Systematische Theologie: Ethik: Eine christliche Theorie vorzuziehenden Handelns 9783825237486, 3825237486

In der Reihe "Basiswissen Theologie und Religionswissenschaft" erscheinen knapp zusammenfassende Überblicksbän

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Table of contents :
Systematische Theologie: Ethik
Systematische Theologie: Ethik
Inhalt
1. Einleitung
2. Handeln
2.1 Handeln und Ereignisse
2.2 Ein relationaler Handlungsbegriff
3. Ethik
3.1 Ethik als Theorie vorzüglichen Handelns
3.2 Systematische Theologie
3.3 Ethik und Systematische Theologie
3.4 Theologische Ethik und Urteilsbildung
3.5 Aspekte der Ethik
4. Das Gute und die Natur
4.1 Natürliche Ethiken
4.1.1 Das Gute, Wahre und Schöne
4.1.2 Naturrecht
4.1.3 Schöpfungsordnungen
4.2 Naturalistische Ethiken
4.3 Das Sein-Sollen-Problem und der naturalistische Fehlschluss
4.3.1 Das Sein-Sollen Problem
4.3.2 Der naturalistische Fehlschluss
4.4 Intuitionismus
4.5 Emotivismus und die Krise der Ethik
5. Das Gute und die Schöpfung
5.1 Der abstrakte Gottesbegriff
5.2 Der dreieinige Gott
5.3 Die Schöpfung der natürlichen Welt
5.4 Gibt es eine naturgegebene Einsicht des Guten?
5.4.1 Die Erhaltungsordnung
5.4.1.1 Bonhoeffers Mandatenlehre
5.4.1.2 Herms’ Interaktionsordnungen
5.4.1.3 Die Zwei-Regimenten-Lehre
5.4.2 Ein Vorausblick auf die Liebe
6. Regeln und Pflichten
6.1 Die Pflichtenethik Kants
6.2 Kritik der Pflichtenethik Kants
7. Liebe
7.1 Der Dekalog
7.2 Die Doppelregel der Liebe
7.3 Die Goldene Regel
7.4 Feindesliebe
7.5 Geschwisterliebe
7.6 Die Gebote der christlichen Ethik – eine Pflichtenethik?
7.7 Funktionalisierung und Hingabe
7.8 Der ordo amoris
8. Ziele und Werte
8.1 Ziel- und wertbasierte Ethiken
8.1.1 Utilitarismus
8.1.2 Schelers materiale Wertethik
8.1.3 Starke Wertungen
8.1.4 Werte und Wertungen
8.2 Das Reich Gottes und das höchste Gut
8.2.1 Das Reich Gottes auf Erden bei Schleiermacher
8.2.2 Richard Rothes Auffassung vom Reich Gottes
8.2.3 Mission als das höchste Gut
9. Erwartungen und Hoffnung
9.1 Technikfolgeabschätzung
9.2 Theologische Ethiken der Erwartungen
9.2.1 Das Reich Gottes, Erwartung und Hoffnung
9.2.2 Hoffnung in der „Black Theology“
9.2.3 Haltungen der Hoffnung
10. Folgen und Mittel
10.1 Verantwortungsethik
10.1.1 Verantwortungsethik bei Max Weber
10.1.2 Verantwortungsethik bei Hans Jonas
10.2 Verantwortung in christlicher Perspektive
10.2.1 Die Verantwortungsrelation
10.2.2 Die Verantwortung tragende Instanz
10.2.3 Die Objekte der Verantwortung
10.2.4 Externe Foren
10.2.5 Das Gewissen
10.2.5.1 Fehlbestimmungen des Gewissens
10.2.5.2 Das Gewissen als beurteilende Instanz
10.2.5.3 Das Gewissen als verantwortende Instanz
10.2.6 Maßstäbe ethischer Verantwortung
10.2.7 Verantwortungsethik und Ethik der Hoffnung
11. Gemeinschaft, Person und Tugend
11.1 Individualismus und Vertragstheorien
11.2 Diskursethiken
11.3 Kommunitarismus
11.4 Aristoteles’ Tugendethik
11.5 Theologische Tugendethiken
12. Personen
12.1 Personbegriffe
12.1.1 Personalität als Eigenschaft
12.1.2 Personalität und Subjektivität
12.1.3 Personalität und Geschichte
12.1.4 Personalität als Askription
12.1.5 Personalität als Beziehung
12.1.5.1 Historischer Hintergrund
12.1.5.2 Was ist eine Person?
12.1.5.3 Geschaffenes Personsein
12.1.5.4 Defizitäre relationale Personbegriffe
12.2 Vorschlag einer christlichen Tugendlehre
12.3 Charismen
13. Toleranz und die Religionen
13.1 Konsens
13.2 Probleme des Konsenses
13.3 Toleranz
13.4 Toleranzfähigkeit
Glossar
Literatur
Register
Abbildungsverzeichnis
Fazitfragen
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Systematische Theologie: Ethik: Eine christliche Theorie vorzuziehenden Handelns
 9783825237486, 3825237486

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3748

Der Band bietet eine Einführung in die Systematische Theologie als Ethik. Ausgehend vom Handlungsbegriff und seinen Aspekten werden verschiedene ethische Ansätze umfassend besprochen. Kennzeichen ist dabei immer der Bezug der theologischen Ethik auf die philosophische Ethik. Insgesamt wird eine Theorie vorzüglichen Handelns in christlicher Perspektive für die pluralistische Gesellschaft vorgeschlagen. Ziel ist es, nicht nur zu informieren, sondern an die für syste­ matisch-theologische Arbeit notwendigen Kompetenzen heranzuführen. Material-ethische Themen werden nur ausnahmsweise und als Beispiele für das vermittelte Basiswissen bereitgestellt.

Mühling Systematische Theologie: Ethik 

Theologie

www.utb.de

ISBN 978-3-8252-3748-6

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Markus Mühling Systematische Theologie: Ethik 

Vandenhoeck & Ruprecht 

Basiswissen Theologie und Religionswissenschaft Herausgegeben von Lukas Bormann

Markus Mühling

Systematische Theologie: Ethik Eine christliche Theorie vorzuziehenden Handelns

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. theol. Markus Mühling, Promotion an der Christiana-Albertina zu Kiel (Gott ist Liebe) und Habilitation an der Ruperto-Carola zu Heidelberg (Versöhnendes Handeln – Handeln in Versöhnung), ist Professor für Systematische Theologie und Wissenschaftskulturdialog an der Leuphana-Universität Lüneburg. Er hatte verschiedene Gastprofessuren inne, u.a. im Rahmen eines Heisenbergstipendiums am King’s College, Aberdeen (Schottland), und ist Fellow am Center of Theological Inquiry in Princeton (USA).

Mit 36 Abbildungen Umschlagabbildung: © Jessica Fleischer/Phillip Diestel

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: Ruhrstadt Medien AG, Castrop-Rauxel Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen UTB-Band-Nr. 3748 ISBN 978-3-8252-3748-6

Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

2. Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

2.1 Handeln und Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Ein relationaler Handlungsbegriff . . . . . . . . . . . .

12 18

3. Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Ethik als Theorie vorzüglichen Handelns . . . . . . Systematische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethik und Systematische Theologie . . . . . . . . . . . Theologische Ethik und Urteilsbildung . . . . . . . . Aspekte der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34 37 40 44 48

4. Das Gute und die Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

4.1 Natürliche Ethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Das Gute, Wahre und Schöne . . . . . . . . . . . 4.1.2 Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Schöpfungsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Naturalistische Ethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Das Sein-Sollen-Problem und der naturalistische Fehlschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Das Sein-Sollen Problem . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Deontische Logik und Modallogik . . . . . 4.3.2 Der naturalistische Fehlschluss . . . . . . . . . . 4.4 Intuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Emotivismus und die Krise der Ethik . . . . . . . . . .

55 57 62 67 73

5. Das Gute und die Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

5.1 5.2 5.3 5.4

Der abstrakte Gottesbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der dreieinige Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schöpfung der natürlichen Welt . . . . . . . . . . Gibt es eine naturgegebene Einsicht des Guten? . 5.4.1 Die Erhaltungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1.1 Bonhoeffers Mandatenlehre . . . . .

76 76 77 83 86 87

93 93 95 98 99 99

6

Inhalt

5.4.1.2 Herms’ Interaktionsordnungen . . . 5.4.1.3 Die Zwei-Regimenten-Lehre . . . . . 5.4.2 Ein Vorausblick auf die Liebe . . . . . . . . . . .

102 105 107

6. Regeln und Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

108

6.1 Die Pflichtenethik Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Kritik der Pflichtenethik Kants . . . . . . . . . . . . . . .

108 112

7. Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6

Der Dekalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Doppelregel der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Goldene Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feindesliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschwisterliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gebote der christlichen Ethik – eine Pflichtenethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Funktionalisierung und Hingabe . . . . . . . . . . . . . 7.8 Der ordo amoris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

116 120 133 134 135

8. Ziele und Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142

8.1 Ziel- und wertbasierte Ethiken . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Schelers materiale Wertethik . . . . . . . . . . . . 8.1.3 Starke Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4 Werte und Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Das Reich Gottes und das höchste Gut . . . . . . . . . 8.2.1 Das Reich Gottes auf Erden bei Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Richard Rothes Auffassung vom Reich Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Mission als das höchste Gut . . . . . . . . . . . .

