-, Regional- und Kirchenhistoriker, Archäologen, Historische Geografen, Landes- und Volkskundler des 19. und 20. Jahrhunderts (Brandenburgische historische Studien 16), Berlin 2013, S. 655–661  ; Peter Donat/Bernhard Gramsch/Horst Klengel, Joachim Herrmann (1932–2010), in  : Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 91, 2010, S. 7–21. 127 Herrmann hatte zunächst begonnen, Geschichte zu studieren, und war nach der Einrichtung einer ur- und frühgeschichtlichen Abteilung (und späteren Instituts) zu diesem Fachbereich gewechselt. Vgl. zur Etablierung des Fachs in Berlin auch Achim Leube, Prähistorie zwischen Kaiserreich und wiedervereinigtem Deutschland. 100 Jahre Ur- und Frühgeschichte an der Berliner Universität Unter den Linden (Studien zur Archäologie Europas 10), Bonn 2010, S. 140–144. 128 Vgl. Joachim Herrmann, Die vor- und frühgeschichtlichen Burgwälle Groß-Berlins und des Bezirkes Potsdam (Schriften der Sektion für Vor- und Frühgeschichte 9/Handbuch vor- und frühgeschichtlicher Wall- und Wehranlagen 2), Berlin 1960  ; vgl. dazu auch das Autorenreferat in  : Ethnographisch‐Archäologische Zeitschrift 1, 1960, S. 38–41.

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wurde er schließlich erster (und einziger) Direktor des im Zuge der Zentralisierungsund Umstrukturierungsreformen an der Akademie gegründeten „Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie“ (ZIAGA), das die außeruniversitäre Forschung zur Antike mit der prähistorischen und klassischen Archäologie sowie den orientwissenschaftlichen Fächern zusammenführte und institutionell miteinander verband.129 Diese Stellung bedeutete eine unvergleichliche Machtposition, da Herrmann damit die „Leitung der gesamten Forschungen auf dem Gebiete der Alten Geschichte und Archäologie in der DDR“130 in seiner Person konzentrieren konnte. Sein hauptsächliches Arbeitsgebiet war die archäologisch-historische Erforschung der ‚Slawen‘ bis hinein in die mittelalterlichen Verhältnisse.131 Als Archäologe profilierte er sich zudem durch verschiedene Langzeitgrabungsprojekte, während einige populärwissenschaftlich ausgerichtete Schriften, die auf die ‚großen‘ Linien der Weltgeschichte abzielten, Herrmann auch über den engeren Fachzirkel hinaus bekannt machten.132 Parallel zu Herrmanns Aufstieg hatte das Politbüro des ZK der SED beschlossen, eine neue umfassende Geschichtsdarstellung herauszubringen.133 Erscheinen sollte das zwölfbändige Werk zunächst zum 30. Jahrestag der DDR im Oktober 1979, aber auch hier konnte der avisierte Zeitplan nicht eingehalten werden. Die Mittelalterliche Geschichte bis 1056 wurde der Ur- und Frühgeschichte zugeordnet und unter die Leitung von Herrmann gestellt.134 Für Müller-Mertens lagen die Hintergründe für diese Entscheidung in dem Umstand, dass die Mediävisten zu keiner einheitlichen Position über den Feudalismus gekommen seien,135 weshalb die Verantwortung für 129 Vgl. Kluger, Joachim Herrmann (wie Anm. 125), S. 189f. mit weiterer Literatur. 130 Vgl. Leube, Prähistorie (wie Anm. 127), S. 145. 131 Vgl. Joachim Herrmann (Hg.), Die Slawen in Deutschland. Ein Handbuch. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neiße vom 6. bis 12. Jahrhundert, Berlin 1970  ; vgl. auch den Sammelband Bernhard Tesche  (Hg.), Joachim Herrmann. Wege zur Geschichte. Ausgewählte Beiträge, Berlin 1986. 132 Vgl. hierzu auch Kluger, Joachim Herrmann (wie Anm. 125), S. 205f. und S. 208f. mit den entsprechenden Verweisen. 133 Vgl. Politbüro des ZK der SED (Arbeits- und Reinschriftenprotokolle), Protokoll Nr. 29/68, Sitzung am 9. Juli 1968, Tagesordnungspunkt 6  : Politisch-wissenschaftliche Zielstellung einer Geschichte des deutschen Volkes (BArch, DY 30/43144, Bll. 58–83). 134 Vgl. Deutsche Geschichte. Band 1  : Von den Anfängen bis zur Ausbildung des Feudalismus Mitte des 11. Jahrhunderts. Autorengruppe  : Joachim Herrmann (Leiter), Hans-Joachim Bartmuß, Waltraut Bleiber, Bernhard Gramsch, Bruno Krüger, Eckhard Müller-Mertens, Karl-Heinz Otto, Hans Quitta (Deutsche Geschichte in zwölf Bänden), Berlin 1982  ; Deutsche Geschichte. Band 2  : Die entfaltete Feudalgesellschaft von der Mitte des 11. bis zu den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts. Autorenkollektiv  : Evamaria Engel und Bernhard Töpfer (Leiter), Konrad Fritze, Siegfried Hoyer, Johannes Schildhauer, Ernst Werner (Deutsche Geschichte in zwölf Bänden), Berlin 1983. 135 Vgl. Müller-Mertens, Existenz (wie Anm. 41), S. 260–265. Vgl. dazu ausführlicher Simon Groth,

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das nächste Symbolprojekt weder Bartmuß noch ihm (oder einem anderen Mediävisten) übertragen worden sei. Passenderweise stand mit Herrmann eine (vermeintlich) geeignete Option zur Verfügung, um das Problem endgültig einer Lösung zuzuführen. In diesem Zusammenhang veröffentlichte Herrmann 1971 einen Aufsatz über „Sozioökonomische Grundlagen und gesellschaftliche Triebkräfte für die Herausbildung des deutschen Feudalstaates“,136 in dem er auf der Grundlage der Forschungsarbeiten von Bartmuß auch zu einer partiellen Neubewertung des Stellingaaufstandes gelangte und dessen Bedeutung nochmals steigerte  : „[Es] bleibt ein unumstößliches historisches Faktum  : Zum ersten Mal in der Geschichte des Feudalismus auf deutschem Boden traten sich die beiden Grundklassen der Feudalgesellschaft unverhüllt und bewaffnet gegenüber.“137 Auf der Suche nach Klassenkämpfen als Triebkraft der Geschichte hatte Herrmann den Stellingaaufstand gefunden. Diese Neubestimmung des „geschichtlichen Platz[es] des Stellingaaufstandes“ nahm daraufhin Müller-Mertens zum Anlass, um sich seinerseits mit dem Aufstand in einem eigenen Beitrag zu beschäftigen, der bereits ein Jahr später gedruckt wurde.138 Nachdem Müller-Mertens dort zunächst die Einzigartigkeit hervorgehoben hatte und nochmals auf die Überlieferungssituation eingegangen war, zog er, um den Charakter des Aufstandes besser fassen zu können, zwei Vergleichslinien. Zunächst erinnerte er an die Sachsenkämpfe Karls des Großen und parallelisierte anschließend die Intensität dieser Auseinandersetzung mit der ‚deutschen‘ Ostexpansion sowie mit den immer neuen Aufständen der Elbslawen gegen die Ottonen.139 In beiden Fällen habe eine Klassengesellschaft versucht, einer sozial noch verhältnismäßig wenig differenzierten Gesellschaft, einer Gesellschaft also, in der „die Frage der politischen Macht“ noch offen gewesen sei, klassengesellschaftliche Verhältnisse aufzuzwingen. Überall dort, wo die „klassengesellschaftliche Differenzierung“ am wenigsten fortgeschritten gewesen sei, sei der Widerstand gegen die Eroberer am größten gewesen.140 Allein schon aufgrund der zeitlichen Nähe habe zudem eine Verbindung zwischen Vom Nutzen und Nachteil des Feudalismus für das Mittelalter. Die Konsequenzen sozialistischer Formationstheorie für das disziplinäre Selbstverständnis der Mediävistik in der DDR (erscheint in  : Zeitschrift für Historische Forschung). 136 Vgl. Joachim Herrmann, Sozialökonomische Grundlagen und gesellschaftliche Triebkräfte für die Herausbildung des deutschen Feudalstaates, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 19, 1971, S. 752–789. 137 Ebd., S. 771f. (Zitat S. 772). 138 Vgl. Eckhard Müller-Mertens, Der Stellingaaufstand. Seine Träger und die Frage der politischen Macht, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 20, 1972, S. 818–842, Zitat S. 819. 139 Vgl. ebd., S. 820–824. 140 Ebd., S. 824.

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dem sächsischen Widerstand von 782 bis 804 und dem Stellingaaufstand von 841 bis 843 bestanden, worüber in der marxistischen Forschung bislang auch Einigkeit geherrscht habe. Mit dieser Sichtweise habe Herrmann nun jedoch gebrochen, da er den Aufstand nicht mehr als Ereignis innerhalb des Feudalisierungsprozesses selbst, sondern als Klassenkampf innerhalb einer Feudalgesellschaft verstand  : Entscheidend für diese Sicht ist Herrmanns Bemühen, dem Stellingaaufstand einen, wie er meint, höheren geschichtlichen Stellenwert zu geben. Dieser sei zu niedrig veranschlagt, wenn der Aufstand als gegen den Feudalisierungsprozeß gerichtet betrachtet werde. Wenn dieser aber als abgeschlossen gesehen wird, ergäbe sich eine höhere Wertung  : Seine Auswirkung auf die progressive Entwicklung der feudalen Produktionsverhältnisse.141

Diese Einordnung stehe und falle mit der Frage, wer die ‚Stellinga‘ nun eigentlich gewesen seien. Damit war das Problem zum Ausgangspunkt von Bartmuß’ erster Beschäftigung mit dem Thema von 1957 zurückgekehrt, doch hielt Müller-Mertens an seiner bisherigen These fest. Bei den sächsischen ingenui/liberi habe es sich „vor der Zerschlagung der stammesgesellschaftlichen Organisation und der Eingliederung Sachsens in den fränkischen Feudalstaat“ im Kern um freie Allodbauern, und bei den Liten grundsätzlich um „halbfreie, von einem Herrn persönlich abhängige und ausgebeutete, aber noch nicht feudalabhängige Bauern“ gehandelt, die zusammen den Hauptteil der sächsischen Bevölkerung ausgemacht haben dürften.142 Da sich der Feudalisierungsprozess erst seit der Mitte des 8. Jahrhunderts voll entfaltet habe, müsse man annehmen, dass es auch 841 noch eine hinreichend große Gruppe freier Allodbauern gegeben habe. Am Schnittpunkt der Erinnerung an die stammesgeschichtlichen Rechts- und Sozialtraditionen der Zeit vor der Eingliederung in das fränkische Reich mit der Krise der fränkischen Herrschaft in den 830er und 840er Jahren hätten es die ‚Stellinga‘, sozial vielfach geschichtete Freie und halbfreie Liten, auf eine Rückkehr zu den Verhältnissen vor der Eroberung in Abwehr des fortschreitenden Feudalisierungsprozesses abgesehen.143 Damit waren die Positionen endgültig bezogen  ; die alles entscheidende Differenz, den Aufstand als Teil dieses Prozesses oder als Aspekt des Feudalismus, als Erhebung gegen eine bereits etablierte Ordnung zu bewerten, war allerdings nicht aufzulösen. Denn die Kontroverse war in eine Reihe divergenter Prämissen eingebettet. Zunächst einmal liefen die Vorstellungen von den Ursachen für den Zusammenhalt des ost141 Ebd., S. 824f. 142 Vgl. ebd., S. 826–835, Zitat S. 834. 143 Vgl. ebd., S. 835–842.

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fränkischen Reichsteils am Ende des 9. und zu Beginn des 10.  Jahrhunderts, also die jeweilige Ansicht über den Entstehungsprozess des deutschen Reiches, auseinander.144 Müller-Mertens vertrat dabei die Auffassung, dass das Königtum der Ottonen im Sinne eines ‚zentralistischen‘ Staates auf der relativen Schwäche der Feudalherren beruhte, die, um die Masse der Bevölkerung in feudale Abhängigkeit zu zwingen, bestrebt gewesen seien, ein starkes Königtum zu installieren. Dies habe insbesondere für das im Vergleich mit den anderen Gebieten rückständige Sachsen gegolten, von wo 919 die Königsherrschaft durchgesetzt worden sei.145 Für Bartmuß, der den Feudalisierungsprozess als weitestgehend abgeschlossen ansah, war vielmehr der Widerspruch innerhalb der Feudalherrenklasse der entscheidende Punkt. Die vielfältigen Gegensätze zwischen den ‚großen‘ und ‚mittleren‘ Feudalherren hätten diese dementsprechend als ‚Klasse‘ bedroht, was durch äußere Gefahren, etwa die Normannenund Ungarneinfälle, zusätzliche Dringlichkeit erhalten habe. Für die Erhaltung und den Ausbau der Feudalherrschaft habe es deswegen eines über allen Herzogtümern stehenden, starken Königtums bedurft.146 Darüber hinaus legten beide eine andere Definition der feudalen Produktionsverhältnisse zugrunde.147 Während Bartmuß im Kontext der Entstehung des Lehrbuchs diese auf der Grundlage von Sentenzen Stalins und Lenins mittels vier bestimmender Merkmale definierte und die Bindung der Bauern an den Boden mit persönlicher Abhängigkeit vom Grundherrn (außerökonomischer Zwang) als zentrales Charakteristikum hervorhob,148 operierte Müller-Mertens mit einem anderen Modell, das es 144 Vgl. dazu auch Wolfgang Eggert, 919 – Geburts- oder Krisenjahr des mittelalterlichen deutschen Reiches  ? Betrachtungen zu einem zweifelhaften Jubiläum, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 18, 1970, S. 46–65, der im Prozess der Entstehung eines ‚deutschen‘ Reiches die Ereignisse des Jahres 919 (gegen Bartmuß) als „erste, ernste Krise“ verstand  : „Daß es an ihr nicht zerbrach, zeigt die Lebenskraft der Grundlagen, welche im 9. Jh. geschaffen wurden, zeigt, daß die gesellschaftliche Basis, auf der dieses Reich ruhte, auch für die Zukunft tragfähig war“ (S. 65). 145 Vgl. grundlegend Eckhard Müller-Mertens, Vom Regnum Teutonicum zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Reflexionen über die Entwicklung des deutschen Staates im Mittelalter, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 11, 1963, S. 319–346, hier S. 325–328. 146 Vgl. Stern/Bartmuss, Lehrbuch (wie Anm. 85), S. 162–177, etwa S. 165  : „Mit dem sächsischen Herzog Heinrich existierte damals im ostfränkischen Bereich ein Feudalherr, der alle Voraussetzungen für die Errichtung eines starken Königtums besaß.“ 147 Eine äußerst knappe, aber dienliche Zusammenfassung der Positionen bei Helmut Assing, Zur Definition des feudalen Grundeigentums, in  : Ethnographisch‐Archäologische Zeitschrift 11, 1970, S. 95–107, hier S. 98–100. 148 Vgl. Leo Stern, Disposition des Hochschullehrbuches der Geschichte des deutschen Volkes (1. Bd.), in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1, 1953, S. 629–646, hier S. 633f. sowie Ders., Thesen zum Lehrbuch Deutsche Geschichte (Mittelalter bis 1500), S. 6f. (ABBAW, ZIG, Nr. 883)  ; vgl. darauf aufbauend Stern/Bartmuss, Lehrbuch (wie Anm. 85), S. 7.

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ihm ermöglichte, die bäuerlichen Besitzverhältnisse zu differenzieren. Der „Kern des feudalen Produktionsverhältnisses“ liege „in der Landleihe und Landpacht […], der oberhalb der Produktionssphäre das Lehen entsprach“. Die Landleihe sei mit „einer Mobilisierung des Bodens und einer Mobilität bäuerlicher Schichten“ verbunden gewesen. Feudal seien demnach nur die Verhältnisse zu nennen, die auf der Landleihe beruhten  ; Tributherrschaft über Bauerndörfer – wie etwa bei den fränkischen Liten – habe eine andere Qualität und müsse davon unterschieden werden.149 Gleichzeitig trat eine unterschiedliche Auffassung über das Setzen von Zäsuren hinzu. Während Bartmuß und der Hallenser Lehrbuch-Kreis um Stern es „entsprechend dem dialektischen Prinzip der Orientierung auf das Neue, Zukunftsträchtige“ für „zweckmäßiger“ hielten, „Periodisierungsschnitte dann zu legen, wenn das Neue aus seinen Keimformen schon herausgetreten ist und sich durchzusetzen beginnt, ohne überall die herrschende Erscheinungsform geworden zu sein“,150 plädierte Müller-Mertens dafür, erst dann von einer neuen Periode auszugehen, wenn das maßgebliche Kriterium sich weitestgehend durchgesetzt habe.151 Die Gründe dieser Gegensätzlichkeit auf verschiedenen Feldern dürften dabei auch in der unterschiedlichen wissenschaftlichen Sozialisation der beiden Kontrahenten zu suchen sein. Denn Müller-Mertens knüpfte an die auch bei seinem Lehrer Rörig zu findende These eines ‚deutschen‘ Sonderweges an152 und übertrug diese in den fünfziger Jahren in einen marxistischen Zusammenhang.153 Die übergeordnete Frage nach der Entstehung des deutschen Reiches (und der deutschen Nation), die 149 Vgl. hier insbesondere Eckhard Müller-Mertens, Zur Feudalentwicklung im Okzident und zur Definition des Feudalverhältnisses, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 14, 1966, S.  52–73, S. 68f. mit den entsprechenden Zitaten. 150 Leo Stern (unter Mitarbeit der Assistenten H. J. Bartmuss, H. Gericke und E. Voigt), Zur Periodisierung der Geschichte Deutschlands im Feudalismus, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5, 1957, S. 61–110, hier S. 64, dort auch  : „Wir sind bei unserem Periodisierungsversuch diesem letzteren Prinzip gefolgt und sehen Einschnitte im historischen Entwicklungsprozeß überall dort als gegeben, wo verschiedene Entwicklungslinien zusammenfließen, wo der geschichtliche Knoten sich zu schürzen beginnt, wo das Stadium der ersten Keimformen bereits überwunden ist und das Neue seinen Siegeszug antritt.“ 151 Vgl. Eckhard Müller-Mertens, Zur Periodisierung und zu einigen Fragen der deutschen Geschichte im Feudalismus, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2, 1954, S. 239–256, hier S. 250f. 152 Vgl. etwa Fritz Rörig, Das Mittelalter und die deutsche Geschichte, in  : Martin Göhring (Hg.), Geschichtliche Kräfte und Entscheidungen. Festschrift zum fünfundsechzigsten Geburtstage von Otto Becker, Wiesbaden 1954, S. 1–15, hier S. 14  : „Diese mittelalterliche, insbesondere spätmittelalterliche Erbschaft auf staatspolitischem Gebiet haben wir hier herauszuarbeiten versucht, und zwar in auffallenden Kontrast zu dem so ganz anders gearteten Verlauf der übrigen europäischen Entwicklung.“ 153 Vgl. Müller-Mertens, Vom Regnum Teutonicum zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (wie Anm. 145).

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das bei Rörig ebenfalls immer wieder diskutierte Problem zentraler königlicher Herrschaft gegenüber partikularen Interessen miteinschloss,154 war und blieb das Thema seines Lebens.155 Der Stellingaaufstand lieferte ihm hierzu einen Beweis, dass der Feudalisierungsprozess zur Durchsetzung auf ein starkes Königtum angewiesen gewesen sei. In diesem Sinne hatte er, an die Ausführungen von Schulze anknüpfend, in einem Manuskript mit dem Titel „Gedanken über die Entstehung des Deutschen Reiches“ aus dem Frühjahr 1956 bereits festgehalten  : Der Verlauf des Stellinga-Aufstandes belegt, dass der sächsische Adel, allein und auf sich gestellt, nicht in der Lage war, die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse zu sichern und die Feudalisierung weiter durchzuführen. […] Ich möchte deshalb vermutungsweise die Schlussfolgerung ziehen, dass der allgemeine und umfassende Feudalisierungsprozeß soziale Spannungen hervorrief, die die Feudalherren bei der Sicherung und Ausbreitung feudaler Produktionsverhältnisse, bei dem Ausbau und der Erweiterung ihrer Grundherrschaften am Zusammenhalt in einem grösseren Reich mit einer starken Zentralgewalt an der Spitze interessiert sein ließen.156

In der „grossen sozialen und ökonomischen Bewegung“ läge deswegen die „letzte Ursache“ für die Entstehung des deutschen Reiches und Staates, da dieser Prozess eine Situation geschaffen habe, „die die Bildung eines mehrere Stammesverbände umfassenden relativ zentralistischen Staates mit starker monarchischer Spitze für die Durchsetzung der Klassenziele der Feudalherren sowohl notwendig als auch möglich machte.“157 Damit seien die Grundlagen für die Entstehung geschaffen.158 154 Vgl. Fritz Rörig, Ursachen und Auswirkungen des deutschen Partikularismus, Tübingen 1937  ; Ders., Geblütsrecht und freie Wahl in ihrer Auswirkung auf die deutsche Geschichte. Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Königserhebung (911–1198) (Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse 46,6), Berlin 1947  ; Ders., Geschichte und Gegenwart. Aufsatzfolge aus der „Täglichen Rundschau“, Berlin 1946. 155 Vgl. Eckhard Müller-Mertens, Nationale Frage, deutscher Staat, Ermittlungsmethoden. Bemerkungen zu Forschungen an der Humboldt-Universität über das mittlere Reich, in  : Michael Borgolte  (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende 1989 (Historische Zeitschrift. Beiheft NF 20), München 1995, S. 27–42  ; Müller-Mertens, Existenz (wie Anm. 41), S. 515–554. 156 Vgl. Eckhard Müller-Mertens, Gedanken über die Entstehung des Deutschen Reiches, Frühjahr 1956 (ABBAW, NL Müller-Mertens, Nr. 38), S. 1–24, hier S. 21–23. 157 Ebd., S. 23. 158 Vgl. ebd., S. 23f.: „Aus dieser Situation heraus musste die ethnisch-sprachliche Verwandtschaft und die Vereinigung durch das fränkische Reich ihre integrierenden Funktionen gewinnen  ; unter anderen Umständen zerfallen und sinnlos geblieben, musste die Vereinigung im fränkischen Reich so zu einem gestaltgebenden Faktor ersten Ranges erwachsen. Darum werden die entscheidenden Gruppen des Adels und der Kirche nach 843 am karolingischen Königtum festgehalten und sich spä-

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Bartmuß wiederum adaptierte die bei Lintzel159 kennengelernte Beschäftigung mit der Verfasstheit und Sozialstruktur der Sachsen als eigenständige politische Größe sowie mit den gesellschaftlichen Gegensätzen innerhalb des sächsischen Stammes und hielt (ebenfalls auf der Linie Lintzels) gegen Müller-Mertens an einem bereits ausgebildeten Staat unter Heinrich I. fest, der nun allerdings nicht nur deutsch, sondern auch feudal gewesen sei. Aufgrund der Gegensätze innerhalb der herrschenden Klasse, den Kämpfen der Adelsgruppen untereinander einschließlich des Königtums und der Kirche habe sich der zentrale Königsstaat entwickelt.160 Innerhalb der Kontroverse um den Stellingaaufstand respondierte Bartmuß dann zwar nochmals Müller-Mertens’ Beitrag mit einigen kurzen Bemerkungen, in denen er sich vor allem gegen dessen Ansicht der ‚einzigartigen‘ Stellung des Stellingaaufstandes verwahrte. Nicht nur die bereits von Müller-Mertens thematisierten elbslawischen Konflikte, sondern auch die Überwindung seiner auf die französisch-italienisch-deutsche Geschichte verengten Ausrichtung würden deutlich machen, dass dies nicht zutreffend sei. Analogien böten beispielsweise auch die ungarischen Verhältnisse an der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert.161 Doch substanziell neue Argumente wurden weder hier noch in den folgenden Jahren vorgebracht. Dies lag zu einem Gutteil auch an der Entwicklung der darüberliegenden allgemeinen Feudalismusdiskussion, der im letzten Jahrzehnt der DDR der Schwung und die Emphase der vorangegangenen Dezennien verlorengegangen war.

ter nach eigenem Ermessen neue, deutsche Könige gesetzt haben. Das Königtum konnte bei diesem Stand der Dinge, gestützt auf breite Schichten des Adels und der Kirche, aber auch die Wehrkraft der freien Bauern ausnutzend, als Exponent der herrschenden Klasse in ihrem Interesse seine staatsorganisatorische Tätigkeit ausüben, die Herzöge als konkurrierende Kräfte niederringen und als Ergebnis eines ausserordentlich komplizierten und widerspruchsvollen Prozesses die deutsche Reichs- und Staatsbildung vollziehen.“ 159 Vgl. Martin Lintzel, Zur Entstehungsgeschichte des sächsischen Stammes, in  : Sachsen und Anhalt 3, 1927, S. 1–46  ; Ders., Untersuchungen zur Geschichte der alten Sachsen, in  : Sachsen und Anhalt 4, 1928, S. 1–28  ; 5, 1929, S. 1–37  ; 6, 1930, S. 1–24  ; 7, 1931, S. 76–108  ; 8, 1932, S. 6–16  ; 10, 1934, S. 30–70  ; 13, 1937, S. 28–77  ; Ders., Der sächsische Stammesstaat und seine Eroberung durch die Franken (Historische Studien 227), Berlin 1933. 160 Vgl. neben Bartmuss, Geburt (wie Anm.  69) und Bartmuss, Ursachen und Triebkräfte (wie Anm.  100) auch Hans-Joachim Bartmuss, Die Entstehung des ersten selbstständigen Staates auf deutschem Boden, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Sonderheft. X. Jahrgang 1962. Beiträge zum nationalen Geschichtsbild der deutschen Arbeiterklasse, S. 359–374, dort etwa S. 371–374. 161 Vgl. Hans-Joachim Bartmuss, Einige Bemerkungen zum Stellingaaufstand und zum Stand der sozialökonomischen Entwicklung in Sachsen im 9. Jh., in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 24, 1976, S. 919–926.

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Mit Siegfried Epperlein162, Wolfgang Eggert163 oder Waltraut Bleiber164 hatten sich zwar auch andere zum Stellingaaufstand geäußert, doch blieben dies Randbemerkungen zur Kontroverse, da sie aus einer anders gelagerten Perspektive auf den

162 Vgl. neben Anm. 167 auch Siegfried Epperlein, Sachsen im frühen Mittelalter. Diskussionsbeitrag zur Sozialstruktur Sachsens im 9. Jahrhundert und seiner politischen Stellung im frühen Mittelalter, in  : Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 7, 1966/1, S. 189–212, etwa S. 197  : „In Sachsen ereignete sich mit dem Aufstand der Stellinga etwas, was im 9. Jahrhundert im westlichen Frankenreich kaum mehr möglich war  : Die ländliche Bevölkerung eines größeren Bereiches erhob sich gegen die Ausbreitung der Feudalordnung, ja gegen ihre Konstituierung, wie die Forderung nach Rückkehr zu den alten heidnischen Zuständen beweist. Daß eine solche Zielsetzung nicht rein utopisch war, daß sie zumindest vorübergehend noch Erfolg haben konnte, zeigt die Tatsache, daß die Herren durch die Rebellen fast vertrieben worden wären. Damit aber erwies sich der Aufstand als Versuch der ländlichen Bevölkerung, gegen die in Sachsen eben entstehende Feudalordnung im Prinzip anzugehen.“ Vgl. daneben bereits Siegfried Epperlein, Zur Lage der Bauern im frühen und hohen Mittelalter, in  : Geschichte in der Schule 10, 1957, S. 269–279, S. 345–349 und S. 394–402  ; vgl. auch Ders., Volksbewegungen im frühmittelalterlichen Europa, in  : Joachim Herrmann/Irmgard Sellnow  (Hg.), Die Rolle der Volksmassen in der Geschichte der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen. Zum 14. Internationalen Historiker-Kongreß in San Francisco 1975 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR 7), Berlin 1975, S. 211–227, hier S. 212. 163 Vgl. Wolfgang Eggert, Formen der sozialen Auseinandersetzung im frühmittelalterlichen Frankenreich, in  : Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 12, 1971/4, S. 273–285, hier S. 278–282 (zu den Thesen Epperleins [wie Anm.  167])  : „Mit [Epperleins] Einschätzung möchte ich mich voll einverstanden erklären, weniger allerdings mit der Methode, welche Epperlein anwendet, um den sozialen Status der Aufständischen festzustellen. Da jede der vier Quellen diese anders benannte, schließt er auf eine ‚vielfältige soziale Gliederung‘ der sächsischen Landbevölkerung, auf das Fehlen oder besser Noch-nicht-vorhanden-Sein einer relativ einheitlichen Hörigenschicht, wie es sie jenseits des Rheins damals schon gab. Selbst wenn das zuträfe, läßt es sich doch kaum damit motivieren, daß die Quellenschriftsteller ‚mit den verschiedensten Bezeichnungen […] (lazzi, liti, Saxoniae [?  ?], servi, serviles, liberti)‘ versuchten, ‚der noch ganz im Flusse befindlichen Entwicklung gerecht zu werden‘ (S. 58). Hier hätte die Frage aufgeworfen werden müssen, ob die Autoren unserer Berichte überhaupt das Bestreben hatten, die soziale Stellung der ‚Rebellen‘ genau zu umreißen“ (S. 278) und S. 280  : „Daß wir es hier zu tun haben mit einem ‚Versuch der ländlichen Bevölkerung, gegen die in Sachsen eben erst entstehende Feudalordnung im Prinzip anzugehen‘ (S. 60), kann als sicher gelten  ; nur sagen die Quellen eben über die Differenzierung dieser ländlichen Bevölkerung doch weniger aus, als man bisher glaubte“  ; vgl. auch ähnlich Wolfgang Eggert, Rebelliones servorum. Bewaffnete Klassenkämpfe im Früh- und Hochmittelalter und ihre Darstellung in zeitgenössischen Quellen, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 23, 1975, S. 1147–1167, hier S. 1154–1160. 164 Vgl. Waltraut Bleiber, Das frühfeudale Großreich – Staatstyp und Staatsform, in  : Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 14, 1990, S. 9–28, hier S. 15f.; vgl. auch Waltraut Bleiber, Politische Macht und sozialökonomische Grundlagen bei der Ausbildung feudaler Verhältnisse in West- und Mitteleuropa, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 21, 1973, S. 810–829, ohne direkten Bezug zum Stellingaaufstand, aber zu den unterschiedlichen Positionen von Müller-Mertens und Herrmann.

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Aufstand blickten.165 Am ausführlichsten widmete sich Epperlein166 in seiner Habilitationsschrift den Ereignissen und Zusammenhängen und lieferte eine eigenständige Auseinandersetzung mit den Quellen.167 Gegen Bartmuß interpretierte er den Aufstand „als eine energische, weite Gebiete Sachsens umfassende Erhebung“, die von Lothar „ausgelöst und für seine politischen Ziele benutzt“ worden sei und „den sächsischen Adel ernstlich bedrohte.“168 In einem 1990 im letzten Band des ostdeutschen Jahrbuchs für Geschichte des Feudalismus erschienenen Beitrag resümierte Bleiber dann in einem gewissen Sinne abschließend  : Der von marxistischen Historikern seit Jahrzehnten um den geschichtlichen Platz des Stellingaaufstandes geführte Meinungsstreit reflektiert auf seine Weise die Geschichtsmächtigkeit, die dieser Divergenz [Eingliederung von Verbänden unterhalb der „Schwelle klassengesellschaftlich begründeter staatlicher Existenz- und Organisationsformen“] noch im 9. Jh. eigen war, und läßt darüber hinaus die Kompliziertheit der theoretischen Bewältigung ihrer historischen Einordnung erkennen.169

Wollte man dieses Dilemma auf den Punkt bringen, so könnte man festhalten  : Unabhängig von der empirischen Qualität der überlieferten Quellen blieb die konkrete 165 Vgl. etwa Aleksandr Rafailovic Korsunskij, Über einige charakteristische Züge des sozialen Kamp­ fes der Volksmassen in der Periode des Übergangs von der Urgesellschaft zur Feudalgesellschaft in Europa. Zur Entstehung des Klassenkampfes der Bauernschaft, in  : Herrmann/Sellnow  (Hg.), Rolle der Volksmassen (wie Anm. 162), S. 195–210, hier S. 197f., der den Aufstand als ein Beispiel (unter mehreren) einer „Bewegung“ mit verschiedenen „Motiven“ fasste. Neben dem „Kampf gegen Auflagen, Steuern und Christianisierung“ habe der „Wunsch“, „die alten Bräuche als Ganzes zu bewahren […], sowie der Wunsch, sich von Fremdherrschaft freizumachen“, eine Rolle gespielt  : „Häufig überkreuzten sich diese Motive in der Bewegung der freien vorfeudalen Bauernschaft. Ebenso setzten sich die Teilnehmer an den Aufständen nicht selten aus verschiedenen Schichten zusammen.“ 166 Vgl. auch Siegfried Epperlein, Zur Mittelalterforschung in der DDR – Eine Reminiszenz, in  : Michael Borgolte (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende (wie Anm. 155), S. 43–73. 167 Vgl. Siegfried Epperlein, Volk und Herrschaft im karolingischen Imperium. Studien über soziale Konflikte und dogmatisch-politische Kontroversen im fränkischen Reich (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 14), Berlin 1969, S. 50–68. Müller-Mertens fungierte beim Verfahren (neben Bernhard Töpfer, Heinrich Sproemberg und Johannes Schneider) als Berichterstatter. 168 Ebd., S. 67. 169 Bleiber, Das frühfeudale Großreich (wie Anm.  164), S.  15 Anm.  21. Vgl. auch bereits Evamaria Engel/Eckhard Müller-Mertens/Johannes Schildhauer/Bernhard Töpfer, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, in  : Historische Forschungen in der DDR 1970–1980. Analysen und Berichte. Zum XV. Internationalen Historikerkongreß in Bukarest 1980 (ZFG Sonderband 1980), Berlin 1980, S. 46–78, hier S. 53.

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Beschreibung des Feudalisierungsprozesses – und damit auch die ‚Bewältigung‘170 des Stellingaaufstandes – auf (zu) viele theoretische Vorannahmen angewiesen, um einer wirklichen ‚Lösung‘ zugeführt zu werden. *** Aus rückblickender Sicht mag die hier skizzierte Kontroverse um die historische Bedeutung des Stellingaaufstandes in der Mittelalterforschung der DDR als Beispiel eines scholastisch anmutenden Kreisens um sich selbst erscheinen, dessen Kenntnis vielleicht interessant und aufschlussreich, aber ohne weiterführenden Gewinn für das eigene Verständnis des Mittelalters ist. Ein kursorischer Blick auf den Stellingaaufstand in der westdeutschen Mediävistik lässt jedoch eine spezifische Funktion der Beschäftigung mit ihrem ostdeutschen Pendant erkennen, für deren Charakteristik gerade dieser ein äußerst aufschlussreiches Beispiel ist, so dass darüber hinaus auch einige allgemeine Schlussfolgerungen für die Mittelalterforschung in der DDR, die bislang einer systematischen Aufarbeitung harrt, gewonnen werden können. Vergleicht man nämlich neben der Quantität der Beschäftigung mit den sächsischen Ereignissen der Jahre 841 bis 843 auch die diesen zugeschriebene Rolle, dann wird eine deutliche Differenz zwischen den beiden ‚deutschen‘ Mittelalterforschungen sichtbar, die wiederum als Indikator für das jeweilige Geschichtsbild genommen werden kann. Selbstverständlich wurde auch im ‚Westen‘ zum Stellingaaufstand Stellung genommen,171 doch weder entwickelte sich eine mehrstimmige und kontroverse Auseinandersetzung noch wurde dem Aufstand ein herausgehobener Platz in der Geschichte des Frühmittelalters zuerkannt.172 Legt man etwa das ostdeutsche „Lehr170 Begriff nach Helmut Beumann, Die Hagiographie „bewältigt“. Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen, in  : Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne nell’alto medioevo. Espansione e restistenze (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 28), Spoleto 1982, Band 1, S. 129–163. 171 Vgl. beispielsweise Martin Last, Niedersachsen in der Merowinger- und Karolingerzeit, in  : Hans Patze (Hg.), Geschichte Niedersachsens. Bd. 1  : Grundlagen und frühes Mittelalter, Hildesheim 1977, S. 543–652, hier S. 601f. In der Forschung des 19. Jahrhunderts war der Stellingaaufstand noch als Beleg für die moralische Schwäche Kaiser Lothars interpretiert worden  ; vgl. etwa Ernst Dümmler, Geschichte des ostfränkischen Reiches (Jahrbücher der Deutschen Geschichte), 3 Bde., hier Bd. 1  : Ludwig der Deutsche bis zum Frieden von Koblenz 860, Leipzig 21887 (ND 1960), S. 165  : „Durch dies gewissenlose Anerbieten stellte er selbst den ganzen von seinem Großvater mit so großer Anstrengung gegründeten Zustand der Dinge in Frage und zwar nicht bloß die von ihm eingerichtete weltliche Verwaltung, sondern zugleich auch den darauf beruhenden Bestand der christlichen Kirche“  ; Engelbert Mühlbacher, Deutsche Geschichte unter den Karolingern, Stuttgart 1896 (ND Stuttgart 1959/Darmstadt 1972), S.  437  : „Er scheute auch vor noch bedenklicheren Mitteln nicht zurück.“ 172 Vgl. aus der jüngeren Forschung Caspar Ehlers, Die Integration Sachsens in das fränkische Reich

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buch“ oder die „Deutsche Geschichte“ neben die 8., 9. oder 10. Auflage des ‚Gebhardt‘, dann findet sich auf der einen Seite eine herausgehobene, für die Entwicklung des ostfränkisch-deutschen Reiches bedeutsame Begebenheit173 und auf der anderen Seite nicht mehr als eine kurze, pflichtschuldige Erwähnung.174 Ebenfalls sinnfällig ist die Diskrepanz in Schulbüchern  : Während in der DDR das Thema als zentraler Baustein des Frühmittelalters präsentiert wurde,175 blieb es in westdeutschen Entsprechungen in der Regel völlig ausgeklammert.176 Die im ‚Geschichtsbeschluss‘ artikulierten Vorwürfe177 sind, ganz unabhängig von ihrer überspitzten Absolutheit und dem dort vertretenen Anspruch auf die geschichtliche ‚Wahrheit‘, also keineswegs gänzlich unzutreffend. Die Entscheidung, welche Form man für sinnvoller hält, basiert freilich nicht auf den Ereignissen, kann (mit Max Weber) nicht „dem ‚Stoff selbst entnommen‘“ werden, sondern entspringt den jeweils eigenen „Wertideen“, die durch (751–1024) (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 231), Göttingen 2007, S. 239  : „In diesem Zusammenhang ist ein neuer Lösungsvorschlag zu bedenken, der die Stellinga erklären könnte. Diese wären die enttäuschten (zwangsweise  ?) integrierten Sachsen der ersten Stunde gewesen, diejenigen, die früh auf das Christentum und die Versprechungen der Franken setzten, ohne die eigentliche Chance erkennen zu können, die die Gründung von der Schenkung unterscheidet“ und S. 258–267. Vgl. zur Rolle Lothars nunmehr Maria Schäpers, Lothar I. (795–855) und das Frankenreich (Rheinisches Archiv 159), Wien u. a. 2018, S.  411–415. Vgl. auch Norbert Wagner, Der Name der Stellinga, in  : Beiträge zur Namenforschung NF 15, 1980, S. 128–133  : „Die Stellinga sind alsdann ‚die Gefährten, Genossen‘, gewiß eine passende und treffende Bezeichnung für die Gesamtheit der Mitglieder jener zum Zweck des Aufstandes beschworenen Vereinigung, wie sie von Historikerseite erschlossen worden ist“ (S. 133). Vgl. allerdings auch Anm. 180. 173 Vgl. Stern/Bartmuss, Lehrbuch (wie Anm. 85), S. 130–132  ; Hans Joachim Bartmuss, Das Entstehen und die Festigung des deutschen Feudalstaates und die Herausbildung des deutschen Volkes (Mitte des 9. bis Mitte des 10. Jahrhunderts), in  : Deutsche Geschichte, Bd. 1 (wie Anm. 134), S. 348– 392, hier S. 348–354. 174 Vgl. Heinz Löwe, Deutschland im fränkischen Reich, in  : Herbert Grundmann  (Hg.). Bruno Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. Band 1  : Frühzeit und Mittelalter, achte, vollständig neubearbeitete Auflage, Stuttgart 1954, S. 147 / neunte, neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 1970, S. 194f. (hier mit Verweis auf Schulze [wie Anm. 23] und Bartmuß [wie Anm. 28])  ; Rudolf Schieffer, Die Zeit des karolingischen Großreichs (714–887) (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte. Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage Band 2), Stuttgart 2005, S. 140f., ebenfalls mit moralischer Wertung als Veranschaulichung für „die abträglichen Folgen des Familienzwists für Stabilität und Integrität des Reiches“. 175 Vgl. oben Anm. 10 und 11. 176 Vgl. etwa Geschichte und Geschehen  II. Geschichtliches Unterrichtswerk für die Sekundarstufe I, Stuttgart 1987. Vgl. zur komparatistischen Analyse von Schulbüchern aus unterschiedlichen Zeiten der deutschen Geschichte Martin Clauss/Martin Munke, Mittelalter-Bilder im Schulbuch. NS-Deutschland, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67, 2016, S. 577–587. 177 Vgl. oben bei Anm. 21.

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die Traditionen des Faches (mit-)bestimmt werden.178 Der Umstand, dass das Ereignis in vier unabhängigen Quellen Erwähnung findet,179 die Zeitgenossen dieses somit durchaus für außergewöhnlich bemerkenswert hielten, sollte aber vielleicht, stärker als dies bislang geschehen ist, (mit)berücksichtigt werden. Auch in der Art und Weise des Herangehens lassen sich Unterschiede greifen. Fragen der klassischen (politischen) Ereignisgeschichte – Wie verbreitet war der Aufstand in Sachsen  ? Welchen Verlauf nahm der Aufstand  ? Welche Rolle spielte Kaiser Lothar I.? Wie hoch war der Organisationsgrad der Aufständischen  ? – kam in der auf die sozioökonomischen Hintergründe der ‚Volksmassen‘ abstellenden ostdeutschen Perspektive nur eine untergeordnete, ergänzende Bedeutung zu. Umgekehrt blieb die westdeutsche Forschung in der Regel auf diese Ebene (mehr oder weniger) beschränkt. Als Gradmesser oder Vergleichsfolie ermöglicht die Beschäftigung mit der Mittelalterforschung der DDR also, spezifische Leerstellen in der westdeutschen Mittelalterforschung und damit potenziell marginalisierte Aspekte oder Fragestellungen sichtbar zu machen. Vice versa gilt dies natürlich auch andersherum sowie im Vergleich mit weiteren europäischen (Wissenschafts-)Systemen auf der Makroebene.180 Auf der Mikroebene der Mittelalterforschung der DDR wird hingegen deutlich, dass die Vorstellung einer mehr oder weniger konformen ‚marxistisch-leninistischen‘ Mediävistik nicht trägt.181 Mit den genannten Kollektivwerken, mit den normierten 178 Vgl. Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in  : Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19, 1904, S. 22–87, hier S. 56  : „Alle Erkenntnis der Kulturwirklichkeit ist, […], stets eine Erkenntnis unter spezifisch b e s o n d e r t e n G e s i c h t s p u n k t e n . Wenn wir von dem Historiker und Sozialforscher als elementare Voraussetzung verlangen, daß er Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden könne, und daß er für diese Unterscheidung die erforderlichen ‚Gesichtspunkte‘ habe, so heißt das lediglich, daß er verstehen müsse, die Vorgänge der Wirklichkeit – bewußt oder unbewußt – auf universelle ‚Kulturwerte‘ zu beziehen und danach die Zusammenhänge herauszuheben, welche für uns bedeutsam sind. Wenn immer wieder die Meinung auftritt, jene Gesichtspunkte könnten dem ‚Stoff selbst entnommen‘ werden, so entspringt das der naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten, der nicht beachtet, daß er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er unbewußt an den Stoff herangegangen ist, aus einer absoluten Unendlichkeit einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein a n k o m m t .“ 179 Vgl. oben Anm. 31. 180 Vgl. zum Stellingaaufstand folglich auch Eric Joseph Goldberg, Popular Revolt, Dynastic Politics and Aristocratic Factionalism in the Early Middle Ages. The Saxon „Stellinga“ Reconsidered, in  : Speculum 70, 1995, S. 467–501  ; Ingrid Rembold, Conquest and Christianization. Saxony and the Carolingian World, 772–888 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought 4, 108), Cambridge u. a. 2017, S. 85–140, mit kurzen Verweisen auf die einschlägige ostdeutsche Literatur (S. 102f. und S. 116f.). 181 Vgl. Michael Borgolte, Sozialgeschichte im Mittelalter. Eine Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit (Historische Zeitschrift. Beiheft NF 22), München 1996, S. 9–27 sowie S. 93–118, der durch-

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Schulbüchern – für die im Übrigen (neben anderen) Hans-Joachim Bartmuß verantwortlich zeichnete – oder den ebenfalls oftmals im Parteiauftrag verfassten populären Geschichtsdarstellungen wie die einführend genannte Erfurter Stadtgeschichte182 gab es zwar eine ‚offizielle‘ Geschichtsschreibung, doch der Raum hinter dieser Fassade war größer und vielschichtiger als oftmals unterstellt. Sowohl in ihrer zeitlichen Tiefe wie auch in ihrer personalen Breite dürften die Unterschiede die Gemeinsamkeiten überwiegen. Zudem – dies sei lediglich ergänzt – können Anspruch und die jeweilige Entstehung dieser Werke ebenfalls nur bedingt auf einen Nenner gebracht werden.183 Auch andere plakative Zuschreibungen gegenüber der ostdeutschen Geschichtswissenschaft lassen sich am Beispiel des Stellingaaufstandes nicht verifizieren. Es handelte sich um eine äußerst quellennah geführte Auseinandersetzung, in der nur beiläufig auf Aussagen der zunächst vier, dann drei kanonischen Autoritäten des Marxismus-Leninismus verwiesen, aber im Grunde an keiner Stelle mit einem einschlägigen Zitat argumentiert wurde. Dies liegt sicherlich auch in dem Umstand begründet, dass Engels den Aufstand nur im Zusammenhang mit anderen Aufständen und Verschwörungen gegen Karl den Großen und Ludwig den Frommen, die durch die gewaltige Zunahme der unfreien Bevölkerung ausgelöst worden seien, streifte,184 gängig von ‚der‘ marxistisch-leninistischen Mediävistik spricht. Vgl. auch Michael Borgolte, Eine Generation marxistische Mittelalterforschung in Deutschland. Erbe und Tradition aus der Sicht eines Neo-Humboldtianers, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44, 1993, S.  483–492 / Ders. (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende (wie Anm. 155), S. 3–26, mit der eine grundsätzliche Homogenität suggerierenden Formel ‚einer‘ Generation marxistischer Mittelalterforschung  ; und Susanne Grunwald, Das sozialistische Mittelalter. Zur Entwicklung der kulturwissenschaftlichen Mittelalterforschung und Mittelalterrezeption in der DDR, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67, 2016, S. 537–557, mit der eingängigen Wendung eines ‚sozialistischen‘ Mittelalters. 182 Vgl. Hartmut Boockmann, Eine Stadtgeschichte aus der DDR, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 41, 1990, S. 720–726, hier S. 725  : „Man befindet sich hier gewissermaßen im Zentrum des Dogmas. Klassen und Klassenkampf sind überzeitliche Phänomene, und wenn sich etwas in der Geschichte ändert, muß es sich auf den Klassenkampf als ‚Haupttriebkraft‘ zurückführen lassen. Während die außermarxistische Forschung längst weiß, daß es höchst problematisch wäre, im 9. Jahrhundert mit ‚Bauern‘ zu rechnen, die einen Klassenkampf von der Art hätten führen können wie die Arbeiter des 19. Jahrhunderts, wuchs in der DDR-Historiographie der Stellinga-Aufstand zu einem Hauptbeweis eines zentralen Dogmas heran, und das wiederum ließ ihn nun noch zu einem Sachverhalt der Erfurter Geschichte werden – wie jeder anderen denkbaren Stadtgeschichte in der DDR auch.“ 183 Vgl. zur „Deutschen Geschichte“ sowohl Joachim Herrmann, Zu den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes. Einige Ergebnisse und Probleme der Arbeiten am ersten Band der „Deutschen Geschichte“, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 28, 1980, S. 823–834, als auch Müller-Mertens, Existenz (wie Anm. 41), S. 396–424. 184 Vgl. Friedrich Engels, Fränkische Zeit [Redaktioneller Titel der Herausgeber], in  : Marx Engels Lenin Stalin. Zur Deutschen Geschichte. Band I  : Von der Frühzeit bis zum 18. Jahrhundert (Marx Engels

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zeigt aber, dass es möglich war, auf Klassikerzitate grundsätzlich zu verzichten. Dies gilt in ähnlicher Weise für die naheliegende politische Instrumentalisierung als Klassenkampf.185 Die ostdeutsche Mittelalterforschung sollte dementsprechend in ihrem Eigenwert beachtet und als gleichberechtigt neben die Mediävistik der Bonner Republik gestellt werden. Dies bedeutet freilich nicht, die spezifischen Rahmenbedingungen der ostdeutschen Geschichtswissenschaft auszublenden, sondern fordert zu einer intensiveren Beschäftigung, als dies bislang geschehen ist, heraus. Allerdings bedarf wohl auch die westdeutsche Mediävistik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer kritischeren Revision ihrer Konstitutionsbedingungen als üblich, womit die darunter liegende Frage nach Vergleichbarkeit, Spezifik und Wechselwirkung der beiden deutschen Mittelalterforschungen zumindest aufgeworfen ist. Die hier in den Blick genommene Kontroverse scheint ein illustratives Beispiel für die Suche nach Antworten zu bieten. Die überwölbende Feudalismusdiskussion ist sicherlich eine ostdeutsche Besonderheit, die auch im Vergleich mit anderen soLenin Stalin. Zur Deutschen Geschichte in drei Bänden). Besorgt vom Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut beim ZK der SED, Berlin 1953 (21956), S. 85–134, hier S. 108 sowie in  : Marx-Engels-Werke 19, Berlin 1962 (91987), S. 474–518, hier S. 494 und Marx-Engels-Gesamtausgabe 25, Berlin 1985, S. 352–396, hier S. 373. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die veränderte Erklärung in den Anmerkungen  : Marx Engels Lenin Stalin 1, S. 638f., Anm. 46  : „Stellinga – eine geheime Vereinigung freier und abhängiger heidnischer Bauern in Sachsen, die sich im Jahre 841/842 gegen den mit den Franken verbundenen und mit dem Christentum sympathisierenden Adel erhoben hatten. Der Aufstand wurde mit Mühe von Ludwig dem Deutschen unterdrückt“ und Marx-Engels-Werke 19, S. 585, Anm. 285  : „Stellinga – Bund der Stellinger (Söhne des alten Rechts), den freie (Frilinge) und halbfreie (Liten) Sachsen bildeten und der 841–842 an der Spitze eines Aufstandes gegen den fränkischen und sächsischen Adel stand. Ziel des Aufstandes war, die alten vor der fränkischen Adelsherrschaft bestehenden Rechte und Sitten wiederherzustellen. Der Aufstand wurde grausam niedergeschlagen.“ 185 Vgl. Müller-Mertens, Feudalismusdiskussionen (wie Anm. 117), hier S. 37, wo Müller-Mertens im Anschluss an die vorgestellten gegensätzlichen Positionen von ihm und Joachim Herrmann zum Stellingaaufstand zusammenfasste  : „[Müller-Mertens] wandte sich gegen den Versuch, den Stellingaaufstand als ersten großen politischen Kampf der feudalen Grundklassen, der Klasse der feudalabhängigen Bauern und der Feudalherrenklasse, innerhalb der Feudalgesellschaft zu würdigen  ; er erwies [sic  !] die Träger des Stellingaaufstandes als sozial geschichtet in feudalabhängige Bauern, Allodbauern und Bauern in noch vorfeudaler Abhängigkeit und bestimmte den geschichtlichen Platz des Stellingaaufstandes im Übergang zum Feudalismus, im vollentfalteten Feudalisierungsprozeß. Es ging im Stellingaaufstand noch einmal um die Frage der politischen Macht, die in Sachsen erst durch die Kriege Karls des Großen 772–804 zugunsten der sächsischen Aristokratie entschieden worden war. Auf sie kamen die früheren bäuerlichen Teilhaber an den zerschlagenen stammesgesellschaftlichen Einrichtungen und Rechten in der politischen Krise des Frankenreiches 840–843 zurück.“ Einleitend hatte er seinen Aufsatz zusammen mit der Studie Bleibers über politische Macht (wie Anm. 164) als „[s]treitbare Beiträge“ klassifiziert.

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zialistischen Staaten heraussticht186 und damit gesondert zu berücksichtigen ist. Als seltenes Beispiel eines mittelalterlichen Aufstandes war eine Beschäftigung mit den sächsischen Ereignissen der 840er Jahre im Grunde zwangsläufig. Eingebunden in die jeweiligen Theorien zum zeitlichen Ablauf des Feudalisierungsprozesses und den dafür aufgerufenen Ursachen entzündete sich die Kontroverse letztlich an der beigemessenen Bedeutung. Die zeitliche Nähe zum Vertrag von Verdun und zu der daran anschließenden (parallelen) Herausbildung der postkarolingischen Reiche sowie die Bedeutung Sachsens für die Konsolidierung des ostfränkischen Herrschaftsraumes unter dem sächsischen König Heinrich I. gaben dem Stellingaaufstand innerhalb der sich oftmals in sehr engen nationalen Bahnen bewegenden ostdeutschen Geschichtswissenschaft ein zusätzliches Gewicht. Dementsprechend ist es fast schon bemerkenswert, dass die Kontroverse keine noch größeren Kreise zog, sondern zunächst auf Hans-Joachim Bartmuß und Eckhard Müller-Mertens begrenzt blieb. Dieser ‚dualistische‘ Background als ein von persönlicher Abneigung katalysiertes Ringen um Deutungshoheit (und um die damit in Verbindung stehenden Positionskämpfe innerhalb des Wissenschaftssystems) dürfte sich allerdings ohne größere Einschränkungen auf viele andere geschichtswissenschaftliche Debatten übertragen lassen. Auch das Problem der generellen Gültigkeit der eigenen Thesen lässt sich keineswegs auf die ostdeutsche Mittelalterforschung oder Geschichtswissenschaft begrenzen. Zwar gab es das ideologisch-theoretische Ziel eines Konsenses über die Geschichte,187 doch war dies – wie bereits vermerkt – ein (unerreichtes) Ideal und es bliebe überdies zu prüfen, inwieweit die einzelnen Wissenschaftler dieses eigentlich als legitim verstanden. Der Versuch, unter der Leitung des ins Frühmittelalter ausgreifenden Prähistorikers und Archäologen Joachim Herrmann, eine verbindliche Darstellung vorzulegen, blieb oberflächlich, die dahinterstehende Kontroverse ungelöst. Gleichzeitig bedeutet das in der westdeutschen Mittelalterforschung der Nachkriegszeit zu einer nochmaligen Blüte gekommene ‚rankeanische‘ Streben nach einem bloßen ‚[Z]eigen, wie es eigentlich gewesen‘ eine ähnliche epistemologische Position.188 Darüber hinaus steht zu vermuten, dass in jeder Kontroverse die einzel186 Vgl. hierzu ganz allgemein Maciej Górny, „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“. Nation, Marxismus und Geschichte im Ostblock. Aus dem Polnischen übersetzt von Peter Oliver Loew, Błażej Białkowski und Andreas Warnecke (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung), Köln/Weimar/Wien 2011. 187 Vgl. Sabrow, Diktat des Konsenses (wie Anm. 46). 188 Vgl. Klaus Schreiner, Wissenschaft von der Geschichte des Mittelalters nach 1945. Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Mittelalterforschung im geteilten Deutschland, in  : Ernst Schulin (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (Schriften des Historischen Kollegs 14), München 1989, S.  87–146  ; Peter Moraw, Kontinuität und später Wandel. Bemerkungen zur

Klassenkampf im Mittelalter? 

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nen Beteiligten grundsätzlich davon ausgehen dürften, ‚recht‘ zu haben. Doch scheint es fraglich, ob Eindeutigkeit, ob also das Lösen von Kontroversen überhaupt ein erstrebenswertes Ziel ist.189

deutschen und deutschsprachigen Mediävistik 1945–1970/75, in  : Ders./Rudolf Schieffer  (Hg.), Die deutschsprachige Mediävistik im 20.  Jahrhundert (Vorträge und Forschungen 62), Ostfildern 2005, S.  103–138. Vgl. zu den Grundlagen Simon Groth, Das Mittelalter – Eine ‚endliche‘ Geschichte. Über einen Denkstil der deutschen Mediävistik, in  : Jahrbuch für Universitätsgeschichte 21, 2018 (erschienen 2021), S. 11–39. 189 Vgl. dazu grundsätzlich auch Thomas Martin Buck, Lehnswesen und Feudalismus. Zur Logik von Forschungskontroversen, in  : Groth (Hg.), Der geschichtliche Ort (wie Anm. 55), S. 217–236.

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Der Streit um die ‚Reconquista‘

Tagespolitische Hintergründe Im Jahre 2013 wurde der rechte Rand des spanischen Parteienspektrums um eine neue Formation erweitert  : eine Gruppe abtrünniger Politiker und Politikerinnen spaltete sich vom rechtskonservativen Partido Popular ab, weil dieser ihrer Meinung nach die Migration nach Spanien nicht hinreichend verhindere und im Umgang mit dem baskischen und katalanischen Separatismus zu lax sei. Unter dem Namen Vox und unter Führung ihres Vorsitzenden Santiago Abascal Conde hat die Partei konsequent einen rechtspopulistischen Kurs eingeschlagen, der unter anderem von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Antifeminismus geprägt ist.1 Er findet in Spanien unterschiedlich starken Anklang  : Besonders groß ist die Popularität von Vox in Andalusien, Kastilien-León und Valencia, wo die Partei bei den Regionalwahlen der Jahre 2018–2022 zwischen 10 % und 17 % der Wähler- und Wählerinnenstimmen auf sich vereinigen konnte.2 Wie viele andere rechtspopulistische Parteien nutzt auch Vox in ihren Texten, ihrer Außendarstellung und ihrer Terminologie sehr bewusst und konsequent ‚Geschichte als Argument‘.3 Ein von ihren Wortführern gern benutzter Begriff führt zum Thema dieses Beitrags. Denn Santiago Abascal Conde und andere Mitglieder seiner Partei wie der Generalsekretär Javier Ortega Smith greifen in ihren Auftritten immer wieder auf das Bild der Rückeroberung ‒ Spanisch „reconquista“ ‒ zurück, um ihr politisches 1 Carles Ferreira, Vox como representante de la derecha radical en España. Un estudio sobre su ideología, in  : Revista Española de Ciencia Política 51, 2019, S. 73–98  ; Davide Vampa, Competing Forms of Populism and Territorial Politics  : The Cases of Vox and Podemos in Spain, in  : Journal of Contemporary European Studies 28, 2020, S. 304–321, doi  :   ; José Rama/Lisa Zanottiis/Stuart J. Turnbull-Dugarte/Andrés Santana, VOX. The Rise of the Spanish Populist Radical Right (Extremism and democracy), London/New York 2021. Herzlichen Dank an Silvia Girona Espino (Heidelberg) für ihre Unterstützung bei der Bearbeitung dieses Aufsatzes. 2 Marc Esteve Del Valle/Julia Costa López, Reconquest 2.0. The Spanish Far Right and the Mobilization of Historical Memory during the 2019 Elections, in  : European Politics and Society s.n., 2022, S. 1‒24  ; doi  : 10.1080/23745118.2022.2058754. 3 Stefan Weinfurter/Frank Martin Siefarth (Hg.), Geschichte als Argument. 41. Deutscher Historikertag in München, 17. bis 20. September 1996. Berichtsband, Berlin/Boston 1997.

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Anliegen prägnant zu erfassen und historisch zu untermauern.4 Sie meinen damit vor allem zweierlei  : erstens die Zurückdrängung des Islam in der spanischen Gesellschaft bzw. gar die vollständige Verdrängung aus ihr, und zweitens die Bekämpfung der Autonomiebestrebungen bzw. des Separatismus im Baskenland und Katalonien. Damit greifen sie einen lange in der Geschichtswissenschaft gebräuchlichen, mittlerweile aber umstrittenen Begriff auf. Er wurde und wird noch immer vielfach benutzt, um die militärische Expansion christlicher Territorien auf Kosten muslimischer Herrschaften während des 8. bis 15.  Jahrhunderts zu beschreiben.5 Rechtspopulistische und nationalkonservative Politiker und Politikerinnen deuten ihn nun für ihre Zwecke um  : So, wie Christen des Mittelalters über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg in einem lang andauernden Ringen islamische Territorien zurückeroberten und damit wieder christlicher Herrschaft zuführten, müssten nun nach ihrer Ansicht die Einwanderung muslimischer Männer und Frauen nach Spanien beendet, christliche Werte gestärkt und die Präsenz des Islam zurückgedrängt werden. Plakativ und öffentlichkeitswirksam eröffnete Vox daher im Jahre 2021 ihre Wahlkampagne für die Regionalwahlen von Asturien in Covadonga, dem Ort, an dem ein christliches Heer im 8. Jahrhundert erstmals eine muslimische Armee auf der Iberischen Halbinsel besiegt haben soll.6 Unmissverständlich symbolisch ist auch ihr Ansinnen, den offiziellen Feiertag Andalusiens auf den 12. Januar zu verlegen – den Tag, an dem im Jahre 1492 Granada, die letzte noch muslimisch beherrschte Stadt, an die Christen fiel.7 4 Alejandro García Sanjuán, Rejecting al-Andalus, Exalting the Reconquista. Historical Memory in Contemporary Spain, in  : Journal of Medieval Iberian Studies 10, 2018, S.  127–145  ; Ders., Cómo desactivar una bomba historiográfica. La pervivencia actual del paradigma de la Reconquista, in  : Carlos de Ayala Martínez/Isabel Cristina Ferreira Fernandes/José Santiago Palacios Ontalva (Hg.), La Reconquista. Ideología y justificación de la Guerra Santa peninsular (Colección Historia & Arte 5), Madrid 2019, S. 99–121  ; Tiago João Queimada e Silva, The Reconquista Revisited. Mobilising Medieval Iberian History in Spain, Portugal and Beyond, in  : Mike Horswell/Akil N. Awan (Hg.), The Crusades in the Modern World (Engaging the Crusades 2), London 2020, S. 57–74  ; Esteve-Del Valle/Costa López, Reconquest 2.0 (wie Anm.  2)  ; Valerio Rocco Lozano, „Vox clamantis in deserto“, in  : Carlos de Ayala Martínez/José Santiago Palacios Ontalva (Hg.), Reconquista y guerra santa en la España medieval  : ayer y hoy, Madrid 2021, S. 229–239. 5 Vgl. Gesamtdarstellungen unter diesem Titel  : Joseph F. O’Callaghan, Reconquest and Crusade in Medieval Spain, Philadelphia 2002  ; Julio Valdeón Baruque, La reconquista  : El concepto de España, Madrid 2006  ; Nikolas Jaspert, Die Reconquista. Christen und Muslime auf der Iberischen Halbinsel (711–1492), München 2019. 6 (aufgerufen am 16.06.2022). 7 (aufgerufen am 16.06.2022). Zum historischen Hintergrund siehe, mit weiterer Literatur  : Daniel Baloup/Raúl

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Mit ihrem dezidiert antagonistischen Verständnis der Beziehungen zwischen Christen und Muslimen während des mittelalterlichen Jahrtausends stehen die spanischen Rechtspopulisten nicht allein. Es wird von islamistischen Kreisen geteilt, die ihrerseits ein Interesse daran haben, das Bild eines dauerhaften Kriegs der Religionen zu zeichnen, um ihre Radikalität und Gewalt zu rechtfertigen und mit einem historischen Fundament zu versehen. In diesen Kreisen werden einerseits die mittelalterlichen Angriffe der Christen gegen Al-Andalus als beklagenswerte, gewaltsame Rückeroberung interpretiert, andererseits der moderne radikal-islamistische Terrorismus als ein gerechter Krieg zur Wiedererrichtung des verlorenen Kalifats und damit ebenfalls als eine Form der „reconquista“ angesehen.8 Diese nur auf den ersten Blick paradoxe Übereinstimmung zwischen christlichen Rechtspopulisten und islamistischen Radikalen ist nur konsequent, gründet sie doch auf der von beiden Gruppierungen geteilten Überzeugung, sich noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einem jahrhundertelangen Glaubenskampf zu befinden. Dieser Radikalisierung steht eine oftmals in liberalen Kreisen anzutreffende Tendenz gegenüber, die Beziehungen zwischen Religionsgemeinschaften in Vergangenheit und Gegenwart in idealisierter Form als durchwegs harmonisch zu verstehen, wofür gerne, auch weit über den spanischsprachigen Raum hinaus, das Schlagwort der ‚convivencia‘ ins Feld geführt wird.9

González Arévalo (Hg.), La guerra de Granada en su contexto internacional (Croisades tardives 5), Toulouse 2017. In der Stadt Badajoz ist eine ähnliche Initiative auf Betreiben von Vox bereits umgesetzt worden  : (aufgerufen am 16.06.2022). 8 Rocío Rubio Garrido, La fascinación de al-Andalus o el delirio de al-Qaeda, in  : Clara María Thomas de Antonio/Antonio Giménez Reíllo  (Hg.), El saber en al-Andalus. Textos y Estudios  IV. Homenaje al profesor D. Pedro Martínez Montávez, Sevilla 2006, S.  231–245  ; Jeffrey R. Halverson/Nathaniel Greenberg, Ideology as Narrative. The Mythic Discourse of al-Qaeda in the Islamic Maghrib, in  : Middle East Journal of Culture and Communication 1, 2017, S. 3–23. 9 Vivian B. Mann/Thomas F. Glick/Jerrilyn D. Dodds (Hg.), Convivencia  : Jews, Muslims, and Christians in Medieval Spain, New York 1992  ; María Rosa Menocal, The Ornament of the World  : how Muslims, Jews, and Christians Created a Culture of Tolerance in Medieval Spain, New York 2002. Mit teils kritischen Analysen  : Alejandro García Sanjuán (Hg.), Tolerancia y convivencia étnico-religiosa en la Península Ibérica durante la Edad Media  : III Jornadas de Cultura Islámica (Collectanea/Universidad de Huelva 73), Huelva 2003  ; María Jesús Fuente Pérez, Identidad y convivencia. Musulmanas y judías en la España medieval, Madrid 2010  ; Ana Isabel Carrasco Manchado, De la convivencia a la exclusión  : imágenes legislativas de mudéjares y moriscos, siglos XIII–XVII, Madrid 2012.

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,Reconquista‘ und Bürgerkrieg Auch in anderen Ländern Europas werden zu Beginn des 21. Jahrhunderts militärische Konflikte des Mittelalters noch immer genutzt, um zeitgenössische politische, soziale oder sogar militärische Agenden zu unterstützen. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist hierfür nur das jüngste, dramatische Beispiel. Dies ist allerdings keine neue Entwicklung. Insbesondere die Kreuzzüge wurden schon seit dem Mittelalter in vielen Ländern und unter unterschiedlichen Vorzeichen immer wieder auf diese Weise genutzt.10 Aus diesem Grund sind sie sogar als ‚polymythisch‘ bezeichnet wurden, um ihr Potenzial herauszustreichen, sich flexibel an wechselnde gesellschaftliche Wünsche oder Bestrebungen anzupassen.11 Auch in jüngerer Zeit sind der Begriff ‚Kreuzzug‘ und damit verbundene Konzepte wieder zur Rechtfertigung von staatlicher, gruppenbezogener oder individueller Gewalt verwendet worden ‒ man denke nur an die von dem US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush als ‚Kreuzzug‘ bezeichnete militärischen Reaktion auf die Angriffe des 9. November 2001,12 an die Behauptung muslimischer Terroristen, sie kämpften gegen ‚westliche Kreuzritter‘,13 oder an die Selbststilisierung eines Massenmörders von 2011, er sei ein moderner Tempelritter.14 10 Jonathan Riley-Smith, Islam and the Crusades in History and Imagination, 8 November 1898–11 September 2001, in  : Crusades 2, 2003, S.  151‒167  ; Adam Knobler, Holy Wars, Empires, and the Portability of the Past. The Modern Uses of Medieval Crusades, in  : Comparative Studies in Society and History. An International Quarterly 48, 2006, S.  293‒325  ; Elizabeth Siberry, The New Crusaders. Images of the Crusades in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, Aldershot 2000  ; Felix Hinz (Hg.), Kreuzzüge des Mittelalters und der Neuzeit. Realhistorie – Geschichtskultur – Didaktik, (Geschichte in Erfahrung, Gegenwart und Zukunft 15), New York 2015  ; Mike Horswell, The Rise and Fall of British Crusader Medievalism, c. 1825‒1945, London/New York 2018. 11 Nikolas Jaspert, Ein Polymythos. Die Kreuzzüge, in  : Helmut Altrichter/Klaus Herbers/Helmut Neuhaus (Hg.), Mythen in der Geschichte (Rombach Wissenschaften. Reihe Historiae 16), Freiburg 2004, S. 203‒235. 12 Ebd., S. 235  ; Bruce Holsinger, Neomedievalism, Neoconservatism, and the War on Terror (­ Paradigm 29), Chicago 2007, S. 78‒105  ; Matthew Gabriele, Debating the „Crusade“ in Contemporary America, in  : The Mediaeval Journal 6, 2016, S. 73‒92  ; Andrew B.R. Elliott, Medievalism, Politics and Mass Media. Appropriating the Middle Ages in the Twenty-First Century (Medievalism 10), Wood­bridge 2017  ; Hilary Rhodes, Medievalism, Imagination and Violence  : the Function and Dysfunction of Crusading Rhetoric in the Post-9/11 Political World, in  : Horswell/Awan (Hg.), The Crusades (wie Anm. 4), S. 41‒56. 13 Akil Awan/Warren Dockter, ISIS and the Abuse of History, in  : History Today 66, 01.01.2016, S. 19‒20  ; Elliott, Medievalism, Politics and Mass Media (wie Anm. 12), S. 106‒131  ; Akil N. Awan, Weaponising the Crusades  : Justifying Terrorism and Political Violence, in  : Horswell/Awan (Hg.), The Crusades (wie Anm. 4), S. 4‒17. 14 Daniel Wollenberg, The New Knighthood. Terrorism and the Medieval, in  : Postmedieval – A Jour-

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Die Instrumentalisierung des Kreuzzugsbegriffs lässt sich auch in der jüngeren spanischen Geschichte beobachten, vor allem während und nach dem Spanischen Bürgerkrieg von 1936–1939. Die nationalistischen Aufständischen gaben an, einen Kreuzzug, eine „cruzada“ zu führen, und der Krieg wurde in späteren offiziellen Schriften als solcher dargestellt.15 Demnach führten die Truppen des aufständischen Generals Francisco Franco einen Kreuzzug zur Rettung der Kirche und zur Wiederherstellung der nationalen Einheit. Ebenso wie die ‚Spanier‘ des Mittelalters zum Wohle des Christentums gegen die Muslime gekämpft hätten, würden sie gegen die Armee der Republikaner streiten – mit dem Unterschied, dass jetzt die Muslime auf der Seite der vermeintlichen Kreuzfahrer kämpften, nämlich in Form der marokkanischen Söldner, auf die sich Franco zu Beginn der Revolte besonders stützte. Vom anderen Ende des politischen Spektrums stammen die Worte eines Mitglieds der Internationalen Brigaden. In seiner Beschreibung des Bürgerkriegs, der er den Titel ‚Crusade in Spain‘ gab, formulierte der englische Freiwillige Jason Gurneys kategorisch  : „The crusade was against the fascists, who were the Saracens for our genera­tion.“16 Die aufständischen Nationalisten unter Francisco Franco betrachteten den Bürgerkrieg nicht nur als einen Kreuzzug, sondern auch als eine zeitgenössische Form der „reconquista“. Franco ließ sich nicht zufällig nach seinem Sieg in den offiziösen Medien als „reconquistador“ eines neuen Spaniens feiern.17 So wie die Christen des Mittelalters verlorene Gebiete aus den Händen der Muslime zurückgewonnen hatten, hätten seine Anhänger ihre Feinde ‒ Kommunisten, Sozialisten, Separatisten – aus dem Land vertreiben, es zurückerobert und auf diese Weise die nationale Einheit wiederhergestellt. Diese Ideologie wurde während des Krieges von den Aufständischen und nach ihrem Sieg über Jahrzehnte hinweg über die staatliche Pronal of Medieval Cultural Studies 5, 2014, S. 21‒33  ; Elliott, Medievalism, Politics and Mass Media (wie Anm. 12), S. 132‒153  ; Katharine M. Millar/Julia Costa Lopez, Conspiratorial Medievalism  : History and Hyperagency in the Far-right Knights Templar Security Imaginary, in  : Politics s.n., 2021, S. 1‒17, doi  : 1026339572110109. 15 Alberto Reig Tapia, La cruzada de 1936. Mito y memoria, Madrid 2006  ; Javier Rodrigo, Cruzada, paz, memoria. La Guerra Civil en sus relatos, Granada 2013  ; Francisco José Moreno Martín, Gesta Dei per Hispanos. Invención, visualización e imposición del mito de Cruzada durante la Guerra Civil y el primer franquismo, in  : De Ayala Martínez/Ferreira Fernandes/Palacios Ontalva (Hg.), La Reconquista (wie Anm.  4), S.  483‒518. Vgl. den Titel der offiziösen, monumentalen Geschichte des Bürgerkriegs aus der Hand der Sieger  : Historia de la cruzada española. 8 Bde., Madrid 1939‒1943, sowie Emilio Rodríguez Tarduchy, Historia de la cruzada española, Madrid 1941  ; Juan de Iturralde, El catolicismo y la cruzada de Franco, 2 Bde., Bayonne 1955. 16 Jason Gurney, Crusade in Spain, London 1974, S. 18. Vgl. auch  : Robert A. Rosenstone, Crusade of the Left  : The Lincoln Bataillon in the Spanish Civil War, New York 1969. 17 Fernando Herce Vales/Manuel Sanz Nogués, Franco el reconquistador, Madrid 1938.

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paganda verbreitet. Sie wandte sich ganz explizit gegen regionale Autonomie- und Nationalbestrebungen in Spanien. Die unmittelbare Vorlage für das Postulat heutiger rechtspopulistischer Politiker und Politikerinnen, Katalonien und das Baskenland ‚zurückerobern‘ zu müssen, liegt in dieser aus dem blutigen Bürgerkrieg stammenden Ideologie und Propaganda der Franco-Ära.18

Die Entstehung eines umstrittenen Konzepts Die hier lediglich skizzierten Instrumentalisierungen des ‚Reconquista‘-Begriffs durch politische Parteiungen im 20. Jahrhundert waren nur möglich, weil er zu jener Zeit bereits fest im öffentlichen und akademischen Diskurs eingeführt war. Zur Zeit des spanischen Bürgerkriegs hatte er sich so sehr als geschichtswissenschaftlicher Grundbegriff eingebürgert, dass er nunmehr durch Großschreibung als Abstraktum gekennzeichnet wurde.19 Dies war allerdings eine vergleichsweise junge Entwicklung, wie ein knapper Überblick der Begriffsgeschichte aufzeigen mag. Begnügte sich die ältere Forschung noch damit, im Terminus ‚Reconquista‘ einen zu Beginn des 19.  Jahrhunderts aus der französischen Geschichtswissenschaft übernommenen Import zu sehen,20 so kann inzwischen dank jüngerer Studien die moderne Geschichte dieses Konzepts als gut rekonstruiert gelten.21 Spanische Geschichtsschreiber des 16.  Jahrhunderts ‒ zu nennen sind insbesondere Florián de Ocampo, Ambrosio de Morales und Juan de Mariana22 ‒ bewegten sich bei ihrer Dar18 Dieses besonders prominent von der Partei Vox benutzte Bild wurde auch von Politikern des konservativen Partido Popular bemüht  : (aufgerufen am 16.06.2022). 19 So wird es im Folgenden auch in diesem Aufsatz gehalten. 20 Odilo Engels, Die Reconquista, in  : Ders.  (Hg.), Reconquista und Landesherrschaft. Studien zur Rechts- und Verfassungsgeschichte Spaniens im Mittelalter (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görresgesellschaft. Neue Folge 53), Paderborn 1989, S. 279–300, hier S. 279. 21 Martín Federico Ríos Saloma, De la Restauración a la Reconquista. La construcción de un mito nacional (una revisión historiográfica. Siglos XVI–XIX), in  : En la España Medieval 28, 2005, S. 379–414  ; Ders., La Reconquista. Una invención historiográfica, in  : Daniel Baloup/Philippe Josserand (Hg.), Regards croisés sur la guerre saint. Guerre, idéologie et religions dans l’espáce méditerranéen latin, XIe– XIIIe siècle (Méridiennes. Études médiévales ibériques), Toulouse 2006, S. 413–429, dem die folgenden Ausführungen zum 17. bis 19. Jahrhundert besonders verpflichtet sind. Siehe weiterhin Martín F. Ríos Saloma, La Reconquista  : una construcción historiográfica, Madrid 2011. 22 Florián de Ocampo, Los çinco libros primeros de la crónica general de España …, Medina del Campo 1553  ; Ambrosio De Morales, La Coronica general de España, que continuava Ambrosio de Morales, prosiguiendo adelante de los 5 libros, que Florian de Ocampo dexo escritos, Alcalá 1574–1586  ; Juan de Mariana, Historia general de España, Toledo 1601.

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stellung und Erklärung der christlichen Eroberungen des Mittelalters noch stark in den Bahnen, die mittelalterliche Autoritäten wie der Toledaner Erzbischof Rodrigo Jiménez de Rada, der Leoneser Kanoniker Lucas von Tuy und das Schreiberkonsortium König Alfons’ X. seit dem 13. Jahrhundert vorgegeben hatten  :23 Die Westgoten des 8. Jahrhunderts hätten aufgrund ihrer Sündhaftigkeit Herrschaft und Freiheit verloren, doch nach Ablauf der göttlichen Strafzeit sei die christliche Herrschaft ‚restauriert‘, die Freiheit und die Ehre der Versklavten wiederhergestellt worden.24 Diesem Interpretament setzte die Barockzeit des 17. Jahrhunderts wenig hinzu, doch unterstrich sie noch mehr als ihre Vorläufer die ausschließlich kastilisch-leonesische Trägerschaft des Unternehmens  : Navarra, Aragón und Katalonien verschwanden ganz aus der Geschichtserzählung, die karolingische Expansion des Mittelalters wurde mit keinem Wort erwähnt. Das 18.  Jahrhundert brachte eine zunehmende Verwissenschaftlichung des Vorgehens. Autoren wie Gaspar Ibáñez (Graf von Mondéjar), Juan de Ferreras oder Juan Francisco Masdeu bemühten sich jedoch nicht nur darum, Abläufe zeitlich und räumlich genau zu erfassen, sie interpretierten die Ereignisse zunehmend in gesamtspanischen, nationalen Dimensionen.25 Demnach hätten die Kämpfe nicht der Expansion Kastiliens, sondern derjenigen ‚unseres Spaniens‘ gedient, sie seien nicht mehr alleine um die Rückerlangung der Freiheit und der Ehre willen, sondern mehr noch um die Wiederherstellung der Ordnung und einer geeinten „nación“ geführt worden. Jedoch wurde der Prozess noch immer durchgehend als „restauración“, nicht als „reconquista“ bezeichnet. Zum Ende jenes 18.  Jahrhunderts, genauer im Jahre 23 Rodericus Ximenius De Rada, Historia de rebus Hispanie sive Historia gothica, ed. Juan Fernández Valverde, Roderici Ximenii de Rada Historia de rebus Hispanie sive Historia gothica (CC CM 72), Turnhout 1987, S. 3–313  ; Lucas von Tuy, Chronicon mundi (Lvcae Tvdensis Chronicon mvndi), ed. Emma Falque Rey (CC CM 143), Turnhout 2003, S. CI–CII, 217–228  ; Maurizio Tuliani, La idea de reconquista en un manuscrito de la ‚Crónica general‘ de Alfonso X el Sabio, in  : Studia historica. Historia 12, 1994, S. 3–23. 24 Zu diesem Interpretament  : Jocelyn Nigel Hillgarth, Spanish Historiography and Iberian Reality, in  : History and Theory. Studies in the Philosophy of History 24, 1985, S. 23–43, hier  : 25–31  ; Raquel Amalia del Pilar Homet, ‚La pérdida de España‘, mito motor de la Reconquista, in  : Temas medievales 4, 1994, S. 89–113  ; José Luis Martín, Reconquista y cruzada, in  : Studia Zamorensia 3, 1996, S. 215–241, hier S. 230–233  ; Carlos Roberto Figueiredo Nogueira, A Reconquista Iberica. A construção de uma ideologia, in  : Historia, instituciones, documentos 28, 2001, S. 277–295, bes. S. 288–294. 25 Gaspar Ibáñez de Segovia, Examen crítico a cronológico del año en que entraron los moros en España, Madrid 1687  ; Juan de Ferreras, Synopsis historica chronologica de España, o Historia de España reducida à compendio, y à debida chronologia, Bd. 2, Madrid 1702  ; Juan Francisco Masdeu, Historia crítica de España, y de la cultura española en todo genero, Bd. 10  : España goda, Teilbd. 2  : Historia civil de la España goda, Madrid 1791  ; Ders., Historia crítica de España, y de la cultura española en todo genero, Bd. 12  : España árabe, Teilbd. 1  : Historia civil de la España árabe, Madrid 1793.

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1796, erscheint dieser Begriff erstmals  : Im ‚Compendio cronológico de la historia de España‘ schrieb der Valencianer José Ortiz y Sanz  : „ … la desesperación, la pena de ver la patria perdida, y sobre todo la religión y los favores del cielo, los animó a pensar no sólo en defenderse, sino también en reconquistar la patria de mano del enemigo.“26 Merkliche Wirkmächtigkeit erlangte das kategoriale Konzept der ‚Reconquista‘ jedoch erst in den Jahrzehnten nach der napoleonischen Invasion. Die Erfahrung der Unterdrückung und des erfolgreichen Freiheitskampfes bildeten zweifellos das Fundament für eine neue Interpretation der mittelalterlichen Grenz- und Glaubenskriege des Mittelalters. Die bereits in römischer Zeit freiheitsliebenden Asturer hätten einen Prozess in Gang gesetzt, der die nunmehr als ,Spanier‘ bezeichneten Christen von ihren fremden Bedrückern befreit hätte. Nicht Christen und Muslime stritten nach dieser Deutung miteinander, sondern Einheimische und Invasoren. Hier nun erlangt das Konzept der ,Reconquista‘ vollends die Funktion eines nationalen Gründungsmythos.27 Der lange für diesen Prozess der Wiederherstellung geläufige Begriff der ‚Restauration‘ wurde seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dazu benutzt, die Wiederherstellung der Monarchie unter Alfons XII. nach dem republikanischen Zwischenspiel von 1873–1974 zu bezeichnen, und blieb in der Folgezeit semantisch besetzt. Seine Stellung nahm endgültig und ausschließlich die ‚Reconquista‘ ein. In einer eigentümlichen Wendung wurde dieser Terminus während des 19. und 20. Jahrhunderts auch vielfach in den Medien und im öffentlichen Diskurs in Lateinamerika aufgegriffen.28 Die historischen Abwandlungen des Deutungsmusters ‚Reconquista‘ waren also dafür verantwortlich, dass der Begriff in der Folge zumindest vier Bedeutungsinhalte erhielt  : Erstens wurde er zur Bezeichnung einer historischen Periode verwendet, des Zeitraums von der vermeintlichen Schlacht von Covadonga des Jahres 718 bis zur Eroberung Granadas 1492  ; zweitens umschrieben Historikerinnen und Historiker 26 „Die Verzweiflung und die Trauer darüber, das Vaterland, vor aber die Religion und die Belohnungen des Himmels zu verlieren, trieb sie dazu an, dieses Vaterland nicht nur zu verteidigen, sondern auch aus den Händen der Feinde zurückzuerobern.“ ‒ José Francisco Ortiz y Sanz, Compendio cronológico de la historia de España, desde los tiempos más remotos, hasta nuestros días (Bd. 2), Madrid 1796, S. 192. Vgl. Ríos Saloma, La Reconquista (wie Anm. 21), S. 420, der darauf hinweist, dass selbst Ortiz y Sanz den Terminus in der Folge nicht aufgriff. 27 Sören Brinkman, Spanien. Für Freiheit, Gott und König, in  : Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen  : Ein europäisches Panorama, München/Berlin 22001, S. 476–501, S. 481–489 mit Abb. E 5–E 20  ; Ríos Saloma, La Reconquista (wie Anm.  21), S.  421–427  ; Ríos Saloma, Restauración (wie Anm. 21), S. 403–413. 28 Nikolaus Böttcher, Die Rezeption der Konzepte „Reconquista“ und „Limpieza de sangre“ in Hispanoamerika in historischer Perspektive (16.–19.  Jahrhundert), in  : Archiv für Kulturgeschichte 103, 2021, S. 419–444.

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mit ihm einen historischen Prozess, die Summe der unterschiedlichen militärischen Konflikte zwischen Christen und Muslimen  ; drittens wurde die konkrete Rückeroberung einzelner Befestigungen oder Städte durch die Christen als ‚Reconquista‘ bezeichnet  ; und viertens schließlich verwendeten Fachleute den Terminus, um ganz allgemein die Wiederherstellung verlorener politischer, kirchlicher oder territorialer Ordnungen im iberischen Mittelalter zu kennzeichnen.29 Diesen mehrfachen Sinngehalt behielt die ‚Reconquista‘ in der Geschichtsschreibung bei. Ihre Ambivalenz ist eine Grundlage für die Forschungsdebatten, die sich um sie ranken.

Die ‚Reconquista‘ im Kontext weiterer Geschichtskontroversen Die mittelalterlichen ,Kriege‘ zwischen Muslimen und Christen auf der Iberischen Halbinsel wurden im 20.  Jahrhundert zu einem festen Bestandteil spanischer Geschichtserzählungen. Zugleich aber wurden sie in Forschungskontroversen um die Distinktionsmerkmale der spanischen Geschichte bzw. gar um das ‚Wesen Spaniens‘ integriert, welche die intellektuellen Eliten des Landes bereits seit Jahrhunderten so sehr trennt, dass die Forschung gerne von zwei sich unversöhnlich gegenüberstehenden Spanien („Las dos Españas“) spricht.30 Diese changierenden Konfliktachsen zwischen dem ländlichen und dem städtischen, dem klerikalen und liberalen, dem monarchistischen und dem demokratischen, dem autoritären und dem freiheitlichen, dem reaktionären und dem fortschrittsorientierten, dem katholischen und dem säkularen Spanien prägten die wesentlichen gesellschaftlichen, politischen und militärischen Konflikte der jüngeren spanischen Geschichte – von den Karlistenkriegen des 19. bis zum Bürgerkrieg des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus. Für die Mediävistik paradigmatisch ist vor diesem Hintergrund vor allem die berühmte Debatte zwischen dem Mittelalterhistoriker Claudio Sánchez Albornoz und 29 Vgl. Nikolas Jaspert, Reconquista. Interdependenzen und Tragfähigkeit eines wertekategorialen Deutungsmusters, in  : Matthias M. Tischler/Alexander Fidora (Hg.), Christlicher Norden – muslimischer Süden. Ansprüche und Wirklichkeiten von Christen, Juden und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel im Hoch- und Spätmittelalter (Erudiri Sapientia 7), Frankfurt am Main 2009, S. 445–465, S.  447‒450  ; ähnlich  : Francisco García Fitz, Crítica e hipercrítica en torno al concepto de reconquista. Una aproximación a la historiografía reciente, in  : Carlos de Ayala Martínez/Isabel Cristina Ferreira Fernandes (Hg.), La Reconquista. Ideología y justificación de la Guerra Santa peninsular (Colección Historia & Arte 5), Madrid 2019, S. 79–98, hier S. 80‒82. 30 Santos Juliá Díaz, Historias de las dos Españas (Taurus Historia), Madrid 2015  ; Adriaan Kühn, Kampf um die Vergangenheit als Kampf um die Gegenwart. Die Wiederkehr der „zwei Spanien“ (Extremismus und Demokratie 24), Baden-Baden 2012  ; Patricia Hertel, The Crescent Remembered. Islam and Nationalism on the Iberian Peninsula, Chicago 2015.

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dem Philologen Américo Castro.31 Entstand ,Spanien‘, wie es Americo Castro postulierte, erst durch die Vermengung von muslimischer, jüdischer und christlicher Kultur, oder behauptete sich das Eigene des homo hispanus, um einen Begriff Claudio Sánchez Albornoz’ aufzugreifen, gegen alle fremden Einflüsse über die Jahrhunderte hinweg  ? Die Debatte um ein vermeintliches ‚ewiges Spanien‘ („España eterna“), um den Universalismus oder den Partikularismus der arabischen Kultur in Al-Andalus, um einen spanischen Sonderweg, um die Verschmelzung christlicher und muslimischer Gemeinschaften und anderes mehr beeinflusste unmittelbar das Verständnis der Kriege zwischen muslimischen und christlichen Machthabern, die Sánchez Albornoz unumwunden als „guerra divinal“ bezeichnete.32 Solche gegensätzlichen Erklärungsmuster sollten im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder anklingen und haben ihre Virulenz bis in die Gegenwart hinein behalten.33 In diese grundlegende, nicht nur akademische Diskussion um die historische Besonderheit Spaniens und ihre gegenwärtige Rolle in der Welt fügt sich die Kontroverse um die ‚Reconquista‘ ein, deren „mytho-motorische Schubkraft“ be31 José Luis Gómez Martínez, Américo Castro y Sánchez Albornoz. Dos posiciones ante el origen de los españoles, in  : Nueva Revista de Filología Hispánica 21, 1972, S. 301–320  ; José Luis Abellán García, La polémica de Sánchez Albornoz con Américo Castro, in  : Ders./Reyna Pastor de Togneri/ Carlos Estepa Diez/José Angel Garcia Cortázar/José Luis Martín  (Hg.), Sánchez Albornoz a debate. Homenaje de la Universidad de Valladolid con motivo de su centenario, Valladolid 1993, S. 45‒52. 32 Claudio Sánchez-Albornoz, España, un enigma histórico, Bd.  1, Barcelona 101985, S.  310  ; Juan Pablo Domínguez, Claudio Sánchez Albornoz y la „España musulmana“, in  : Francisco Javier Caspis­ tegui (Hg.), Jesús Longares Alonso. El maestro que sabía escuchar, Pamplona 2016, S. 231–250  ; Luis García-Guijarro Ramos, Reconquista and Crusade in the Central Middle Ages. A Conceptual and Historiographical Survey, in  : Torben K. Nielsen/Iben Fonnesberg-Schmidt (Hg.), Crusading on the Edge. Ideas and Practice of Crusading in Iberia and the Baltic Region, 1100–1500 (Outremer 4), Turnhout 2016, S. 55–89, hier S. 69‒74. 33 José Antonio Maravall, El concepto de España en la edad media (Colección Pensamiento político), Madrid 21964  ; Miguel Angel Ladero Quesada, Heutige Geschichtsforschung und spanisches Mittelalter, in  : Akten des Symposiums über Möglichkeiten und Grenzen einer nationalen Geschichtsschreibung, Madrid 1984, S. 29–43  ; Hillgarth, Spanish Historiography (wie Anm. 24)  ; Ludwig Vones, Geschichte der Iberischen Halbinsel im Mittelalter (711–1480). Reiche – Kronen – Regionen, Sigmaringen 1993, S. 9–22  ; Peter A. Linehan, History and the Historians of Medieval Spain, Oxford 1993  ; Simon Barton, The Roots of the National Question in Spain, in  : Mikulas Teich/Roy Porter (Hg.), The National Question in Europe in Historical Context, Cambridge 1993, S. 106–127  ; Stephane Boissellier, Reflexions sur l’ideologie portugaise de la Reconquête. XIIe–XIVe siecles, in  : Mélanges de la Casa de Velazquez 30, 1994, S. 139–165  ; Carolyn P. Boyd, Historia patria. Politics, History, and National Identity in Spain, 1875–1975, Princeton 1997  ; Fernando Wulff Alonso, Las esencias patrias. Historiografía e historia antigua en la construcción de la identidad española (siglos XVI–XX), Barcelona 2003  ; Ricardo García Cárcel (Hg.), La construcción de las historias de España, Madrid 2004.

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achtlich ist.34 Diese Dynamik teilt sie ohne Zweifel mit einem zweiten Reizwort der christlich-islamischen Beziehungsgeschichte, mit den Kreuzzügen. ‚Reconquista‘ und Kreuzzug dienten vor allem im 19.  Jahrhundert als Gründungsmythen vieler europäischer Nationen. Die Formen der Beschäftigung mit beiden Phänomenen reflektieren wesentliche Momente der jüngeren Geschichte Europas.35 Doch gibt es in Spanien auch Unterschiede hinsichtlich ihres Wertes als Deutungskategorie. An der Benutzung des Terminus ‚cruzada‘ zur Bezeichnung der mittelalterlichen Orientkreuzzüge wird weder in der spanischen Forschung noch im öffentlichen Diskurs wesentlicher Anstoß genommen. Die ‚Reconquista‘ ist hingegen auch hinsichtlich ihrer forschungssprachlichen Verwendung umstritten, besonders nach dem Ende der Franco-Ära, und dies bis auf den heutigen Tag.

Postfrankistische Kritik Die politische Instrumentalisierung der mittelalterlichen Kriege zwischen Christen und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel im 20. Jahrhundert erklärt, warum der Begriff von liberalen Historikerinnen und Historikern, die sich im Spanien der NachFranco-Zeit mit dem Mittelalter beschäftigten, so vorsichtig genutzt wurde ‒ wenn er überhaupt Verwendung fand. Auch in diesem Aufsatz wird er durchgehend mit Anführungszeichen versehen und damit ausdrücklich als eine terminologische Konvention zur Beschreibung einer Vorstellung des Mittelalters verwendet, ohne die ihm zugrunde liegende Ideologie zu teilen. Kritiker und Kritikerinnen des ‚Reconquista‘-Begriffs konnten überzeugende Argumente anführen, um ihre Sache zu stärken. 34 Der Assmannsche Begriff ist zusammen mit dem Konzept der Ethnogenese auch in Spanien aufgegriffen worden  : Jorge López Quiroga, El mito-motor de la Reconquista como proceso de etnogénesis socio-política, in  : Thomas Deswarte/Philippe Sénac (Hg.), Guerre, pouvoirs et idéologies dans l’Espagne chretienne aux alentours de l’an mil. Actes du Colloque international organisé par le Centre d’Études Supérieures de Civilisation Médiévale (Culture et société médiévales), Turnhout 2005, S. 113–121. 35 Siberry, The New Crusaders (wie Anm. 10)  ; Nikolas Jaspert, Von Karl dem Großen bis Kaiser Wilhelm  : Die Erinnerung an vermeintliche und tatsächliche Kreuzzüge in Mittelalter und Moderne, in  : Heinz Gaube/Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter (Hg.), Konfrontation der Kulturen  ? Saladin und die Kreuzfahrer. Wissenschaftliches Kolloquium in den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim zur Vorbereitung der Ausstellung ‚Saladin und die Kreuzfahrer‘, Mainz 2005, S. 136–160  ; Hinz (Hg.), Kreuzzüge (wie Anm.  10)  ; Kristin Skottki, Kolonialismus avant la lettre  ? Zur umstrittenen Bedeutung der lateinischen Kreuzfahrerherrschaften in der Levante, in  : Christian Scholl/Wolfram Drews (Hg.), Transkulturelle Verflechtungsprozesse in der Vormoderne (Das Mittelalter. Beihefte 3), Boston 2016, S. 63–88.

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Schon früh wurde angemerkt, die ‚Reconquista‘ sei ein modernes Konzept, das den mittelalterlichen Menschen fremd gewesen sei. Dies gehe etwa aus dem Umstand hervor, dass der Begriff in den zeitgenössischen Quellen nicht verwandt werde.36 Im Übrigen suggeriere er einen dauerhaften Kriegszustand, wo doch bekanntlich lange Perioden des Friedens oder gar der Bündnisse das christlich-islamische Verhältnis auf der Iberischen Halbinsel charakterisierten ‒ oder wie es der spanische Philosoph und Essayist José Ortega y Gasset einprägsam formulierte  : „Wie kann man etwas als Wiedereroberung bezeichnen, das sich über acht Jahrhunderte hinzog  ?“ („Como puede llamarse reconquista una cosa que duró ocho siglos  ?“).37 Ein weiterer Vorwurf lautete und lautet, mit dem Terminus ‚Reconquista‘ benutze man unreflektiert ein ideologisches Konzept des Mittelalters. Unabhängig davon, ob die Zeitgenossen des 8. bis 15. Jahrhunderts meinten, ihnen rechtmäßig gehörendes Land zurückzuerobern, und unabhängig davon, ob dieses handlungsleitende Moment in der Objektsprache der Quellen aufscheine  : Ein moderner Wissenschaftler oder eine moderne Wissenschaftlerin dürfe in der Metasprache der Forschung keinen Begriff zur Beschreibung der christlichen Expansion verwenden, der diesen Anspruch transportiere, würde man doch damit unkritisch die aggressiven Denkschemata einer Krieger- und Gewaltgesellschaft tradieren. Statt von ‚Reconquista‘ solle man lediglich von „Conquista“ oder sogar von „agresión feudal“ sprechen, nichts anderes sei die christliche Eroberung gewesen.38 36 Engels, Die Reconquista (wie Anm. 20), S. 279  ; Josep Torró, Pour en finir avec la ‚Reconquête‘. L’occupation chrétienne d’al-Andalus, la soumission et la disparition des populations musulmanes (XIIe– XIIIe siècle), in  : Cahiers d’histoire 78, 2000, S. 79‒97, hier S. 82  ; Ríos Saloma, La Reconquista  : una construcción (wie Anm. 21), S. 324. 37 José Ortega y Gasset, España invertebrada. Bosquejo de algunos pensamientos históricos (Colección Austral 1345), Madrid 21967, S. 152. Vgl. Manuel González Jiménez, Re-Conquista  ? Un estado de la cuestión, in  : Eloy Benito Ruano (Hg.), Tópicos y realidades de la edad media I, Madrid 2001, S. 157–178, hier S. 159  ; John V. Tolan, Using the Middle Ages to Construct Spanish Identity. 19th and 20th-century Spanish Historiography on the Reconquest, in  : Jan Maria Piskorski (Hg.), Historiographical Approaches to Medieval Colonization of East Central Europe. A Comparative Analysis against the Background of Other European Inter-ethnic Colonization Processes in the Middle Ages (East European Monographs 611), Boulder 2002, S. 329–347, hier S. 337–339  ; Carlos De Ayala Martínez, Reconquista o reconquistas  ? La legitimación de la guerra santa peninsular, in  : Revista del Centro de Estudios Históricos de Granada y su Reino 32, 2020, S. 3–20, hier  : S. 6‒8  ; García Fitz, Crítica e hipercrítica (wie Anm. 29), S. 83‒85. 38 Ángel Barrios García, Repoblación y feudalismo en las Extremaduras, in  : En torno al feudalismo hispánico. I Congreso de Estudios Medievales, Ávila 1989, S. 417–434, hier S. 423  ; kritisch referiert bei González Jiménez, Re-Conquista  ? (wie Anm. 37), S. 162–163  ; Torró, Pour en finir avec la ‚Reconquête‘ (wie Anm. 36), S. 83  ; Carlos Laliena Corbera, Encrucijadas ideológicas. Conquista feudal, cruzada y reforma de la Iglesia en el siglo XI hispánico, in  : La reforma gregoriana y su proyección

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Selbst einige Autoren, die dem Konzept einer Rückeroberung nicht prinzipiell kritisch gegenüberstehen, lehnen den traditionellen Terminus ab, da er in ihren Augen die ganze Spannbreite dieses Prozesses nur unzureichend erfasse. Dieser sei nicht allein auf die militärische Rückeroberung beschränkt gewesen, sondern habe auch die Wiederherstellung älterer christlicher Ordnung herbeiführen sollen. Der restaurative Charakter der Eroberung komme mit dem Begriff der ‚Reconquista‘ nicht hinreichend zum Ausdruck.39 Andere Sachkenner schließlich differenzieren sozial, indem sie in der Vorstellung einer mittelalterlichen ‚Reconquista‘ ein Ideologem einer herrschenden oder aufsteigenden Kaste sehen, ein „andamiaje ideológico construido para cohesionar las clases feudales“,40 ein bewusst eingesetztes Instrument, das dazu gedient habe, sich im Kampf des Adels gegen die muslimischen Herrschaften Legitimität zu verschaffen. Die als ‚Reconquista‘ bezeichneten Kriege hätten einerseits Hierarchien markiert und zementiert, indem die Kriegerkaste sich von anderen Gesellschaftsschichten abgrenzte  ; andererseits sei damit die latente Aggressivität einer Kriegergesellschaft nach außen, in deren Grenzgebiete, gelenkt worden.41 Unabhängig davon, ob diese Sichtweise eine moderne Strategie avant la lettre postuliert und zu Recht oder zu Unrecht die Wirksamkeit der Ideen auf die Menschen negiert  : Diese und die anderen hier zusammengetragenen Kritikpunkte wiegen schwer, und man könnte sich mit Josep Torró „pour en finir avec la ‚Reconquête‘“ aussprechen.42 Die hier skizzierten Kritikpunkte sind nicht zuletzt ein Niederschlag der jüngeren mediävistischen Forschungsgeschichte in Spanien. Auch sie war dafür veranten la cristiandad occidental siglos XI–XII. XXXII Semana de Estudios Medievales, Estella, Pamplona 2006, S. 289–333, hier S. 315–316 und 319–320  ; García Sanjuán, Cómo desactivar una bomba (wie Anm. 4), S. 99–121. 39 Thomas Deswarte, De la destruction à la restauration. L’idéologie du royaume d’Oviedo-Léon (VIIIe– XIe siècles) (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 3), Turnhout 2003, S. 303–326. Die Bedeutung der restauratio unterstrich bereits José Antonio Maravall, El concepto de España (wie Anm. 33), S. 264–278. 40 Laliena Corbera, Encrucijadas ideológicas (wie Anm. 38), S. 323. 41 Ebd., S. 322. Ähnlich  : Antonio Ubieto Arteta, Valoración de la Reconquista peninsular, in  : Príncipe de Viana 120–121, 1970, S. 213–220  ; José Ángel García de Cortázar/Miguel Artola, Historia de España Alfaguara, Bd. 2  : La época medieval (Alianza Universidad 40), Madrid 1973, hier  : S. 437–441  ; Abilio Barbero/Marcelo Vigil, Sobre los orígenes sociales de la reconquista (Ariel 18), Barcelona 1984. 42 Torró, Pour en finir avec la ‚Reconquête‘ (wie Anm.  36), der nicht nur das Konzept der ‚Reconquista‘ ablehnt – „la ‚Reconquista‘, enfin, et je finis, n’exista pas comme fait contenu dans ladite notion“ (S. 93) –, sondern auch den Eroberungsgedanken als Leitmotiv  ; nach ihm habe die Expansion auf „les idées d’exclusion et du purge“ basiert (ebd.)  ; ähnlich  : Adam J. Kosto, Reconquest, Renaissance, and the Histories of Iberia, ca. 1000–1200, in  : Thomas F. X. Noble/John van Engen  (Hg.), European Transformations. The Long Twelfth Century, Notre Dame 2012, S. 93–116.

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wortlich, dass in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das Interesse an der Erforschung der militärischen Konflikte zwischen christlichen und muslimischen Herrschaftsträgern sowie an der religiösen Legitimierung dieser Kriege wenig ausgeprägt war. Die Usurpation des ‚Reconquista‘-Begriffs seitens des Franco-Regimes war nur ein Grund dafür, dass sich die postfrankistische Forschung mit einem Terminus schwertat, der so stark politisch aufgeladen und emotionalisiert worden war. Auch die Tatsache, dass die wenigen Fachleute auf diesem Gebiet vorwiegend klerikalen, dem Frankismus nahestehenden oder mit ihm sympathisierenden Kreisen zuzuordnen waren, hatte Folgen  : Die jüngere Generation spanischer Mittelalterhistorikerinnen und -historiker zeigte vergleichsweise wenig Interesse an der Thematik. Im letzten Viertel des 20.  Jahrhunderts wurde die Mittelalterforschung in Spanien hingegen stark von Impulsen aus der französischen Mediävistik, insbesondere der Annales-Schule, geprägt. Sie verbanden sich mit marxistischen bzw. postmarxistischen Ansätzen, die zwar einer Beschäftigung mit religiöser Gewalt insgesamt skeptisch gegenüberstanden, diese aber zugleich als Ausdruck gesamteuropäischer, feudaler Abhängigkeitsverhältnisse neu perspektivierte. Vor diesem Hintergrund wurden die Konflikte zwischen Christen und Muslimen bestenfalls als Varianten feudaler Gewaltverhältnisse gedeutet und ihres religiösen Elements weitgehend entkleidet.43 Die hierbei zutage tretende Tendenz zur Relativierung iberischer Besonderheiten hatte einen zeitgenössischen, politischen Hintergrund  : Sie entsprach dem parallel zur Aufnahme Spaniens und Portugals in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in den 1980er Jahren allenthalben feststellbare Bemühen, Eigenheiten der iberischen Geschichte zugunsten einer gesamteuropäischen Deutung einzuebnen. Auch dies trug seinen Teil zur Negation des Konzepts einer ‚Reconquista‘ in der Mediävistik bei. Das Interesse an Räumen, die im Mittelalter zwischen Christen und Muslimen umkämpft waren, konzentrierte sich stattdessen vorwiegend auf die sogenannte „frontera“, also auf die über Jahrhunderte hinweg umstrittene Grenzzone zwischen dem muslimischen Emirat von Granada im Süden und den christlichen Reichen  – insbesondere dem Königreich Kastilien – im Norden. Die „Frontier Studies“, die bereits seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch US-amerikanische Mediävisten wie Charles Bishko und Robert I. Burns auf das iberische Mittelalter übertragen worden waren,44 fanden mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung Einzug 43 Vgl. Anm.  40  ; José Manuel Nieto Soria, Sobre la transformación de la historia política en el medievalismo español (ca. 1980–2010), in  : Cuadernos de historia de España 85/86, 2011, S. 509–524  ; García-Guijarro Ramos, Reconquista and Crusade (wie Anm. 32), S. 67f. 44 Robert Ignatius Burns, The Crusader Kingdom of Valencia. Reconstruction of a Thirteenth-Century

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in die spanische Mediävistik und wurden durch sozial-, literatur-, wirtschafts-, alltags- und mentalitätsgeschichtliche Perspektiven erweitert. Wurde die Grenze lange als eine lineare Scheide und später als ein breiter Grenzsaum verstanden, so sehen jüngere Forschungsansätze in ihr nunmehr einen Ort der Begegnung und des Austauschs, der eigene „Frontier Societies“ hervorbrachte.45 Die regelmäßig stattfindenden – im Jahre 2022 ihre zwölfte Ausgabe feiernden ‒ „Estudios de Frontera“, die aus diesen Tagungen hervorgegangenen Bände sowie zahllose weitere Publikationen haben Spanien und Portugal in die derzeit lebendigsten Zentren der mediävistischen Grenzforschung verwandelt.46 Frontier, 2 Bde., Cambridge, Mass. 1967  ; Charles Julian Bishko, Studies in Medieval Spanish Frontier History (Collected studies series CS 124), London 1980  ; Jill Webster, En honor de la jubilación de Robert I. Burns, S.J., in  : Anuario de estudios medievales 21, 1991, S. 647–662. 45 Robert Bartlett/Angus I. K. MacKay (Hg.), Medieval Frontier Societies, Oxford 1989  ; Wolfgang Haubrichs/Reinhard Schneider (Hg.), Grenzen und Grenzregionen. Frontières et régions frontalières (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 22), Saarbrücken 1993  ; Guy P. Marchal  (Hg.), Grenzen und Raumvorstellungen (11.–20.  Jh.). Frontières et conception de l’espace (Clio Lucernensis 3), Zürich 1996  ; Ders., Grenzerfahrung und Raumvorstellungen. Zur Thematik des Kolloquiums, in  : ebd., S. 11–25  ; Nora Berend, Medievalists and the Notion of the Frontier, in  : The Medieval History Journal 2, 1999, S. 55–72  ; Daniel Power/ Naomi Standen (Hg.), Frontiers in Question. Eurasian Borderlands, 700–1700 (Themes in Focus), Houndsmill 1999  ; David Abulafia/Nora Berend (Hg.), Medieval Frontiers. Concepts and Practices, Aldershot u. a. 2002  ; Ulrich Knefelkamp (Hg.), Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter  : 11. Symposium des Mediävistenverbandes vom 14. bis 17. März 2005 in Frankfurt an der Oder, Berlin 2007  ; Klaus Herbers/Nikolas Jaspert (Hg.), Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich. Der Osten und der Westen des mittelalterlichen Lateineuropa (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 7), Berlin 2007, dort als Forschungsüberblick Nikolas Jaspert, Grenzen und Grenzräume im Mittelalter  : Forschungen, Konzepte und Begriffe, in  : ebd., S. 43–70. 46 Eduardo Manzano, La organización fronteriza en al-Andalus durante la época omeya  : Aspectos militares y sociales, Madrid 1999  ; Ders., The Creation of a Medieval Frontier  : Islam and Christianity in the Iberian Peninsula, Eighth to Eleventh Centuries, in  : Power/Standen (Hg.), Frontiers in Question (wie Anm. 45), S. 30–46  ; María Jesús Viguera Molíns, Las Fronteras de Al-Andalus, in  : Francisco Toro Ceballos/José Rodríguez Molina (Hg.), Historia, tradiciones y leyendas en la frontera. IV Estudios de Frontera, Jaén 2002, S. 593–610. Eine erste Annäherung an die Forschung bis 1993 findet sich in  : Las sociedades de frontera en la España medieval, Seminario de Historia Medieval (Publicaciones del Departamento de Historia Medieval, Ciencias y Técnicas Historiográficas y Estudios Árabes e Islámicos 15), Zaragoza 1993, daneben  : Pedro Segura Artero (Hg.), Actas del Congreso La Frontera Oriental Nazarí como Sujeto Histórico (s. XIII–XVI) (Instituto de Estudios Almerienses  : Colección Actas 29), Sevilla 1997  ; Pedro Luis Huerta Huerta (Hg.), Actas del IV Curso de Cultura Medieval  : La fortificación medieval en la Península Ibérica, Aguilar de Campoo 2001  ; Francisco Toro Ceballos/ José Rodríguez Molina (Hg.), Funciones de la red castral fronteriza. Homenaje a Don Juan Torres Fontes, Jaén 2004  ; Juan Martos Quesada/Marisa Bueno Sánchez (Hg.), Fronteras en discusión. La Península Ibérica en el siglo XII (Laya 39), Madrid 2012  ; Manuel González Jiménez, Poblamiento y

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Zeitgleich entwickelte sich mit dem Feld der Ritterordensforschung ein weiterer, den ‚Reconquista-Studien‘ nahestehender, aber von ihnen analytisch zu trennender Forschungsschwerpunkt. Bekanntlich war die Iberische Halbinsel nicht nur ein Aktionsfeld der palästinischen Ritterorden, sondern sie brachte seit dem 12.  Jahrhundert auch eine Reihe eigener Kampfinstitute hervor, welche die Kriegsführung der iberischen Reiche im Mittelalter stark prägten, im 15. Jahrhundert jedoch von den Mon­archen weitgehend gleichgeschaltet wurden.47 Forschungsgenetisch entwickelte sich die Beschäftigung mit den spanischen Ritterorden vor allem aus einem älteren Interesse für die Geschichte des Adels und des Königtums, weniger aus der Analyse christlich-muslimischer Beziehungen. Der Madrider Mittelalterhistoriker Carlos de Ayala Martínez, aber auch andere Fachleute haben auf diesem Feld seit den achtziger Jahren des 19.  Jahrhunderts umfangreiche Aktivitäten entfaltet, welche in den mittlerweile zum achten Mal im portugiesischen Palmela stattfindenden „Encontros sobre Ordens Militares“ ihren Kristallisationspunkt gefunden haben.48 Doch weder in der mediävistischen Grenz- noch in der Ritterordensforschung wurde die eigentliche Kriegs- oder gar Militärgeschichte des iberischen Mittelalters umfassend analysiert. Aufgrund älterer Vorbehalte gegen frankistische bzw. als philofrankistisch angesehene Historiker wie José Goñi Gaztambide oder Derek Lomax

frontera en Andalucía (ss. XIII–XV), in  : Espacio, Tiempo y Forma. Historia Medieval 1, 1988, S. 207– 224  ; André Bazzana/Pierre Guichard/Philippe Sénac, La frontière dans l’Espagne médiévale, in  : Jean-Michel Poisson  (Hg.), Frontière et peuplement dans le monde méditerranéen au moyen âge (Castrum 4. Collection de l’École Française de Rome 105, 4. Collection de la Casa de Velázquez 38), Roma/Madrid 1992, S. 35–59  ; Carlos de Ayala Martínez/Pascal Buresi/Philippe Josserand (Hg.), Identidad y representación de la frontera en la España medieval (siglos XI–XIV) (Collection de la Casa de Velázquez 75), Madrid 2001  ; Pascal Buresi, La frontière entre chrétienté et Islam dans la péninsule Ibérique. Du Tage à la Sierra Morena (fin XIe–milieu XIIIe siècle) (Sciences humaines et sociales. Histoire. Recherches), Paris 2004  ; Jaspert, Grenzen und Grenzräume (wie Anm.  45), S.  53–65  ; Ders., Military Orders at the Frontier  : Permeability and Demarcation, in  : Jochen Schenk/Mike Carr (Hg.), The Military Orders 6/2  : Culture and Conflict in Western and Northern Europe, Oxford 2016, S. 3–28, hier S. 8‒11. 47 Carlos de Ayala Martínez, Las órdenes militares hispánicas en la Edad Media (siglos XII–XV) (Coediciones), Madrid 2007  ; Enrique Rodríguez Picavea, Monjes guerreros en los reinos hispánicos. Las órdenes militares en la Península Ibérica durante la Edad Media, Madrid 2008  ; Luis GarcíaGuijarro Ramos, Historiography and History. Medieval Studies on the Military Orders in Spain since 1975, in  : The Military Orders, volume 3. History and Heritage, London/Aldershot 2008, S. 23– 43  ; Carlos de Ayala Martínez, Órdenes militares, monarquía y espiritualidad militar en los reinos de Castilla y León (ss. XII–XIII), Granada 2015. 48 Zuletzt  : Isabel Cristina Ferreira Fernandes (Hg.), Ordens militares, identidade e mudança (VIII encontro sobre ordens miltares), 2 Bde., Palmela 2021.

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fanden deren Forschungen in Spanien lange kaum Nachfolger.49 In der internationalen Mediävistik hingegen erfuhr die Thematik durch die markante Dynamisierung der Kreuzzugsforschung eine Belebung, die sich vor allem in Studien über das Verhältnis zwischen Kreuzzug und ‚Reconquista‘ niederschlug.50 Sie wurden bis zur Jahrtausendwende in der spanischen Forschung, nicht zuletzt aufgrund der unter Mittelalterhistorikern der älteren Generation wenig ausgeprägten Englischkenntnisse, nur wenig zur Kenntnis genommen. Der Historiker Luis Guijarro Ramos von der Universität Huesca gehörte zu der insgesamt überschaubaren Gruppe von Fachleuten, welche den Anschluss an die englischsprachige Kreuzzugsforschung suchten.51 Inzwischen zählt er zu deren schärfsten Kritikern. In einer auffälligen Wendung kritisiert er in jüngeren Beiträgen – mitunter polemisch und unter selektiver Auswertung der Literatur – die vermeintlich einseitige Fokussierung der Kreuzzüge durch ausländische Kolleginnen und Kollegen, die zu selten die regionalen Eigenheiten der iberischen Kontexte berücksichtigen würden.52 Hier, aber auch bei anderen 49 José Goñi Gaztambide, Historia de la bula de la Cruzada en España (Victoriensia 4), Vitoria 1958  ; Derek W. Lomax, The Reconquest of Spain, New York 1978. 50 Marcus Bull, Knightly Piety and the Lay Response to the First Crusade  : The Limousin and Gascony 970–1130, Oxford 1993  ; Nikolas Jaspert, Capta est Dertosa, clavis Christianorum  : Tortosa and the Crusades, in  : Martin Hoch/Jonathan Phillips (Hg.), The Second Crusade. Scope and Consequences, Manchester 2001, S. 90–110  ; Ders., Frühformen der geistlichen Ritterorden und die Kreuzzugsbewegung auf der Iberischen Halbinsel, in  : Klaus Herbers  (Hg.), Europa in der späten Salierzeit. Kolloquium zu Ehren von Werner Goez, Stuttgart 2001, S. 91–117  ; Lucas Villegas Aristizábal, Norman and Anglo-Norman Participation in the Iberian Reconquista, c. 1018–c. 1248, Diss. phil., University of Nottingham 2007  ; William J. Purkis, Crusading Spirituality in the Holy Land and Iberia, c. 1095– c. 1187, Woodbridge 2008  ; Ders., The Past as a Precedent  : Crusade, Reconquest and Twelfth-Century Memories of a Christian Iberia, in  : Lucie Doležalová (Hg.), The Making of Memory in the Middle Ages, Leiden 2010, S. 441–462  ; Nicholas Paul, To Follow in their Footsteps  : the Crusades and Family Memory in the High Middle Ages, Ithaca u. a. 2013  ; Lucas Villegas Aristizábal, Norman and Anglo-Norman Intervention in the Iberian Wars of Reconquest before and after the First Crusade, in  : Kathryn Hurlock/Paul Oldfield (Hg.), Crusading and Pilgrimage in the Norman World, Woodbridge 2015, S. 103–124  ; Kurt Villads Jensen, Crusading at the End of the World. The Spread of the Idea of Jerusalem after 1099 to the Baltic Sea Area and to the Iberian Peninsula, in  : Nielsen/FonnesbergSchmidt  (Hg.), Crusading on the Edge (wie Anm.  32), S.  153–176  ; Nikolas Jaspert, Eroberung – Rückeroberung – Glaubenskampf – Gotteskrieg. Die Levante und die Iberische Halbinsel im Vergleich, in  : Hermann Kamp (Hg.), Herrschaft über fremde Völker und Reiche. Formen, Ziele und Probleme der Eroberungspolitik im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 93), Ostfildern 2022, S. 249–289. 51 Luis García-Guijarro Ramos, Papado, cruzadas y órdenes militares, siglos XI–XIII, Madrid 1995. 52 Ders., Reconquista and Crusade (wie Anm. 32)  ; Ders., Christian Expansion in Medieval Iberia  : Reconquista or Crusade  ?, in  : Adrian J. Boas (Hg.), The Crusader World, New York 2016, S. 163–178  ; Ders., The Battle of Las Navas de Tolosa (1212) in the Context of Ibero-Christian Conquests in al-Andalus. Myths and Models, in  : Paul Srodecki/Norbert Kersken (Hg.), The Expansion of the Faith. Crusading on the Frontiers of Latin Christendom in the High Middle Ages (Outremer. Studies in the

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jüngeren Beiträgen, lässt sich eine gewisse Renationalisierung des wissenschaftlichen Diskurses beobachten.

Die Wiederbelebung der ‚Reconquista-Studien‘ und das Ringen um die Begrifflichkeit Seit der Jahrtausendwende ist die relative Vernachlässigung der christlich-muslimischen Kriegsgeschichte der iberischen Reiche durch die spanische Mediävistik eindrucksvoll revidiert worden. Hierfür sind mindestens vier Gründe anzuführen. Zum einen ist die Rückkehr des Religiösen in der öffentlichen Wahrnehmung zu nennen, die insbesondere – aber keineswegs ausschließlich – durch das Anwachsen islamistischer Gewalt verstärkt wurde. Zum anderen ist auf die hiermit in Zusammenhang stehende Debatte um einen vermeintlichen „Clash of Civilizations“ hinzuweisen, der ebenfalls den Blick auf christlich-muslimische Beziehungen in der Vergangenheit lenkte.53 Einen spezifisch spanischen Hintergrund liefern die erwähnten, jüngeren politischen Debatten um das Verhältnis zwischen Autonomien und Staat im modernen Spanien. Die stets virulenten, an der Wende zum 21. Jahrhundert wieder aufflammenden Diskussionen um die staatliche Einheit etwa liegen manch neueren Gesamtdarstellungen einer Kriegsgeschichte unübersehbar zugrunde, die als wesentlicher Impulsgeber der nationalen Einheit angesehen wird.54 Und schließlich ist auf Crusades and the Latin East 14), Turnhout 2022, S. 209–226. 53 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996, mit starken Reaktionen, auch im deutschsprachigen Raum  : Arpad A. Sölter, Die Einbeziehung des Fremden. Reflexionen zur kulturellen Fremdheit bei Simmel, Habermas und Huntington, in  : Ingo Breuer/Arpad A. Sölter  (Hg.), Der fremde Blick. Perspektiven interkultureller Kommunikation und Hermeneutik (Essay & Poesie 6), Bozen 1997, S. 25–51  ; Harald Müller, Das Zusammenleben der Kulturen  : ein Gegenentwurf zu Huntington (Fischer-Taschenbücher 13915), Frankfurt am Main 1998  ; Udo M. Metzinger, Die Huntington-Debatte  : die Auseinandersetzung mit Huntingtons ‚Clash of civilizations‘ in der Publizistik (Kölner Arbeiten zur Internationalen Politik 13), Köln 2000  ; Tariq Ali, The Clash of Fundamentalisms. Crusades, Jihads and Modernity, London 2002. 54 Antonio Martino, Spanien zwischen Regionalismus und Föderalismus (Schriftenreihe des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Vergleichende Rechtssystemforschung 31), Frankfurt am Main u. a. 2004  ; Jordi Solé-Tura/Marc Carrillo, Nacionalidades y nacionalismos. Autonomías, federalismo y autodeterminación, Vilassar de Dalt 2019. Zum zeitgenössischen akademischen Diskurs siehe beispielhaft  : Vicente Palacio Atard (Hg.), De Hispania a España. El nombre y el concepto a través de los siglos, Madrid 2005. Beispielhaft für den Niederschlag in den ‚Reconquista-Studien‘  : Valdeón Baruque, La reconquista (wie Anm. 5)  ; ähnlich  : González Jiménez, Re-Conquista  ? (wie Anm. 37)  ; Eloy Benito Ruano, La Reconquista. Una categoría histórica e historiográfica, in  : Medievalismo. Boletín de la Sociedad Española de Estudios Medievales 12, 2002, S. 91–98.

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den Bedeutungszuwachs der englischsprachigen Mediävistik im spanischsprachigen Raum hinzuweisen. Er ging mit einer gesteigerten Offenheit für Themen und Fragestellungen einher, welche schon länger in der englischen und US-amerikanischen Mittelalterforschung bearbeitet worden waren. Zu ihnen zählten sowohl die Militärund Kriegsgeschichte, die vor allem in England eine lange Tradition und große Popularität besitzt, als auch die Kreuzzugsforschung englischsprachiger Prägung, welche sich zu Beginn des Jahrtausends als dominanter Zweig der internationalen Kreuzzugsforschung durchsetzte. In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit christlich-muslimischen Konflikten auf der Iberischen Halbinsel daher merklich an Fahrt aufgenommen. Während sich Teile der internationalen Forschung vom Konzept der ‚Reconquista‘ verabschiedet zu haben scheinen,55 wird es in der spanischsprachigen Forschung intensiv debattiert und mit dem der Kreuzzüge in Beziehung gesetzt.56 Eine aktive und wachsende Gruppe von Spezialisten und Spezialistinnen hat in den letzten Jahren eine Fülle bahnbrechender Arbeiten hervorgebracht, die Spanien (und Portugal) zu besonders lebendigen Schauplätzen der Kreuzzugsforschung weltweit gemacht haben.57 Spanische und portugiesische Kolleginnen und Kollegen fokussieren nun viel stärker als zuvor die religiösen Aspekte christlich-muslimischer Konflikte. Vor allem der Madrider Mittelalterhistoriker Carlos de Ayala Martínez, die von ihm geleiteten Forschungsgruppen sowie die von ihnen durchgeführten Tagungen und Publikationen sind in diesem Zusammenhang zu nennen.58 Unter der Ägide von de Ayala 55 Adam J. Kosto, Reconquest (wie Anm. 42), S. 93–116. 56 Carlos Laliena Corbera, Holy War, Crusade and Reconquista in Recent Anglo-American Historiography about the Iberian Peninsula, in  : Imago temporis. Medium Aevum 9, 2015, S. 109–122  ; Carlos de Ayala Martínez, Guerra santa peninsular y cruzada de Ultramar  : Diferencias y similitudes, in  : de Ayala Martínez/Palacios Ontalva (Hg.), Reconquista y guerra santa (wie Anm. 4), S. 111– 132  ; José Santiago Palacios Ontalva, La guerra santa y la cruzada en la historiografía moderna y contemporánea, in  : ebd., S. 167–197. 57 Francisco García Fitz, La Reconquista, Granada 2010  ; José Manuel Rodríguez García, Reconquista y cruzada. Un balance historiográfico doce años después (2000–2012), in  :  Espacio, Tiempo y Forma 3, 2013, S.  365–394  ; Carlos De Ayala Martínez/Isabel Christina Ferreira Fernandes  (Hg.), Cristãos contra muçulmanos na idade média peninsular. Bases ideológicas e doutrinais de um confronto (séculos X–XIV)/Cristianos contra musulmanes en la Edad Media peninsular. Bases ideológicas y doctrinales de una confrontación (siglos X–XIV), Madrid 2015  ; Rafael G. Peinado Santaella, Guerra santa, cruzada y yihad en Andalucía y el reino de Granada (siglos XIII–XV), Granada 2017  ; Francisco García Fitz, La guerra contra el islam peninsular en la Edad Media, Madrid 2019  ; De Ayala Martínez/Ferreira Fernandes/Palacios Ontalva (Hg.), La Reconquista (wie Anm. 4). 58 Carlos de Ayala Martínez, Obispos, guerra santa y cruzada en los reinos de León y Castilla (s. XII),

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hat sich ein neuerlicher terminologischer Wandel vollzogen. Jüngere Arbeiten benutzen den Begriff der ‚Reconquista‘ zurückhaltend und ersetzen ihn gerne durch den des ‚Heiligen Krieges‘ („guerra santa“). Dies eröffnet einerseits die Möglichkeit, den islamischen Dschihad vergleichend mit christlichen Formen religiös legitimierter Gewalt in den Blick zu nehmen, wie dies in einigen Sammelbänden wiederholt zu beobachten ist.59 Andererseits distanziert man sich damit von der älteren ‚Reconquista‘-Forschung mit allen ihren Idiosynkrasien. Selbst die Militär- und Kriegsgeschichte englischer Prägung wird nun auch von spanischen Fachleuten aufgegriffen, welche die Eigenheiten christlich-muslimischer Konfliktführung herausarbeiten und auf militärtechnische Transferprozesse hinweisen.60 Es lässt sich darüber streiten, ob es nicht angemessener wäre, von ‚sakralisierter‘ anstatt von ‚sakraler‘ Gewalt, vom ‚geheiligten Krieg‘ anstatt vom ‚heiligen Krieg‘ zu sprechen. Eine solche Wortwahl würde dem legitimatorischen Charakter des Phänomens eher gerecht werden und einen weiteren wichtigen Aspekt deutlich zum Tragen bringen  : das spirituelle Verdienst, das manche Zeitgenossen von dieser Form der Gewaltanwendung erwarteten. Sie würde auch den selbst bei der Nutzung des Begriffs „guerra santa“ fortbestehenden Vorwurf ausräumen, mittelalterliche Vorstellungen und Wertesysteme in der geschichtswissenschaftlichen Terminologie fortleben zu lassen oder gar implizit zu vertreten. Auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist die ‚Reconquista‘ also ein Reizbegriff. In der Diskussion über die Vorteile und Gefahren seiner Nutzung melden in  : Fundación Sánchez Albornoz (Hg.), Cristianos y Musulmanes en la Península Ibérica. La guerra, la frontera y la convivencia  : XI Congreso de Estudios Medievales, Ávila 2009, S. 219–256  ; Carlos de Ayala Martínez/José Vicente Cabezuelo Pliego  (Hg.), Guerra Santa Peninsular (Anales de la Universidad de Alicante. Historia Medieval 17), Alicante 2011  ; Carlos de Ayala Martínez/Patrick Henriet/J. Santiago Palacios Ontalva (Hg.), Orígenes y desarrollo de la guerra santa en la Península Ibérica. Palabras e imágenes para una legitimación (siglos X‒XIV) (Collection de la Casa de Velázquez 154), Madrid 2016  ; Carlos de Ayala Martínez/J. Santiago Palacios Ontalva (Hg.), Hombres de religión y guerra  : cruzada y guerra santa en la Edad Media peninsular, Madrid 2018  ; De Ayala Martínez/Ferreira Fernandes/Palacios Ontalva (Hg.), La Reconquista (wie Anm. 4)  ; Carlos de Ayala Martínez/Francisco García Fitz/J. Santiago Palacios Ontalva  (Hg.), Memoria y fuentes de la guerra santa peninsular (ss. X‒XV), San Sebastian 2021  ; de Ayala Martínez/ Palacios Ontalva (Hg.), Reconquista y guerra santa (wie Anm. 4). 59 Zu diesem weiten Feld siehe als neueren Überblick Hans-Werner Goetz, ‚Glaubenskriege  ?‘ Die Kriege der Christen gegen Andersgläubige in der früh- und hochmittelalterlichen Wahrnehmung, in  : Frühmittelalterliche Studien 53, 2020, S. 67‒114. 60 Francisco García Fitz, Las prácticas guerreras en el mediterraneo latino (siglos XI al XIII). Cristianos contra musulmanes, in  : Baloup/Josserand (Hg.), Regards croisés (wie Anm. 21), S. 323–358  ; Ders., La Reconquista (wie Anm. 57)  ; Francisco García Fitz/Joao Gouveia Monteiro (Hg.), War in the Iberian Peninsula, 700‒1600 (Themes in Medieval and Early Modern History), New York 2018.

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sich im Wesentlichen Fachleute zu Worte, auch wenn diese Debatte breite mediale Aufmerksamkeit erfährt.61 Das bedeutet, sie wird vor allem von Mittelalterhistorikern und -historikerinnen ausgetragen und beschränkt sich in ihrer Analyse chronologisch auf das mittelalterliche Jahrtausend, obwohl sie letztlich die transepochale Frage nach dem Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt bzw. die geschichtstheoretische Frage nach dem epistemologischen Wert analytischer Grundbegriffe aufwirft. Ist die Instrumentalisierung des Konzepts ‚Reconquista‘ durch rechtskonservative und rechtsextreme Kreise für den mediävistischen Islamwissenschaftler Alejandro García Sanjuan Grund genug, lautstark und medial für seine Ächtung einzutreten,62 haben sich andere Fachleute wie etwa Carlos de Ayala oder Francisco García Fitz für seine Beibehaltung eingesetzt.63 Sie argumentieren, dass die Vorstellung einer christlichen Rückeroberung unzweifelhaft während des 11. bis 15. Jahrhunderts ein wirkmächtiger, ideologisch aufgeladener Faktor gewesen sei und daher nicht einem letztlich politisch begründeten Bann anheimfallen dürfe. Diese Historikerdiskussion ist in den Medien vielfach aufgegriffen und diskutiert worden. Die teils scharf geführte Debatte hat ihren Teil dazu beigetragen, dass die ‚Reconquista‘ vom Mainstream der spanischen Mittelalterforschung noch immer – bzw. aufs Neue ‒ als ein belastetes Konzept angesehen wird, das im Ruf steht, von Fachleuten konfessioneller Prägung oder einer bestimmten politischen Couleur betrieben zu werden.64 Es fehlt aber nicht an Stimmen, die um Ausgleich bemüht sind und Kompromissvorschläge formulieren. Zu ihnen zählt die häufiger in den jüngeren Kulturwissenschaften vorgebrachte Anregung, einem vermeintlichen Essenzialismus durch Pluralbildung zu begegnen. Demnach solle anstatt von einer besser von mehreren – einer päpstlichen, einer neo-

61 Beispielhaft (aufgerufen  : am 16.06.2022)  ; (aufgerufen am 16.06.2022)  ; (aufgerufen am 16.06.2022). 62 Alejandro García Sanjuan, La conquista islámica de la península Ibérica y la tergiversación del pasado  : del catastrofismo al negacionismo, Madrid 2013  ; Ders., Coexistencia y conflictos. Minorías religiosas en la Península ibérica durante la Edad Media, Granada 2015  ; Ders., Cómo desactivar una bomba (wie Anm. 4)  ; Ders., Rejecting al-Andalus (wie Anm. 4). 63 De Ayala Martínez, Reconquista o reconquistas (wie Anm. 37)  ; García Fitz, Crítica e hipercrítica (wie Anm. 29). 64 Alejandro García Sanjuán, La persistencia del discurso nacionalcatólico sobre el medievo peninsular en la historiografía española actual, in  : Historiografías 12, 2016, S. 132–153  ; (aufgerufen am 16.06.2022)  ; vgl. García Fitz, Crítica e hipercrítica (wie Anm. 29), S. 90.

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gotischen, einer providenzialistischen ‚Reconquista‘ etc. – gesprochen werden, die analytisch nach ihren Trägern zu unterscheiden seien.65 Es wird zu sehen sein, ob diese inhaltlich überzeugende, aber möglicherweise allzu akademische Differenzierung Akzeptanz finden wird. Auf jeden Fall zeugen viele dieser jüngeren spanischen Beiträge von einer gesteigerten Sensibilität für die politische und gesellschaftliche Aufladung der Thematik und von einer Perspektive, welche die Diversität unterschiedlicher kultureller Prägungen berücksichtigt. Hierzu hat nicht zuletzt die Zusammenarbeit allgemein-mediävistischer und arabistisch-islamwissenschaftlicher Fachleute beigetragen.66 Diesen Studien stehen vereinzelte fachwissenschaftliche Beiträge gegenüber, die im Sinne national-konservativer Kreise lautstark und vehement zu einer Rehabilitierung des Begriffs ‚Reconquista‘ aufrufen. „La Reconquista  : un nombre correcto“ formulierte vor Kurzem kämpferisch ein an der baskischen Jesuitenhochschule Universidad de Deusto tätiger Historiker.67 Es steht zu erwarten, dass der alte Streit um das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen im Mittelalter die spanische Gesellschaft noch lange begleiten wird.

Fazit Es dürfte unter Fachleuten keinen wesentlichen Dissens über die Frage geben, ob das Konzept der Rückeroberung christlich beherrschter Gebiete im iberischen Mittelalter vorstellungsgeschichtlich wirkmächtig gewesen sei. Es schlug sich über viele Jahrhunderte in unterschiedlichen Quellengattungen und auf verschiedene Weise nieder, an seiner grundsätzlichen Relevanz ist nicht zu zweifeln. Doch ist die Ambivalenz des Begriffs ‚Reconquista‘ ein wesentlicher Grund dafür, dass er noch immer und mit guten Gründen unter Fachleuten umstritten ist. Die Kontroversen um seine Erfor65 De Ayala Martínez, Reconquista o reconquistas (wie Anm. 37)  ; ähnlich bereits Jaspert, Eroberung – Rückeroberung – Glaubenskampf – Gotteskrieg (wie Anm. 50), S. 278–284. 66 Zu den Gründungsgestalten einer arabistisch-islamwissenschaftlichen ‚Reconquista‘-Forschung siehe Aurora Rivière Gómez, Orientalismo y nacionalismo español  : estudios árabes y hebreos en la Universidad de Madrid (1843‒1868), Madrid 2000  ; John V. Tolan, Using the Middle Ages (wie Anm. 37), S. 334–336. 67 Armando Besga Marroquín, La Reconquista  : un nombre correcto, in  : Letras de Deusto 41, 2011, S. 9–91. Siehe auch Ders., Violencia cristiana durante los tres primeros siglos de la Reconquista en las crónicas hispanolatinas, in  : Letras de Deusto 38, 2008, S. 9–70  ; Ders., Violencia musulmana en las fuentes árabes en los tres primeros siglos de la reconquista, in  : Fundación Sánchez Albornoz  (Hg.), Cristianos y Musulmanes (wie Anm. 58), S. 545–590  ; Ders., España y Edad Media. Sobre el uso del nombre de „España“ en las historias medievales, in  : Letras de Deusto 40, 2010, S. 9–28.

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schung rühren vor allem daher, dass der Terminus nicht hinreichend konsequent als die Bezeichnung eines vorstellungsgeschichtlichen Konzepts identifiziert wird. Einschlägige fremdsprachige Arbeiten, die zur analytischen Klarheit beitragen könnten, werden in Spanien leider nicht hinreichend zur Kenntnis genommen.68 Allzu häufig stehen daher die ‚Reconquista-Studien‘ implizit im Ruf, die in ihnen erforschten mittelalterlichen Vorstellungen gut zu heißen oder zu teilen, und in Einzelfällen mag dies durchaus der Fall sein. Doch analytisch betrachtet, betreiben die Studien, welche sich mit den ideologischen Grundlagen von religiös legitimierten Kriegen gegen Andersgläubige auf der Iberischen Halbinsel beschäftigen, nichts anderes als mediävistische Vorstellungsgeschichte. Dies wird in Fachkreisen zu wenig zur Kenntnis genommen. Das Problem dieses Forschungsfelds ist wesentlich eines seiner intellektuellen Reflexion. So umstritten der Begriff ‚Reconquista‘ auch sein mag  : Die Suche nach Alternativen gestaltet sich schwierig. Vor dem Hintergrund des Gesagten wäre es nicht hilfreich, wenn man an seiner Stelle den Terminus ‚Conquista‘ benutzte, wie es verschiedentlich vorgeschlagen worden ist. Zum einen ist dieser Begriff mittlerweile zur Kennzeichnung der amerikanischen Expansion fest eingeführt und damit semantisch besetzt. Zum anderen würde er die Spezifika der iberischen Situation im europäischen Vergleich zu wenig zum Ausdruck bringen, die Ideologisierung des Krieges in diesem Raum verschweigen und eine Rückwirkung dieses Konzepts auf die zeitgenössischen Handlungsträger negieren. Auch der ebenfalls als Alternative vorgeschlagene Terminus der ‚restauración‘69 kann letztlich nicht überzeugen, ist er doch seinerseits semantisch mit der Restaurationszeit des 19. Jahrhunderts verknüpft, obendrein versperrt er den Blick für ein wesentliches Anliegen nicht weniger mittelalterlicher Akteure  : die blanke Eroberung. Doch möchte man den traditionellen Terminus der ‚Reconquista‘ beibehalten, so bleibt der Vorwurf im Raum, die Sprache der Sieger zu sprechen. Letztlich dürfte die geschichtswissenschaftliche Fachcommunity, dürften aber auch Journalismus, Politik und Gesellschaft sich weiterhin in unterschiedliche Lager spalten – diejenigen, die den Terminus ‚Reconquista‘ und vergleichbare Sammelbegriffe rundherum ablehnen, diejenigen, die ihn durch Alternativen wie die derzeitig populäre „guerra santa“ ersetzen wollen, diejenigen, die ihn zwar weiter benutzen, aber sich mit Anführungszeichen, abschwächenden sprachlichen Markierern oder 68 Beispielhaft  : Hans-Werner Goetz, Vorstellungsgeschichte. Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter, Bochum 2007  ; Ders., Gott und die Welt. Religiöse Vorstellungen des frühen und hohen Mittelalters (Orbis mediaevalis 13,1), Berlin 2011. 69 Ríos Saloma, La Reconquista. Una invención (wie Anm. 21), S. 429.

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Gestik zu helfen versuchen, und diejenigen, die ihn durchaus mit Stolz und im vollen Wissen um seine semantische Aufladung im Munde führen. Das Konzept ‚Reconquista‘ wird auf absehbare Zeit wahrscheinlich eines der bedeutendsten wertekategorialen Deutungsmuster der spanischen Geschichtsforschung bleiben, und es dürfte in naher Zukunft nichts von seiner Sprengkraft verlieren. Nicht nur die eingangs genannte rechtskonservative Parteiung und der radikale Islamismus führen ihn im Munde, sondern zunehmend auch extremistische Gruppen im Internet und in den sozialen Medien. Der „Streit um die ‚Reconquista‘“ ist regelrecht ein Paradebeispiel für gesellschaftlich umkämpfte Geschichte im 21.  Jahrhundert. Zugleich weist er weit über den Bereich der spanischen Tagespolitik hinaus, mit der dieser Beitrag eröffnet wurde. Er ist vielmehr ein besonders einschlägiges Beispiel für die Spannungen, Fallstricke und Missverständnisse, welche die Nutzung eines vorstellungsgeschichtlichen Ideologems zur Bezeichnung historischer Ereignisse birgt.

Brigitte Kasten

Zum Deutungsstreit über das Lehnswesen im Frühmittelalter in der deutschen mediävistischen Forschung In memoriam Susan Reynolds (27.01.1929 – 29.07.2021)

Zu den Ursachen der Kontroverse: Methodenstreit Bei den Deutungsstreitigkeiten der jüngeren Mediävistik spielt seit 1994 das Verständnis vom Lehnswesen eine vergleichsweise prominente Rolle. Gänzlich neu sind diese Verständnisprobleme nicht. Seit der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts hat es gleichsam schubweise immer wieder einmal Debatten über die Ausdeutung lateinischer, auf einen möglichen Lehnskontext verweisender Begrifflichkeiten für die Rekonstruktion historischer Gemeinwesen im Bereich von Staat, Verwaltung, Wirtschaft und Militär gegeben.1 Damals wie heute handelt es sich dabei keineswegs um einen bloßen Streit um Begriffe, sondern stets zugleich um methodische Kontroversen, die ihrerseits wiederum eingebettet sind in die lebensweltlichen persönlichen Erfahrungen und politischen Haltungen der jeweiligen Wissenschaftler.2 Die Ergebnisse historischer Forschung, auch in der Mediävistik, (ent)stehen in Abhängigkeit 1 Zur Wissenschaftsgeschichte der älteren Deutungsstreitigkeiten über das Lehnswesen von Paul Roth über Georg Waitz, Heinrich Mitteis, Otto Hintze, Émile Lesne, François Louis Ganshof und Marc Bloch bis Georges Duby, Karl-Heinz Spieß, Karl Friedrich Krieger, die hier als pars pro toto genannt seien, vgl. zusammenfassend Oliver Auge, Art. „Lehnrecht, Lehnswesen“, in  : Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte [HRG] 3, 22016, Sp. 717–736  ; Elizabeth A. R. Brown, The Tyranny of a Construct  : Feudalism and Historians of Medieval Europe, in  : The American Historical Review 79, 1974, S. 1063– 1088  ; Brigitte Kasten/Christian Vogel, Art. „Feudalismus“, in  : Handwörterbuch der Sklaverei 1, 2017, S. 931–933  ; Karl Friedrich Krieger, Art. „Lehnswesen“, in  : Reallexikon der Germanischen Altertumskunde [RGA] 18, 2001, S.  218–225  ; Steffen Patzold, Das Lehnswesen, München 2012  ; Karl-Heinz Spieß, Art. „Lehn(s)recht, Lehnswesen“ in  : HRG 2, 1978, Sp. 1725–1741  ; Ders., Das Lehnswesen in Deutschland und im hohen Mittelalter, 2. verbesserte und erweiterte Auflage, Stuttgart 2009, S.13–22. 2 Dazu zuletzt Simon Groth (Hg.), Der geschichtliche Ort der historischen Forschung. Das 20. Jahrhundert, das Lehnswesen und der Feudalismus (Normative Orders 28), Frankfurt am Main 2020, mit Beiträgen unter anderem über Otto Hintze, Otto Brunner, François Louis Ganshof und Adriaan Verhulst.

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von der jeweils zeitgenössischen politischen und kulturellen Umwelt.3 Solche Hintergründe können für die aktuellen Deutungsstreitigkeiten um das Lehnswesen bzw. um den Feudalismus hier nicht dargelegt werden. Dazu wäre wegen der multinationalen Komplexität eine größere Studie vonnöten und vermutlich auch eine längere zeitliche Distanz zum Geschehen. Die nachfolgenden Bemerkungen konzentrieren sich vielmehr darauf, die Kontroverse inhaltlich nachzuzeichnen. Den Anstoß zur jüngeren Kontroverse gibt ein Zeitschriftenbeitrag von Elizabeth Brown aus dem Jahre 1974. Sie fordert nach einer luziden Analyse des Unbehagens namhafter Historiker des 19. und 20.  Jahrhunderts, mit einem Modell von Feudalismus zu arbeiten, sich von der Tyrannei eines solchen Konstrukts zu befreien und stattdessen die historischen Gegebenheiten zu beschreiben, zumal die Definitionen von Feudalismus vage und divergierend seien.4 Der international mit Vehemenz ausgetragene Streit um das rechte Verständnis von Lehnswesen (feudalism, féodalité, feudalesimo, Feudalismus) entzündet sich jedoch erst 20 Jahre später an der Monographie der mit Elizabeth („Peggy“) Brown befreundeten Susan Reynolds. Letztgenannte macht in einer gedankenreichen, auf Quellenanalyse beruhenden, breit angelegten Untersuchung über die früh- und teils hochmittelalterlichen Reiche in Frankreich, Deutschland und Italien Ernst damit, sich nicht länger von einer Konstruktion „feudalism“ bei der Beschreibung historischer Gesellschaften leiten zu lassen. Sie will schärfer zwischen der Polysemantik der Quellen („words“), der modernen Begrifflichkeit („concepts or notions“) und dem geschichtswissenschaftlichen Modell („construct“) unterscheiden, um so die Erscheinungsformen der historischen Phänomene („phenomena“) adäquater beschreiben zu können.5 Sie folgt nicht den marxistischen Definitionen von Feudalismus, 3 Vgl. Natalie Fryde/Pierre Monnet/Otto Gerhard Oexle/Leszek Zygler (Hg.), Die Deutung der mittelalterlichen Gesellschaft in der Moderne – L’imaginaire et les conceptions modernes de la société médiévale – Modern Conceptions of Medieval Society (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 217), Göttingen 2006  ; und auf das Lehnswesen fokussiert vgl. Natalie Fryde/Pierre Monnet/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Die Gegenwart des Feudalismus – Présence du féodalisme et présent de la féodalité – The Presence of Feudalism (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 173), Göttingen 2002. 4 Brown, Tyranny (wie Anm. 1), S. 1088. 5 Susan Reynolds, Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted, Oxford 1994, S. 14  : „My object is to explore the relation between the modern concepts of the fief and of vassalage on the one hand and the evidence of property law and social and political relations that I find in medieval sources on the other.“ Ihren methodischen Dreischritt zwischen „word“ – „concept or notion“ – „phenomenon“ erläutert sie zuletzt nochmals in Dies., Fiefs and Vassals After Twelve Years, in  : Sverre Bagge/Michael H. Gelting/Thomas Lindkvist (Hg.), Feudalism. New Landscapes of Debate (The Medieval Countryside 5), Turnhout 2011, S. 15–26, hier S. 17–19.

Zum Deutungsstreit über das Lehnswesen im Frühmittelalter 

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sondern der Definition von Lehnswesen des Rechtshistorikers Heinrich Mitteis, die weiter unten kurz umrissen wird. Aufgrund dessen ist sie der Überzeugung, dass das Lehnswesen eine eher spätmittelalterliche, wenn nicht sogar erst eine frühneuzeitliche Entwicklung des 16. Jahrhunderts im staatlichen Bereich gewesen sei. Der Weg, der nach diesem „Weckruf “ sowohl in der nationalen als auch in der internationalen Forschung beschritten wurde, ist trotz der inzwischen zahlreichen Revisionen der älteren Vorstellung, dass das Lehnswesen bereits vor der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts ein alles durchdringendes Ordnungs- und Herrschaftsmodell gewesen sei, noch längst nicht zu Ende gegangen.6 So beklagt Steffen Patzold noch 2012, also 18 Jahre nach Erscheinen von Reynolds‘ „Fiefs and Vassals“, dass in der Debatte über das Lehnswesen nach wie vor Modell und historische Wirklichkeit miteinander verwechselt und dadurch allerlei Verwirrungen gestiftet werden. Er lehnt allerdings im Gegensatz zu Susan Reynolds geschichtswissenschaftliche Modelle nicht grundsätzlich ab, da sie Verborgenes sichtbar machten und durchaus historische Erkenntnisse erlaubten.7 Letztlich bestätigt er jedoch das Ergebnis und die Zugangsweise von Susan Reynolds  : Der Begriff („concept“ bei Susan Reynolds) von Lehnswesen sei „wenig hilfreich, ja bedenklich“. „Statt dessen sollten wir [Historiker] möglichst exakt beschreiben, wie Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Regionen Europas über Güter, Rechte und ihre Beziehung zueinander dachten und redeten – und wie sie damit in der Praxis umgingen“.8 Genau dies war auch Susan Reynolds’ Anliegen. Die (west)deutsche Mediävistik von 1933 bis 1994 beruhte in wesentlichen Teilen auf der Mitteis’schen Definition vom Lehnswesen und wurde daher durch den „Weckruf “ besonders unsanft wachgerüttelt. Die Mitteis’sche Anschauung war zu prüfen, dass das Lehnswesen die Rechtsgrundlage für die Königsherrschaft des Frühund Hochmittelalters seit der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts gewesen sei, also – unter Ausblendung der nichtköniglichen Rechts- und Lebensverhältnisse – die gesamte Reichsverfassung durchdrungen habe. Dieser langwierige Prüfvorgang ist zurzeit in-

6 Die Bezeichnung „Weckruf “ für Reynolds, Fiefs and Vassals, stammt von Roman Deutinger, Das hochmittelalterliche Lehnswesen  : Ergebnisse und Perspektiven, in  : Jürgen Dendorfer/Roman Deutinger (Hg.), Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte – Quellenbefunde – Deutungsrelevanz (Mittelalter-Forschungen 34), Ostfildern 2010, S. 463. In den Beiträgen dieses Tagungsbandes werden zumeist frühestens ab der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts lehnrechtliche Prinzipien ausgemacht. Zur neuen Sichtweise auf Lehnrecht, Lehen und Vasallen im 13. Jahrhundert vgl. KarlHeinz Spieß (Hg.), Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen 76), Ostfildern 2013. 7 Patzold, Lehnswesen (wie Anm. 1), S. 9. 8 Ebd., S. 121. So ähnlich formulierte es Susan Reynolds 1994 (siehe Zitat in Anm. 5).

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sofern noch nicht abgeschlossen, als sich noch keine neue herrschende Meinung herausgebildet hat. Mit Blick auf die deutsche Forschung äußerte sich Susan Reynolds 2017 erneut enttäuscht darüber, dass zwar zwischenzeitlich eine Revision der Quellen angegangen worden sei, dennoch immer noch allzu oft unterstellt werde, „that the word Lehnswesen represents a real phenomenon of medieval society, though without actually arguing that it was“.9 Tatsächlich benutzen alle nach 1994 erschienenen, obwohl durchaus kritischen Studien zum Lehnswesen diesen Begriff weiterhin und suggerieren damit, es habe ein solches gegeben, auch wenn des Öfteren konzediert wird, dass es im untersuchten Zeitraum noch nicht zum Rückgrat von Staat und Gesellschaft geworden sei. Derzeit gilt nicht mehr das 8., sondern das 13. Jahrhundert als Beginn der Herausbildung des Lehnswesens als eines umfänglichen Ordnungsprinzips, während dieses der älteren Forschung bereits als Verfallszeit des Lehnswesens galt.10 Doch könnte sich auch dieser Zeitpunkt in künftigen Studien als immer noch verfrüht erweisen. Für eine Beibehaltung des Wortes Feudalismus in der historischen Forschung – durchaus auch im Sinne des marxistischen Epochenbegriffs neben weiteren Feudalismuskonzepten – plädiert mit konkreten Empfehlungen für seinen rechten Gebrauch Ludolf Kuchenbuch.11 Gegen die vom ihm so genannten „Abschaffungsrhetoriker und -rhetorikerinnen“ verweist er auf internationale kritische Stimmen, die vor einem Zirkelschluss warnen. Demnach sei es wissenschaftlich naiv, zu meinen, „das Postulat des direkten, von allen wissenschaftsgeschichtlichen, konzeptuellen oder wertbezüglichen ‚Störungen‘ freigehaltenen Umgangs mit der ‚authentischen‘ Überlieferung“ führe zu einer gesicherteren Erkenntnis historischer Wirklichkeiten. Das sei „ein Umgang also, der die ‚Abolitionisten‘ ungewollt genau solchen, z. B. ‚feudalen‘ Störungen ausliefern kann“.12 Ähnlich argumentiert jüngst Thomas Martin Buck. Der alleinige Rekurs auf Quellen sei wegen deren Ambivalenz wenig zielführend. Die eigentliche Arbeit des Historikers, die Deutung, erfülle sich erst, wenn die heuristische Funktion von Modellen anerkannt und hinzugezogen werde.13  9 Susan Reynolds, The History of the Idea of Lehnswesen, in  : German Historical Institute London Bulletin 39, 2017, S. 3–20, hier S. 19, in Bezug auf einige im Sammelband Dendorfer/Deutinger (Hg.), Lehnswesen im Hochmittelalter (wie Anm. 6) versammelte Beiträge. 10 Vgl. z. B. Karl-Heinz Spieß (Hg.), Zur Einführung, in  : Ders. (Hg.), Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens (wie Anm. 6), S. 11–14. 11 Ludolf Kuchenbuch, Feudalismus  : Versuch über die Gebrauchsstrategien eines wissenspolitischen Reizwortes, in  : Fryde/Monnet/Oexle (Hg.), Gegenwart des Feudalismus (wie Anm. 3), S. 291–323, hier S. 306 und zusammenfassend S. 322f. 12 Ebd., S. 306. 13 Thomas Martin Buck, Lehnswesen und Feudalismus. Zur Logik von Forschungskontroversen, in  : Groth (Hg.), Der geschichtliche Ort (wie Anm. 2), S. 217–235, hier S. 222–225.

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Vor Zirkelschlüssen warnt auch Thomas Brückner in seiner äußerst methodenbewussten juristischen Dissertation über Lehnsauftragungen, wenngleich mit negativem Vorzeichen gegen klassische Modellvorstellungen. Wer die Untersuchung von Quellen auf solche beschränkt, die die Begrifflichkeit des Modells „Lehnswesen“ aufweisen, dem entgehen alle Quellen, die einen vergleichbaren Sachverhalt beschreiben bzw. eine ähnliche Funktion bezeichnen, aber andere Begriffe dafür verwenden – ein hermeneutischer Zirkelschluss, der die Existenz dessen, was zu beweisen ist, methodisch bereits voraussetzt. Ein weiterer hermeneutischer Zirkelschluss entstehe durch die „Übertragung eigener moderner eigentumsrechtlicher und personenrechtlicher Vorstellungen auf das Untersuchungsobjekt“, dem man jedoch kaum sinnvoll entgegensteuern könne, da „wir unsere historische Erkenntnis wohl immer aus der Gegenüberstellung ehemaliger und heutiger Gestaltungen“ beziehen und „der Erkenntnisgewinn  … als Differenz beider Größen“ erscheint. Brückner fordert daher, den eigenen – in diesem Fall rechtlichen und rechtsgeschichtlichen Standort – zu bestimmen, breit angelegte Quellenstudien in Hinblick auf eine Funktionsbeschreibung des historischen Phänomens zu betreiben und dann die Modellvorstellung zu benennen, in die die Interpretation einzuordnen ist.14 Für seine Untersuchung zieht er den Schluss, nicht die Entwicklung des historischen Phänomens der Lehnsauftragung, sondern die Geschichte der Bearbeitung des Rechtsinstituts der Lehnsauftragung in der lehnrechtswissenschaftlichen Literatur der Frühen Neuzeit bis ins 19., teils 20. Jahrhundert hin­ein zu beschreiben.15 Er enthält sich ferner einer Stellungnahme zu Susan Reynolds’ Hypothese, ob es nicht erst die Feudisten der Frühen Neuzeit gewesen seien, die durch ihre Systematik das Konstrukt des Lehenswesens geschaffen haben. Diese einleitenden Bemerkungen mögen genügen, um aufzuzeigen, dass sich sowohl in der nationalen als auch in der internationalen Debatte auf der einen Seite quellenorientierte Empiriker und auf der anderen Seite geschichtstheoretisch versierte Quellenskeptiker gegenüberstehen. Beide werfen sich gegenseitig gravierende methodische Fehler vor. Beide nehmen grundlegend verschiedene Haltungen insbesondere zu der Frage ein, ob überhaupt und wenn ja, dann inwieweit vergangene Lebensformen und Gesellschaften rekonstruiert werden können, ob die Geschichtswissenschaft also historische Realitäten erkennen kann. Geschichtsphilosophische Probleme dieser Art müssen erwähnt werden, weil sie die tiefere Ursache der Deu14 Thomas Brückner, Lehnsauftragung (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 258), Frankfurt am Main 2011, S. 2–10, Zitate S. 7. 15 Ebd., S. 436  : „Aus diesem Grunde wurde vorliegend verzichtet, die Geschichte des Rechtsinstituts der Lehnsauftragung um ihrer selbst willen oder gar mit objektivem Anspruch zu schreiben. Die historische Entwicklung der Lehnsauftragung wurde vielmehr immer nur als Resultante ihrer historischen Bearbeitung in der Literatur begriffen.“ Zu Reynolds’ Hypothese siehe unten Anm. 28.