142 142 147 151 154 156

161 163

9. Erwartungen und Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

168

9.1 Technikfolgeabschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Theologische Ethiken der Erwartungen . . . . . . . . 9.2.1 Das Reich Gottes, Erwartung und Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Hoffnung in der „Black Theology“ . . . . . . . 9.2.3 Haltungen der Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . .

168 173

136 137 139

160

173 174 180

Inhalt

10. Folgen und Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

10.1 Verantwortungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.1 Verantwortungsethik bei Max Weber . . . . 10.1.2 Verantwortungsethik bei Hans Jonas . . . . 10.2 Verantwortung in christlicher Perspektive . . . . . . 10.2.1 Die Verantwortungsrelation . . . . . . . . . . . 10.2.2 Die Verantwortung tragende Instanz . . . . 10.2.3 Die Objekte der Verantwortung . . . . . . . . 10.2.4 Externe Foren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.5 Das Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.5.1 Fehlbestimmungen des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.5.2 Das Gewissen als beurteilende Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.5.3 Das Gewissen als verantwortende Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.6 Maßstäbe ethischer Verantwortung . . . . . 10.2.7 Verantwortungsethik und Ethik der Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183 183 186 190 191 193 195 196 198

11. Gemeinschaft, Person und Tugend . . . . . . . . . . . . . . .

208

11.1 Individualismus und Vertragstheorien . . . . . . . . . 11.2 Diskursethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Kommunitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Aristoteles’ Tugendethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Theologische Tugendethiken . . . . . . . . . . . . . . . .

208 213 216 218 225

12. Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

12.1 Personbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.1 Personalität als Eigenschaft . . . . . . . . . . . . 12.1.2 Personalität und Subjektivität . . . . . . . . . . 12.1.3 Personalität und Geschichte . . . . . . . . . . . 12.1.4 Personalität als Askription . . . . . . . . . . . . 12.1.5 Personalität als Beziehung . . . . . . . . . . . . . 12.1.5.1 Historischer Hintergrund . . . . . . 12.1.5.2 Was ist eine Person? . . . . . . . . . . . 12.1.5.3 Geschaffenes Personsein . . . . . . . 12.1.5.4 Defizitäre relationale Personbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Vorschlag einer christlichen Tugendlehre . . . . . . 12.3 Charismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

236 236 238 239 241 243 243 245 250

198 200 204 205 205

257 262 269

7

8

Inhalt

13. Toleranz und die Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

272

13.1 Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Probleme des Konsenses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Toleranzfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273 277 280 284

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register (Namen, Bibelstellen, Sachen) . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazitfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289 293 303 316 317

1. Einleitung

Das vorliegende Buch stellt Wissen für eine Basiskompetenz bereit, die zur kompetenten Befähigung systematisch-theologischer Arbeit aus der Perspektive der Ethik beiträgt. Dieser Weg kann auf unterschiedliche Art und Weise gegangen werden. Er könnte sich exemplarisch an einzelnen materialethischen Fragen orientieren und versuchen, ausgehend von einzelnen Handlungsproblemen der Ethik, einige grundlegende ethische Sachverhalte herauszustellen. Dieses Verfahren hätte aber mehrere große Nachteile: Es müssten Handlungsfelder gewählt werden, deren ethische Probleme längerfristig bestehen. Es müssten ferner solche Probleme ausgewählt werden, die auch verstehbar wären, ohne in die jeweiligen nicht ethischen Sachproblematiken der Handlungssituation einführen zu müssen. Und es müsste doch wieder eine ethische Basiskompetenz hinsichtlich ethischer Argumentationsstrategien vorausgesetzt werden. Aus den genannten Schwierigkeiten empfiehlt sich diese Herangehensweise für eine Basisinformation nicht. Stattdessen sollen – ausgehend von einer Analyse des Handlungsbegriffs – verschiedene grundsätzliche Probleme der Ethik als Theorie des vorzuziehenden oder vorzüglichen Handelns besprochen werden. Dabei ist zu beachten, dass es sich dabei um Probleme handelt, die mit menschlichem Handeln als solchem verbunden sind und sich nicht nur für die Systematische Theologie stellen. Die lange Geschichte der philosophischen Ethik belegt diesen Sachverhalt zur Genüge. Um ihm Rechnung zu tragen, werden daher im gesamten Buch philosophische Problemlösungsaspekte auf theologische bezogen. Kapitel 2 beginnt mit einer relationalen Analyse des Handlungsbegriffs. Die einzelnen Relate, d.h. Beziehungspunkte, dienen dann im Folgenden für die Gliederung der gesamten Ethik. Dies wird jeweils grafisch an Schlüsselstellen mit einem Relationsdiagramm dargestellt. Kapitel 3 behandelt metaethische und zugleich systematischtheologische Grundfragen. Da zur Analyse des Handlungsbegriffs das Relat natürlicher Gegebenheiten gehört, fragen die Kapitel 4 und 5 nach einer möglichen natürlichen Grundlage vorzuziehenden Handelns. Das Relat der Regeln und Pflichten des Handelns wird in den Kapiteln 6 und 7 besprochen, Ziele und Werte in Kapitel 8 sowie Erwartungen und Hoffnungen in Kapitel 9. Weitere wichtige Relate des Handlungsbegriffs sind Handlungsfolgen und -mittel, die in Kapitel 10 expliziert werden. Die wohl wichtigsten Relate des Hand-

10

Einleitung

lungsbegriffs, die Handlungssubjekte als Personen in Gemeinschaft, sind Gegenstand der Kapitel 11 und 12. Das Buch schließt mit der Frage nach dem Verhältnis der Religionen zueinander in pluralistischen Gesellschaften in Kapitel 13. In den Kapiteln 4 bis 12 wechseln sich exemplarische Lösungsversuche der philosophischen Ethik und spezifisch theologische Lösungsversuche in der Besprechung ab. Unter Abwägung der Vor- und Nachteile werden dabei jeweils Problemlösungsvorschläge unterbreitet. Dadurch erhält dieses Buch den Charakter auch einer explizit positionalen Vermittlung von ethischem Basiswissen und trägt der Einsicht Rechnung, dass eine nicht-positionale, quasi-objektive Darstellung der Thematik der Sache sowohl der Ethik als auch der Systematischen Theologie nicht nur zuwiderlaufen würde, sondern selbst unmöglich ist. Die Leserin und der Leser sollen so in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen und der Position des Autors selbst zu einem verantwortlichen Urteil geführt werden. An wichtigen Stellen der Argumentation wird jeweils ein Fazit in grau unterlegten Kästen geboten. Diese können unterschiedlich verwandt werden: im Sinne einer kurzen Zusammenfassung ebenso wie im Sinne von Leitsätzen zu den entsprechenden Kapiteln. Versteht man diese Abschnitte als Zusammenfassungen, können sie fortlaufend gelesen werden, versteht man sie als Leitsätze, ist es sinnvoll, sie vor der Lektüre der jeweiligen Abschnitte zu lesen. Am Ende des Buches sind all diese Fazite mittels eines Fragenkatalogs erschlossen. Am Ende jeden Kapitels wird ausgewählte Literatur genannt, die zum vertieften Studium einzelner, in den jeweiligen Kapiteln angerissener Themen dienen soll. Eine Abbildung aller Themen eines Kapitels durch Sekundärliteratur ist hier nicht beabsichtigt. Daher sind diese Literaturempfehlungen bewusst auf nur wenige Titel beschränkt. Dabei handelt es sich um Monographie- und Aufsatzliteratur. Beschränkt man sich auf die Aufsatzliteratur und ausgewählte Passagen aus den angegebenen Monographien, kann diese Literatur im Laufe eines Semesters durchgearbeitet werden. Im vollen Umfang kann diese Literatur zur Vertiefung des jeweiligen Kapitels dienen und auf diese Weise helfen, Spezialthemen für Prüfungen, Seminarund Examensarbeiten zum Thema der theologischen Ethik zu finden. Die Fußnoten haben demgegenüber in der Regel Verweisfunktion. Der Haupttext ist dabei auch ohne sie verständlich. Entsprechend wurde der Fußnotenapparat auf ein Minimum beschränkt. Das Buch eignet sich somit als Begleitlektüre zu einer einleitenden Ethikvorlesung der Systematischen Theologie oder zum Selbststudium. Materialethische Themen werden nur als Illustration verwandt.