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tungsschwierigkeiten offenlegen. Sie sollen für die nun folgende inhaltliche Darstellung des Meinungsstreites aber außer Acht gelassen werden. Der zukünftige Erkenntnisgewinn liegt sicherlich in vermittelnden Positionen, oben am Beispiel von Steffen Patzold und Thomas Brückner angedeutet.

Das Modell „Lehnswesen“ kurzgefasst Angenommen, man kann auf Konzepte wie Lehnswesen und/oder Feudalismus entweder nicht verzichten oder ist sich im Gegenteil ihrer realen Existenz gewiss, dann kommt es entscheidend darauf an, welchem Konzept man anhängt. Ist es das vom Ansatz her marxistisch vorgeprägte Konzept des Feudalismus, spielt die Analyse der lehnsrechtlichen Beziehungen keine sonderlich große Rolle, weil es genügt, die vielfältigen Abhängigkeiten der vom Adel beherrschten Lebensbedingungen zu benennen.16 Will man jedoch das Lehns„wesen“ näher ergründen, kommt man um eine Analyse lehns„rechtlicher“ Beziehungen nicht umhin, da es darum geht, eine spezifische Abhängigkeit von anderen artverwandten Formen zu unterscheiden. Für die Zeiten oder die Regionen, in denen das Lehnsrecht noch nicht schriftlich aufgezeichnet wurde, muss eine solche Analyse auf Mutmaßungen und Wahrscheinlichkeiten, also auf mehr oder weniger plausiblen Rekonstruktionen beruhen. Eine solche Standortbestimmung nimmt Susan Reynolds vor. Sie lässt das marxistische Feudalismus-Modell beiseite und argumentiert ausschließlich gegen das Lehnswesen-Modell, das in der deutschen Forschung durch den Rechtshistoriker Heinrich Mitteis definiert wurde und dem der belgische Rechtshistoriker François Louis Ganshof gleichfalls folgte.17 Das durch diese beiden Juristen angewandte Kon16 Vgl. z. B. Marc Bloch, La société féodale, Paris 1939, deutsche Übersetzung  : Die Feudalgesellschaft, durchgesehene Neuauflage Stuttgart 1999. Diesem einflussreichen Werk hängen große Teile der französischen Forschung an. Zum Feudalismus-Modell gibt es zahlreiche Einzelstudien. Diesem und anderen geschichtswissenschaftlichen Modellen widmet Simon Groth, In regnum successit  : „Karolinger“ und „Ottonen“ oder das „Ostfränkische Reich“  ? (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 304), Frankfurt am Main 2017, das gesamte erste Kapitel seiner Dissertation. 17 Reynolds, Fiefs and Vassals (wie Anm. 5), S. 15, ferner S. 17f. und öfter  ; Heinrich Mitteis, Lehnrecht und Staatsgewalt. Untersuchungen zur mittelalterlichen Verfassungsgeschichte, Weimar 1933, Nachdruck Darmstadt 1974  ; François Louis Ganshof, Was ist das Lehnswesen  ?, 7., gegenüber der 6. unveränderte deutsche Auflage Darmstadt 1989, S. 14–17. Während Mitteis die Anfänge der Verbindung des personellen und des dinglichen Elements auf die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts datiert, will Ganshof, Note sur les origines de l’union du bénéfice avec la vassalité, in  : Études d’histoire dédiées à la memoire de Henri Pirenne, Brüssel 1937, S. 173–189, diese Verbindung bereits im 8. Jahrhundert erkennen.

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zept fand in der historischen Forschung, namentlich in Deutschland, aber auch im französisch- und englischsprachigen Raum eine weite Verbreitung. Auch die gegenwärtigen Debatten und die revisionistische Sichtung der Quellen orientieren sich daran. Es wird unter anderen von Steffen Patzold nochmals kurz zusammengefasst.18 Demnach bedarf es zweier Bedingungen, um vom Lehnswesen sprechen zu dürfen  : Ein dingliches und ein personales Element müssen gleichzeitig miteinander verbunden sein. Das bedeutet  : Nur wenn ein beneficium an einen Vasallen vergeben worden ist, ist das beneficium – trotz seiner semantischen Bedeutungsbreite – per Definition ein Lehen im lehnsrechtlichen Sinne, ist der Vasall als Halter des Lehens ein Lehnsmann und der Eigner des Lehens ein Lehnsherr. Das Modell „Lehnswesen“ beinhaltet des Weiteren, dass das personale Element der Vasallität durch einen (mündlichen) Vertrag mit rechtssymbolischen Handlungen begründet wird, indem der Vasall/Lehnsmann seinem Lehnsherrn einen Treueid schwört, sich mittels Kommendation/Mannschaft in die Hände des Lehnsherrn begibt sowie Rat und Tat verspricht, also keine Abgaben vom Lehen, sondern persönliche Dienste leistet. Diese sind sehr vielfältiger Art wie z. B. Anwesenheit am Hof des Herrn, Ratgeberfunktionen, Teilnahme an Gerichtsterminen, Boten- und Reisetätigkeit vornehmlich zu Pferde, Übernahme wirtschaftlicher und politischer Funktionen, aber vor allem Kriegsdienste. Die Kosten für die Kriegsausrüstung sollen idealerweise aus dem Lehen – in der Regel war dieses ein entsprechend ertragreicher Landbesitz zur Nutzung – finanziert werden können. Der Lehnsherr garantiert seinem Lehnsmann Schutz und Schirm, worunter allerlei Formen von Beistand zu verstehen sind, z. B. Schutz vor gegnerischen Übergriffen auf den Vasallen und/oder sein Lehen, Unterstützung in juristischen Streitigkeiten, Sicherung des wirtschaftlichen Auskommens, Hilfe in allen Notlagen. Das soziale Gefälle zwischen Lehnsherrn und Lehnsmann kann, muss aber nicht zwingend groß gewesen sein  ; auch der Vasall soll ein Freier gewesen sein. Es werden bei diesem Modell nahezu alle Bereiche der Gesellschaft erfasst, nämlich Wirtschaft, Soziales, Politik und Militär. Die nachfolgende Darstellung der inhaltlichen Debatten folgt daher diesen Kategorien.

18 Patzold, Lehnswesen (wie Anm. 1), S. 9–12. Zu Art, Form und Entwicklung des Eides bis ins frühe Mittelalter hinein vgl. jetzt Stefan Esders, Art. „Schwur“, in  : Reallexikon für Antike und Christentum 30, Stuttgart 2019, Sp. 29–70, insbesondere Sp. 52–54 zum Fahneneid und zur Treue.

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Militär Eine Hauptthese von Susan Reynolds ist, dass weder die Vasallität noch das Lehen ihren Ursprung in der Kriegergesellschaft des Frühmittelalters hatten.19 Bis dahin wurde angenommen, dass das fränkische Heer auf einer Art Wehrpflicht der freien Männer beruhte. Weil jedoch schon zur Karolingerzeit der Stand der Freien (liberi homines) unter großen sozialen Druck geraten und dezimiert worden sei, reichte das gewöhnliche Heeresaufgebot zur Abwehr der äußeren Feinde, namentlich auch der bis ins nördliche Aquitanien vorstoßenden Araber, nicht mehr aus. Bereits im 8. Jahrhundert sei ein spezialisiertes Heereskontingent auszumachen  : die schwer bewaffnete und gepanzerte Reiterei. Das Volksheer sei also durch eine Elitetruppe ergänzt worden, in denen Berufskrieger gesehen worden seien. Diese Reiterkrieger vor allem seien mittels der Vasallität an einen Herrn angebunden worden, gehörten demnach zu seiner Gefolgschaft. Für ihre Dienste, insbesondere für den Kriegsdienst, seien sie mit genügend Land zur Nutzung ausgestattet worden, dem Lehen. In dem Aufbau der karolingischen Reiterei sei folglich der Ursprung des Lehnswesens zu sehen.20 19 Wiederholt in Reynolds, Fiefs and Vassals After Twelve Years (wie Anm. 5), S. 16  ; Susan Reynolds, Fiefs and Vassals in Twelfth-Century Jerusalem  : a View from the West, in  : Crusades 1, 2002, S. 29–48, hier S. 30 (wieder abgedruckt in  : Susan Reynolds, The Middle Ages without Feudalism. Essays in Criticism and Comparison on the Medieval West [Variorum Collected Studies CS 1019], Farnham 2012, Nr. III). 20 Einen zuverlässigen Überblick über den Forschungsstand unter Einbezug der älteren Forschung bietet Christoph Haack, Die Krieger der Karolinger. Kriegsdienste als Prozesse gemeinschaftlicher Organisation um 800 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 115), Berlin/ Boston 2020, S. 16–34 und S. 69–72. Die Beiträge in dem Band von Ellora Bennett/Guido M. Berndt/ Stefan Esders/Laury Sarti (Hg.), Early Medieval Militarisation, Oxford 2021, thematisieren den Aspekt der Vasallität nicht. Hermann Kamp, Formen, Ziele und Probleme der Eroberungspolitik im Mittelalter. Eine Einführung, in  : Ders. (Hg.), Herrschaft über fremde Völker und Reiche. Formen, Ziele und Pro­bleme der Eroberungspolitik im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 93), Ostfildern 2022, S. 9–28, hier S. 24f., gibt zu bedenken, dass die Quellen „nicht unbedingt zwischen den einzelnen Herrschaftsformen von der Tributabhängigkeit über die vasallitische Bindung bis zur Annexion unterschieden“  ; ebd. S. 10 Anm. 3 verweist er für die Existenz einer Oberlehnsherrschaft zur Karolingerzeit auf Heinhard Steiger, Die Ordnung der Welt. Eine Völkerrechtsgeschichte des karolingischen Zeitalters (741 bis 840), Köln/Weimar/Wien 2010, dessen Überlegungen zu den Fällen von Herzog Tassilo III. von Bayern (S. 452–454) und König Hariold von Dänemark (S. 454–456) allerdings nicht gänzlich den neuesten Forschungsstand reflektieren. Steiger hält einerseits die Vasallität in der Beziehung zwischen zwei Mächten für eine „völlig neue, einzigartige rechtliche Institution neben foedus und societas“ (ebd. S. 451), die erstmals zur Karolingerzeit sichtbar sei (siehe auch ebd. S. 224f.), relativiert aber seine Annahme von deren Existenz, indem er es für entscheidend hält, dass die Quellenautoren meinten, die Vasallität sei „eine adäquate Erfassung der betreffenden Verhältnisse“ gewesen (S. 457). Zum Militär der Karolinger vgl. grundsätzlich Bernard Bachrach, Early Carolingian Warfare. Prelude to Empire, Philadelphia 2001.

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Diese eigentlich drei militärgeschichtlichen Modelle (a) des Lehnswesens und/oder (b) der Wehrpflicht der Freien als der „vollberechtigten Mitglieder des politischen Verbandes“ (Volksheer) und/oder (c) der Gefolgschaft (Privatarmee/„warband“) untersucht Christoph Haack in seiner Dissertation erneut und setzt sie erstmalig in wechselseitigen Bezug zueinander und zum politischen System.21 Er kommt noch dezidierter als Susan Reynolds zu dem Ergebnis, dass es eine Fehldeutung der Theorie vom Lehnswesen ist, im fränkischen Panzerreiter den Prototyp des hochmittelalterlichen Ritters zu sehen. Seine systematische Durchsicht der Kapitularien Karls des Großen (768–814) und Ludwigs des Frommen (814–840) ist ernüchternd, denn das Lehnswesen gemäß der Definition von Heinrich Mitteis als nicht nur zufällige, sondern kausale Verbindung des dinglichen Elements des Lehens mit dem personalen Element des Vasall-Seins ist in diesen Herrschererlassen nicht erkennbar. In nur sieben Kapiteln der etwa 200 edierten Kapitularien werden Vasallen als Besitzer eines beneficium erwähnt, und selbst da fehlt die semantische Eindeutigkeit, die es ermöglichen würde, das Leihegut als ein Lehen im Sinne des Modells vom Lehnswesen zu klassifizieren.22 Das Hauptproblem bei der Einschätzung des Stellenwerts der Vasallen ist nicht, ob es sie gegeben hat oder nicht, denn ihre Existenz ist unbestritten, sondern inwiefern sie der personale Kern eines das Militär und den Staat umfassenden Lehnswesens gewesen sind. Als problematisch für eine solche Bewertung erweist sich ihr eher marginales Erscheinen in den Erlassen der karolingischen Herrscher, in urkundlichen Rechtstexten, in Wirtschaftsbüchern und in narrativen Quellen. Die jüngere Debatte kreist – nicht neu, sondern erneut – um diese Frage. Bereits Walther Kienast ist aufgefallen, wie selten Vasallen in karolingerzeitlichen Quellen erwähnt werden. Dessen ungeachtet machte er sich die Mühe, die namentlich erwähnten Vasallen des 8. und 9. Jahrhunderts aufzulisten. Ein Beispiel sei hier als pars pro toto angeführt. Kienast zählt für die Regierungszeit König Pippins  I. (751–768) nur sechs Vasallen.23 Bei genauerem Hinsehen sind es jedoch noch weniger, nämlich nur drei Personen, die Vasall genannt werden. Die übrigen – ein Graf, ein Abt und ein Bischof – haben zwar von Pippin ein beneficium erhalten, werden aber nicht als Vasallen bezeichnet. Dies sei mit Rücksicht auf ihren „höheren Amtstitel“ unterblieben, obwohl sie „sachlich“ Vasallen gewesen seien.24 Das ist eben das, 21 Die Zitate finden sich beispielsweise bei Haack, Krieger der Karolinger (wie Anm. 20), S. 206 und S. 94. 22 Ebd., S. 75f. 23 Walther Kienast, Die fränkische Vasallität. Von den Hausmeiern bis zu Ludwig dem Kind und Karl dem Einfältigen, hg. von Peter Herde (Frankfurter wissenschaftliche Beiträge. Kulturwissenschaftliche Reihe 18), Frankfurt am Main 1990, 162–165. 24 Ebd., S. 162.

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was Susan Reynolds als Verzerrung der Wahrnehmung durch die Brille des Lehnswesens versteht. Nur unter der Annahme, dass eine Kommendation samt Eidesleistung und die Vergabe eines beneficium im lehnsrechtlichen Sinne stattgefunden hat, also unter ziemlich vielen hypothetischen Voraussetzungen, die allesamt auf das Modell des Lehnswesens zurückzuführen sind, kann die Forschung im Benefizienbesitz das Verhältnis eines Vasallen zu seinem Lehnsherrn erblicken, auch wenn die Bezeichnung Vasall in den Quellen unterbleibt. Für die lange Regierungszeit Karls des Großen (768–814) sieht es übrigens nicht besser aus. Kienast listet 24 Königsvasallen auf, wobei auch diese Liste Grafen und Getreue einschließt, von denen lediglich bekannt ist, dass sie ein Leihegut vom Herrscher besaßen. Ebenso mager ist das Ergebnis für die übrigen Karolingerkönige und -kaiser. Kienast diskutiert ausgiebig die teilweise durchaus schon kritischen Forschungsmeinungen, die sich bereits mit der Frage beschäftigten, ob anders benannte Personengruppen wie leudes, milites, fideles, ministeriales, homines etc., die unter anderem auch Kriegsdienst leisteten, dem Herrscher durch Vasallität verbunden gewesen seien. Er entscheidet sich dann aber für die seit Heinrich Mitteis und François Louis Ganshof traditionelle Sichtweise, indem er von einer großen Anzahl von Vasallen ausgeht. Er vermutet in Bezug auf den narrativen Berichterstatter Astronomus, als „Wort der Volkssprache wird es [i. e. vassus/vassallus B. K.] aus stilistischen Gründen vermieden“.25 Während die ältere Forschung, von Ausnahmen abgesehen,26 also eher von einem großen Personenkreis von Vasallen ausgeht, zieht die jüngere Forschung aus der relativen Seltenheit der Erwähnung von Vasallen in den karolingerzeitlichen Quellen völlig andere Schlussfolgerungen. Susan Reynolds fordert, puristisch vorzugehen und nur die Personen oder Kollektive als Vasallen zu betrachten, die in den Quellen tatsächlich so genannt werden. Alles andere führe zu einem Konstrukt von Lehnswesen, das die Vielfalt der existierenden sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Beziehungen verschleiere.27 Schon bei der Untersuchung der Vasallität zeichnet sich ihre zweite Haupt25 Ebd., S. 185. 26 Vgl. z. B. Charles Odegaard, Vassi and Fideles in the Carolingian Empire (Harvard Historical Mono­ graphs 19), Cambridge, Mass. 1945, Nachdruck New York 1972, geht von einem eher überschaubaren Personenkreis aus. Während fideles die Sammelbezeichnung für alle Personen gewesen sei, die in einem Treueverhältnis zum Herrscher standen, darunter durchaus auch die Vasallen, so seien als Vasallen jedoch nur diejenigen bezeichnet worden, die in der Hauptsache Kriegsdienste leisteten, also eine Art Berufskrieger gewesen seien. Letzteres scheint heute fraglich zu sein. 27 Reynolds, Fiefs and Vassals (wie Anm. 5), S. 47  : „I think, however, that we can best make sense of all the varying relations that we seem to find in the sources if we stop trying to fit them into the construct of vassalage or measuring their importance against vassalage. Studying medieval society or politics through vassalage will never get us further, because those who undertake it are almost bound to have decided what is there to be found.“ Siehe auch ebd., S. 32 unten.

Zum Deutungsstreit über das Lehnswesen im Frühmittelalter 

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these ab, dass es der akademisch geschulten, professionellen Juristen des Hochmittelalters, ja sogar erst des 16./17. Jahrhunderts bedurft habe, um die Vielfalt der personalen Beziehungen und Abhängigkeiten rechtlich zu klassifizieren und zu differenzieren, kurzum ein vereinheitlichendes, Unterschiede in gewissem Maße nivellierendes System zu schaffen. Vorher finde sich wohl kaum ein Hinweis darauf, dass zwischen dem König als Herrscher und dem König als Lehnsherrn unterschieden worden sei.28 Christoph Haack relativiert die Bedeutung von Vasallen für die fränkische Organisation des Heeres nicht zuletzt aufgrund ihrer vergleichsweise seltenen Erwähnung in zudem hermeneutisch nicht eindeutig interpretierbaren Quellen. Der Kriegsdienst sei eine gemeinschaftliche Aufgabe vor allem der Freien als der „vollintegrierten Mitglieder des politischen Verbandes“.29 Vasallen seien zwar im Rang niedriger als Bischöfe, Äbte, Äbtissinnen und Grafen,30 erfüllten jedoch die gleichen multifunktionalen Aufgaben wie diese. Ihre besondere Bedeutung als professionelle Reiterkrieger lehnt Haack ab. Sein diesbezügliches Fazit lautet  : „Reiterkrieger sind also weder als beherrschende Truppengattung karolingischer Armeen belegbar, noch sind sie zeitlich oder kulturell spezifisch für die Franken der Zeit um 800.“31 Mit seiner Untersuchung dekonstruiert er das Lehnswesen als militärhistorisches Modell für das fränkische Frühmittelalter. Damit entfällt auch die angeblich neue, frühmittelalterliche militärische Organisation als ein Argument für die Abgrenzung der Epoche des Mittelalters von der Antike, wie er zu Recht betont. Des Weiteren sind an seiner Untersuchung der fränkischen Herrschererlasse seine quellenkritischen Bedenken innovativ. Ob die von ihm untersuchten Kapitellisten der ursprünglichen Fassung entsprachen, sei keineswegs sicher, denn, wie er an einem Beispiel erläutert, könnten sie durch einen späteren Schreiber des 10.  Jahrhunderts umgeformt und auf seine Zeit passend gemacht worden sein.32 Fundamentale Quellen werden dadurch der einseitig lehnsrechtlichen Deutung entzogen, so dass das Modell des Lehnswesens von Heinrich Mitteis und François Louis Ganshof hypothetischer wird, als es vor dem gegenwärtigen Meinungsstreit in der jüngeren Mediävistik der Fall war. Ob sich aus der militärhistorischen Perspek­ tive neue Deutungsstreitigkeiten innerhalb der jüngeren Mediävistik entwickeln, bleibt abzuwarten. 28 Ebd., S. 36  : „The dictinction between the king as king and as ‚feudal lord‘, confidently as it is drawn in modern works, is hard to find in the sources before the age of academic and professional law, and is not always obvious then.“ 29 Haack, Krieger der Karolinger (wie Anm. 20), S. 217. 30 Ebd., S. 82. 31 Ebd., S. 227. 32 Ebd., S. 78f.

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Wirtschaft und Soziales Die ökonomischen und gesellschaftlichen Komponenten des Lehnswesens – auch jene unterhalb des Königtums – zu berücksichtigen, erfordert eine Beschäftigung mit der Bezeichnung beneficium, d. h. mit dem dinglichen Element des Lehnswesens. Da dieser Begriff aber in den Grenzbereich zwischen Rechts- und Verfassungsgeschichte einerseits und Wirtschafts- und Sozialgeschichte andererseits führt, hat er wegen der wissenschaftlichen Spezialisierungen auf die eine oder die andere der genannten Disziplinen keine so ausgeprägte Kontroverse hervorgerufen, wie sie in der Militär- und Politikgeschichte der Mittelalterforschung entstanden ist. Es wird im Folgenden daher nochmals Grundsätzliches zur Sprache kommen müssen. Unstreitig zwischen älterer und jüngerer Forschung ist, dass das beneficium als Landleihe seinen Ursprung nicht im abendländischen Frühmittelalter, sondern in der römischen Antike hat.33 Es ist außerdem immer schon gesehen worden, dass das dingliche Element des Lehnswesens, das beneficium, sowohl ein polysemantischer Begriff ist, als auch unterschiedliche Formen von Leihegütern so benannt wurden.34 Anfangs bezeichnete das Wort beneficium ein auf ethischen Werten beruhendes Rechtsverhältnis ohne wechselseitige Verpflichtungen, etwa einen Freundschaftsdienst, eine Übereignung ähnlich einer Schenkung aus dem eigenen Vermögen, eine Wohltat, und unterschied sich insofern von einer Übertragung zur Nutzung, scheint aber zu Beginn eher auf mobile Leihegüter angewandt worden zu sein.35 Daneben 33 Reynolds, Fiefs and Vassals in Twelfth-Century Jerusalem (wie Anm. 19), und vor ihr bereits z. B. Hans von Voltelini, Prekarie und Benefizium, in  : Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 16, 1922, S.  271f.; Ernst Levy, Vom römischen Precarium zur germanischen Landleihe, in  : Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 66, 1948, S. 1–30  ; Claudio Sánchez-Albornoz, El precarium en Occidente durante los primeros siglos medievales, in  : Ders., Estudios sobre las instituciones medievales españolas, Mexico 1965, S. 521–546. 34 Vgl. z. B. Émile Lesne, Les diverses acceptations du terme beneficium du VIIIe au Xe siècle, in  : Revue historique de droit français et étranger, sér. 4,3, 1924, S.  5–56  ; Mitteis, Lehnrecht (wie Anm.  17), S. 107f.; Paul Fouracre, The Use of the Term beneficium in Frankish Sources. A Society Based on Favours  ?, in  : Wendy Davies/Paul Fouracre (Hg.), The Languages of Gift in the Early Middle Ages, Cambridge 2010, S. 62–88. 35 Mitteis, Lehnrecht (wie Anm.  17), S.  108  ; Barbara Berndt, Das commodatum. Ein Rechtsinstitut im Wandel der Anschauungen – dargestellt anhand ausgewählter Einzelprobleme (Europäische Hochschulschriften, Reihe II, 2, Bd. 4138), Frankfurt am Main 2005, S. 55–59. Zum Fortleben und zur Abgrenzung weiterer spätantiker Leihe- und Pachtverträge wie locatio conductum, Emphyteuse, Libellar im früh- und hochmittelalterlichen Italien vgl. Frank Theisen, Studien zur Emphyteuse in ausgewählten italienischen Regionen des 12. Jahrhunderts  : Verrechtlichung des Alltags  ? (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 162), Frankfurt am Main 2003  : „Neben der Emphyteuse gab es in der ausgehenden Antike und im Frühmittelalter weitere Pachtinstitute, die nicht mit ihr übereinstimmen“

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wurde es bereits im Frühmittelalter auf „das dingliche Substrat des Rechtsverhältnisses selbst“ übertragen.36 Es entwickelte sich also zu einem technischen Ausdruck für das Objekt eines Pachtvertrags  ; das Nomen beneficium oder das Verb beneficiare ist in den zahlreichen Prekarien („Bittleihen“) der Karolingerzeit enthalten.37 Prekarien sind eine Art Pachtvertrag gewesen, initiiert durch die Bitte des Leihnehmers. In fränkischer Zeit waren sie am weitesten in der Form verbreitet, dass ein Grundbesitzer – klein oder groß, arm oder vermögend, sozial bedroht oder mächtig, Mann oder Frau – einen Teil seines Grundbesitzes einem Großgrundbesitzer übereignete, quellenkundlich bedingt meistens an eine kirchliche Institution, um sein aufgetragenes Gut zum Nießbrauch/Usufrukt zurückzuerhalten, manchmal vermehrt durch ein weiteres Gut des Großgrundbesitzers oder auch im Tausch gegen ein anderswo gelegenes Leihegut. Ihr antiker Ursprung (römisch  : precarium) aus dem Zusammenhang von Steuer-, Abgaben-, Heeres- oder Dienstleistungsflucht und der damit verbundenen Begründung von Kolonat oder Patronat ist in neuen Studien für das weströmische Reich umfassend dargelegt worden. Schon damals konnte eine Landauftragung durch den Kolonen erfolgen und wurde der Vorgang als ein beneficium des Verpächters bezeichnet.38 Ebenso schenkten Klienten Land einem Patron, der ihnen dasselbe als Leihegut in Form von Usufrukt, Prekarie oder Emphyteuse zur Pacht wieder zurückgab.39 Es ist also nicht verwunderlich, dass bereits frühneuzeitliche Juristen ebenso wie später Teile der historischen und rechtshistorischen Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts in der frühmittelalterlichen Prekarie einen Vorläufer des Lehens im lehnrechtlichen Sinne sehen wollten.40 (ebd., S. 45)  ; „Diese Unterscheidungen waren auch für die mittelalterlichen Juristen von Relevanz, als sie sich mit den für sie neuen Rechtsquellen wissenschaftlich auseinanderzusetzen begannen“ (ebd., S. 47). 36 Mitteis, Lehnrecht (wie Anm. 17), S. 108. 37 Ebd.; Brigitte Kasten, Beneficium zwischen Landleihe und Lehen – eine alte Frage, neu gestellt, in  : Dieter R. Bauer/Rudolf Hiestand/Brigitte Kasten/Sönke Lorenz  (Hg.), Mönchtum – Kirche – Herrschaft 750–1000, Sigmaringen 1998, S.  243–260, hier S.  253f.; zur Bezeichnung „Bittleihe“ vgl. Oliver Schipp, Der weströmische Kolonat von Konstantin bis zu den Karolingern (332 bis 861) (Studien zur Geschichtsforschung des Altertums 21), Hamburg 2009, S. 455. 38 Schipp, Der weströmische Kolonat (wie Anm.  37), S.  455–457, zu Ähnlichkeiten zwischen dem spätantiken Kolonen und dem frühmittelalterlichen Prekator als Landpächter. 39 Jens-Uwe Krause, Spätantike Patronatsformen im Westen des Römischen Reiches (Vestigia. Beiträge zur alten Geschichte 38), München 1987, S. 254–263  ; Theisen, Studien zur Emphyteuse (wie Anm. 35), S. 14–47. 40 Brückner, Lehnsauftragung (wie Anm. 14), S. 385–407. In jüngerer Zeit vgl. Philippe Depreux, L’apparition de la précaire à Saint-Gall, in  : Régine Le Jan/François Bougard (Hg.), Les transferts patri­ moniaux en Europe occidentale, VIIIe–Xe siècle (Mélanges de l’École Française de Rome 111), Rom 1999, S. 649–673, hier S. 667 mit Anm. 142.

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Das Modell des Lehnswesens erfordert, das Wort beneficium mit Lehen zu übersetzen, wenn sich ein solches Leihegut in den Händen eines Vasallen befindet. In diesem Punkt stimmt ein Teil der jüngeren Forschung41 mit der älteren überein, denn beispielsweise bereits Ganshof wollte die weitverbreiteten, auch als beneficia bezeichneten Leihegüter von den vasallitischen beneficia durch eine genaue Textanalyse unterscheiden.42 Er möchte vor allen Dingen die Prekarien von den Lehen aussondern, wie auch die ältere deutsche Forschung zwischen Zinsleihen (Prekarie, bäuerlichem Lehen, nicht-vasallitischem Lehen) und vasallitischen (ritterlichen) Lehen differenzieren zu können glaubte.43 Heinrich Mitteis hält ein solches Unterfangen allerdings für aussichtslos. Er meint  : „Freilich kommt in dieser Zeit [i. e. Karolingerzeit] der Ausdruck [i. e. beneficium] meist schon in der konkreteren Bedeutung irgendeiner materiellen Zuwendung vor  ; aber das muß noch nicht unbedingt eine Landvergabung oder Landleihe und erst recht nicht eine vasallitische Leihe sein.“44 Ein anderer Teil der jüngeren Forschung teilt diese Skepsis. Diese beruht auf einer erneuten Sichtung von Prekarieverträgen. Wenn sich prekarische Leihegüter in der Hand von Vasallen befinden – und dies trifft beispielsweise bei jeder precaria verbo regis für einen Vasallen zu, also bei jedem beneficium aus Kirchenbesitz, das auf Befehl des karolingischen Königs an seine Vasallen ausgegeben wurde –, dann kann ein solches Leihegut wohl kaum für ein Lehen im lehnrechtlichen Sinne gehalten werden. Gerade in diesen Fällen trifft die kausale Verbindung von Vasallität und Lehen nicht zu, weil der Herr des Vasallen nicht zugleich der Leihgeber des Lehens und folglich das Vasall-Sein nicht die Voraussetzung für die Vergabe des Leihguts gewesen ist.45 41 Vgl. z. B. Patzold, Lehnswesen (wie Anm.  1), S.  13  : „Als ‚Lehen‘ bezeichne ich deshalb nur jene spezifische Form der Leihe, die gebunden ist an eine ebenfalls spezifische personale Bindung, eben die Vasallität.“ Das ist insofern problematisch, als das beneficium von Vasallen, wie in etlichen Fällen nachweislich, eine prekarische Landleihe war, also außerhalb der lehnsrechtlichen Bindungen stand, da die notwendige Kausalität des Vasall-Seins als Voraussetzung für die Vergabe eines Leihegutes nicht nachzuweisen ist. 42 François Louis Ganshof, Benefice and Vassalage in the Age of Charlemagne, in  : The Cambridge Historical Journal 6, 1938/39, S. 147–175, hier S. 159  : „It is necessary, therefore, in examining the texts, to eliminate all those which do not quite clearly and indisputably refer to vassal benefices.“ 43 Zum älteren Forschungsstand vgl. Kienast, Fränkische Vasallität (wie Anm. 23), S. 140f.; Kasten, Beneficium zwischen Landleihe und Lehen (wie Anm. 37), S. 243–245. 44 Mitteis, Lehnrecht (wie Anm.  17), S.  108  ; ferner Wilhelm Ebel, Über den Leihegedanken in der deutschen Rechtsgeschichte, in  : Studien zum mittelalterlichen Lehnswesen (Vorträge und Forschungen 5), Lindau/Konstanz 1960, S. 11–36, hier S. 14  : „Erst die lehnrechtsgeschichtliche Forschung unserer Tage … hat offensichtlich nur das militär-vasallitische Lehen zum Leitbild genommen, es zum Lehen schlechthin erklärt“  ; Brückner, Lehnsauftragung (wie Anm. 14), S. 393. 45 Belege z. B. bei Kasten, Beneficium zwischen Landleihe und Lehen (wie Anm.  37), S.  252f. mit

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Darüber hinaus gibt es auch sonstige, nicht-königliche Vasallen, deren beneficium eine Prekarie war. Die jüngere Forschung zieht aus der begründeten Skepsis jedoch andere Konsequenzen als Heinrich Mitteis. Sowohl die Historikerin Susan Reynolds als auch der Jurist Thomas Brückner setzen an der kontextualisierten Untersuchung der Vorstellungen von Eigentum (proprietas, dominium) an, wobei insbesondere der Letztgenannte die verschiedenen rechtswissenschaftlichen Konzeptionen der Frühen Neuzeit und der Moderne hinsichtlich der Bedeutung der Begründung einer Leihe kritisch analysiert, nämlich die Lehnsauftragung z. B. als Umwandlung von Allodialgut in Lehnsgut, als Veräußerung, als geteiltes Eigentum oder als gewere.46 Während die jüngere Forschung in der Regel auf einer wortgenauen Bezeichnung des Leihnehmers als Vasall besteht, um ein Lehnsverhältnis anzunehmen, unterstellt die ältere Forschung Prekatoren,47 die mit homo, miles oder fidelis, ja sogar als Graf bezeichnet werden, auch sie seien Vasallen gewesen. Damit wird nicht nur der Kreis der vasallitischen Prekatoren erweitert oder Prekatoren zu Vasallen gemacht, sondern auch der Begriff beneficium für das Leihegut als Lehen auf der Basis eines Prekarievertrags interpretiert. Das wird derzeit in etlichen lokal- und regionalgeschichtlichen Untersuchungen kritisch hinterfragt, ohne dass sich bisher überall eine neue herrschende Meinung abzeichnet. Hier helfen Modelle wegen ihrer Tendenz, ein Vorverständnis beziehungsweise eine bestimmte „Lesart“ zu erzeugen, nicht weiter. Kontroverse Sichtweisen auf die ökonomischen und sozialen Bedingungen des dinglichen Elements des Lehnswesens lassen sich weder erklären noch gar lösen, wenn die Begrifflichkeit der Quellen nicht genauer untersucht und kontextualisiert wird. Daher soll im Folgenden nochmals auf Quellenaussagen hingewiesen werden, die es sehr bedenklich erscheinen lassen, beneficium stets mit „Lehen“ zu übersetzen, wie Anm. 42 und 44. Belege dieser Art lassen sich mehren  ; vgl. z. B. Depreux, Apparition (wie Anm. 40), S. 667. Hans-Werner Goetz, Staatlichkeit, Herrschaftsordnung und Lehnswesen im ostfränkischen Reich als Forschungsproblem, in  : Il feudalesimo nell’alto medioevo (Settimane di studio del Centro Italiano di studi sull’alto medioevo 47), Spoleto 2000, S. 85–147, hier S. 119f., zählt in den 709 original erhaltenen Urkunden von St. Gallen (724–919) nur 16 beneficia im Vergleich zu 431 Prekarien  ; zwei beneficia waren in den Händen von Vasallen. 46 Reynolds, Fiefs and Vassals (wie Anm. 5), S. 53–74  ; Brückner, Lehnsauftragung (wie Anm. 14), S. 17–40. 47 In der Literatur findet sich der Kunstbegriff „Prekarist“. Hier wird dem Quellenbegriff precator der Vorzug gegeben. Die Prekatorin wird in den Quellen als precatrix bezeichnet. Beispiele finden sich in den Urkunden von St. Vanne in Verdun und Gorze bei Metz. Laurent Morelle, Les „actes de précaire“, instruments de transferts patrimoniaux (France du Nord et de l’est, VIIIe–XIe siècle), in  : Le Jan/Bougard (Hg.), Les transferts patrimoniaux (wie Anm. 40), S. 607–647, hier S. 615, kennt den Quellenbegriff precator, bevorzugt jedoch für die Darstellung den Terminus „précariste“.

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es beispielsweise von den Bearbeitern der Regesta Imperii der Karolinger getan wurde.48 Die Prekarienforschung trägt durchaus zur Debatte um das Lehnswesen bei, obgleich innerhalb dieses engeren Wissenschaftsbereichs keine Deutungsunterschiede auszumachen sind. Es stiftet nämlich Verwirrung in der modernen Historiographie, wenn die precaria eines Vasallen als „Lehen“ im lehnrechtlichen Sinne übersetzt wird, bloß weil die Prekarie auch als beneficium und/oder der Vorgang als beneficiare bezeichnet wurde. Dies zu unterlassen, empfiehlt sich aufgrund von Urkunden, in denen der Leihgeber klar definiert, dass das beneficium genannte Leihegut zu den Bedingungen der Prekarie ausgegeben wird, d. h. mit einem Jahreszins belegt ist, ferner die Verfügungsmacht des Leihnehmers in Bezug auf eigentumsrechtliche Handlungen verboten ist, und es den Verlust des Leiheguts zur Folge haben soll im Falle der Zuwiderhandlung gegen das eine oder das andere.49 Beneficiare ist demzufolge in solchen, durchaus zahlreichen Fällen besser mit „beleihen“ oder „zur Nutzung gewähren/überlassen“ als mit „belehnen“ zu übersetzen, um zu einer angemessenen kontextualisierten Rekonstruktion des historischen Vorgangs zu gelangen. Das Deutungsproblem verschärft sich, werden Rechtsformeln des 8. und 9. Jahrhunderts wie ius beneficii oder ius beneficiarium bereits mit „Lehnrecht“ übersetzt, denn es handelt sich tatsächlich nur um ein Nießbrauchrecht, um das Recht des Usu­ frukts. Die Begriffe usus beneficii und usus fructuarius können synonym gebraucht werden.50 Das vermeintliche Lehnrecht hat es zur Karolingerzeit in Bezug auf die Landleihe sehr wahrscheinlich noch nicht gegeben. Es hat aber ein prekarisches Recht gegeben, das auch als Gesetz (lex ohne Zusatz) oder mit Zusatz als prekarisches Gesetz (precaria lex) der Landleihe bezeichnet worden ist.51 Das ius beneficii 48 J. F. Böhmer/Engelbert Mühlbacher, Regesta Imperii I  : Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751–918 (926), Innsbruck 1908  ; Morelle, Actes de précaire (wie Anm. 47), S. 619, ist gleichfalls der Meinung, dass precaria eine Form des beneficium war  : „la concession en précaire est bien une forme de beneficium“. 49 Beispiel  : Hermann Bloch, Die älteren Urkunden des Klosters S. Vanne zu Verdun, in  : Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte und Altertumskunde 10, 1898, S. 338–449, hier Nr. 2 (771 Juli 1), S. 379  : et vos mihi pro beneficio vestro sancto Vitono habere promisistis  ; ideo et ego spondeo pro huius vinculo precarie, ut annis singulis in censu … faciam dare. … aut si ipsas res meum proprium esse dixero aut alienare voluero, potestas vestra sit successorumque vestrorum me exinde foras mittere et cum emelioratione res vestras recipere. 50 Albert Bruckner, Regesta Alsatiae aevi Merowingici et Karolini 1 (496–918), Straßburg/Zürich 1949, Nr. 125 = Urkunde des Klosters Murbach (735 Juli 24), S. 65  : Ut michi in usum beneficii rem ecclesie vestre … concedere deberetis. … In ea racione, ut … ad usum fructuarium ordine tenere debeam … 51 Zur Sache mit Belegen vgl. Brigitte Kasten, Das Lehnswesen – Fakt oder Fiktion  ?, in  : Walter Pohl/ Veronika Wieser (Hg.), Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven (Forschungen zur

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ist von der Sache her nichts anderes gewesen als das ius precarium (ius prestarium, mos precarius, precaria lex), das ebenfalls das Nießbrauchrecht, die Leihe unter der Bedingung des Usufrukts bezeichnet.52 Das ius precarium regelt Fälle des Zahlungsverzugs oder -ausfalls des vereinbarten Jahreszinses. Hier gab es vertraglich festzuschreibende Handlungsspielräume. Manchmal wurde die Begleichung der Zinsschuld schon nach 40 Nächten verlangt oder nach Überschreitung der Frist von 40 Tagen der Einzug der Prekarie angedroht, manchmal die Nachzahlung später innerhalb desselben Jahres oder im nächsten Jahr in doppelter Höhe zum üblichen Zinstermin gestattet. Der Leihgeber konnte bei nachlässiger Zinszahlung oder Zinsausfall eine Bürgschaft fordern. Es gibt aber auch Fälle, in denen ein Zinsverzug von drei bis vier Jahren akzeptiert, ja sogar ausgeschlossen wird, dass der Prekator bei Ausfall der Zinszahlung sein Leihegut verliert.53 Es spricht daher einiges dafür, sowohl das ius precarium als auch das ius beneficii für ein Nutzungs- und insbesondere das Erstere für ein Zinsrecht zu halten und beide dementsprechend mit „prekarischem Leiherecht“ bzw. „Leiherecht“ zu übersetzen, eventuell auch mit Zinsrecht, wenn die Zinsmodalitäten genau geregelt werden. Geschichte des Mittelalters 16), Wien 2009, S. 331–353, hier S. 342 mit Anm. 85, S. 343 mit Anm. 86 und 88. Es gibt auch Urkunden, in denen das Gesetz selbst als Gunsterweis bezeichnet wird (cum legis beneficio), in einem spezifischen Fall, als dem Leihnehmer die Möglichkeit zugestanden wird, schuldig gebliebene Zinsen nachzuzahlen  ; vgl. ebd., S. 343 mit Anm. 87. 52 Robert-Henri Bautier, Les origines de L’abbaye de Bouxières-aux-Dames au diocèse de Toul. Recon­ stitution du chartrier et édition critique des chartes antérieures à 1200 (Recueil des documents sur l’histoire de Lorraine 27), Nancy 1987, Nr. 2 (923 September 19), S. 66  : sub usu fructuario more precario … valeant habere. Zum Vergleich siehe ebd., Nr. 1 (912 Februar 12), S. 64  : possideant jure siquidem beneficiario et usu fructuario. Belege für die oben genannten sprachlichen Varianten zum Prekarien­recht bei Kasten, Lehnswesen – Fakt oder Fiktion (wie Anm. 51), S. 343f. Vgl. Laurent Feller, Précaires et livelli. Les transferts patrimoniaux ad tempus en Italie, in  : Le Jan/Bougard (Hg.), Les transferts patrimoniaux (wie Anm. 40), S. 725–746, hier S. 729 und S. 731, mit Belegen für die Formulierung sub beneficiali ordine in Prekarien, die unter fränkischer Herrschaft in Italien abgeschlossen wurden  ; Libor Jan, Rezension im Deutschen Archiv 73 (2017), S. 405 f. über Jan Zelanka, Beneficium et feudum. Podoba a proměny lenního institutu [Gestalt und Wandlungen des Lehnswesens], Prag 2016, der in dieser Monographie in Bezug auf sächsische Urkunden das ius beneficiale nicht für ein Vasallenrecht, sondern für eine Rechtsform der Bodenleihe hält. 53 Kasten, Lehnswesen – Fakt oder Fiktion (wie Anm. 51), S. 343  ; Brigitte Kasten, Agrarische Innovationen durch Prekarien  ?, in  : Dies. (Hg.), Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft (bis ca. 1000). Festschrift für Dieter Hägermann (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 184), Stuttgart 2006, S. 139–154, hier S. 146. Zum prekarischen Zins im elsässischen Raum zur Frankenzeit vgl. Hans J. Hummer, Politics and Power in Early Medieval Europe. Alsace and the Frankish Realm 600–1000 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought 4/65), Cambridge 2005, S. 76–129.

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Wie die Doppelung ius precarii ac beneficii zu deuten ist, die vereinzelt und dazu lediglich in einer narrativen Quelle vorkommt, muss zurzeit offenbleiben. Diese Formulierung kommt offenbar einzig im Tatenbericht der Äbte von Saint-Wandrille vor, der wohl in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts entstanden ist, dessen älteste Handschrift allerdings erst aus dem 11. Jahrhundert überliefert ist. Über Ansegisus, der später Abt dieses Klosters wurde (823–833) heißt es dort, dass er während des Abbatiats seines Verwandten Gervold in das Kloster eintrat und dort die Tonsur als Mönch erhielt. Bald darauf wurde er an den Hof Karls des Großen gebracht, wo er dem König – möglicherweise durch die Geste des Handgangs (in manus gloriosissimi regis Karoli commendare) – kommendiert wurde.54 Eine solche (Knaben-)Kommendation durch Dritte steht nach gängiger Forschungsmeinung in keinem vasallitischen Zusammenhang, sondern war für vornehme Familien die übliche Methode, den männlichen Nachwuchs gut ausbilden zu lassen, in der Hoffnung, dass dieser danach in Amt und Würden gelangte oder ein sonstiges gutes Auskommen hatte.55 Nach dem Tod seines Verwandten (wohl kurz vor 807) folgte zunächst nicht Ansegisus in der Klosterleitung von Saint-Wandrille nach. Er wurde kurz darauf vielmehr mit einem anderen Kloster ausgestattet. Er erhielt das Kloster Saint-Germer-de Fly im Beauvaisis 807 von Kaiser Karl dem Großen als Prekarie (in precarium accepit) und hatte, während er gleichzeitig in der Pfalz Aachen unter Einhard das Amt des exactor operum regalium ausübte, die Leiherechte von Prekarie und Benefizium an diesem Kloster inne (iure precarii ac beneficii tenet).56 Die Formulierung iure precarii ac beneficii kann wie ein Hendiadys die Ausdruckskraft der rechtlichen Leihebedingung verstärken, indem zwei Synonyme miteinander verbunden werden. Sie kann aber im

54 Gesta sanctorum patrum Fontanellensium coenobii, ed. Fernand Lohier/Jean Laporte, Rouen 1936, S. 93. Zur Datierung der Gesta vgl. Ian Wood, Saint-Wandrille and its Hagiography, in  : Ders./G. A. Loud (Hg.), Church and Chronicle in the Middle Ages. Essays Presented to John Taylor, London 1991, S. 1–14. 55 Detlef Illmer, Zum Problem der Emanzipationsgewohnheiten im merowingischen Frankenreich, in  : L’Enfant 2 (Recueils de la société Jean Bodin pour l’histoire comparative des institutions 36), Brüssel 1976, S. 127 – 168  ; Kasten, Lehnswesen – Fakt oder Fiktion (wie Anm. 51), S. 349f.; Oliver Salten, Vasallität und Benefizialwesen im 9. Jahrhundert. Studien zur Entwicklung personaler und dinglicher Beziehungen im frühen Mittelalter (Texte zur historischen Forschung und Lehre 1), Hildesheim 2013, S. 165–187  ; Yitzhak Hen, Kultur und Religion zur Zeit Pippins des Jüngeren, in  : Patrick Breternitz/ Karl Ubl  (Hg.), Pippin der Jüngere und die Erneuerung des Frankenreichs (Relectio 3), Ostfildern 2020, S. 11–20, hier S. 15f., zur Ausbildung junger Adeliger am Hof. Franz Staab, Knabenvasallität in der Familie Karls des Großen, in  : Franz-Rainer Erkens (Hg.), Karl der Große und das Erbe der Kulturen (Akten des 8. Symposiums des Mediävistenverbandes, Leipzig 15.–18. März 1999), Berlin 2001, S. 67–85, geht hingegen von der Vasallität der durch Dritte kommendierten Jungen aus. 56 Gesta sanctorum patrum Fontanellensium (wie Anm. 54), S. 93f.

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Gegenteil auch unterschiedliche Inhalte aus zwei verschiedenen Leiherechten durch die additive Verbindung summieren. Wie werden also in den Tatenberichten der Äbte von Saint-Wandrille die sonstigen Übernahmen von Klosterleitungen beschrieben  ? In der Regel als Übernahme einer Herrschaft, zugewiesen durch einen weltlichen Machthaber  ! Hugo, Enkel des Hausmeiers Pippin des Mittleren von dessen Sohn Drogo, erhielt, als er bereits (Erz-) Bischof von Rouen war, wohl 725 die Leitung von Saint-Wandrille (regimen hujus sus­ cepit coenobii).57 Regimen ist auch bei den meisten seiner Nachfolger die Bezeichnung für die Klosterleitung, die bei „schlechter“ Amtsführung als Tyrannei gebrandmarkt wird.58 Das gilt auch für Ansegisus, dem bereits vor Saint-Germer-de-Fly von Karl dem Großen die Leitung von zwei anderen Klöstern anvertraut worden war (ad regendum ab inuictissimo Karolo rege ei commissa fuerant)  : Saint-Sixte nahe bei den Mauern der Stadt Reims und Saint-Menge bei Châlons-sur-Marne.59 Ebenso wird Saint-Wandrille von ihm „regiert“.60 Nur wenige Inhaber des klösterlichen regimen werden als Äbte bezeichnet.61 Einzig bei Ansegisus verwendet der Verfasser der Gesten zusätzlich wirtschaftsrechtliche Begriffe, um die ökonomischen und rechtlichen Modalitäten des Klosterbesitzes darzulegen  : einmal bei Saint-Germer-de Fly (precaria, ius precarii ac beneficii), wie oben erläutert, und ein anderes Mal bei Luxeuil (ius beneficii), das ihm 817 durch Kaiser Ludwig den Frommen verliehen wurde. Der Kaiser habe ihn sehr geehrt, indem er ihm das berühmte Kloster Luxeuil zur Leitung zu Leiherecht gewährt habe (ad regendum beneficii iure eidem contulit).62 Es ist davon auszugehen, dass der oder die Verfasser des Tatenberichts der Äbte von Saint-Wandrille dies mit Bedacht und in Kenntnis der Rechtslage so beschrieben 57 Ebd., S. 37. 58 Ebd., S. 46, S. 47, S. 48, S. 56, S. 57 (iure regiminis tenuit), S. 60 (de ordine regiminis huius coenobii depositus est), S. 62, S. 63, S. 68. 59 Ebd., S. 94. 60 Ebd., S. 92. 61 Es gibt nur eine nach kanonischem Recht vollzogene Abtsbestellung. Zur Zeit des Hausmeiers Pippin des Jüngeren wurde 747 Austrulf mit Zustimmung und Wahl der Mönchsgemeinschaft zum Abt erhoben (ebd., S. 71  : abbas constituitur … cum consensu ac electione fratrum). Er wird zugleich als pater und rector bezeichnet (ebd., S. 71). Auch seine Klosterleitung ist ein regimen (ebd., S. 77). Den Titel Abt erhalten auch Teutsindus und Witlaicus (ebd., S. 79), ebenso Gervoldus (S. 91) und Ansegisus (S. 92). 62 Ebd., S.  95. Die gleiche Wortwahl benutzte auch Wandalbert von Prüm, Commemoratio quemadmodum et a quo cella sancti Goaris fuerit monasterio Prumiae sociata, ed. Oswald Holder-Egger, MGH SS 15,1, Hannover 1887, S. 372  : König Pippin der Jüngere verlieh iure beneficii 765 an Abt Assuer von Prüm (vor 762–804) die Zelle St. Goar ad regendum gegen die Auflage, hospitalitas zu gewährleisten.

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haben. Er oder sie hatten ein großes wirtschaftliches Interesse, da sie zu jedem Abbatiat die ökonomischen Leistungen bzw. Versäumnisse sowie die besitzgeschichtliche Entwicklung des Konvents aufführen. Er oder sie wussten genau, was eine Prekarie ist. So wird beispielsweise berichtet, dass unter dem Abbatiat des Teutsindus (734/5– 743) im Jahre 734/5 Graf Ratharius zwei benannte Güter zu prekarischem Leiherecht (iure precarii) erhalten und dafür einen – ungewöhnlich hohen – Jahreszins von 60 Solidi zu zahlen hatte, der tatsächlich auch bis in die Amtszeit des Abtes Witlaicus (754  ?–787) hinein entrichtet worden sei.63 Als 787, im Todesjahr des Abtes Witlaicus, auf Befehl König Karls des Großen durch Abt Landricus von Jumièges und durch den Grafen Richard der Besitzstand des Klosters aufgezeichnet wurde, waren von den Landgütern, die dem Konvent zur Nutzung überlassen waren, 2395 Mansen als beneficii ausgegeben worden.64 Hinzu kommen die Güter, die der Abt aus seinem Anteil an den Klostergütern den Männern des Königs überlassen oder anderen zum Nießbrauch gewährt hat.65 Unter seinem Nachfolger Gervoldus wurden in noch größerem Umfang Güter an die Männer des Königs zum Besitz überlassen (ad possidendum dereliquit), die bis zum Abschluss des Tatenberichts dem Konvent dauerhaft entzogen blieben.66 Da der Sachverhalt, ein ganzes Kloster als Prekarie zu besitzen, im 8. und 9. Jahrhundert nicht ungewöhnlich war,67 stellt sich die Frage, ob Ansegisus die Klöster Saint-Germer-de-Fly und Luxeuil zu unterschiedlichen Leiherechten besaß, oder anders formuliert, ob das ius precarii ac beneficii kein Synonym ist, sondern tatsächlich zwei verschiedene Leiherechte meint. Für eine Differenzierung spricht, dass einige karolingische Klöster im 9.  Jahrhundert zwischen Prekarien und Benefizien unterschieden haben und beide auf diese oder jene Weise verliehenen Güter getrennt voneinander verzeichnen ließen.68 Außer dieser Tatsache ist jedoch ein materieller 63 Gesta sanctorum patrum Fontanellensium (wie Anm. 54), S. 50f. Vgl. Ian Wood, Teutsind, Witlaic and the History of Merovingian precaria, in  : Wendy Davies/Paul Fouracre (Hg.), Property and Power in the Early Middle Ages, Cambridge 1995, S. 31–52. Die Datierungselemente passen nicht genau zu dem jeweils angegebenen Inkarnationsjahr 734. 64 Gesta sanctorum patrum Fontanellensium (wie Anm. 54), S. 82  : In beneficiis uero relaxati sunt mansi integri numero MMCXX, medii XL, manoperarii CCXXXV, qui simul iuncti fiunt MMCCCXCV, absi CLVI  ; habent ipsi molendina XXVIII. 65 Ebd.: … exceptis his uillis quas [Vuitlaicus] aut regiis hominibus contradidit, aut etiam sub usufructuario aliis concessit … 66 Ebd., S. 87. 67 Belege bei Kasten, Lehnswesen – Fakt oder Fiktion (wie Anm. 51), S. 337f. 68 Kloster Weißenburg im Elsass (1. Drittel des 9. Jahrhunderts), vgl. sog. Brevium Exempla ad describendas res ecclesiasticias et fiscales, ed. Alfred Boretius, MGH Capitularia regum Francorum 1, Hannover 1883, Nr.  128, S.  252f., Kap.  10–15 precariae und Kap.  17–22 beneficia  ; Kloster Bobbio

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Unterschied zwischen beiden Leihetypen nicht erkennbar. Lediglich das Gebot der Schriftlichkeit für Prekarien scheint beide Leiheformen voneinander unterschieden zu haben, was jedoch trotz der zahlreich überlieferten Prekarie- und Prästarie-Urkunden in der Praxis nicht immer einzuhalten war, wie die großen Prozesse des 9. Jahrhunderts um solche Landleihen erweisen.69 Eine ökonomische Differenzierung, etwa nach der Höhe von Zinsabgaben, lässt sich nicht nachweisen. Für Prekarien ist ein in der Regel moderater Jahreszins ohne weitere Dienstleistungen durch die zahlreichen überlieferten Verträge hinreichend belegt. Welche Einnahmen der Leihgeber von Benefizien hatte, ist selten zu ermitteln. Im vorliegenden Fall vermerkt der Bericht über Abt Ansegisus keine Zinszahlung – weder an den Konvent von Saint-Germer-de-Fly (Prekarie und Benefizium) noch an den von Luxeuil (Benefizium), wohl aber einen Jahreszins von 30 Pfund (Solidi) an jenen von Saint-Wandrille, obgleich Ansegisus dieses Kloster unter gewöhnlichen Umständen „regierte“, also nicht zu einem bestimmten Leiherecht erhalten hat.70 Die klösterlichen Wirtschaftsaufzeichnungen, die Polyptycha, bringen leider keine Klarheit. Sie differenzieren zwar gleichfalls zwischen Prekarien und Benefizien, ohne dass jedoch ein relevanter ökonomischer Unterschied – weder in der Größe noch in der rechtlichen Qualität der Hofstätten und Ländereien als Mansen von Freien, Liten oder Hörigen – sichtbar wird. Im Polyptychon des Klosters Saint-Germain-des-Prés erscheinen sowohl Benefizien als auch Prekarien teils mit, teils ohne Abgaben, diese teils als Naturalien, teils als Geldwerte und beide Leiheformen auch ohne Dienste.71 (ausgehendes 10. Jahrhundert), vgl. Mario Nobili, Vassalli su terra monastica fra re e ‚principi‘  : Il caso di Bobbio, in  : Konrad Eubel (Hg.), Structures féodales et féodalisme dans l’occident méditerranéen, Xe–XIIIe siècle. Bilan et perspectives de recherches (Collection de l’École Française de Rome 44), Rom 1980, S. 299–309  ; ferner Laurent Feller, Éléments de la problématique du fief en Italie, in  : Fryde/ Monnet/Oexle (Hg.), Gegenwart des Feudalismus (wie Anm. 3), S. 153–174, hier S. 163f. Vgl. auch die Prästarie des Klosters Prüm für eine Hiedilda (866), in  : Urkundenbuch zur Geschichte der jetzt die Preussischen Regierungsbezirke Coblenz und Trier bildenden Territorien 1, ed. Heinrich Beyer, Coblenz 1860, Nr. 105, S. 110  : ut nullus prelatus licentiam habeat cuiquam ipsas res beneficiare uel commutare aut in prestariam tribuere. Gegen den synonymen Gebrauch und für einen Unterschied zwischen precaria und beneficium sprechen sich auch Morelle, Actes de précaire (wie Anm.  47), S.  643 und S.  646  ; Katharina Gross, Visualisierte Gegenseitigkeit. Prekarien und Teilurkunden in Lotharingien im 10. und 11.  Jahrhundert (Trier, Metz, Toul, Verdun, Lüttich) (MGH Schriften 69), Wiesbaden 2014, S. 135f., aus. 69 Siehe unten bei Anm. 87–90. 70 Gesta sanctorum patrum Fontanellensis (wie Anm. 54), S. 111. 71 Das Polyptychon von Saint-Germain-des-Prés. Studienausgabe, ed. Dieter Hägermann/Konrad Elmshäuser/Andreas Hedwig, Köln/Weimar/Wien 1993  : Benefizien ohne Dienste, mit Naturalabgaben (breve I [39], S.  3  ; I [40], S.  3  ; IX [239], S.  81). Benefizium ohne Abgaben (breve XIV [92], S. 128. Benefizium mit Geldabgabe ohne Naturalien oder Dienste (breve IX [288], S. 85). Prekarie mit

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Ebenso können beide mit einer Geld- oder Naturalabgabe für das hostilicium, einer Heeresabgabe, belastet sein.72 Wenn also ein Kloster Güter zur Leihe ausgab, gleichgültig ob als Prekarie oder als Benefizium, die mit Abgaben belastet waren, auf die der Leihgeber nicht verzichten wollte oder konnte, musste der Leihnehmer sie übernehmen, gleichgültig ob er ein Prekator oder ein Benefiziar war.73 Für die Deutungsschwierigkeiten bezüglich des dinglichen Elements des Lehnswesens bedeutet dies, dass es in den Wirtschaftsbüchern von Königsklöstern, hier am Beispiel des Polyptychons von Saint-Germain-des-Prés (um 823) erörtert, keine Kausalität gibt, dass ein Landgut mit einer Heeresabgabe belegt ist, weil es ein beneficium ist. Das ist ein weiterer Grund, beneficium mit „Leihegut“ statt „Lehen“ zu übersetzen, um den eher zufälligen Konnex mit militärischen Leistungen nicht zu einem „Lehenswesen“ zu machen. Ein Vergleich mit der Grundherrschaft des Klosters Montierender (832–845) führt zum gleichen Ergebnis. Die Leihetypen von Prekarie und Benefizium sind auch dort differenziert aufgeführt, aber ökonomisch nicht vonAbgabe in Silber  : Teudo mansus .I. in precaria  ; unde solvit de argento uncia .I. (breve XIX [38], S. 157. Prekarien ohne Abgaben (breve IX [269], S. 83  ; XIV [93], S. 128). Die hier genannten Belege sind nur eine kleine Auswahl der im Polyptychon genannten Benefizien und Prekarien. Es gibt darüber hinaus etliche Auflistungen, denen man keine konkret benannte Abgabe entnehmen kann, weil es – wiederum sowohl von Benefizien als auch von Prekarien – an diesen Stellen lediglich solvunt similiter heißt. Bei den Prekarien hatte es die ermittelnde Kommission des Klosters besonders schwer, weil ihr die Unterlagen fehlten, d. h. ihr die Prekarieverträge nicht vorlagen (breve IX [277], S. 84  : Precariam quam tenet Rotmundus non possum scribere)  ; vgl. dazu Konrad Elmshäuser/Andreas Hedwig, Studien zum Polyptychon von Saint-Germain-des-Prés, Köln/Weimar/Wien 1993, S.  111. Goetz, Staatlichkeit (wie Anm. 45), S. 119, weist darauf hin, dass zwölf der insgesamt 16 Benefizien des Klosters St. Gallen zinspflichtig waren. Es ist also nicht richtig, dass Benefizien von Diensten und Abgaben befreit gewesen sind, wie Elisabeth Magnou-Nortier, La féodalité en crise. Propos sur „Fiefs and Vassals“ de Susan Reynolds, in  : Revue historique 296, 1996, S. 253– 348, hier S. 294–298, meint. Das hat auch Fouracre, Term beneficium (wie Anm. 34), S. 76 gesehen. 72 Polyptychon von Saint-Germain-des-Prés (wie Anm. 71)  : vom Benefizium des Hildegarius ad hostem denarios VI (breve IX [288], S. 85)  ; von den Klostergütern (breve IX [158], S. 73f.), die Aclevertus im Gegenzug gegen seine Schenkung (breve IX [152], S. 73) als Prekarie (breve IX [269], S. 83) erhielt, entrichtete er von 5 Mansen 5 Widder ad hostem (S. 73). Zur Entwicklung der Heeresabgabe im Hochmittelalter vgl. Carsten Fischer, Schildgeld und Heersteuer. Eine vergleichende Studie zur Entwicklung lehnsrechtlicher Strukturen durch die Umwandlung vasallitischer Kriegsdienste in Geldabgaben im normannisch-frühangevinischen England und staufischen Reich (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 279), Frankfurt am Main 2013. Zur bäuerlichen Produktion für den Kriegsdienst vgl. unter den jüngeren Publikationen auch Étienne Renard, La politique militaire de Charlemagne et la pay­ san­nerie franque, in  : Francia 36 (2009), S. 1–33, hier S. 27. 73 Vgl. dazu Elmshäuser/Hedwig, Studien (wie Anm. 71), S. 109f. Das Benefizialverzeichnis ist nur fragmentarisch erhalten (ebd., S. 11, S. 28). Zu den Benefiziaren vgl. Émile Lesne, Les bénéficiers de Saint- Germain-des-Prés au temps de l’abbé Irminon, in  : Revue Mabillon 11, 1922, S. 73–89.

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einander zu unterscheiden.74 Darüber hinaus wird dort mit beneficium/boneficium eine Dienstleistung bezeichnet, nämlich zusätzliche Arbeitstage, die der Bauer dem Grundherrn darbringt.75 Vertragsrechtlich unterscheidet sich die Prekarie durch die erforderliche Bitte des Leihnehmers an den Leihgeber von dem Benefizium, das sprachlich allein auf den Gunsterweis des Leihgebers abzielt. Auf die Bitte des Leihnehmers hin reagiert der Leihgeber mit einer Prästarie (praestaria), indem er das Leihegut darbietet, gleichsam „präsentiert“. Darüber hinaus sind Prekarie und Benefizium nicht nur ökonomisch, sondern auch vertragsrechtlich kaum voneinander zu unterscheiden, denn das an den Prekator verliehene Landgut wird, wie oben dargelegt, nicht ausschließlich als precaria/praestaria, sondern auch als beneficium bezeichnet. Die meisten der zahlreichen erhaltenen Prekarieverträge kommen dadurch zustande, dass der Prekator einen Teil seiner Eigengüter einer geistlichen Institution schenkt und danach als Leihe zurückerhält, in selteneren Fällen vermehrt um ein weiteres Kirchen- oder Klostergut. Manchmal ersetzt der Prekarie- einen Tauschvertrag, wenn nämlich dem Prekator ein anderswo gelegenes Gut anstelle des geschenkten Eigenguts leihweise zur Nutzung gegeben wird.76 Die vorausgegangene Schenkung/Auftragung von Eigengut an den Leihgeber ist jedoch kein rechtliches Merkmal, das geeignet ist, Prekarien von Benefizien zu unterscheiden. Zum einen gibt es Prekarien ohne vorherige Landübereignung und zum anderen Benefizien, denen eine Landschenkung voraus74 Claus-Dieter Droste, Das Polyptichon von Montierender. Kritische Edition und Analyse (Trierer Historische Forschungen 14), Trier 1988  : Prekarie mit Geld- und/oder Naturalabgaben (XLV, S. 40  ; IL, S. 42). Prestarie ohne Abgaben (XLVI, S. 41  ; XLVII, S. 41). Prekarie mit vorheriger Schenkung (XLVIII, S. 41f.; IL, S. 42  ; L, S. 43). Prekarie und Benefizium in der Hand ein und desselben Halters (XLVIII, S. 42). Heeresabgabe (hostilicium) von einem Benefizium (XLVIII, S. 42) und von einer Prekarie (L, S. 43  ; LV, S. 45). Zu den Prekarien von Montierender vgl. Morelle, Actes de précaire (wie Anm. 47), S. 610, S. 614, S. 631, S. 633, S. 640. 75 Polyptichon von Montierender (wie Anm. 74), S. 50. 76 Hans-Werner Goetz, Die St. Galler Tauschurkunden und der alemannische Raum, in  : Irmgard Fees/ Philippe Depreux  (Hg.), Tauschgeschäft und Tauschurkunde vom 8. bis 12.  Jahrhundert – L’acte d’échange du VIIIe au XIIe siècle, Köln/Weimar/Wien 2013, S.  171–200, zum „echten“ und indirekten Tausch  ; Brigitte Kasten/Katharina Gross, Tausch- und Prekarieurkunden in Lotharingien bis 1100, in  : Fees/Depreux (Hg.), Tauschgeschäft und Tauschurkunde (wie Anm. 76), S. 325–380, mit zahlreichen Belegen für den Zusammenhang von Prekarie und Tausch, dort S. 325 und S. 361–364, zur Formulierung commutationes alternas, quae vulgo praestariae dicuntur  ; Gross, Visualisierte Gegenseitigkeit (wie Anm. 68), S. 130–134  ; Daniel Ludwig, Die Bedeutung von Tausch in ländlichen Gesellschaften des fränkischen Frühmittelalters. Vergleichende Untersuchung der Regionen Baiern, Alemannien und Lotharingien (Besitz und Beziehungen. Studien zur Verfassungsgeschichte des Mittelalters 2), Ostfildern 2020, S. 39f. (Prekarievertrag als „tauschähnliche Transaktion“), S. 113f., S. 335f. und öfter.

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ging. Das geht zum Beispiel aus Einträgen im Polyptychon des Klosters Montierender (832–845) hervor. Dort hatte ein Genulfus sowohl eine Prekarie als auch ein Benefizium inne. Für die Prekarie hatte er eigenen Landbesitz dem Kloster übergeben und für das Benefizium gleichfalls.77 Im selben Polyptychon werden auch prekarische Leihen ohne vorhergehende Landauftragung verzeichnet.78 Wie auch immer die geistlichen Leihgeber zwischen Prekarien und Benefizien differenzierten, wirtschaftlich und rechtlich ist aufgrund der Quellenlage kein nennenswerter Unterschied erkennbar. Dieser Befund ist für die lehnsrechtliche Forschung insofern von Belang, dass – wie nun schon öfter zutage getreten – das Benefizium keineswegs stets ein Lehen im Sinne des Modells von Mitteis und Ganshof war. Das gilt auch für die Thematik der Laufzeit der Landleihen. Die lehnsrechtlichen Bedingungen, dass ein Benefizium mit dem Tod des Lehnsmannes an den Lehnsherrn zurückfällt und umgekehrt der Tod des Lehnsherrn eine Erneuerung der Belehnung durch dessen Erben notwendig macht, hat zum einen gewisse gedankliche Vorläufer in Prekarien und scheint zum anderen eine spätere, nicht mehr frühmittelalterliche Entwicklung gewesen zu sein. Während das antike precarium, in der Regel wohl auf mobile Leihgaben bezogen, jederzeit durch den Leihgeber widerrufbar war, wusste man in kirchlichen Kreisen noch zur Karolingerzeit, dass für prekarische Landleihen im Turnus von fünf Jahren eine Verlängerung der Nutzungslaufzeit vereinbart werden sollte. Kirchen und Klöster versuchten den Modus der fünfjährlichen Vertragserneuerung rechtlich festzuschreiben und in der Praxis anzuwenden.79 Tatsächlich war die Laufzeit eher eine Verhandlungssache, so dass sich die rechtliche Stellung der Pächter im Frühmittelalter deutlich verbessert hatte, abhängig selbstverständlich von der Gemengelage der wechselseitigen Interessen der Vertragspartner am Immobiliengeschäft. Laufzeiten über die Lebenszeit des Prekators, über zwei Leiber (z. B. Prekator und seine Frau oder Prekator und sein Sohn) oder drei Leiber (z. B. Prekator, Frau und Sohn), Verträge mit einer begrenzten Vererblichkeit auf die nächste oder übernächste Generation oder sogar mit einer unbegrenzten Vererblichkeit auf alle männlichen und weiblichen Nachkommen und nach Aussterben der direkten Linie auf deren Seitenverwandte waren möglich.80 Der Leihgeber konnte jedoch im Gegenteil die Verlängerung der Landleihe über den Tod des Prekators hinaus ausschließen oder andere Beschränkungen vereinbaren, wie beispielsweise den Ausschluss

77 Polyptichon von Montierender (wie Anm. 74), c. XLVIII, S. 41f. 78 Ebd., c. XLVII, S. 41. 79 Belege z. B. bei Kasten, Beneficium zwischen Landleihe und Lehen (wie Anm. 37), S. 250 mit Anm. 30. 80 Ebd., S. 250 mit Anm. 30f.; Morelle, Actes de précaire (wie Anm. 47), S. 640, zur Kontinuität von prekarischen Landleihen vom 9. bis zum 11. Jahrhundert.

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weiblicher oder illegitimer Nachkommen des Prekators als Halter oder Halterinnen des Leihegutes.81 Hier finden sich also bei relativ breiten Gesellschaftsschichten Regelungen in Gebrauch, die auch durch politisch-staatliche Führungsspitzen für die Belehnung von Vasallen mit Lehen oder von Würdenträgern mit Ämtern angewandt werden konnten. Weitere Vertragsinhalte der Prekarien waren ein Rückkaufrecht an der geschenkten und zurückgeliehenen Immobilie, das manchmal eingeräumt, manchmal verweigert wurde,82 Höhe und Art des Jahreszinses, Zahlungsfristen und -modalitäten, Zinserhöhung oder -stabilität bei Erneuerung der Vertragslaufzeit, und Vereinbarungen über das Vertragsende, ob dann die Meliorationen, das sind der durch Investitionen in Mobilien, wie z. B. Aufbauten aus Holz oder besonders erfahrene Arbeitskräfte, erzielte Mehrwert oder der Ertrag der noch ausstehenden Ernte dem Leihgeber gehören sollten.83 Der Prekator konnte darüber hinaus vereinbaren, dass seine Prekarie – Schenkungs- und Leihegut – vom Leihgeber niemals als beneficium ausgegeben, sondern in Eigenbewirtschaftung gehalten wurde.84 Hier stellt sich wiederum die Frage, ob precaria und beneficium Synonyme sind. Sind beide Begriffe „auf ein und dasselbe Rechtsgeschäft angewendet und damit praktisch wie Synonyme behandelt“ worden  ?85 Für den Abschluss des Prekarie- und des Prästarievertrags ist Schriftlichkeit vorgeschrieben,86 was für das Benefizium nicht bekannt ist beziehungsweise nicht erforderlich gewesen zu sein scheint. Die Benefizien, die die Karolinger aus Kirchengut an ihre Leute vergaben, sind nicht in schriftliche Verträge gefasst worden. Die Kirchen und Klöster wollten sie als Prekarien definiert wissen, als precaria verbo regis. Karl der Große gab ihrem Wunsch nach Differenzierung nach, indem er im Kapitular von Herstal (779) verfügte, es sei ein Unterschied zu machen zwischen den Prekarien auf königlichen Befehl und denen, die die geistlichen Institutionen aus freiem Willen tätigten, womit er akzeptiert haben dürfte, dass es keine bloßen königlichen beneficia waren.87 Im Gegensatz zu dem in der Regel moderaten Zins auf freiwilligen 81 82 83 84 85

Kasten, Agrarische Innovationen (wie Anm. 53), S. 144 mit Anm. 33. Ebd., S. 144. Ebd., insb. S. 143. Ebd., S. 145. Brückner, Lehnsauftragung (wie Anm. 14), S. 392, dort auch Anm. 923 mit Hinweisen auf die ältere Forschung. 86 Dazu zuletzt Gross, Visualisierte Gegenseitigkeit (wie Anm.  68), S.  78–85. Sie hält es für möglich, dass die Paarurkunden von Prekarie und Prästarie zur Entwicklung der Teilurkunden/Chirographe beigetragen haben. 87 Capitulare Haristallense c. 13, in  : MGH Capit. 1 (wie Anm. 68), S. 50  : … et discretio inter precarias de verbo nostro factas et inter eas quae spontanea voluntate de ipsis rebus ecclesiarum faciunt. Zum

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Prekarien forderten die Kirchen, die precaria verbo regis mit Zehnten und Nonen zu belasten, also mit einem recht hohen Entschädigungszins, der nach neueren Forschungen zusätzlich zum Kirchenzehnt und sowohl von herrschaftlichen Eigenkulturen als auch von abhängigen Bauernhöfen zu entrichten war.88 Die Prekatoren der kirchlichen Institutionen, die zugleich Benefiziare des Königs waren, hätten demnach ein Drittel ihrer gesamten landwirtschaftlichen Erträge an den Leihgeber zahlen müssen. Neuerdings wird vermutet, dass dieser hohe Prekarienzins vom König selbst gezahlt werden sollte.89 Des Weiteren strengten die Kirchen und Klöster Prozesse um die Anerkennung ihrer Eigentumsrechte an entfremdeten Landgütern an, denn die Erinnerung daran, dass die angeblich königlichen Benefizien tatsächlich der Kirche gehörten, war bei einer langen, Generationen übergreifenden Dauer des Besitzes verloren gegangen, zumal diese des Öfteren durch königlichen Gunsterweis zu eigen geschenkt worden waren.90 Während die rechtlichen Rahmenbedingungen für Prekarien also relativ gut bekannt sind, ist das Gegenteil bei den Benefizien der Fall, weil keine Verträge darüber erhalten sind oder solche niemals existierten. Diese – vielleicht überlieferungsbedingte – Tatsache bietet weiteren Stoff für Deutungsschwierigkeiten in der Mediävistik. Die lehnsrechtliche Forschung geht davon aus, dass Benefizienverleihungen lediglich mündlich verhandelt und auf Lebenszeit des Leihgebers und des Leihnehmers gewährt wurden. Bei einer Landleihe auf den Todesfall des Leihnehmers wären Kapitular von Herstal vgl. Christoph Haack, Kapitular von Herstal, in  : Germanische Altertumskunde Online (2014). . Zu den sogenannten Säkularisationen (precariae verbo regis) vgl. nun Marcel Bubert, Intentionale Schichten. Der problematische Anweg zur Analyse von Absichten, Plänen und Strategien in der politischen Praxis des frühen Mittelalters, in  : Jan-Hendryk de Boer/Marcel Bubert (Hg.), Absichten, Pläne, Strategien. Erkundungen einer historischen Intentionalitätsforschung (Kontingenzgeschichten 5), Frankfurt am Main/New York 2018, S. 39–63, hier S. 55f. 88 Gregor Patt, Studien zu den Salzehnten im Mittelalter (MGH Schriften 67), 2. Bd.e, Wiesbaden 2014, hier Bd. 1, S. 326–331. 89 Michael Glatthaar, Das Konzilsdekret von Ver (755) – Ausdruck eines neuen Regierungsstils, in  : Breternitz/Ubl (Hg.), Pippin der Jüngere (wie Anm. 55), S. 69–90, hier S. 85–87, weist darauf hin, dass das Breve der Bischofskirche von Mâcon am Ende die Zehnten und Neunten der Grundherrschaften (villae) und Klöster (abbatiae) auflistet, die der König als Benefizien ausgegeben oder in Eigennutzung behalten hatte, so dass König Pippin der Jüngere selbst als Prekator der Bischofskirche wie ein übergeordneter Gesamthalter der Landleihen erscheint. Dafür spricht der Hinweis in einer erzählenden Quelle, der zu Folge Karl der Große den sehr hohen Jahreszins von 12 Pfund Silber für die villa Douzy gezahlt haben soll, die er von der Bischofskirche von Reims durch prekarische Landleihe erhalten hatte (Flodoard, Historia Remensis ecclesiae, ed. Martina Stratmann, MGH SS 36, Hannover 1998, S. 267). 90 Beispielsfälle mit Literatur zusammengetragen von Kasten, Lehnswesen – Fakt oder Fiktion (wie Anm. 51), S. 339–341.

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Prekarien und Benefizien demnach wiederum kaum voneinander zu unterscheiden. Die Frage, ob beides Synonyme waren, wird von der älteren Forschung tendenziell bejaht  ; die Prekarie wird teilweise als besonderer Typus eines Benefiziums aufgefasst  ; jede Prekarie sei ein Benefizium, aber nicht jedes Benefizium eine Prekarie gewesen.91 Dem steht die jüngere Forschung derzeit eher skeptisch gegenüber, da es zu viele Belege für eine Unterscheidung beider Leiheformen in der wirtschaftshistorisch relevanten Überlieferung des Frühmittelalters gibt, auch wenn sich die konkreten Inhalte der separierten Auflistung beider Formen der Landleihe nicht beschreiben lassen. In der Prekarie die bäuerliche Landleihe zu sehen, in dem Benefizium hingegen die ritterliche/vasallitische Landleihe,92 die auf das Lehnswesen verweise, verkennt jedenfalls die historischen Realitäten. Es ist wohl eher davon auszugehen, dass es sich um zwei Typen von Nießbrauchverträgen an Immobilien handelte. Demnach wäre nicht beneficium der Obergriff, sondern der Usufrukt/Nießbrauch, der beiden Leiheformen gleichermaßen zugrunde liegt.93 Die gesellschaftliche Bedeutung der Prekarie liegt nicht darin, das Lehnswesen befördert zu haben, sondern in ihrer außerordentlich großen Verbreitung und ihrer fast unbegrenzten Anwendungsmöglichkeit, so dass man in ihr das gängige Immobiliengeschäftsmodell des Frühmittelalters, insbesondere, aber nicht ausschließlich der Karolingerzeit erblicken könnte.94 Jeder Grundbesitzer, groß oder klein, konnte sich unangesehen seines sozialen Ranges daran beteiligen. Könige, männliche und weibliche Angehörige der regierenden Karolinger, Amtsträger, ferner Adelige und Freie, jeweils beiderlei Geschlechts, sowie Geistliche sind – zusätzlich zu den kirchlichen und klösterlichen Großgrundbesitzern – überlieferungsbedingt vielfach als Leihnehmer und durchaus auch als Leihgeber bezeugt. Ein Vater konnte zum Prekator seiner Söhne werden, eine flüchtige beziehungsweise verstoßene Königin (Theutberga, 91 Vgl. ausführlich Brückner, Lehnsauftragung (wie Anm. 14), S. 392–394. 92 Zusammenstellung der älteren Forschungsmeinungen bei Kasten, Beneficium zwischen Landleihe und Lehen (wie Anm. 37), S. 244f.; Brückner, Lehnsauftragung (wie Anm. 14), S. 394. 93 So wurden im elsässischen Kloster Weißenburg unter der Überschrift Usufrukt zuerst die Prekarien und darunter die Benefizien aufgeführt  ; sog. Brevium Exempla ad describendas res ecclesiasticias et fiscales, MGH Capit. 1 (wie Anm. 68), S. 252  : De illis clericis et laicis, qui illorum proprietates donaverunt ad monasterium quod vocatur Wizunburch et e contra receperunt ad usum fructum. 94 Brigitte Kasten, Grundbesitzgeschäfte im Spiegel der kirchlichen Überlieferung  : Zu den materiellen Grundlagen der Missionierung im nördlichen Lotharingen (bis 900), in  : Michel Polfer  (Hg.), L’évangélisation des régions entre Meuse et Moselle et la fondation de l’abbaye d’Echternach (Ve–IXe siècle) (Publications du CLUDEM 16), Luxemburg 2000, S. 263–300, hier S. 263–266. Depreux, Apparition (wie Anm. 40), S. 650, stellt die Frage, ob in Sankt Gallen eine „politique foncière“ mit Prekarien betrieben worden sei, und beantwortet diese für die Amtszeit des Abtes Otmar recht zurückhaltend.

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Gemahlin König Lothars II.) zur Prekatorin eines Grafen (Heccard, Verwandter der Karolinger), Karl der Große zum Prekator der damals wohl vakanten Bischofskirche von Reims, der Bischof von Verdun zum Prekator König Lothars II., eine Tochter König Ludwigs des Deutschen zur Prekatorin eines Klosters, um nur einige Beispiele zu nennen. Dass auch Vasallen – solche des Leihgebers und fremde – mittels Prekarien Anteil an solchen Nießbrauchverträgen hatten, war grundsätzlich nichts Besonderes. Ein Leihebesitz in den Händen eines Vasallen sollte, obgleich die prekarische Nutzung des verliehenen Lands als usus beneficii oder ähnlich bezeichnet werden konnte, wie oben dargelegt, nicht lehnsrechtlichen Zusammenhängen zugeordnet werden, ohne dass weitere Sachverhalte dies nahelegen.95 Übrigens ist auch eine kirchliche Institution als Leihnehmer bezeugt  : Priester Siginand verlieh das Nonnenkloster Süsteren precario more an das Eifelkloster Prüm.96 Die Motivationen der am Immobiliengeschäft der Landschenkung versus Landleihe beteiligten Vertragspartner waren vielfältiger Art. Diese sind überlieferungsbedingt am besten für die Verträge von Laien oder Geistlichen mit kirchlichen Institutionen zu ermitteln. Die kirchlichen Leihgeber schufen mit der Bereitschaft, geschenktes Eigengut sogleich oder zu einem späteren Zeitpunkt auf Bitten des Schenkers oder seiner Erben wieder leihweise zur Nutzung auszugeben, Anreize für vermögendere Grundbesitzerfamilien, Teile ihrer Immobilien den Kirchen oder Klöstern zu übereignen. Dadurch wurde die Missionierung unterstützt, wurden Klerikergemeinschaften an den Bischofskirchen aufgebaut und finanziell abgesichert, existente Landkirchen und deren Kleriker in die Bistumsorganisation eingegliedert, neue Mitglieder als Kleriker, Nonnen oder Mönche rekrutiert,97 kirchlicher Grundbesitz in Orten planvoll ausgebaut, in denen eine Mehrzahl von bis zum Vertragsabschluss unabhängigen Grundherren oder Bauern über Eigengüter verfügt hatten,98 Sonderkulturen wie Weinanbau in bevorzugten Lagen erworben,99 hochwertige und 95 Vgl. auch Roman Deutinger, Beobachtungen zum Lehnswesen im frühmittelalterlichen Bayern, in  : Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 70, 2007, S. 57–83. 96 Alle Belege bei Kasten, Beneficium zwischen Landleihe und Lehen (wie Anm. 37), S. 250–255  ; dort wird allerdings noch beneficium mit „Lehen“ übersetzt, wenn es keine Prekarie war, während ich heute die Übersetzung „Leihegut“ vorziehen würde. Gross, Visualisierte Gegenseitigkeit (wie Anm.  68), S. 118–126, analysierte die soziale Stellung von 159 Leihnehmern in Lotharingien bis zum 11. Jahrhundert, darunter Kleriker, weltliche Adelige, Vasallen, Ritter, Ministerialen, Bauern und Unfreie. 97 Kasten, Grundbesitzgeschäfte (wie Anm. 94), S. 267, S. 270f., S. 274–278, S. 295, S. 300. Die Schenkung bei der Übergabe eines Oblaten an ein Kloster konnte auch mittels Prekarie zur Nutzung zurückgegeben werden. 98 Elmshäuser/Hedwig, Studien (wie Anm. 71), S. 111–113. 99 Kasten, Grundbesitzgeschäfte (wie Anm. 94), S. 295 mit Anm. 145  ; Gross, Visualisierte Gegenseitigkeit (wie Anm. 68), S. 137f.

Zum Deutungsstreit über das Lehnswesen im Frühmittelalter 

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komplexe Agrartechnik wie Mühlen und Salinen instandgehalten und kompetent bewirtschaftet,100 Fernbesitz zweckmäßig bewirtschaftet oder Rodungen vorangetrieben, also neue landwirtschaftliche Flächen geschaffen.101 Prekarien dienten den Bischofskirchen aber auch als strategische Instrumente bei der „Verwaltung und Herrschaftsausübung innerhalb der Diözese“, indem dadurch ein gezielter Einfluss auf die Wirtschaftsführung und die Urkundentätigkeit von Klöstern ermöglicht ­wurde.102 Die Interessen der Leihnehmer waren ähnlich vielfältig. Sie konnten ihren Besitz erheblich vergrößern, teilweise fast verdoppeln, wenn sie nicht nur ihre geschenkten Güter, sondern zusätzlich weitere Güter der kirchlichen Institutionen zur prekarischen Nutzung erhielten.103 Bedingte Schenkungen in Form von Prekarieverträgen wurden des Öfteren vor Antritt einer längeren Reise mit ungewissem Ausgang abgeschlossen, wobei ein Rückkaufsrecht im Falle der glücklichen Heimkehr oder die finanzielle Ausstattung des Reisenden und der Reisenden mit liquiden und notwendigen Mitteln, z. B. mit Pferden, Decken, Proviant, Begleitern und Dienern, vereinbart werden konnte.104 Laien und Kleriker sicherten sich – und manchmal auch ihrer Mutter – dadurch einen Platz als Wohngast im Kloster, ohne Mönch zu werden.105 Ältere Menschen machten sich durch einen prekarischen Wohngast-Vertrag von der Altersversorgung und Pflege durch ihre Kinder unabhängig.106 Eine offensichtlich alleinstehende Frau wünschte eine halbpensionsähnliche Aufnahme im Kloster für einen Tag und eine Nacht, wenn sie dorthin zum Beten käme, ferner die Versorgung ihres Viehs sowie die jährliche Lieferung von Naturalien durch das Kloster zu be-

100 Gross, Visualisierte Gegenseitigkeit (wie Anm. 68), S. 102 (Salinen), S. 137f. (Mühlen). 101 Dieter Geuenich, Der Landesausbau und seine Träger (8.–11. Jh.), in  : Hans Ulrich Nuber (Hg.), Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends in Südwestdeutschland, Sigmaringen 1990, S. 207–218, hier S. 212–215  ; Werner Rösener, Grundherrschaft im Wandel. Untersuchungen zur Entwicklung geistlicher Grundherrschaften im südwestdeutschen Raum vom 8. bis 14. Jahrhundert, Göttingen 1991, S. 366  ; Kasten, Agrarische Innovationen (wie Anm. 53), S. 147f.; Gross, Visualisierte Gegenseitigkeit (wie Anm. 68), S. 136f. 102 Gross, Visualisierte Gegenseitigkeit (wie Anm. 68), S. 103f. (Zitat S. 103) 103 Kasten, Grundbesitzgeschäfte (wie Anm. 94). S. 296. 104 Gesine Jordan, Wer war der Tradent  ? Methodische Überlegungen zur sozialgeschichtlichen Untersuchung von Privaturkunden des Frühen Mittelalters, besonders der St. Galler Urkunden, in  : Kasten (Hg.), Tätigkeitsfelder (wie Anm. 53), S. 155–174, hier S. 161f. mit Anm. 22  ; Gesine Jordan, „Nichts als Nahrung und Kleidung“. Laien und Kleriker als Wohngäste bei den Mönchen von St. Gallen und Redon (8. und 9. Jahrhundert) (Europa im Mittelalter 9), Berlin 2007, S. 125–130, S. 134f. 105 Jordan, „Nichts als Nahrung und Kleidung“ (wie Anm. 104), S. 22, S. 71 (Tradent und seine Mutter), S. 89, S. 114f. (Tradentin und ihre Mutter). 106 Ebd., S. 106f.

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nannten Terminen, also eine Unterstützung zur Wahrung ihres Lebensstandards.107 Derlei Beispiele ließen sich mehren, ganz abgesehen davon, dass zusätzlich allerlei Nebenabreden stattfanden, z. B. eine Seelgerätstiftung aufgerichtet oder das Prestige gewonnen wurde, zum Wohltäter oder zur Wohltäterin eines wirkungsmächtigen Heiligen geworden zu sein, gleichsam zur familia des Heiligen zu gehören.108 Obwohl vieles bereits von der älteren wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschung beobachtet wurde, so zieht die jüngere Forschung jedoch andere Schlüsse daraus. Vor allem die Differenzierung zwischen niederen bäuerlichen Landleihen (precaria) und sozial höherwertigen vasallitisch-ritterlich-militärischen Landleihen (beneficium) lässt sich nicht verifizieren. Die jüngere Mediävistik hält sie aufgrund diverser regionalgeschichtlicher Studien für falsch. Damit fällt eine wesentliche Säule für das Konstrukt „Lehnswesen“. Für den Abschluss von Nießbrauchverträgen, seien sie Prekarien oder Benefizien, war vom Grundsatz her kein besonderes, von der Forschung zum Lehnswesen so betontes personelles Band zwischen Lehnseigner und Lehnshalter notwendig, wie z. B. ein Treue- oder Lehnseid, jedenfalls ist eine solche persönliche Bindung in den überlieferten Rechts- und Wirtschaftsquellen nicht erkennbar. Natürlich konnten Zuwendungen wie Landleihen, vor allem wenn sie ohne vorherige Landschenkung des Leihnehmers erfolgten, politisch genutzt werden, um künftiges Wohlverhalten, um Treue und/oder die Bereitschaft zu erzielen, zivile und militärische Aufgaben zu übernehmen. Doch wurde dies in der Regel nicht schriftlich niedergelegt, so dass solche Erwartungshaltungen eher als politische denn als rechtliche Nebenabreden erscheinen. In einer konfliktträchtigen Situation wird ausnahmsweise einmal schriftlich auf einer persönlichen Verpflichtung des Leihnehmers gegenüber dem Leihgeber bestanden  : Als der kaisertreue Abt Grimold von Saint-Vanne von seinem papsttreuen Bischof Theoderich von Verdun irgendwann zwischen 1060 und 1075 gezwungen wurde, Klostergut, das zum Unterhalt des Konvents diente, an einen bischöflichen Getreuen (fidelis) als Prekarie herauszugeben, ließ er festschreiben, dass der Getreue des Bischofs ihm, dem Abt, zu Dienst (servitium) und Treue (fidelitas) verpflichtet und das Leihegut beim Tod des Leihnehmers unverzüglich an den Konvent zurückzugeben sei.109 Um derlei personenrechtliche Bande generell juristisch definiert in Bezug auf die Benefizienleihe zu fixieren, bedurfte es nach Susan Reynolds der späteren, akademisch geschulten juristischen Kompetenz, die sie frühestens mit gewissen Einschrän107 Ebd., S. 119f. 108 Barabara Rosenwein, To be the Neighbor of St. Peter. The Social Meaning of Cluny’s Property, 909– 1049, Ithaca 1989. 109 Gross, Visualisierte Gegenseitigkeit (wie Anm. 68), S. 112f.

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kungen im 12. Jahrhundert in Italien, danach im Umkreis des französischen Königs und voll ausgebildet erst seit dem 16. Jahrhundert zu erkennen glaubt.110 In Bezug auf die jüngere Debatte um die Existenz des Lehnswesens als ein die ganze mittelalterliche Gesellschaft durchdringendes Strukturprinzip entfallen somit die meisten wirtschaftsgeschichtlichen Quellen des früheren Mittelalters (Polyptycha, Privaturkunden) für eine Fortschreibung des Modells Lehnswesen gemäß der Definition von Heinrich Mitteis und François Louis Ganshof. Die Prekarien und Benefizien der Karolingerzeit können wohl kaum als Vorläufer für Lehen im Sinne der genannten Theoriebildung gehalten werden, denn sie entbehren die erforderliche Kausalität zwischen dem dinglichen und dem personellen Element beziehungsweise lassen diese nicht erkennen.

Politik und Verwaltung In der gegenwärtigen Forschung beginnt sich immer mehr die Erkenntnis durchzusetzen, dass beide Formen der Landleihe – Benefizium und Prekarie – auf allen Ebenen der Politik genutzt wurden, um Herrschaft auszuüben, Macht auszubauen und Leistungen öffentlicher Art zu finanzieren.111 Für die Frage, ob das Lehnswesen ein wesentliches oder zumindest ein bedeutendes Strukturmerkmal von Herrschaft bereits seit dem späten 8. Jahrhundert war, wie die ältere Forschung überwiegend annimmt, ist jedoch entscheidender, wie im Frühmittelalter öffentliche Aufgaben und damit Herrschaftsfunktionen delegiert wurden. Die jüngere Mediävistik wendet sich daher erneut dem Problem zu, ob die Machtbereiche/Ämter der Mittelgewalten wie z. B. Herzogtümer, Grafschaften und Königsklöster als königliche Lehen und deren Inhaber als Vasallen des Königs betrachtet wurden. Über die Deutung prominenter Fälle aus der Karolingerzeit ist derzeit noch keine Einigung erzielt worden. Der Fall des Herzogs Tassilo III. von Bayern ist ein solcher prominenter und innerhalb der jüngeren Mediävistik umstrittener Fall. Dieser soll sich gemäß den Reichs­ annalen 787 König Karl dem Großen unterworfen haben, indem er seine Hände in die des Königs legte und sich damit in die Vasallität des Königs begab (tradens se manibus in manibus domni regis Caroli in vassaticum). Danach sei er in das Herzogtum

110 Reynolds, Fiefs and Vassals (wie Anm. 5), S. 64  : „Rules about church property cannot be applied automatically to lay property. … My argument is that a large part of the rules of fiefholding as historians of feudalism understand them seems to derive, not from social norms of the lay nobility in the earlier middle ages, but from the practices that the clergy devised to protect the property of the church.“ 111 Vgl. z. B. Salten, Vasallität und Benefizialwesen (wie Anm. 55), S. 278–291.

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Bayern zurückgekehrt. Das war ihm von dem Hausmeier Pippin dem Jüngeren 748 übertragen worden (Tassilonem in ducatu Baioariorum conlocavit per suum beneficium).112 Matthias Becher zog aufgrund profunder quellenkritischer Untersuchungen in Zweifel, dass 748 ein lehnsrechtlich relevanter Vorgang stattgefunden haben könnte.113 Dies bestätigt Oliver Salten, der die karolingische Berichterstattung über Tassilo von Bayern nochmals eingehend untersucht.114 Becher und Salten bezweifeln außerdem, dass Tassilo 787 zum Vasallen Karls des Großen gemacht und sein Herzogtum ein Lehen des Karolingers wurde.115 Ihre Deutung findet in den Urkunden Karls des Großen, die am ehesten den Charakter einer Selbstaussage haben, eine gewisse Stütze. 789 äußerte König Karl, sein Verwandter Tassilo hätte das Herzogtum Bayern aus dem Königreich der Franken herauslösen und ihm entfremden wollen, doch habe er es wieder unter seine eigene Herrschaft bringen können.116 Er sprach von Untreue, nicht von Vasallität, auch nicht davon, dass Bayern ein Benefizium gewesen sei. In der Reichsteilung von 806 legte Kaiser Karl der Große offen, rückblickend auf Tassilos Absetzung und Mönchung im Jahre 788, Tassilo sei (bis zu seiner Absetzung) der Halter Bayerns gewesen (tenuit)  ; er habe Tassilo zwei Landgüter im Nordgau als Benefizium leihweise übergeben (beneficiavimus).117 Die Nutzung eines Benefiziums bezog sich hiernach nicht auf das Her112 Annales regni Francorum ed. Friedrich Kurze, MGH SS rer. Germ. [6], Hannover 1895, a. 748 (S. 8) und a. 787 (S. 78). 113 Matthias Becher, Eid und Herrschaft. Untersuchungen zum Herrscherethos Karls des Großen (Vorträge und Forschungen. Sonderband 39), Sigmaringen 1993, S. 61–77  ; Giuseppe Albertoni/Luigi Provero, Il feudalesimo in Italia, Roma 2003, S. 28–31. 114 Matthias Becher, Die subiectio principum. Zum Charakter der Huldigung im Franken- und Ostfrankenreich bis zum Beginn des 11.  Jahrhunderts, in  : Stuart Airlie/Walter Pohl/Helmut Reimitz (Hg.), Staat im frühen Mittelalter (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006, S. 163–178, hier S. 170f.; Salten, Vasallität und Benefizialwesen (wie Anm. 55), S. 177–179. 115 Becher, Eid und Herrschaft (wie Anm. 113), S. 61–74  ; Salten, Vasallität und Benefizialwesen (wie Anm. 55), S. 81–84. 116 D KdGr 1, 162 (789), ed. Engelbert Mühlbacher, MGH DD Karolinorum 1  : Die Urkunden Pippins, Karlmanns und Karls des Großen, Hannover 1906, S. 219  : Igitur quia ducatus Baioarie ex regno nostro Francorum aliquibus temporibus infideliter per malignos homines Odilonem et Tassilonem propinquum nostrum, a nobis subtractus et alienatur fuit, quem nunc moderatore iusticiarum deo nostro adiuvante ad propriam revocavimus dicionem. Gemäß den Annales Nazariani erfolgte die Rückgabe Bayerns 787 bei einem Treffen zwischen Karl dem Großen und Tassilo im Grenzbereich zwischen Alemannien und Bayern am Lech, indem Tassilo symbolhaft einen Stab übergab  ; er sei zum Vasall geworden (Annales Nazariani a. 787, ed. Walter Lendi, Untersuchungen zur frühalemannischen Annalistik. Die Murbacher Annalen mit Edition [Scrinium Friburgense 1], Freiburg i. Br. 1971, S. 163). 117 Divisio regnorum 6, 2, ed. Alfred Boretius, MGH Capitularia regum Francorum 1, Hannover 1883, S. 127  : … et Baiovarioum, sicut Tassilo tenuit, excepto duabus villis quarum nomina sunt Ingoldestat et Lutrahahof, quas nos quondam Tassiloni beneficiavimus et pertinent ad pagum qui dicitur Nort-

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zogtum Bayern als Ganzes, sondern auf zwei darin liegende Grundherrschaften. Ein solcher Vorgang bewegt sich im Rahmen üblicher Landleiheverträge, die dieselbe Terminologie (tenere, beneficiare) verwenden, wie oben dargelegt,118 und durchaus mit politischen Nebenabreden verbunden gewesen sein konnten. Zu einer einheitlichen Meinung ist die jüngere Forschung jedoch nicht gelangt. So geht unter anderen Philippe Depreux aufgrund des Beispiels Tassilo von Bayern davon aus, dass die hohen Reichsämter bereits in der Karolingerzeit Lehen waren.119 Depreux’ Annahme steht auf dem Fundament rechtshistorischer Deutungen. Heinrich Mitteis hielt es bereits zu seiner Zeit für eine gesicherte Tatsache der Verfassungsgeschichte, „daß die wichtigsten Ämter, vor allem Bistümer, Grafschaften und Vizegrafschaften, am Ende der Karolingerzeit und vor allem im Westfrankenreich in der Form des Lehnrechts verliehen wurden“.120 Er trennte allerdings juristisch das „Lehen an Grund und Boden“ von dem sich daneben völlig selbstständig entwickelnden „Lehen an einem Recht“. Gerade der Fall Tassilo zeige, dass eine Investitur mit einem Amt, „nichts anderes als die Belehnung mit einem Recht“ bedeute, das zur Ausübung öffentlicher Funktionen berechtige.121 Durch die Investitur finde eine Amtsbelehnung statt  ; das Amt sei ein vasallitisches Benefizium.122 Unklar bleibt, ob Mitteis letztlich gowe … Wann Tassilo diese Grundherrschaften erhalten hat – ob vor oder nach seiner Absetzung –, bleibt offen. 118 Siehe oben bei Anm. 37. 119 Philipp Depreux, Tassilon III. et le roi des Francs. Examen d’une vassalité controversée, in  : Revue historique 593, 1995, S. 23–73  ; Adalheid Krah, Die fränkisch-karolingische Vasallität seit der Eingliederung Bayerns in das Karolingerreich. Überlegungen zur Ausformung der Vasallität in karolingischer Zeit im Anschluß an die Darstellung bei Walther Kienast, in  : Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 56, 1993, S. 613–633, hier S. 615–622 betr. Tassilo, S. 623–626 und S. 628 zur Vasallität von Grafen und Markgrafen bereits unter den frühen Karolingerkönigen, S. 633 mit der Annahme, es habe ein „auf die Herrscherpersönlichkeit ausgerichtete[s] vasallitische[s] Gesellschaftssystem“ gegeben. Vgl. Maximilian Diesenberger, Dissidente Stimmen zum Sturz Tassilos III., in  : Richard Corradini/Rob Meens/Christina Pössel/Philip Shawn (Hg.), Texts and Identities in the Early Middle Ages (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 12), Wien 2005, S. 205–120, hier S. 113–115. Dass der ganze Vorgang im Laufe der Zeit immer neue Facetten entwickelt hat, zeigt jetzt auch Gerald Schwedler, Vergessen, Verändern, Verschweigen. damnatio memoriae im frühen Mittelalter (Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft 9), Wien/Köln/Weimar 2020, S. 332–423, hier S. 368–372, zum beneficium. Schwedler meint zwar, dass sich beneficium klar auf Bayern bezieht und eine Vasallität deutlich bezeugt ist (in vassaticum), erkennt aber keinen inneren Zusammenhang zwischen beiden Begriffen. 120 Mitteis, Lehnrecht (wie Anm. 17), S. 199. Der gleichen Meinung ist François Louis Ganshof, L’origine des rapports féodo-vassaliques, in  : I problemi della civiltà carolingia (Settimani di studio del Centro Italiano di studi sull’alto Medioevo 1), Spoleto 1954, S. 27–69, hier S. 46 und S. 60. 121 Mitteis, Lehnrecht (wie Anm. 17), S. 202. 122 Ebd., S. 204. Zur Investitur als lehnsrechtlich relevanter Akt vgl. nun, allerdings zum frühen 12. Jahr-

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also doch annahm, dass auch das Territorium des Amtsgebietes als Ganzes ein Lehen gewesen sei. Ernst Pitz meint, Mitteis habe keine klare Trennung zwischen Rechtsund Bodenleihe durchgeführt.123 Mitteis äußert sich jedoch nicht zum Amtsgebiet als Ganzes, sondern nur zu den Benefizien der Grafen in ihren Grafschaften, die er als mitverliehene Pertinenzien des Amts auffasst, als sogenannte Amtsgüter. Gerade von rechtshistorischer Seite wird jedoch der Mitteis’schen Annahme in der jüngeren Mediävistik teilweise widersprochen. Gerhard Dilcher bezweifelt die Theorie von der Amtsbelehnung zur Karolingerzeit, weil er die Vasallität der Amtsinhaber rund 300 Jahre später datiert, denn vor dem 12. Jahrhundert finde sich kein Beleg für das Vasall-Sein hoher Würdenträger des Reiches124 – mithin also auch kein Beleg für die Verbindung des dinglichen mit dem personalen Element des Lehnswesens auf politisch-staatlicher Ebene. Er empfiehlt daher, für die Staatlichkeit im frühen Mittelalter von einer Amtsbeleihung zu sprechen, und erkennt damit grundsätzlich die Mitteis’sche Rechtsleihe an, aber ohne lehnsrechtliche und ohne vasallitische Implikationen. Zwar findet sich in den Urkunden der Ottonen doch ein Beleg dafür, dass weit vor dem 12.  Jahrhundert ein Graf zugleich Vasall war, jedoch ohne jeglichen Hinweis darauf, dass seine Grafschaft dadurch ein königliches Lehen gewesen sei.125 Die kausale Verbindung zwischen den beiden Elementen des Lehnswesens ist daher auch bei diesem Fall nicht als gegeben vorauszusetzen. Die meisten regionalgeschichtlichen Studien der jüngeren Mediävistik bestätigen zudem die neue Erkenntnis, dass die Kausalität zwischen Vasall-Sein und Leihe-/Lehnsbesitz-Innehaben auf öffentlich-staatlicher Ebene, d. h. die „Feudalisierung“ der Ämter, vor dem 12. Jahrhundert kaum nachweisbar ist.126 hundert, Philippe Depreux, Lehnsrechtliche Symbolhandlungen. Handgang und Investitur im Bericht Galberts von Brügge zur Anerkennung Wilhelm Clitos als Graf von Flandern, in  : Dendorfer/ Deutinger (Hg.), Lehnswesen im Hochmittelalter (wie Anm. 6), S. 387–399. 123 Ernst Pitz, Verfassungslehre und Einführung in die deutsche Verfassungsgeschichte des Mittelalters (Schriften zur Verfassungsgeschichte 75), Berlin 2006, S.  704–706 (zur einschlägigen Textpassage bei Mitteis, Lehnrecht (wie Anm. 17), S. 198–202)  : „So war Mitteis denn auch nicht imstande, die Absonderung der Ämterleihe von der Bodenleihe wirklich durchzuführen …“ (S. 706). 124 Gerhard Dilcher, Die Entwicklung des Lehnswesens in Deutschland zwischen Saliern und Staufern, in  : Il feudalesimo nell’alto medioevo (Settimane di studio del Centro Italiano di studi sull’alto medioevo 47), Spoleto 2000, S. 263–303. 125 Die Urkunden Konrads I., Heinrichs I. und Ottos I., ed. Theodor Sickel, MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 1, Hannover 1879–1884, S. 206f. D O I. 125 (950 Mai 1). Vgl. Roman Deutinger, Königsherrschaft im ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 20), Ostfildern 2006, S. 90f. 126 Vgl. die Beiträge über Süditalien (Patricia Skinner), Flandern, Provence, Okzitanien (Thomas N. Bisson über alle drei Regionen), Kastilien, León (José Ángel García de Cortázar über beide

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Der Mitteis’schen Theorie von der Ämterleihe ist gerade wegen der nicht klar ersichtlichen Trennung von der Bodenleihe auch von der jüngeren historischen Mediävistik widersprochen worden.127 Ernst Pitz zieht den Begriff „Bestallung“ den Begriffen „Amtsbelehnung“ oder „Amtsbeleihung“ vor. Die königliche Bestallung sei „ein Glied in einer langen Reihe von Handlungen“ gewesen, „[…] deren einhellig beschlossene Gesamtheit erst den Amtmann in seinem Amte und Lande vollmächtig machte und zugleich die Öffentlichkeit des Amtsrechtes begründete.“128 Dem steht jedoch entgegen, dass die Bestallung von Amtsträgern ohne lehnsrechtlichen Hintergrund im deutschen Sprachgebrauch spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kanzleien der Kaiser und Fürsten für entlohnte, untergeordnete Amtspersonen üblich gewesen ist, nicht jedoch für das Verhältnis zwischen Kaiser und Fürsten. Der Pitz’sche Vorschlag impliziert, ein Modell von Herrschaft für das gesamte Mittelalter anzunehmen, wonach die personelle Besetzung der hohen Funktionen im Reich und die Berechtigung zur öffentlichen Gewaltausübung auf dem Amtsgedanken beruhte. Für die Karolingerzeit geht die herrschende Meinung tatsächlich von einem Fortleben des aus der Antike herrührenden Amtsgedankens für die untergeordneten Herrschaftsfunktionen der hohen Reichsämter aus. Für die Ottonen-, Salier- und Stauferzeit wären Begriff und Theorie der Bestallung – losgelöst von der Mitteis’schen Amtsbelehnung – neu zu überdenken, wollte man die Reichweite der Pitz’schen Theorie prüfen. Eine gewisse Skepsis gegenüber dem Begriff der Bestallung als adäquates Modell für die Delegation von Herrschaftsaufgaben im Früh- und Hochmittelalter ist jedoch insofern angebracht, als die direkte Entlohnung durch den Herrscher fehlt und eine solche allenfalls indirekt den Benefizien von z. B. Grafen in ihrer Grafschaft als sogenannten Amtsgütern unterstellt werden könnte. Für das Regionen) und Katalonien (Pierre Bonnassie) im Sammelband Il feudalesimo (wie Anm. 45)  ; ferner Andrea Castagnetti, La feudalizzazione degli uffici pubblici (ebd., S.  723–819), und Hagen Keller, Das Edictum de beneficiis Konrads II. und die Entwicklung des Lehnswesens in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts (ebd., S. 227–257, hier S. 240 und 257). Für das Reich nördlich der Alpen vgl. Roman Deutinger, Vom Amt zum Lehen. Das Beispiel der deutschen Herzogtümer, in  : Spieß (Hg.), Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens (wie Anm. 6), S. 133–157. 127 Pitz, Verfassungslehre (wie Anm. 123), S. 711  : „Wer bereit ist, sich den mühsamen Untersuchungen des lat. und volkssprachlichen Wortschatzes zu unterziehen, ohne die sich in der Rechts- und Verfassungsgeschichte keine sicheren Ergebnisse gewinnen lassen, der gelangt dazu, Begriff und Theorie der Ämterleihe vollständig zu verwerfen … .“ 128 Ebd., S. 706. Im Übrigen geht Pitz davon aus, dass „die Anwendung des Lehnrechts auf das Verhältnis des Königs zum Herzog in einem amtlichen Dokument zum ersten Male zum Jahre 1180 bezeugt ist (MGH. DF. I. 795, S. 362 Z. 34, 36–37), aber selbst damit war das Deutsche Reich noch nicht als Lehnsmonarchie zu erweisen“ (S. 707). Er stimmt also in dieser Annahme mit der jüngeren historischen Mediävistik (siehe Anm. 125f.) überein.

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frühe Mittelalter sei zudem an die Forschungen zum Bann und zur Bannleihe erinnert, die beide im sozialen Umfeld von Recht die Verhältnisse von Über- und Unterordnung bei der Ausübung öffentlicher Gewalt regelten.129 Mit der Theorie der Amtsbeleihung würde das quellenkundliche Problem der historischen Forschung lösbar, dass es Hinweise sowohl auf als auch gegen eine Vasallität hoher Amtsinhaber im 9.  Jahrhundert gibt. Für die Vasallität einiger Würdenträger spricht, dass die Inhaber von bedeutenden Hofämtern zugleich Vasallen der Könige oder Königinnen sein konnten, denen sie dienten.130 Allerdings wird kein Inhaber eines hohen Reichsamtes in der Karolingerzeit – weder Bischöfe noch Grafen und wahrscheinlich auch keine Äbte von Königsklöstern – als Vasall bezeichnet.131 Auch Inhaber von Hofämtern, deren Vasallenstatus bezeugt ist, werden nicht mehr Vasallen genannt, sobald sie ein Reichsamt wie z. B. eine Grafschaft übernahmen.132 Das gleiche Phänomen ist innerhalb der Grafenfamilien zu beobachten. Die Söhne von Grafen konnten Vasallen sein. Folgte jedoch einer der Söhne in dem väterlichen Grafenamt nach oder erhielt anderswo eine Grafschaft, unterblieb künftig jeder Hinweis auf seinen früheren Vasallenstatus. Brüder von Grafen, die selbst kein Grafenamt innehatten, verblieben jedoch in der Gruppe der Vasallen.133 Grafen und Vasallen wurden also lediglich durch das Amt voneinander geschieden  ; bezüglich ihrer 129 Manuel Riu, Art. „Bann“, in  : Lexikon des Mittelalters 1, München/Zürich 1980, Sp. 1414–1416, hier Sp. 1414 betont, dass dieser Begriff ausschließlich im sozialen Umfeld des Rechts anzutreffen ist und dort die Verhältnisse von Über- und Unterordnung prägt. Ferner  : „So zeigt der B. das Ausmaß der institutionalisierten Herrschermacht an“ (Sp. 1414). Vgl. auch Robert Scheyhing, Art. „Bannleihe“, in Lexikon des Mittelalters 1, München/Zürich 1980, Sp. 1420. 130 Einige Belege zusammengestellt bei Kasten, Lehnswesen – Fakt oder Fiktion (wie Anm. 51), S. 350f., dort auch weiterführende Literatur. Weitere Fälle erörtert François Bougard, Laien als Amtsträger  : über die Grafen des regnum Italiae, in  : Pohl/Wieser (Hg.), Der frühmittelalterliche Staat (wie Anm. 51), S. 201–215, hier S. 208–210, der im Übrigen zu Recht davon ausgeht, dass die einfachste Übertragung des Grafenamtes die vom Vater auf den Sohn war, ohne dass hinter diesem Vorgang ein Erbrecht vermutet werden muss. 131 Kasten, Lehnswesen – Fakt oder Fiktion (wie Anm. 51), S. 345f. mit Anm. 112f.; anderer Meinung ist François Bougard, „Italia infirma est patria et escas generat noxias“. Le royaume d’Italie et Louis le Pieux, in  : Philippe Depreux/Stefan Esders (Hg.), La productivité d’une crise. Le règne de Louis le Pieux (814 – 840) et le transformation de l’Empire Carolingien – Produktivität einer Krise. Die Regierungszeit Ludwigs des Frommen (814–840) und die Transformation des karolingischen Imperiums (Relectio 1), Ostfildern 2018, S. 157–173, hier S. 166, der Abt Adalhard von Corbie für einen Vasallen Karls des Großen hält. 132 Siehe Anm. 126. 133 Brigitte Kasten, Aspekte des Lehnswesens in Einhards Briefen, in  : Hermann Schefers  (Hg.), Einhard. Studien zu Leben und Werk (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission N. F. 12), Darmstadt 1997, S.  247–267, hier S.  256–263  ; Deutinger, Königsherrschaft im ostfränkischen Reich (wie Anm. 125), S. 87–89.

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Funktionen im Königsdienst und des sozialen Rangs waren sie gleich. Es ist demnach denkbar, dass Königsvasallen, die Grafen wurden, auch während ihrer Amtszeit Vasallen blieben. Gegen eine Vasallität aller hohen Würdenträger im Reich spricht jedoch, dass sowohl in den Herrschererlassen als auch in den narrativen Quellen der Karolingerzeit stets zwischen den Inhabern von Reichsämtern und den Königsvasallen differenziert wird, indem fast stereotyp die Reihung „Bischöfe, Äbte, Grafen und Königsvasallen“ vorgenommen wird. Dies ist beispielsweise bei der Berichterstattung der Annalen von Saint-Bertin über eine weitere, in ihrer Deutung umstrittene historische Episode der Fall. Als Kaiser Ludwig der Fromme 837 seinen 13/14-jährigen Sohn Karl den Kahlen zum König in einem Gebiet zwischen Seine und Friesland erhob, fand folgende Huldigung statt  : „Bischöfe, Äbte, Grafen und die Königsvasallen, die in diesen Gebieten Benefizien innehatten, kommendierten sich Karl und versicherten ihn durch einen Eid ihrer Treue.“134 Die Partizipialkonstruktion beneficia habentes bezieht sich nicht nur sprachlich, sondern auch von der Sachlogik her allein auf die Königsvasallen. Während die Begrenzungen der Amtsbezirke der Reichsämter definiert waren und die Lage der Amtsbezirke von Bischöfen, Äbten und Grafen, bei letztgenannten auch die gräflichen Benefizien, die als Amtsausstattung dienen sollten, als bekannt gelten konnten, mussten die zum Amtsbezirk gehörigen Königsvasallen mitsamt ihren Leihegütern lokalisiert und damit benannt werden. Benefizien, die die Inhaber der hohen Reichsämter zur Ausübung ihrer öffentlichen Aufgaben innerhalb ihrer Amtsbezirke innehatten, bedurften folglich keiner Erwähnung, sondern nur die Benefizien der Königsvasallen, die eben nicht zur Gruppe der Amtsträger gehörten.135 Die Personengruppen – Amtsträger und königliche Vasallen – waren bezüglich der Eidesleistung gleichgestellt. Sie schworen dem neuen König gemeinsam dieselbe Treue. Es gab also keine Differenzierung zwischen einem Amts- und einem Vasalleneid.136 Einem Mönch, der 845/850 die Benediktsregel kommentierte, galt zwar der Gehorsam eines Vasallen als eine mindere Art der Folgeleistung, aber nur im 134 Annales de Saint-Bertin, ed. Félix Grat/Jeanne Vieillard/Suzanne Clémencet, Paris 1964, a. 837, S. 22f.: Sicque iubente imperatore in sui praesentia episcopi, abbates, comites et uassalli dominici in memoratis locis beneficia habentes Karolo se commendaverunt et fidelitatem sacramento firmauerunt. 135 Zu den Amtsgütern der Grafen vgl. zuletzt Salten, Vasallität und Benefizialwesen (wie Anm. 55), S. 309–321  ; David S. Bachrach, The Benefices of Counts and the Fate of the Comital Office in Carolingian East Francia and Ottonian Germany, in  : Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 136 (2019), S. 1–50, hier insbes. ab S. 18ff. 136 Vgl. Stefan Esders, Treueidleistung und Rechtsveränderung im früheren Mittelalter, in  : Ders./ Christine Reinle  (Hg.), Rechtsveränderung im politischen und sozialen Kontext mittelalterlicher Rechtsvielfalt (Neue Aspekte der europäischen Mittelalterforschung 5), Münster 2005, S. 25–61, hier S. 50–52.

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Verhältnis zum Gehorsam, den die Herrschersöhne ihrem regierenden Vater schuldeten, nicht im Verhältnis zu den Amtsträgern. Der Sohnesgehorsam erfolge aus Liebe, der Gehorsam des Vasallen aufgrund eines Eides und der eines unfreien Knechtes aus Angst vor der Prügelstrafe.137 Gleichgestellt waren beide Personengruppen auch hinsichtlich ihrer Funktionen in Politik, Diplomatie, Fiskalverwaltung, Jurisdiktion und Militär, allerdings mit dem Unterschied, dass die Vasallen für die Erledigung ihrer Aufgaben einen speziellen Auftrag durch den König erhielten, während die Grafen regelmäßig und unbefristet kraft ihres Amtes derlei Aufgaben erfüllen sollten. Unterschieden wurde auch bei den „Spesen“  : Die Gastung (coniectus und dispensa) für im Königsdienst reisende Vasallen war geringer als diejenige der gräflichen Amtsinhaber.138 Ein weiterer Unterschied zeigt sich schließlich im Falle der Infidelität insofern, als die Quellenaussagen zwischen Amtsträgern, die ihre Würden (honores) verlieren, und Vasallen, die ihrer Benefizien verlustig gehen, differenzieren.139 Derlei Differenzierungen und spezifizierte personelle Aufzählungen wie zum Jahre 837 sprechen dafür, dass die geistlichen und weltlichen hohen Amtsträger in der Regel keine Vasallen der Karolinger waren. Die juristische Theorie der „Beleihung mit einem Recht“ (Dilchers „Amtsbeleihung“) bietet einen Ausweg aus der Quellenproblematik, die weder eine zweifelsfreie Falsifizierung noch eine ebensolche Verifizierung im Deutungsstreit für oder gegen das Lehnswesen als Strukturmerkmal frühmittelalterlicher Herrschaft und Gesellschaft erlaubt. Selbst wenn – höchst unwahrscheinlich alle, aber immerhin doch einige – Grafen aufgrund ihres vorherigen Vasallenstatus als Amtsinhaber Vasallen geblieben sein sollten, so muss ihr Amtsbezirk, die Grafschaft, nicht unbedingt ein Lehen im lehnsrechtlichen Sinne geworden sein. Die Beleihung mit dem Recht der Amtsausübung erfordert – entgegen der mutmaßlichen Mitteis’schen Meinung – nicht, dass das Amt als „vasallitisches Benefizium“ territorial aufzufassen ist. Die persönliche Bindung des Vasallen bedeutet nach heutigem Kenntnisstand keine „Ethisierung seiner Amtsauffassung“.140 Für die Entwicklung einer politisch-theo-

137 Brigitte Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit (MGH Schriften 44), Hannover 1997, S. 233f. mit Anm. 136. 138 Mitteis, Lehnrecht (wie Anm. 17), S. 198f. mit Anm. 85. 139 Ebd., S. 203f.; Kienast, Fränkische Vasallität (wie Anm. 23f.)  ; Thomas Zotz, In Amt und Würden. Zur Eigenart ‚offizieller‘ Positionen im früheren Mittelalter, in  : Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 22, 1993, S. 1–23. Mitteis, Lehnrecht (wie Anm. 17), S. 97, betont, dass es sich bei infidelitas um einen „Zentralbegriff des fränkischen Strafrechts“ handelt, der in karolingischer Zeit kein rein lehnsrechtlicher Vorgang gewesen sei. 140 Mitteis, Lehnrecht (wie Anm. 17), S. 204 (Zitate)  ; Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, Berlin 21958, Bd. 2, S. 344.

Zum Deutungsstreit über das Lehnswesen im Frühmittelalter 

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logischen Amtsideologie unter Kaiser Karl dem Großen als officium (Gedanke der Selbstverpflichtung gemäß römischem Sprachgebrauch) oder unter Kaiser Ludwig dem Frommen als ministerium (Gedanke eines hierarchisch abgestuften Dienstes, dessen Verantwortlichkeit gegenüber dem Dienstherrn letztlich in Rechtfertigung vor Gott, dem Herrn, mündet) bedurfte es keines Lehnswesens.141 Die Vasallität, oft aus prekarischen Anleihen an Kirchengütern finanziert, scheint für die Karolinger ein probates Mittel gewesen zu sein, über die in begrenzter Anzahl zur Verfügung stehenden Ämter hinaus einen größeren Personenkreis als Unterstützer ihres Machtanspruchs an sich zu ziehen, an den sie effizient und relativ sicher Teile der Herrschaftsausübung delegieren konnten. Sie schufen sich damit auch ein Reservoir an „Nachwuchskräften“ für freiwerdende Ämter. An dieser Stelle tut sich allerdings ein noch unentschiedener Deutungsstreit in der jüngeren Mediävistik auf,142 der einer Darstellung durch andere andernorts bedürfte.

Zum derzeitigen Stand der Debatte Der Streit um das Lehnswesen ist an sich alt, hat in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten aber eine enorme „Aktualität“ erfahren, die sich aus der Sicht der Gegenwart jedoch nicht einfach aus aktuellen „Zeitströmungen“ erklären lässt, wie das bei anderen Themen (etwa der Frauen- und Geschlechtergeschichte) der Fall ist. Neu ist allerdings, dass nicht nur einzelne Facetten der Theoriebildung über die Bedeutung und die Funktion des Lehnswesens in Staat, Gesellschaft und Militär des Mittelalters diskutiert werden, sondern das Modell als Ganzes in Frage gestellt wird. In der Sache handelt es sich bei dem Lehnswesen um eine innermediävistische Diskussion um ein spezifisch mittelalterliches, allenfalls in die Frühe Neuzeit hineinreichendes Phänomen, dessen Stellenwert unterschiedlich eingeschätzt und vor allem in Deutschland auch sehr überschätzt worden ist, indem es für das wichtigste 141 Reynolds, Fiefs and Vassals (wie Anm. 5), S. 111f.; Kasten, Lehnswesen – Fakt oder Fiktion (wie Anm. 51), S. 351–353. 142 Goetz, Staatlichkeit (wie Anm. 45), S. 120  ; Oliver Guillot, Une ordinatio méconnue. Le capitulaire de 823 – 825, in  : Peter Godman/Roger Collins (Hg.), Charlemagne’s Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious, Oxford 1990, S.  455–486  ; Yves Sassier, Représentation, délégation, ministerium dans les textes législatifs et parénétiques du règne de Louis le Pieux, in  : Philippe Depreux/Stefan Esders (Hg.), La productivité d’une crise. Le règne de Louis le Pieux (814–840) et le transformation de l’Empire Carolingien – Produktivität einer Krise. Die Regierungszeit Ludwigs des Frommen (814–840) und die Transformation des karolingischen Imperiums (Relectio 1), Ostfildern 2018, S.  175–184. Zusammenfassende Würdigung des derzeitigen Diskussionsstandes durch Patzold, Lehnswesen (wie Anm. 1), S. 35–38.

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Strukturprinzip der mittelalterlichen Staatlichkeit gehalten wurde. Der Überblick hat gezeigt, dass im Hinblick auf das Phänomen und die Deutung vor allem im Frühmittelalter in Folge der Studie von Susan Reynolds und in fruchtbarer Auseinandersetzung damit grundlegende Wandlungen der Forschung zu beobachten sind. Das Modell „Lehnswesen“ mit seiner auf Kausalitäten abhebenden Definition von Heinrich Mitteis und François Louis Ganshof ist dabei in seiner inhaltlichen und zeitlichen Starrheit zum großen Teil aufgegeben worden. Diese Abkehr von früheren Sicherheiten ist sicherlich auch im Zusammenhang der Abkehr von der – auch ideologisch belasteten – sogenannten Neuen Deutschen Verfassungsgeschichte seit den 1960er Jahren zu sehen oder zumindest dadurch erleichtert worden, auch wenn sie im Hinblick auf das Lehnswesen erst in den 1990er Jahren einsetzte und der Anstoß dazu von außen kam, nämlich durch Susan Reynolds (1994). Bei den neuen, divergierenden Deutungen erweist sich allerdings als problematisch, dass die jüngere deutsche Mediävistik den Begriff „Lehnswesen“ gerade wegen seiner definitorischen Implikationen nicht gänzlich aufgibt, obgleich bei Diskussionen auf Fachtagungen gelegentlich eben solches gefordert wird. Bei der in Angriff genommenen Revision der Quellen richtet sich der Blick der Forschung nämlich primär nur auf die Neubestimmung der Anfänge des Lehnswesens. Dieses Erkenntnisinteresse bezieht sich in der Hauptsache auf das hohe Mittelalter, während die Frühmittelalterforschung zunächst einmal an der Untersuchung der Vasallität interessiert gewesen ist. Die unterschiedlichen Deutungen auch in der jüngeren Mediävistik sind jedoch keineswegs allein eine Folge der Modellbindung „Lehnswesen“. Sie werden in gleichem oder noch stärkerem Maße erzeugt durch die Überlieferungslage, die Polysemantik der Quellensprache und die damit verbundenen Unsicherheiten der methodischen Herangehensweise. Deshalb ist es empfehlenswert, wie oben ausgeführt, von den Belegen her Stellung zu nehmen. Die Quellenbegriffe des frühen Mittelalters lassen sich nicht mehr in starr lehnsrechtlichen Formen deuten, sondern enthüllen mit ihrer Mehrdeutigkeit ein komplexeres staatliches Gebilde als den Mitteis’schen Lehnsstaat und eine vielschichtige landgestützte Ökonomie, zugleich aber, wie hier gezeigt werden sollte, auch eine innere Beziehung zwischen den verschiedenen Leiheformen auf allen sozialen Ebenen. Eine „geschlossene“ Deutung von Vasall-Sein und Lehnsmann-Sein ist dadurch kaum möglich.143

143 Nach Redaktionsschluss erschien Jürgen Dendorfer/Steffen Patzold (Hg.)  : Tenere et habere. Leihen als soziale Praxis im frühen und hohen Mittelalter (Besitz und Beziehungen. Studien zur Verfassungs­ geschichte des Mittelalters 1), Ostfildern 2023.

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La parenté au premier Moyen Âge, un objet de débats La parenté n’est pas essentiellement un phénomène social, [il] ne s’agit pas à travers elle exclusivement ni même primordialement de régler et de déterminer les rapports des êtres humains les uns avec les autres, mais de veiller à ce qu’on pourrait appeler l’économie politique de l’univers, à la circulation des choses de ce monde dont nous faisons partie.1

Cette citation du philosophe Patrice Maniglier à propos du livre de Maurice Godelier « Métamorphoses de la parenté »2 s’inscrit dans un large débat entre anthropologues, illustrant les difficultés actuelles à appréhender ce qu’est la parenté dans les sociétés humaines et comment elle a contribué à les définir. Jusqu’au début du XXI e siècle, les historiens ont été peu sensibles à ces débats extérieurs à leur discipline et se sont avant tout intéressés à des questions comme la forme des groupements de parenté,3 l’articulation entre la parenté et d’autres formes de liens sociaux4 ou encore le développement de la parenté spirituelle dans le contexte de la christianisation.5 Les discussions et divergences d’appréciation entre historiens et sociologues ou anthropologues, ou encore entre historiennes et historiens furent donc nombreuses par le passé.6 Je vou

Je remercie Hans-Werner Goetz pour sa relecture attentive et pour ses suggestions et remarques justifiées et stimulantes. 1 Patrice Maniglier, La parenté des autres. Sur Métamorphoses de la parenté de Maurice Godelier, dans : Critique 701, octobre 2005, p. 758–774. 2 Maurice Godelier, Métamorphoses de la parenté, Paris 2004. 3 Karl Schmid, Zur Problematik von Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Dynastie beim mittelalterlichen Adel, dans : Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 105, 1957, p. 1–61 (reprod. dans : Id., Gebetsdenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge, Sigmaringen 1983, p.  183–244)  ;  Georges Duby, Lignage, noblesse et chevalerie au XII e siècle dans la région mâconnaise. Une révision, in Annales E.S.C. 27, 1972, p. 803–824. 4 Gerd Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbildungen im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990 ; Gerhard Krieger (dir.), Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebens-und Kommunikationsformen im Mittelalter, Trier 2009. 5 Anita Guerreau-Jalabert, Spiritus et caritas. Le baptême dans la société médiévale, dans : Françoise Héritier/Élisabeth Copet-Rougier (dir.), La parenté spirituelle (= Revue française de sociologie 37/4), Paris 1995, p. 133–203 ; Ead., L’arbre de Jessé et l’ordre chrétien de la parenté, dans : Dominique Iogna-Prat/Eric Palazzo/Daniel Russo (dir.), Marie. Le culte de la vierge dans la société médiévale, Paris 1996, p. 137–170 ; Bernhard Jussen, Patenschaft und Adoption im frühen Mittelalter. Künstliche Verwandtschaft als soziale Praxis, Göttingen 1991. 6 Anita Guerreau-Jalabert/Régine Le Jan/Joseph Morsel, De l’histoire de la famille à l’anthropo-

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drais me limiter ici à quelques questions qui viennent parfois d’incompréhensions suscitées par des problèmes de terminologie (I), ou encore de débats résultant de l’ouverture plus ou moins grande à la sociologie et à l’anthropologie (II).7 Plus récemment, la question de l’historicisation et du nécessaire décentrage par rapport à l’Occident moderne a été posée par les historiens de la culture8 qui ont cherché dans les ontologies la clé de compréhension des phénomènes sociaux.9 Les spécialistes de la parenté ne sont pas restés en dehors de ces débats,10 dans des perspectives parfois polémiques (III).11 Pour comprendre les controverses qui se sont développées sur la parenté au haut Moyen Âge, il est nécessaire d’élargir la focale en regardant non seulement du côté du Moyen Âge central, mais aussi de l’Antiquité tardive. Il faut aussi articuler les représentations de la parenté aux interactions sociales, en prenant en compte tous les types de sources et en posant la question fondamentale du rapport de l’histoire aux sources : celles-ci révèlent-elles une réalité ou créent-elles cette réalité ?

Questions de définitions et de vocabulaire Le concept de parenté, différent de celui de famille, est tiré des sciences sociales qui inspirèrent les historiens de l’École des Annales en France dans les années 1930, puis les historiens de la « Neue deutsche Verfassungsgeschichte » en Allemagne. L’accent était alors mis sur l’étude des liens sociaux. Cependant, Marc Bloch qui avait assurélogie de la parenté, dans : Jean-Claude Schmitt/Otto Gerhard Oexle (dir.), Les tendances actuelles de l’histoire du Moyen Age en France et en Allemagne, Paris 2002, p. 433–447.   7 Pour une approche anthropologique, Régine Le Jan, Famille et pouvoir dans le monde franc (VII e–X e siècles). Essai d’anthropologie sociale, Paris 1995 ; Ead., De la France du Nord à l’Empire. Réflexions sur les structures de parenté autour de l’An Mil, dans  : Pierre Bonnassie/Pierre Toubert  (dir.), Hommes et Sociétés de l’An Mil, Toulouse 2004, p. 163–184.   8 Voir à ce sujet, Otto Gerhard Oexle, L’historicisation de l’histoire, dans : Schmitt/Oexle (dir.), Les tendances actuelles (n. 6), p. 31–46. Voir aussi les travaux sur la memoria comme structure englobante en Allemagne, en particulier Otto Gerhard Oexle (dir.), Memoria als Kultur (Veröffentlichungen des Max-Planck Instituts für Geschichte 121), Göttingen 1995. Voir aussi les travaux des historiennes et historiens de l’ecclesia en France, en particulier Dominique Iogna-Prat, Ordonner et exclure. Cluny et la société chrétienne face à l’hérésie, au judaïsme et à l’islam, 1000–1150, Paris 1998, et Id., La Maison Dieu. Une histoire monumentale de l’Église au Moyen Âge, Paris 2005.  9 Maurice Godelier, Aux fondements des sociétés humaines. Ce que nous apprend l’anthropologie, Paris 2007 ; Eduardo Viveiros de Castro, Métaphysiques cannibales. Lignes d’anthropologie post-structurale, Paris 2009 ; Philippe Descola, Par-delà nature et culture, Paris 2009. 10 Jérôme Baschet, Le sein du père, Paris 2000  ; Id., Corps et âmes. Une histoire de la personne au Moyen Âge, Paris 2016. 11 Hans Hummer, Visions of Kinship in Medieval Europe, Oxford 2018.

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ment lu les anthropologues et perçu le rôle central de la parenté dans les sociétés du haut Moyen Âge, n’a pas jugé pertinent, utile ou possible de définir les composantes et les caractéristiques de la parenté médiévale et rares furent ensuite les historiennes et historiens médiévistes à tenter de l’étudier dans ses composantes anthropologiques, en insistant sur la flexibilité du concept, caractéristique de la parenté cognatique.12 La parenté cognatique qui s’est développée en Occident au plus tard à partir du II e et III e siècle permettait en effet d’étendre la parenté par l’alliance et de redéfinir en permanence la forme des groupements bilatéraux qui soutenaient « les amitiés et les ambitions mutuelles ».13 Malgré tout, certains chercheurs restent encore attachés à l’idée que l’apparition de groupements plus resserrés et ancrés dans le sol, improprement appelés « lignages » ou encore « Geschlechter », entre le X e et le XII e siècles, traduisait un changement fondamental de la parenté occidentale qui aurait alors basculé vers la patrilinéarité. En s’inspirant des travaux de Claude Levi-Strauss, des historiennes et historiens ont ainsi cherché à distinguer la nature affective des relations entre les oncles maternels et leurs neveux et la nature autoritaire des relations entre les oncles paternels et leurs neveux pour « prouver » le caractère patrilinéaire des « lignages » féodaux.14 Or la terminologie ne va pas dans ce sens, puisque le terme avunculus qui s’appliquait en latin classique à l’oncle maternel est très largement indifférencié dès le haut Moyen Âge, tandis que le terme patruus, rarement utilisé, désigne toujours l’oncle paternel. Le croisement des données anthroponymiques et des modes de transmission de l’héritage traduit cependant dès le haut Moyen Âge des tendances patrilinéaires qui s’expliquent largement par la domination masculine, car la transmission du patrimoine n’est qu’un des éléments définissant et structurant la parenté. Il est possible de faire la même démonstration pour le mariage et l’échange des femmes. L’historienne ou historien de la parenté qui travaille sur les sociétés anciennes peut-il encore élaborer des grilles d’analyse, des questionnaires inspirés de l’anthropologie, alors que ces grilles sont elles-mêmes objet de controverses chez les anthropologues ? Ses sources constituent à la fois un biais et un filtre dont l’opacité a été vigou12 Le Jan, Famille (n. 7) ; Guerreau-Jalabert/Le Jan/Morsel, De l’histoire de la famille (n. 6) ; Joseph Morsel, L’aristocratie médiévale. La domination sociale en Occident (Ve–XVe siècle) (Collection U), Paris 2004. 13 Vita Geretrudis (BHL 3490), éd. Bruno Krusch, MGH SS rer. Merov. 3, Hanovre 1896, p. 452–474 ; traduction anglaise : Late Medieval France. History and Hagiography 640–720, éd. Paul Fouracre/ Richard A. Gerberding, Manchester 1996, p. 329. 14 Voir par exemple, Jean-Louis Kupper, L’oncle maternel et le neveu dans la société du Moyen Âge, dans : Bulletin de l’Académie royale de Belgique, ser. 6, 2004, p. 247–262 ; Robert Fossier, Histoires de famille, dans : Georges Duby (dir.), L’écriture de l’histoire, Bruxelles 1996, p. 1985.

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reusement soulignée dans le contexte du ‹ linguistic turn ›.15 Il est aussi contraint au « bricolage » et doit en permanence préciser ses concepts, son vocabulaire pour éviter des généralisations réductrices, des confusions, des incompréhensions. La définition des groupements de parenté a ainsi posé problème avant même que l’existence de tels groupements ne fassent l’objet de débats. Le terme Sippe, inventé par des historiens allemands du droit à la fin du XIX e siècle,16 a été adopté pour désigner les groupements larges et peu profonds du haut Moyen Âge qui cédèrent progressivement la place à des groupements plus verticaux désignés par les termes Geschlecht en allemand, lignage/lineage en français et en anglais. Les historiennes et historiens récusent désormais le terme Sippe, pour ses connotations « germaniques », mais aussi parce que ces groupements sont difficiles à définir.17 En cherchant du côté des sources les termes susceptibles de décrire les groupements, les chercheurs se sont heurtés à des difficultés génératrices d’incompréhensions.18 Les termes parentilla/parentela se rencontrent ainsi fréquemment dans les textes, mais le premier est presque uniquement utilisé dans les lois barbares, en particulier dans la loi salique, où il définit le groupe des ayants-droits à l’héritage et au wergeld, laissant de côté toute une série de parents. En revanche, les occurrences du terme parentela sont beaucoup plus nombreuses et moins restrictives, en particulier dans le contexte de l’extension des interdits de parenté, et il est souvent synonyme de cognatio : il correspond assez bien à la définition anthropologique des parentèles, c’est-à-dire des groupements bilatéraux centrés sur la personne (Ego), alors que les historiens y voyaient des groupements conscients d’eux-mêmes. Mais d’un autre côté, le terme parentela pourrait-il s’appliquer aux entrées mémorielles des livres de confraternité qui ont longtemps servi à caractériser les groupements larges   ?19 Ces listes de noms, qui attestaient qu’un groupe était entré dans une communauté cléricale ou monastique et bénéficiait désormais de ses prières, avaient presque toujours un initiateur, comme les réseaux egocentrés, mais elles ne comprenaient pas seulement des parents, mais aussi des amis et des fidèles, dans des circonstances le plus 15 Philippe Buc, Dangereux rituel. De l’histoire médiévale aux sciences sociales, Paris 2003. 16 Karl Kroeschell, Die Sippe im germanischen Recht, dans : Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 77, 1960, p. 1–26. 17 Alexander Callander Murray, Germanic Kinship Structure. Studies in Law and Society in Antiquity and the Early Middle Age (Studies and Text 65), Toronto 1983. Voir le bilan de Karl Ubl, Zur Einführung  : Verwandtschaft als Ressource sozialer Integration im frühen Mittelalter, dans : Steffen Patzold/ Karl Ubl  (dir.), Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300–1000) (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 90), Berlin/Boston 2014, p. 1–28. 18 Hans-Werner Goetz, Verwandtschaft im früheren Mittelalter (I)  : Terminologie und Funktionen, dans : Krieger (dir.), Verwandtschaft (n. 4), p. 15–36. 19 Schmid, Zur Problematik (n. 3).

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souvent conjoncturelles. Dans les années 850, le marquis Évrard de Frioul s’est ainsi fait inscrire dans les livres mémoriaux de Pfäfers et de Saint-Gall, avec son fils ainé et son épouse, mais aussi avec le comte Adalbert de Thurgau, lui-même suivi de parents et d’amis, à l’occasion de deux voyages qui l’ont fait passer par la Rhétie. Adalbert de Thurgau ne semble pas lui être apparenté, sinon d’une manière lointaine, mais il était son ami : l’entrée apparait ainsi comme une projection dans l’imaginaire de relations réelles et diverses, ce qui pose le problème de la définition de la parenté médiévale et des relations entre la parenté et les autres liens sociaux.20 L’intrication des liens de parenté, d’amitié, de fidélité, qui a fait l’objet d’études stimulantes de Gerd Althoff,21 doit elle-même être réévaluée à la lumière des travaux sur les affects, ce qui est une autre manière de s’interroger sur les relations entre la parenté juridique, telle qu’elle ressort des droits à l’héritage, au wergeld et des interdits de mariage, la parenté pratique, la parenté affective, la parenté rêvée.22

Autour du concept de parentélisation/déparentélisation du social En 1939, Marc Bloch écrivait qu’au haut Moyen Âge, la parenté était l’élément structurant la société et que, dans la société féodale, « le héros le mieux servi était celui dont tous les guerriers lui étaient joints soit par la relation nouvelle et proprement féodale de la vassalité, soit par l’antique relation de la parenté : deux attaches que l’on met couramment sur le même plan parce qu’également contraignantes ».23 Marc Bloch prenait en compte la forme des liens sociaux –parenté, vassalité – et leur caractère également contraignant et considérait la vassalité comme une relation personnelle nouvelle qui se substituait progressivement à la parenté à l’âge féodal, dans le contexte de l’éclatement des pouvoirs. La notion de parentélisation du social, indirectement tirée des travaux de Max Weber, a apporté un contenu sociologique à l’idée que la parenté était le lien structurel dans les sociétés du haut Moyen Âge : pour Max Weber, dans les sociétés traditionnelles, les liens personnels, au premier chef la parenté, 20 Saint-Gall, Liber vitae A, fol. 18r  : Die St. Galler Verbrüderungsbücher, éd. Dieter Geuenich/Uwe Ludwig, MGH Libri memoriales NS 9, Wiesbaden, 2019 ; Liber viventium Fabariensis. Das karolingische Memorialbuch von Pfäfers in seiner liturgie- und kunstgeschichtlichen Bedeutung, éd. Anton von Euw, Bern/Stuttgart, 1989, p. 66. 21 Althoff, Verwandte (n. 4). 22 Régine Le Jan, L’amitié et la haine au haut Moyen Âge. Une histoire de relations identitaires (L’univers historique), à paraitre. 23 Marc Bloch, La société féodale, Les classes et le gouvernement des hommes, Paris 1939, Livre Premier, chapitre 1 (rééd. 1994, p. 184).

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constituaient le cadre de la vie collective et de la domination24 et l’affaiblissement des liens personnels aurait ensuite accompagné le développement de l’État moderne, fondé sur un contrôle uniforme du territoire, sur une bureaucratie et sur le monopole de la violence, qu’il situait bien après le Moyen Âge. Mais les historiens français dits de l’Ecclesia, pour la plupart spécialiste du Moyen Âge central, ont appliqué le concept de parentélisation du social aux sociétés du haut Moyen Âge dans le contexte du Spatial turn, en laissant volontairement de côté la question de l’État qui a été l’objet de vifs débats, en particulier en Allemagne, entre les partisans d’une forme d’État, fondé sur des liens personnels et une forte ritualisation du pouvoir, un « Personenverbands­ staat »,25 et ceux qui insistaient au contraire sur l’étaticité, c’est-à-dire le maintien, à bas niveau, des institutions étatiques dans les royaumes barbares.26 Joseph Morsel met ainsi en relation la « déparentélisation » et la spatialisation des rapports sociaux avec l’affirmation puis le triomphe du dominium ecclésial aux XI e et XII e siècles, bien avant la naissance de l’État moderne : dans une perspective plus anthropologique, le dominium ecclésial se substitue à l’État des sociologues, avec une chronologie renouvelée, qui retrouve celle de Marc Bloch. La référence à l’espace, c’est-à-dire au château ou à la paroisse, deviendrait ensuite le critère principal d’identification sociale, en se substituant aux critères personnels, principalement parentaux : le pouvoir s’enracine autour de lieux polarisant l’espace – l’église et son cimetière, le château –, soumettant désormais les rapports de parenté à l’impératif de reproduction de ce pouvoir enraciné  : le patrimoine s’impose désormais aux descendants, transformés en héritiers, selon Joseph Morsel. La transition se serait ainsi faite lentement, depuis le IV e siècle, sous l’effet de la montée en puissance de l’Église, qui a imposé progressivement ses normes sur le mariage, en valorisant le célibat et la parenté spirituelle et en dévalorisant la parenté charnelle.27 Bernhard Jussen plaide également pour une « Entfamiliarisierung » liée à l’imposition de normes strictes sur le mariage.28 Dans cette 24 Max Weber, Economie et sociétés (1er ed., en allemand, 1922), Paris 1971 (rééd. 1995), p. 36. 25 Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997 ; Id., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003. 26 Stuart Airlie/Walter Pohl/Helmut Reimitz (dir.), Staat im frühen Mittelalter (Österreichische Aka­ demie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Denkschriften 334 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Vienne 2006  ; Walter Pohl/Veronika Wieser  (dir.), Der frühmittelalterliche Staat. Europäische Perspektiven (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Denk­ schrif­ten 16 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), Vienne 2009. 27 Joseph Morsel, L’histoire (du Moyen Âge) est un sport de combat …, 2007, Publication en ligne : (consulté le 25.02.2023). 28 Bernhard Jussen, Perspektiven der Verwandtschaftsforschung fünfundzwanzig Jahre nach Jack Goodys « Entwicklung von Ehe und Familie in Europa », dans : Karl-Heinz Spieß (dir.), Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters (Vorträge und Forschungen 71), Ostfildern, 2009, p. 275–324.

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perspective, le monde romain et le premier Moyen Âge constitueraient un même ensemble « parentalisé », dans lequel les équilibres sociaux sont assurés par des groupements de parenté peu spatialisés, la reproduction sociale se faisant par la transmission aux descendants des identités ancestrales, les « images » antiques par exemple. Il est clair qu’une telle chronologie fait débat, car l’un des arguments principaux est le mode d’identification principal des personnes, fondé sur les liens personnels, sans référence aux lieux et espaces, tandis qu’on passerait ensuite à un mode d’identification par les lieux.29 Le système anthroponymique romain avait lui-même évolué, sans qu’il soit possible de le mettre en relation avec une forme de spatialisation des rapports sociaux. Le système des tria nomina, d’abord révélateur d’une transmission patrilinéaire des identités, a beaucoup évolué entre le III e et le VI e siècle, avant de disparaitre. Les gentes patrilinéaires qui servent souvent d’argument pour affirmer que la parenté structurait le politique à l’époque romaine relèvent largement du mythe, puisqu’elles n’ont existé qu’à l’époque républicaine et qu’elles ne concernaient au mieux que la mince élite sénatoriale qui dominait alors le sénat de Rome. Avec l’extension de l’empire, l’intégration de barbares toujours plus nombreux et la montée de la classe équestre, elles laissèrent la place à des groupements beaucoup plus cognatiques comparables à ceux du haut Moyen Âge30 et le système du nom unique se généralisa. Il est vrai qu’il disparut progressivement au Moyen Âge central, mais les décalages ont été nombreux – entre le continent et l’Angleterre par exemple, l’ouest et l’est du continent –, selon niveaux sociaux aussi, sans qu’on puisse mettre ces décalages en relation avec une moindre parentélisation. Par ailleurs, les modes d’identification ultérieurs sont multiples et ne sont pas uniquement fondés sur le rattachement à un lieu. Il est certain que dans les sociétés traditionnelles, la parenté jouait un rôle considérable mais il faudrait préciser ce qu’on entend par parentélisation du social. Maurice Godelier a justement insisté sur le fait que ni la parenté ni l’économie ne faisaient société et qu’il fallait chercher du côté du politique et du religieux ce qui faisait tenir ensemble les personnes et les groupes.31 Certes, à l’époque romaine comme au haut Moyen Âge, les références à la naissance et à la famille déterminaient à la fois les dis29 Voir en particulier, Monique Bourin (dir.), Genèse médiévale de l’anthroponymie moderne. Etudes d’anthroponymie médiévale. I er et II e rencontres Azay-le-Ferron 1986/1987, Tours 1989, et les volumes suivants ; Michael Mitterauer, Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte, Munich 1993 ; Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (dir.), Nomen und gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16), Berlin/New York 1997, et les publications suivantes du projet « Nomen et gens ». 30 Christophe Badel, La noblesse de l’empire romain. Les masques et la vertu (Époques), Paris 2005. 31 Godelier, Aux fondements (n. 9).

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cours de légitimation des dominants, la reproduction sociale et l’essentiel de l’agency des acteurs, mais n’en allait-il pas de même dans la période suivante ? Par ailleurs, le compagnonnage guerrier s’est développé, le voisinage jouait un rôle non négligeable, le clientélisme n’a pas disparu avec la fin de l’empire romain et les Carolingiens ont fait un ample usage de la vassalité, cet antique lien d’homme à homme sur lequel ils ont cherché à assurer la chaine d’autorité des hommes libres. Enfin, les groupements larges que les historiennes et historiens ont reconstitués à travers les actions et les choix d’un certain nombre de « parents » sont caractéristiques des sociétés cognatiques où prime le contrat : au haut Moyen Âge comme à l’époque féodale, l’amitié était ce qui donnait force à la parenté et aux différents liens personnels. Hans-Werner Goetz a ainsi montré qu’autour de l’an 1000, la parenté restait une ressource importante, en matière d’assistance et d’aide, mais qu’elle entrait en concurrence avec d’autres formes de fidélité, de loyauté, d’autres amitiés, sans qu’on puisse parler de déparentélisation.32 Les sociétés post-romaines ont hérité de l’empire romain des cadres institutionnels, elles ont élaboré des corpus normatifs, civils et religieux, les rois s’y voyaient en chefs de leur peuple et en successeurs de l’empereur romain, ils avaient des agents royaux qui faisaient appliquer les lois et la justice, ils connaissaient aussi la différence entre le public et le privé. D’un autre côté, la puissance publique s’est considérablement affaiblie, le contrôle du territoire s’est relâché et l’autorité s’est exercée largement par le biais des liens personnels et des groupes de parenté. Les travaux de Michel Lauwers et de Florian Mazel ont pris en compte les changements intervenus dans l’Antiquité tardive  :33 la crise puis la chute de l’empire romain auraient entrainé une déterritorialisation et une parentélisation du social dans un cadre christianisé et de plus en plus nettement dominé par les évêques, mais dont l’horizon serait resté celui de l’empire tardo-antique, jusqu’à la réforme grégorienne. Le renforcement de la domination ecclésiale et l’institutionnalisation de l’Église à l’époque carolingienne seraient intrinsèquement liés à un processus de territorialisation et d’enracinement du pouvoir, qui a contribué à inscrire toutes les formes de liens sociaux dans un ensemble englobant et inclusif, l’Ecclesia, que le pape prétendit dominer seul à partir du milieu du XI e siècle.34 Les changements de la parenté s’inscriraient donc désormais dans une chronologie qui est celle du second âge féodal de Marc Bloch, mais qui a abandonné 32 Hans-Werner Goetz, « Verwandtschaft » um 1000  : ein solidarisches Netzwerk  ?, dans  : Patzold/ Ubl (dir.), Verwandtschaft (n. 17), p. 289–302. 33 Michel Lauwers/Florian Mazel, Le dominium universel de l’Église (XIIe–XIIIe siècle), dans : Florian Mazel (dir.), Nouvelle histoire du Moyen Âge, Paris 2021, p. 321–334. 34 Florian Mazel, La réforme grégorienne : un tournant fondateur (milieu XIe–début XIIe siècle), dans : Idem (dir.), Nouvelle histoire du Moyen Âge (n. 33), Paris 2021, p. 291–306.

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le prisme étatique pour celui du dominium ecclésial et de l’ontologie chrétienne. Jack Goody avait déjà suggéré que la législation de l’Église sur le mariage avait accéléré les transferts de biens à son profit.35 Ian Wood met aussi l’accent sur l’économie en montrant comment la transformation de la société post-romaine en une Temple Society avaient entrainé de profonds changements politiques et sociaux entre le IV e et le VII e siècle. La diminution de la pression fiscale, consécutive à l’affaiblissement des bureaucraties et surtout à la disparition d’une armée permanente à entretenir, aurait permis de transférer d’immenses quantités de richesses foncières à l’Église, qui lui servirent à entretenir un groupe de prêtres et de moines de plus en plus nombreux, et à s’arroger du même coup le monopole de la redistribution aux pauvres.36 Ian Wood laisse de côté la parenté, dont il connait par ailleurs toute l’importance dans les représentations et les interactions sociales, mais le concept de Temple Society aide à comprendre les connexions étroites entre l’Église, les rois et les puissants, l’interpénétration des sphères publiques et privées, religieuses et profanes, l’exercice de l’autorité par le biais de la familiarité, des liens personnels et des groupes de parenté. La parenté ne s’est donc pas substituée aux institutions, elle n’a jamais été seulement une institution juridique qui aurait légalement pallié l’absence ou la carence d’État, elle a été une relation flexible, multiforme, sans laquelle l’autorité ne pouvait s’exercer. La relation entre héritage et spatialité devrait aussi être précisée, au prix d’un décentrage, car d’un côté, l’héritage permettait le maintien de droits multiples et une forte circulation de la terre entre de larges groupes de co-héritiers, de l’autre, les chartes prouvent que souvent, les possesseurs et leurs voisins connaissaient les limites de leurs possessions. Le flux massif des donations aux églises et aux fondations religieuses à partir de la fin du IV e siècle signifie aussi que des familles et des institutions ont été capables de convertir des biens patrimoniaux en biens sacrés et ont ainsi créé des points fixes, des lieux polarisant les identités et les relations, c’est-à-dire des espaces relationnels.37 Le débat sur la « nature » des fondations religieuses, longtemps qualifiées de privées lorsqu’elles étaient fondées par des familles, pour mieux les opposer aux églises publiques, est un faux débat, puisque dans ces sociétés, tout établissement religieux était placé sous la « protection » du roi, de l’évêque, d’un puissant. Certaines églises ou certains monastères apparaissent comme des établissements fa35 Jack Goody, The development of the family and marriage in Europe, Cambridge 1983, trad. Française : L’évolution de la famille et du mariage en Europe, Paris 1985. 36 Ian N. Wood, The Christian Economy of the Early Medieval West  : Towards a Temple Society, Brooklyn, NY 2021, online  : (consulté le 25.02.2023). 37 Les transferts patrimoniaux en Europe occidentale, VIII e–X e siècle, (= MEFREM [Mélanges de l’École Française de Rome. Moyen Âge] 111/2, Rome 1999.