Einleitung

Zum Studium der Ethik gehört zusätzlich die Vertiefung durch materialethische Seminare. Für diejenigen, die solche Seminare belegen, sich aber noch unsicher hinsichtlich grundlegender Fragen der Ethik sind, hofft das Buch ebenfalls gute Dienste zu leisten. Da das Buch auf der These beruht, dass Ethik und Dogmatik nicht verschiedene inhaltliche Bereiche der Systematischen Theologie bilden, sondern verschiedene Perspektiven auf den einheitlichen Gegenstandsbereich der Systematischen Theologie abbilden, kann es im Prinzip ohne Vorkenntnisse genutzt werden. Dennoch sind Vorkenntnisse der Dogmatik wünschenswert und erleichtern die Lektüre, da aus pragmatisch-studienorganisatorischen Gründen das Programm einer perspektivischen Darstellung von Dogmatik und Ethik nicht rein durchführbar ist. Dank zu sagen ist all jenen, ohne die dieses Buch nicht hätte entstehen können: Katharina Maria Wanckel und Simon Köhler haben die mühevolle Aufgabe der Korrekturen übernommen, ebenso Jessica Fleischer, die zusammen mit Phillip Diestel auch gestalterisch tätig geworden ist. Heide Klose-Alpers war stets eine helfende Hand im Lösen organisatorischer Probleme, Verena Schlarb und David Gilland gebührt Dank für fachliche Diskussion und Verbesserungen sowie Lucas Bormann für die Aufnahme in die Reihe. Ulrike Gießmann-Bindewald und Jörg Persch haben von Seiten des Verlages eine hervorragende Betreuung geboten. Schließlich sei Anke Mühling genannt, deren inhaltliche Anregungen an zahlreichen Stellen zu wesentlichen Verbesserungen geführt haben. Fliegenberg, 25.4.2012

Markus Mühling

11

2. Handeln

2.1 Handeln und Ereignisse

Ereigniszusammenhang

kausale Selektion

zufällige Selektion

Selektion durch Handlungen

Ethik hat es mit dem Handlungsbegriff zu tun. Doch was sind Handlungen? Handlungen gehören zur Klasse der Ereignisse oder Prozesse, die mit anderen vorhergehenden Ereignissen verbunden sind, von diesen mitbestimmt werden und in andere Ereignisse einmünden. Ferner sind Handlungen immer mit parallelen und gleichzeitigen Ereignissen verbunden. Die Wirklichkeit besteht fundamental aus einem Ereigniszusammenhang. Die vergangenen und gegenwärtigen Ereignisse bestimmen einen Möglichkeitsraum zukünftiger Ereignisse, aus denen durch ein gegenwärtiges Ereignis ein künftiges Ereignis selegiert, d.h. ausgewählt und aktualisiert, also verwirklicht, wird. Die Selektion der zukünftigen Ereignisse kann dabei auf unterschiedliche Art und Weise geschehen: Sie kann kausal erfolgen, zufällig1 oder durch Handlungen. Eine kausale Selektion liegt vor, wenn die Auswahl aufgrund naturhafter Regeln und Umstände erfolgt. Kocht z.B. auf einer Herdplatte eine Suppe (gegenwärtiges Ereignis), gibt es mehrere Möglichkeiten, die in Zukunft geschehen können, wenn kein Handelnder einschreitet: Die Suppe kann überkochen, die Flüssigkeit kann verdampfen, die Sicherung kann den Stromkreislauf unterbrechen oder es kann ein Brand entstehen. Welche dieser Möglichkeiten verwirklicht wird, hängt hier von den kausalen Umständen ab. Eine tatsächlich zufällige Selektion liegt im Bereich der Quantenphysik vor: Ein Quantensystem hat keinen fest definierten Zustand und erreicht einen solchen nur durch Interaktion mit der Makrowelt, etwa der Messung eines Physikers. Welcher Zustand durch eine Messung eines Quantensystems realisiert wird, ist nun nicht kausal vorherbestimmt und hängt auch nicht von der Entscheidung des Physikers ab, sondern geschieht rein zufällig nach Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung.2

Eine Selektion durch Handlungen liegt vor, wenn die absichtliche Entscheidung eines Handelnden, in den Lauf der Dinge einzugreifen, eine notwendige Bedingung für die Selektion der zukünftig aktualisierten Ereignisse ist. So hat ein Studierender morgens die Möglichkeit, sich zur Universität zu begeben, zu Hause zu bleiben oder ein anderes Ziel (etwa einen Arztbesuch) 1 Mit „Zufall“ ist hier die Indeterminiertheit der Quantenwelt gemeint, vgl. Drossel, B., Was kann die Physik über den Zufall sagen? 2 Vgl. Drossel, B., Was kann die Physik über den Zufall sagen?, 20f.

13

Handeln und Ereignisse zu realisieren. In allen diesen Fällen ist die Absicht des Studierenden eine notwendige Bedingung, dass das zukünftige Ereignis realisiert wird.

Nicht jedes Ereignis, das von Menschen realisiert wird, ist eine Handlung. Handlungen liegen nicht vor, wenn die Absicht fehlt.

Absicht

So wäre Schlafen keine Handlung eines Menschen, Einschlafen hingegen kann eine Handlung sein, muss es aber nicht. Auch unwillkürliches Verhalten, wie etwa ein aufgeregtes Fingerspiel eines Studierenden mit einem Schreibutensil während eines spannenden Seminars wäre damit ebenfalls oft keine Handlung, denn es kann sein, dass der Studierende gar nicht weiß, dass er diese Tätigkeit ausübt, sondern erst von einem Kommilitonen entnervt darauf hingewiesen werden muss.

Offensichtlich ist es nicht eindeutig, ob eine Handlung vorliegt oder nicht. Ein Ereignis, in das ein Handelnder involviert ist, kann unterschiedlich beschrieben werden: so, dass eine Absicht in der Beschreibung enthalten ist, aber auch so, dass das nicht der Fall ist. Eine keine Absichtsbegriffe beinhaltende Beschreibung eines Ereignisses: „Das Auto überfuhr ohne zu bremsen einen die Straße überquerenden Passanten.“ Eine Absichtsbegriffe beinhaltende Beschreibung des gleichen Ereignisses: „Der Fahrer des Autos überfuhr absichtlich seinen Bekannten, um diesen umzubringen.“ Eine andere absichtsvolle Beschreibung des gleichen Ereignisses: „Der Fahrer bediente sein Navi, hielt aber nicht an, da er den Moment der Unaufmerksamkeit für unproblematisch hielt, und überfuhr dabei seinen Freund.“

Offensichtlich spielt es keine Rolle für eine Handlung, welche Absicht ein Handelnder hat. Um festzustellen, ob er eine Absicht hat, muss der Handelnde gefragt werden. Dabei gilt jedes Ereignis als Handlung, das durch eine Absichtsbegriffe beinhaltende Beschreibung, die vom Handelnden nicht zurückgewiesen wird, ausgedrückt werden kann.3 Nach den Regeln einer guten Definition ist es erforderlich, einen Gattungsbegriff (genus proximum) zu nennen, unter den der zu definierende Begriff (das definiendum) klassifiziert werden kann, sowie eine spezifische Differenz (differentia specifica), die diesen Begriff von anderen Begriffen unterscheidet, die unter die gleiche Gattung fallen mögen.4 Nach dieser Regel wäre durch die vorangehenden Überlegungen der Handlungsbegriff bereits definiert, und zwar: Ein Handelnder (1) realisiert durch absichtliche Wahl ein zukünftig reali3 Vgl. Anscombe, G.E.M., Absicht, 41. 4 Vgl. die scholastische Definition einer Definition: definitio fiat per genus proximum et differentias specificas, bei Thomas von Aquin, s.th.I q3, a5, die sich durch die Vermittlung des christlichen Neuplatonismus bis auf Aristoteles, Topik I,8, 103b, 15f. zurückführen lässt.

Definition

14

Handeln

Probleme

Reduktionshypothese

Hirnforschung

Libetexperimente

Veto

siertes Ereignis, das Ergebnis (2), zu dessen Eintritt er notwendige Bedingung ist. Die Realisierung zukünftiger Ereignisse ist der Klassenbegriff, unter den das Handeln fällt, von kausalen und zufälligen Selektionen ist Handeln durch die Beinhaltung von Absichten unterschieden. Dennoch gibt es mindestens drei Probleme, die dazu führen, dass diese Definition zwar nicht formal, aber doch inhaltlich ungenügend ist: 1. Unterscheiden sich Handlungen wirklich durch Absichten vom kausalen Naturgeschehen oder können Absichten vollständig auf Kausalitätsvorgänge zurückgeführt werden? Die letztere Annahme kann eine kausaldeterministische Reduktionshypothese genannt werden, weil sie Absichten auf Kausalitätszusammenhänge zu reduzieren sucht. In der Geistesgeschichte wurde dieses Determinismusproblem immer wieder thematisiert. Zuletzt wurde von einigen Wissenschaftlern im Bereich der Hirnforschung die These vertreten, Absichten und andere Phänomene der geistigen Welt beruhten rein auf kausal erklärbaren Gehirnvorgängen, so dass nicht der Handelnde selbst durch seine vermeintliche Wahlfreiheit entscheide, sondern die biochemischen Vorgänge seines Gehirns.5 Bis heute entzündet sich die Debatte um die Libetexperimente. Benjamin Libet (1916–2007) hatte in den 1970er Jahren Probanden gebeten, zu warten, bis sie einen Drang verspüren, die Hand zu bewegen, und sie gebeten, diesen Zeitpunkt anzugeben. Dabei zeigte sich, dass der Zeitpunkt der Entscheidung aufgrund des Dranges nach dem Zeitpunkt des im Gehirn mittels EEG gemessenen Bereitschaftspotenzials, das die Handbewegung anbahnte, lag. Libet hatte selbst das Experiment für eine Bestätigung der Willensfreiheit gehalten, weil zwischen der Anbahnung des Bereitschaftspotenzials und der ausgeführten Handbewegung der Handelnde mit einem Veto einschreiten könne.6 Lag bei Libet die Voraussagbarkeit der Handlungen noch im Sekundenbruchteilbereich, sprechen mittlerweile Forscher wie John Dylan Haynes von Experimenten, die eine Voraussagbarkeit bis zu 7s–10s vor der bewussten Entscheidung erlauben7 oder gar komplexe Verhaltensformen wie Lügen prognostizieren können.8 Dabei konnten auch problematische Annahmen der Libetexperimente – wie die Fixierung auf das sog. Bereitschaftspotenzi5 Eine knappe Darstellung und philosophische Kritik findet sich in Rott, Hans, Die Freiheit in den Zeiten neurowissenschaftlichen Fortschritts, in Mühling (Hg.), Gezwungene Freiheit?, Göttingen 2009, 117–134. 6 Vgl. Libet, B., Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert, Frankfurt/M. 2005, 177f. 7 Vgl. Haynes, J.-D., u.a., Unconscious Determinants of Free Decisions in the Human Brain, Nature Neuroscience 11 (2008), 543–545; Haynes, J.-D., u. a., Tracking the Unconscious Generation of Free Decisions Using Ultra–High Field fMRI, Plos One 6 (2011), 1–13. 8 Vgl. Haynes, J.-D./Rees, G., Decoding Mental States from Brain Activity in Human brains, Nature (2006), 523–534.