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miliaux, mais leurs protecteurs relevaient toujours, plus ou moins directement, de la sphère publique et la lutte des évêques carolingiens pour sacraliser les res ecclesiae et garantir leur inaliénabilité n’a pas porté sur les églises elles-mêmes, dont il fallait assurer l’entretien et la protection, mais sur les terres données aux églises. Cette lutte eut finalement assez peu d’impact mais fut ensuite reprise et amplifiée à l’époque grégorienne, dans un autre contexte, celui de la séparation des sphères laïques et ecclésiastiques. La multiplication des églises et des monastères au premier Moyen Âge constitue donc un phénomène d’ancrage spatial et de communautarisation peut-être aussi important que le développement des châteaux et des cimetières dans la période suivante. Certes, les fondations religieuses ne faisaient pas partie de l’hereditas, au sens juridique du terme. Les familles fondatrices conservèrent rarement le contrôle de leurs fondations sur plusieurs générations et à partir de l’époque carolingienne, la plupart des grands monastères sont passés sous le contrôle royal puis princier, mais le flux des donations a multiplié les liens d’amitié et les interactions entre les bienfaiteurs et les bénéficiaires. Ce sont ces interactions qui ont contribué au développement d’espaces relationnels dans lesquels s’inscrivaient les relations personnelles. L’Église a pensé la société et le pouvoir en termes de parenté, en articulant paternité et fraternité, elle a contrôlé une grande partie de la terre et organisé l’espace, offrant ainsi des modèles aux autres possesseurs.38 Le rapport parentalité-spatialité devrait donc se concevoir en termes de complémentarité, plutôt qu’en termes d’opposition, en prenant en compte la notion d’espace relationnel ou transactionnel39 ou encore celle d’espace public.40 Sans nier l’importance des changements qui sont intervenus aux XI e et XII e siècles permettent-ils d’opposer un premier Moyen Âge parentalisé à un second Moyen Âge déparentélisé et spatialisé ? Le resserrement et la hiérarchisation de la parenté, qui sont dus à de multiples facteurs dont l’extension des interdits de parenté qui obligeait à mieux connaitre ses ancêtres41 et le mode de transmission de l’héritage, ont commencé dès la fin du IX e siècle et se sont poursuivis sur plusieurs siècles, selon des rythmes différents selon les régions et les niveaux sociaux, et ils n’ont rien enlevé à la force des liens horizontaux qui ont continué de façonner le champ relationnel des personnes, d’autant plus aisément que le christianisme les sublima 38 Iogna-Prat, La Maison Dieu (n. 8). 39 Jean Remy, Spatialité du social et transactions, dans : SociologieS 2016 : Espaces et transactions sociales ; en ligne : https://doi.org/10.4000/sociologies.5354. 40 Jürgen Habermas, L’espace public. Archéologie de la publicité comme dimension constitutive de la société bourgeoise, trad. de l’allemand, Paris 1993 ; Patrick Boucheron/Nicolas Offenstadt (dir.), L’espace public au Moyen Âge. Débats autour du livre de Jürgen Habermas, Paris 2011. 41 Karl Ubl, Inzestverbot und Gesetzgebung. Die Konstruktion eines Verbrechens (300–1100) (Millennium-Studien 20), Berlin 2008.

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sous le couvert de la fraternité des fils de Dieu. Pour sortir des débats parentélisation/ déparentélisation, il faut prendre en compte les diverses formes de parenté et plus généralement la multiplicité des relations et des identités ainsi que la possibilité de convertir des liens personnels ou de leur donner force par le biais de l’amitié.

Diverses formes de parenté Dans aucune société humaine, la parenté n’est un phénomène purement biologique, mais une production sociale qui permet aux êtres humains de classer leurs semblables par la représentation, la terminologie et les comportements, de se lier entre eux et de se rattacher aux divinités. Il n’y a pas de débats sur ce point, malgré ce qu’a récemment affirmé Hans Hummer.42 Dans une représentation du monde qui n’opère pas de distinction tranchée entre la nature et la culture, le donné et l’acquis comme dans le monde désenchanté de l’Occident moderne,43 la parenté peut bien être considérée comme magique, selon la formule de Viveiros de Castro,44 puisque, par toute une série de conversions et d’inclusions, elle prend des formes multiples, elle transforme et se transforme. Les historiennes et historiens de l’Antiquité ont ainsi mis en lumière l’importance de l’adoption à Rome et les différentes formes de paternité qui en découlaient   : d’un côté le géniteur (genitor), de l’autre le père social (pater) qui détenait l’autorité sur le groupe en tant que paterfamilias. Les deux formes de paternité se recoupaient le plus souvent, mais l’engendrement n’a jamais suffi à faire un fils légitime et un héritier, le père devant reconnaitre son fils par un rituel d’élévation. Au besoin, le pater avait la possibilité d’adopter un fils, auquel il était ou non apparenté, pour en faire son héritier et un membre du groupe familial. Le rituel d’adoption créait alors un lien de filiation analogue à celui de la filiation légitime. La distinction entre genitor et pater fut traditionnellement associée aux gentes patrilinéaires de l’époque républicaine qui disparurent rapidement, si bien que dès l’époque impériale, les deux termes devinrent largement synonymes. Malgré tout, la force du mariage publique romain créait une distinction entre les fils légitimes, nés dans le mariage et pleinement reconnus, et les fils naturels, nés hors du mariage. Il est intéressant de noter que les lois lombardes des VII e–VIII e siècles opéraient elles aussi une distinction entre les fils/filles légitimes et les fils/filles naturels, de même qu’entre les frères/sœurs légitimes et les naturels. 42 Hummer, Visions (n. 11). 43 Descola, Par-delà nature (n. 9), p. 425. 44 Viveiros de Castro, Métaphysiques cannibales (n. 9).

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Les enfants légitimes, nés dans le mariage, recevaient une part plus importante de l’héritage que les enfants naturels, nés hors mariage et avaient également droit à un wergeld plus important. Pour autant, les enfants naturels n’étaient pas rejetés hors du groupe, parce qu’ils avaient été socialement reconnus comme enfants du père, ce qui n’était probablement pas le cas d’autres enfants. Il est également intéressant de noter que les lois franques ne distinguaient pas entre enfants légitimes et enfants naturels, suggérant que la différence entre mariage légitime et concubinage était encore floue à l’époque mérovingienne et que tous les fils étaient considérés comme des héritiers dès lors qu’ils étaient reconnus par leur père. La législation carolingienne fit du mariage publique un élément central de l’ordonnancement social et contribua ainsi à distinguer plus clairement mais pas complètement les enfants légitimes des enfants naturels pour les droits d’héritage, mais non pour le statut : la distinction n’enlevait rien à la force des relations affectives et il faudra d’ailleurs encore plusieurs siècles pour que s’impose la notion infamante de bâtardise. L’adoption romaine régressa puis finit par disparaitre presque complètement dès les premiers siècles du Moyen Âge, mais à l’époque tardo-antique au plus tard étaient apparues d’autres formes d’adoption qui ne relevaient pas du champ de la parenté juridique, mais davantage de la parenté nourricière et affective, même quand elles avaient un caractère politique affirmé. L’adoption par les armes ou par le rituel de la coupe de cheveux ou de la barbe ne se substituait pas aux liens de filiation charnels, mais n’en était pas moins politiquement importante : l’empereur Zénon adopta Théodoric par les armes avant de l’envoyer en Italie ;45 Charles Martel envoya son fils Pépin auprès du roi des Lombards Liutprand pour qu’il procède à sa première coupe de cheveux, ce qui faisait de lui un fils et qui assurait aux Francs la paix avec les Lombards.46 Ces formes d’apparentement aux plus hauts niveaux de la société étaient peut-être peu nombreuses, mais leur impact social n’en était que plus fort. En revanche, l’envoi d’un jeune auprès d’un père ou d’un seigneur nourricier était fréquent et créait des relations fortes et durables entre les familles. Les médiévistes ont longtemps opposé la parenté légale, qui déterminait la plénitude des droits de l’héritier, le statut de l’épouse ou l’assurance d’obtenir de l’aide, aux autres formes de parenté, considérées comme artificielles, donc moins efficaces, car fondées sur des rituels et des affects. Les textes moraux insistent sur le fait que la parenté était conçue comme un lien « naturellement » porteur d’amour et de 45 Jordanès, Getica LVII, 289, éd. et trad. Antonino Grillone (Auteurs latins du Moyen Age 30), Paris 2017, p. 243. 46 Paul Diacre, Histoire des Lombards VI, 53, trad. française François Bougard (Miroirs du Moyen Âge), Turnhout 1994, p. 149.

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confiance, puisque, dans toutes les sociétés, les membres d’un même groupe familial présentent une grande similitude dans leurs expériences et leurs comportements affectifs,47 quand ils sont exposés aux mêmes évènements et qu’ils partagent les mêmes normes. La parenté était donc une forme d’amitié qui engageait à la bienveillance, mais la relation entre parenté et amitié n’est pas aussi claire qu’on le croit. Au début du VI e siècle, Cassiodore écrivait d’ailleurs   : « on appelle amis ceux qui, grâce à d’honorables efforts, sont unis en une communauté morale, on appelle proches ceux qui nous sont associés dans l’ordre de la parenté ; on appelle connaissances ceux qui ne sont ni amis ni proches, mais qui nous connaissent par la seule réputation ou de vue ».48 L’auteur fait ainsi passer la proximité morale des amis avant le lien de parenté qui semble pour lui un lien purement juridique, dans la tradition cicéronienne. Aristote puis Augustin avaient aussi exprimé une différence, tout en montrant comment parenté et amitié se rejoignaient. Le texte fut ensuite repris mot pour mot par Sigebert de Gembloux au milieu du X e siècle dans la Vie de l’évêque Thierry de Metz quand il décrit les relations entre Thierry et son cousin Brunon de Cologne   : Entre eux les relations naturelles (naturalis consuetudo) de la parenté (propinquitas) avait d’abord engendré l’amitié ; ensuite l’habitude de la familiarité avait nourri la bienveillance. Si celle-ci peut être évacuée de la parenté, elle ne peut l’être de l’amitié, parce que si la parenté sans bienveillance conserve un nom vide, l’amitié est inséparable de la bienveillance. Ainsi chez ces cousins, l’amitié répondait à la parenté et la bienveillance affermissait leur affection réciproque.49

Sigebert, comme les Anciens, concevait le lien de parenté comme une relation naturelle fondée en droit, qui ne relevait pas du même champ moral que l’amitié ; seule la familiarité et la volonté pouvaient transformer la parenté en amitié, pour vouloir le bien de l’autre. La parenté sans bienveillance restait donc une coquille vide et l’amitié se trouvait ainsi au centre du champ relationnel. Juridiquement, au haut Moyen Âge, les relations de parenté déterminées par l’héritage et les interdits de mariage s’étendaient très largement dans les trois lignes de parenté nées de la consanguinité, de 47 Agneta H. Fischer/Anthony S. R. Manstead, Social Functions of Emotions, dans : Lisa Feldman Barrett/Michael Lewis/Jeannette M. Haviland-Jones (dir.), Handbook of Emotions, 4me éd., New York/Londres 2016, p. 424–439. 48 Cassiodore, Expositio psalmorum, Ps 87, ed. Marc Adriaen (CCSL 98), Turnhout 1958, reproduit dans : Library of Latin Text, series A, Brepols Publishers online : Amicos enim significat, qui honestis studiis morum uicinitate coniuncti sunt ; proximos qui nobis parentelae ordine sociantur ; notos, qui neque amici neque proximi sunt, sed sola nos opinione uel uisione didicerunt. 49 Le Jan, Famille (n. 7), p. 83–84.

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l’affinité et du parrainage, mais en pratique, les droits étaient eux-mêmes « affectés » et dotés d’une forme de corporéité, si bien que les questions essentielles que chaque personne se posait étaient de savoir de qui elle était le fils/la fille, le frère/la sœur, qui il était possible ou non d’épouser, avec qui s’associer, créer de la parenté et ce qu’on pouvait réellement attendre d’un « parent » en termes de biens, d’aide, de bienveillance, envers qui on avait des devoirs, en définitive qui il fallait « aimer », avec plus ou moins d’intensité. Toutes ces questions montrent qu’il est non seulement nécessaire de replacer la parenté dans le contexte plus large des liens sociaux, comme l’a fait Gerd Althoff,50 mais qu’il faut aussi reconsidérer la définition de la parenté et sa place dans la représentation du cosmos considéré par le christianisme comme un ensemble unifié par le système des analogies et hiérarchisé.51 Dans le schéma marxiste, qui a longtemps prévalu, il ne pouvait y avoir de relation entre la filiation parentale et les différentes formes de relations hiérarchiques caractéristiques des sociétés antiques et médiévales, comme le clientélisme entre un patron et ses clients, le seigneur et ses vassaux, le maitre et ses esclaves, parce que ces relations étaient fondées sur une relation de domination entre dominants et dominés. Jean-Pierre Devroey réfute aussi l’idée que ces relations de domination aient pu être incluses dans la parenté, mais admet qu’elles aient eu une relation analogique entre elles.52 Par le bais de l’analogie, elles ont été assemblées en un même ensemble cosmologique. La plupart des médiévistes acceptent désormais l’idée que les relations d’autorité entre le roi et ses sujets, l’évêque et ses ouailles, l’abbé/abbesse et ses moines/moniales, inscrites dans la paternité publique romaine, elle-même revisitée par le christianisme à partir du IV e siècle, rentraient dans le moule de la parenté chrétienne, toutes les relations verticales étant désormais considérées comme dérivant de la paternité, tout en se combinant, plus ou moins facilement avec les relations horizontales considérées comme une extension des liens de fraternité. Le christianisme a imposé l’idée que toute la communauté chrétienne, unie dans l’amour de Dieu (la caritas), formait par la magie du baptême une seule et même famille spirituelle, mais aussi qu’ici-bas, cette communauté se réalisait d’abord au sein de la famille chrétienne, instituée par Dieu au commencement pour reproduire à l’infini les relations de paternité et de fraternité, dans une interpénétration des sphères charnelles et spirituelles caractéristique du haut Moyen Âge. Dès le VI e siècle, les registres social et spirituel se recouvrirent complètement chez les épistolographes chré50 Althoff, Verwandte (n. 4). 51 Descola, Par-delà nature (n. 9), p. 476–477. 52 Jean-Pierre Devroey, Puissants et misérables. Système social et monde paysan dans l’Europe des Francs (VI e–IX e siècle), Bruxelles 2006, p. 138–143.

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tiens, quand ils s’adressèrent à leurs amis comme à des frères (fratres), ou à des fils (filii) et qu’ils soulignèrent la fraternité (fraternitas) ou la germanité qui les unissaient. Ainsi, tandis que la parenté charnelle, fait institué par Dieu et socialement élaboré à partir de la combinaison des liens de filiation et d’alliance matrimoniale, et la filiation spirituelle créée par le parrainage, réglaient la sexualité et la reproduction sexuée, la filiation divine englobait l’ensemble des liens de parenté charnelle et spirituelle par lesquels la société chrétienne se représentait comme un réseau de parenté structurant les rapports sociaux et régissant les relations entre les hommes et les forces du cosmos. Les relations entre les hommes et les figures divines étaient ainsi pensées en termes de parenté, comme la filiation, l’alliance, la germanité.53 Jérome Baschet a bien montré comment, dans un premier temps, les premiers Pères de l’Église avaient opposé radicalement la parenté céleste et la parenté terrestre et comment, aux IV e et V e siècles, l’institutionnalisation de l’Église avait conduit à un renversement des termes, l’Église acceptant les institutions terrestres et s’efforçant désormais de les contrôler. Le baptême acquiert alors son statut de rite social fondateur qui transforme l’homme en fils de Dieu et les chrétiens en frères dans le christ. Dieu devient Père, tandis que la figure de la Vierge se précise progressivement comme Mère de Dieu et que l’Église devient elle-même la Mère-Église et la personnification de l’institution.54 Baschet fait aussi la différence entre la parenté divine et la parenté spirituelle, même si elles sont fondamentalement de même nature et créées par le rite baptismal. La parenté divine, soutenue par la circulation de l’amour divin, la caritas,55 unifie la société chrétienne, mais la germanité généralisée qui en découle reste un horizon inaccessible reporté dans l’au-delà paradisiaque  : elle est largement inefficace dans la logique des dominations sociales et des règles familiales.56 Elle constitue néanmoins l’ensemble des représentations fondées sur l’abolition des fondements de la reproduction humaine selon l’ordre charnel puisque dans le noyau divin, le Fils égale le Père, la Vierge est mère de son Père et la Vierge-Église est mère et épouse du Christ : toute généalogie est alors abolie. En revanche, ici-bas, la parenté spirituelle, ancrée socialement par les rites concrets du baptême et de la sociabilité, est médiatrice, puisqu’elle s’associe aux liens charnels, qu’elle les transforme et que, tout en perturbant la logique généalogique, elle ne l’abolit pas. Les travaux de Bernhard Jussen sur le parrainage ont aussi montré qu’il était une forme de parenté choisie, comme 53 Baschet, Le sein du père (n. 10), p. 29–30. 54 Ibid., p. 31. Voir aussi Anita Guerreau-Jalabert, L’Arbre de Jessé et l’ordre chrétien de la parenté, dans : Iogna-Prat/Palazzo/Russo (dir.), Marie (n. 5), p. 137–170. 55 A. Guerreau-Jalabert, Caritas y don en la sociedad medieval occidental, dans : Hispania. Revista española de historia 60 (204), 2000, p. 27–62. 56 Baschet, Le sein (n. 10), p. 44–46.

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l’alliance, qui créait des liens de paternité et corrélativement des relations horizontales par le commérage, pensé en termes de fraternité.57 Le parrainage élargissait le cercle des alliés et constituait le lien spirituel le plus valorisé. Malgré les interdictions qui furent rapidement posées, les parrains et marraines étaient fréquemment choisis au sein de la parenté charnelle, de manière à renforcer le lien social en le fondant dans le sacré. L’extension des interdits de mariage pour cause de parenté charnelle et spirituelle à partir du X e siècle et surtout aux XI e et XII e siècles, était une radicalisation inapplicable, qui est avant tout le signe d’un contrôle beaucoup plus fort sur le mariage, au moment où l’Église accentue sa domination sur la société et la séparation entre les sphères laïque et ecclésiastiques.58 D’autres liens choisis, comme le lien vassalique, l’appartenance à la chevalerie ou encore aux confréries et guildes, peuvent aussi être assimilés à de la parenté spirituelle, dès lors qu’ils ont été christianisés.59

La parenté en question En 1984, dans un livre qui a fait date chez les anthropologues, mais qui eut alors peu de répercussions chez les historiens, David Schneider a contesté la pertinence du concept de parenté comme principe organisationnel des sociétés humaines, tel que l’avaient défini les maîtres de l’anthropologie, de Lewis Morgan à Claude Lévi-­ Strauss.60 La « Doctrine of the Genealogical of Unity of Mankind » selon laquelle les liens générationnels et généalogiques fondaient la spécificité de l’humanité et l’idée que la parenté était à l’origine des sociétés humaines étaient des inventions des chercheurs occidentaux des XIX e et XX e siècles : confrontés à la disparition de la vieille cosmologie judéo-chrétienne et au désenchantement du monde,61 ils avaient voulu donner sens à la société occidentale à laquelle tous appartenaient, en réagençant leur passé à la lumière de l’étude des sociétés primitives et en imposant cette vue de l’histoire aux autres populations.62 Ils firent donc de la parenté le principe organisationnel

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Jussen, Patenschaft (n. 5). Ubl, Inzestverbot (n. 41), p. 486–498. Baschet, Le sein (n. 10), p. 59–60. David Murray Schneider, American Kinship. A Cultural Account, Englewood Cliffs, NJ, 1968 ; Id., A Critique of the Study of Kinship, Ann Arbor 1984. 61 Sur le désenchantement du monde, voir : Max Weber, Wissenschaft als Beruf, Munich 1919. Voir aussi Marcel Gauchet, Le désenchantement du monde. Une histoire politique de la religion, Paris 1985, et Hartmut Lehmann, Die Entzauberung der Welt. Studien zu Themen von Max Weber, Göttingen 2009. 62 Jack Goody, Le vol de l’histoire. Comment l’Europe a imposé le récit de son passé au reste du monde, Paris 2015 (version anglaise originale : The Theft of History, Cambridge 2006).

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de toutes les sociétés humaines et l’étude des systèmes de parenté devait permettre de comprendre l’évolution de l’humanité depuis les primitifs jusqu’à son accomplissement dans la société européo-nordaméricaine. David Schneider, qui s’inscrit dans le courant culturaliste, ne fut pas le seul à remettre en cause les modèles et les systèmes anthropologiques et à contester les conceptions évolutionnistes des premiers anthropologues. En démontant les présupposés idéologiques des premières enquêtes, les modèles se trouvaient vidés de leur sens, alors même que les méthodes ethnographiques étaient elles-mêmes contestées, en soulignant que toute enquête ethnographique crée une vaste « chaine d’interdépendances » entre l’enquêteur et ses enquêtés, qui oriente sa dynamique. Les premiers anthropologues furent ainsi accusés d’avoir imposé des questionnements construits à partir de leurs propres valeurs et orienté les réponses. Une conséquence de ces remises en cause fut qu’un certain nombre d’historiens mirent l’accent, comme Didier Lett, sur la parenté pratique, sur les relations hommes-femmes, le genre et le caractère affectif des relations, des aspects qui avaient été largement laissé de côté.63 Les travaux de David Schneider ont provoqué de nombreuses réactions parmi les anthropologues et suscité les recherches de Janet Carsten et Marilyn Strathern qui ont permis de réintégrer la parenté dans le champ des études sociologiques par le biais de la notion de personne et de la relationnalité (relatedness).64 Marcel Mauss avait déjà utilisé la notion de personne comme une catégorie de l’esprit humain par rapport au Tout,65 dans la tradition platonicienne et aristotélicienne dont il était nourri. Dans son acception antique, le terme πρόσωπον/persona désigne le masque, le rôle, le caractère, le personnage d’une pièce de théâtre, et par extension le monde-société, une scène sur laquelle évoluent des personnes qui jouent divers rôles, dans un univers entièrement relationnel.66 La personne relationnelle est le contraire de la personne « individuelle », cette dernière étant le moi occidental considéré comme un être donné auquel s’ajoute un microcosme de relations nouées au cours de son existence. La personne relationnelle au contraire est entièrement constituée par ses relations, qui précèdent l’être, elles créent ses diverses identités qui la font coexister, au sens propre, avec et dans d’autres personnes, avant même sa naissance, 63 Didier Lett, Hommes et femmes au Moyen Âge. Histoire du genre XII e–XV e siècle, Paris 2013. 64 Marilyn Strathern, The Gender of the Gift, Berkeley 1988. Ead., Kinship, Law and the Unexpected. Relatives Are Always a Surprise, Cambridge 2005 ; Janet Carsten, After Kinship, Cambridge 2004. Voir aussi Irène Théry, La distinction de sexe. Une nouvelle approche de l’égalité, Paris 2007 ; Bruno Karsenti, La Société en personnes. Études durckheimiennes, Paris 2006, p. 4–6 ; Viveiros de Castro, Métaphysiques cannibales (n. 9). 65 Marcel Mauss, Sociologie et anthropologie, 3me éd., Paris 1989, p. 331–332. 66 Pierre Legendre, De la société comme texte. Linéaments d’une anthropologie dogmatique, Paris 2001.

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tout au long de sa vie et après sa mort. Elle est entièrement un « être en relation », non limité sinon sans limites.67 Les historiennes et historiens médiévistes n’ont pris connaissance de ces débats théoriques que tardivement. Karl Ubl a montré tout leur intérêt dans son introduction au volume « Verwandtschaft, Name und Soziale Ordnungen », paru en 2014.68 Dans son livre « Corps et âmes. Une histoire de la personne au Moyen Âge », paru en 2016, Jérôme Baschet a repris l’idée que dans les sociétés médiévales, la personne se constituait par des relations envers lesquelles elle était engagée avant même de voir le jour et il insiste sur le fait que ces relations impliquaient les multiples instances, humaines et non-humaines, qui intervenaient dans sa procréation, tout autant que la configuration des relations socialement établies qui lui attribuaient une place et un statut. Ce n’est donc pas la somme des relations qui faisait la personne, mais au minimum, le réseau de relations qui se dessinait autour d’elle et en elle et qui créait des chaines d’interdépendances.69 Chaque relation est porteuse d’une identité spécifique et dans chacune de ses relations, la personne semble n’exister qu’à travers cette seule identité, abstraction faite de tous les autres contextes sociaux, elle assume un « rôle » particulier, sur une scène sociale propre à chaque rôle. Les acteurs interagissent donc selon le rôle défini par la relation (au sens propre la persona antique), avec une marge de manœuvre d’autant plus importante qu’ils sont de sexe masculin et de rang élevé. Marshall Sahlins précise aussi que la personne a des aspects de son moi distribués de manière variable dans d’autres êtres qui sont ainsi réciproquement co-présents et interdépendants.70 Cette idée de la participation des êtres aux autres comme condition de leur existence se trouvait déjà chez Platon et Aristote, elle est au cœur de la conception de la personne médiévale et renvoie directement à la parenté, dont on saisit alors toute la complexité. La relationnalité permet ainsi de comprendre comment des sociétés à dominante communautaire comme celles du haut Moyen Âge utilisent les affects pour exprimer leurs relations sociales et pour qualifier des personnes, en l’occurrence des parents, au moyen d’interactions symboliques, de gestes plus ou moins codés. Ces interactions, bien étudiées par Erving Goffman dans son livre « Stigmates », paru en 1975,71 sont fondées sur des stéréotypes attachés à une identité (aussi bien dans le discours que dans les représentations) et sur des actes qui permettent aux acteurs d’assigner une qualification à tel ou tel interlocuteur. Dési67 Karsenti, La Société (n. 64), p. 4–6. 68 Ubl, Zur Einführung (n. 17). 69 Baschet, Corps et âmes (n. 10), Paris, 2016. 70 Marshall Sahlins, What Kinship Is and Is not, Chicago 2012. 71 Erving Goffman, La mise en scène de la vie quotidienne, vol. 1 : La présentation de soi, Paris, 1973 ; Id., Stigmate. Les usages sociaux des handicaps, Paris 1975.

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gner une personne comme un parent par des paroles ou des gestes conduit ainsi à l’identifier publiquement comme tel et à déterminer les comportements attachés à ce label. Les signes envoyés sont alors d’autant plus forts qu’ils permettent d’intégrer et d’exclure, d’identifier l’autre comme parent ou étranger, supérieur ou inférieur, en définitive comme ami ou ennemi. Dans « Visions of Kinship in Medieval Europe », paru en 2018, Hans Hummer a vigoureusement critiqué les historiennes et historiens de la parenté et s’est inscrit dans le courant relationnel.72 Il avance que les médiévistes ne se sont pas détachés des présupposés de l’Occident et qu’ils sont ainsi restés attachés aux « systèmes », aux reconstructions généalogiques, à la rigidité de structures et de fonctions mécaniques, de droits et de devoirs, le tout soutenu par des présupposés biologiques. Ils auraient ainsi conservé une conception complètement biologisée de la parenté et la dichotomie naturel/social qui sont celles de l’Occident moderne et qui ne peuvent être valides pour des sociétés non-occidentales ou dans l’Europe du Moyen Âge. Hummer réfute, à juste titre d’ailleurs, toutes les formulations sur la parenté « fictive » ou « surimposée » qui présument la dichotomie nature-culture, tout comme l’idée que la parenté ait pu être une structure de base indépendante des autres domaines comme la religion ou la politique.73 Il cherche donc lui aussi dans la cosmologie médiévale et ses conceptions sur la nature du monde à comprendre les relations entre le corps et l’âme, la parenté charnelle et la parenté divine/spirituelle. La parenté divine dans sa forme la plus exaltée est une représentation de la socialité divine tandis qu’il considère la parenté charnelle comme n’étant que la réverbération de la reproduction spirituelle. La parenté spirituelle n’est donc pas une forme de parenté spécifique, ni une extension de la parenté « réelle », elle est la forme parfaite de ce qui est vu dans le charnel : le spirituel masquerait le charnel.74 Ces conceptions font débat dès lors qu’on examine les exemples qui servent d’arguments. Hummer cite ainsi le passage de Nithard, qui raconte l’Assemblée de Worms de 839 au cours de laquelle l’empereur Louis le Pieux pardonne à son fils ainé Lothaire, avant de procéder au partage de l’empire entre Charles et Lothaire, en implorant ses fils « de toujours s’aimer l’un l’autre », reprenant ainsi la parole de Jean 13,14.75 Or, dans ce passage, rien ne prouve que Nithard oppose une parenté qui serait celle du sang à une parenté spirituelle comme le suppose Hummer, il affirme que les frères doivent s’aimer entre eux pour réaliser le plan divin,

72 Hummer, Visions (n. 11). 73 Ibid., p. 109. 74 Ibid., p. 109–110. 75 Nithard, Histoire des fils de Louis le Pieux, I,7, éd. Philippe Lauer, revue par Sophie Glansdorf (Les classiques de l’histoire au Moyen Âge 51), Paris 2012, p. 38–39.

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dans la tradition augustinienne. Augustin, dans la Cité de Dieu, avait repris à Aristote l’idée que la parenté formait le tissu d’une Cité harmonieuse, désormais perçue comme la société chrétienne unifiée par l’amour de Dieu  : toute l’humanité dérive d’un seul homme, Adam, si bien que chacun est apparenté à l’autre et que l’extension des prohibitions de l’inceste permet d’intégrer des étrangers tout en restreignant la concupiscence et en proscrivant une zone de relations. La parenté d’Augustin est donc une parenté transformée, comprenant des parents par le sang, des amis, des étrangers, devenus des frères, soumis au vrai Père, mais peut-on en conclure, comme le fait Hummer, que les faits de parenté n’apparaissent que pour souligner ou expliquer les mystères les plus profonds de l’organisation humaine, c’est-à-dire une parenté complètement enracinée dans le divin ?76 Dans les chapitres traitant plus directement de la parenté médiévale, Hummer utilise la relationnalité et l’insertion des faits de parenté dans des ensembles sociaux plus larges, aux formes multiples et aux manifestations protéiformes pour montrer comment les expressions des relations familiales se modifient au fil du temps. L’analyse de la correspondance de Sidoine Apollinaire lui permet de montrer la rupture qu’a constituée pour lui son accession à l’épiscopat, après avoir occupé la préfecture du prétoire à laquelle ses ancêtres, ses alliances et son réseau d’amis et de parents lui avait donné accès. Son réseau d’amis était animé par la parenté, c’est-à-dire une intimité générée par des expériences communes. Devenu évêque en 469/70, Sidoine Apollinaire continue d’entretenir son réseau d’amis, mais il met désormais en avant la conversion de son grand-père, devenue un évènement fondateur de sa famille.77 Dans ce même chapitre, Hummer analyse aussi la correspondance de Ruricius de Limoges et commence à critiquer d’une manière quelque peu caricaturale et souvent inexacte le « schéma biologique » qui sous-tendrait encore les travaux des historiens médiévistes. Il reprend ainsi l’article de Conrad Walter et Steffen Patzold sur les origines de l’épiscopat en Gaule entre le IV e et la fin du VI e siècle, dans lequel les auteurs ouvrent une sorte de controverse en remettant en cause l’idée selon laquelle l’épiscopat aurait été monopolisé par les familles sénatoriales de Gaule et en avançant, à partir de quelques exemples, que la parenté n’avait joué qu’un rôle marginal dans l’accession à l’épiscopat, comme dans le royaume lombard. Malgré cette démonstration qu’il qualifie de « lumineuse », Hummer reproche aux auteurs de ne pas donner un schéma alternatif à la parenté « biologique ».78 En re-

76 Hummer, Visions (n. 11), p. 136. 77 Ibid., p. 150–151. 78 Conrad Walter/Steffen Patzold, Der Episkopat im Frankenreich der Merowingerzeit  : eine sich durch Verwandschaft reproduzierende Elite, dans  : Patzold/Ubl  (dir.), Verwandtschaft (n.  17), p. 109–140. Hummer, Visions (n.11), p. 152–153.

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vanche, Hummer montre bien comment dans ses lettres, Ruricius de Limoges superpose au langage de la parenté celui de l’amitié accordée à des individus qui se situent aussi bien à l’intérieur qu’à l’extérieur du cercle défini par les relations procréatrices, les manifestations de la parenté étant elles-mêmes conditionnées par sa perception de luimême en tant qu’évêque. Avit de Vienne distingue aussi entre sa famille charnelle et sa famille spirituelle, la première étant subordonnée à l’autre qui est elle-même insérée dans l’Église et inscrite dans l’histoire sainte.79 Quant à Grégoire de Tours, la parenté était pour lui génératrice de relations et non un groupe autonome, ce qui est parfaitement exact et finalement le destin de sa famille charnelle, comme celle de Sidonie, Ruricius ou Avit, était inséparable des familles épiscopales auxquelles ils étaient liés.80 Cependant, pour être probantes, les démonstrations devraient prendre en compte les interactions et pas seulement la terminologie qui n’est qu’un indicateur parmi d’autres. Hummer reprend les distinctions latines entre une terminologie sociale – pater, mater, frater, soror – et une terminologie consanguine – genitor, genitrix, germanus, germana – et avance que la terminologie consanguine a cédé la place à la terminologie sociale, ce qui prouverait le recul de la parenté biologique/charnelle au profit de la parenté sociale/ spirituelle. En réalité, le recul de la double terminologie est antérieur au triomphe du christianisme et s’il est vrai que les termes pater, frater, mater, soror se sont imposés dans les correspondances des évêques dès le VI e siècle, la Vierge peut aussi être appelée genitrix et la généralisation d’une terminologie sociale ne peut être considérée comme le signe d’une spiritualisation complète de la parenté, mais plutôt de l’intégration de différentes formes de parenté dans une cosmologie englobante. Hummer cherche comment les conceptions de la parenté et de la famille interagissent constamment avec les changements dans le pouvoir et entrainent des reconfigurations des mémoires, mais ses démonstrations posent le problème du rapport de l’historien à ses sources. Il avance ainsi qu’au VIIe siècle, le développement et le succès du monachisme rural en Gaule sous l’influence colombanienne ne serait pas le fait de groupes familiaux aristocratiques existants, tels que les a décrits Yaniv Fox81 en imposant une vision moderne de la famille accordant ainsi trop d’importance aux affaires politiques et économiques et ne tenant pas assez compte des sources. Réfutant la thèse de l’auto-sanctification des groupes fondateurs, qui suppose une conscience de soi et des actions calculées, Hummer avance que les identités familiales ont été produites par les interactions des fondateurs avec leurs fondations. Les groupes fondateurs auraient donc entièrement forgé 79 Ibid., p. 166–172. 80 Ibid., p. 172–177. 81 Yaniv Fox, Power and Religion in Merovingian Gaul. Columbanian Monasticism and the Frankish Elites (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. 4th ser.), Cambridge 2004.

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leur conscience d’eux-mêmes dans leurs fondations et leurs interactions avec elles, ces fondations agissant comme assimilatrices de groupes à l’intérieur d’une famille transcendantalement spirituelle.82 Il se fonde également sur l’exemple des Huosi qui apparaissent à la fois dans la loi des Bavarois, au VIII e siècle, et dans leurs interactions avec leurs églises et le siège de Freising aux VIII e et IX e siècles. Il en conclue que le groupe est exclusivement formé par ses relations avec les églises locales dépendant de Freising. Ces interprétations posent le problème du rapport des historiens à leurs sources qui ne seraient pas les révélateurs de groupes d’acteurs agissant consciemment, mais de la façon dont les acteurs forgent leur identité par leurs actions. Cependant, si on adopte la perspective des identités relationnelles, ne doit-on pas considérer que les actions relatées par les sources sont l’expression de relations porteuses des identités préexistantes et qu’elles créent aussi de nouvelles relations et de nouvelles identités qui s’ajoutent aux précédentes sans les supprimer  ? Par ailleurs, l’exemple du groupe des Huosi, qui semble structuré par la succession épiscopale, ne peut être avancé comme preuve de la moindre importance de la succession filiale (entendue ici comme succession généalogique), puisque d’une part, toute succession est une forme de construction parentale et que les successions épiscopales chez les Huosi, comme chez les Gregorii au VI e siècle ou les Adalbérons au X e et XI e siècles, sont des manipulations successorales (souvent d’oncle à neveu ou entre cousins). En même temps, il est exact que les parents charnels qui inter­ agissent comme donateurs et témoins de Freising et qui sont inscrits à ce titre dans les chartes deviennent bienfaiteurs de la communauté spirituelle dirigée par les évêques auxquels sont subordonnés les clercs et les patrons.83 Dans la perspective des identités multiples, cela signifie que les relations avec les églises font désormais partie de l’identité aristocratique et qu’elles créent une amitié spirituelle, qui est une forme de parenté parmi d’autres. Sans toujours le reconnaitre clairement, Hummer cherche à démontrer qu’il ne pouvait y avoir d’autre véritable relation parentale au Moyen Âge que spirituelle, tout en confondant parenté charnelle et parenté biologique. Il affaiblit aussi sa démonstration, en adoptant par exemple le topos hagiographique sur l’opposition des parents aux vocations de leurs enfants et la rupture qu’elle entrainait84 ou encore en affirmant que la conception naturelle de la famille n’apparait pas dans les sources. Or le concept de transformation (magique) est tout-à-fait efficace pour comprendre comment il était possible de créer de la parenté, de comparer et de hiérarchiser les différentes formes de

82 Ibid., p. 203. 83 Ibid., p. 247. 84 Régine Le Jan, Convents, Violence and Competition for Power in the 7th Century Francia, dans  : Mayke de Jong/Frans Theuws (dir.), Topographies of Power in the Early Middle Ages (The Transformation of the Roman World 6), Leiden 2001, p. 243–269.

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parenté, sans confondre l’idéel et le réel, ce qui serait une vue de l’esprit. Analysant les conceptions de la parenté dans le ‘De rerum naturis’ de Raban Maur, Hummer avance que Raban réorganise la parenté pour en faire l’expression visible des formes mystiques qui, en profondeur, sous-tendent et animent toute réalité, sans aucune différence entre le réel et le fictif, car pour lui, l’ensemble est réel. Dans la perspective relationnelle, il faudrait au contraire considérer que, dans son traité, Raban mobilise son identité de moraliste et qu’en d’autres occasions, il mobilise d’autres identités, en particulier dans le cartulaire de Fulda, où il organise la compilation des chartes autour de ses parents charnels. Hummer ajoute qu’il est impossible de dire comment et jusqu’où cette conception complètement spiritualisée de la parenté a pénétré la société, mais que finalement, cette question est sans intérêt,85 ce qui pose un vrai problème, comme le montre son analyse du ‘Manuel pour mon fils’ de Dhuoda, où il ne prend pas en compte le contexte de rédaction du Manuel  : Dhuoda, épouse de Bernard de Septimanie, est isolée à Uzès au début des années 840 et craint pour ses enfants, éloignés d’elle, et pour son mari, en grande difficulté politique. Dans son Manuel, elle fait amplement référence au père et aux pères, jouant des relations entre le ciel et la terre, le charnel et le spirituel. Elle ne voit aucune contradiction entre la gloire du siècle, qu’elle dit promise à son fils, et le salut éternel qu’il doit obtenir par sa piété et sa foi en Dieu. Tout le Manuel est animé par les notions paulinienne et augustinienne de l’amour réciproque qui lie les humains entre eux et à Dieu, mais il n’est pas possible de suivre Hummer lorsqu’il écrit qu’on peut seulement « présumer » que dans le Manuel, « votre père » est Bernard, alors qu’elle ne cesse d’exalter la figure du père et la relation entre le père et le fils dont elle craint qu’elle ne soit menacée par le roi Charles le Chauve luimême. Certes, elle magnifie la figure du père par l’exemple des Pères, mais Bernard est bien le père naturel et les ancêtres auxquels elle fait référence pour l’inciter à faire passer sa fidélité à son père avant ses devoirs envers le roi, si celui-ci venait à menacer l’ordre naturel des choses, sont bien ses ancêtres charnels « qui n’avaient rien à envier à ceux des rois ». Quant à liste des parents défunts pour lesquels son fils doit prier, elle est savamment construite et si les parents cités ne constituent effectivement pas une « lignée » agnatique, ils se rattachent tous au côté paternel, qui ont transmis son « héritage » à Guillaume, y compris le parrain Thierry. L’hereditas ne peut donc être seulement conçu comme la foi en Dieu, ainsi que l’avance Hummer, mais comme un ensemble d’identités et de relations porteuses de droits, magnifié par la foi en Dieu.86 Dans cette perspective, il parait difficile d’affirmer que la famille guillelmide n’avait 85 Hummer, Visions (n. 11), p. 210–213. 86 Le Jan, L’amitié (n. 22).

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aucune identité propre, en dehors de ses liens avec les monastères, de Prüm à Brioude et Cluny, même s’il est vrai qu’elle n’a cessé de construire et renforcer sa propre identité par ses relations avec les monastères. Comme d’autres familles de ce niveau, souvent proches de la famille royale, il me semble qu’ils croyaient en leur propre « nature ». Dans la Vie de Benoit d’Aniane, écrite par Ardon vers 825, l’auteur souligne la place éminente du comte Guillaume à la cour de Charlemagne et il raconte la façon dont il a ensuite fondé et doté son monastère de Gellone en quelques jours, avec l’aide de ses fils « qu’il avait placé à la tête de ses comtés », sans aucune référence au roi et à l’empereur.87 Dans la charte de fondation de Gellone, la longue liste du fondateur est très inhabituelle pour l’époque – parents, frères, sœurs, fils, filles, épouses  –, et exprime un véritable sentiment de supériorité, comme la liste de sa belle-fille Dhuoda quelques décennies plus tard. Au moment de mourir, Guillaume exprima à nouveau sa supériorité naturelle en apprenant miraculeusement sa mort prochaine et en demandant qu’elle soit annoncée à tous les monastères du royaume pour qu’ils prient pour lui. Nul doute que le jeune Guillaume, à qui Dhuoda destinait son Manuel, tenait son statut dans le siècle de son grand-père Guillaume, de son père Bernard et de tous ses parents. En 864, son frère Bernard Plantevelue est aussi le premier à prendre la titulature gratia Dei comes dans un acte du monastère de Brioude,88 son petit-fils Guillaume de Pieux obtiendrait l’abbatiat laïque du monastère de Brioude où il serait inhumé et fonderait Cluny. Les neveux utérins et successeurs de Guillaume le Pieux seraient ensuite les premiers princes du royaume à battre monnaie en leur nom. Certes, chacune de ces actions peut être interprétée de diverses façons, mais l’ensemble révèle la conscience d’une nature familiale faite d’un faisceau de relations et d’identités incarnées, cest-à-dire à la fois charnelles et spirituelles. Dans sa perspective transcendantale, du haut vers le bas, Hummer affirme aussi que les généalogies médiévales s’inspirent toutes des généalogies bibliques, et en particulier des deux généalogies de Jésus dans les Évangiles de Mathieu et de Luc, l’une naturelle, l’autre légale ou divine, puisque Jésus est à la fois humain et divin. L’attention aux généalogies bibliques a été permanente chez les exégètes depuis Eusèbe de Césarée et leur a servi à mettre en ordre l’histoire providentielle des peuples. Hans Hummer, qui néglige les généalogies mérovingiennes et carolingiennes, admet que le développement du genre des genealogiae aux X e et XI e siècles s’est fait dans le contexte de la fragmentation de l’empire carolingien en royaumes et principautés, mais il réfute 87 Ardon, Vita Benedicti Anianensis, éd. Walter Kettemann, Subsidia Anianensia (Thèse inédite, Universität Duisburg, 2000), p. 139–223 ; traduction française par Pierre Bonnerue/Fernand Baumes/ Adalbert de Vogüe, Vie de Benoit d’Aniane (Vie monastique 39), Brégolles-en-Mauges 2001. 88 Cartulaire de Brioude, éd. Henri Doniol, Clermont-Ferrand 1863, n° 176.

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l’idée que la rédaction de généalogies traduise une quelconque agency séculière et une capacité à manipuler la succession par le sang pour organiser l’histoire : la généalogie ne serait donc que la voix de Dieu, celle qui détermine la lignée des seigneurs choisis comme agents de l’ordre divin pour diriger, lignée connectée au sacré à travers les rois et empereurs francs. Il rejette aussi l’idée que les généalogies du XII e siècle aient pu refléter de nouvelles prétentions aristocratiques et affirme que la multiplication des indications de relations de parenté sur les généalogies ne signifiait pas que les familles étaient davantage concernées par le sang, mais que les auteurs essayaient de multiplier les interconnections pour mieux s’inscrire dans le projet global de Chrétienté, retrouvant ainsi la « Doctrine of The Genealogical Unity of Mankind ».89 Inversement, Walter Pohl a noté que d’une part, « les généalogies ne furent pas la forme prédominante pour négocier la légitimité politique, le statut social et les droits d’héritage ou encore pour structurer les mémoires du passé »90 et que les généalogies bibliques, qui ont suscité des débats fournis, n’ont pas donné lieu à la production de généalogies dans l’Occident du haut Moyen Âge, à l’exception de celle des rois goths amales, insérée par le sénateur romain Cassiodore au début du VI e siècle dans son historia Gothorum, perdue mais reprise par Jordanès vingt ans plus tard. Le roi Athanaric était placé en dix-septième position sur la liste et le fondateur éponyme, Amal, en quatrième position, la généalogie incluant ainsi un certain nombre de héros mythiques qui fondaient le passé de la dynastie, partagé par plusieurs peuples.91 Les autres peuples furent aussi davantage intéressés par la capacité à exercer le pouvoir que par son mode de transmission.92 Ainsi, les généalogies mérovingiennes n’apparaissent que dans deux manuscrits de Saint-Gall du début du IX e siècle, où elles sont associées à des codes de lois et plus proches des listes royales que des schémas généalogiques.93 Les Carolingiens n’ont guère été plus intéressés par les généalogies ou par les mythes dynastiques, et les listes royales apparaissent prioritairement dans les manuscrits contenant des codes de lois ou dans les livres mémoriels des monastères.94 89 Hummer, Visions, p. 304–323. 90 Walter Pohl, Genealogy. A Comparative Perspective from the Early Medieval West, dans : Erik Hovden/Christina Lutter/Walter Pohl (dir.), Meanings of Community across Medieval Eurasia. Comparative Approaches (Brill’s Series on the Early Middle Ages 25), Leiden/Boston 2016, p. 232–235 ; en ligne : (consulté le 25.02.2023). 91 Ibid., p. 249. 92 Le Jan, Famille (n. 7), p. 40. 93 Pohl, Genealogy (n. 90), p. 244. 94 Karl Ubl, Herrscherlisten in Rechtshandschriften. Dynastiebildung und genealogisches Wissen im karolingischen Frankenreich, dans : Ellen Widder/Iris Holzwart-Schäfer/Christian ­Heinemeyer (dir.), Geboren, um zu herrschen  ? Gefährdete Dynastien in historisch-interdisziplinarer Per­spektive (Bedrohte Ordnungen 10), Tübingen 2018, p. 23–46.

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Elles résultaient elles-mêmes de sélections et de manipulations, dans des perspectives politiques aisément décryptables.95 Dans sa ‘Vie de l’empereur Louis le Pieux’, Thégan dresse ainsi la généalogie de Louis en représentant d’un pouvoir dynastique, qui se transmet au sein d’une lignée doublement légitimée par la sainteté du fondateur et la consécration des prêtres : Saint Arnoul, dans sa jeunesse, alors qu’il était duc, engendra le duc Anségisèle ; le duc Anségisèle engendra le duc Pépin l’Ancien ; le duc Pépin l’Ancien engendra le duc Charles l’Ancien ; Le duc Charles l’Ancien engendra Pépin que le Pontife romain Etienne consacra et oignit comme roi ; le roi Pépin l’Ancien engendra Charles, que le Pontife romain Léon consacra et oignit comme empereur dans l’église où repose le corps très saint du prince des apôtres Pierre, le jour de la naissance de notre Seigneur Jésus Christ.96

Il part de saint Arnoul qui engendra le duc Anségisèle et il suit une ligne strictement patrilinéaire qui semble ainsi définir une dynastie dont la sacralité est transmise de génération en génération aux ducs, puis au roi et enfin aux empereurs. Le passage du dux au rex puis à l’imperator est médiatisé par le pape et ajoute une nouvelle sacralité, celle de la consécration et de l’onction. Le lieu et le temps donnent aussi une forme de transcendance, puisque Charlemagne est fait empereur dans le lieu saint par excellence de l’Occident, l’église Saint-Pierre à Rome, le jour de la naissance du Christ, qui annonce la naissance d’une nouvelle ère. Comme les listes royales, la généalogie opère des manipulations aux premières générations et ignore les femmes,97 mais les liens charnels de l’engendrement ne sont en aucun cas dissous ni ignorés, puisqu’ils conditionnent la transmission du pouvoir, lui-même légitimé par la transmission de la sacralité et les relations spirituelles. Thégan poursuit en retraçant la généalogie de la reine Hildegarde, mère de Louis. Elle était, écrit-il, de cognatione Gotefridi ducis

95 Régine Le Jan, Mémoire et politique. Les rois d’Italie dans les libri memoriales de Salzbourg, Saint-Gall, Pfäfers et Reichenau (fin VIII e–début IX e siècle), dans : Irene Barbiera/Francesco Borri/Annamaria Pazienza (dir.), I Longobardi a Venezia. Scritti per Stefano Gasparri (Haut Moyen Âge 40), Turnhout 2019, p. 139–154. 96 Thégan, Gesta Hludowici imperatoris 1, éd. Ernst Tremp, MGH SS rer. Germ. 64, Hanovre 1995, p.  176   : Sanctus Arnulfus cum esset in iuventute dux, genuit Ansgisum ducem  ; Ansgisus dux genuit Pippinum seniorem et ducem  : Pippinus senior et dux genuit Karolum seniorem et ducem  ; Karolus senior et dux genuit Pippinum, quem Stephanus Romanus pontifex consecravit et uncxit in regem  ; Pippinus senior et rex genuit Karolum, quem Leo Romanus pontifex consecravit et uncxit ad imperatorem in aecclesia ubi beatissum corpus apostolorum principis Petri requiescit, die natalis domini nostri Iesu Christi. 97 Ian N. Wood, Genealogy Defined by Women  : the Case of the Pippinids, dans : Leslie Brubaker/Julia Smith (dir.), Gender in the Early Middle Ages, East and West 300–900, Cambridge 2004, p. 234–256.

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Alamannorum , la ligne passant cette fois par les hommes et par les femmes.98 Il signale ensuite que l’épouse de Louis était la fille du très noble Ingoram, lui-même fils du frère de Hruotgang, saint évêque.99 Il s’agit là de relations précises et exactes, qui contribuaient à fonder la noblesse des vivants dans celle de leurs ancêtres. Thégan note aussi que Bernard de Septimanie était de stirpe regia,100 sans préciser davantage le point de rattachement. Il n’est pas certain que Bernard ait été un descendant direct de Charles Martel, mais il était apparenté à la famille royale, ce qui soulignait l’ignominie de celui qui n’avait pas respecté les devoirs incombant aux membres de la famille royale. Il n’est pas possible d’en conclure que ces liens charnels, issus de la consanguinité, de l’alliance ou même du parrainage, n’avaient pas d’importance sociale, alors qu’ils contribuaient à construire la personne comme toutes les autres relations porteuses d’identités. Les Carolingiens n’ont pu empêcher que la mémoire des droits, les identités multiples et les relations diverses ne soient transmises et ne co-existent dans diverses personnes. À la fin du IXe siècle, la nécessité d’avoir un roi dans chaque royaume, les tendances sous-jacentes à la parité et le manque d’héritiers carolingiens conduisirent à l’élection de rois non-carolingiens, appartenant au groupe des « princes des Francs ». Selon Réginon de Prüm, ils étaient tous d’égale générosité, dignité et puissance et aucun ne pouvait s’imposer aux autres ou n’acceptait de se soumettre à un autre.101 Réginon était un auteur légitimiste, pour qui il ne pouvait y avoir qu’une seule famille royale, celle des descendants directs et en ligne masculine des rois carolingiens : selon lui, les princes auraient donc dû choisir le Carolingien Arnulf comme roi et comme empereur, parce qu’il avait succédé à son père et à son oncle paternel, deux rois carolingiens. Pour mieux dévaluer les rois élus – Bérenger en Italie, Rodolphe en Bourgogne et Eudes en Francie –, il les présente seulement comme fils de leur père   : Bérenger, fils d’Évrard, Rodolphe, fils de Conrad et Eudes, fils de Robert, passant sous silence les points de rattachements aux Carolingiens par les femmes. L’insistance sur le lien paternel était une manipulation, mais elle était aussi parfaitement en adéquation avec l’ontologie chrétienne, qui plaçait Dieu, les rois et les pères humains au sommet de toute hiérarchie. En revanche, l’auteur des ‹ Gesta Berengarii ›, favorable à Bérenger, souligne nettement l’origine carolingienne de Bérenger, qui était un descen 98 Thégan, Gesta Hludowici imperatoris 2 (n. 96), p. 176 : Gotefridus dux genuit Huochingum, Huochingus genuit Nebi  ; Nebe genuit Immam  ; Imma vero genuit Hiltigardam reginam.  99 Ibid., 4, p. 178 : Supradictus vero Hludowicus postquam ad aetatem pervenit, desponsavit sibi filiam nobilissimi ducis Ingorammi , qui erat filius fratris Hruotgangi, sanctis pontifici. 100 Ibid., 36, p. 222. 101 Reginon de Prüm, Chronicon a. 888, éd. Friedrich Kurze, MGH SS rer. Germ. 50, Hanovre 1890, p. 150.

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dant direct des rois carolingiens par sa mère et qui affirmait ainsi avoir sa légitimité à régner et sa supériorité envers son rival Gui de Spolète.102 Mais de son côté, Gui de Spolète revendiquait pour lui-même la même légitimité que Bérenger, qui n’était à ses yeux que le fils d’Évrard et non un héritier légitime, puisque les Carolingiens avaient imposé une succession masculine. Examinons pour terminer une généalogie contenue dans le Codex de Steinfeld, un manuscrit du XII e siècle conservé à Londres (London, British Library, 21109, f.133).103 Il contient des textes formant une sorte de Gesta des Carolingiens, parmi lesquels une généalogie qui a dû être copiée à partir d’une généalogie perdue du début du X e siècle, produite à la cour du roi Louis l’Enfant, qui succéda à son père à l’âge de neuf ans et dont le pouvoir était contesté par son demi-frère Zwentibold, roi de Lotharingie. Elle s’inspire de la chronique de Réginon, même si elle ne poursuit pas les mêmes buts. Elle est écrite sous la forme d’un stemma avec une ligne principale formée de médaillons reliés entre eux et contenant chacun un nom et la mention de rex ou d’imperator du haut vers le bas. Elle omet les ancêtres légendaires, pour présenter une dynastie centrée sur la partie germanique des Carolingiens. De Pépin II, maire du palais d’Austrasie de 680 à 714 au dernier roi Louis (Louis IV l’Enfant, † 911), fils d’Arnulf, le stemma forme une ligne verticale des maires aux rois et aux empereurs avec des bifurcations   : Pépin II, Charles Martel, Pépin roi, Charlemagne empereur, Louis le Pieux empereur, Lothaire empereur, Louis II empereur, Charles le Chauve empereur, Charles le gros empereur, Arnold (Arnulf) empereur, Louis. De chaque souverain partent aussi des lignes latérales avec d’autres médaillons. De Pépin II, un médaillon indique latéralement son fils Drogon et un autre son fils Grimoald, avec son fils Teudoald, tandis que Charles Martel est placé sur la ligne principale. Pépin, fils de Charles Martel, est aussi sur la ligne principale avec la mention rex, mais Carloman et son fils Drogon, ainsi que Hiltrude et son fils Tassilon, sont indiqués sur des lignes latérales. En revanche, les fils illégitimes de Charles ne sont pas mentionnés. Carloman et Pépin, fils de Pépin, sont indiqués, sa fille Gisèle, abbesse de Chelles, ne l’est pas. Elle n’était certainement pas oubliée mais n’étaient mentionnés ici que les hommes ou les femmes qui avaient transmis une capacité à régner ou une supériorité naturelle. De Charlemagne partent ainsi à droite une ligne latérale avec ses fils Charles, Pépin le Bossu, Drogon, Thierri, qui n’eurent pas de

102 Gesta Berengarii imperatoris, éd. Paul von Winterfeld, MGH Poetae IV/1, Berlin 1899, p. 354– 403. Traduction italienne  : Matteo Taddei, Le Gesta di Berengario Imperatore. Gesta Berengarii Imperatoris (X sec.), Pise 2013. 103 Nora Gädeke, Eine Karolingergenealogie des 10. Jahrhunderts, dans : Francia 15, 1988, p. 777–792, le stemma ibid., p. 781.

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descendants, et à gauche une ligne qui, partant de Pépin d’Italie et de son fils Bernard, se poursuit jusqu’aux trois fils du comte Pépin, Herbert, Bernard et Pépin, actifs en Francie du Nord au début du X e siècle et mentionnés dans la chronique de Réginon. De la même manière, Louis II, Lothaire II et Charles, fils de l’empereur Lothaire, sont indiqués comme empereur et rois, mais aussi Hugues, fils illégitime de Lothaire II, qui revendiqua le royaume de son père et qui était décédé peu de temps avant l’accession de Louis l’Enfant au trône. Ermengarde, fille de l’empereur Louis II, était aussi mentionnée, avec son fils Louis, roi de Provence, que l’empereur Arnulf avait levé sur les fonts baptismaux. Il est clair que les femmes avaient toujours été des maillons de transmission dans la chaine de pouvoir, parfois dissimulés au prix de manipulations, mais qu’elles l’étaient devenues plus encore dans le contexte des reconfigurations politiques des X e–XII e siècles. Paradoxalement, alors que Georges Duby ou Karl Schmid plaidaient pour un renforcement de l’agnatisme durant la période féodale, un examen attentif des sources et la prise en compte de la relationnalité et de la multiplicité des identités dans la personne semblent aujourd’hui conduire à revoir complètement la perception de la parenté médiévale. Certes, les clercs tendaient à placer les femmes du côté de la chair, mais les mères étaient de plus en plus souvent mentionnées comme vectrices naturelles dans les généalogies de ce type.104 Dans ces conditions, peut-on raisonnablement penser que les généalogies exprimaient seulement la voix de Dieu et que celle-ci transformait complètement les liens charnels en liens spirituels ?

Conclusion Les controverses autour de la parenté n’opposent pas celles et ceux qui resteraient attachés aux conceptions tradionnelles de la parenté à celles et ceux qui adopteraient les voies nouvelles ouvertes par les sciences sociales : la parenté est un objet de recherche intrinsèquement lié aux sciences sociales. Le décentrage auquel historiennes et historiens sont actuellement conviés en étudiant les faits de parenté n’a pas remis en cause quelques acquis fondamentaux : le caractère cognatique de la parenté médiévale, ouverte sur l’alliance et les contrats, l’importance de la proche parenté et celle des groupes de familles apparentées, la hiérarchisation et l’ancrage progressifs qui ont accompagné les modes de transmission du pouvoir. 104 Voir à ce sujet London British Library, ms. Arundel 390, f. 133r du XI e siècle ; étudié par Sarah Greer, All in the Family. Creating a Carolingian Genealogy in the Eleventh Century, dans : Ead./Alice Hicklin/Stefan Esders (dir.), Using and Not Using the Past after the Carolingian Empire  : c. 900–c.1050, Londres/New York 2019, p. 166–188.

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Des controverses se sont développées à la suite d’incompréhensions sur la terminologie ou sur les définitions de la parenté, mais il est désormais admis que la parenté est une construction sociale. Toutefois, les confusions entre parenté légale et obligations sociales, entre parenté et bienveillance ou amitié ont été fréquentes, comme les oppositions tranchées des moralistes entre parenté charnelle et parenté spirituelle qui ne tiennent pas compte des ambigüités avec lesquelles les auteurs et acteurs médiévaux pouvaient jouer : la parenté spirituelle et la parenté divine étaient de même nature, mais la parenté divine, qui unissait tous les chrétiens, relevait de l’Idéel et son efficacité sociale était fort limitée, voire nulle, tandis que la parenté spirituelle, lorsqu’elle s’incarnait dans des relations personnelles, par le parrainage ou tout autre rapprochement, devenait socialement efficace, confirmant ainsi la plasticité, la capacité à se transformer, à se « métamorphoser » de la parenté. Les questions de parenté ont été mobilisées dans les discussions sur la chronologie des changements sociaux. Ainsi, le problème de la continuité/discontinuité des élites entre Antiquité tardive et haut Moyen Âge a fait l’objet de controverses presque idéologiques autour des questions d’identité et d’ethnicité. Actuellement, le programme HistoGenes,105 dirigé par Patrick Geary et Walter Pohl, cherche à étudier l’impact des migrations et la mobilité des populations en Europe centrale entre 400 et 900 en intégrant les données génétiques, archéologiques et historiques,106 ce qui pourrait à l’avenir faire naitre de nouvelles controverses. La chronologie proposée par les historiennes et les historiens de l’Ecclesia met désormais l’accent sur les changements importants (la rupture ?) produits par le tournant grégorien, entre le milieu du XI e et le milieu du XII e siècle, et par l’établissement du dominium ecclésial qui a accéléré la séparation des sphères laïques et ecclésiastiques et la prétention du spirituel à dominer le temporel. Si la législation de l’Église sur le mariage a eu des effets sur les stratégies matrimoniales des familles, l’extension démesurée des interdits à toutes les formes de parenté était totalement inapplicable. Plus largement, la dévalorisation de la parenté charnelle au profit des amitiés spirituelles a-t-elle contribué à déparentéliser le social ? Le débat est loin d’être clos. D’une part, il se réfère à une chronologie qui est ellemême discutée, tant en amont, du côté de l’Antiquité tardive, qu’en aval, du côté de la réforme grégorienne. D’autre part, la notion de parentélisation/déparentélisation du social est tirée de modèles sociologiques et anthropologiques qui considéraient la parenté comme l’atome constitutif des sociétés humaines, alors que les spécialistes des sciences sociales ont remis en cause ce paradigme. En revanche, le concept de personne relationnelle et d’identités multiples qui commence à être utilisé par les 105 , consulté le 25.02.2023. 106 Voir la contribution de Walter Pohl dans ce volume.

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historiennes et historiens s’accorde avec la flexibilité des formes de parenté et permet de considérer la parenté médiévale comme une ressource : ainsi conçue, elle apparait comme un faisceau de relations diverses, malléables qui permettait d’un côté de penser la société chrétienne comme un Tout organique de plus en plus hiérarchisé et d’un autre côté de développer des interactions compétitives et coopératives en manipulant les différentes identités. Cette nouvelle approche a elle-même vocation à être discutée et à susciter peut-être des controverses.

Steffen Patzold

Die Kontroverse über die „mutation féodale“ aus deutscher Perspektive Die Kontroverse über die „mutation de l’an mil“ war sicherlich kein Streit, der ‚die‘ Geschichtswissenschaft im Ganzen erregt hätte  ; es handelt sich um eine mediävistische Debatte. Und wenn es nach zeitnahen Lehrbüchern der deutschen Mediävistik ginge, wäre diese Debatte auch gar nicht wichtig. Vergleichsweise ausführlich hat sie zwar Hans-Werner Goetz in seinem Band des „Handbuchs der Geschichte Europas“ gewürdigt.1 Im einschlägigen Band des „Gebhardt“ von 2008 jedoch wird sie lediglich knapp als eine französische Diskussion über das Ende der Antike und den Beginn des Mittelalters um das Jahr 1000 präsentiert. Entsprechend gelassen fällt das Gesamturteil aus  : „Die These von einer ‚Mutation‘ der europäischen Gesellschaft im Umfeld der Jahrtausendwende spitzt eine Bewertung zu, die in der Geschichtswissenschaft eigentlich nicht kontrovers ist.“ Karl Bosl habe eine solche „Epocheneinteilung schon vor Jahrzehnten vorgeschlagen“.2 Johannes Fried hat einzelne Diskussionsbeiträge in der dritten Auflage seines Oldenbourg „Grundriss der Geschichte“-Bandes zur „Formierung Europas“ von 2008 eher en passant erwähnt.3 Nicht anders sieht es im „Oldenbourg Geschichte Lehrbuch Mittelalter“ von 2007 aus,4 und weitere Beispiele lassen sich leicht nennen.5

Ich danke Christoph Haack, Luise Nöllemeyer, Isaac Smith und Florian Mazel für Diskussion, Kritik und wertvolle Hinweise zu dem Beitrag. 1 Hans-Werner Goetz, Handbuch der Geschichte Europas. Bd. 2  : Europa im frühen Mittelalter 500– 1050, Stuttgart 2003, S. 340–342. 2 Beide Zitate  : Hagen Keller/Gerd Althoff, Die Zeit der späten Karolinger und Ottonen. Krisen und Konsolidierungen, 888–1024 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 3), 10., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2008, S. 401. 3 Johannes Fried, Die Formierung Europas 840–1046 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 6), 3., überarb. Aufl., München 2008, S. 145 (mit Kritik an Guy Bois  ; vgl. unten Anm. 7). 4 In dem Band von Matthias Meinhardt/Andreas Ranft/Stephan Selzer  (Hg.), Oldenbourg Geschichte Lehrbuch. Mittelalter, München 2007, widmet Ralf Lusiardi zwar dem „Feudalismus“ einen eigenen Abschnitt (S. 399–402), diskutiert hier aber zunächst die Debatte zwischen Georg von Below, Otto Hintze und Heinrich Mitteis über den „Feudalstaat“ und stellt dann Marc Blochs und Otto Brunners Werk knapp vor. Zentrale Stimmen der Mutationsdebatte werden nur folgendermaßen gewürdigt  : „Im Westen wurde die marxistische Lehre vom Feudalismus nur von einigen wenigen Historikern diskutiert  ; dies geschah teils in kritischer Ablehnung (Bosl, Blickle), teils im nüchtern-konstruktiven Dialog (Wunder, Kuchenbuch), teils – vor allem in Frankreich – mit sichtlicher Aufgeschlossenheit (Duby, Bois).“ 5 Eine sehr andere Geschichte Europas des 10./11. Jahrhunderts, als sie in Frankreich erzählt wird, bietet

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Gerade diese deutsche Gelassenheit allerdings macht die Kontroverse über die „mutation féodale“ oder die „feudal revolution“ zu einem interessanten Fallbeispiel für diesen Band  : Denn in der US-amerikanischen, britischen und französischen Mediävistik, auch in der italienischen und spanischen Mittelalterforschung war dieser wissenschaftliche Streit seit den 1990er Jahren durchaus prominent. Warum fand die Debatte dann aber in der deutschsprachigen Mittelalterforschung so wenig Widerhall  ? Was lässt sich folglich aus dieser internationalen Kontroverse lernen über etablierte Arbeits- und Diskussionszusammenhänge, über die Einheit des Fachs und ihre Grenzen – und über die Fiktion, die wir den ‚Forschungsstand‘ nennen  ? Die Geschichtswissenschaft kennt in ihrer Forschung an sich keine nationalen Grenzen (mehr)  ; dennoch zeigt das Fallbeispiel, wie sehr sich bis heute nationale Forschungstraditionen unterscheiden können – mit tiefgreifenden Folgen für die Art und Weise, in der Fragen und Themen im Fach aufgegriffen werden und Kontroversen ablaufen. Um dies zu zeigen, gehe ich in drei Schritten vor  : In einem ersten Abschnitt werde ich noch einmal die Grundlinien der Debatte seit den 1990er Jahren ins Gedächtnis rufen. Ein zweiter Abschnitt geht dann der Frage nach, warum diese Debatte in der deutschen Forschung so gut wie kein Echo gefunden hat. Am Ende werden sich daraus einige Folgerungen ergeben für unsere gegenwärtige Forschungspraxis, aber auch zu künftigen Aufgaben des Fachs. Aus dieser Gliederung ergibt sich im Umkehrschluss, was der Artikel nicht leistet  : Er analysiert die mediävistische Kontroverse, nicht deren Gegenstand  ; ich werde also nicht eine Position innerhalb der Debatte verfechten oder gar ein neues Bild der Sozialgeschichte Europas in den Jahrzehnten um 1000 entwerfen. Ziel des Beitrags ist auch nicht eine Sammelrezension zu möglichst allem, was je über die „mutation féodale“ zu Papier gebracht worden ist  ; nicht um bibliographische Vollständigkeit geht es mir, sondern um die Hauptlinien der Debatte. Und schließlich will und kann ich auch nicht zum Zeithistoriker werden  : Ich analysiere nicht aus Archivkenntnis heraus die Wissenschaftsgeschichte der 1990er und 2000er Jahre, sondern blicke als (deutscher) Mediävist auf eine Kontroverse in meinem eigenen Fachgebiet.

beispielsweise auch Gerhard Lubich, Das Mittelalter. Orientierung Geschichte, Paderborn u. a. 2010, bes. S. 84–116  : Eine „mutation féodale“ gibt es hier nicht  ; die Zeit um 1000 wird als Zeit der Konsolidierung, der Stabilität und des Friedens charakterisiert (vgl. bes. S. 92–94). Peter Hilsch, Das Mittelalter – die Epoche, 4. überarbeitete Auflage, Konstanz/München 2017, S. 123–133, skizziert tiefgreifende sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Wandlungen um 1100  ; die Debatte über die „mutation féodale“ spielt hierbei keinerlei Rolle.

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Grundlinien der Kontroverse Zunächst also zu dieser Kontroverse selbst  :6 Tatsächlich handelte es sich bei näherem Hinsehen gar nicht um eine einzige, in sich geschlossene Diskussion. Vielmehr lassen sich vier Einzeldebatten identifizieren, die in komplexer Weise mehr oder minder eng miteinander verflochten waren. Diese Struktur dürfte zur Internationalität, Intensität und Dauer der Kontroverse erheblich beigetragen haben. (1) Als ersten Diskussionsstrang kann man denjenigen nennen, der in Deutschland noch vergleichsweise viel Aufmerksamkeit gefunden hat  : Guy Bois hat 1988 ein Buch über das Dorf Lournand bei Cluny veröffentlicht, unter dem Obertitel „La mutation de l’an mil“.7 In diesem Band hat Bois argumentiert  : Fundamentale Gesellschaftsund Wirtschaftsformen der Antike, zumal die Sklaverei, seien erst um die Jahrtausendwende von neuen Formen der Abhängigkeit und des Wirtschaftens abgelöst worden. Das Buch ist ziemlich schmal. Es ist zwar erstaunlich rasch ins Deutsche, Englische, Italienische und Spanische übersetzt worden,8 aber in der internationalen Mittelalterforschung ebenso rasch auch auf heftige Kritik gestoßen. Alain Guerreau hat es schon 1990 in der Zeitschrift „Le Moyen Âge“ in einer ausführlichen Rezension verrissen  : Guerreau wies Bois eine Überfülle grober handwerklicher Fehler im Umgang mit der Geographie, den Quellen und der Literatur nach.9 Die Zeitschrift „Médiévales“ widmete Bois’ Buch 1991 ein eigenes Heft, in dem Mediävistinnen und Mediävisten, aber auch ein Neuzeithistoriker und zwei Spezialistinnen für die Spätantike und die Archäologie Stellung bezogen.10 Auch hier hagelte es Kritik. Barbara Rosenwein erklärte, das Buch sei zwar kühn und verführerisch, es mangele ihm aber an Substanz  ; sie kritisierte Bois’ Methode und monierte, dass die Literatur- und   6 Einen sehr hilfreichen Überblick in französischer Sprache bietet Florian Mazel, Féodalités 888–1180 (Histoire de France), Paris 2010, S. 637–648.  7 Guy Bois, La mutation de l’an mil. Lournand, village macônnais de l’antiquité au féodalisme, Paris 1989.   8 Italienisch  : L’anno Mille. Il mondo si trasforma, Rom 1991. – Englisch  : The Transformation of the Year One Thousand. The Village of Lournand from Antiquity to Feudalism, Manchester 1991. – Spanisch  : La revolución del año mil. Lournand, aldea del Mâconnais, de la Antigüedad al feudalismo, Barcelona 1993. – Deutsch  : Umbruch um das Jahr 1000. Lournand bei Cluny, ein Dorf in Frankreich zwischen Spätantike und Feudalherrschaft, Stuttgart 1993.  9 Alain Guerreau, Lournand au Xe siècle  : histoire et fiction, in  : Le Moyen Âge 96, 1990, S. 519–537. 10 Monique Bourin (Hg.), Médiévales 21 (1991) – mit Beiträgen von Barbara H. Rosenwein, Elisabeth Zadora-Rio, Maria Hillebrandt und Franz Neiske, Chris Wickham, Pierre Bonnassie, Lluis To Figueras, Monique Bourin, Yoshiki Morimoto, Nancy Gauthier, Robert Fossier, Bernard Lepetit und einer Antwort von Guy Bois selbst.

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Quellenbasis unzureichend sei.11 Noch schärfer urteilte Robert Fossier. Er begann seinen kurzen Aufsatz mit den harten Worten  : Invité à fournir un avis sur le petit livre de Guy Bois, autour duquel l’auteur a pris soin de faire grand bruit, je ne cacherai pas dès l’abord que cet ouvrage, extrêmement décevant et fautif, ne mérite certainement pas l’attention qu’on veut lui porter.12

Fossier war mit seiner Meinung nicht allein. Eine längere, intensive Debatte hat Bois’ Buch deshalb nicht ausgelöst.13 Schon in der weiteren Diskussion der 1990er Jahre haben das Werk und sein Autor so gut wie keine Rolle mehr gespielt.14 (Insofern kann man durchaus mit Staunen zur Kenntnis nehmen, dass vor allem diese frühe Sackgasse etwa im „Gebhardt“15 oder auch im „Oldenbourg Grundriss der Geschichte“ von 200816 angekommen ist.) (2) Davon unterscheiden muss man einen zweiten Strang, der nun tatsächlich zentral gewesen ist für die internationale Diskussion über die „mutation féodale“. Gegenstand dieser zweiten Teildebatte war ein großes und sehr einflussreiches Modell, das lange die Forschung und Geschichtsschreibung über die Transformation Lateineuropas vom 9. bis 12. Jahrhundert strukturiert hat. Kein Geringerer als Georges Duby hatte dieses Modell seit den 1950er Jahren erarbeitet  :17 Er sah zwar im 10. Jahrhundert bereits Tenden11 Barbara H. Rosenwein, Le lit de Procuste de Guy Bois, in  : Médiévales 21, 1991, S. 11–16. 12 Robert Fossier, Réflexion sur un „modèle“, in  : Médiévales 21, 1991, S. 77–79, hier S. 77. 13 Rosenwein, Le lit (wie Anm. 11), S. 16, befand mit Blick auf Bois’ Leitfrage kurzerhand  : „Mais le problème n’a plus guère d’interêt aujourd’hui […].“ 14 Vgl. noch den Verteidigungsversuch von Guy Bois, Sur la „mutation de l’An Mil“, in  : Manuel Cecilio Diaz y Diaz (Hg.), De la Antigüedad al Medioevo. Siglos IV–VIII, Madrid 1993, S. 543–554. 15 Althoff/Keller, Zeit (wie Anm. 2), S. 401. 16 Fried, Formierung (wie Anm. 3), S. 145. 17 Grundlegend war  : Georges Duby, La société aux XIe et XIIe siècles dans la région mâconnaise (Bibliothèque générale de l’Ecole Pratique des Hautes Etudes 6), Paris 1953, mit Neuauflagen 1971, 1982 und 2002 (zu seiner frühen Rezeption und seiner forschungsgeschichtlichen Position vgl. Fredric L. ­Che­yette, Georges Duby’s Maconnais after Fifty Years  : Reading it Then and Now, in  : Journal of Medieval History 28, 2002, S.  291–317, hier S.  292f.; Florian Mazel, La thèse  : comment l’idée vint à ­Georges Duby, in  : Patrick Boucheron/Jacques Dalarun (Hg.), Georges Duby. Portrait de l’historien en ses archives. Colloque de la Fondation de Treilles, Paris 2015, S. 63–89, hier S. 64). – Weiterentwickelt hat Duby das Modell in  : Georges Duby, Les trois ordres ou l’imaginaire du féodalisme (Bibliothèque des histoires), Paris 1978 (deutsch  : Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus, Frankfurt am Main 1981, hier v. a. S. 219–247  ; danach zitiere ich im Folgenden, obgleich die Übersetzung schlecht, ja streckenweise nahezu unverständlich ist)  ; vgl. außerdem noch Ders., L’An Mil, Paris 1980. – Für die folgende Zusammenfassung ist ferner Florian Mazel, Pouvoir aristocratique et Église

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zen des sozialen Wandels  ; allerdings habe damals die karolingische Ordnung zumindest auf Ebene der Grafschaften im Prinzip noch standgehalten. Erst in den Jahrzehnten um 1000 habe sich dann auf dieser Ebene ein tiefgreifender sozialer Wandel Bahn gebrochen, und zwar abrupt und in kurzer Zeit  :18 Öffentliche Rechte, die die karolingischen Könige an die Grafen delegiert hatten, so Duby, wurden nun von lokalen Herren usurpiert. Einzelne Burgherren errichteten eigene, sehr kleine Herrschaftsräume, in denen sie diese öffentlichen Rechte an sich rissen und sich als neue, ritterliche Elite etablierten.19 So entstand das, was Duby damals als „seigneurie banale“ bezeichnen und von einer älteren „seigneurie foncière“ abgrenzen konnte  :20 Das Etikett hatte Duby wohl von Marc Bloch übernommen  ; einen Forschungsbegriff aber hatte erst er selbst daraus gemacht.21 Die Folgen für die Formen der Abhängigkeit der Bauern und ihre Wirtschaftsweise waren laut Duby tiefgreifend  : Die alte, fundamentale Unterscheidung zwischen Freien und Unfreien wurde aufgelöst. Auch die Gerichtsbarkeit transformierte sich in den Händen der Burgherren  :22 Aushandlung, Kompromiss und Frieden wurden wichtiger als die Normen des Rechts. Zusammengehalten wurde diese neue, konflikt- und gewaltreiche Welt von Eiden und Treuebindungen von Mann zu Mann. Die Ideologie zu alledem lieferte die Denkfigur der „drei Ordnungen“, also der Gliederung der Gesellschaft in Beter, Kämpfer und Arbeiter, deren Etablierung Georges Duby nicht zufällig ebenfalls in die Jahre um 1000 datierte.23 Bereits in seiner Dissertation,24 noch massiver aux Xe–XIe siècles. Retour sur la „révolution féodale“ dans l’œuvre de Georges Duby, in  : Médiévales 54, 2008, S. 137–152, hier § 3–8 zu vergleichen. 18 Vgl. zum Folgenden auch die präzise Zusammenfassung bei Cheyette, Georges Duby’s Mâconnais (wie Anm. 17), S. 299–302. 19 Vgl. zu diesem Prozess zuvor schon Jean-François Lemarignier, La dislocation du „pagus“ et le problème des „consuetudines“ Xe–XIe siècles, in  : Mélanges d’histoire du Moyen Âge dédiés à la mémoire de Louis Halphen, Paris 1951, S. 401–410, der Dubys Sicht in nicht unbeträchtlicher Weise beeinflusst haben dürfte  : Mazel, La thèse (wie Anm. 17), S. 88. 20 Duby, La société (wie Anm. 17), S. 207–228. 21 Vgl. hierzu ausführlich Mazel, La thèse (wie Anm. 17), S. 86f.; kurz auch Cheyette, Georges Duby’s Mâconnais (wie Anm. 17), S. 301 mit Anm. 21. 22 Zu diesem Prozess hatte Duby schon zuvor eine grundlegende Publikation vorgelegt  : Georges Duby, Recherches sur l’évolution des institutions judiciaires pendant le Xe et le XIe siècle dans le sud de la Bourgogne, in  : Le Moyen Âge 52, 1946, S. 149–194  ; 53, 1947, S. 15–38. 23 Duby, Die drei Ordnungen (wie Anm.  17), S.  25–96. – Vgl. aber Dominique Iogna-Prat, Le „baptême“ du schéma des trois ordres fonctionnels. L’apport de l’École d’Auxerre dans la seconde moitié du IXe siècle, in  : Annales 41, 1986, S. 101–126, der ein frühes Zeugnis der drei Ordnungen in den ‚Miracula s. Germani‘ des Heiric von Auxerre vorstellt und untersucht. 24 Bei Duby, La société (wie Anm. 17), S. 229  : „En tout cas, cette révolution politique impose au XIe s. une classification sociale nouvelle“  ; zur Bedeutung dieser Idee für Dubys Modell insgesamt vgl. Mazel, La thèse (wie Anm. 17), S. 83 und S. 87f.