15

Handeln und Ereignisse al – vermieden werden. Vielmehr lässt sich mit Mitteln der funktionellen Magnetresonanztomographie zeigen, dass der frontopolare Cortex bei der Anbahnung von Handlungen eine wichtige Rolle spielen dürfte. Zwar sind auch diese Experimente in methodischer und semantischer Hinsicht nicht unproblematisch, aber sie stellen immerhin einen deutlichen Fortschritt im Vergleich zu den Libetexperimenten dar. Auch wenn noch nicht deutlich ist, welche Ergebnisse in Zukunft von der empirischen Hirnforschung für das Willensproblem zu erwarten sind, so ist doch deutlich, dass die radikale kausaldeterministische Reduktionshypothese nur durch eine weltanschauliche, nicht-empirische Interpretation der empirischen Ergebnisse vertreten werden kann, was man sich leicht an folgendem Gedankenexperiment klar machen kann: Eine Handlung x1 erfolge zum Zeitpunkt t1+n. Die Anbahnung von x1 kann bereits zum Zeitpunkt t1-10s gemessen werden, während der Proband für die bewusste Entscheidung zur Handlung x1 den Zeitpunkt t1 angibt (t1-10s < t1 < t1+n). Während der Zeitspanne t1-10s bis t1 hat der Proband also Zeit für eine andere Handlung. Diese sei das Veto x2 gegen die Handlung x1, die nur zu einem Zeitpunkt t2 erfolgen kann, von dem gilt: t1-10s < t2 < t1. Soll das Experiment wirklich etwas über die eine mögliche Willensreduktion aussagen, muss es auf alle willentliche Ereignisse verallgemeinerbar sein. Also muss die Handlung x2 ebenfalls zu einem Zeitpunkt t2-10s vorhergesagt werden können. Nun ergibt sich aber folgende Schwierigkeit: Aus der Bestimmung t1-10s < t2 < t1 ergibt sich ja, dass t2-10s auf alle Fälle vor t1-10s liegen muss: t2-10s < t1-10s. Daraus würde nun folgen, dass die Entscheidung eines Vetos x2 gegen eine Handlung x1 schon vorausgesagt werden kann, bevor die Handlung x1 selbst vorausgesetzt werden kann. Diese Argumentation kann theoretisch für beliebige, immer weiter in der Vergangenheit liegende Handlungen x3 … xn ausgedehnt werden, die jeweils ein Veto gegen die vorausliegende Handlung darstellen. Aus all dem folgt nur dann kein Widerspruch, wenn man annimmt, dass es im Laufe der Welt eine erste datierbare Handlung xn gibt, die sich bereits zu einem festen Zeitpunkt xn-10s voraussagen ließe. Mit der Voraussage dieser Handlung stünde dann aber fest, welche Entscheidungen der Person in einer beliebigen Zukunft gemessen werden müssen. Es ließen sich auf diese Weise also nicht nur alle zukünftigen im Gehirn verorteten Entscheidungen des Probanden vorhersagen, sondern ebenso alle Messungen beliebiger dritter Personen, die sich zu beliebigen Zeitpunkten mit dem Probanden beschäftigen. Dies ist aber nur kohärent denkbar, wenn eine völlig (kausal) determinierte Welt angenommen wird und nur, wenn dieser 10s

10s

Vergangenheit

Zukunft

v

t2-10s Forscher B kann Veto x2 gegen x1 voraussagen

t1-10s Forscher A kann x1 voraussagen

t2 Entscheidung zum Veto x2 des Probanden

t1 Proband entscheidet, x1 auszuführen

t1+n Proband hebt die Hand x1

Abb. 1: Gedankenexperiment zur Vorhersagbarkeit von Handlungen

Willensproblem

Gedankenexperiment

16

Handeln Kausaldeterminismus

Anbahnungsmessungen

Kausaldeterminismus nicht nur im Gehirn des Probanden, sondern auch zwischen allen welthaften Gegenständen (allen möglichen Forschern, die sich mit dem Probanden beschäftigen, den verwandten Messinstrumenten etc.) besteht. Dieses Gedankenexperiment zeigt also nicht einfach eine hirnphysiologische Abhängigkeit von Willensentscheidungen, sondern die völlige kausale Geschlossenheit der ganzen Welt (aller welthaften Prozesse). Dies ist aber erkennbar keine sinnvolle empirische Aussage, sondern eine eindeutig weltanschaulich-religiöse Annahme, die bei der entsprechenden verallgemeinernden Interpretation entsprechender Experimente immer schon vorausgesetzt wird. Eine andere Interpretation des Gedankenexperiments besagt die Unmöglichkeit des kausalreduktionistischen Beweises mittels der Empirie: Ein Proband kann nur dann ein Veto gegen eine Handlung x1 einlegen, wenn überhaupt eine Anbahnung zur Handlung zum Zeitpunkt t1-10s von einem Forscher A gemessen worden ist. Forscher B misst aber nun diese Anbahnung x2 zu einem Zeitpunkt t2-10s < t1-10s, also jedenfalls, bevor Forscher A die Anbahnung zu x1 misst. Kann damit Forscher B voraussagen, dass Forscher A überhaupt keine Anbahnung für x1 messen wird, weil sein Ergebnis einer Anbahnung für x2 die Voraussage erlaubt, dass x1 niemals stattfinden wird? Falls ja, wäre beim Probanden nie eine Anbahnung für x1 entstanden und damit auch nicht die Möglichkeit zum Veto x2. Gäbe es aber kein Veto x2, hätte Forscher B nichts messen können und damit auch nicht das Ergebnis von Forscher A voraussagen können, was offensichtlich ein Widerspruch ist. Kann Forscher B aber nicht voraussagen, ob Forscher A eine Anbahnung für x1 messen wird oder nicht, gilt: Anbahnungsmessungen sind mit Handlungsentscheidungen im Sinne notwendiger Bedingungen korreliert, bedingen sie aber nicht hinreichend.

Auf die philosophische und theologische Debatte zur hirnphysiologisch unterstützten Determinismusthese kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.9 Es genügt eine einfache Überlegung, um die kausaldeterministische Reduktionshypothese zurückzuweisen: Sprachlich-semantisch erscheinen Absichten (und andere geistige Zustände) immer als eigene Phänomene; entsprechend müssen sie bei der Handlungsanalyse berücksichtigt werden. Es spielt dabei für ihre Realität keine Rolle, ob sie ihrerseits noch einmal von anderen 9 Vgl. etwa die ausgewogenen Darstellungen bei Evers, D., Neurobiologie und die Frage nach der Willensfreiheit, in Weinhardt (Hg.), Naturwissenschaften und Theologie. Methodische Ansätze und Grundlagenwissen zum interdisziplinären Dialog, Stuttgart 2010, 102–123; Evers, D., Hirnforschung und Theologie, ThLZ 131 (2006), 1107–1122. Lesenswert sind auch die inhaltlich positionaleren Darstellungen von Eibach, U., Gott im Gehirn? Ich – eine Illusion?, Witten 32010, der von einer dualistischen Position aus argumentiert, und die wortreiche Reflexion von Klein, A., Willensfreiheit auf dem Prüfstand. Ein anthropologischer Grundbegriff in Philosophie, Neurobiologie und Theologie, Neukirchen-Vluyn (Neukirchener Verl.) 2009, dessen Hauptanliegen die Verteidigung eines Determinismus und der Ausschluss eines Indeterminismus ist.