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dann aber in seinem berühmten Buch über die „trois ordres“ verwendete Duby selbst für die tiefgreifenden Umbrüche der Jahrtausendwende den Begriff der „révolution“.25 Ein wichtiges Symptom für den Wandel sah Duby in neuen Wörtern in der politischen Sprache  : An die Stelle des karolingischen beneficium trat immer häufiger das feudum. Auch der nobilis verlor an Bedeutung, an seine Stelle rückten der miles, bald auch der caballarius als Bezeichnung für den „chevalier“, den Ritter.26 Als ein weiteres wichtiges Symptom galten neue Dokumente  : zum Beispiel die zahlreichen südfranzösischen und nordspanischen Urkunden, in denen Eide und Dienstleistungen schriftlich dokumentiert wurden  ; und die sogenannten convenientiae – also vergleichsweise informelle, einseitige Versprechen oder Vereinbarungen zwischen Herren, um ihre Beziehungen zueinander festzuhalten.27 Dieses Modell28 hat die frankophone, aber auch die anglophone und spanische Forschung bis in die 1990er Jahre hinein strukturiert. Für zahlreiche Regionalstudien zu Italien, Frankreich und Nordspanien im 10. und 11. Jahrhundert, die in den 1970er/80er Jahren entstanden, hat Dubys Modell den interpretatorischen Rahmen geboten.29 Pierre Bonnassies große Studie zu Katalonien beispielsweise beruhte im Kern auf diesem Modell, auch wenn Bonnassie entscheidende Veränderungen in dieser Region ein bis zwei Generationen später datierte als Duby für das Mâconnais.30 Man konnte mit dem Modell aber auch anderes ganz passabel erklären  : so zum Beispiel die Gottesfriedensbewegung, die im späteren 10.  Jahrhundert in Frankreich Fahrt aufnahm. Sie erschien im Lichte dieses Modells als eine Reaktion auf die neuen Formen der Gewalt und den Zusammenbruch der öffentlichen Gerichtsbarkeit in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts.31 Im Jahr 1980 veröffentlichten Jean-Pierre Poly und Éric Bournazel gemeinsam ein Buch unter dem Titel „La mutation féodale, Xe–XIIe siècle“. Darin fassten sie 25 Duby, Die drei Ordnungen (wie Anm. 17), S. 219, überschreibt das gesamte Kapitel „Die feudale Revolution“. 26 Duby, La société (wie Anm. 17), S. 233–238  ; Ders., Die drei Ordnungen (wie Anm. 17), S. 222f. 27 Vgl. dazu auch den klassischen Beitrag von Paul Ourliac, La „convenientia“, in  : Études d’histoire du droit privé dédiées à Pierre Petot, Paris 1959, S. 413–422. 28 Duby selbst hat von einem „modèle“ gesprochen  : Vgl. Mazel, La thèse (wie Anm. 17), S. 68. 29 Vgl. ebd., S. 64. 30 Pierre Bonnassie, La Catalogne du milieu du Xe siècle à la fin du XIe siècle (Publications de l’Université de Toulouse-Le Mirail. Série A 23, 29), Toulouse 1975. – Für eine knappe Zusammenfassung der weiteren Forschung zu Frankreich und Italien in den 1970er und 1980er Jahren vgl. Paul Ourliac, La féodalité et son histoire, in  : Revue historique de droit français et étranger 73, 1995, S. 1–22, hier S. 8–11. 31 Vgl. so beispielsweise Christian Lauranson-Rosaz, Peace from the Mountains. The Auvergnat Origins of the Peace of God, in  : Thomas Head/Richard A. Landes (Hg.), The Peace of God. Social Violence and Religious Response in France around the Year 1000, Ithaca, NY 1992, S. 104–134.

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die bisherige Forschung in überzeugender und gut lesbarer Weise zusammen. Das Buch wurde rasch zu einem vielzitierten Klassiker.32 Die zweite Auflage erschien 1991. Sie war zwar aktualisiert, schrieb das Modell selbst aber im Grunde unverändert fort. Es bildete damit auch um 1990 immer noch unangefochten den Interpretationsrahmen für die Geschichte Frankreichs und Kataloniens im 10./11.  Jahrhundert. Insofern war es ein Paukenschlag, als Dominique Barthélemy 1992 die Neuauflage des Buchs von Poly und Bournazel zum Anlass nahm, um in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Annales“ provokant zu fragen  : „La mutation féodale a-telle eu lieu  ?“33 Noch 1990, also nur zwei Jahre zuvor, hatte Barthélemy selbst unter dem Titel „L’ordre seigneurial“ ein kleines Überblickswerk zur Sozialgeschichte des 11./12. Jahrhunderts vorgelegt, das im Wesentlichen dem etablierten Modell gefolgt war.34 Nun aber trug Barthélemy im Kern vier Gegenargumente vor  : 1. Er erinnerte zunächst daran, dass die „mutation féodale“ nicht eine historische Tatsache war, sondern ein mediävistisches Modell (das in Konkurrenz zu anderen Modellen stand).35 2. Er argumentierte, dass neue Wörter, ja selbst neue Dokumente nicht zwangsläufig einen sozialen Wandel belegen. Wenn sich nur einzelne Wörter ändern, nicht aber die Schemata und Klassifikationen, könne man daraus nicht auf einen sozialen Wandel schließen  ; und auch neue Formen der schriftlichen Dokumentation könnten unabhängig von einem Gesellschaftswandel entstanden sein. Insgesamt wollte Barthélemy in der Zeit um 1000 bestenfalls noch eine „mutation documentaire“ sehen.36 3. Barthélemy leugnete zwar nicht, dass sich die karolingische Welt bis ins Hochmittelalter hinein geändert habe. Er sah durchaus Wandel beim bäuerlichen Eigentum, bei der Entstehung kleiner, von Burgen aus kontrollierter Herrschaftsgebilde, bei den Formen bäuerlicher Abhängigkeit. Nur wollte er diese Veränderungen eben nicht in einer einzigen großen Umwälzung binnen einer Generation in den Jahren um 1000 verdichtet sehen, sondern als eine allmähliche und lange Abfolge immer neuer, kleinerer Anpassungen („ajustements successifs“).37 32 Jean-Pierre Poly/Eric Bournazel, La mutation féodale Xe–XIIe siècles (Nouvelle Clio. L’histoire et ses problèmes 16), Paris 1980. 33 Dominique Barthélemy, La mutation féodale a-t-elle eu lieu  ?, in  : Annales 47, 1992, S. 767–775. 34 Ders., L’ordre seigneurial 11e–12e siècle (Points. Histoire 202. Nouvelle histoire de la France médiévale 3), Paris 1990. 35 Barthélemy, La mutation (wie Anm. 33), S. 767f. 36 Ebd., S. 769f. und S. 775. 37 Ebd., S. 775.

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4. Schließlich wies Barthélemy auf eine konzeptionelle Schwäche des vorherrschenden Modells hin  : Es beruhte auf der Dichotomie von ‚öffentlich‘ und ‚privat‘  ; denn es stellte ja zentral die öffentliche Ordnung der Karolingerzeit einer neuen, feudalen Welt entgegen, in der die öffentliche Gewalt wesentlich von Privatleuten usurpiert und fragmentiert worden war. Diese Dichotomie hielt Barthélemy für wenig hilfreich, um die Gesellschaften Westeuropas um die Jahrtausendwende zu erforschen.38 Die Argumente im Aufsatz von 1992 und Barthélemys weitere Veröffentlichungen, die er 1997 noch einmal in einem Buch bündelte,39 rührten an den Kern eines eta­ blierten Geschichtsbildes. Sie lösten eine Debatte aus, die in den 1990er Jahren ziemlich hitzig geführt wurde.40 Im Jahr 2002 veröffentlichte Fredric Cheyette einen Aufsatz, in dem er zu eben der kleinen Region zurückkehrte, in der das strittige Modell seinen Ausgangspunkt hatte  : zu Georges Dubys Mâconnais. Cheyette blickte selbst noch einmal auf die reiche urkundliche Überlieferung der Chartulare des Klosters Cluny und der Kathedralkirche Saint-Vincent in Mâcon. Er konzentrierte sich dabei allerdings auf das Bild einer öffentlichen Ordnung des 10. Jahrhunderts, das Duby als Folie für seine Erzählung von einem fundamentalen Wandel um 1000 entworfen 38 Ebd., S. 772–774. 39 Dominique Barthélemy, La mutation de l’an mil a-t-elle eu lieu  ? Servage et chevalerie dans la France des Xe et XIe siècles (Nouvelles études historiques), Paris 1997. 40 Vgl. zunächst die Antwort von Jean-Pierre Poly/Éric Bournazel, Que faut-il préférer au „mutationnisme“  ? Ou le problème du changement social, in  : Revue historique de droit français et étranger 72, 1994, S. 401–412  ; dazu die Reaktion von Dominique Barthélemy, Encore sur le débat de l’an mil  !, in  : Revue historique de droit français et étranger 73, 1995, S. 349–360  ; und die knappe Erwiderung von Jean-Pierre Poly/Éric Bournazel, Encore le débat sur l’an mil. Postscriptum, in  : ebd., S. 361f.; vgl. außerdem Adriaan E. Verhulst, Die Jahrtausendwende in der neueren französischen Historiographie. Theoretische Konstruktion und historische Wirklichkeit, in  : Ders./Yoshiki Morimoto (Hg.), Économie rurale et économie urbaine au Moyen Âge. Landwirtschaft und Stadtwirtschaft im Mittelalter (Publikatie. Belgisch Centrum voor Landelijke Geschiedenis 108), Gent 1994, S. 81–87  ; Éric Bournazel/Jean-Pierre Poly (Hg.), Les féodalités (Histoire générale des systèmes politiques), Paris 1998  ; Dominique Barthélemy, L’an mil et la paix de Dieu. La France chrétienne et féodale 980–1060, Paris 1999  ; Ders., Nouvelle contribution au débat sur l’an mil en France, in  : Joseph Pérez/Santiago Aguadé Nieto (Hg.), Les origines de la féodalité. Hommage à Claudio Sánchez Albornoz. Actes du colloque international tenu à la Maison des Pays Ibériques les 22 et 23 octobre 1993 (Collection de la casa de Velázquez 69), Madrid 2000, S. 85–111. – Patrick J. Geary, Phantoms of Remembrance. Memory and Oblivion at the End of the First Millennium, Princeton 1994, Kapitel 3 (S. 81–114) argumentierte, um die Jahrtausendwende hätten sich auch Formen der Erinnerung und des Umgangs mit der Überlieferung tiefgreifend verändert  ; vgl. zu diesem Argument allerdings auch die substanzielle Kritik aus französischer Perspektive bei Laurent Morelle, Histoire et archives vers l’an mil  : une nouvelle „mutation“  ?, in  : Histoire et archives 3, 1998, S. 119–141.

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hatte. Cheyette zeigte nun  : Die Urkunden des 10.  Jahrhunderts erlauben es nicht, zwischen einer öffentlichen und einer privaten Gerichtsbarkeit zu unterscheiden. Konflikte wurden im Mâconnais im 10. Jahrhundert nicht fundamental anders ausgetragen als im 11. Jahrhundert.41 (3) Dass die Debatte international so mächtig eskalierte, hat nun allerdings auch damit zu tun, dass zwei Jahre nach Barthélemys „Annales“-Aufsatz der US-amerikanische Historiker Thomas Bisson in der Zeitschrift „Past & Present“ einen Beitrag mit dem Titel „The ‚Feudal Revolution‘“ publizierte.42 Bisson hatte bis dato vor allem zu Frankreich im 12.  Jahrhundert geforscht. Er blickte nun zurück in das 11.  Jahrhundert  ; und gegen Barthélemy plädierte er dafür, eben doch einen tiefgreifenden Umbruch zu sehen, zumindest in der politischen Ordnung. Statt von einer „mutation“ wollte Bisson deshalb ausdrücklich von einer „feudal revolution“ sprechen. Als deren zentrales Ergebnis sah er eine Welt, in der keine öffentliche Gewalt mehr existierte  ; er sah eine Welt, in der Regierung („government“) nicht mehr auf der Kontrolle und Durchsetzung öffentlicher Rechte beruhte, sondern wesentlich auf physischer Gewalt („violence“), die von Burgen aus ausgeübt wurde. Diese neue Regierungsweise bezeichnete Bisson als „lordship“  : Sie zielte nicht darauf ab, Gewalt einzuhegen, zu kontrollieren oder wenigstens zu verschleiern. Offen ausgestellte physische Gewalt bildete vielmehr geradezu den Kern von „lordship“.43 Der Titel von Bissons Beitrag ist etwas irreführend. Denn Bisson interessierte sich – anders als Barthélemy – eigentlich gar nicht für den sozialen Wandel, seine Datierung und seine Geschwindigkeit (also nicht für das, was man die „feudale Revolution“ im engeren Sinne nennen könnte). Entsprechend spielte der Zustand vor dem Wandel, also die Gesellschaften des 9. und 10. Jahrhunderts, in seinem Beitrag auch so gut wie keine Rolle. Worum es Bisson ging, das waren die Folgen für Politik und Gesellschaft seit dem 11.  Jahrhundert. Er fragt deshalb auch gleich im ersten Satz  : „What were west European societies like in the post-millennial centuries when medieval civilization came to maturity  ?“44 Am Ende sah Bisson die neuen Formen der Rechenschaftslegung („accountability“),45 die sich in der politischen Kultur Eu41 Cheyette, Georges Duby’s Mâconnais (wie Anm. 17), S. 303–310. 42 Thomas N. Bisson, The „Feudal Revolution“, in  : Past and Present 142, 1994, S. 5–42. 43 Vgl. z. B. ebd., S. 18  : „For what must be stressed is that the violence of castellans and knights was a method of lordship. In practice and expression it was personal, affective, but inhumane  ; militant, aggressive, but unconstructive. It had neither political nor administrative character, for it was based on the capricious manipulation of powerless people.“ 44 Ebd., S. 6. 45 Ebd., S. 29, S. 34 u. ö.

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ropas im 13. Jahrhundert erkennen lassen, als eine Reaktion auf die Erfahrungen von 200 Jahren „lordship“, das sich in der feudalen Revolution um 1000 etabliert habe. Damit war ein dritter Strang der Diskussion angelegt, der zwar mit Barthélemys Anliegen verflochten, aber durchaus nicht identisch war  : Es macht einen Unterschied, ob man den Prozess des Wandels selbst zu modellieren sucht oder sich für die langfristigen Folgen des Wandels interessiert. Und es macht einen Unterschied, ob man den Umbruch im Wesentlichen als einen politischen Prozess begreift oder als einen tiefgreifenden Gesellschaftswandel. Es ist verlockend, hinter diesen unterschiedlichen Leitfragen und Herangehensweisen verschiedene nationale Forschungstraditionen zu vermuten  : Möglicherweise hatte Thomas Bisson bei der Abfassung seines Beitrags nicht so sehr Marc Blochs und Georges Dubys Klassiker von 193946 und 195347 im Kopf, sondern eher Joseph Strayers „Feudalism“ von 1965 – ein Buch, das zumindest in den USA sehr einflussreich gewesen war. Wie Bisson hatte jedenfalls auch schon Strayer die Grundzüge des Feudalismus politisch definiert  : the basic characteristics of feudalism in Western Europe […] [are] a fragmentation of political authority, public powers in private hands, and a military system in which an essential part of armed forces is secured through private contracts.48

Bissons Aufsatz rief nun allerdings diejenigen auf den Plan, die sich mit der Frage von Konflikt und Gewalt im Frankreich des 11. Jahrhunderts schon länger beschäftigt hatten und dabei nicht zuletzt von ethnologischen Arbeiten beeinflusst waren. In diesem Feld hatte sich die Idee durchgesetzt, dass in den Gesellschaften im hochmittelalterlichen Frankreich zwar ein vergleichsweise hohes Maß an Gewalt existierte, Konflikte um Land und Rechte aber dennoch nicht einfach hemmungslos eskalierten. Stattdessen hatten Mediävistinnen und Mediävisten seit den 1970er Jahren ein ganzes Spektrum an sozialen Mechanismen und Techniken beobachtet, mit denen die Akteure ihre Konflikte gütlich beizulegen vermochten.49 46 Marc Bloch, La société féodale (L’évolution de l’humanité 34), Paris 1939 (deutsch, aber in schlechter Übersetzung  : Die Feudalgesellschaft, Frankfurt am Main 1982). 47 Duby, La société (wie Anm. 17). 48 Joseph R. Strayer, Feudalism, New York u. a. 1965, S. 13  ; vgl. im Übrigen auch Richard Abels, The Historiography of a Construct  : „Feudalism“ and the Medieval Historian, in  : History Compass 7, 2009, S. 1008–1031, hier S. 1012  : „In the Anglo-American paradigm, ‚feudalism‘ is associated with the fragmentation of central authority, as political power and jurisdictional in the tenth and eleventh centuries devolved into the hands of ‚private‘ individuals, that is, of nobles who held franchises, immunities or banal rights.“ 49 Ich nenne aus einem sehr großen Feld hier nur die klassischen Beiträge von Stephen D. White, „Pactum … legem vincit et amor judicium“. The settlement of disputes by compromise in eleventh-century

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So entfaltete sich angesichts von Bissons Beitrag in den Jahren bis 1997 in „Past & Present“ eine lebhafte Debatte über die Bedeutung von Konflikt und Gewalt, über sozialen und politischen Wandel und über die regionale Vielfalt in Lateineuropa im 11./12.  Jahrhundert. In deren Verlauf antwortete nicht nur Barthélemy selbst auf Bisson  ; auch Stephen White, Timothy Reuter und Chris Wickham erhoben ihre Stimme.50 Von hier aus hat sich die Debatte dann erheblich ausdifferenziert und geweitet. Sie ist mit eigenen Chronologien auf England51 und Skandinavien,52 ja sogar die Weltgeschichte53 übertragen worden  ; im Zuge dessen hat sie sich allerdings auch inhaltlich erheblich geöffnet. Erst nach der Wende zum dritten Jahrtausend wurde es insgesamt deutlich stiller um die „mutation féodale“. Die Argumente waren ausgetauscht, der Ton war hart geblieben, das alte Modell war kaum mehr in seiner Gänze zu verteidigen, ein France, in  : The American journal of legal history 22, 1978, S.  281–308  ; Patrick J. Geary, Vivre en conflit dans une France sans état. Typologie des mécanismes de règlement des conflits (1050–1200), in  : Annales 41, 1986, S.  1107–1133  ; Barbara H. Rosenwein, To Be the Neighbor of St. Peter. The Social Meaning of Cluny’s Property, 909–1049, Ithaca, NY, 1989. Für einen Überblick über diesen Forschungsstrang vgl. Steffen Patzold, Konflikte im Kloster. Studien zu Auseinandersetzungen in monastischen Gemeinschaften des ottonisch-salischen Reichs (Historische Studien 463), Husum 2000, S. 27–34  ; Warren C. Brown/Piotr Górecki, What Conflict Means  : The Making of Medieval Conflict Studies in the United States, 1970–2000, in  : Dies. (Hg.), Conflict in Medieval Europe. Changing Perspectives on Society and Culture, Aldershot 2003, S. 1–35. 50 Vgl. die Debatten-Beiträge in  : Past & Present 152, 1996, S.  196–205 (Dominique Barthélemy)  ; S.  205–223 (Stephen White)  ; sowie in Past & Present 155, 1997, S.  177–208 (Timothy Reuter)  ; S. 195–208 (Chris Wickham) und die Antwort von Thomas N. Bisson, ebd., S. 208–225. 51 David R. Bates, England and the „feudal revolution“, in  : Il feudalesimo nell’alto medioevo (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 47), Spoleto 2000, S. 611–646  ; Andrew Wareham, The „Feudal Revolution“ in Eleventh-Century East Anglia, in  : Anglo-Norman Studies 22, 2000, S. 293–321. – Man muss beachten, dass für England der Begriff der „feudal revolution“ schon früher etabliert war  : Hier wurde unter diesem Label verhandelt, wie radikal die normannische Eroberung von 1066 die militärische und politische Organisation Englands verändert hat  : Vgl. dazu beispielsweise C. Warren Hollister, 1066  : The „Feudal Revolution“, in  : The American Historical Review 73, 1967, S. 708–723, der selbst für eine Mischung aus Neuerungen und Kontinuitäten plädierte. 52 Richard A. Holt, Should We Search for a Feudal Revolution in Scandinavia  ?, in  : Lars Ivar Hansen/ Richard Holt/Steinar Imsen (Hg.), Nordens plass i middelalderens nye Europa. Sammfunnsomdanning, sentralmakt og periferier. Rapporter til det 27. nordiske historikermøte, Tromsø 11.–14. august 2011 (Speculum Boreale 16), Stamsund 2011, S. 46–54. 53 Vgl. die Diskussion zwischen R.  J. Barendse, The Feudal Mutation. Military and Economic Transformations of the Ethnosphere in the Tenth to Thirteenth Centuries, in  : Journal of World History 14, 2003, S. 503–529  ; und Stephen R. Morillo, A „Feudal Mutation“  ? Conceptual Tools and Historical Patterns In World History, in  : Journal of World History 14, 2003, S. 531–550  ; außerdem Lisa Blaydes/ Eric Chaney, The Feudal Revolution and Europe’s Rise  : Political Divergence of the Christian West and the Muslim World before 1500 CE, in  : The American Political Science Review 107, 2013, S. 16–34.

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neues, allseits akzeptiertes Modell aber hatte sich nicht durchgesetzt. Man kann sagen  : Die Diskussion über den historischen Wandel um 1000 hatte einen toten Punkt erreicht. Bezeichnenderweise erschienen seit den frühen 2000er Jahren bereits die ersten Beiträge, die auf die Debatte zurückblickten und sie zusammenzufassen suchten.54 Fruchtbar wurde die Kontroverse nun allerdings für andere, benachbarte Forschungsfelder, und in dieser erneuerten Form reichen die Ausläufer der Diskussion, die um 1990 begann, bis in die jüngste Zeit hinein. Stellvertretend für diesen Prozess seien hier fünf Beispiele genannt  : 1. Barthélemy selbst hat 2005 in einem Zeitschriftenbeitrag forschungsgeschichtlich bis in das 19. Jahrhundert zurückgeblickt, also hinter den Paradigmenwechsel geschaut, den Marc Bloch und Georges Duby herbeigeführt hatten. Auf diese Weise hat er einen anderen tiefgreifenden Wandel gewissermaßen ,wiederentdeckt‘  : nämlich die sozialen Transformationen der Jahrzehnte um 1100, insbesondere in der Geschichte der Städte und der Kirche.55 2. Charles West hat 2013 ein wichtiges Buch vorgelegt, in dem er eine Alternative zu dem Modell einer „feudal revolution“ vorschlägt. West bezieht zum ersten Mal konsequent die Karolingerzeit in ihrer ganzen Komplexität mit in die Diskussion ein  ; und er zeigt eindrucksvoll, wie sich auf lokaler Ebene in Lotharingien und der Champagne bis ins Hochmittelalter allmählich neue Strukturen aus Prozessen der Formalisierung karolingerzeitlicher Praktiken und der Verdinglichung („reification“) einzelner Rechte ausbildeten.56 54 Christian Lauranson-Rosaz, Le débat sur la „mutation féodale“  : état de la question, in  : Przemyslaw Urbanczyk (Hg.), Europe around the year 1000, Warschau 2001, S. 11–40  ; aus polnischer Perspektive  : Grzegorz Myśliwski, Feudalizm – „rewolucja feudalna“ – kryzysy władzy w Polsce XI–początku XII w. Punkt widzenia mediewistyki anglojęzycznej, in  : Przegląd historyczny 93, 2002, S. 73–102, hier S. 86–94 (der im Wesentlichen die Debatte in Past & Present resümiert und dann, S. 94–102, Thomas N. Bisson, On Not Eating Polish Bread in Vain  : Resonance and Conjuncture in the Deeds of the Princes of Poland (1109–1113), in  : Viator 29, 1998, S. 275–289, diskutiert, der den Bericht des Gallus Anonymus in die Debatte über eine „feudal revolution“ in Westeuropa eingeordnet hat). – Aus deutscher Perspektive  : Hans-Werner Goetz, Gesellschaftliche Neuformierungen um die erste Jahrtausendwende  ? Zum Streit um die „mutation de l’an mil“, in  : Achim Hubel/Bernd Schneidmüller (Hg.), Aufbruch ins zweite Jahrtausend. Innovation und Kontinuität in der Mitte des Mittelalters (Mittelalter-Forschungen 16), Ostfildern 2004, S. 31–50. – Aus amerikanischer Sicht  : Abels, Historiography (wie Anm. 48), S. 1018–1020. 55 Dominique Barthélemy, La mutation de l’an 1100, in  : Journal des Savants, 2005, S. 3–28. 56 Charles West, Reframing the Feudal Revolution. Political and Social Transformation Between Marne and Moselle, c. 800–c. 1100 (Cambridge studies in medieval life and thought 4, 90), Cambridge 2013  ; vgl. die Besprechung von Lorenzo Tabarrini, The ‚Feudal Revolution‘ After All  ? A Discussion on Four Recent Books, in  : soricamente.org. Laboratorio di Storia. Dibattiti, 2020 (doi  : 10.12977/stor809),

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3. Chris Wickham hat 2014 einen Beitrag vorgelegt, in dem er die Debatte über die „feudal revolution“ als Ausgangspunkt nimmt für eine neue Geschichte der städtischen Kommunen in Italien ab dem späten 11. Jahrhundert.57 4. Michel Lauwers, Florian Mazel und Tristan Martine bemühen sich in einer Reihe rezenter Veröffentlichungen, die Rolle der Kirche für den historischen Wandel um 1100 genauer auszuleuchten.58 5. Alessio Fiore schließlich hat 2020 ein Buch vorgelegt, das die feudale Revolution für Italien in die Jahrzehnte nach 1080 umdatiert und in Zusammenhang bringt mit derjenigen bedrohten Ordnung, die deutsche Historiker traditionell als „Investiturstreit“ bezeichnen.59 Innovationskraft, so scheint es also, hat die Kontroverse über die „mutation féodale“ in den letzten Jahren nicht mehr für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Jahrzehnte um 1000 entfaltet,60 sondern weit stärker für die Periode um 1100.61 Und ein S. 6f. und S. 10–12. – Geoffrey Koziol, Flothilde’s Visions and Flodoard’s Histories  : a Tenth-Century Mutation  ?, in  : Early Medieval Europe 24, 2016, S. 160–184, hat die Visionen der Flothilde, die Flodoard von Reims Anfang der 940er Jahre aufgezeichnet hat – im methodischen Anschluss an Charles West (ebd., S. 177) –, als Hinweise auf eine „mutation“ gesehen, die von karolingischer Grundlage aus in das 11. Jahrhundert deutet (mit Blick auf das Bedürfnis nach Reform  ; auf den Verzicht, im König die Rettung zu suchen  ; auf die Unsicherheit, Gottes Willen zu kennen  ; aber auch auf die Form der Visionen, die Praktiken der Visionärin und die literarische Ausgestaltung des Geschauten selbst). 57 Chris Wickham, The „Feudal revolution“ and the origins of italian city communes, in  : Transactions of the Royal Historical Society 24, 2014, S. 29–55. 58 Vgl. Mazel, Pouvoir aristocratique (wie Anm.  17), S.  137–152  ; Ders., Féodalités (wie Anm.  6), S. 235–297  ; Ders., Introduction. Une „révolution totale“  ? Penser la réforme grégorienne par-delà les frontières historiographiques, in  : Tristan Martine/Jérémy Winandy (Hg.), La réforme grégorienne, une „révolution totale“  ? (Rencontres. Série Civilisation médiévale 42), Paris 2021, S. 15–25  ; vgl. auch Michel Lauwers, De l’incastellamento à l’inecclesiamento  : Monachisme et logiques spatiales du féodalisme, in  : Dominique Iogna-Prat/Michel Lauwers/Florian Mazel/Isabelle Rosé (Hg.), Cluny. Les moines et la société au premier âge féodal, Rennes 2013, S. 315–338  ; Ders./Florian Mazel, Le „premier âge féodal“, l’Église et l’historiographie française, in  : ebd., S. 11–18. 59 Alessio Fiore, The Seigneurial Transformation. Power Structures and Political Communication in the Countryside of Central and Northern Italy, 1080–1130 (Oxford Studies in Medieval European History), Oxford 2020  ; zu dem Buch vgl. die kurze Besprechung bei Tabarrini, The ‚Feudal Revolution‘ (wie Anm. 56), S. 12f., und vor allem die Diskussion in  : The Journal of European Economic History 50, 2021, S. 137–227, mit Beiträgen von Paolo Tedesco, Christoph Haack, Isaac Smith, Giulia Vollono, Igor Santos Salazar, Thomas Kohl und Charles West, sowie einer Antwort von Alessio Fiore selbst. 60 Vgl. dazu noch einmal Dominique Barthélemy, La société de l’an mil dans le royaume capétien  : essai historiographique, in  : Revue historique 681, 2017, S. 93–140. 61 Vgl. dazu nun auch die Beiträge in dem Band  : Thomas Kohl (Hg.), Konflikt und Wandel um 1100. Europa im Zeitalter von Feudalgesellschaft und Investiturstreit (Europa im Mittelalter 36), Berlin 2020.

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guter Teil der Diskussion hat sich zugleich auf die Geschichte der Kirche62 und der Kommune und damit zugleich räumlich von Frankreich nach Italien verlagert. (4) Zu erwähnen ist schließlich noch ein vierter Diskussionsstrang, der allerdings nur sehr lose mit den übrigen dreien verflochten ist. Dieser Strang ist gerade in Deutschland im letzten Jahrzehnt intensiv fortgesponnen worden  : Im Jahr 1994 veröffentlichte Susan Reynolds ihr Buch über „Fiefs and Vassals“  : Darin plädierte sie dafür, das Lehnswesen nicht mehr als eine Institution des Mittelalters zu sehen, sondern als eine Systematisierungsleistung von Feudisten der Frühen Neuzeit.63 Vasallität und Landleihen spielten nun zwar immer auch eine gewisse Rolle bei der Beschreibung der Feudalgesellschaft. Im Zentrum der Diskussion über die „mutation féodale“ standen sie allerdings nie – wohl auch deshalb, weil Duby in seinem Klassiker zur Gesellschaft des Mâconnais nur wenig auf die feudo-vasallitischen Institutionen im engeren Sinne eingegangen war.64 Auf der Tagung in Spoleto im Jahr 1998, die dem „feudalesimo“ gewidmet war, kam zwar auch dieser Strang der Debatte mit den übrigen international zusammen.65 Er trennte sich jedoch in den 2000er Jahren dann auch rasch wieder davon ab  : Gerade in Deutschland hat man seither sehr intensiv über Reynolds Thesen zu den feudo-vasallitischen Institutionen diskutiert.66 Der weitere Kontext der „mutation féodale“ aber hat dabei interessanterweise so gut wie keine Rolle gespielt. 62 Vgl. dazu jüngst etwa auch Thomas Kohl, The Seigneurial Turn, the Church and National Historiographies, in  : The Journal of European Economic History 50, 2021, S.  193–201, hier S.  195–198  ; Charles West, Three Notes on Alessio Fiore’s Seigneurial Transformation, in  : ebd., S. 203–213, hier S. 206–208. 63 Susan Reynolds, Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted, Oxford 1994. Vgl. dazu den Beitrag von Brigitte Kasten in diesem Band. 64 Vgl. dazu Mazel, La thèse (wie Anm. 17), S. 88. 65 Il feudalesimo nell’alto medioevo (wie Anm. 51). 66 Wichtig waren die Bände von Jürgen Dendorfer/Roman Deutinger  (Hg.), Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte – Quellenbefunde – Deutungsrelevanz (Mittelalter-Forschungen 34), Ostfildern 2010  ; und Karl-Heinz Spieß (Hg.), Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen 76), Ostfildern 2013  ; zur weiteren Forschung seither vgl. den Überblick bei Jürgen Dendorfer/Steffen Patzold, Tenere et habere. Leihen als soziale Praxis im Früh- und Hochmittelalter, in  : Dies. (Hg.), Tenere et habere. Leihen als soziale Praxis im frühen und hohen Mittelalter (Besitz und Beziehungen 1), Ostfildern 2022, S. 11–23, hier S. 11–16. Eine interessante Analyse der Debatte bietet jetzt Thomas Martin Buck, Lehnswesen und Feudalismus  : zur Logik von Forschungskontroversen, in  : Simon Groth (Hg.), Der geschichtliche Ort der historischen Forschung. Das 20.  Jahrhundert, das Lehnswesen und der Feudalismus (Normative orders 28), Frankfurt am Main 2020, S.  217–236. – Zur Einordnung aus der Perspektive eines Rechtshistorikers auch  : Dirk Heirbaut, Konfliktlösung und Feudalismus, in  : David Mayenburg (Hg.), Konfliktlösung im Mittelalter (Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in

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Die Grenzen der Internationalisierung Diese deutsche Abstinenz von der internationalen Diskussion über einen „feudalen Wandel“ um 1000 ist einigermaßen bemerkenswert. Früh haben Maria Hillebrandt und Franz Neiske zu Guy Bois’ Buch Stellung genommen.67 Hans-Werner Goetz hat die Debatte in einem Beitrag von 2004 zusammengefasst, inhaltlich kommentiert (und seinerseits, wie viele andere auch, der These eines tiefen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels in Europa um 1000 eine Absage erteilt).68 Klaus van Eickels hat 2006 – allerdings bezeichnenderweise in einem französischen Sammelband – an die Debatte zumindest angeknüpft, um Veränderungen im Friedensdiskurs in der Zeit um 1000 herauszuarbeiten.69 Wirklich empirisch geforscht hat allerdings bisher in diesem Rahmen allein Thomas Kohl, der in seiner Habilitationsschrift Konflikte in Maine und Anjou mit solchen in Schwaben verglichen hat. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass auch Thomas Kohl im Zuge dessen sein Augenmerk weit mehr der zweiten Hälfte des 11. und dem Anfang des 12. Jahrhunderts zugewandt hat als den Jahrzehnten um 100070 – ein Trend, den wir ja bereits ähnlich auch in der englischen, italienischen und französischen Forschung der letzten Jahre beobachtet haben. Hillebrandt, Neiske, Goetz, van Eickels und Kohl sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen  : Sonst nämlich ist es, wenn ich recht sehe, unter deutschen Mediävisten erstaunlich still geblieben – und das, obwohl man beileibe nicht behaupten kann, die Zeit der Ottonen und Salier habe in der deutschen Mediävistik in den 1990er und 2000er Jahren keine große Rolle gespielt. Als Ludolf Kuchenbuch 2002 dem Gebrauch des Begriffs „Feudalismus“ nachging, referierte er nur sehr knapp die französische Forschung  ; Barthélemys Buch von 1997 galt ihm dabei lediglich als „Kritik eines ‚Abtrünnigen‘ am Konsensus“. Auf die rege Kontroverse, die Barthélemy ausgelöst hatte, ging Kuchenbuch nicht ein.71 In Lauranson-Rosaz’ Arbeitsbibliographie Europa 2), Berlin 2021, S.  245–261, hier S.  257–259. Vgl. auch den Beitrag von Brigitte Kasten in diesem Band. 67 Maria Hillebrandt/Franz Neiske, À la recherche de personnes perdues …, in  : Médiévales 21, 1991, S. 21–25, zu methodischen Unzulänglichkeiten in Bois’ Identifikation von Einzelpersonen und Gruppen in den Urkunden Clunys. 68 Goetz, Neuformierungen (wie Anm. 54). 69 Klaus van Eickels, Les bons et mauvais usages de la paix au Moyen Âge, ou la mutation de l’an mil n’a-t-elle vraiment pas eu lieu  ?, in  : Sylvie Caucanas/Rémy Cazals (Hg.), Paroles de paix en temps de guerre, Toulouse 2006, S. 31–38. 70 Thomas Kohl, Streit, Erzählung und Epoche. Deutschland und Frankreich um 1100 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 67), Stuttgart 2019. 71 Ludolf Kuchenbuch, „Feudalismus“  : Versuch über die Gebrauchsstrategien eines wissenspolitischen Reizwortes, in  : Natalie M. Fryde/Pierre Monnet/Otto Gerhard Oexle  (Hg.), Die Gegenwart des

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zur Debatte über die „mutation féodale“ von 2001 finden sich Titel auf Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch – aber kein einziger in deutscher Sprache.72 Der OPAC der „Regesta Imperii“ verzeichnet immerhin mehr als 2,6 Millionen Publikationen zur mittelalterlichen Geschichte. Wer hier nach deutschen Arbeiten sucht, die die Wörter „feudale Mutation“ oder „feudale Revolution“ im Titel führen, der findet  : nichts.73 Wie kann man dies erklären  ? Eine einfache Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Man wird eher mit einem ganzen Bündel an Faktoren rechnen müssen.74 So dürften wahrscheinlich folgende vier Punkte von Bedeutung gewesen sein  : – Erstens liegt für Frankreich eine wichtige dynastische Zäsur im Jahr 987 und damit nahe am Jahr 1000. Wer auf Frankreich schaut, denkt deshalb die ,Karo­ lingerzeit‘ lang, vom 8. bis zum Ende des 10. Jahrhunderts. In Deutschland hatten Mediävistinnen und Mediävisten dagegen seit jeher stärker die Jahre 911 oder 918/19 als historische Zäsuren im Kopf. Diese Jahre waren zudem nicht nur mit einem dynastischen Wechsel verbunden, sondern auch mit einer großen alten Debatte über die Anfänge der deutschen Geschichte.75 Außerdem sind sie als Zeit eines tiefen Wandels in der Regierungsweise zwischen Karolingern und Ottonen begriffen worden.76 So mag es aus deutscher Sicht weniger nahe gelegen haben, Feudalismus – Présence du féodalisme et présent de la féodalité – The Presence of Feudalism (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 173), Göttingen 2002, S. 293–323, hier S. 302f., das Zitat S. 303 Anm. 25. 72 Vgl. Lauranson-Rosaz, Le débat (wie Anm. 54), S. 32–40. 73 Suche unter (aufgerufen am 31.05.2022) mit den im Text angegebenen Suchwörtern. 74 Im Folgenden führe ich Überlegungen fort, die ich bereits andernorts publiziert habe  : Vgl. Steffen Patzold, Le „premier âge féodal“ vu d’Allemagne. Essai sur les historiographies française et allemande, in  : Iogna-Prat/Lauwers/Mazel/Rosé (Hg.), Cluny (wie Anm. 58), S. 19–29. 75 Zum vieldiskutierten regnum Teutonicorum-Beleg in den Salzburger Annalen vgl. Roman Deutinger, „Königswahl“ und Herzogserhebung Arnulfs von Bayern. Das Zeugnis der älteren Salzburger Annalen zum Jahr 920, in  : Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 58, 2002, S. 17–68  ; Jörg Jarnut, Ein Treppenwitz  ? Zur Deutung der Reichsbezeichnung „regnum Teutonicorum“ in den Salzburger Annalen, in  : Franz-Reiner Erkens/Hartmut Wolff (Hg.), Von sacerdotium und regnum. Geistliche und weltliche Gewalt im frühen und hohen Mittelalter. Festschrift für Egon Boshof zum 65. Geburtstag (Passauer historische Forschungen 12), Köln 2002, S. 313–324. 76 Vgl. z. B. Gerd Althoff, Das ottonische Reich als regnum Francorum  ?, in  : Joachim Ehlers (Hg.), Deutschland und der Westen Europas (Vorträge und Forschungen 56), Stuttgart 2002, S.  235–261  ; nuancierend plädieren für einen allmählichen Übergang mit erheblichen Kontinuitäten  : Roman Deutinger, Königsherrschaft im Ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 20), Ostfil-

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ausgerechnet die Jahrtausendwende als Moment eines tiefgreifenden sozialen oder wirtschaftlichen Wandels zu betrachten.77 – Zweitens unterscheidet sich die Quellenlage für die Gebiete im Westen und im Osten der spät- und postkarolingischen Welt erheblich  ; auch dies kann zu unterschiedlichen Themen und Fragestellungen in der Forschung zu Deutschland und zu Frankreich beigetragen haben. Zumindest im Groben kann man sagen  : Für die Regionen östlich des Rheins ist die Überlieferung an Privaturkunden im 10./11. Jahrhundert eher dünn, dafür sind hier große historiographische Texte für die Forschung zentral  : Die Chroniken Widukinds von Corvey, Liutprands von Cremona, Thietmars von Merseburg, Hermanns des Lahmen, auch Adalberts Fortsetzung der Chronik Reginos von Prüm, Wipos ,Gesta Chuonradi‘, die Annales Quedlinburgenses, dazu die Viten von einflussreichen, königsnahen Bischöfen wie Brun von Köln, Ulrich von Augsburg, Bernward von Hildesheim – das ist das Material, aus dem deutsche Mediävisten die Geschichte des Reichs der Ottonen und Salier schöpfen. Westlich des Rheins ist es gerade umgekehrt  : Für die klassischen Regionalstudien, zumal zu Südfrankreich und zu Katalonien, sind Urkunden die wichtigsten Quellen,78 historiographische Texte bleiben so etwas wie Garnitur. Eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte französischer Manier aber lässt sich auf Basis von Widukind, Liutprand, Thietmar (und wie sie alle heißen) in der Tat nicht ganz einfach schreiben. – Drittens ist zu bedenken, dass die Ottonen und Salier in den Regionen östlich des Rheins vielleicht tatsächlich eine stärkere Position und Durchsetzungsfähigkeit hatten als die späten Karolinger und frühen Kapetinger westlich des Rheins. Möglicherweise hatte dieser stärkere Einfluss der Könige östlich des Rheins tatsächlich zur Folge, dass es hier weniger Desintegration auf lokaler Ebene gab. Allerdings wird man dieses Argument nuancieren müssen  : Heinrich I. beispielsweise hat in Bayern und Schwaben in der Praxis kaum regiert  ; der Süden Deutschlands war zumindest bis weit in das 10. Jahrhundert hinein ähnlich königsfern wie der Süden Frankreichs.79 dern 2006  ; Simon Groth, In regnum successit  : „Karolinger“ und „Ottonen“ oder das „Ostfränkische Reich“  ? (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 304. Rechtsräume 1), Frankfurt am Main 2017. 77 Der Band von Bernd Schneidmüller (Hg.), Otto III. – Heinrich II. Eine Wende  ? (Mittelalter-Forschungen 1), Stuttgart 2000, klammert diese Ebenen weitgehend aus. 78 Einen guten Einblick in den bemerkenswerten Reichtum der urkundlichen Überlieferung aus Südfrankreich vermittelt Hélène Débax, „Une féodalité qui sent l’encre“  : typologie des actes féodaux dans le Languedoc des XIe–XIIe siècles, in  : Jean-François Nieus (Hg.), Le vassal, le fief et l’écrit. Pratiques d’écriture et enjeux documentaires dans le champ de la féodalité XIe–XVe siècle. Actes de la journée d’étude organisée à Louvain-la-Neuve le 15 avril 2005, Turnhout 2008, S. 35–70. 79 Vgl. Hagen Keller, Reichsstruktur und Herrschaftsauffassung in ottonisch-frühsalischer Zeit, in  : Frühmittelalterliche Studien 16, 1982, S. 74–128  ; Thomas Zotz, Die Gegenwart des Königs. Zur Herr-

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– Viertens schließlich könnte durchaus auch das Label „mutation féodale“ sein Scherflein zur deutschen Abstinenz von der internationalen Debatte beigetragen haben. Gleich beide Wörter dürften jedenfalls in (west)deutschen Ohren der 1990er Jahre wenig attraktiv geklungen haben. Das Wort „mutation“ bedeutet im Französischen auch in der Alltagssprache schlicht „Veränderung“, „Wandel“. Das deutsche Wort „Mutation“ dagegen ist ein Spezialbegriff der Biologie, genauer der Genetik. So liegt die Annahme nicht ganz fern, dass für manche deutsche Mediävisten das Etikett der „mutation“ problematische biologistische Assoziationen aufgerufen hat, die sein französisches Pendant nicht notwendigerweise evoziert.80 Die Stichwörter „feudal“, „Feudalismus“, „Feudalgesellschaft“ wiederum waren für die gesamte Debatte zweifellos zentral (und so selbstverständlich, dass sie hier kaum je definiert worden sind81). In der westdeutschen Mittelalterforschung der Nachkriegszeit waren diese Wörter jedoch politisch aufgeladen  :82 Sie waren bis 1990 ein fester Teil der mediävistischen Fachsprache in der DDR  ;83 sie wurden deshalb mit dem Marxismus und den Lehren des Historischen Materialismus assoziiert, die die allermeisten westdeutschen Historikerinnen und Historiker wenig attraktiv fanden.84 Ihre Fachkolleginnen und -kollegen aus der DDR wiederum ließen zwar üblicherweise in der Zeit um 1050 den „Frühfeudalismus“ in den „vollentfalteten Feudalismus“ übergehen, doch sahen sie dazwischen ausdrücklich

schaftspraxis Ottos  III. und Heinrichs  II., in  : Schneidmüller  (Hg.), Otto  III. – Heinrich  II. (wie Anm. 77), S. 349–386, hier bes. S. 356. 80 Vgl. aber auch Barthélemy, Mutation (wie Anm. 33), S. 771  : „La théorie mutationniste pourrait être critiquée globalement  : on objecterait d’abord que le mot de mutation convient mieux en biologie qu’en sociologie […].“ 81 Vgl. Abels, Historiography (wie Anm. 48), S. 1020  ; einen Versuch, Idealtypen von Feudalismus zu unterscheiden, hat aber immerhin Chris Wickham, Le forme del feudalesimo, in  : Il feudalesimo nell’alto medioevo (wie Anm. 51), S. 15–46, unternommen. – Grundsatzkritik an dem Konzept hatte bekanntlich früh schon Elizabeth A.  R. Brown, The Tyranny of a Construct  : Feudalism and Historians of Medieval Europe, in  : The American Historical Review 79, 1974, S. 1063–1088, geübt. 82 Eine Ausnahme war der Band von Bernd Michael/Ludolf Kuchenbuch (Hg.), Feudalismus. Materialien zur Theorie und Geschichte (Ullstein 3354), Frankfurt am Main 1977. 83 Vgl. Bernhard Töpfer, Die Herausbildung und die Entwicklungsdynamik der Feudalgesellschaft im Meinungsstreit von Historikern der DDR, in  : Natalie M. Fryde/Michel Mollat du Jourdin/Otto Gerhard Oexle, Die Gegenwart des Feudalismus – Présence du féodalisme et présent de la féodalité – The presence of feudalism (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 173), Göttingen 2002, S. 271–292, sowie jüngst Simon Groth, „Der Bruch mit dieser Vergangenheit muss ein vollständiger sein“. Der Feudalismus als Zukunft der Vergangenheit in der Mittelalterforschung der DDR, in  : Ders. (Hg.), Der geschichtliche Ort (wie Anm. 66), S. 143–186. 84 Vgl. dazu knapp, aber zutreffend auch Abels, Historiography (wie Anm. 48), S. 1012f.

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keine Revolution. So stieß die französische Forschung zur „révolution féodale“ um 1000 auch „in der DDR auf kein größeres Interesse“.85 All das mag eine Rolle gespielt haben. Dass diese vier Punkte entscheidend waren, scheint mir aber fraglich. Sie böten tatsächlich ja eher gute Gründe, das Label „mutation féodale“ kritisch zu reflektieren, die Entwicklung in den Regionen östlich des Rheins vergleichend in die internationale Diskussion hineinzustellen und Unterschiede in den verschiedenen Ecken und Enden Europas zu markieren. Gerade das aber fehlt – und so wird man die deutsche ,Funkstille‘ wohl noch mit einem weiteren Faktor erklären müssen. Ich meine  : In den 1990er Jahren unterschieden sich fundamentale Annahmen in der deutschsprachigen Forschung über die spät- und postkarolingischen Gesellschaften so tiefgreifend von denen im Rest der Welt, dass deutsche Mediävistinnen und Mediävisten die internationale Diskussion gar nicht interessant finden konnten. Tatsächlich hatten sich die nationalen Forschungstraditionen der Mediävistik spätestens seit den 1930er Jahren deutlich auseinanderentwickelt. Im Jahr 1939 veröffentlichte Marc Bloch in Frankreich sein berühmtes Buch „La société féodale“  ;86 in Deutschland publizierte Otto Brunner quasi zeitgleich seine nicht minder berühmte Studie „Land und Herrschaft“.87 Beides waren programmatische Untersuchungen  ; beide hatten einen tiefen und langfristigen Einfluss auf die weitere Forschung und Geschichtsschreibung im jeweiligen Land. In Deutschland aber ist Marc Blochs Werk auch nach dem Zweiten Weltkrieg nur zurückhaltend rezipiert worden.88 Brunner zitierte Blochs „société féodale“ zwar einige Male, aber nur kursorisch und ohne sich damit näher auseinanderzusetzen.89

85 So Töpfer, Herausbildung (wie Anm. 83), S. 274. 86 Wie Anm. 46. 87 Ich zitiere im Folgenden nach Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Darmstadt 1973 (= ND der 5. Auflage, Wien 1965, zuerst 1939  ; die Ausgaben der Nachkriegszeit sind sprachlich erheblich gegenüber den Ausgaben von 1939 und 1941 verändert)  ; zu den Grundlinien vgl. zuvor bereits  : Ders., Politik und Wirtschaft in den deutschen Territorien des Mittelalters, in  : Vergangenheit und Gegenwart 27, 1937, S. 404–422. – Zu Brunners Biographie und seiner Prägung in den 1920er Jahren vgl. jetzt Hans-Henning Kortüm, „Inneres Gefüge des Abendlandes“. Zu Genese und Funktion einer Ordnungssemantik im Werk Otto Brunners, in  : Groth (Hg.), Der geschichtliche Ort (wie Anm. 66), S. 99–120, hier S. 100–104. 88 Vgl. dazu Peter Schöttler, Die deutsche Geschichtswissenschaft und Marc Bloch. Die ersten Nachkriegsjahrzehnte, in  : Ulrich Pfeil (Hg.), Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die „Ökumene der Historiker“. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz, München 2008, S. 155–185. 89 Kortüm, Inneres Gefüge (wie Anm. 87), S. 114 mit Anm. 54.

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Statt von Blochs Feudalgesellschaft blieb die deutsche Mittelalterforschung der Nachkriegszeit von der sogenannten „neuen deutschen Verfassungsgeschichte“ fasziniert, die Otto Brunner,90 Walter Schlesinger,91 Theodor Mayer,92 Heinrich Dannenbauer93 und andere in den 1930er/40er Jahren begründet hatten.94 Nach dem Krieg entwickelte Brunner seine „Volksgeschichte“ der 1930er Jahre zu einer „Struktur-“ und „Sozialgeschichte“ weiter.95 Fernand Braudel hat 1959 in den „Annales“ eine einschlägige Sammlung von Brunners Aufsätzen besprochen, die drei Jahre zuvor unter dem Titel „Neue Wege der Sozialgeschichte“ erschienen war.96 Braudel sah allerdings 90 Vgl. außer den genannten Beiträgen noch Otto Brunner, Bemerkungen zu den Begriffen „Herrschaft“ und „Legitimität“, in  : Karl Oettinger/Mohammed Rassem  (Hg.), Festschrift für Hans Sedlmayr, München 1962, S. 116–133  ; Ders., Der Historiker und die Geschichte von Verfassung und Recht, in  : Historische Zeitschrift 209, 1969, S. 1–16, hier bes. S. 13–15. 91 Walter Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft. Untersuchung vorwiegend nach mitteldeutschen Quellen (Sächsische Forschungen zur Geschichte 1), Dresden 1941 [ND. Darmstadt 1964]. 92 Theodor Mayer, Die Entstehung des „modernen“ Staates im Mittelalter und die freien Bauern, in  : Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 57, 1937, S. 210–288  ; Ders., Adel und Bauern im Staat des deutschen Mittelalters, in  : Ders. (Hg.), Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters, Leipzig 1943, S. 1–21. 93 Heinrich Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen, in  : Historisches Jahrbuch 61, 1941, S. 1–50, argumentierte, dass schon bei den Germanen ein Adel etabliert gewesen sei, der von Burgen aus Herrschaft über Freie ausgeübt habe. 94 Grundlegende Beiträge sind gesammelt bei Hellmut Kämpf  (Hg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter (Wege der Forschung 2), Darmstadt 1960  ; hilfreiche zeitgenössische Zusammenfassungen bei Karl Jordan, Herrschaft und Genossenschaft im deutschen Mittelalter, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 12, 1961, S. 104–115  ; und Karl Bosl, Die alte deutsche Freiheit. Geschichtliche Grundlagen des modernen deutschen Staates, in  : Ders., Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. Ausgewählte Beiträge zu einer Strukturanalyse der mittelalterlichen Welt, München/Wien 1964, S. 204– 219, hier bes. S. 205–207  ; Ders., Herrscher und Beherrschte im deutschen Reich des 10.–12. Jahrhunderts, in  : ebd., S. 135–155. – Konziser Überblick über die „neue Verfassungsgeschichte“ bei  : Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999, S. 174f.; ausführlicher  : Werner Hechberger, Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter. Zur Anatomie eines Forschungsproblems (Mittelalter-Forschungen 17), Ostfildern 2005, S.  34–69  ; Steffen Patzold, Der König als Alleinherrscher  ? Ein Versuch über die Möglichkeit der Monarchie im Frühmittelalter, in  : Stefan Rebenich unter Mitarbeit von Johannes Wienand (Hg.), Monarchische Herrschaft im Altertum (Schriften des Historischen Kollegs 94), Berlin/Boston 2016, S. 605–633, hier S. 609–617  ; aus amerikanischer Perspektive vgl. außerdem  : Benjamin Arnold, Count and Bishop in Medieval Germany. A Study of Regional Power, 1100–1350, Philadelphia 1991, S. 1–9  ; Ders., Structures of medieval governance and the thought-world of Otto Brunner (1898–1982), in  : Reading medieval studies 20, 1994, S. 3–12. 95 Vgl. resümierend dazu Kortüm, Inneres Gefüge (wie Anm. 87), S. 112. 96 Otto Brunner, Neue Wege der Sozialgeschichte. Vorträge und Aufsätze, Göttingen 1956 (2. erweiterte Aufl. unter dem Titel „Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte“, Göttingen 1968, danach die 3., unveränd. Aufl. 1980)  ; vgl. zum Folgenden  : Aurelio Musi, Fernand Braudel lettore di Otto Brunner, in  : Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 13, 1987, S. 125–135.

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in erster Linie Unterschiede  : „Otto Brunner ne doit rien aux Annales“, stellte er gleich eingangs trocken fest.97 Er beobachtete mit Staunen, wie sehr Brunner die Geschichte des Okzidents vom 11. bis 18.  Jahrhundert strukturell stillstellte.98 Angesichts der fremdartigen Lektüre formulierte es Braudel ausdrücklich als sein Ziel, französischen Leserinnen und Lesern eine Gedankenwelt zu erhellen, „qui nous est peu familière“  : „Entre historiens allemands et français“, so konstatierte er am Ende, „le contact a été si longtemps perdu qu’il suffit parfois d’un mot mal saisi, d’une affirmation trop vite lancée pour que la discussion perde tout son sens“.99 Als gut drei Jahrzehnte später in Frankreich, den USA und Großbritannien die Debatte über die „mutation féodale“ entbrannte, hatte das Lehrgebäude dieser deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte zwar schon beachtliche Risse  ; aber es stand noch, und es strukturierte auch noch die Art und Weise mit, wie Mediävistinnen und Mediävisten hierzulande auf die Gesellschaften östlich des Rheins im 10./11. Jahrhundert blickten. Es ist wahrscheinlich nicht so, dass Brunners Klassiker in den 1990er Jahren noch intensiv gelesen und diskutiert worden wäre. Aber einige seiner Kernbotschaften waren inzwischen gewissermaßen sedimentiert, in Tiefenschichten der deutschen Forschung als Selbstverständlichkeiten abgelagert. Eine von Brunners Leit­ ideen, die auch noch in den 1990er Jahren in der deutschen Mediävistik nachwirkte, war zweifellos die Idee der Alterität  : Das Mittelalter galt Brunner als fundamental anders als die Moderne, und diese Andersartigkeit wollte er bei der Erforschung des Mittelalters gerade auch begrifflich ernstnehmen.100 Deshalb stellte er fundamentale begriffliche Dichotomien in Frage, die erst in der Moderne etabliert worden seien  : Wer das Mittelalter erforschen wollte, durfte nicht das Politische und das Soziale auseinanderdividieren (oder in Brunners Worten  : zwischen „Staat“ und „Gesellschaft“ trennen)  ;101 und er durfte auch nicht eine „öffentliche“ und eine „private“ Sphäre  97 Fernand Braudel, Sur une conception de l’Histoire sociale, in  : Annales E.S.C. 14, 1959, S. 308–319, hier S. 308.  98 Vgl. ebd., S. 310f. und S. 318.  99 Ebd., S. 318. 100 Vgl. schon Brunner, Politik, S. 422  : „Worum es heute geht, ist eine Revision der Grundbegriffe. Unerträglich ist der Zustand, daß Begriffe, die einer toten Wirklichkeit entstammen, noch immer die wesentlichen Maßstäbe und Fragestellungen für eine Zeit bestimmen, deren innerer Bau durchaus anderer Art gewesen ist. Die Forderung kann gar nicht radikal genug formuliert werden“ (Hervorhebung im Original)  ; vgl. zu diesem Programm die Verwunderung bei Braudel, Conception (wie Anm. 97), S. 316  : „Dans un chapitre, que je comprends mal, l’ayant cependant lu et relu, nous voilà mis en garde contre l’anachronisme, contre le danger évident d’un dialogue présent-passé, nous voilà placés en outre devant les lourdes responsabilités de l’histoire.“ 101 Brunner, Land (wie Anm. 87), S. 111–120  ; vgl. knapp schon Ders., Politik, S. 406  : „In einer so verfaßten Welt stehen sich nicht ein Staat, in dessen Händen die Staatsgewalt konzentriert ist, und

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abgrenzen, wie es in der Rechts- und Verfassungsgeschichte des 19.  Jahrhunderts üblich gewesen war.102 Zugleich hatten Brunner und seine Mitstreiter die Frage der Gewalt aus der Geschichte des Mittelalters hinausgeschrieben  :103 Auch die moderne Unterscheidung zwischen „Macht“ und „Recht“, so forderte Brunner nämlich, müsse die Mittelalterforschung überwinden.104 In Brunners eigenem Werk ist diese Differenz sehr zeitgebunden aufgelöst in „konkreten Ordnungen“,105 in denen Norm und Praxis in eins geblendet werden  ; in hierarchischen Beziehungen von Schutz, Schirm und Treue sowie in der Idee der Fehde als Teil des Rechts. Hans-Henning Kortüm hat jüngst Brunners merkwürdig konflikt- und gewaltarme Mittelalterwelt, die sich durch „ein schon fast harmonisch zu nennendes Miteinander von ‚Sozialpartnern‘“ auszeichnete, mit vollem Recht als das Ergebnis „sozialromantischer Verklärung“ bezeichnet – und den scharfen Kontrast zu Marc Blochs Mittelalterbild voller sozialer Konflikte und wirtschaftlicher Ausbeutung herausgearbeitet.106

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eine unpolitische Wirtschaftsgesellschaft gegenüber, wie in der liberalen Situation des 19. Jahrhunderts, sondern politische Gebilde verschiedener, allerdings keineswegs gleicher Art, deren Wesen und Aufgabe zu beschreiben eben Sache der Verfassungsgeschichte ist […].“ Auch dazu ist die Skepsis von Braudel, Conception (wie Anm. 97), S. 317f., zu vergleichen  ! Brunner, Land (wie Anm. 87), S. 242–254  ; zuvor schon Ders., Politik (wie Anm. 87), S. 406f.: „denn wir beschreiben noch heute die mittelalterliche Welt in Kategorien, die dieser Situation von Staat und Gesellschaft entnommen sind, sehen im Reich und später in der Landesherrschaft schlechthin den Staat, in den Ständen und Grundherrschaften und Städten, die diesem Staat gegenüberstehende Sphäre der gesellschaftlichen Wirtschaft, eine private Sphäre, die zwar auf eine geheimnisvolle Weise öffentliche Rechte an sich gebracht hat, aber sie wie private betrachtet. Ich brauche nicht ausein­ anderzusetzen, was ein solcher falscher Ansatz für die Frage nach Existenz und Wirksamkeit einer Wirtschaftspolitik bedeutet. Sie soll uns als Beispiel dienen, die Fraglichkeit unserer Grundbegriffe für die Behandlung dieser Dinge darzutun“  ; vgl. auch ebd., S. 409. – Vgl. zuvor allerdings auch schon den vielgelesenen Beitrag von Fritz Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, in  : Historische Zeitschrift 120, 1919, S. 1–79, hier S. 1  : „Während der Rechtshistoriker z. B. unbefangen von einem fränkischen ‚Privatrecht‘ oder ‚staatsrechtlichen Normen‘ der anglonormannischen Zeit sprechen und die ‚Realien‘ unter diesen Stichworten ordnen darf, müssen wir feststellen, daß das Mittelalter gar kein ‚Privatrecht‘ als solches und auch nicht unsern Begriff des ‚Staates‘ kennt.“ Dazu kritisch  : Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch (Historische Studien 17), Frankfurt am Main/New York 1996, S. 97–127. Brunner, Land (wie Anm. 87), S. 2f.; vgl. im Grunde ganz in diesem Sinne z. B. noch  : Gerhard Baaken, Recht und Macht in der Politik der Staufer, in  : Historische Zeitschrift 221, 1975, S. 553–570, mit Kritik am „modernen“, auf die Aushandlung von Macht abzielenden Politikbegriff (S. 558f.) und dem Fazit, S. 570  : „Politisches Handeln […] ist in dem behandelten Zeitraum nur denkbar und möglich in den Formen, die das Recht, das Rechtsverfahren, die Formen schriftlicher Fixierung von Rechtsgeschäften boten. Ziele wie Mittel jeder Politik sind an das Recht gebunden.“ Programmatisch  : Brunner, Politik (wie Anm. 87), S. 413. Kortüm, Inneres Gefüge (wie Anm. 87), S. 105.

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Die deutschsprachige mediävistische Forschung war in den 1970er/80er Jahren selbstverständlich nicht einfach bei Brunner, Schlesinger, Mayer oder Dannenbauer stehen geblieben  : František Graus hatte 1986 in einem wichtigen Aufsatz in der „Historischen Zeitschrift“ zentrale Grundannahmen der hiesigen Verfassungsgeschichte in Frage gestellt.107 Im Jahr 1996 erschien Michael Borgoltes großer Überblick über die Entwicklung der mediävistischen Sozialgeschichte in Deutschland, in dem er nicht zuletzt auch die neue Verfassungsgeschichte historisch einordnete.108 Parallel dazu begannen Mediävistinnen und Mediävisten, Rechts- und Zeithistoriker und -historikerinnen die Rolle der Gründungsväter der mediävistischen Verfassungs- und Sozialgeschichte wie Otto Brunner, Heinrich Dannenbauer oder Theodor Mayer im nationalsozialistischen Regime genauer zu erforschen – und die Konsequenzen antimodernen und antiliberalen Denkens in Grundannahmen der deutschen Mittelalterforschung aufzuspüren.109 Im Jahr 1998 diskutierten Historiker und Historikerinnen beim 42. Deutschen Historikertag in Frankfurt am Main hitzig über die Geschichte ihres eigenen Fachs im Nationalsozialismus. Und doch  ! Auch in den 1990er Jahren herrschten in weiten Teilen der deutschen Mediävistik bestimmte Grundannahmen, die letztlich – wenngleich bisweilen in komplexer Weise – auf das verfassungsgeschichtliche Forschungsprogramm der

107 František Graus, Verfassungsgeschichte des Mittelalters, in  : Historische Zeitschrift 243, 1986, S. 529–589, hier bes. S. 552–573. 108 Michael Borgolte, Sozialgeschichte des Mittelalters. Eine Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit (HZ Beihefte, N. F. 22), München 1996, S. 37–48. 109 Aus rechtshistorischer Perspektive  : Karl Kroeschell, Führer, Gefolgschaft und Treue, in  : Joachim Rückert/Dietmar Willoweit  (Hg.), Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 12), Tübingen 1995, S. 55–76, hier bes. S. 73–75  ; aus zeithistorischer Sicht Anne Christine Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1970, Göttingen 2005. – Zu Brunner  : Gadi Algazi, Otto Brunner – „konkrete Ordnung“ und Sprache der Zeit, in  : Peter Schöttler  (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1333), Frankfurt am Main 1997, S. 166–203  ; zur Nähe des Brunnerschen Werks zum NS außerdem Robert Jütte, Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus. Der Beitrag Otto Brunners zur Geschichtsschreibung, in  : Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 13, 1984, S. 337–362, hier S. 354–362  ; Hans-Henning Kortüm, Otto Brunner über Otto den Großen. Aus den letzten Tagen der reichsdeutschen Mediävistik, in  : Historische Zeitschrift 299, 2014, S. 297– 333. – Zu Mayer  : Reto Heinzel, Von der Volkstumswissenschaft zum Konstanzer Arbeitskreis  : Theodor Mayer und die interdisziplinäre deutsche Gemeinschaftsforschung, in  : Stefan Albrecht/ Ralph Melville/Jiri Malir (Hg.), Die sudetendeutsche Geschichtsschreibung 1918–1960. Zur Vorgeschichte und Gründung der Historischen Kommission der Sudetenländer (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 114), München 2008, S.  43–59. – Zu Dannenbauer  : Nagel, Schatten (wie Anm. 109), S. 35–39.

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1930er/40er Jahre zurückgingen.110 Aus Brunners Idee, man könne in Alteuropa das Soziale und das Politische, den ‚Staat‘ und die ‚Gesellschaft‘ nicht trennen, war mittlerweile das etwas hemdsärmelige Credo geworden, Mediävistinnen und Mediävisten dürften den modernen Begriff des ‚Staates‘ nicht verwenden111 (während man gleichzeitig durchaus von „der mittelalterlichen Gesellschaft“ sprach, und zwar oft genug sogar tatsächlich im Singular). Die Unterscheidung zwischen Macht und Recht war mittlerweile durchaus wieder üblich geworden. Das Wort „Herrschaft“ war auch in der deutschen mediävistischen Literatur der 1990er Jahre geradezu allgegenwärtig, doch ohne immer und überall noch jene Überwindung der Trennung von öffentlichem Recht und privatem Recht zu implizieren, die Otto Brunner und Walter Schlesinger in den 1930er bis 1950er Jahren angestrebt hatten, als sie ‚Herrschaft‘ zu einem Schlüsselbegriff der deutschen Mediävistik erhoben hatten.112 In welchem Verhältnis eine öffentliche und eine private Sphäre zueinander standen, inwieweit eine Öffentlichkeit (und welche Formen von Öffentlichkeit) auch im Mittelalter existierten, das wurde in den 1990er Jahren in Deutschland präziser erforscht und diskutiert.113 Aber für die Zeit der Karolinger und Ottonen von einer „öffentlichen Gewalt“, einer „öffentlichen Burg“, einem „öffentlichen Amt“ zu sprechen, gar eine „Privatisierung öffentlicher Rechte“ zu konstatieren – das wäre den meisten deutschen Mediävistinnen und Mediävisten auch in den 1990er Jahren wohl doch ziemlich schwergefallen. Wer die deutsche Verfassungsgeschichte mit ihrer Idee (autogener) Adelsherrschaft, ihrer Skepsis gegenüber der Annahme einer öffentlichen Gewalt, ihrer großen Distanz zum Staatsbegriff im Kopf hat, der kann mit Dubys Modell, mit Barthélemys Kritik und mit der hitzigen anglo- und frankophonen Debatte der 1990er und frühen 2000er Jahre über die „mutation“ oder „révolution féodale“ nicht viel anfangen. Denn diese Debatte kreiste ja gerade im Kern um die Frage, warum und wie sich die öffentliche Ordnung der Karolingerzeit aufgelöst habe, warum und wie Rechte der öffentlichen Gewalt privatisiert worden und in die Hände einzelner Burgherren geraten seien – und welche Folgen dies für die Gesellschaften Europas und den rechtlichen, 110 Vgl. zum Folgenden auch Patzold, Der König (wie Anm. 94), S. 618–628. 111 Eine – internationale – Bestandsaufnahme bietet der Band von Walter Pohl/Veronika Wieser (Hg.), Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Denkschriften 386. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), Wien 2009. 112 Vgl. etwa die Übersicht bei Christine Reinle, Was bedeutet Macht im Mittelalter  ?, in  : Zey (Hg.), Mächtige Frauen  ? (wie Anm. 39), S. 35–72, hier S. 38–45, die bezeichnenderweise ganz andere Machtund Herrschaftsbegriffe der Soziologie diskutiert. 113 Vgl. als ein Beispiel nur Gerd Althoff, Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in  : Ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1996, S. 229–257, hier bes. S. 230–233.

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sozialen und wirtschaftlichen Status von Bauern gehabt habe. Die Annahme einer öffentlichen Gewalt für die Karolingerzeit und deren Privatisierung durch Burgherren war für Dubys Modell schlechterdings zentral  ; Duby verdankte die Unterscheidung Rechtshistorikern wie François-Louis Ganshof, Jean-François Lemarignier und Roger Aubenas.114 Auch in der weiteren Forschung zur „mutation féodale“ blieben Rechtshistoriker wie Jean-Pierre Poly, Paul Ourliac oder Éric Bournazel tonangebend. Ourliac konnte noch 1995 betonen  : „Il y a dans tout droit de justice l’affirmation d’une supériorité  ; le fief est au contraire d’essence contractuelle  ; quoique obscurément, l’opposition du droit public et du droit privé persiste.“115 Christian Lauranson-Rosaz hat 2001 rückblickend einen zentralen Punkt der gesamten Mutationsdebatte in der Frage nach der „dislocation de l’autorité publique“ gesehen.116 Aus Brunners Perspektive wären Dubys und Ourliacs Unterscheidung und Lauranson-Rosaz’ Kernfrage schlicht irreführend. Und Bissons Begriff von „lordship“, der wesentlich durch physische Gewalt charakterisiert wird, ist geradewegs das Gegenteil von Brunners Begriff der „Herrschaft“, die in Schutz, Schirm und Treue aufgeht. Um es also einmal über Gebühr zuzuspitzen  : Wenn wir auf die Debatte über die „mutation de l’an mil“ in den 1990er Jahren blicken, dann sehen wir zunächst einmal, wie sehr sich die deutsche Mittelalterforschung durch ihren verfassungsgeschichtlichen Paradigmenwechsel der 1930er/40er Jahre ins internationale Abseits begeben hatte. Bemerkenswerterweise näherte sich nun aber die außerdeutsche Forschung in der Debatte über die „société féodale“ zumindest in Teilen wieder den Perspektiven an, die die deutsche Verfassungsgeschichte damals entwickelt hatte  : So wurde die Dichotomie zwischen ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ ebenso in Frage gestellt wie die darauf beruhende Unterscheidung zwischen einer ‚seigneurie banale‘ und einer ‚seigneurie foncière‘.117 Und in der internationalen Diskussion über die Rolle von Recht, Konflikt und Gewalt sahen zumindest manche Positionen überraschend ähnlich aus wie Brunners konkrete Ordnungen  : In beiden Fällen wurden jedenfalls Norm und Praxis in bemerkenswerter Weise ineinandergeblendet. Die konzeptuellen Grundlagen der französischen und US-amerikanischen Forschung sind zweifellos deutlich andere als Otto Brunners Ideen. Sie stammen aus der 114 115 116 117

Vgl. dazu Mazel, La thèse (wie Anm. 17), S. 87f. Ourliac, La féodalité (wie Anm. 30), S. 17. Lauranson-Rosaz, Le débat (wie Anm. 54), S. 12. Für eine deutsche Leserschaft wirken manche Teile der Debatte tatsächlich wie ein Déjà-vu  : Dies gilt beispielsweise für die Passagen, in denen Cheyette, Georges Duby’s Mâconnais (wie Anm. 17), S. 310–313, vorführt, wie schlecht sich die Formen der Konfliktaustragung im 10. Jahrhundert mit den Kategorien von ‚öffentlicher‘ und ‚privater‘ Gerichtsbarkeit erfassen lassen.

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Rechts- und Sozialanthropologie. Andererseits ist es vielleicht aber auch kein Zufall, dass zumindest in der US-Forschung manche Teile der deutschen Verfassungsgeschichte rezipiert worden sind. Fredric Cheyette beispielsweise hat schon 1968 einen grundlegenden und vielzitierten Beitrag Walter Schlesingers zur Verfassungsgeschichte ins Englische übersetzen lassen und damit einem anglophonen Publikum zugänglich gemacht.118 Und Stephen White hat seinem Debatten-Beitrag in „Past & Present“ nicht nur programmatisch ein Zitat aus Brunners „Land und Herrschaft“119 vorangestellt. Er hat außerdem ausdrücklich Brunners gewaltarmes Bild der Fehde Bissons Idee eines durch Gewalt definierten „lordship“ entgegengestellt  :120 „In Brunner’s terms, the violence of the feud is anything but arbitrary  : it has political and even juridical meaning.“121 Es würde sich zweifellos lohnen, dieser Wahlverwandtschaft zwischen der rechtsethnologisch beeinflussten US-amerikanischen Mediävistik und der deutschen Verfassungsgeschichte des 20. Jahrhunderts weiter nachzugehen.

Ausblick Die Debatte über die „mutation féodale“ scheint mir in ihrer Struktur in mindestens dreierlei Hinsicht interessant  : Erstens wirkt die Debatte zwar auf den ersten Blick homogen  ; wie wir gesehen haben, sind aber unter dem weiten Etikett der „feudalen Revolution“ oder „Mutation“ in der englischen und US-amerikanischen Literatur einerseits und der französischen Forschung andererseits jeweils etwas unterschiedliche Fragen diskutiert worden. Zweitens hat die Kontroverse in gewisser Weise ein offenes Ende  : Die eigentliche Streitfrage, die Barthélemy 1992 aufgeworfen hatte, ist nie entschieden worden  ; stattdessen haben wir beobachtet, wie sich die Fragen und die Untersuchungsgegenstände im letzten Jahrzehnt verschoben haben, sodass jetzt sehr viel stärker die Zeit um 1100, die Kommunen in Italien und die Kirchenreform in den Fokus geraten sind. Und drittens ist diese Kontroverse auch deshalb bemerkenswert,

118 Walter Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte, in  : Historische Zeitschrift 176, 1953, S. 225–275, ist erschienen unter dem Titel  : Lord and Follower in Germanic Institutional History, in  : Fredric L. Cheyette (Hg.), Lordship and Community in Medieval Europe. Selected Readings, New York 1968, S. 64–99. 119 White zitierte freilich nicht eine der deutschen Ausgaben, sondern die englische Übersetzung, die erst 1992 erschienen war  : Otto Brunner, „Land“ and Lordship  : Structures of Governance in Medieval Austria, übers. von Howard Kaminsky/James Van Horn Melton, Philadelphia 1992. 120 White, in  : Past and Present (wie Anm. 50), S. 205f., S. 211 mit Anm. 21, S. 212 mit Anm. 25 u. ö. 121 Ebd., S. 213.