17

Handeln und Ereignisse

Faktoren zum Teil oder vollständig abhängig sind oder nicht.10 In der Gegenwartsphilosophie wird meist ein u.a. auf David Hume (1711– 1776) zurückgehender Kompatibilismus vorgezogen, der davon ausgeht, dass die Rede von der Willensfreiheit mit einer kausalen Erklärung vereinbar ist, gegenüber einem Inkompatibilismus, der die Unvereinbarkeit von Kausalität und Willensfreiheit lehrt. Auch theologisch konnte etwa Martin Luther (1483–1546) betonen, dass das Phänomen des Willens überhaupt nur dann verständlich ist, wenn der Wille als gebundener Wille von außerwillentlichen Sachverhalten abhängig ist.11 Später ist noch auf die ethische Bedeutung dieser Rede vom gebundenen Willen zurückzukommen. Durch das angeführte Argument ist der Gegeneinwand gegen die Definition ausgeräumt. 2. Gegen Handlungsbegriffe, die wie hier die absichtsvolle Wahl als entscheidendes Kriterium geltend machen, wurde eingewandt, dass nicht jegliches Handeln Wahlcharakter haben, aber dennoch absichtsvoll geschehen kann: Spontanen Handlungen – wie etwa einem freudigen Gruß beim unerwarteten Treffen einer guten Bekannten – geht genausowenig eine Abwägung mehrerer Handlungsalternativen voraus wie vollständig habitualisierten Handlungen, wie etwa dem Gangwechsel bei einem Auto mit Schaltgetriebe, so dass kaum von einer bewussten Auswahl gesprochen werden könne.12 M.E. dürfte dieses Argument aber auf einer Doppeldeutigkeit des Selektions- bzw. Wahlbegriffs beruhen. Eine Wahl kann eine bewusste Auswahl aus vorher im Wissensbestand vorhandenen Möglichkeiten sein. In diesem Fall ist das Gegenargument korrekt. „Selektion“ oder „Wahl“ kann aber auch nur die Tatsache bezeichnen, dass eine Instanz den immer reicheren, aber unbestimmten Möglichkeitsraum zukünftiger Ereignisse in ein bestimmtes Ereignis der Gegenwart bzw. Vergangenheit überführt. Andernfalls könnte im Rahmen von physischen, chemischen oder biologischen Prozessen überhaupt nicht von „Selektion“, „Auswahl“ oder „Wahl“ gesprochen werden. Nur in diesem letzteren Sinne der Überführung unbestimmter Möglichkeit in bestimmte Aktualität ist aber auch bei der zuletzt vorgelegten Handlungsdefinition von „Wahl“ die Rede, so dass auch dieses Gegenargument entkräftet ist. 3. Der Definitionsversuch dieses Abschnitts beruht auf einer relationalen Analyse des Handlungsbegriffs. Die Relation oder Beziehung „(1) realisiert durch absichtliche Wahl (2)“ kennt dabei zwei Relate oder Beziehungspunkte, nämlich den Handelnden als erstes 10 Vgl. Rott, H., Freiheit in den Zeiten neurowissenschaftlichen Fortschritts, 133f. 11 Vgl. Luther, Martin, WA, 1, 359, 33f. 12 So Fischer, J., Theologische Ethik, 116 gegen Herms, E., Theorie der Bildung von Vorzüglichkeitsurteilen, 45, und Körtner, U.H.J., Evangelische Sozialethik, 39f.

Kompatibilismus Inkompatibilismus

gebundener Wille

absichtsvolle Wahl

Wahl

relationale Analyse

18

Handeln

Handlungsanalyse

Relat (1) und das Ergebnis als zweites Relat (2). Solche relationalen Begriffsanalysen sind aber nicht sakrosankt; die Frage, mit welcher Relation und vor allem mit wie vielen Relatstellen ein Begriff sinnvollerweise zu analysieren ist, hängt weit eher von pragmatischen Überlegungen als vom zu beschreibenden Phänomen selbst ab. Die in diesem Abschnitt verwandte zweistellige Relation kann fast nach Belieben erweitert werden, je nachdem, wie viele Aspekte man berücksichtigen will oder muss. Bei einer solchen Analyse gibt es zwei Probleme: Zu wenige Relatstellen können das Phänomen u.U. gar nicht oder nur ungenügend erfassen, zu viele werden leicht unübersichtlich oder können unwesentliche Aspekte eines Problemkomplexes oder eines Begriffs in den Vordergrund rücken. Und hier zeigt sich nun, dass für den Zweck einer Ethik der zweistellige Handlungsbegriff noch viel zu unterbestimmt ist. Denn in der Ethik geht es nicht um Handeln an sich, sondern um vorzügliches, d.h. vorzuziehendes oder „gutes“ Handeln. Die relationale Handlungsanalyse ist daher im nächsten Abschnitt (2.2) noch zu präzisieren, bevor in Kap. 2.3 die Frage nach dem guten oder vorzuziehenden Handeln besprochen werden kann.

Fazit 1 Im Prozess des Ereigniszusammenhangs, in dem zukünftige Möglichkeiten gewählt und aktualisiert werden, bezeichnet „Handeln“ solche Verwirklichungen, die unter einer Beschreibung absichtlich sind. Eine vorläufige Definition des Handelns lautet daher: Ein Handelnder (1) realisiert durch absichtliche Wahl ein zukünftig realisiertes Ereignis, das Ergebnis (2), zu dessen Eintritt er notwendige Bedingung ist.

2.2 Ein relationaler Handlungsbegriff

Systemtheorie

Versucht man ein Phänomen wie Handeln begrifflich zu erfassen, geschieht unweigerlich eine Reduktion, wie viele Relatstellen man auch einführen mag. Die Begriffsanalyse, wiewohl sie selbst auch noch kein System ist, teilt sich hier eine Schwierigkeit mit der von Niklas Luhmann (1927–1998) beschriebenen Systemtheorie. Ein System unterscheidet sich von seiner systemrelativen Umwelt, die grenzenlos in die Welt übergeht und immer komplexer als das System ist.13 Systeme müssen daher selektiv verfahren, wenn sie auf die Umwelt Bezug nehmen.14 Die Bezugnahme eines Systems auf seine Umwelt geschieht durch zufällige Selektion, und zwar im Sinne 13 Vgl. Luhmann, N., Funktion der Religion, 13f. 14 Vgl. Luhmann, N., Funktion der Religion, 14.

19

Ein relationaler Handlungsbegriff

von Indeterminiertheit.15 Diese hat zwei Seiten: das, was mittels Relationierung durch Indeterminiertheit im System erscheint, und das, was nicht im System erscheint.16 Zur Explikation des Handlungsbegriffs für die Darstellung der Ethik empfiehlt sich eine recht genaue Analyse. Handeln soll verstanden werden als eine 12- bzw. 9-stellige Relation: 1. Eine Person 1a. Willens, 1b. Affekte 1c.Vernunft 2. anderer Personen 3. natürlichen Geschehens 4a. empirischen Gewissheiten 4b. religiösen Gewissheiten 5. Regeln 6. Mitteln 7. Erwartungen 8. Ziel

Handeln

mit ihren Fähigkeiten des der und der wählt im Zusammenhang und im Zusammenhang des und unter ihren sowie ihren unter Beachtung von unter Zuhilfenahme von und unter ein aus der Menge der ihr bekannten, möglichen zukünftigen Ziele absichtlich aus und ist notwendige Bedingung zum Eintritt des realisierten

9. Ergebnisses.

Diese Struktur dürfte jeder Handlung genügen. Mit Hilfe dieser 9- bzw. 12-stelligen Handlungsrelation soll die gesamte Ethik strukturiert werden. Untersucht werden soll diese Handlungsrelation nicht nur hinsichtlich ihrer einzelnen Relate, sondern auch hinsichtlich einiger ihrer Teilrelationen. Diese Einschränkung ist notwendig, denn eine 12-stellige Beziehung enthält ja mehrere Teilbeziehungen: zweistellige Teilrelationen, dreistellige Teilrelationen etc. Genau betrachtet enthält unsere zwölfstellige Handlungsrelation 132 zweistellige Teilrelationen und 1320 dreistellige Teilrelationen. Berücksichtigt man die Reihenfolge der Relate nicht, erhält man immer noch 66 zweistellige und 220 dreistellige Relationen.17 Bildlich lässt sich die relationale Analyse des Handlungsbegriffs und 15 Vgl. Luhmann, N., Funktion der Religion, 15. 16 Vgl. Luhmann, N., Funktion der Religion, 16f. 17 Eine n-stellige Relation enthält n!/n−k! k-stellige Teilrelationen. Dabei ist die Reihenfolge der Relate mitberücksichtigt. Die Beziehung von Anton zu Berta ist nicht identisch mit der Beziehung von Berta zu Anton. Denn Anton kann in Berta verliebt sein, ohne dass Berta in Anton verliebt ist. Berücksichtigt man die Reihenfolge der Relate nicht, enthält eine n-stellige Relation n!/(n−k)!k! k-stellige Teilrelationen.

Teilrelationen

20

Handeln

1 Person 1c Vernunft 1b Affekte

2 andere Personen

3 natürliches Geschehen

1a Wille

4a empirische Gewissheiten

9 Ergebnis

4 Gewissheiten 4b religiöse Gewissheiten

8 Ziele

7 Erwartungen

6 Mittel

5 Regeln

seine Komplexität mit Abbildung 2 veranschaulichen.18 Im Folgenden sollen die einzelnen Relate und einige ihrer Teilrelationen anhand eines Alltagsbeispiels, des morgendlichen Weges einer fiktiven Studentin namens Victoria zur Universität, erläutert werden. Gleichzeitig dient diese Erläuterung der Einführung wichtiger Begriffe, die in der Ethik im Folgenden noch eine Rolle spielen werden.

Abb. 2: Relate des Handlungsbegriffs Personen

Personalethik

Wille, Affektivität, Vernunft

Affekte

ad 1: Handlungen werden von Personen ausgeführt, die die Fähigkeit der absichtlichen Zielwahl besitzen. Dies kann eine Person, die Studierende Victoria, sein, die die Handlung, zur Universität zu kommen, ausführt. Der Personbegriff ist damit grundlegend für das Handlungsverständnis. Er wird behandelt in der Lehre vom Menschen, der Anthropologie. Schon hier wird man aber anmerken können, dass jegliche Ethik immer Personalethik sein wird. ad 1a, 1b, 1c: Wie immer eine solche noch zu spezifizierende Anthropologie aussehen mag, ist es zunächst zweckmäßig, als geistige Fähigkeiten von Personen Wille, Affektivität (Emotionen, Gefühle) und Vernunft zu unterscheiden. Eine solche Dreiteilung findet sich schon bei Platon (428/7–348/7 v.Chr.) und wird im Laufe der Geistesgeschichte immer wieder aufgenommen.19 Offensichtlich spielen alle drei personalen, internen Fähigkeiten immer wieder eine Rolle, selbst bei Alltagshandlungen. Victoria hat es leichter, morgens das Bett zu verlassen und die Universität zu erreichen, wenn sie positive Affekte empfindet – wie ausgeschlafen zu sein, glücklich zu sein oder Neugier auf die in den Seminaren verhandelten Themen zu empfinden. In diesem Falle werden diese Affekte ihr Wollen steuern und 18 Jede Linie zwischen zwei Relaten drückt eine zweistellige Relation aus, jedes mögliche Dreieck zwischen drei Relaten eine dreistellige Relation, wenn man alle Vertauschungen vornimmt, also berücksichtigt, dass jede Linie zwei Relationen (AB und BA) und jedes Dreieck sechs Relationen darstellt (ABC, ACB, BAC, BCA, CAB, CBA). 19 Vgl. Platon, Politeia, 441a.

21

Ein relationaler Handlungsbegriff

dieses motivieren. Andererseits kann das Wollen aber auch durch Müdigkeit und Unlust eingeschränkt sein. Dann kann es sein, dass Victoria nicht den Willen hat, zur Universität aufzubrechen. Es kann aber auch sein, dass vernünftige Überlegungen ihren Willen steuern und sie sich trotz empfundener Unlust auf den Weg zur Uni macht. Affekte, Wollen und Vernunft sind zwar interne Fähigkeiten der Person, aber sie werden offensichtlich durch den Handlungs- und Ereigniszusammenhang mitbestimmt. Diese personalen Voraussetzungen des Handelns können wir nur in der Perspektive der ersten Person, d.h. wenn wir selbst Handelnde sind, direkt beobachten. Bei anderen Personen schließen wir durch die ausgeführten Handlungen auf solche inneren Handlungsvoraussetzungen. Durch das Ensemble solcher inneren Voraussetzungen kommen Handlungsdispositionen oder Haltungen zustande, also die Bereitschaft, bestimmte Handlungsarten eher als andere bzw. besser oder schlechter als andere zu realisieren. Die Handlungsdispositionen können entsprechend in Tugenden und Laster eingeteilt werden. Die Summe der in der Regel durch Fremdbeobachtung bei Dritten erschlossenen Tugenden und Laster wird meist mit dem Begriff des Charakters einer Person bestimmt. Während es durchaus vorkommen kann, auch sich selbst Tugenden oder Laster zuzuschreiben, scheint der Charakterbegriff in unserer Alltagssprache eher für die Beschreibung anderer Personen reserviert zu sein. So kann ein Dozent feststellen, dass Victoria stets schon im Seminarraum mit aufgeschlagenen Büchern anwesend ist, wenn er selbst den Raum betritt, stets alle Texte gelesen hat und ihn oft nicht nur mit Wissen, sondern auch mit ausgewogenen Gedankengängen überraschen kann, und er wird ihr Tugenden wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Weisheit zuschreiben, sie für tugendhaft halten und ihr einen guten Charakter attestieren. Ethiken, die das Ensemble dieser personalen Voraussetzungen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen, werden Tugendethiken genannt. Diese personalen Voraussetzungen sind ihrerseits in mannigfacher Weise auf die anderen Relate des Handlungsbegriffs bezogen. So können Handlungsregeln (Normen, Pflichten, Gebote, Werte, Gesetze) als primär durch die personale Voraussetzung der Vernunft einsehbar und verallgemeinerbar verstanden werden. Sie können dann mithilfe von Aussagen beschrieben werden, denen die Werte wahr oder falsch zugeordnet werden können. In diesem Falle spricht man von kognitivistischen Ethiken. Man könnte aber auch der Ansicht sein, dass eine solche Betrachtung des vorzüglichen Handelns nicht möglich ist, sondern Gebote und Normen nur durch Wünsche, Einstellungen oder Befehle wiederzugeben

Haltungen

Tugenden und Laster

Tugendethiken

kognitivistische Ethiken

22

Handeln

nicht-kognitivistische Ethiken

Interaktion, Kooperation

Sozialethik

Diskursethiken

nicht-personales Geschehen

Gewissheiten empirisch testbare Gewissheiten

sind. In diesem Falle spricht man von nicht-kognitivistischen Ethiken.20 ad 2: Eine einzelne Handlung ist keine Handlung. Handlungen setzen immer die schon bestehende Sozialität des Menschen voraus und sind immer mit anderen Handlungen verbunden. Handlungen sind daher immer Interaktion, mitunter auch Kooperation. Victoria kann etwa auf ihrem Weg zur Uni mit anderen Menschen, dem Busfahrer oder anderen Kommilitoninnen, interagieren. In jedem Fall muss sie aber das durch die Handlungen anderer hergestellte Straßennetz, den Wecker oder die Universität selbst nutzen. Die Unterscheidung zwischen der Person, der die Handlung zugeschrieben wird, und anderen Personen bzw. Handlungen ist rein pragmatischer oder perspektivischer Art. Nicht intendiert ist jedenfalls, ausdrücken zu wollen, dass jedem Handeln eine Subjekt-Objekt-Struktur zugrunde liegt.21 Statt von einer Person und ihren Handlungen oder Interaktionen könnte man auch von Handlungen oder Situationen und ihren Personen sprechen.22 Die personalen Ereignisse des Interaktionszusammenhangs sind ihrerseits eine Teilklasse der ereignishaft-personalen Welt selbst. Aufgrund des Eingebundenseins jeglichen Handelns in Interaktionszusammenhänge wird jede Ethik als Sozialethik verstanden werden müssen. Eine wesentliche Interaktionsform ist kommunikatives Handeln. Ethiken, die die Konstitution von Regeln ethischen Handelns im kommunikativen Handeln grundgelegt sehen, werden Diskursethiken genannt. ad 3: Ebenso ist jede Handlung in den nicht durch Personen verursachten Geschehensprozess eingebunden und mitbedingt. So wird auf dem Weg in die Universität eine Studentin zahlreichen naturhaften Gegebenheiten ausgesetzt sein, wie dem Wetter, der Beschaffenheit des Weges, Steigungen und Gefällen, ihrer eigenen physischen Konstitution etc. Auch dieses nicht-personale Geschehen ist eine Teilklasse der ereignishaft-prozessualen Welt selbst. ad 4a: Jeder Handelnde bedarf spezifischer Gewissheiten. Diese sind zunächst prinzipiell empirisch testbare Gewissheiten sowohl hinsichtlich der natürlichen (3) als auch der sozialen (4) Beschaffenheit der Welt. Diese Gewissheiten sind nicht identisch mit den sozialen 20 Vgl. Kutschera, F.v., Grundlagen der Ethik, 47–49. 21 Zur Kritik an einer solchen vgl. Fischer, J., Theologische Ethik, 120–131. 22 Vgl. Goffman, E., Interaktionsrituale, 9.