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weil sie wesentlich außerhalb der deutschsprachigen Forschung geführt worden ist. Eben deshalb könnte die deutsche Mediävistik aus dieser Debatte dreierlei lernen  : (1) Die Diskussion betrifft im Kern die Frage, warum und wie sich die Gesellschaften in Lateineuropa vom 9. bis ins 12. Jahrhundert wandelten. Ein wichtiges Ergebnis der Debatte ist  : Wir dürfen nicht mehr nur die Jahrzehnte um den Jahrtausendwechsel fokussieren, sondern müssen auf die gesamte Periode schauen. Wir müssen mit mehreren Phasen der Stabilität und immer neuen Schüben beschleunigten Wandels rechnen und das komplexe Wechselspiel zwischen Veränderungen in verschiedenen Feldern analysieren. Dieses Programm ist nicht zuletzt fachpolitisch bedeutsam  : Gegenwärtig besteht international, bis zu einem gewissen Grad aber auch in Deutschland die Tendenz, dass die Forschung zum Frühmittelalter und die Forschung zum Hochmittelalter zu sehr auseinanderdriften. Wenn wir die so tiefgreifenden wie zukunftsweisenden Transformationen Europas zwischen ca. 800 und ca. 1200 verstehen und erklären wollen, müssen die beiden Forschungsfelder wieder enger zusammenrücken. (2) Es ist hohe Zeit, den ‚vierten Strang‘ der Diskussion, die Debatte über die Geschichte der feudo-vasallitischen Institutionen, auch konzeptuell wieder in die Debatte über diese große Transformation Europas hineinzuweben. Denn eben im späteren 11. Jahrhundert sehen wir in verschiedenen Regionen die frühen Anfänge der Formalisierung und Verrechtlichung von Landleihen und von jenen sozialen Beziehungen, die damit einhergingen.122 Diese Prozesse, über die wir gerade in Deutschland so intensiv diskutiert haben, müssen wieder in das internationale Gesamtbild der Transformation Europas integriert werden, in dem mittlerweile ebenfalls in den Jahrzehnten um 1100 wesentliche Veränderungen verortet werden. (3) Und damit verbunden ist eine letzte, eine deutsche Hausaufgabe  : Ich meine, wir sollten auch die letzten Reste der „neuen Verfassungsgeschichte“ genauer in den Blick nehmen und auf ihre Erklärungskraft prüfen. Eben während international über die „feudal revolution“ debattiert wurde, hat die deutsche Mediävistik ihre eigene Tradition der Sozial- und Verfassungsgeschichte aufzuarbeiten begonnen – und im Zuge dessen auch die Position ihrer Erfinder im NS-Regime und dessen Auswirkungen auf den Denkstil und auf die Modelle, die die deutsche Mediävistik bis weit in die Nachkriegszeit hinein geprägt haben. Heute wird wohl niemand mehr das Lehrgebäude der neuen Verfassungsgeschichte insgesamt für richtig halten. Die ‚Königsfreien‘ beispielsweise sind längst aus den Handbüchern verschwunden.123 Mayers ‚Perso122 Zusammenfassend  : Steffen Patzold, Das Lehnswesen, München 2012, S. 91–94. 123 Überblick über die Forschung und substanzielle Kritik bei Johannes Schmitt, Untersuchungen zu den Liberi Homines der Karolingerzeit, Frankfurt am Main 1977.

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nenverbandsstaat‘124 irrlichtert ab und zu noch durch die Seminarräume, aber der Begriff strukturiert keine Debatten zur frühmittelalterlichen Geschichte mehr. Wie aber wollen wir es künftig mit ‚(autogener) Adelsherrschaft‘,125 dem ‚Herrschaftsverband‘,126 der ‚Grundherrschaft‘127 halten  ? Wie mit der alten Idee, dass adlige ‚Grundherrschaften‘ auch im Frühmittelalter schon ‚Immunität‘ gegen den Zugriff des Königs und der Grafen genossen und eine eigene Gerichtsbarkeit gehabt hätten  ? Und was machen wir mit der ‚Ministerialität‘, die wir aus dieser ‚Grundherrschaft‘ (und genauer  : aus den Hofhörigen) herleiten und über die sich eine so eingängige Geschichte sozialen Aufstiegs im 11./12. Jahrhundert erzählen lässt  ?128 In allen diesen Begriffen (und weiteren mehr) sind Versatzstücke der deutschen Verfassungsgeschichte eingelagert, die in den 1930er und 40er Jahren etabliert worden war. Die europäische Geschichte hat sich in der Debatte über die „mutation féodale“ seit den 1990er Jahren in interessanter Weise – und teils wohl auch, ohne es zu bemerken – auf die deutsche Mediävistik zubewegt  : Nicht mehr die Jahre um 1000 124 Zum Begriff vgl. Mayer, Entstehung (wie Anm. 92), S. 211  : Der Personenverbandsstaat wird hier beschrieben als „ein Verband von Personen, die mit bestimmten, stark abgestuften Rechten und Funktionen ausgestattet und einem System der Herrschaft und zum Teil auch der Gefolgschaft eingegliedert waren. Der König übte eine Herrschaft über Personen und Verbände und erst in zweiter Linie über ein Gebiet aus, er begnügte sich aber mit der Durchsetzung der Herrschaft und überließ die innerstaatlichen Aufgaben, die Verwaltung den ihm untergeordneten Gliedern“. 125 Vgl. zur deutschen Forschungsgeschichte Hechberger, Adel (wie Anm. 94), S. 35–52. 126 Wirkmächtig  : Johannes Fried, Der karolingische Herrschaftsverband im 9.  Jh. zwischen „Kirche“ und „Königshaus“, in  : Historische Zeitschrift 245, 1982, S. 1–43. 127 Zur Problematik des Begriffs vgl. Klaus Schreiner, Grundherrschaft  : Ein neuzeitlicher Begriff für eine mittelalterliche Sache, in  : Gerhard Dilcher/Cinzio Violante  (Hg.), Strukturen und Wandlungen der ländlichen Herrschaftsformen vom 10. zum 13.  Jahrhundert. Deutschland und Italien im Vergleich (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 14), Berlin 2000, S.  69–93, und Ludolf Kuchenbuch, Abschied von der „Grundherrschaft“ – Ein Prüfgang durch das ostfränkisch-deutsche Reich 950–1050, in  : Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 121, 2004, S. 1–99. 128 Einen Überblick über die Forschung seit dem 19.  Jahrhundert bietet Werner Rösener, Ministerialität und Hofdienst im Salier- und Stauferreich, in  : Andreas Bihrer/Matthias Kälble/Heinz Krieg (Hg.), Adel und Königtum im mittelalterlichen Schwaben. Festschrift für Thomas Zotz zum 65. Geburtstag (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Bd. 175), Stuttgart 2009, S. 249–270, hier S. 250–252  ; zum 11. Jahrhundert vgl. grundlegend  : Thomas Zotz, Die Formierung der Ministerialität, in  : Stefan Weinfurter  (Hg.), Die Salier und das Reich, Bd. 3, Sigmaringen 1991, S. 3–50  ; für einen knappen Überblick vgl. auch Werner Hechberger, Adel, Ministerialität und Rittertum im Mittelalter (Enzyklopädie deutscher Geschichte 72), München 2004, S. 27–30. – Die Konsequenzen, die die Debatte über das Lehnswesen für das Modell der Ministerialität hat, werden diskutiert von Jan Ulrich Keupp, Ministerialität und Lehnswesen. Anmerkungen zur Frage der Dienstlehen, in  : Dendorfer/Deutinger (Hg.), Lehnswesen (wie Anm. 66), S. 347–366.

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gelten als entscheidend, sondern eher die Jahrzehnte um 1100, in denen die deutsche Mittelalterforschung seit jeher einen tiefen Umbruch gesehen hat. Die Rolle der Kirche für diesen Umbruch wird nun auch international wieder stärker diskutiert. Die Kategorien ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ und die Annahme einer ‚öffentlichen Gewalt‘ spielen in der internationalen Debatte keine zentrale Rolle mehr  ; zugleich ist in Frankreich eine intensive Diskussion über politische Räume und Prozesse der Territorialisierung geführt worden.129 So ist es höchste Zeit, dass sich nun auch die deutsche Mediävistik für diese internationalen Diskussionen öffnet. Wenn wir die deutsche Geschichte in die europäische hineinstellen wollen, müssen wir die überkommenen Begriffe der deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte und deren Implikationen auf den Prüfstand stellen – und ihr Ensemble explizit ins Verhältnis setzen zu derjenigen wissenschaftlichen Beschreibungssprache, die außerhalb Deutschlands eta­ bliert ist.

129 Vgl. beispielsweise Florian Mazel, L’évêque et le territoire. L’invention médiévale de l’espace (L’univers historique), Paris 2016  ; Ders., L’Église, la cité et la modernité, in  : Annales 72, 2017, S. 109–120, hier S.  118–120  ; Geneviève Bührer-Thierry/Steffen Patzold/Jens Schneider  (Hg.), Genèse des espaces politiques (IXe–XIIe siècle). Autour de la question spatiale dans les royaumes francs et post-carolingiens (Collection Haut Moyen Âge 28), Turnhout 2017.

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Recent controversies about the transformation of the Roman Empire The fate of the west Roman Empire has long been a matter of debate, and some of the issues that were already raised in the eighteenth century still recur.1 Was the end of the western Empire a catastrophe or part of a more gradual development  ? Was it caused by the arrival of barbarians, or was it the result of internal weaknesses  ? Was it entirely a change for the worse, or did it have a silver lining  ? As early as 1735 Jean-Baptiste Du Bos set out the argument for a peaceful evolution from the Empire through to the establishment of the Frankish kingdom,2 prompting a reaction from Montesquieu,3 who in turn drew a response from Edward Gibbon.4 Both Montesquieu and Gibbon presented the coming of the barbarians as causing major disruption, but they also interpreted the fall of the Empire in very different ways. For Montesquieu the impact of the barbarians was largely positive, bringing down an autocratic regime (he clearly had the rule of the Bourbon monarchy in mind), while for Gibbon it marked the end of Roman civilisation, the beginning of barbarism and the dominance of religious superstition. The view that the fourth and fifth centuries were a time of major upheaval was dominant through most of the nineteenth century, although historians continued to be divided over whether the upheaval was positive or negative. Two groups in particular favoured a positive reading. On the whole German historians regarded the barbarians who supposedly overwhelmed the Roman Empire as their ancestors, a point that chimed well with the nationalism of the unification of Germany.5 Meanwhile, a number of scholars with a strong religious commitment, largely to be found in France (most notably Antoine Frédéric Ozanam),6 saw in the triumph of Christi1 Ian Nicholas Wood, The Modern Origins of the Early Middle Ages, Oxford 2013. 2 Jean-Baptiste Du Bos, Histoire critique de l’établissement de la monarchie françoise dans les Gaules, Amsterdam 1735. 3 Charles de Secondat baron de Montesquieu, Considérations sur la grandeur des romains et de leur décadence, Amsterdam 1734. 4 Edward Gibbon, The Decline and Fall of the Roman Empire, 6 vols., London 1776–1788. 5 Wood, Modern Origins (n. 1), pp. 154–198. 6 Antoine Frédéric Ozanam, Études Germaniques pour servir à l’histoire des francs, vol. 1  : Les Germains avant le christianisme. Recherches sur les origines, les traditions, les institutions des peuples ger-

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anity that followed the fall of the Empire an ideal image of a catholic revival. In so doing, of course, they were denying Gibbon’s view of the detrimental effect of Christianisation. Among those who thought of the fall of the Empire as a disaster there were French scholars like Augustin Thierry, who understood the Franks to be the ancestors of the oppressive French aristocracy of later centuries, thus producing a mirror image of that presented by Montesquieu.7 A related reading, inspired by Thierry, was generally adopted in Italy, following Alessandro Manzoni,8 for whom the coming of the barbarians marked the beginning of foreign intervention in the Italian peninsula. Unlike Manzoni’s interpretation, however, that of Thierry was effectively proto-Marxist, seeing the working class of his own day as descendents of the indigenous population oppressed by the Franks. At the end of the century the case for a much more gentle process of change was revived by the French ancient historian Fustel de Coulanges, who in many ways stated a revised version of Du Bos’ argument.9 Such readings continued into the first half of the twentieth century, but they were complicated by the events of the First and Second World Wars. German scholars tended to emphasise the triumph of their supposed ancestors, and even to see the conquests that they attributed to the Franks as justification for modern territorial expansion – an idea that Hitler and his circle were keen to promote.10 A handful of catholic scholars, most notably Christopher Dawson in England, took up the view propounded by Ozanam, that Christianity flourished in the void left by the collapse of Rome.11 At the same time more original readings were offered by the Russian ancient historian Mikhail Rostovtzeff and the Belgian scholar Henri Pirenne. Rostovtzeff was educated in St Petersburg, but left Russia in 1918, moving first to Oxford, and then to the United States, ending up as professor of Ancient History at Yale. In his massive study of the social and economic history of the Roman Empire, published initially in 1928, he attributed the decline of the West to the rise of the military and of the rural proletariat in the third century – an interpretation that is usually understood in the light of his experience of the Russian revolution.12 For Rostovtzeff the barbarians were of relatively manique, et sur leur établissement dans l’empire romain, Paris 1847  ; vol. 2  : La civilisation chrétienne chez les francs, Paris 1849.   7 Augustin Thierry, Récits des temps mérovingiens, 2 vols., Paris 1840.   8 Alessandro Manzoni, Discorso sopra alcuni punti della storia longobardica in Italia, Milan 1822.   9 Numa Denis Fustel de Coulanges, Histoire des institutions politiques de l’ancienne France, 6 vols., Paris 1877–1892. 10 Wood, Modern Origins (n. 1), pp. 254–260. 11 Christopher Dawson, The Making of Europe 400–1000 A.D., London 1932. 12 Mikhail Rostovtzeff, The Social and Economic History of the Roman Empire, 2 vols., Oxford 1926. Cf. Glen Bowersock, The Social and Economic History of the Roman Empire by Michael Ivanovitch Rostovtzeff, in  : Daedalus 103, 1974, pp. 15–23.

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little significance, because the Empire was already in a state of decay by the time of their arrival. Pirenne also played down the destruction caused by the Germanic peoples, but he insisted that the Roman World only came to an end when the forces of Islam broke the unity of the Mediterranean in the seventh century.13 Pirenne challenged the view that the Germanic barbarians had a significant role to play in the developments of the fourth, fifth and sixth centuries, but he did accept that the end of the Roman World was a significant development in the history of Europe, leading to a shift away from the Mediterranean towards the lands of the lower Rhine. French scholars, however, increasingly came to take up the line that the barbarians had destroyed civilisation, and to see this as a precursor for German aggression in 1914 and 1939  : André Piganiol, in particular, claimed that the Roman Empire was assassinated by the barbarians.14 The events of 1939–45 encouraged the acceptance of the view that the fall of the western Empire was the result of barbarous destruction, and this was the dominant opinion through the 1950s and 60s, although there were historians who sought to find some positive elements in the post-Roman world (among them Michael Wallace-Hadrill, who emphasized the durability of the desire to live as Romans).15 There were also others, most notably the Marxists Santo Mazzarino in Italy16 and F.W. Walbank in England,17 who accepted the collapse of Rome, but attributed it not to the barbarians, but to the weaknesses and inequalities of the Roman State – and indeed Walbank, like Rostovtzeff (although the latter was most certainly not a Marxist), placed the decline a full century before the arrival of the barbarians. For Mazzarino, who had as much to say about the historiography of the subject as about the ‘end of the ancient world’ itself, Roman culture was still thriving in the fourth century, but the economy was already in a state of decline. Mazzarino’s “La fine del mondo antico”, which was first published in 1959, and translated into German in 1961 and English five years later, attracted a good deal of attention at the time of publication. But perhaps the most substantial contribution to the debate on the end of the Roman Empire in the 1960s was that of A.H.M. Jones, first in his lengthy survey of the Later Roman Empire, published in 1964,18 and then, two years later, in a shorter summary of his 13 Henri Pirenne, Mahomet et Charlemagne, Paris 1937. 14 André Piganiol, L’Empire chrétien (325–395), Paris 1947, p. 422. 15 John Michael Wallace-Hadrill, The Barbarian West, London 1952. 16 Santo Mazzarino, La fine del mondo antico, Milan, 1959  ; Id., Das Ende der antiken Welt, Munich 1961  ; Id., The End of the Ancient World, London 1966. 17 Frank W. Walbank, The Awful Revolution  : the Decline of the Roman Empire in the West, Liverpool 1969. 18 Arnold H.M. Jones, The Later Roman Empire 284–602, Oxford 1964. Cf. David Gwynn, A.H.M. Jones and the Later Roman Empire, Leiden 2008.

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views.19 Essentially Jones accepted that the barbarians had played a major role in the fall of the Roman West, but the position he took was dwarfed by the scale of the detail set out, in his description of the Empire and its administration. Jones came to be consulted not for his interpretation, but for the facts he set down. Among the few general studies to appear in German, the short handbook by Franz Georg Maier offered a reading that in many ways looked back to Pirenne, in its emphasis on the Mediterranean, while at the same time putting more emphasis on the impact of Christianity and the role of the Church.20 A handful of new publications in the 1970s and 80s reopened the debates about the fate of Rome, and largely eclipsed the earlier contributions, other than that of Jones. The most eye-catching was Peter Brown’s “The World of Late Antiquity”, published in 1971,21 which effectively reset the debate entirely. Brown insisted that far from the fourth, fifth and sixth centuries being a period of collapse, they were a time of vibrant cultural change, above all in the east Roman World. This was a radical departure, although some germs of its argument can be found in Pirenne’s emphasis on the centrality of the Mediterranean, which had been restated for a later period by Fernand Braudel in his “La Méditerranée et le monde méditerranéan à l’époque de Philippe  II”.22 Equally, there were echoes of the stance taken by Dawson, and more importantly by Henri-Irénée Marrou, who had revised his initial view of late Roman culture being moribund, expressed in his 1938 study of “Augustin et la fin de la culture antique”, in a famous retractatio issued 1949.23 Moreover, Marrou belonged to a growing tradition of French scholarship devoted to the theology and literature of l’Antiquité tardive, of which Brown, as a biographer of St Augustine,24 was well aware. The fourth and fifth centuries, after all, are the Patristic Age, as much as that of the Völkerwanderung. The dominant catastrophist reading of the immediate post-War period was further challenged a decade later, when the argument that the Germanic barbarians played a significant role in the changes of the fifth and sixth centuries came under fire once again. In 1980 Walter Goffart set about dismantling the case for the barbarians destroying the Roman Empire by looking at questions relating to their settlement, or as he expressed it their “accommodation”, which he interpreted not as a concession of

19 Arnold H.M. Jones, The Decline of the Ancient World, London 1966. 20 Franz Georg Maier, Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, Frankfurt am Main 1968. 21 Peter R. L. Brown, The World of Late Antiquity, London 1971. 22 Fernand Braudel, La Méditerranée et le monde méditerranéan à l’époque de Philippe II, 3 vols., Paris 1949. 23 Henri-Irenée Marrou, Saint Augustin et la fin de la culture antique, 2nd edn., Paris 1949, pp. 623–702. 24 Peter R. L. Brown, Augustine of Hippo, a biography, London 1967.

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land, but as a tax arrangement.25 In the opening chapter of his book “Barbarians and Romans” he also called into question the overall narrative of the barbarian migration,26 an argument that he advanced much more fully in 2006, when he examined the historiography of the subject.27 In the 1980s German and German-language scholars began to turn their attention to the history of the Fall of Rome – not least there was Alexander Demandt’s precise analysis of events and their interpretation, “Der Fall Roms”, first published in 1984, and issued in a revised version on several occasions since then.28 In the first edition he listed 210 causes for the collapse of the empire that have been suggested by historians29 – a number that he has had to increase in later editions. But the question of the barbarians and the role that they played in the end of the western Empire was taken up above all in Vienna. Herwig Wolfram published a major study of the Goths in 1979, a revised English translation appearing nine years later.30 This was minutely observed narrative history, which challenged any simplistic view of what constituted a barbarian people. It was also a volume that raised the issue of the ethnicity of the barbarians  : following on from the work of Reinhard Wenskus,31 Wolfram directed attention to the non-biological elements in the formation of barbarian ethnicity, promoting the use of the term ethnogenesis, as providing a description of tribal formation – thus emphasising culture and tradition rather than biology.32 In 1989 Wolfram facilitated the publication of the proceedings of a conference that had been held in Dumbarton Oaks, edited by Evangelos Chrysos and Andreas Schwarcz under the title “Das Reich und die Barbaren”, a collection of essays that emphasised the interplay between the Empire and the barbarians.33 Wolfram also provided the forum for a discussion of the major themes of the period, among them the issues raised by Goffart, in a series of conferences held in the monastery of ­Zwettl.34 In one of those conferences Jean Durliat presented an initial reading of 25 Walter Goffart, Barbarians and Romans A.D. 418–584  : the Techniques of Accommodation, Princeton 1980. 26 Ibid., pp. 3–39. 27 Walter Goffart, Barbarian Tides  : the Migration Age and the Later Roman Empire, Philadelphia 2006. 28 Alexander Demandt, Der Fall Roms, Munich 1984. 29 Ibid., p. 695. 30 Herwig Wolfram, Geschichte der Goten, Vienna 1979  ; Id., History of the Goths, Berkeley 1988. 31 Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen Gentes, Cologne 1961. 32 E.g. Herwig Wolfram, Einleitung oder Überlegung zur Origo Gentis, in  : Id./Walter Pohl (eds.), Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern, vol. 1, Vienna 1990, pp. 19–31. 33 Evangelos K. Chrysos/Andreas Schwarcz (eds.), Das Reich und die Barbaren, Vienna 1989. 34 Herwig Wolfram/Andreas Schwarcz (eds.), Anerkennung und Integration, Vienna 1988  ; Wolf-

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post-Roman administration, which he saw essentially as a continuation of that of the later Empire.35 His approach supported Goffart’s denial that the barbarians played a major role in the changes of the fourth, fifth and sixth centuries. He subsequently published a full statement of the argument, that there was administrative continuity in the West from the days of Diocletian to the Carolingians, in 1990.36 The views of Durliat met with strong opposition, not least from Chris Wickham.37 Some of his specific arguments have, however, been accepted, and, indeed, his overall stance has been repeated by Elizabeth Magnou-Nortier,38 although few would go anywhere near as far as either she or Durliat have done. Goffart’s arguments had rather more impact, although they too received a mixed reaction – albeit one generally more favourable than the response to Durliat. Despite Goffart’s intervention, a number of scholars (notably Peter Heather39) restated the case for the barbarians causing the end of the Roman Empire. Heather’s approach combined a reading of archaeology (notably that of Eastern Europe) and of the written sources with a conceptualisation of the barbarians that drew on the wagontrains of Holywood.40 For the most part, however, there was acceptance that Goffart had successfully challenged the notion that the Empire failed as a result of mass migration, even if the role of the barbarians in the collapse of the West remained a subject of debate. In 1999 Guy Halsall categorised the two main parties as ‘Movers and Shakers’  : the ‘Movers’ were those who emphasised the role of the barbarians, the ‘Shakers’ those who stressed the internal weaknesses of the Empire.41 In 1989, partially in response to the debates that had been raised by the work of Brown, Goffart, and Wolfram, the European Science Foundation (ESF) set up a working group to consider the establishment of a scientific programme on the history of the late- and post-Roman world.42 The ESF had received a proposal for a project on ram/Pohl (eds.), Typen der Ethnogenese (n. 32)  ; Herwig Friesinger/Falko Daim (eds.), Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern, vol. 2, Vienna 1990. 35 Jean Durliat, Le salaire de la paix sociale dans les royaumes barbares (Ve–VIe siècles), in  : Wolfram/ Schwarcz (eds.), Anerkennung und Integration (n. 34), pp. 21–71. 36 Jean Durliat, Les Finances publiques de Dioclétian aux Carolingiens (284–888), Sigmaringen, 1990. 37 Chris J. Wickham, La chute de Rome n’aura pas lieu, in  : Le Moyen Âge 99, 1993, S. 107–126. 38 Elisabeth Magnou-Nortier, Aux origines de la fiscalité moderne. Le système fiscal et sa gestion dans le royaume des Francs à l’épreuve des sources (Ve–XIe siècles), Geneva 2012. 39 Peter Heather, The Huns and the End of the Roman Empire in Western Europe, in  : English Historical Review 110, 1995, pp. 4–41. 40 Id., The Goths, Oxford 1996, p. 171. 41 Guy Halsall, Movers and Shakers  : the barbarians and the Fall of Rome, in  : Early Medieval Europe 8, 1999, pp. 131–145. 42 Ian Nicholas Wood, Report  : The European Science Foundation’s Programme on the Transformation

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the Carolingian Rhineland, submitted by the young Dutch scholar Frans Theuws – but the topic was regarded as too narrow for a European programme. The potential significance of the early medieval period was noted, however, and a group was established to formulate a project with wider appeal during the three years from 1989 and 1992. This was followed by a full-scale scientific programme on “The Transformation of the Roman World”, which ran from 1992 to 1998, involving a core group of around 40 scholars, working in half a dozen teams, which expanded to over 100 in the plenary meetings,43 and which resulted in the publication of thirteen volumes in a series devoted to the project,44 as well as several inidividual publications which derived directly from the ESF’s programme or emerged out of it.45 In recent years there has been a tendency to assume that “The Transformation of the Roman World” project was committed to advancing the case for seeing the end of the western Empire as part of a general process of change, and that it fitted neatly with a modern image of a united Europe. This is, actually, to misunderstand the project entirely – although the misunderstanding has even been advanced by some of those involved. The word ‘Transformation’ has been taken as proof of a rejection of the notion of collapse.46 In fact, the word was chosen because it gave space for both catastrophists and continuists to voice their opinions. The coordinators agreed that words such as ‘Fall’ or ‘Decline’ were unacceptable given the history of Byzantium in the sixth century (and one of the coordinators, Evangelos Chrysos, was a Greek). At the same time it was acknowledged that the word ‘Transformation’ indicated change, without stating how extreme or fast that change might be. Anyone familiar with the English genre of the pantomime will know that a pantomime almost always includes one and possibly two ‘transformation’ scenes  : a palace of cards collapses in an instant  ; a beanstalk grows suddenly  ; at the moment when Sleeping Beauty pricks her finger her father’s palace is overgrown with trees, which vanish when she is woken by the prince who discovers her. The word ‘Transformation’ in itself says nothing about the pace of change. Indeed at least two ‘catastrophists’, Peter Heather and Bryan Ward-Per-

of the Roman World and Emergence of Early Medieval Europe, in  : Early Medieval Europe 6, 1997, pp. 217–227. 43 Thomas F.X. Noble, The Transformation of the Roman World  : Reflections on five Years of Work, in  : Evangelos Chrysos/Ian Nicholas Wood, East and West  : Modes of Communication. Proceedings of the First Plenary Conference at Mérida, Leiden 1999, pp. 259–277. 44 The Transformation of the Roman World, 13 vols., Leiden 1997–2004. 45 Leslie Brubaker/Julia M.H. Smith (eds.), Gender in the Early Medieval World, East and West, 300– 900, Cambridge 2004  ; Leslie Webster/Michelle Brown (eds.), The Transformation of the Roman World, AD 400–900, London 1997. 46 Bryan Ward-Perkins, The Fall of Rome and the End of Civilization, Oxford 2005, p. 4.

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kins contributed to the ESF project.47 Another contributor to the programme on the Transformation of the Roman World,48 Wolf Liebeschuetz, has been less inclined to talk of catastrophe, but he has been a firm advocate of the notion of decline (not least of the decline of the ancient city), and, indeed, has directly addressed the question as to whether ‘decline’ and ‘transformation’ are incompatible  :49 Even so, it is true to say that the majority of scholars involved in the ESF project espoused a view of gradual change of one sort or another, although the project in itself was not intended to act as an advocate of a single point of view. Large-scale discussion of the fate of Rome continued to appear after the conclusion of “The Transformation of the Roman World” project in 1998. Individual barbarian tribes were the subject of a series of conferences held in San Marino under the aegis of the (oddly named) Centre for Research on Social Stress, organised by the Italian anthropologist Giorgio Ausenda. Beginning in 1993 the Centre hosted a series of conferences, each, after the first, dedicated to a different barbarian group. The majority of the meetings led to publications, which covered, among others, the Anglo-Saxons, and continental Saxons, the Visigoths, the Ostrogoths, the Franks and Alamanni, and the Longobards. While the approach, dividing the post-Roman period people by people, was traditional, the working method, in which each disciplinary area was represented by one individual, made for a set of genuinely interdisciplinary meetings.50 47 Peter J. Heather, Foedera and foederati of the fourth century, in  : Walter Pohl (ed.), Kingdoms of the Empire. The Integration of Barbarians in Late Antiquity, Leiden 1997, pp. 57–74  ; Id., Disappearing and Reappearing Tribes, in  : Walter Pohl/Helmut Reimitz (eds.), Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300–800, Leiden 1998, pp. 95–111  ; Id., Gens and Regnum among the Ostrogoths, in  : Hans-Werner Goetz/Jörg Jarnut/Walter Pohl (eds.), Regna and Gentes. The Relationship between Late Antique and Early Medieval Peoples and Kingdoms in the Transformation of the Roman World, Leiden 2003, pp. 85–133  ; Gian Pietro Brogiolo/Bryan Ward-Perkins (eds.), The Idea and Ideal of the Town between Late Antiquity and the Early Middle Ages, Leiden 2003. 48 Wolf Liebeschuetz, Citizen Status and Law in the Roman Empire and the Visigothic Kingdom, in  : Pohl/Reimitz (eds.), Strategies of Distinction (n. 47), pp. 131–152. 49 Wolf Liebeschuetz, Decline and Fall of the Roman City, Oxford 2001  ; Id., Transformation and Decline  : Are the Two Really Incompatible  ?, in  : Jens-Uwe Krause/Christian Witschell (eds.), Die Stadt in der Spätantike. Niedergang oder Wandel  ?, Stuttgart 2006, pp. 463–483. 50 Giorgio Ausenda (ed.), After Empire. Towards and Ethnology of Europe’s Barbarians, Woodbridge 1995  ; Giorgio Ausenda/Paolo Delogu/Chris Wickham (eds.), The Langobards before the Frankish Conquest. An Ethnographic Perspective, Woodbridge 2009  ; Sam Barnish/Federico Marazzi (eds.), The Ostrogoths from the Migration period to the sixth century. An ethnographic perspective, Woodbridge 2007  ; Dennis Green/Frank Siegmund (eds.), The continental Saxons from the Migration period to the tenth century. An ethnographic perspective, Woodbridge 2003  ; Peter Heather (ed.), The Visigoths from the Migration Period to the Seventh Century. An Ethnographic Perspective, Woodbridge 1999  ; John Hines (ed.), The Anglo-Saxons from the Migration Period to the Eighth Cen-

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The political narrative of the last years of the Empire was more precisely set out, in studies by such scholars as Noël Lenski, who examined the significance of the reign of the emperor Valens for the fall of Rome.51 Other emperors attracted equivalent interest  : indeed the first twenty years of the new millennium has seen a remarkable outburst of imperial biography.52 And the phenomenon of child emperors was subjected to analysis.53 The careers of the leading magistri militum of the final century of the western Empire have been studied – indeed the military politics of the fourth and fifth centuries have emerged as a major aspect of the history of the period.54 The result of these studies has been a strong emphasis on the infighting of the Romans themselves. Christine Delaplace’s interpretation of the role of the Goths in the fifth century further undermined the case for blaming the barbarians for the collapse, putting the blame far more firmly at the door of the divided Romans.55 In Germany Henning Börm provided a succinct statement of the reading that placed Rome and Roman division, rather than the barbarians, at the heart of the period from Honorius to Justinian.56 The catastrophist case that the Empire was destroyed by the force of the barbarians was, however, restated by Bryan Ward-Perkins57 and, again, by Peter Heather.58 For Ward-Perkins, who had been sensitised to the glories of Rome from a young age, what mattered was material culture  : this was what the barbarians destroyed, and what they were unable to replicate.59 But the barbarians have also been tury. An Ethnographic Perspective, Woodbridge 1997  ; Ian Wood (ed.), Franks and Alamanni in the Merovingian Period. An Ethnographic Perspective, Woodbridge 1998. 51 Noël E. Lenski, Failure of Empire  : Valens and the Roman State in the Fourth Century, Berkeley 2001. 52 Hartmut Leppin, Theodosius der Große. Auf dem Weg zum christlichen Imperium, Darmstadt 2003  ; Chris Doyle, Honorius  : the Fight for the Roman West AD 395–423, London 2018  ; Christopher Kelly, Theodosius II  : Rethinking the Roman Empire in Late Antiquity, Cambridge 2013. 53 Meaghan McEvoy, Child Emperor Rule in the Late Roman West, AD 367–455, Oxford 2013. 54 John Michael O’Flynn, Generalissimos of the Western Roman Empire, Edmonton 1983  ; Penny McGeorge, Late Roman Warlords, Oxford 2002  ; Tido Janssen, Stilicho. Das weströmische Reich vom Tode des Theodosius bis zur Ermordung Stilichos (395–408), Marburg 2004  ; Jeroen W.P. Wijnendaele, The Last of the Romans. Bonifatius – Warlord and comes Africae, London 2015  ; Timo Stickler, Aëtius  : Gestaltungsspielräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich, Munich 2002  ; Johannes Wienand (ed.), Contested Monarchy  : Integrating the Roman Empire in the Fourth Century AD, Oxford 2015. 55 Christine Delaplace, La fin de l’Empire romain d’Occident  : Rome et les Wisigoths de 382 à 531, Rennes 2015. 56 Henning Börm, Westrom. Von Honorius bis Justinian, 2nd ed., Stuttgart 2018. 57 Ward-Perkins, The Fall of Rome (n. 46). 58 Peter Heather, The Fall of the Roman Empire, a New History, London 2005  ; Id., Empires and Barbarians  : Migration, Development, and the Birth of Europe, London 2009. 59 Ward-Perkins, The Fall of Rome (n. 46), p. 3.

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the subject of the most extensive critical assessment of the Völkerwanderung, from Mischa Meier, who has played down their numbers and their impact.60 At the same time the socio-economic history of the period has been subject to sharp scrutiny. Jairus Banaji provided an intricate examination of fiscal and monetary matters.61 The most sustained discussion, however, has been Chris Wickham’s “Framing the Early Middle Ages”, which provided an interpretation of the period of change, in which continuity and collpase can be found side by side.62 Here the developments of the fourth to eighth centuries are analysed in terms of the State, aristocracies, peasants and networks, all of which are examined region by region. The resulting picture is one of complex change, some of it slow and some of it abrupt, over the course of the transition from the Ancient to the Medieval World. None of these readings, however, paid much attention to the history of religion and in particular to that of the expansion of the Church. And indeed religious history is a striking lacuna in the publications that resulted from “The Transformation of the Roman World” programme, as indeed is the history of literary and artistic culture, although the subjects are present in the plenary volume.63 This was not intentional  : a volume on culture, which would have also touched on religion, was projected but never materialised. As a result, the publications resulting from the programme do not fully reflect the impact of the work of Peter Brown, Robert Markus, Averil Cameron and others. For Markus’ extremely nuanced views of the religious change of the period, however, one may turn to his “The End of Ancient Christianity”, published in 1991.64 Averil Cameron’s contributions include two general surveys, together with her “Christianity and the Rhetoric of Empire”, a book which put modern literary theory at the heart of discussion, and which appeared in the same year as Markus’ volume.65 Moreover the study of the religious history of the period continued to flourish after 60 Mischa Meier, Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahr­ hundert, Munich 2019. 61 Jairus Banaji, Agrarian Change in Late Antiquity. Gold, Labour, and Aristocratic Dominance, Cambridge 2001. 62 Chris J. Wickham, Framing the Early Middle Ages  : Europe and the Mediterranean, 400–800, Oxford 2005. 63 Peter Brown, Images as a Substitute for Writing, in  : Chrysos/Wood (eds.), East and West  : Modes of Communication (n. 43), pp. 15–34  ; Ian Nicholas Wood, Images as a Substitute for Writing  : a reply, ibid., pp.  35–46  ; Beat Brenk, Mit was für Mitteln kann einem physisch Anonymen Auctoritas verliehen werden, ibid., pp. 143–172. 64 Robert A. Markus, The End of Ancient Christianity, Cambridge 1991. 65 Averil Cameron, Christianity and the Rhetoric of Empire. The Development of Christian Discourse, Berkeley 1991  ; Ead., The Later Roman Empire, A.D. 284–430, London 1993  ; Ead., The Mediterranean World in Late Antiquity  : A.D. 395–700, London 1993.

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1998, both in the contributions of Peter Brown, which have mapped out the ‘spiritual economy’ of the period,66 and also in a growing body of publications on the institution of the Church, and on the work of bishops – one may note the work of Pauline Allen, Bronwen Neil67 and Claudia Rapp.68 That the spiritual economy was more than just a theological matter has been argued by Ian Wood, for whom the transfer to the Church of vast amounts of wealth, originally of treasure, but increasingly of land, meant that churchmen were playing a major role in the economic, as well as the spiritual and political life of the post-Roman and Byzantine world by the end of the sixth century.69 Alongside more traditional areas of research, new elements in the debate have recently been added as a result of modern scientific study. On the one hand, genetic analysis, and the ability to map the dna of some of the skeletons that have been found in fifth- and sixth-century graves, has opened up the possibility of greater precision in talking about the ethnicity of barbarians who entered the Roman World in the fourth and fifth centuries, and by extension, perhaps, the scale of the migration – although at present information has been gathered from too few sites for it to be possible to come to any general conclusion.70 On the other hand, the study of climate and disease, and a more general concern with the environment, has led to a reconsideration of the role of Plague, and particularly the Justinianic Plague of the sixth century, in the economic decline of the Ancient World. A small number of scholars, most notably Kyle Harper,71 have placed disease at the heart of the crisis of the end of the Ancient World, although he was not the first to do so.72 The case has, however, been 66 Peter Brown, Through the Eye of a Needle. Wealth, the Fall of Rome, and the Making of Christianity in the West, 350–550 AD, Princeton 2012. 67 Pauline Allen/Bronwen Neil, Crisis Management in Late Antiquity (410–590 CE). A Survey of the Evidence from Episcopal Letters (Vigiliae Christianae Supplement 121), Leiden 2013. 68 Claudia Rapp, Holy Bishops in Late Antiquity  : the Nature of Christian Leadership in an Age of Transition, Berkeley 2005. 69 Ian Wood, The Transformation of the Roman West, Leeds 2018  ; Id., The Christian Economy in the Early Medieval West  : towards a Temple Society, Binghamton 2022 (, accessed 25/02/2023). 70 Carlos Eduardo Guerra Amorim/Stefania Vai/Cosimo Posth/Alessandra Modi/István Koncz/ Susanne Hakenbeck/Maria Cristina La Rocca/Balazs Mende/Dean Bobo/Walter Pohl/Luisella Pejrani Baricco/Elena Bedini/Paolo Francalacci/Caterina Giostra/Tivadar Vida/Daniel Winger/Uta Von Freeden/Silvia Ghirotto/Martina Lari/Guido Barbujani/Johannes Krause/ David Caramelli/Patrick J. Geary/Krishna R. Veeramah, Understanding 6th-century barbarian social organization and migration through paleogenomics, in  : Nature communications 9, 2018. Cf. also the paper of Walter Pohl in this volume. 71 Kyle Harper, The Fate of Rome. Climate, Disease, and the End of an Empire, Princeton 2017. 72 David Keys, Catastrophe. An Investigation into the Origins of the Modern World, London 1999  ; Lester K. Little (ed.), Plague and the End of Antiquity. The Pandemic of 541–750, Cambridge 2007.

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strongly disputed  : archaeologically there is little definite evidence of plague victims.73 Certainly there was plague, and also a change in the climate, but the scale, speed and duration of their impact is still open to question. Allowing for the fact that modern science may help elucidate the significance of disease and migration at the end of Antiquity, perhaps the major problem lies not so much in adjudicating between the different arguments, but in finding a way to hold them all in balance, because most of those who have contributed to the debates have made valid points. And the need to hold different approaches in balance is particularly true when it comes to integrating the religious history of the period with the non-religious. That the western Empire came to an end is certain, although its dependence on Byzantium through to the late sixth century is a matter for debate.74 Nor can anyone doubt that the Successor States that were established within the old Latin West were less sophisticated political, governmental and administrative institutions than the Empire had been, even if one can point to the survival of numerous elements of Roman government. Indeed Josiane Barbier, by no means an advocate for the argument of general administrative continuity, has uncovered a remarkable amount of evidence to show the continuing functioning of local archives into the Frankish period.75 That there was some decline in the standards of building and manufacture is clear, but the finest of the churches of the period can be impressive, as, on a much smaller scale, is the best of the metalwork. And an equivalent picture is true in the fields of secular learning and literature, although here one also needs to factor in the issue of linguistic change – a failure to write the Latin of Cicero or Livy is not necessarily proof of cultural degeneration.76 Indeed, while the fourth and fifth centu-

73 John Haldon/Hugh Elton/Sabine R. Huebner/Adam Izdebski/Lee Mordechai/Timothy P. New­field, Plagues, Climate Change, and the End of an Empire. A Response to Kyle Harper’s The Fate of Rome (1). Climate, in  : History Compass 16, 2018, e12508, doi  : 10.1111/hic3.12508  ; Lee Mordechai/Merle Eisenberg, Rejecting Catastrophe  : the Case of the Justinianic Plague, in  : Past and Present 244, 2019, pp. 3–50. 74 See, for example, the contributions to Andreas Fischer/Ian Wood (eds.), Western Perspectives on the Mediterranean. Cultural Transfer in Late Antiquity and the Early Middle Ages, 400–800 AD, London 2014  ; Stefan Esders/Yitzhak Hen/Pia Lucas/Tamar Rotman (eds.), The Merovingian Kingdoms and the Mediterranean World. Revisiting the Sources, London 2019  ; Stefan Esders/Yaniv Fox/ Yitzhak Hen/Laury Sarti (eds.), East and West in the Early Middle Ages in Mediterranean Perspective, Cambridge 2019. 75 Josiane Barbier, Archives oubliées du haut Moyen Âge. Les gesta municipalia en Gaule franque (VIe– IXe siècle), Paris 2014. 76 Roger Wright, Late Latin and Early Romance in Spain and Carolingian France, Liverpool 1982  ; Michel Banniard, Viva Voce. Communication écrite et communication orale du IVe au IXe siècle en Occident, Paris 1992.

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ries have long been recognised as being the Golden Age of Patristic writing, scholars have become increasingly aware of the stylistic skills of later writers.77 Even more important, the period through to the early seventh century saw the establishment of the Church as the major institution in the western World. These aspects of the history of the fourth to sixth centuries should not be omitted from any overall assessment.78 That the new interests in plague, in climate change and its environmental impact, and in genetics, reflect contemporary concerns is too obvious to require proof. But many of the older debates that have resurfaced or developed since the 1970s attracted new interest because they chimed with live issues, just as did those which were current before 1945. It is worth beginning, however, with a negative statement. The ESF project on the “Transformation of the Roman World” was not committed to advance the notion that modern Europe had its origins in the shared past of the late- and post-Roman World. Scholars with no knowledge of the European Science Foundation often assume that it is a branch of the EU. In fact that is not the case  : it is an institution dedicated to the support of international European research, jointly funded (at least in the 1980s and 1990s) by the scholarly academies of the contributing countries, which are not limited to those of the European Union. Its support for a project on “The Transformation of the Roman World” was not, therefore, intended to promote a view of a historically ingrained European unity, just as the project itself was not the mouthpiece of any one methodological line of approach. Indeed (as in Ausenda’s San Marino project, albeit on a much grander scale), there was an attempt to include as many disciplines and traditions as possible – part of the raison d’être of the programme was to encourage interdisciplinarity.79 Methodological differences certainly underlie some of the differences of approach, both within the Transformation of the Roman World project, and in the study of the topic in general. Lying as it does across the divide between Classical and Medieval history, the Fall of Rome has attracted Romanists and medievalists. Romanists, not surprisingly, have paid attention to traditional themes of Ancient History  : among them government, the army, and the role of the senatorial aristocracy. Medievalists have been more inclined to look at the question of the formation of the Successor States. Historians of religion have, inevitably, contributed to the history of the Church in the Patristic Age. Jurists have tended to concentrate either on Roman Law (and

77 Graham Barrett/Oren Margolis, Latinity  : Rhetoric and Anxiety after Antiquity, in  : Graham Barrett/Oren Margolis (eds.), Latinity after Antiquity (Eranos. Acta Philologica Suecana 112) 2021, pp. 1–26. 78 Wood, The Transformation of the Roman West (n. 69). 79 Wood, Report (n. 42).

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above all the Theodosian and Justinianic Codes), or on the codes of the Successor States – echoing the old division of the Savigny-Stiftung, with its division into a “romanistische Abteilung”, a “germanistische Abteilung” and a “kanonistische Abteilung” – although increasingly those looking at the later codes have recognised the need to be aware of Roman origins for much of what was once regarded as barbarian, while one or two specialists in Roman Law have seen the value of looking beyond Justinian.80 And there is a further divide between those whose interest lies primarily in the Latin West, and those who concentrate their attention on the Byzantine East. There have also been regional differences in approach – something that the ESF project tried hard to address by bringing together scholars from most of the countries of western and southern Europe. Already in the eighteenth and nineteenth centuries one can talk of there being different themes that were dominant in the British, French, German, Italian or Spanish discourse.81 Because the subject of the late and post-Roman period was relatively little researched in the period immediately after 1945, it was dominated by the work of a small number of centres, each of which tended to be influenced by one or two leading scholars, among them Eugen Ewig in Bonn, Michael Wallace-Hadrill in Oxford, Santo Mazzarino in Rome, Pierre Riché in Paris, Walter Goffart in Toronto, Peter Brown, briefly in Oxford and London, and then in Berkeley and subsequently in Princeton, and Herwig Wolfram in Vienna. One should also note the significance of the annual gathering at Spoleto of the Centro Italiano di Studi sull’alto medioevo, beginning in 1952, although in its early years it largely concentrated on the seventh century and later.82 All the leading scholars who were active in the 1950s, 60s and 70s had pupils who continued to work in the field, but for the most part they did not create schools of thought, as opposed to a body of researchers whose focus was on the period of the Fall of the Roman West. It is perhaps to Vienna that one can most appropriately attach the word ‘School’. The focus of Herwig Wolfram’s own work was the Goths (or more generally the barbarians), and the history of the area that would later become Austria, or the Austro-Hungarian Empire – which for Wolfram was “Mittel­

80 Stefan Esders, Spätrömisches Militärrecht in der ‘Lex Baiuvariorum’, in  : Fabio Botta/Luca Loschiavo (eds.), Civitas, Iura, Arma. Organizzazioni militari, istituzioni giuridiche e strutture sociali alle origini dell’Europa (sec. III–VIII), Lecce 2015, pp.  44–78  ; Luca Loschiavo, L’Età del passagio. All’alba del diritto comune europeo (secoli III–VII), Turin 2016  ; Karl Ubl, Sinnstiftungen eines Rechts­buchs. Die Lex Salica im Frankenreich, Ostfildern 2017. Also Soazick Kerneis (ed.), Une histoire juridique de l’Occident. Le droit et la coutume (IIIe–IXe siècle), Paris 2018. 81 Wood, Modern Origins (n. 1). 82 Enrico Menestò (ed.), Omaggio al medioevo. I primi cinquanta anni del Centro italiano di studi sull’alto medioevo di Spoleto (Miscellanea 11), Spoleto 2004.

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europa”.83 These topics provided the subject areas which attracted most of Wolfram’s students. In particular, Walter Pohl began by continuing Wolfram’s concerns with the barbarians, looking first at the Avars,84 and then at the Lombards.85 In the course of his work Pohl came to rephrase several of the key themes of the late and post-Roman pe­ riods, talking not about a Roman-barbarian divide, but about ‘strategies of distinction’,86 and by extension, about the history of identity,87 thus totally reformulating the notion of ethnogenesis that Wolfram, and before him Wenskus (albeit with a different vocabulary), had brought into play. Pohl’s reformulation of the subject of barbarian identity has prompted debate,88 some of which has failed to notice the ways in which the topic has developed over recent decades. Not that all debates about identity have been limited to discussion within and around the ‘Vienna School’  : for instance both Viola Gheller89 and Christian Stadermann90 have examined the issue of Arianism as an aspect of Gothic identity, in the context of both Late Antiquity and in modern historiography. In general, of course, the arguments over such topics as identity echo concerns that are widespread in the western World, with the rise of regional nationalism, which has become particularly acute in recent decades. What the Germans would call Identitätsforschung is a subject of modern relevance. The examination of such topics as ‘community’ and ‘identity’ does, therefore, reflect matters of topical interest. ‘Identity’ and ‘ethnicity’ were (and are) topics that had (and have) particular resonance in the years that followed the collapse of the Iron Curtain, and in the growing awareness of the significance of the voices of migrant and ethnic minorities. So too, recent discussion of climate and disease reflects the environmental concerns of the twenty-first century, as much as it reflects the development of scientific methodologies that have made their study possible. 83 Herwig Wolfram, Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung, Vienna 1987. 84 Walter Pohl, Die Awaren. Ein Steppenvolk im Mitteleuropa 567–822 n. Chr., Munich 1988  ; Id., The Avars. A Steppe Empire in Central Europe, 567–822, Ithaca 2018. 85 Peter Erhart/Walter Pohl (eds.), Die Langobarden. Herrschaft und Identität (Forschungen zur Geschichte der Mittelalters 9), Vienna 2005. 86 Pohl/Reimitz (eds.), Strategies of Distinction (n. 47). 87 Walter Pohl, Von der Ethnogenese zur Identitätsforschung, in  : Id./Maximilian Diesenberger/ Bernhardt Zeller (eds.), Neue Wege der Frühmittelalterforschung. Bilanz und Perspektiven, Vienna 2018, pp. 9–24. 88 Andrew Gillett (ed.), On Barbarian Identity- Critical Approaches to Ethnicity in the Early Middle Ages, Turnhout 2002. 89 Viola Gheller, ‘Identità’ e ‘arianesimo gotico’  : genesi di un topos storiografico, Bologna 2017. 90 Christian Stadermann, Gothus. Konstruktion und Rezeption von Gotenbildern in narrativen Schriften des merowingischen Gallien, Stuttgart 2017.

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Pohl was able to pursue these topics in large-scale projects, through the award of the Wittgenstein Prize, a HERA (‘Humanities in the European Research area’) project on ‘Cultural memory and the resources of the past, 400–1000’, and an ERC grant on ‘Social cohesion, identity and religion in Europe, 400–1200’. The issue of barbarian identity is also at the heart of a further ERC (‘European Research Council’) grant on ‘Integrating genetic, archaeological and historical perspectives on Eastern Central Europe, 400–900 AD’.91 This string of grants has meant that Vienna has been at the centre of much recent debate about the late- and post-Roman periods. Although the ESF project was not linked to any deliberate promotion of an idea of a united Europe, the involvement of major funding bodies has inevitably influenced the development of research on the fourth to sixth centuries, just as it has influenced that in all historical periods. In general, the last thirty years has seen a shift away from individual research to large-scale projects with institutional funding. This has been particularly true in Europe, although, with regard to the transformation of the Roman World, less so in the United States. Inevitably, a call for proposals within a given subject area partially dictates the focus of research. The HERA programme on ‘Cultural Dynamics  : inheritance and identity’, which ran from 2009 to 2012, funded the project on ‘Cultural Memory and the Resources of the Past 400–1000’. Ausenda’s San Marino project, which was not backed by institutional funding, stands a little to one side in all this – reflecting his own personal interest in the value of applying anthropology and ethnology to the peoples of early medieval Europe.92 Perhaps all periods of history are blackboards on which current concerns are explored. Certainly the Fall of Rome is a topic which has served as a focus of debates about social and political structures, religion, barbarism, nationalism, identity, and more recently the environment. So too the growing awareness of the need to place the fall of Rome in a much larger global history, which stretches into Asia,93 echoes more general concerns raised by questions of globalisation. The current interest in Global history obviously lies behind a Vienna project that produced a volume on the ‘meanings of community’, which juxtaposed Christianity, Islam and Buddhism.94 91 (accessed 25/02/2023). 92 John Hines/Nelleke Ijssenagger-Pluijm/Ian Wood, Frisians of the Early Middle Ages. An Archaeo­ ethnological Perspective, in  : John Hines/Nelleke Ijssenagger-Pluijm (eds.), Frisians of the Early Middle Ages, Woodbridge 2021, pp. 1–12. 93 Heather, Empires and Barbarians (n. 58)  ; James Howard-Johnston, The Last Great War of Antiquity, Oxford 2021. 94 Walter Pohl/David Mahoney (eds.), Historiography and Identity IV. Writing History across Medieval Eurasia, Turnhout 2021.

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Such an interplay of current issues and the reading of the end of the West Roman Empire has been true of all attempts at interpretation since the eighteenth century. As a result, the discourses that have emerged are not peculiar to medieval studies. At the same time there are issues that are specific to the fourth, fifth and sixth centuries, or, at least, are of less significance for other periods, even other medieval periods. The question of large scale migration scarcely recurs later in the Middle Ages, except, perhaps, in the history of Viking settlement (which, however, is largely a problem of English historiography). Although the links between the Successor States and those of modern Europe are tenuous in the extreme, a tendency to find the origins of France in the kingdom of the Franks, that of England in the settlement of the Anglo-Saxons, and that of Italy (for good or bad) in the kingdom of the Lombards, has meant that the study of the fifth and sixth centuries has often been drawn into debates about the origins of the modern divisions of Europe. The religious changes of the fourth and fifth centuries, with the rise of Christianity, and then, with the emergence of Islam, that of the seventh and eighth centuries, are not equalled until the Reformation, despite the centrality of religion throughout the Middle Ages. And even the religious revolution of the Reformation was within the compass of a single religion, whereas the rise of Christianity in the fourth and fifth centuries caused the destruction of numerous traditional religions. The Church history of the fourth, fifth and sixth centuries is, therefore, distinctive. The Patristic Age is quite unlike that of the twelfth-century Church, and it is more easily classified as Late Antique than as medieval. Moreover, many of the controversies that surround the transformation of the Roman Empire look to the historiography of Ancient History, rather than to that of the Middle Ages. This is particularly true of the study of Roman Law, but it is also true of the study of the aristocracy, which is largely dominated by a tradition of prosopographical scholarship.95 And this has been key to the study of the role of the aristocracy in the development of the city of Rome itself,96 and to the emergence of the city’s bishop as a figure of authority.97 Certainly prosopographical study is not peculiar to a

95 John R. Martindale/Arnold H.M. Jones/John Morris (eds.), Prosopography of the Later Roman Empire, 3 vols., Cambridge 1971–1992  ; Karl Friedrich Stroheker, Der senatorische Adel im spätantiken Gallien, Reutlingen 1948  ; John Matthews, Western Aristocracies and Imperial Court, A.D. 364–425, Oxford 1975  ; Ralph W. Mathisen, Roman Aristocrats in Barbarian Gaul  : Strategies for Survival in an Age of Transition, Austin 1993. 96 Michele R. Salzman, The Falls of Rome. Crises, Resilience, and Resurgence in Late Antiquity, Cambridge 2021  ; Kate Cooper/Julia Hillner (eds.), Religion, Dynasty and Patronage in Early Christian Rome, 300–900, Cambridge, 2007. 97 Kristina Sessa, The Formation of Papal Authority in Late Antique Italy. Roman Bishops and the Domestic Sphere, Cambridge 2012.

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study of the fourth, fifth and sixth centuries – it has been applied with equal success in later periods, not least the centuries that follow.98 But the study of the dominant families of the fourth and fifth centuries has strong affinities with traditions of Roman history. Some discourses, in other words, are closer to those of Classical than to Medieval Studies. And this is entirely appropriate. In many ways the documentation for the fourth, fifth and sixth centuries is Classical, albeit it is a development of the sort of source material that survives from the High Empire – although the theological writings of the Patristic Age easily overshadow in quantity what had come before. To a large extent the period of the fall of Rome also lacks some of the key source material that is central to the study of the Carolingian Age and beyond. Above all, there are few manuscripts that date to the period before 600. Like an ancient historian, but unlike a historian of the centuries from the eighth onwards, the historian of the period of the collapse of the Roman West is dependent on texts that have survived almost entirely in later copies – except, that is, for the historian of Egypt, for whom the papyri provide a unique resource.99 The developments in the debates about the transformation of the Roman Empire in recent years have come largely through a pooling of resources, that has been made possible by the funding of international projects  : through collaboration, across regions, and disciplines. That is not to say that all work is collaborative. Indeed the work of such scholars as Peter Brown and Walter Goffart is essentially the contribution of an individual. But there are unquestionable gains to be had from bringing together individuals and disciplines. The resulting history is often more complex than it would otherwise have been (and previously was), and it registers a greater range of material and questions. But it is also clear that all the various elements need to be held together. A history of the period between 300 and 600 has to encompass the end of the West Roman State and the emergence of the new Successor States, as well as a history of economic and environmental decline and change, and one of religious revolution. Of course the weight of documentation for later periods makes it ever harder to hold all the elements relevant to the understanding of a period of history in balance. Perhaps historians of the transformation of the Roman World are fortunate in that they have some chance of being aware of the full range of subject matter, even if mastery of it all is beyond the capabilities of any one individual.

98 Matthias Werner, Adelsfamilien im Umkreis der frühen Karolinger, Sigmaringen 1982  ; Regine Le Jan, Famille et pouvoir dans le monde franc (VIIe–Xe siècle). Essai d’anthropologie sociale, Paris 1995. 99 Ewa Wipszycka, The Second Gift of the Nile. Monks and Monasteries in Late Antique Egypt, Warsaw 2018.

Register

1. Register der Namen moderner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (erstellt vom Herausgeber) Das Register enthält die Namen der erwähnten, modernen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit dem 18. Jahrhundert. Es schließt auch die Autoren der in den Fußnoten zitierten Literaturtitel ein. Bei naturwissenschaftlichen Beiträgen mit langen Autorenlisten ist hier nur der erste Name mit dem Zusatz „(u.a.)“ vermerkt. Bandherausgeberinnen und -herausgeber sind nur aufgenommen, wenn der Band als Ganzes zitiert ist; ansonsten sind nur die Autorinnen und Autoren der zitierten Beiträge vermerkt; Editoren und Übersetzer sind grundsätzlich nicht berücksichtigt; mittelalterliche und nicht-wissenschaftliche Autoren stehen im Register anderer Namen. Da es sich oft um einzelne Literaturtitel handelt, sind auch aufeinander folgende Seiten in diesem Register jeweils einzeln aufgeführt. Abellán García, José Luis 308 Abels, Richard 404, 406, 412 Aberth, John 10 Abulafia, David 60, 313 Abu-Lughod, Janet L. 54, 216 Abusch, Alexander 257 Adelman, Jeremy 61, 76, 227 Adler, Max 269 Aertsen, Jan A. 37 Affeldt, Werner 82 Airlie, Stuart 368 Albertoni, Guiseppe 354 Alexander, Michelle M. 251, 253 Alexandre-Bidon, Danièle 238, 241, 249, 250, 253 Algaze, Guillermo 55 Algazi, Gadi 39, 228, 416, 417 Ali, Tariq 316 Alio, Jacqueline 90 Allen, Pauline 435 Allirot, Anne-Hélène 90 Almagro-Vidal, Clara 221 Alonso, Natàlia 244, 245, 253, 254

al-Rāzī, Aḥmad 246 Althoff, Gerd 31, 32, 363, 367, 368, 376, 395, 398, 410, 418 Altschul, Nadia 74 Altwegg, Jürg 111 Amory, Patrick 202 Anderson, Bonnie S. 79 Andrieu, Éléonore 137 Angehrn, Céline 84 Angvik, Magne 158 Anheim, Étienne 107, 108 Antolìn, Ferran 245, 254 Appelsmeyer, Heide 25 Arens, Peter 173, 174 Arias, Santa 23 Ariès, Philippe 94 Arlinghaus, Franz 37 Arni, Caroline 83, 224 Arnold, Benjamin 414 Artola, Miguel 311 Ashtor, Eliyahu 56 Assing, Helmut 285

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Aubaile-Sallenave, Françoise 235, 236, 242, 243, 244, 249 Aubenas, Roger 419 Auge, Oliver 323 Aurell Cardona, Jaume 8, 9 Aurell, Martin 9 Ausenda, Giorgio 432, 437, 440 Awan, Akil N. 300, 302 Baaken, Gerhard 416 Bhabha, Homi 164, 215f. Bachmann-Medick, Doris 24 Bachrach, Bernard S. 330 Bachrach, David S. 359 Bachtin, Michail M. 146 Badel, Christophe 369 Bak, János M. 42 Balard, Michel 9, 220 Bálint, Csanád 184, 210 Baloup, Daniel 300, 304, 318 Banaji, Jairus 434 Banniard, Michel 436 Baratte, François 205 Barbero, Abilio 311 Barbier, Josiane 119, 436 Barceló i Perelló, Miquel 240, 242 Barendse, R. J. 405 Barker, Hannah 229 Barnish, Sam 432 Barone, Giuseppe 71 Barrett, Graham 437 Barrios García, Ángel 310 Barthélemy, Dominique 123, 401, 402, 403, 404, 405, 406, 407, 409, 412, 418 Bartlett, Robert 64, 313 Bartmuß, Hans-Joachim 263, 264, 269, 270, 271, 273, 274, 275, 277, 278, 279, 280, 285, 286, 288, 292 Barton, Simon 308 Baschet, Jerôme 136, 364, 377, 378, 380 Bateman, Richard (u.a.) 182 Bates, David R. 405 Bauer, Ingrid 81, 85, 92 Bauer, Thomas 75, 167 Baumgärtner, Ingrid 82 Bautier, Robert-Henri 339

Bazzana, André 314 Becher, Matthias 13, 34, 69, 139, 354 Becker, Ruth 84 Beckert, Sven 51 Bedos-Rezak, Brigitte 37 Bell, David A. 72 Below, Georg von 12, 395 Bengoetxea Rementeria, Belén 241 Benito Ruano, Eloy 9, 310, 316 Bennett, Ellora 330 Bennett, Judith M. 20, 83, 93, 101, 102 Bennewitz, Ingrid 86 Bentley, Jerry H. 54 Benz St. John, Lisa 90 Berdjajew, Nikolaus 148 Berend, Nora 313 Berndt, Barbara 334 Berndt, Guido M. 330 Bernheim, Ernst 169 Berner, Margit 209 Berzock, Kathleen Bickford 52 Besga Marroquín, Armando 320 Beumann, Helmut 155, 291 Bhabha, Homi 164, 215, 216 Bildhauer, Bettina 43 Billmann-Mahecha, Elfriede 25 Biran, Michal 76 Birney, Ewan (u.a.) 194 Bishko, Charles Julian 312, 313 Bisson, Thomas N. 356, 403, 404, 405, 405, 419, 420 Bland, David M. 208 Blaschke, Olaf 267 Blaydes, Lisa 405 Bleiber, Waltraut 282, 289, 290, 295 Bleier, Roman 26 Blimlinger, Eva 80 Bliss, Catherine 198 Bloch, Hermann 338 Bloch, Marc 105, 106, 107, 110, 112, 113, 114, 115, 117, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 133, 134, 140, 141, 142, 214, 323, 328, 364, 367, 368, 370, 395, 399, 404, 406, 413, 414, 416 Bloch, R. Howard 20 Blumenberg, Hans 150

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Blumenfeld-Kosinski, Renate 87 Bock, Gisela 80 Bodman, Walter F. 182 Böhme, Hartmut 33 Böhmer, Johann F. 91, 139, 338 Börm, Henning 433 Bösl, Elsbeth 177, 182, 185, 191, 201 Böttcher, Nikolaus 306 Bois, Guy 395, 397, 398, 409 Boissellier, Stephane 308 Bolens, Lucie 236 Bonnassie, Pierre 134, 141, 357, 397, 400 Bonnell, Victoria E. 24 Boockmann, Hartmut 42, 294 Borgolte, Michael 9, 23, 26, 51, 60, 61, 62, 68, 70, 71, 75, 78, 155, 165, 166, 214, 216, 293, 294, 417 Borries, Bodo von 154, 158 Borst, Arno 18, 156 Boshof, Egon 165 Bosi, Giovanna 243 Bosl, Karl 17, 395, 414 Bouchard, Constance B. 18 Bouchaud, Charlène 237, 246, 248 Boucheron, Patrick 71, 123, 372 Boudon, Raymond 132 Bougard, François 128, 358 Bourdieu, Pierre 131, 267 Boureau, Alain 109, 125 Bourgeois, Luc 118 Bourin, Monique 369, 397 Bournazel, Eric 400, 401, 402, 419 Bousmar, Éric 90 Bouveresse, Jacques 132 Bove, Boris 119 Bowersock, Glen 426 Boyd, Caroline P. 308 Boyle, Kate 183 Brandt, Ahasver von 169, 170 Brather, Sebastian 179, 191, 281 Brauburger, Stefan 173 Braudel, Fernand 107, 108, 110, 111, 112, 114, 129, 130, 131, 132, 133, 139, 141, 414, 415, 416, 428 Braun, Christina von 84 Braun, Manuel 14

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Brauner, Christina 51 Braunfels, Wolfgang 154 Brechenmacher, Thomas 147 Brenk, Beat 434 Brenner, Robert 216 Brieskorn, Norbert 161 Brinkman, Sören 306 Brjunin, W. G. 274 Brogiolo, Gian Pietro 432 Brown, Elizabeth A.R. 323, 324, 412 Brown, Michelle 431 Brown, Peter R.L. 119, 428, 430, 434, 435, 438, 442 Brown, Steven D. 178 Brown, Warren C. 405 Brubaker, Leslie 388, 431 Bruckner, Albert 338 Brück, Joanna 195 Brückner, Thomas 327, 328, 335, 337, 347, 349 Brunner, Heinrich 360 Brunner, Otto 39, 74, 323, 395, 413, 414, 415, 416, 417, 418, 419, 420 Buc, Philippe 32, 366 Buck, Thomas Martin 172, 297, 326, 408 Buck-Morss, Susan 220 Büchsel, Martin 32 Bühner, Maria 84 Bührer-Thierry, Geneviève 118, 423 Bueno Sánchez, Marisa 313 Bull, Marcus 315 Buresi, Pascal 314 Burghartz, Susanna 92 Burguière, André 111, 112, 115 Burke, Peter 14, 31 Burmeister, Stefan 191, 195, 197 Burns, Robert Ignatius 312, 313 Busby, George B.J. (u.a.) 193 Butler, Judith 97, 98 Butzer, Elisabeth K. 239 Butzer, Karl W. 236, 239 Bynum, Caroline Walker 37, 97 Byres, T. J. 69 Cabezuelo Pliego, José Vicente 318 Cahen, Claude 242 Calhoun, Alison 23 Cameron, Averil 434

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Capelli, Christian (u.a.) 183 Cara Barrionuevo, Lorenzo 240 Carocci, Sandro 108 Carrasco Manchado, Ana Isabel 301 Carrié, Jean-Michel 205 Carrier, Nicolas 139 Carrillo, Marc 316 Carroll, Gina 253 Carsten, Janet 379 Cartron, Isabelle 118 Carus-Wilson, Eleanora Mary 57 Casal García, María Teresa 241 Castagnetti, Andrea 357 Casteen, Elizabeth 221 Castiglioni, Elisabetta 243 Castro, Américo 308 Castro Varela, Maria do Mar 28, 215 Cavalli-Sforza, Luigi Luca 178, 181, 182 Cavalli-Sforza, Franscesco 178, 181 Celant, Alessandra 248 Cerquiglini-Toulet, Jacqueline 23 Chakrabarty, Dipesh 164, 215 Chan, J. Clara 53 Chaney, Eric 405 Chartier, Roger 14, 104 Chastang, Pierre 137 Chausson, François 90, 119 Chevaleyre, Claude 213, 225 Cheyette, Fredric L. 398, 399, 402, 403, 419, 420 Chickering, Roger 11 Chouquer, Gérard 138, 139 Christ, Karl 45 Christensen, Peter 238 Chrysos, Evangelos 429, 431 Clanchy, Michael 30 Classen, Albrecht 45 Clauss, Martin 100, 292 Cohen, Jeffrey Jerome 28, 74 Coleman, Olive 57 Conrad, Anne 82 Conrad, Sebastian 51, 52, 54, 60, 62, 64, 65, 66, 74, 215 Contreras, Daniel A. 237 Cooper, Frederick 60 Cooper, Kate 441 Cordez, Philippe 154

Connell, Robert 95 Cosandey, Fanny 90 Costa Lopez, Julia 299, 300, 303 Coutau-Bégarie, Hervé 111, 115 Crellin, Rachel J. 195 Crenshaw, Kimberlé W. 29, 217 Cressier, Patrice 239 Crosas, Francisco 8 Cross, Donna 157 Curta, Florin 211 d’Arcans, Louise 43, 77 Dabag, Mihran 22, 41 Daim, Falko 184, 210, 430 Dal Corso, Marta 237 Daniel, Norman 53 Daniel, Ute 16, 24, 25, 85 Dannenbauer, Heinrich 414, 417 Darian-Smith, Eve 25 Davis, Jennifer R. 25, 55 Davis, Kathleen 74, 75 Davis, Matthew Evan 26 Dawson, Christopher 426, 428 De Ayala Martínez, Carlos 310, 314, 317, 318, 319, 320 Débax, Hélène 411 Decker, Michael 238, 239, 244, 247, 249 de Ferreras, Juan 305 de Iturralde, Juan 303 de Jong, Mayke 44 de la Bretèque, François 43 Delaplace, Christine 433 Deleuze, Gilles 147 Delgado, Richard 29 Delogu, Paolo 432 del Pilar Homet, Raquel Amalia 305 Demandt, Alexander 45, 412, 429 Dendorfer, Jürgen 13, 326, 362, 408 Depreux, Philippe 35, 150, 335, 337, 349, 355, 356 Derschka, Harald 37 Descola, Philippe 364, 373, 376 Destephen, Sylvain 90, 119 Deswarte, Thomas 119, 309, 311 Deutinger, Roman 325, 326, 350, 356, 357, 358, 408, 410 Devisse, Jean 141

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de Vries, Jan 56, 57, 65 Devroey, Jean-Pierre 376 De Weerdt, Hilde 69 Dewing, Henry B. 208 Deyermond, Alan D. 9 Dhawan, Nikita 28 Didczuneit, Veit 268 Diederich, Toni 169 Diem, Albrecht 97 Diesenberger, Maximilian 355 Diesener, Gerald 12 Dilcher, Gerhard 39, 356, 360 Dinges, Martin 89, 95 Dinzelbacher, Peter 31, 32, 43, 97 Dobb, Maurice 216 Dockter, Warren 302 Dodds, Jerrilyn D. 301 Döring, Jörg 22 Domeier, Norman 98 Domínguez, Juan Pablo 308 Donat, Peter 281 Donnelly, Peter 183, 184 Dosse, François 111, 115, 129 Doyle, Chris 433 Drews, Wolfram 25, 65, 69 Droste, Claus-Dieter 345 Droysen, Johan Gustav 11, 213, 266 Du Bos, Jean-Baptiste 425, 426 Duby, Georges 83, 94, 113, 323, 363, 392, 395, 398, 399, 400, 402, 403, 404, 406, 408, 416, 419 Dümmler, Ernst 264, 291 Düwell, Kurt 169 Duggan, Anne 90 Duindam, Jeroen Frans Jozef 69 Dumont, Jonathan 90 Dumoulin, Olivier 113, 114, 115, 124, 125, 130 Durand, Aline 238, 249, 250, 253 Durliat, Jean 429, 430 Dury, George 253 Dusil, Stephan 153, 161 Dzino, Danijel 211 Earenfight, Theresa 90 Earl, Thomas 229 Ebel, Wilhelm 336

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Ebenfeld, Stefan 258 Eckert, Andreas 51, 60, 221 Eco, Umberto 150 Eggert, Wolfgang 285, 289 Ehlers, Caspar 23, 291 Ehlers, Joachim 40 Eickels, Klaus von 409 Eisenberg, Merle 436 Eisenmann, Stefanie (u.a.) 194, 198 Eisenstadt, Shmuel N. 228 Ellenblum, Ronnie 62, 63, 66 Elliott, Andrew B. R. 77, 302, 303 Elmshäuser, Konrad 344, 350 Eming, Jutta 86 Engel, Evamaria 276, 282, 290 Engel, Ole 73 Engels, Friedrich 257, 261, 294, 295 Engels, Odo 304, 310 Ennen, Edith 81 Epperlein, Siegfried 289, 290 Epple, Angelika 87 Erbe, Michael 14 Erbstößer, Martin 276 Erdmann, Carl 170 Erhart, Peter 439 Erhart, Walter 37 Erikson, Erik 155 Eriskat, Dörte 58 Erler, Mary C. 92 Ertl, Thomas 25, 26, 51, 59, 67, 69, 70, 215 Esch, Arnold 169 Esders, Stefan 65, 329, 330, 359, 436, 438 Esteve Del Valle, Marc 299 Evans, Richard J. 23 Ewig, Eugen 438 Facinger, Marion F. 90 Fahrmeir, Andreas 71 Faragó, Norbert (u.a.) 207 Fauser, Markus 25 Febvre, Lucien 105, 106, 107, 108, 110, 112, 113, 114, 115, 117, 125, 126, 127, 128, 129, 134, 140, 141 Feller, Laurent 241, 339, 343 Ferreira, Carles 299

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Register

Ferreira Fernandes, Isabel Cristina 314, 317, 318 Ferreras, Juan de 305 Ferro, Marc 132 Feuchter, Jörg 177, 191, 195, 201 Ficker, Julius 147 Fidora, Alexander 41 Figueiredo Nogueira, Carlos Roberto 305 Fiore, Alessio 407, 408 Fiorentino, Girolamo 248 Fischer, Agneta H. 375 Fischer, Andreas 436 Fischer, Carsten 344 Fischer, Franz 26 Flach, Willi 262, 271 Flechner, Roy 70 Flöter, Jonas 12 Flüchter, Antje 69 Fößel, Amalie 20, 21, 42, 86, 88, 89, 90, 91, 95 Forcada, Miquel 236 Fossier, Robert 365, 397, 398 Foucault, Michel 99, 111, 130, 131, 132, 133, 142, 214, 215, 216 Fouracre, Paul 334, 344 Fox, Yaniv 383, 436 François, Étienne 166 Frankopan, Peter 72 Frank, Andre Gunder 55, 56 Freedman, Paul 43, 75 Freitag, Ulrike 51 Frey Steffen, Therese 83, 95 Fried, Johannes 13, 33, 36, 37, 38, 42, 55, 150, 151, 153, 172, 395, 398, 422 Friedman, Mordechai 59 Friesinger, Herwig 430 Fritze, Konrad 282 Frugoni, Chiara 123 Fryde, Natalie 9, 324 Fuente Pérez, María Jesús 301 Fuhrmann, Horst 42, 44, 161, 162, 169 Fukuyama, Francis 157, 214 Furholt, Martin 195 Fusek, Gabriel 211 Fustel de Coulanges, Numa Denis 119, 426 Gabriele, Matthew 302

Gänger, Stefanie 215 Gall, Lothar 16, 24 Ganshof, François Louis 36, 323, 328, 332, 333, 336, 346, 353, 355, 362, 419 García Blánquez, Luis A. 241 García Cárcel, Ricardo 308 García de Cortázar, José Ángel 308, 311, 356 García Fitz, Francisco 307, 310, 317, 318, 319 García Sánchez, Expiración 236, 237, 239, 243, 246, 247, 248, 249, 250 García Sanjuan, Alejandro 300, 301, 311, 319 García-Guijarro Ramos, Luis 308, 312, 314, 315 García-Rubio, Almudena 253 Gauchet, Marcel 131, 132, 378 Gauthier, Nancy 397 Gavoille, Élisabeth 119 Geary, Patrick 34, 40, 43, 64, 73, 177, 181, 183, 185, 187, 188, 189, 190, 195, 196, 198, 202, 203, 204, 209, 393, 405 Gebhardt, Bruno 292, 395, 398 Gérard, Alice 125 Gericke, Horst 274, 286 Gerrard, Christopher M. 253 Geuenich, Dieter 351, 369 Gheller, Viola 439 Ghobrial, John-Paul 65 Giardina, Andrea 71 Gibbon, Edward 425, 426 Gillett, Andrew 40, 439 Gills, Barry 55, 56 Giostra, Caterina 190 Glatthaar, Michael 348 Glick, Thomas F. 239, 240, 301 Gnecchi-Ruscone, Guido Alberto (u.a.) 205, 209, 211 Godelier, Maurice 363, 364, 369 Goebel, Michael 60, 76 Goetz, Hans-Werner 7, 9, 13, 14, 17, 18, 19, 21, 24, 25, 31, 33, 37, 38, 41, 42, 45, 66, 80, 81, 82, 83, 85, 88, 112, 142, 153, 169, 170, 172, 202, 215, 318, 321, 337, 344, 345, 361, 363, 366, 370, 395, 406, 409, 414 Goffart, Walter 18, 40, 205, 428, 429, 430, 438, 442 Goffman, Erving 380 Goitein, Shlomo Dov 59

Register 

Goldberg, Eric Joseph 293 Goldberg, Jessica L. 59 Gómez Martínez, José Luis 308 Gonda, Regina 237 Goñi Gaztambide, José 314, 315 Gonzáles Athenas, Muriel 84 González Arévalo, Raúl 301 González Jiménez, Manuel 310, 313, 316 Goody, Jack 18, 368, 370, 371, 378 Górecki, Piotr 405 Górny, Maciej 296 Gotanda, Neil 29, 217 Gotter, Ulrich 229 Gouguenheim, Sylvain 36, 37, 40, 123 Gouveia Monteiro, Joao 318 Graceffa, Agnès 43 Gräf, Holger Th. 46 Gräubig, Kurt 14 Gramsch, Bernhard 281, 282 Grashoff, Udo 271 Graus, František 15, 17, 417 Gravel, Martin 15, 128 Graziani, Glenda 253 Green, Dennis 432 Greenberg, Joseph 182 Greenberg, Nathaniel 301 Greer, Sarah 392 Greshko, Michael 206 Griesebner, Andrea 80, 83, 88 Griffiths, Fiona J. 96 Groebner, Valentin 43, 144, 152, 170, 229 Groh, Dieter 14 Gross, Katharina 343, 345 Groth, Simon 41, 268, 273, 282, 297, 323, 328, 411, 412 Grubmüller, Klaus 30 Gruen, Erich 205 Grunwald, Susanne 294 Guardini, Romano 149 Guattari, Félix 147 Gudian, Janus 151 Guerra Amorim, Carlos Eduardo (u.a.) 188, 435 Guerreau, Alain 136, 397 Guerreau-Jalabert, Anita 136, 363, 365, 377 Guichard, Pierre 239, 240, 314 Guillot, Oliver 361