23

Ein relationaler Handlungsbegriff

und natürlichen Gegebenheiten selbst, denn diese können sich auch auf die Handlung auswirken, wenn die handelnde Person selbst keinen Kenntnisstand darüber besitzt. So kann Victoria etwa nicht wissen, dass ein Regenguss bevorsteht oder dass eine wichtige, zu ehrende Person in der Uni erwartet wird, und sie wird sich infolge ihres Nichtwissens unzweckmäßig oder unangemessen kleiden. Besitzt sie aber überhaupt keine Gewissheiten hinsichtlich der Universität oder deren geographischer Lage, kann die Handlung ebenfalls nicht gelingen bzw. wird gar nicht erst ausgeführt. Der Terminus „Gewissheit“ soll hier nicht andeuten, dass es sich dabei um unkorrigierbares Wissen handelt, sondern nur, dass es jedenfalls solche Wissensgehalte sind, auf die sich ein Handelnder in seinem Handeln verlassen kann bzw. faktisch verlässt. Korrigiert werden können die empirischen Gewissheiten, weil sie prinzipiell empirisch, mit welchen Mitteln auch immer testbar sind, wenn dies auch in den meisten Fällen von Alltagshandlungen nicht geschehen mag. Diese empirischen Gewissheiten müssen auch dem Handelnden nicht bewusst sein. So wie es habitualisierte oder ritualisierte Handlungen gibt, gibt es auch habituelle oder rituelle Gewissheiten, aufgrund derer Menschen spontan handeln können. ad 4b: Jede Handlung setzt noch eine andere Klasse solcher Gewissheiten voraus, die wie die empirischen Gewissheiten meist unausdrücklich sein werden und die sich wie diese auch ändern können, nur nicht auf dem Weg empirischer Testbarkeit. So muss Victoria auf dem Weg zur Uni mindestens die (meist unausdrückliche) Gewissheit besitzen, dass es überhaupt sinnvoll ist, die Universität zu besuchen. Überzeugungen dieser Art wirken handlungsorientierend und können daher ethisch-orientierende Gewissheiten genannt werden. Es handelt sich um Überzeugungen über den Ursprung, die Bestimmung und Beschaffenheit von Mensch und Wirklichkeit. Sie können auch ontologische Voraussetzungen, weltanschauliche Gewissheiten oder religiöse Gewissheiten genannt werden. Und nur in diesem Sinne soll hier der Religionsbegriff verwandt werden: Alle Überzeugungen, die handlungsorientierend, aber nicht empirisch testbar sind, werden hier als religiöse Überzeugungen bezeichnet. Diese Verwendungsweise stimmt mit der überwiegenden Verwendungsweise der Tradition bis in die Neuzeit, insbesondere mit der protestantischen Tradition, überein. Erst seit der beginnenden Neuzeit findet sich ein verengtes Religionsverständnis – zunächst bei David Hume (1711–1776), der innerhalb der handlungsorientierenden, nicht-empirischen Gewissheiten zwischen natürlichen, unbegründbaren beliefs und nicht natürlichen, unbegründbaren beliefs

ethisch-orientierende Gewissheiten

ontologische Voraussetzungen

beliefs

24

Handeln

Glaube und Aberglaube

Wirklichkeitsverständnis

natürliche Ethiken reduktionistische Ethiken intuitionistische Ethik Naturrechtsethiken

unterscheidet.23 Letztere werden als Aberglaube gewertet und die traditionellen Religionen fallen in der Regel unter diesen Begriff.24 Sachlich ist zwar auch theologisch eine Unterscheidung zwischen Glaube und Aberglaube geboten, doch wie immer man hier die Trennlinie ziehen mag, sie besteht nicht in einem kategorialen Unterschied zwischen vorgeblich „religiösen“ handlungsleitenden, nicht-empirischen Gewissheiten und anderen nicht-empirischen Gewissheiten, die nicht das Prädikat „religiös“ bekommen sollen. Wir werden daher zunächst im weiten Sinne alle Gewissheiten dieser Art als religiös (im weiteren Sinne) bezeichnen und erst später nach ethisch begründbaren Differenzen fragen. Dies bringt die Konsequenz mit sich, dass Handlungen jeglicher Art immer eine religiöse Komponente einschließen und auf einem Wirklichkeitsverständnis oder einer Weltsicht beruhen, sei diese christlich, atheistisch, jüdisch, muslimisch, agnostisch oder sonst irgendwie beschaffen. Beides – sowohl die empirischen Gewissheiten als auch die religiös-weltanschaulichen Gewissheiten – richtet sich sowohl auf den personalen wie auf den apersonalen Ereigniszusammenhang und schließt diesen mit ein, ebenso das eigene Handeln und Vorstellungen des vorzüglichen oder „guten“ Handelns und der personalen Handlungsvoraussetzungen. Einen wichtigen Teilbereich solcher letztlich nicht empirisch testbaren Überzeugungen stellt die Sichtweise dar, auf welche Weise sich vorzügliches oder gutes Handeln, also die im Handeln befolgten Handlungsregeln selbst, zum nicht allein durch Handeln beschreibbaren Ereigniszusammenhang verhält: Es könnte sein, dass in irgendeiner Weise ethische Sachverhalte, wenn sie denn kognitivistisch, also mittels Aussagen beschreibbar sind, auf Aussagen über den nichtpersonalen Ereignisablauf beziehbar sind oder eben nicht. Wenn sie auf den nichtpersonalen Ereignisablauf beziehbar sind oder auf Sachverhalten im personalen Bereich beruhen, kann von natürlichen Ethiken gesprochen werden. Sind sie rein durch außerpersonale Sachverhalte definierbar, kann man von naturalistischen oder reduktionistischen Ethiken sprechen. Ist dies nicht der Fall, liegt eine intuitionistische Ethik vor.25 Dies trifft z.B dann zu, wenn man die Ansicht vertreten würde, dass der Begriff „gut“ undefinierbar durch andere Begriffe ist.26 Zu den natürlichen Ethiken gehören z.B. Naturrechtsethiken, die in irgendeiner Weise 23 Vgl. Herms, E., Hume, 295. 24 Zu Humes Analyse des Begriffs des Glaubens vgl. Hume, D., Trakat. Buch I. Über den Verstand, 126–210. 25 Vgl. Kutschera, F.v., Grundlagen der Ethik, 49–54. 26 Vgl. Moore, G.E., Principia Ethica (ND 1922), 15–17.

25

Ein relationaler Handlungsbegriff

davon ausgehen, dass Regeln vorzüglichen Handelns im Geschehensablauf der Welt verankert sind. Dies wäre etwa der Fall, wenn Victoria argumentieren würde, dass es eben zur menschlichen Natur gehöre, dass man sich bilden müsse. Eben darum besuche sie die Universität. Solch eine Naturrechtsethik wäre zugleich eine objektivistische Ethik, denn sie gilt in der Argumentation der Studentin unabhängig von ihrer personalen Perspektive. Würde sie argumentieren, dass es für sie besser sei zur Uni zu gehen als zu Hause zu bleiben, würde man von einer subjektivistischen Ethik sprechen. Auch eine solche kann zu den nicht-intuitionistischen oder naturalistischen Ethiken gehören und muss nicht in völlig beliebigen (relativistischen) Handlungsregeln enden, denn es könnte ja sein, dass sich aus den subjektivistischen Regeln allgemeine begründen lassen. Würde Victoria hingegen argumentieren, die Bildung an der Universität verspreche ihr in Zukunft einen Lebensunterhalt und damit eine Befriedigung ihrer körperlichen Grundbedürfnisse und infolgedessen sei „Güte“ eben mit Bedürfnisbefriedigung identisch, würde sie eine naturalistische Ethik vertreten. ad 5: Es gibt keine Handlung ohne Regelbefolgung. Regeln sind eng mit Handlungen verbunden, beziehen sich aber auch auf die apersonalen Geschehensprozesse. Eine Regel oder Regelbeziehung bezieht einen Regelbereich mit Hilfe eines Regelinhalts auf ein Regelergebnis.27 Der Regelbereich, d.h. das, was geregelt wird, ist nichts anderes als die ereignishaften Prozessabläufe der Welt, seien diese nun personal oder apersonal, beispielsweise alles fließende Wasser. Der Regelinhalt ist eine allgemeine Beschreibung von Prozessabläufen, wie „fließendes Wasser folgt dem Tallauf.“ Das Regelergebnis besteht nun in einer Aussage über ein bestimmtes fließendes Gewässer: „Der Rhein biegt bei Basel von Ost-West- in Nord-Süd-Richtung ab.“ Regeln haben keine bestimmte sprachliche Form, aber sie beziehen stets etwas Besonderes auf etwas Allgemeines. Ein Beispiel für Regeln sind z.B. logische Syllogismen, d.h. Schlussformeln wie „Alle fließenden Gewässer folgen dem Tallauf. Das Rheintal ändert bei Basel seine Richtung. Der Rhein ist ein fließendes Gewässer des Rheintals. Also: Der Rhein ändert bei Basel seine Richtung.“ Im Zusammenhang der Ethik sind vor allem soziale oder personale Regeln wichtig. Diese können eine konstitutive Funktion oder eine regulative Funktion haben und sie können deontisch oder adeontisch sein. Eine Regel ist regulativ, wenn sie einen Geschehensablauf regelt, der auch ohne die 27 Zum Begriff der Regel und der dabei getroffenen Distinktionen vgl. Mühling, M., Versöhnendes Handeln, 300–303.