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Gumpert, Lena 37 Gurjewitsch, Aaron 31, 37 Gurney, Jason 303 Gutiérrez, Alejandra 253 Gutiérrez Lloret, Sonia 241, 242 Guyot-Bachy, Isabelle 9 Haack, Christoph 330, 331, 333, 348, 395, 407 Habermas, Jürgen 316, 372 Hägermann, Dieter 35 Hämmerle, Christa 81, 85 Härke, Heinrich 183 Hagemann, Karen 84 Hakenbeck, Susanne 179, 187, 198 Halbartschlager, Franz 59 Halbwachs, Maurice 32 Haldon, John (u.a.) 179, 180, 436 Hallavant, Charlotte 236, 238, 249, 250, 253 Haller, Dieter 22, 41 Halphen, Louis 126 Halsall, Guy 195, 430 Halverson, Jeffrey R. 301 Hamesse, Jacqueline 9 Hamilton-Dyer, Sheila 245 Hammer, Michael F. 185 Hamon, Hervé 111 Hansen, Klaus-Peter 157 Hansen, Valerie 55, 56 Haour, Anne 69 Hardtwig, Wolfgang 24 Harper, Kyle 180, 181, 435, 436 Hartmann, Martina 90 Hartmann, Wilfried 36, 43 Hartung, Wolfgang 17 Hasberg, Wolfgang 13, 26, 44, 93, 145, 151, 152, 154, 156, 157, 161, 164, 170 Hatch, Ryan 62 Hausherr, Rainer 154 Haubrichs, Wolfgang 313, 369 Hauch, Gabriella 80 Haun, Horst 261, 262, 267 Hausen, Karin 85, 93, 94 Heather, Peter 430, 431, 432, 433, 440 Hechberger, Werner 414, 422 Hederich, Benjamin 170 Hedwig, Andreas 36, 344, 350

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Register

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 171 Hehenberger, Susanne 88 Heidegger, Martin 148, 172, 174 Heimpel, Hermann 45 Heinemann, Julia 224 Heinzel, Reto 417 Heinzle, Joachim 42, 171 Heirbaut, Dirk 408 Heitz, Gerhard 268 Heitzer, Heinz 268 Hen, Yitzhak 340, 436 Heng, Geraldine 29, 59f., 75, 217, 218, 219, 228 Henriet, Patrick 128, 318 Hensel-Grobe, Meike 164 Herbers, Klaus 119, 313 Herce Vales, Fernando 303 Hergemöller, Bernd-Ulrich 17, 83 Hermans, Eric 25 Hernández Bermejo, Jacinto Esteban 236, 237, 247, 248, 249 Herrmann, Horst 174 Herrmann, Joachim 281, 282, 283, 284, 289, 294, 294, 296 Hertel, Patricia 307 Hess, Hendrik 34 Hess, Peter 61 Hildebrand, Klaus 16 Hillebrandt, Maria 397, 409 Hillgarth, Jocelyn Nigel 305, 308 Hillgruber, Andreas 16 Hillner, Julia 441 Hilsch, Peter 396 Hiltmann, Torsten 27 Hindrichs, Gunnar 11 Hines, John 432, 440 Hinnebusch, B. Joseph 208, Hintze, Otto 323, 395 Hinz, Felix 159, 302, 309 Hitzer, Bettina 214 Hobsbawm, Eric J. 57, 70, 214 Hochschild, Arlie Russell 77 Hodara, Rachel 237 Höfert, Almut 67, 69, 98, 99, 229 Hofmeister, Adolf 268 Hollister, C. Warren 405 Holmes, Catherine 51, 69, 70, 75

Holsinger, Bruce 302 Holt, Richard A. 405 Honnefelder, Ludger (u.a.) 181 Horden, Peregrine 56, 237, 239, 242, 243 Horres, Robert 26 Horswell, Mike 300, 302 Howard-Johnston, James 440 Howell, Margaret 90 Hoyer, Siegfried 282 Hübinger, Paul Egon 45 Hübner, Hans 269, 271 Hühns, Erik 258, 260 Huerta Huerta, Pedro Luis 313 Hulak, Florence 113, 115 Hummer, Hans J. 18, 138, 339, 364, 373, 381, 382, 383, 384, 385, 386, 387 Huneycutt, Lois Lynn 90 Hunt, Lynn 24 Huntington, Samuel P. 316 Hurel, Daniel O. 119 Ibáñez de Segovia, Gaspar 305 Iggers, Georg G. 8, 11, 14, 23 Ijssenagger-Pluijm, Nelleke 440 Illmer, Detlef 340 Inskip, Sarah A. 207, 253 Iogna-Prat, Dominique 37, 136, 364, 372, 399 Irwin, Douglas A. 57 Ismard, Paul 221 Israel, Uwe 57 Jaeger, C. Stephen 9 Jaeger, Friedrich 11 Jäschke, Kurt-Ulrich 81 Jan, Libor 339 Janssen, Tido 433 Jaritz, Gerhard 21 Jarnut, Jörg 9, 38, 42, 153, 202, 369, 410 Jarrett, Clayton O. 208 Jaser, Christian 74 Jaspert, Nikolas 22, 41, 300, 302, 307, 309, 313, 314, 315, 320 Jauß, Hans-Robert 173 Jégou, Laurent 128 Jeismann, Karl-Ernst 145, 151, 160 Jendorff, Alexander 46

Register 

Jensen, Kurt Villads 315 Jessen, Ralph 267, 268 Jobling, Mark A. 184 Johns, Jeremy 235, 237 Johnson, Christopher H. 228 Johnson, Walter 227 Jones, Arnold H.M. 427, 428, 441 Jones, Chris 43 Jones, Jane Clare 132 Jones, Martin 183 Jordan, Gesine 351 Jordan, Karl 414 Josserand, Philippe 314 Joyce, Rosemary A. 206 Jütte, Robert 417 Juliá Díaz, Santos 307 Jussen, Bernhard 18, 74, 75, 164, 165, 228, 363, 368, 377, 378 Kämpf, Hellmut 13, 414 Kahl, Hans-Dietrich 152, 162, 163 Kaldellis, Anthony 72, 75 Kamp, Hermann 330 Kampmann, Christoph 42, 83 Kant, Immanuel 161 Karpov, Sergej Pavlovic 220 Karras, Ruth Mazo 83, 97 Karsenti, Bruno 379, 380 Kaschke, Sören 264 Kasten, Brigitte 36, 323, 335, 336, 338, 339, 340, 342, 345, 346, 347, 348, 349, 350, 351, 358, 360, 361, 408, 409 Kedar, Benjamin Z. 53, 54, 70, 75 Keene, Bryan C. 70 Keller, Hagen 30, 357, 395, 398, 411 Keller, Marcel (u.a.) 207 Kelly, Christopher 433 Kelly-Gadol, Joan 92 Kern, Fritz 39, 416 Kerneis, Soazick 438 Kerth, Sonja 43 Keßler, Mario 269 Keupp, Jan-Ulrich 422 Keys, David 435 Kienast, Walter 331, 332, 336, 355, 360 King, Turi E. 178

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Kintzinger, Martin 34 Kirchner, Helena 240, 242, 254 Klaniczay, Gábor 43 Klapisch-Zuber, Christiane 83, 130 Klein, Christian 88 Klein, Dorothea 42, 156, 172 Kleine, Uta 228 Kleinschmidt, Harald 43 Klengel, Horst 281 Kloft, Hans 169 Kluger, Anne 281, 282 Knefelkamp, Ulrich 313 Knipper, Corina 209 Knobler, Adam 302 Ko, Dorothy 82 Kocka, Jürgen 17, 79, 80 Körntgen, Ludger 13 Kogman-Appel, Katrin 150, 153, 161 Kohl, Thomas 18, 407, 408, 409 Kojita, Yasunao 26 Kondō, Shigekazu 26 Korsunskij, Aleksandr Rafailovic 290 Kortendiek, Beate 84 Kortüm, Hans-Henning 37, 413, 414, 416, 417 Koselleck, Reinhart 82, 150, 153, 159, 175, 214, 215, 216 Kossek, Brigitte 26 Kosthorst, Erich 160 Kostick, Conor 43 Kosto, Adam J. 311, 317 Kotthoff, Helga 86 Kowalczuk, Ilko-Sascha 152, 261 Kowaleski, Maryanne 92 Koziol, Geoffrey 407 Krah, Adelheid 355 Kraus, Pavel 239 Krause, Jens-Uwe 335 Krause, Johannes 34, 177, 183, 185, 187, 192, 207, 209 Krause, Johannes (u.a.) 185 Kreiner, Jamie 202 Krieger, Gerhard 363, 366 Krieger, Karl Friedrich 323 Kroeschell, Karl 39, 366, 417 Krüger, Bruno 282

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Kuchenbuch, Ludolf 18, 35, 67, 216, 228, 326, 395, 409, 412, 422 Kühberger, Christoph 160 Kühn, Adriaan 307 Kühne, Thomas 95 Külb, Philipp Hedwig 53 Kümper, Hiram 27 Küttler, Wolfgang 8, 266 Kuhn, Annette 79, 89 Kulke, Hermann 25 Kunitsch, Paul 156 Kuolt, Joachim 43 Kupper, Jean-Louis 365 Kupper, Joachim 23 Kurth, Godefroid 137 La Parra López, Santiago 246 Laak, Martin 26 Labouvie, Eva 84, 85 Labrousse, Ernest 112 Lacombe, Paul 12 Ladero Quesada, Miguel Angel 308 Lagardère, Vincent 244 Laliena Corbera, Carlos 310, 311, 317 Lamassé, Stéphane 128 Lambert, Bart 57 Lambourn, Elizabeth 60 Lammers, Walther 32 Lamprecht, Karl 11, 12 Landes, Richard 36 Landsberg, Paul Ludwig 148 Lang, Alexander 178 Langer, Erika 260 Langewiesche, Dieter 29 Langgut, Dafna 247 Langlois, Charles-Victor 124, 125 Lanzinger, Margareth 224 Laqueur, Thomas 98, 99 Last, Martin 291 Laudage, Johannes 158 Lauranson-Rosaz, Christian 400, 406, 409, 410, 419 Lauwers, Michel 31, 139, 370, 407 Layher, William 90 Laynesmith, Joanna L. 90 Lazaridis, Iosif (u.a.) 186

Lechner, Johann 139 Legendre, Pierre 379 Le Goff, Jacques 9, 14, 45, 74, 104, 111, 113, 130, 132, 133, 141, 152, 153, 164, 172 Lehmann, Hartmut 378 Le Jan, Régine 18, 130, 136, 363, 364, 365, 367, 375, 384, 385, 387, 388, 442 Lemarignier, Jean-François 399, 419 Lemoine, Michel 236 Leniaud, Jean-Michel 22 Lenski, Noël 433 Lepetit, Bernard 397 Leppin, Hartmut 433 Le Roy Ladurie, Emmanuel 111, 130, 132, 133, 134 Leslie, Stephen (u.a.) 183 Lesne, Émile 323, 334, 344 Lett, Didier 130, 379 Leube, Achim 281, 282 Lévi-Provençal, Évariste 246 Levi-Strauss, Claude 129, 365, 378 Lewis, Michael 375 Lewis-Kraus, Gideon 200 Lichtenberger, Achim 22, 41 Liebermann, Victor 69 Liebers, Andrea 100 Liebeschuetz, Wolf 432 Liebrecht, Johannes 39 Lifshitz, Felice 82 Limbeck, Sven 98 Linehan, Peter A. 308 Lintzel, Martin 13, 268, 269, 271, 288 Little, Lester K. 10, 208, 435 Lobrichon, Guy 9 Löwe, Heinz 292 Lomax, Derek W. 314, 315 Lopes de Barros, Maria Filomena 221 López Quiroga, Jorge 309 López Reyes, Daniel 245, 254 López y López, Ángel C. 236, 246, 247, 248, 249 López-Costas, Olalla 251, 253 Loschiavo, Luca 438 Lot, Ferdinand 124 Loud, Graham A. 43, 340 Lowe, Kate P. 229 Lubich, Gerhard 18, 396

Register 

Lucas, Pia 436 Luckhardt, Jochen 154 Ludwig, Daniel 345 Lück, Heiner 39 Lüdtke, Alf 229 Lundt, Bea 82, 87, ,93, 94, 96, 100, 166 Lusiardi, Ralf 393 Lutter, Christina 97 Lutz, Eckart Conrad 10 Lutz, Heinrich 165 Lyon, Bryce 115 Lyon, Mary 115 Lyotard, Jean-Francois 157 Lythe, Andrew 253 MacKay, Angus I. K. 313 Mackman, Jonathan S. 57 MacLean, Simon 90 Mägdefrau, Werner 260, 268 Magnou-Nortier, Elisabeth 344, 430 Mahoney, David 440 Mahoney-Steel, Tamsyn 26 Mai, Gunther 148 Maier, Franz Georg 428 Makarewicz, Cheryl 237 Malpica Cuelló, Antonio 240, 246 Mandosio, Jean-Marc 131 Mandrella, Isabelle 150, 153, 161 Mandrou, Robert 112 Mane, Perrine 236, 238, 249, 250, 253 Maniglier, Patrice 363 Mann, Vivian B. 301 Manstead, Anthony S.R. 375 Manzano Moreno, Eduardo 235, 240, 241, 242, 313 Manzoni, Alessandro 426 Maravall, José Antonio 308, 311 Marazzi, Federico 432 Marchal, Guy P. 313 Marchandisse, Alain 90 Marchesini, Marco 243 Margolis, Oren 437 Mari, Juanjo 253 Markus, Robert A. 434 Maróti, Zoltán (u.a.) 198 Marquard, Odo 150

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Marquez-Grant, Nicholas 253 Marrou, Henri-Irénée 119, 428 Marshall, David E. 258 Martín, José Luis 305 Martindale, John R. 441 Martine, Tristan 140, 407 Martínez Jiménez, Javier 241 Martino, Antonio 316 Martos Quesada, Juan 313 Martschukat, Jürgen 22, 84, 95 Marx, Karl 261 Marzahn, Alexander 95 Masdeu, Juan Francisco 305 Maset, Michael 214 Matasci, Damiano 77 Mateu, Juan F. 239 Matheus, Michael 155 Mathisen, Ralph W. 441 Matthews, David 43 Matthews, John 441 Mauss, Marcel 379 Mayer, Theodor 414, 417, 421, 422 Mazel, Florian 136, 139, 370, 395, 397, 398, 399, 400, 407, 408, 419, 423 Mazzanti, Marta 243 Mazzarino, Santo 427, 438 McCarty, Philip C. 25 McCormick, Michael 55, 180, 208 McEvoy, Meaghan 443 McGeorge, Penny 433 McKee, Sally 229 McKitterick, Rosamond 30 McNamara, Jo Ann 91, 92, 93, 96, 101 Méhu, Didier 128 Meier, Christian 156 Meier, Helmut 259, 269 Meier, Mischa 34, 159, 177, 188, 193, 197, 198, 202, 207, 208, 434 Mellaart, James 55 Meller, Harald 184 Menard, Russell R. 57 Menestò, Enrico 438 Menocal, María Rosa 301 Menozzi, Paolo 182 Merquior, José-Guilherme 131 Mertens, Lothar 269

453

454 | 

Register

Metzinger, Udo M. 316 Michael, Bernd 412 Middell, Matthias 14, 215 Miles, David 178, 184 Millar, Katharine M. 303 Millard, Andrew R. 253 Miller, Joseph C. 220 Mitteis, Heinrich 323, 325, 328, 331, 332, 333, 334, 335, 336, 337, 346, 353, 355, 356, 357, 360, 362, 395 Mitterauer, Michael 17, 67, 163, 251, 369 Moeglin, Jean-Marie 9 Möhring, Maren 84 Moilanen, Ulla (u.a.) 206 Molà, Luca 70 Mommertz, Monika 84, 92 Monnet, Pierre 9, 42, 46, 324 Montes Moya, Eva María 245, 254 Montesquieu, Charles de Secondat baron de 425, 426 Moore, Katherine 252 Moore, Robert I.68 Moos, Peter von 37, 94, 151, 161 Morales, Jacob 237, 248 Moraw, Peter 9, 151, 296 Morche, Franz-Julius 69 Mordechai, Lee 179, 180, 436 Mordechai Thoma, Lev 98 Morelle, Laurent 128, 337, 338, 343, 345, 346, 402 Moreno Martín, Francisco José 303 Morgan, Lewis 378 Morillo, Stephen R. 405 Morimoto, Yoshiki 35, 397, 402 Morin, Edgar 133 Morony, Michael G. 242 Morris, Colin 37 Morris, John 441 Morsel, Joseph 139, 363, 365, 368 Motadel, David 52 Muchembled, Robert 31 Mück, Hans-Dieter 31 Mühlbacher, Engelbert 139, 291, 338, 354 Mühling, Christian 98 Müller, Axel 43 Müller, Bertrand 115

Müller, Harald 316 Müller, Jörg 159 Müller, Kathrin 150, 153, 161 Müller, Ulrich 150, 153, 161 Müllerburg, Marcel 33 Müller-Mertens, Eckhard 260, 261, 265, 267, 268, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 281, 282, 283, 285, 286, 287, 288, 290, 294, 295, 296 Mukherjee, Supriya 8 Mukhia, Harbans 69 Munke, Martin 292 Munro, John H. 56 Murray, Alexander Callander 18, 366 Murray, Jacqueline 87 Musi, Aurelio 414 Nadjo, Léon 119 Nagel, Anne Christine 9, 417 Nagl–Docekal, Herta 80 Navarro, Carmen 240 Neddermeyer, Uwe 152 Neil, Bronwen 435 Neiske, Franz 397, 409 Nelson, Janet L. 90 Neumeister, Peter 268 Niehof, Franz 154 Niethammer, Lutz 157 Nieto Soria, José Manuel 312 Nietzsche, Friedrich 213 Nipperdey, Thomas 42, 152, 162, 163 Nirenberg, David 63, 65 Njeussychin, Aleksandr I. 278, 279 Noack, Karl-Heinz 268 Nobili, Mario 343 Noble, Thomas F.X. 431 Noiriel, Gérard 112, 113, 114, 115, 121, 124, 130, 131 Nolte, Cordula 82, 83 Nora, Pierre 33, 104, 130, 133 Novembre, John (u.a.) 184 Núñez Seixas, Xosé M. 71 Obenaus, Andreas 59 Oberkofler, Gerhard 269 O’Callaghan, Joseph F. 300

Register 

Odegaard, Charles 332 Oelmüller, Willi 42 Oepen, Joachim 169 Oesterle, Jenny Rahel 25, 69 Oexle, Gerhard 9, 11, 14, 23, 25, 33, 136, 144, 150, 152, 153, 161, 172, 174, 324, 364 Offen, Karen 85 Offenstadt, Nicolas 372 O’Flynn, John Michael 433 Oleksyk, Taras K. (u. a.) 199 Olstein, Diego 54 Ong, Walter 30 Opitz-Belakhal, Claudia 81, 83, 84, 85, 86, 92, 94, 95, 97 Ormrod, William Mark 57 O’Rourke, Kevin H. 57 Ortega y Gasset, José 310 Ortiz y Sanz, José Francisco 306 Oschema, Klaus 43, 51, 68 Osterhammel, Jürgen 215 O Suilleabhain, Karl 70 O’Sullivan, Niall (u.a.) 188 Ouerfelli, Mohamed 238, 249, 250, 253 Ourliac, Paul 400, 419 Ozanam, Antoine Frédéric 425, 426 Paden, William D. 10 Pääbo, Svante 185, 192 Palacio Atard, Vicente 316 Palacios Ontalva, José Santiago 300, 317, 318 Panofsky, Aaron 198 Pargas, Damian 221 Parsons, John Carmi 90 Patt, Gregor 348 Patterson, Jeannette 23 Patterson, Nick (u.a.) 186, 196 Patzold, Steffen 13, 22. 34, 36, 129, 156, 163, 165, 172, 177, 188, 193, 197, 198, 202, 207, 208, 323, 325, 328, 329, 336, 361, 362, 382, 405, 408, 410, 414, 418, 421, 423 Paul, Nicholas 315 Pauly, Michel 64 Pavón Benito, Julia 9 Pearce, S. J. 218 Peinado Santaella, Rafael G. 317 Peiró Martín, Ignacio 9

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Peller, Gary 29, 217 Peloux, Fernand 128 Peña-Chocarro, Leonor 245, 254 Penshorn, Sascha 257 Percival, John 18 Pérez-Jordà, Guillem 245, 254 Perrot, Michelle 83 Pezé, Warren 128 Pflefka, Sven 172 Piazza, Alberto 182 Piganiol, André 427 Pinhasi, Ron 188, 202 Pirenne, Henri 115, 119, 124, 125, 426, 427, 428 Pitz, Ernst 26, 356, 357 Pluet-Despatin, Jacqueline 115 Pohl, Walter 34, 40, 70, 181, 188, 191, 195, 202, 204, 205, 209, 210, 211, 368, 387, 393, 418, 430, 435, 439, 440 Pohle, Frank 154 Poly, Jean-Pierre 400, 401, 402, 419 Poulin, Claude 128 Power, Daniel 313 Pradat, Bénédicte 238, 249, 250, 253 Preiser-Kapeller, Johannes 63 Primavera, Milena 250 Prost, Antoine 115, 124, 125 Provero, Luigi 354 Pruulmann-Vengerfeldt, Pille 26 Puett, Michael 75 Puff, Helmut 98 Puhle, Matthias 154 Puig, Carole 238, 249, 250, 253 Purcell, Nicholas 56, 237, 239, 242, 243 Purkis, William J. 315 Putnam, Lara 60 Queimada e Silva, Tiago João 300 Quirós Castillo, Juan Antonio 241 Quitta, Hans 282 Rácz, Zsófia 210 Rado, James 129 Raedts, Peter 144, 153, 155 Raff, Jennifer 194, 200 Ragni, Gerome 129 Rama, José 299

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456 | 

Register

Randeria, Shalini 444 Ranke, Leopold von 150, 167, 213, 296 Raphael, Lutz 8, 12, 267 Rapp, Claudia 435 Rasmussen, Ann Marie 95 Rasteiro, Rita 184 Rau, Susanne 23 Raulff, Ulrich 112, 115, 142 Rees Jones, Sarah 94 Reich, David 178, 187, 192, 200 Reichert, Folker 52, 53, 58, 170 Reig Tapia, Alberto 303 Reimitz, Helmut 368, 439 Reinle, Christine 418 Reiter, Sabine 82 Rembold, Ingrid 293 Remy, Jean 372 Renard, Étienne 344 Renfrew, Colin 182, 183 Repgen, Konrad 22 Reuter, Timothy 36, 405 Revel, Jacques 14, 104, 111 Rexroth, Frank 8, 17, 172 Reynolds, Susan 36, 323, 324, 325, 326, 327, 328, 330, 331, 332, 334, 337, 344, 352, 353, 361, 362, 408 Rhodes, Hilary 302 Richards, Michael P. 253 Riché, Pierre 438 Richter, Michael 30 Ricklin, Thomas 123 Ricœur, Paul 133 Ridder, Klaus 165, 172 Rideau-Kikuchi, Catherine 107, 108 Riegraf, Birgit 80, 84 Riello, Giorgio 70 Riley-Smith, Jonathan 302 Rinaldi, Rossella 243 Rio, Alice 81 Ríos Saloma, Martín Federico 304, 306, 310, 321 Ripart, Laurent 139 Ripoll, Gisela 205 Riu, Manuel 358 Rivière Gómez, Aurora 320 Rizzi, Ermanno (u.a.) 185

Robin, Vincent 15 Rocco Lozano, Valerio 300 Rodrigo, Javier 303 Rodríguez García, José Manuel 317 Rodríguez Molina, José 313 Rodríguez Picavea, Enrique 314 Rodríguez Tarduchy, Emilio 303 Roebert, Sebastian 51, 88 Roeck, Bernd 67 Röcke, Werner 33 Röckelein, Hedwig 81, 82, 159 Rörig, Fritz 268, 272, 286, 287 Rösener, Werner 351, 422 Rogge, Jörg 90, 91, 95 Rolker, Christof 98, 99, 100 Ros, Jérôme 238, 249, 250, 253 Rose, Gillian 111 Rosé, Isabelle 407 Rosenberg, Emily S. 72 Rosenstone, Robert A. 303 Rosenwein, Barbara H. 10, 32, 37, 352, 397, 398, 405 Rossi, Benedetta 221 Rossi, Melanie 159 Rostovtzeff, Mikhail 426, 427 Roth, Paul 323 Rotman, Patrick 111 Rotman, Tamar 436 Rottoli, Mauro 243 Ruas, Marie-Pierre 236, 237, 238, 240, 249, 250, 253 Rubin, Miri 14 Rubio Garrido, Rocío 301 Rublack, Ulinka 70, 85 Rüdiger, Ulrich 229 Rüsen, Jörn 8, 11, 80 Rummel, Philipp von 179 Runnel, Pille 26 Rutherford, Adam 178, 194 Sabean, David Warren 228 Sabisch, Katja 84 Sabrow, Martin 260, 266, 274, 296 Sachsenmaier, Dominic 51 Sahlins, Marshall 195, 206, 380 Said, Edward 164, 215, 224

Register 

Salamagne, Alain 119 Sallares, Robert 245, 246 Salten, Oliver 340, 353, 354, 359 Salzman, Michele R. 441 Samida, Stefanie 177, 185, 191, 194, 201 Sammler, Steffen 14 Sánchez Albornoz, Claudio 307, 308, 334 Santana, Andrés 299 Santifaller, Leo 36 Santos Salazar, Igor 407 Sanz Nogués, Manuel 303 Sarti, Laury 95, 330, 436 Sassier, Yves 361 Sastre de Diego, Isaac 241 Sauerwein, Friederike 31 Sayer, Duncan 184 Schäfer, Bernd 160 Schäfer, Dagmar 70 Schäpers, Maria 292 Schaser, Angelika 80 Schaus, Margaret 83 Scheidgen, Hermann-Josef 13 Scheller, Benjamin 229 Scheltjens, Werner 57 Scheyhing, Robert 358 Schieffer, Rudolf 9, 36, 72, 292 Schiel, Juliane 26, 29, 218, 221, 224, 225, 229 Schiffels, Stephan (u.a.) 184, 188, 197, 198 Schildhauer, Johannes 274, 282, 290 Schilfert, Gerhard 274 Schilling, Heinz 150 Schindler, Andrea 43 Schipp, Oliver 335 Schlegl, Ingrid 95 Schlesinger, Walter 414, 417, 418, 420 Schlöder, Bernd 160 Schlotheuber, Eva 37 Schmid, Karl 18, 363, 366, 392 Schmidt, Siegrid 43 Schmidt, Walter 257, 259, 268 Schmiedt, Roland Franz 258 Schmitt, Jean-Claude 9, 33, 37 Schmitt, Johannes 421 Schneider, David Murray 378, 379 Schneider, Friedrich Richard 268 Schneider, Jens 139, 423

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Schneider, Johannes 290 Schneider, Jürg E. 159 Schneider, Reinhard 313 Schneidmüller, Bernd 16, 26, 32, 42, 154, 155, 166, 411 Schnell, Rüdiger 32 Schnerb, Bertrand 90 Schnicke, Falko 80, 88 Schoeninger, Margaret J. 252 Schößler, Franziska 83 Schöttler, Peter 214, 413 Scholl, Christian 65, 309 Scholtz, Gunter 11 Schram, Valérie 237, 248 Schreiner, Klaus 17, 148, 296, 422 Schröder, Werner 155 Schubert, Ernst 17 Schulin, Ernst 8 Schulting, Rick 253 Schulz, Raimund 71 Schulze, Heinz-Joachim 262, 263, 265, 287, 292 Schulze, Reiner 39 Schulze, Winfried 8 Schwarcz, Andreas 429 Schwedler, Gerald 355 Scott, Joan W. 86, 99, 100 Scully, Marc 178 Segl, Peter 45 Segura Artero, Pedro 313 Seibt, Ferdinand 42, 153 Seidenfuß, Manfred 172 Seidlmayer, Michael 149, 152 Seignobos, Charles 12, 124, 125 Seitz, Annette 26 Semprun, Jaime 111 Sénac, Philippe 314 Serrier, Thomas 166 Sessa, Kristina 441 Shepard, Jonathan 69 Siberry, Elizabeth 302, 309 Siefarth, Frank Martin 299 Siegmund, Frank 432 Siemianowski, Simon 37 Signori, Gabriela 83 Simiand, François 12 Simon-Muscheid, Katharina 100

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Register

Sirantoine, Hélène 119 Skalweit, Stephan 45 Skinner, Patricia 83, 356 Skoglund, Pontus (u.a.) 200 Skottki, Kristin 309 Slanička, Simona 159 Sloterdijk, Peter 143, 171, 174 Smith, Isaac 395, 407 Smith, Julia M.H. 431 Smith, Richard 53 Sölter, Arpad A. 316 Solé-Tura, Jordi 316 Speer, Andreas 37 Spengler, Oswald 21, 148 Spiegel, Gabrielle M. 24, 43, 75 Spieß, Karl-Heinz 323, 325, 326, 408 Spivak, Gayatri Chakravorty 215 Spörl, Johannes 32 Spreitzer, Brigitte 98 Sproemberg, Heinrich 268, 272, 273, 275, 290 Spufford, Peter 56 Squatriti, Paolo 237, 243, 251, 255 Staab, Franz 264, 340 Stadermann, Christian 439 Stafford, Pauline 90 Standen, Naomi 51, 70, 75, 313 Staub, Martial 43 Staubach, Nikolaus 30 Stefancic, Jean 29 Steiger, Heinhard 330 Steinacher, Roland 210 Stephan, Inge 84 Stephan, Ulrike C.A. 33 Stern, Leo 269, 270, 271, 273, 274, 277, 279, 285, 286, 292 Stern, Manfred 269 Stickler, Timo 433 Stieglitz, Olaf 95 Stock, Brian 30 Stöckle, Friederike 172 Stoler, Ann Laura 218 Stoneking, Mark 185 Strathern, Marilyn 379 Stratmann, Martina 81 Strayer, Joseph 404 Streisand, Joachim 265

Stroheker, Karl Friedrich 441 Strothmann, Jürgen 38 Struve, Tilman 152, 162, 163 Studt, Birgit 94 Stumpf, Michael P.H. 183 Stutz, Ulrich 36 Summer, Michel 191 Sutner, Philipp 59 Sweezy, Paul Marlor 216 Sybel, Heinrich von 147 Sykes, Bryan 183 Szécsényi-Nagy, Anna 209 Szenthe, Gergely 198, 207, 210 Tabarrini, Lorenzo 406, 407 TallBear, Kim 200 Taranczewski, Detlev 26 Tedesco, Paolo 407 Teira Brión, Andrés 245 Tejerizo García, Carlos 241 Tellenbach, Gerd 14 Teppe, Karl 160 Tereso, João Pedro 245, 254 Tesche, Bernhard 282 Teuscher, Simon 228 Theisen, Frank 334, 335 Théry, Irène 379 Theuws, Frans 431 Thielmann, Tristan 22 Thierry, Augustin 426 Thomas, Kendall 29, 217 Thomas, Mark G. 183 Thompson, Edward P. 214 Thompson, William R. 56 Timm, Albrecht 262, 269 Tischler, Matthias 41 Toepel, Alexander 58 Töpfer, Bernhard 260, 273, 278, 282, 290, 412, 413 To Figueras, Lluis 397 Tolan, John V. 310, 320 Toro Ceballos, Francisco 313 Tortosa, Paul-Arthur 132 Toubert, Pierre 134, 141 Traina, Giusto 62 Trappe, Thomas 34

Register 

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Traulsen, Johannes 86 Trausch, Tilman 69 Treinen, Heiner 160 Trivellato, Francesca 228 Tuchmann, Barbara 149, 152 Türcke, Christoph 97 Tuliani, Maurizio 305 Turnator, Ece 26 Turnbull-Dugarte, Stuart J. 299

Vollrath, Hanna 19, 30 Voltmer, Ernst 42 von + Name → unter dem Namen (Borries, Brandt, Braun, Moos, Ranke, Rummel, Voltelini) Voltelini, Hans von 334 Vones, Ludwig 308 Vorwerk, Ulla 82 Vyas, Deven N. (u.a.) 189, 209

Ubieto Arteta, Antonio 311 Ubl, Karl 35, 366, 372, 378, 380, 387, 438 Uffelmann, Uwe 156 Unger, Manfred 268 Utz, Richard 42, 43

Waade, Waldemar 259 Wadle, Elmar 39 Wagner, Norbert 292 Wahl, Volker 262 Waitz, Georg 323 Walbank, Frank W. 427 Wallace-Hadrill, John Michael 427, 438 Walsh, Katherine 91 Walter, Conrad 382 Walter, Ralf 54 Walter-Bogedain, Sebastian 95 Wang, Q. Edward 8 Wapnewski, Peter 42 Ward-Perkins, Bryan 431, 432, 433 Wareham, Andrew 405 Warf, Barney 23 Washbrook, David 63 Wasna, Maria 160 Waters-Rist, Andrea 253 Watson, Andrew 233–237, 239, 242–244, 246f., 250–255 Weber, Max 66, 214, 292, 293, 367, 368, 378 Webster, Jill 313 Webster, Leslie 431 Wehler, Hans-Ulrich 16, 17, 24, 25, 214 Weigl, Andreas 59 Weiler, Björn K.U. 69 Weill-Parot, Nicolas 123 Weinfurter, Stefan 13, 154, 155, 299 Weitzel, Jürgen 39 Welskopp, Thomas 16, 214 Weltecke, Dorothea 70, 229 Wemple, Suzanne 91, 92, 96, 101 Wenskus, Reinhard 40, 181, 204, 429, 439 Werner, Ernst 272, 282 Werner, Karl Ferdinand 151, 164

Vai, Stefania (u. a.) 189, 190, 209 Valdeón Baruque, Julio 300, 316 Valensi, Lucette 111 Vampa, Davide 299 van Berkel, Maaike 69 van der Veen, Marijke 237, 238, 243, 244, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 253 van Engen, John 9 van Houts, Elisabeth 91 van Oostrom, Frits 72 van Steenbergen, Jo 69 van Zeist, Willem 245 Varisco, Daniel Martin 75, 236, 240 Veeramah, Krishna R. 177, 185, 188, 209 Verhulst, Adriaan E. 323, 402 Verlinden, Charles 220 Vida, Tivadar 209, 210 Vidal, Cécile 221 Viehhauser, Gabriel 27 Vigil, Marcelo 311 Viguera Molíns, María Jesús 313 Viikari, Matti 66 Viires, Piret 26 Villa, Paula-Irene 98 Villegas Aristizábal, Lucas 315 Viveiros de Castro, Eduardo 364, 373, 379 Vogel, Christian 323 Vogeler, Georg 27 Voigt, Eberhard 274, 286 Vollono, Giulia 407

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Werner, Matthias 35, 442 Werner, Michael 224 West, Charles 406, 407, 408 Wetton, Jon H. 184 Whitaker, Cord J. 74 White, Hayden 23 White, Stephen D. 404, 405, 420 Whitford, David M. 228 Wickham, Chris 70, 247, 397, 405, 407, 412, 430, 432, 434 Wieczorek, Alfried 154, 155 Wienand, Johannes 414, 433 Wieser, Veronika 70, 338, 368, 418 Wiesner-Hanks, Merry E. 53, 54, 70, 75 Wijnendaele, Jeroen W.P. 433 Wilkinson, David 56 Williamson, Jeffrey G. 57 Wiltsche, Harald A. 12 Winkler, Florian 178 Winney, Bruce (u.a.) 183, 184 Wipszycka, Ewa 442 Wolfram, Herwig 181, 204, 429, 430, 438, 439 Wollenberg, Daniel 302 Wolter, Udo 39 Wood, Ian 43, 45, 202, 340, 342, 371, 388, 425, 426, 430, 431, 433, 434, 435, 436, 437, 438, 440

Wood, Susan 36 Woodacre, Elena 89, 90 Workman, Leslie J. 42 Wright, Roger 436 Wulff Alonso, Fernando 308 Yan, Chen 85 Zadora-Rio, Elisabeth 397 Zanottiis, Lisa 299 Zelanka, Jan 339 Zeuske, Michael 221 Zeven, Anton C. 245 Zey, Claudia 13, 90 Ziegler, Herbert F. 54 Zimmermann, Bénédict 224 Zink, Michel 22 Zinsser, Judith P. 79 Ziriax, Maggie 253 Zöllner, Reinhard 69 Zöllner, Walter 268, 270, 271, 274 Zotz, Thomas 360, 411, 422 zum Kolk, Caroline 119 Zygner, Leszek 9

2. Register der Personennamen (erstellt von den einzelnen Autorinnen und Autoren) Das Register enthält alle mittelalterlichen sowie alle neuzeitlichen Namen mit Ausnahme der Wissenschaftlernamen. Verwendete Abkürzungen: A. = Abt; Äbt. = Äbtissin; arab. = arabisch; Bf. = Bischof; dt. = deutsch; engl. = englisch; Erzbf. = Erzbischof; frz. = französisch; Gem. = Gemahlin; Gesch.schr. = Geschichtsschreiber; Gf. = Graf; Gf.in = Gräfin; griech. = griechisch; Hausm. = Hausmeier; Hz. = Herzog; Hz.in = Herzögin; isl. = islamisch; Jh. = Jahrhundert; Kg. = König; Kg.in = Königin; Ks. = Kaiser; Ks.in = Kaiserin; Kl. = Kloster; M. = Mönch; Mgf. = Markgraf; P. = Papst; Pr. = Priester; röm. = römisch; S. = Sohn; span. = spanisch; Theol. = Theologe. Abascal Conde, Santiago, Vorsitzender der Partei Vox (st. 2014) 299 Abusch, Alexander, Politiker u. Kulturfunktionär der DDR (1902–1982) 257 Adalbert, Gf. v. Thurgau (854–894?) 367

Adler, Max, österreich. Jurist, Politiker u. Sozialphilosoph (1873–1937) 269 Agnes, röm.-dt. Kg.in u. Ks.in († 1077), Gem. Heinrichs IV. 89 Aḥmad al-Rāzī, arab. Gesch.schr. (888–955) 246

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al-Bakrῑ, arab. Geograph († 1094) 244 Alfons X., Kg. v. Kastilien u. León (1252–1284) 305 Alfons XII., Kg. v. Spanien (1874–1885) 306 al-Muꜥtaṣim, isl.-span. Herrscher (11. Jh.) 239 Amal, myth. got. Kg. 387 Ansegisel, frk. dux († c. 662) 388 Ansegisus, A. v. Saint-Wandrille (823–833), Saint-Germer-de-Fly u. Luxeuil 340–343 Ardo, M. († 843) 386 Aristoteles, griech. Philosoph († 322 v. Chr.) 123, 375, 380, 382 Arnulf, Bf. v. Metz († 640) 388 Arnulf, ostfrk. Kg. u. Ks. (887–899) 389, 392 Assuer, A. v. Prüm (vor 762–804) 341 Astronomus, Biograph Ludwigs d. Frommen 332 Athanarich, westgot. Kg. († 381) 387 Augustin, Bf. v. Hippo, Kirchenvt. († 430) 375, 382 Avitus, Bf. v. Vienne († 418) 383 Ayooghi, Sarvenaz, Kuratorin 154 Ballof, Rolf, ehem. Vorsitzender des Vereins der Geschichtslehrer Deutschlands († 2016) 154, 159 Benedikt, A. v. Aniane († 821) 386 Berengar, Kg. v. Italien u. Ks. (888–924) 389 Bernhard, A. v. Clairvaux († 1153) 146 Bernhard, Gf. (9. Jh.) 392 Bernhard, Gf. v. Septimanien (822–844) 385, 389 Bernhard, S Pippins, Kg. v. Italien (813–818) 392 Bernward, Bf. v. Hildesheim († 1022) 411 Brauburger, Stefan, Dokumentarfilmer u. Buchautor 173 Brown, Dan, Romanautor 158 Bruno, Erzbf. v. Köln (953–965) 375, 411 Bush, George W., Präsident d. USA (2001–2009) 302 Carloman → Karlmann Cassiodor, Staatsmann u. Theol. im ostgot. Reich († c. 580) 375, 387 Charles → Karl

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Chlodwig, Kg. d. Franken (481–511) 139 Chrétien de Troyes, frz. Autor (12. Jh.) 121 Chrodechilde, Kg.in., Gem. Chlodwigs († 544) 139 Darré, Richard Walther, Agrarpolitiker, Autor, SS-Funktionär (1895–1953) 262 Dhuoda, Gf.in v. Septimanien, Gem. Bernhards († n. 843) 385 Dietrich I., Bf. v. Metz (965–984) 375 Dietrich (Thierry) 385 Drogo, dux d. Champagne u. Burgunds, S. Pippins d. Mittleren († 708) 341, 390 Drogo, Erzbf. v. Metz (823–855) 390 Drogo, Hausmeier (747–748) 390 Eberhard (Evrard), Mkgf. v. Friaul (826/836– 864/866) 367, 389f. Einhard, Biograph Karls d. Großen († 840) 139, 340 Ermengard, Kg.in v. Burgund-Provence († 896) 392 Etienne → Stephan Eudes → Odo Filbinger, Hans, Politiker († 2007) 154 Flodoard v. Reims, Gesch.schr. († 966) 407 Flothilde, Visionärin (10. Jh.) 407 Franco, Francisco, span. Diktator (1936–1975) 303, 309, 312 Fredegar, anonymer Gesch.schr. (7. Jh.) 139 Friedrich I. Barbarossa, Kg. (1152–1190) u. Ks. (st. 1155) 148 Gallus Anonymus, Gesch.schr. († nach 1116) 406 Genulfus, Prekator u. Benefiziar d. Kl. Montierender (1. H. 9. Jh.) 346 Gerster, Petra, Fernsehmoderatorin 157 Gertrud, Äbt. v. Nivelles († 659) 364 Gervoldus, A. v. Saint-Wandrille (787/89? – bis kurz vor 807) 340–342 Gisla, Äbt. v. Chelles († 810) 390 Goethe, Johann Wolfgang von Schriftsteller († 1832) 74 Gregor, Bf. v. Tours (573–594) 383

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Grimoald, Hausm. v. Neustrien (690–714) 390 Grimold, A. v. Saint-Vanne b. Verdun (erwähnt 1060/1075) 352 Gui → Wido Guillaume → Wilhelm Gurney, Jason, Autor († 1973) 303 Hariold, Kg. v. Dänemark (819–823) 330 Heccard, frk. Gf. in Burgund (st. Mitte d. 830er Jahre) 350 Heinrich I., ostfrk. Kg. (918–936) 275, 277f., 285, 288, 296, 411 Heinrich d. Löwe, Hz. v. Sachsen (1142–1180) u. Bayern (st. 1156, † 1195) 154 Herbert, Gf. (9. Jh.) 392 Hermann d. Lahme, M. im Kl. Reichenau († 1054) 411 Hieronymus Bosch, niederl. Maler († 1516) 146 Hildegard, Kg.in, Gem. Karls d. Gr. († 784) 388 Hiltrud, Hg.in v. Bayern († 754) 390 Hitler, Adolf, Diktator († 1945) 426 Homer, griech. Dichter (7./8. Jh. v. Chr.) 74 Hrabanus Maurus, A. v. Fulda, Erzbf. v. Mainz († 856) 385 Hruotgang, Bf. v. Metz (c. 742–766) 389 Hugo, Bf. v. Rouen, A. v. Saint-Wandrille (725–732?), Enkel Pippins d. Mittleren 341 Hugo (Hugues) (9. Jh.) 392 Ibn Baṣṣāl, arab. Agrarschriftsteller (M. 11.–Anf. 12. Jh.) 248f. Ibn Battūta, Jurist u. Reisender († 1368 oder 1377) 54 Ibn Wāfid, arab. Agrarschriftsteller († 1074/1075) 248 Ingoramnus, Gf. (8. Jh.) 389 Jean de Mandeville, Armchairtraveller u. Schriftsteller (1357–1371) 59 Johanna, vermeintliche Päpstin 157 Jordanes, Gesch.schr. († 552) 374, 387 Karl d. Große, frk. Kg. (768–814) u. Ks. (st. 800) 139, 154f., 263f., 280, 291, 294f., 340, 347, 350, 353f., 361, 386, 388

Karl d. Kahle, westfrk. Kg. (843–877) u. Ks. (st. 875) 359, 381, 385 Karl IV., dt. Kg. u. Ks. (1346–1378) 272 Karl, frk. Mit-Kg., S. Karl d. Gr. (788–811) 390 Karl, Kg. v. Burgund-Provence (855–863) 392 Karl Martell, frk. Hausm. (717–741) 374, 382, 389 Karlmann (Carloman), frk. Kg. (768–771) 390 Karlmann, Hausm. (741–747) 390 Knopp, Guido, Journalist 173 Konrad, Hz. v. Transjuranien (870–878) 389 Kracht, Christian, Schriftsteller 145, 146 Kunigunde, röm.-dt. Kg.in u. Ks.in († 1033) 89 Lancelot, Ritter in Artusromanen 121 Landricus, A. v. Jumièges (787) 342 Leclerc, Max, Herausgeber († 1932) 105 Lenin, Wladimir Iljitsch (1870–1924), russ. Diktator 285 Leo IX., P. (1049–1054) 136 Liutprand, Bf. v. Cremona († 972) 411 Liutprand, Kg. d. Langobarden (712–744) 374 Lothar I., frk. Kg. u. Ks. (Mittelreich) (843–855) 262, 264, 290–293, 381, 392 Lothar II., frk. Kg. v. Lotharingien (855–869) 350, 392 Lucas v. Tuy, Gesch.schr. († 1249) 305 Ludwig d. Blinde, Kg. v. Provence (887–928) 392 Ludwig d. Deutsche, ostfrk. Kg. (843–876) 263, 265, 295, 350 Ludwig d. Fromme, frk. Kg. u. Ks. (814–840) 294, 341, 359, 361, 381, 388 Ludwig d. Kind, ostfrk. Kg (900–911) 392 Ludwig II., Kg. v. Italien u. Ks., S. Lothars I. (845–875) 392 Mann, Thomas, Schriftsteller (†1955) 143f., 146 Marco Polo, Reisender († 1324) 54 Niehof, Franz, Kurator 154 Nithard, frk. Gesch.schr. († 845) 264, 381 Novalis, Friedrich von Hardenberg, Romantiker († 1801) 144 Odo (Eudes), westfrk. Kg. (888–898) 389

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Ortega Smith, Javier, Generalsekretär der Partei Vox (st. 2016) 299 Ortega y Gasset, José, Philosoph († 1955) 310 Otto I., ostfrk. Kg. u. Ks. (936–973) 154, 278 Otto IV., dt. Kg. (1198–1218) u. Ks. (st. 1209) 154 Paulus Diaconus, Gesch.schr. († c. 799) 374 Philippe Auguste, Kg. v. Frankreich (1180– 1223) 136 Pippin d. Bucklige, S. Karls d. Gr. († 811) 390 Pippin d. Jüngere, frk. Hausmeier (740–751) u. Kg. (751–768) 348, 354, 374, 388, 390 Pippin d. Mittlere, frk. Hausmeier (688–714) 341, 388, 390 Pippin, Kg v. Italien, S. Karls d. Gr. (781–810) 392 Pippin, Gf. (9. Jh.) 392 Plato, griech. Philosoph († 348/347 v. Chr.) 380 Prokop v. Caesarea, Gesch.schr. († um 560) 208 Prudentius, Bf. v. Troyes u. Gesch.schr. (843–861) 264 Rabban Bar Ṣaumā, M. († 1294) 57 Ratharius, frk. Gf. 342 Regino, A. v. Prüm, Gesch.schr. († 915) 389, 392, 411 Richard, frk. Gf. (erw. 787) 342 Robert d. Tapfere, Mkgf. v. Neustrien († 866) 389 Rodrigo Jiménez de Rada, Ebf. v. Toledo (1208–1247) 305 Rudolf I., Kg. v. Hochburgund (888–912) 389 Rudolf v. Fulda, frk. Gesch.schr. († 865) 264 Ruricius, Bf. v. Limoges (485–c. 507) 382 Saladin, Sultan v. Ägypten (1171–1193) u. Syrien (1174–1193) 116 Sidonius Apollinaris, Bf. v. Clermont (469/470– 479/488) 382 Siegfried, Anita, Schriftstellerin 159 Sigebert v. Gembloux, Gesch.schr. († 1112) 375

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Siginand, Pr., Inhaber d. Nonnenkl. Süsteren (erw. 895) 350 Stalin, Josef Wissarionowitsch, russ. Diktator († 1953) 270, 285 Stephan (Étienne) II., P. (752–757) 388 Tassilo III., Hz. v. Bayern (748–788) 330, 353f., 390 Teutsindus, A. v. Saint-Wandrille (734/735–743) 341, 342 Thegan, Biograph Ludwigs d. Frommen († 849/853) 388 Theoderich, Bf. v. Verdun (1046/1047–1089) 352 Theoderich, ostgot. Kg. (493–526) 374 Theudoald, Hausm. v. Neustrien (714) 390 Theutberga, frk. Kg.in, Gem. Lothars II. (†875) 349 Thierry → Dietrich Thietmar, Bf. v. Merseburg († 1018) 411 Tolkien, J. R. R., Romanautor 158 Ulrich, Bf. v. Augsburg († 973) 411 Walter von der Vogelweide, Minnesänger († 1230) 146 Wido v. Spoleto, Kg. v. Italien u. Ks. (889–894) 390 Widukind, M. im Kl. Corvey († nach 973) 411 Wilhelm v. Gellone, Gf. v. Toulouse (790–806) 386 Wilhelm, Gf. d. Auvergne, Hz. v. Aquitanien (886–918) 386 Wilhelm (Guillaume) († 849) 385 Wipo, Gesch.schr. († nach 1046) 89, 411 Witlaicus, A. v. Saint-Wandrille (754?–787) 341f. Wortmann, Sönke, Filmregisseur 157 Zenon, oström. Ks. (476–491) 374 Zwentibold, Kg. v. Lotharingien (895–900) 390

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3. Sachregister (bearbeitet von den Autorinnen und Autoren sowie vom Herausgeber) In das Sachregister aufgenommen sind Sachverhalte, die für mediävistische Kontroversen oder für den jeweiligen Beitrag zentral sind, soweit etwas Substanzielles darüber ausgesagt wird (beispielsweise Mediävistik dort, wo deren Charakter, Leistung oder Stand etc. behandelt wird, und nicht, wo der Begriff lediglich erwähnt wird). Abendland → Europa Abt, Äbtissin, Abtei (Kloster) 333, 340–343, 352, 358f., → a. Amt, → a. Register der Personennamen Adel, Adelsherrschaft 17, 91, 162, 228, 263, 278f., 287f., 290, 295, 328, 418, 422 Adel oder Oberschicht? 17 admixture (ethnische Vermischung) 186f., 189, 192f., 199, 205, 211 Ägypten 235, 238, 243f., 248, 250, 253, → a. Quseir al-Qadim Afro-Eurasien 58, 70, 73 Agrartechnik, Agrarwirtschaft 237f. seasonal cultivation 234f., 237f. Agrégation 129, 133–135 Agronomen (arabische) 235f., 248–250 Aktualität des Mittelalters → Mittelalter al-Andalus 233, 236, 239–242, 246, 248–250, 254, 301, 308 Alanen 210 Alltag, Alltagsgeschichte, Lebensformen 19f., 21f., 207 Alterität des Mittelalters → Mittelalter Alteuropa 74, 416 Ambiguität, Ambivalenz 151, 153, 156, 174, 307, 320, 326, 393 Amt (allgemein) 347, 353, 355–361, 418 Amtsbelehnung, Amtsbeleihung, „Bestallung“, Investitur 355–358, 360 Amtsgut 356f., 359 An mil → mutation ancestry, ancêtres → Vorfahren Angelsachsen 77, 105, 183f., 188, 197f., 432, 441 Annales („Schule“ der Annales) 14f., 103–142, 213f., 312, 364, 401, 403, 414f. Anfänge, Gründergeneration 113–115, 124–127

Kritische Wende (tournant critique) 1989 104, 111, 113, 130 Anthropologie, Historische Anthropologie 15, 112, 116, 129, 130, 133, 181, 200, 363–366, 378–381, 440 Antike (Epoche) 45, 143, 152, 153, 162, 163, 167, 168, 334, 395, 397 Arabischer (kultureller) Einfluss (in Spanien) 233–255 Arabisierung der spanischen Landwirtschaft 233–255 arcaduces (Keramik) 241f. Archäobotanik 245–251, 252–254 Archäogenetik 178–193, 199, 201f., 204f., 212 Zusammenarbeit mit der Geschichtswissenschaft 201–212 Archäologie 34, 117–120, 130, 179f., 187, 190, 201–203, 206f., 210–212, 237, 240f., 245f., 251f., 397, → a. Archäobotanik Archäologie und Geschichtswissenschaft 179f. Area Studies 216 Arianismus 439 Awaren 205, 210f., 439 Barbaren 369, 425–442 Baskenland 300–304 Bauern 162, 240, 242f., 254f., 258f., 264, 278, 280, 284, 285f., 399, 401, 419 bäuerliches Eigengut 234, 255 beneficium, Benefizium/Benefizien 329, 331f., 334–337, 340, 342–349, 352–357, 359f., 400 beneficiare, Benefiziar 335, 338, 348, 354f. ius, ius beneficii 338, 341 ius beneficiarum 338 ius prestarium, ius precarii/precarium, ius precarii ac beneficii 339, 342, 339, 340 usus beneficii 350

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Berber 240, 242 Bestallung → Amtsbelehnung Bevölkerung, Bevölkerungsentwicklung 178, 186f., 202–204, 210f. Bevölkerungsvermischung → admixture Bewässerung, Bewässerungssysteme 234, 238–242, 254 Bischof, Bistum 333, 350, 352, 359, 441, → a. Amt, → a. Register der Personennamen Black-Lives-Matter-Bewegung 218f., 223 Briefliteratur 170, 229 Bulgaren 210 Burgen 401, 403 Burgherren 399, 419 Byzanz 62, 109, 135, 236, 238, 244, 431–436 calender → Kalender Cancel-Culture 77 Canossa → Investiturstreit carrière → Werdegang Christen, Christentum 41, 149, 155, 162–164, 234, 246, 254, 300f., 303, 305–308, 310–312, 318–320, 363, 370, 372, 376, 383, 425f., 428, 434, 441 Chronologie 108, 118f., 134f., 169f., 212, 239, 243, 368–370, 393 ‚Clash of Civilisations‘ 316 Codex Iustinianus 438 Codex Theodosianus 438 Collegno (Gräberfeld) 189 ‚Conquista‘ 311, 321 Conseil national des universités (CNU) 118f. Convenientia 400 ‚Convivencia‘ 301 Covadonga (Schlacht 718) 300, 306 Critical Race Theory 28f., 73f., 200f., 217–219, 222f., 229, 241, 248 cultivation → Agrartechnik ‚cultural turn‘ 22, 24f., 214f. cursus honorum → Karriere Demokratismus 148 Deutungskonflikte (zwischen Geistes- und Naturwissenschaften) 177–180, 192, 194, 199–201, 212 Dienste und Abgaben (Zins) 259, 329f., 343f.

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Digitalisierung, ‚digital turn‘, Digital humanities 23, 26f., 60, 76, 179, 215 Diplomatik 169f. Dis:konnektivität 61 Diskriminierung 79, 217 Diversität 106, 217, 219, 225–227 DNA, DNA-Analysen 34, 177, 182–189, 191, 193f., 199, 202, 204, 210, 435, 437, 440 Ecclesia → Kirche École des hautes études en sciences sociales → EHESS Ehe → Familie, Verwandtschaft EHESS (École des hautes études en sciences sociales) 104f., 107f., 110, 119f. Eid 332, 359, 399f. Eigengut (Allod) 345, 350, 401 Eigenkirche 36 Einbildungskraft (imagination), Originalität 121, 124f., 127, 128, 129, 131, 139, 140f. Eliten- und Volkskultur 17, 24, 31, 157, 174 Emotionsforschung 32 Endzeiterwartung 36 Englisch: Dominanz des Englischen 76 Environment → Umwelt Epigraphik 169 Epoche, Epochengrenzen → unter Mittelalter (Mittelalter als Epoche) Erinnerungsgeschichte, Erinnerungskulturen, kulturelles Gedächtnis 24, 32f., 72–74, 158, 170, 200 Ethnogenese, Ethnizität 39f., 40, 64, 66f., 181, 191, 197f., 204f., 379, 429, 435, 439, → a. Volk, Völker Eufrasisches Zeitalter 75 Europa, Europäisierung, Abendland 53, 55, 64, 66–68, 72, 148f., 151f., 154–156, 162–166, 168, 216 European Science Foundation (ESF) 430f. Eurozentrismus 25f., 28f., 34, 52f., 65, 67, 71f., 74f., 77, 165f., 201, 215f., 220 Familie, Verwandtschaft 18, 67, 137, 178, 186, 188, 195, 198, 203, 205f. , 363–394 Adoption 373f. Affinité/alliance 375, 389

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agnatische/kognatische V. 18, 365, 369f., 392 Amitié, amour 367, 370, 374–376, 385, 393 Begrifflichkeit 364–367, 383, 393 biologische V. 373, 382 Blutsv. (consanguinité) 375, 389 Ehe 91f., 137, 367f., 373–375 Erbfolge 372, 384f., 389f. „Familiarisierung“/„Entfamiliarisierung“ (parentélisation/déparentélisation) 365–373, 393 Formen der V. 373–378 Fraternité, Paternité 372f., 377 Genealogie 386–392 Geschlecht (lignage) 365f., 369f., 372, 388 Historisierung der V. 364 Legitimität/Illégitimität 373f., 390, 392 leibliche V. 368, 374–378, 381–386, 393 parenté nourricière 374 Patenschaft, geistliche V. 368, 376–378, 381–386, 393 Parentélisation/déparentélisation 367–373 patrilinéarité → Geschlecht Patronat (parrainage) 375, 377f., 389 Sippe 39, 206, 366 V. als Gesellschaftsmodell 365–373 Fehde 416, 420 Feministische Geschichtswissenschaft → Geschichtswissenschaft Fernhandel, Handelsreisen 54–57 Feudalismus, feudal system, Feudalismusdiskussion 41, 69, 162, 216, 258–260, 270, 279–284, 287f., 295f., 310–312, 323f., 326, 328, 356, 396, 403f., 406, 408–410, 412 Fortschrittsidee 150, 152 Franco-Ära (1939-1975) 303f., 309–312 Franken 154f., 210, 333 Frauen 117, 122 Frauen- und Geschlechtergeschichte 19–21, 79–102, 117, 206f., 226 , 392 gender und sex 86, 99, 198 ‚doing gender‘ 86f., 101 Geschlecht als mittelalterliche Kategorie 87f., 93, 100f. Königinnen 88–90 Männlichkeit, Männerforschung 94–97, 101 Männlichkeit und Weiblichkeit 86, 92, 103

Öffentlichkeit – Privatheit 93f., 101, 402, 415f., 418f., 423 Queer Studies 97–102 Wandlungen der Stellung der Frau 91–93 Freie und Unfreie 265, 284, 294, 330, 399 Frontières → Grenzforschung, Raum, Territorium Früchte → Pflanzen Fußnoten (notes de bas de page) 125 Geistes- und Naturwissenschaften 179 Gen(om)analysen → DNA-Analysen Genealogie 169, 378, 381, 387–392 Genetik 177f., 180–185, 188f., 193f., 196–206, → a. Archäogenetik Geographie 106, 108, 116, 117, 129 Gepiden 210 Gerichtsbarkeit 399f., 403, 422 Geschichte der Rhythmen 33 Geschichtsbild, Geschichtsbildforschung 24, 32f., 267, 280 Geschichtsdidaktik 164 Geschichtskultur 46, 143–145, 153, 156, 160, 168, 173f. Geschichtsschreibung → Historiographie Geschichtstheorie, Theorie der Geschichtswissenschaft 16, 231 Geschichtswissenschaft: → a. Anthropologie, Area Studies, Emotionsforschung, Erinnerungsgeschichte, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Geschichte der Rhythmen, Geschichtsdidaktik, Geschichtstheorie, Globalgeschichte, Historische Sozialwissenschaft, Körpergeschichte, Kulturgeschichte, Landesgeschichte, Marxismus, Memorik, Mentalitätsgeschichte, Mikrogeschichte, Militärgeschichte, Rechtsgeschichte, Strukturgeschichte, Verfassungsgeschichte, Vergleichsgeschichte, Vorstellungsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte Eigenarten, Wandel 8–12, 15f., 22–24, 28, 30, 46, 73, 100, 213f., Feministische Geschichtswissenschaft 19f., 28, 80f. Geschichtswissenschaft der DDR 275–297

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Geschlecht, gender 198, 203, 206f., 211, 221f., 226 Geschlechtergeschichte → Frauen- und Geschlechtergeschichte Gesellschaft, Gesellschaftsordnung 16–18, 62f., 65f., 147, 217, 265f., 279f., 283, 368, 378, 399, 403, 415, 417, 429f.. 435f., 441 Gesellschaftswandel → mutation de l’an mil Getreue (fideles) 332, 352 Gewalt 87, 299–322, 399f., 402–405, 416, 419f., 423 öffentliche Gewalt, Zentralgewalt 263, 358, 402f., 418f. Gewohnheitsrecht, Rechtsgewohnheiten 39 Globalgeschichte, ‚global turn‘ 23, 25f., 51–78, 166, 214f., 217, 222 Globalität, Globalisierung, Globality, Globalisms, Globalisten 60 , 77 Proto-Globalisierung 71 Goten, West-/Ostgoten 210, 305, 387, 429, 432f., 438f. Gottesfrieden 400 Graf, Grafschaft 264, 333, 353, 355–360, 399, 422, → a. Amt, → a. Register der Personennamen Great Diversification, First Great Divergensce 68 ‚Green Revolution‘ 233–255 Gregorianische Reform → Kirchenreform Grenzforschung (frontier studies) 312f. Grundherrschaft 18f., 56, 287, 422, 429f., 455 seigneurie banale, seigneurie foncière 399, 419, 429f. guerra santa → Heiliger Krieg Handgang → Kommendation Heer, Heeresverfassung 330f., 333 Heiliger Krieg („guerra santa“) 317f., 321 Heraldik 169 Herrschaft 37f., 69, 155, 418f., 422 Heruler 189, 210 Herzog, Herzogtum 40, 277f., 353–355, → a. Amt, → a. Register der Personennamen Hilfswissenschaften 169, 202 HistoGenes (Forschungsprojekt) 209–212 Histoire comparée → Vergleichsgeschichte

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Histoire croisée 111, 224 ‚Historikerstreit‘ 10 Historikertag 7, 10, 93, 417 Historiographie (mittelalterliche) 89, 411, 441 Historische Anthropologie → Anthropologie Historische Sozialwissenschaft 16 Historischer Materialismus 261, 265f., 268, 273, 275, 412 Historismus 11, 213 hostilicium (Heeresabgabe in Naturalien und/ oder Geld) 344 Humanismus (als Bildungsideal und als Epoche), Humanisten 141, 148, 151, 153, 168, 257 Hunnen 194, 199, 210 Iberia → Spanien Identität, Identitätsforschung, identités relationnelles 40, 74, 154–156, 165f., 173, 178, 181, 194f., 198–200, 213, 229, 368f., 379f., 383–386, 389, 392–394, 439f. Immunität 422 Imperium Romanum → Römisches Reich Individuum, Individualismus 37, 148f., 214, 379 Interdisziplinarität, Transdisziplinarität 33f., 112, 115, 121, 170, 197, 202, 205 Interkulturelle Beziehungen 26, 53–61, 68f., 72, 166 International Medieval Congress in Leeds (IMC) 53, 217 Intersektionalität 88, 101, 217 Investiturstreit 12f., 407 Irak 233, 238, 242, 244, 251, 254 irrigation → Bewässerung Islam 116, 134f. Islamismus, islamischer Terrorismus 301, 316, 318, 322 Islamwissenschaften 320 Isotopen (stabile) 252f. Italien 57, 189f., 400, 407f., 420 ius beneficii u.ä. → unter beneficium Kaiserpolitik → Sybel-Sickel-Kontroverse Kalendar von Córdoba 236, 249 Kapitalismus 216 Karolinger 330f., 355, 361, 370, 387, 389f., 399, 401f., 406, 410, 413, 418f.

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Katalonien 300–304, 400f., 411 kinship → Verwandtschaft Kirche, ecclesia 136–138, 370, 406–408, 423 Kirchenreform, gregorianische Reform (réforme grégorienne) 136–140, 393, 420, → a. Investiturstreit Kirchenväter 428, 437, 441f. Klassenkampf 257, 259f., 279, 284, 294f. Klima, Klimawandel 62f., 65, 180, 202f. König, Königtum, Königsherrschaft 277f., 285, 287f., 325, 332–334, 348–350, 353–362 Königinnen → Frauen- und Geschlechtergeschichte ‚Königsfreie‘ 421 Kommendation 329, 332, 340, 353 Kommune → Stadt Kommunismus → Sozialismus Komparatistik → Vergleichsgeschichte Konflikte 31, 403f., 409, 419 zwischen Christen und Muslimen 307, 312, 317f. Konkubinat 373f. Kontingenz 33f. Kontroversen, debates 10, 46–48, 296f., 393f., 396f. (und passim) Geschichte der K. 10–14 Entstehungsursachen 46f. Erforschungskriterien 47f. Körpergeschichte 97–99, 102 Kreuzzüge, Kreuzzugsforschung 302f., 309, 315–317, 323f., 331, 337–340 Kriegsgeschichte → Militärgeschichte Kulturaustausch, Kulturtransfer 77, 167, 215 Kulturelles Gedächtnis, cultural memory → Erinnerungskulturen Kulturgeschichte, Kulturwissenschaft 11, 19, 21, 24f. Kulturkampf 13 Kulturraum 165f., 168 Kutriguren 210 Kyffhäuser 148 labour → Landarbeit Lamprechtstreit 11f. Landarbeit 234, 238, 243 Landesgeschichte 35

Landleihe → Leihe Landwirtschaft in Spanien 233–255 Langobarden 189f., 203, 210 Lehen, Lehnswesen, Lehnsrecht 36, 69, 162, 323–339, 344, 346–349, 352–357, 360, 408, 421, → a. Feudalismus Lehnsauftragung 327, 337 Lehnsherr, Lehnsmann 329, 332f., 346 Lehrbuch der deutschen Geschichte (DDR) 270f., 273f., 277, 285f. Leihe, Landleihe, Leihegut, Leiherecht 286, 331f., 334–345, 347, 349, 352f., 355f., 359, 408, 421 Leihgeber, Leihnehmer 335f., 337f., 343–350, 348f., 351f. Liberalismus, liberale Kreise 148, 301, 307 ‚linguistic turn‘ 22–24, 366 Livres mémoriaux → Verbrüderungsbücher Longue durée 110, 112, 133 Lournand (bei Cluny) 397 Mâconnais 400, 402f., 408 Mai 68 → Studentenrevolte Makro-Vergleiche, Makrohistorie, Makroebene 62, 66f., 203 Männergeschichte, Männlichkeit 94–97 Mannschaft → Kommendation Marxismus, marxistische Geschichtswissenschaft 41, 106, 136, 214, 275–297, 312, 412 Materialismus → Historischer Materialismus Mathematik → Statistik Mauriner (Benediktinerorden) 169 Mediävistik 8–11, 14–16, 19, 27f., 30, 33–35, 38f., 41–48, 72, 84, 97f., 102, 143, 148, 153, 164, 169f., 173f., 177, 216f., 220f., 227, 295, 395f. Mediävistik in Frankreich 103–142 medievalism → Mittelalterrezeption Medievalists of Color 73 Mediterrane Gesellschaft, Mediterranean Society 59, 234–255 Memorialkultur → Erinnerungskulturen Memorik 33 Menschheit: Entwicklung 183, 192 Mentalitäten, Mentalitätsgeschichte 15, 110, 112, 121, 129, 130, 170

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Methoden, Methodik (méthodisme), Erkenntnistheorie (épistémologie) 103, 111, 123–131, 140f. Middle Millennium 75 Migration 52, 57f., 62, 177f., 184, 186f., 189, 192f., 195–197, 202, 204f., 210f., 227, 239, 393, 429f., 435f. Migrationshintergrund 222 Mikrogeschichte des Globalen, Mikroebene, Mikroregionen 65f., 203, 211, 237, 241, 293f. miles 332, 337, 400 Militärgeschichte 314f., 317f., 330–333 Ministerialität 422 Mittelalter: Aktualität des M. 42–45, 147, 163, 172 Alterität des M. 41–45, 93, 99, 143–175, 216–218, 227–229, 246, 415 Mittelalter als Epoche 45f., 51, 74f., 107, 143–148, 150–156, 158f., 161–169, 171f., 174–179, 186, 189f., 333, 395, → a. Periodisierung Mittelalter und Moderne 44, 54f., 64, 97, 156, 228, 415, → a. Moderne Mittelalterausstellungen 22, 154f., 159f., 173 Mittelalterbild(er) 42f., 143–149, 156–160, 174f. ‚Mittelalter-Boom‘ 42, 154 Mittelalterrezeption, medievalism 42f., 77, 118, 121, 380, 382 Relevanz des Mittelalters 41f., 45, , 47, 147, 156, 168 Mobilität 56, 77 Moderne, Modernität (auch als Gegensatz zum Mittelalter) 38, 44, 55, 64, 74f., 87, 97, 101, 107f., 110, 114, 118, 120, 147–149, 152f., 156, 165, 168f., 171–173, 217, 220, 228, 255, 310, 415, 439, 441, → a. Neuzeit, Mittelalter und Moderne Modernisierungstheorie 214 Museum für Deutsche Geschichte 258f. Mutation de l’an mil 36, 129, 134, 136, 140, 395–423, 435–456 Nachfolgestaaten des Römischen Reichs → Römisches Reich Namengebung (anthroponymie) 368f., 374

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Nationen, Nationalismus, Nationalismen 40, 72f., 77, 166, 198f., 214, 299–304, 320f. Nationalsozialismus 416, 421 ‚native truths‘ 200 Netzwerke (réseaux) 103, 107–110, 122, 128, 377 Netzwerkforschungen 39 ‚Neue deutsche Verfassungsgeschichte‘ 37f., 362, 364, 414f., 417–421 Neuzeit (Epoche) 45, 52, 95, 99, 143, 148–150, 152f., 156, 159, 162f., 168, 174, 257, → a. Moderne Neuzeit-Geschichtswissenschaft 40f., 61, 327, 335 Niederstotzingen (Gräberfeld) 188 Nießbrauch → Nutzung Normannen 285 Noumenon (philos. Begriff von I. Kant) 145, 174 Nouvelle histoire 104, 111f., 130, 132f. Nutzung, Nutzungsrecht, Nießbrauch, Nießbrauchsrecht 335, 338f., 342, 345f., 349–352 Oakington (Gräberfeld) 198 Öffentlichkeit – Privatheit 93f., 101, 399, 402f., 415f., 418f., 423, → a. unter Frauen- u. Geschlechtergeschichte Originalität → Einbildungskraft Otherness 53, 217 Ottonen 265, 285, 409–411, 418 Pächter, Pachtvertrag 286, 335, 346 Paläographie 169 Pandemien → Seuchen Pannonien 189 Patristic Age → Kirchenväter peasants → Bauern ‚performative turn‘ 22 Periodisierung, Periodisierungsfragen 106–110, 112, 115, 118–120, 134–136, 140, 284f., 294, 301, 307, 410f., 421f., → a. Mittelalter als Epoche ‚Personenverbandsstaat‘ 39, 368, 421f. Pflanzen, Pflanzenanbau, Nutzpflanzen, Früchte 233–255 Artischocken 234–236, 249f. Auberginen 249f.

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Bananen 249f. Baumwolle 238, 246f. cotton → Baumwolle Mango 237, 250 Palmen (Kokosp.) 237, 250 Reis 238, 244, 252 sorghum 234–236, 238, 243f., 252f. Spinat 234, 250 Zuckerrohr 246, 252, 253 taro 235, 249 Wassermelonen 238, 248f. Weizen, Hartweizen 234f., 244–246 Zitrusfrüchte 235f., 238, 247–249, 254 Plague → Seuchen plants → Pflanzen Polyptycha (Urbare) 35, 343, 353 Populationen 182, 185f., 195, 234, 240, 242, 244, 252, 253, 378, 426 Positivismus 125, 129, 142 Postcolonial Studies 28f., 73f., 215–220, 224, 227f. Postmoderne 23, 97, 146f., 156f., 165 Prästarie 343, 345, 347 Prekarie, precaria 335–353, 361 precaria lex, mos precarius 338f., 350 Prekator, Prekatorin 337, 339, 345–350 Prosopographie 441 Queer Studies → unter Frauen. u. Geschlechtergeschichte Quellengattungen 35 Quseir al-Qadim (ägypt. Hafen) 246–250 Randgruppenprobleme 17 ‚Rasse‘, Rassismus 29, 73, 77, 88, 181, 217–219, 222f., 225–229 Rationalismus 137f., 148 Raum 22, 53, 63, 65, 161f., 312, 368–373, → a. spatial turn, Territorium Rechtsgeschichte 39, 419 Rechtspopulismus 299–304, 320f. Reconquista 41, 299–322 Reformation 156, 441 Regionalisten 77 ‚Reichskirchensystem‘ 36 Relativierung, Relativismus 25f., 28, 77, 111, 131–133, 141f., 312

Relevanz des Mittelalters → Mittelalter Religionsforschung 41, 434 Religiosität, religiöse Legitimierung 148f., 158, 312, 318, 321 Renaissance 41, 67, 118, 149, 153 Re-Nationalisierung 77 réseau, relations → Netzwerke Restauration 305f., 308, 311, 321 Rezensionen (Comptes rendus) 106, 109, 121–123 Richtungskämpfe, Richtungsstreit 22, 89 Ritter 95, 349, 352, 399f. Ritterorden, Ritterordensforschung 314 Rituale, Symbolik 31f., 170, 368, 380 Römisches Reich, Imperium Romanum, Roman Empire 425–442 Ende des Römisches Reichs (Debatte) 180, 202f., 207, 425–442 Nachfolgestaaten des Römischen Reichs 436–438, 441f. Transformation des Römischen Reichs 45, 202, 371, 425–442 Rugier 210 Salier 154, 409, 411 Sarmaten 199, 210 Savigny-Stiftung 438 Schriftlichkeit und Mündlichkeit 24, 30f., 70, 137 SED 257, 261, 270–272, 275, 281f. Seigneurie banale, seigneurie foncière → Grundherrschaft Separatismus 300–304 Seuchen, Pest 41, 64, 178, 180, 202, 207f., 435–437 Sizilien 244, 247, 250 Sklaverei 220–222, 224–227, 257, 279, 397 Slawen 204, 210, 282f. Société des historiens médiévistes de l’enseignement supérieur public (SHMESP) 107, 116, 117, 118, 127, 128 Sonderweg Europas, ‚deutscher Sonderweg‘, ‚spanischer Sonderweg‘ 67, 280, 286, 308 Soziale/globale Ungleichheiten 88, 215, 221f., 226f.

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Sozialer Wandel 36, 399, 401, 403–406, 409, 411, 421, → a. Transformationen Sozialismus 257, 271, 303 Soziologie 12, 16f., 106, 115f., 363, 364, 367, 393, 418 ‚spatial turn‘ 22, 368 Spanien, Iberien 233–255, 299–322, 400, → a. al-Andalus Spanischer Befreiungskrieg 306 Spanischer Bürgerkrieg 302–307 spatialisation du social → Raum Sphragistik 169 Spoleto, Centro Italiano di Studi sull’alto medioevo 408, 438 Staat und Staatlichkeit 37f., 356, 362, 415f., 418 Stadt 41, 406–408, 420 Stände, Ständegesellschaft 17, 162, 228 Statistik, statistische Methoden 110f. Staufer 148, 154f. Stellingaaufstand 257–297 Strukturalismus 129, 133, 141 Strukturgeschichte 11, 17, 168 Studentenrevolte (Mai 68) 111, 129f., 133, 214 Successor States → Nachfolgestaates des Römischen Reichs Sueben 189, 210 Sybel-Ficker-Kontroverse 13, 147 Symbolische (nonverbale) Kommunikation 31, 170 Szólád (Gräberfeld) 189 ‚Temple society‘ 371 Territorialisierung 423 Territorium 138–140 Theodosian Code → Codex Theodosianus Transdisziplinarität → Interdisziplinarität „Transformation of the Roman World“ (ESF-Projekt) 45, 119, 203, 430–432, 434, 437f., 440 Transformationen 62–65, 68, 74, 93, 167f., 384, 398, 406, 421 Treue (fidélité) 39, 352, 359, 367, 416, 419 ‚Turns‘ 22–27, 213 Übersetzungsprobleme 236f.

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Umwelt, Umweltkatastrophen 179f., 202, 435, 437, 439f., 442 Unfreie → Freie Ungarn 184, 198, 285 Ungleichheiten → Soziale Ungleichheiten Urkunden 400, 403, 411 Usufrukt, usus fructuarius → Nutzung Vandalen 210 Vasallen, Vasallität, vasallitisch 329–333, 336– 338, 340, 347, 349, 350, 352–356, 358–362, 367, 370, 376, 408 Verbrüderungsbücher 367, 387 Verdun (Vertrag 843) 262f., 265f., 296 Verfassungsgeschichte 414, 417, 419–421, 423 Vergleichsgeschichte, Komparatistik 15, 26, 66–71, 106, 112, 115, 120f., 155 Verwandtschaft → Familie Volk, Völker 182, 184f., 195, 197f., 202–206, 213, 297f. Völkerwanderung 64, 193, 195, 227, 393, 428, 434, → a. Migration Vorfahren 178, 183, 186, 195, 198f., 204, 207, 372, 383, 385, 390 Vormoderne 45f., 74, 144, 148, 150, 158, 164f., → a. Epochengrenzen/Periodisierung Vorstellungsgeschichte 28, 320–322 Vox (span. Partei) 299–304, 321f. Wahrheitskriterium (vérité) 123, 126, 131–133, 141f., 200, 267 Wandel → Sozialer Wandel, Transformationen 36, 399, 401, 403–406, 409, 411, 421 Werdegang (wissenschaftlicher), carrière 112, 118, 122–124, 126f., 129f., 135, 141f. Wirtschaft, Wirtschaftsgeschichte 56, 397, 407 Yemen 240, 250 Yersinia pestis → Seuchen Zeitgeist 46, 153, 175 Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie 282 Zins, Zinsleihe, Zinsrecht, Prekariezins 336, 338f., 342f., 347f. → a. Prekarie Zweiter Weltkrieg 413f.

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