subjektivistische Ethik

Regeln

logische Syllogismen

personale Regeln

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Handeln

deontische Regeln

nichtdeontische Regeln

Gebote

Regel vorhanden wäre. Dies ist beispielsweise bei Verkehrsregeln der Fall, denn auch wenn es die Verkehrsregeln nicht gäbe, könnte man Fahrrad fahren. Konstitutive Regeln hingegen konstituieren erst den Regelbereich, den es ohne die Regeln nicht gäbe. So sind es die Regeln des Schachspiels, die dieses erst konstituieren, ohne die es das Schachspiel also nicht gäbe. Deontische (von gr. to deon, das Nötige, die Pflicht, das Gesollte) Regeln sollen eingehalten werden, müssen es aber nicht. Der Handelnde kann die Regel verletzen, freilich meist mit Konsequenzen. Ein Beispiel für eine deontische Regel wäre: „Wenn dem König Schach geboten wird, soll der Spieler das Feld verlassen, die schachbietende Figur schlagen oder den König decken.“ Ein Spieler sollte dieser Regel nachkommen, muss es aber nicht. In diesem Fall verliert er das Spiel. Adeontische, d.h. nichtdeontische Regeln sind Regeln, die ein Spieler nicht übertreten kann, wie z.B. „Wenn ein Spieler das Schach des Gegners nicht abwenden kann, ist er schachmatt.“ Diese Regel ist unübertretbar, denn selbst wenn ein Spieler – nachdem er schachmatt ist und das Spiel verloren hat – seine Figuren weiter auf dem Brett herumschöbe, wäre das keine Übertretung der Regel; er würde dann irgendetwas tun, jedenfalls nicht mehr Schach spielen. Beim Weg in die Universität muss Victoria eine Reihe solcher Regeln befolgen: Verkehrsregeln – aber auch andere Regeln – müssen oder können befolgt werden, z.B. „Du sollst nicht stehlen!“, denn Victoria wird meist nicht das nächstbeste unabgeschlossene Fahrrad, das nicht ihr selbst gehört, benutzen, um zur Universität zu fahren. Auch die Regelbefolgung kann, muss aber nicht explizit erfolgen. Meist erfolgt sie sogar unausdrücklich. Victoria wird sich am Morgen beim Anblick eines fremden Fahrrades nicht fragen, ob sie es für ihren Arbeitsweg stehlen soll oder nicht, sondern erst gar nicht auf die Idee kommen, es benutzen zu können. Die Handlungsregeln prägen also nicht nur unsere bewusste Auswahl, sondern steuern schon unser Wissen über Handlungsmittel, unsere Phantasie und Kreativität. Der Regelbegriff selbst ist zum Verständnis ethischer Urteilsbildung noch zu weit gefasst und weiter differenzierungsbedürftig in Begriffe wie Gebote, Pflichten, Normen, Gesetze und Werte, die zum Teil aber schon auf die anderen Relate des Handlungsbegriffs bezogen sind. Gebote enthalten Ausdrücke des Sollens (Gebotenen), des Verbotenen und des Erlaubten oder Gedurften. Die Ausdrücke des Verbotenen und Erlaubten lassen sich dabei mit dem Ausdruck des Erlaubten jeweils durch Negation darstellen. So kann Victoria auf ihrem Arbeitsweg eine rote Ampel erblicken und dabei zu sich selbst sagen:

27

Ein relationaler Handlungsbegriff

„Du sollst anhalten (Es ist dir geboten anzuhalten)!“ Dieser Ausdruck ist gleichbedeutend mit „Es ist dir verboten weiterzufahren!“, „Du darfst nicht weiterfahren!“ etc. Gebote ähneln Imperativen, wie „Halte an!“ oder „Fahre nicht weiter!“, unterscheiden sich von diesen aber dadurch, dass sie nicht rein situativ sind, sondern schon ein allgemeines Element enthalten. Pflichten sind Gebote, die generalisiert sind, d.h. sie gelten für alle möglichen Handelnden in der gleichen Situation. Das Gebot, an der Ampel anzuhalten, gilt nicht nur für Studentinnen auf dem Arbeitsweg, sondern auch für alle anderen Verkehrsteilnehmer. Daher ist es ebenfalls eine Pflicht. Pflichten und Gebote können sprachlich durch die deontische Logik analysiert werden. Fokussiert man ein ethisches Konzept auf solche Normen, Pflichten und Gebote, erhält man eine deontologische Ethik. In den meisten Fällen ist eine deontologische Ethik gleichbedeutend mit einer Pflichtenethik.28 Gesetze im engeren Sinne sind Gebote und Pflichten, die meist durch Sanktionen geschützt sind. Der Gesetzesbegriff ist aber nicht einheitlich, sondern kann – wie der Regelbegriff – auch umfassender verstanden werden, etwa, wenn er die Rede von Naturgesetzen einschließt oder wenn er wie bei Kant auf Pflichten und Gebote bezogen wird (s.u. Kap. 6). Im engeren Sinne als sanktionsbewehrte Normen sind Gesetze abhängig von einem politischen Sozialsystem und betreffen zunächst Fragen der Legalität, nicht der Ethik, wiewohl es auch eine Relation zwischen Ethik und Legalität geben wird. Macht sich Victoria spät abends auf den Weg nach Hause, ignoriert ein Rotlicht und wird dabei von der Polizei angehalten, macht sie sich eines Gesetzesverstoßes schuldig; sie muss dabei aber nicht unbedingt das Bewusstsein haben, ethisch falsch gehandelt zu haben. Werte beruhen auf Wertungen und sind daher selbst Handlungen, wenn auch keine gestaltenden, sondern darstellende Handlungen. Dabei sind Wertungen immer schon auf andere Elemente des Handlungsbegriffs bezogen, und zwar u.a. auf die Ziele einer Handlung und das Ergebnis einer Handlung bzw. mittelbar auch auf die Handlungsmittel. Aber auch die anderen Elemente des Handlungsbegriffs – insbesondere die weltanschaulichen Voraussetzungen – spielen eine notwendige Rolle im Begriff der Wertung. Werte verbinden Ziele oder Ergebnisse einer Handlung mit einem absoluten oder klassifikatorischen Wert („Es ist gut, morgens in die Uni zu fahren.“) oder mit einen relativen oder komparativen Wert („Es ist besser, in die Uni

28 Zur genauen Differenz vgl. Kutschera, F.v., Grundlagen der Ethik, 63–79.

Imperative

deontische Logik deontologische Ethik Pflichtenethik Gesetze

Werte

Wertung

28

Handeln

Normen

Handlungsmittel

zu fahren, als zu Hause zu bleiben.“).29 Werden komparative Werte auf einen Vergleichswert bezogen, können Werte auch quantifiziert werden, so dass man von einem quantitativen Wertbegriff spricht. Ein solcher quantitativer Wertbegriff spielt in ökonomischen Theorien eine große Rolle, da von ihm der Begriff des Preises abgeleitet werden kann. Inwieweit der quantitative Wertbegriff auch für die Ethik wichtig ist, ist umstritten.30 Werte sind nicht per se ethische Werte; auch durch ästhetische Werte (schön, schöner) lassen sich Sachverhalte beschreiben. Alle Handlungsregeln, die in einem ethischen Sinne Handlungen regulieren, sollen Normen genannt werden. In diesem Sinne wären Werte, Gebote, Gesetze, Pflichten etc. ethische Normen. Neben ethischen Normen gibt es auch technische Normen oder Regeln der Kunstfertigkeit, die sich in Kompetenzen einer Handlungsart äußern, ethisch aber weniger von Interesse sind. ad 6: Handlungen erfolgen in der Regel unter Einsatz von Handlungsmitteln. Als Handlungsmittel können gelegentlich Gegenstände bezeichnet werden wie beispielsweise das Fahrrad, mit dem Victoria die Universität erreichen will. Genau betrachtet ist es aber nicht das Fahrrad, sondern der Prozess oder die Handlung des Fahrradfahrens. Handlungsmittel sind also immer Teilhandlungen von Masterhandlungen (master acts),31 auf die sie bezogen sind. Die Unterscheidung von Teilhandlung und Masterhandlung ist eine relative, keine absolute Unterscheidung: Die Teilhandlung des Fahrradfahrens kann auch als Masterhandlung für die Teilhandlung des Pedaltretens verstanden werden. Umgekehrt kann die Masterhandlung des Arbeitsweges zur Universität als Teilhandlung zu anderen Masterhandlungen verstanden werden: sich umfassend zu bilden, Weisheit zu erlangen oder einen vertieften und verantworteten Glauben zu erlangen etc. Auch Handlungsmittel können auf Regeln bezogen werden und können beispielsweise durch absolute oder relative Werte geordnet werden. So könnte sich Victoria bei der Wahl ihrer Mittel des Arbeitsweges sagen: „Es ist besser, das Fahrrad zu benutzen, als zu Fuß zu 29 Vgl. Kutschera, F.v., Grundlagen der Ethik, 10–20. 30 So sieht z.B. Kutschera, F.v., Grundlagen der Ethik, 10–20, den quantitativen und den klassifikatorischen Wertbegriff durch den komparativen Wertbegriff grundgelegt, mit der Folge, dass eine auf Wahrscheinlichkeitsanalyse ruhende und letztlich zu einem quantitativen Wertbegriff führende Analyse semantisch grundlegend für alle drei Arten der Wertverwendung wird. Andererseits lehnt Kant (s.u. Kap. 6) jegliche Bedeutung quantitativer Wertbegriffe für die Ethik ab. 31 Vgl. Swinburne, R., Christian God, 56–62.

29

Ein relationaler Handlungsbegriff

gehen.“ Oder ein Mitbewohner ihrer Wohngemeinschaft könnte ihr vor dem Hintergrund seines ökologischen Bewusstseins zurufen, „Es ist falsch, das Auto zu benutzen!“, während sie in das Auto steigt, um wirklich schnell zur Uni zu gelangen: Handlungsmittel erscheinen also nie isoliert, sondern immer nur im Zusammenhang der anderen Handlungsrelate. Dies spielt insbesondere eine Rolle, wenn die Handlungsmittel nicht nur auf die Handlungsziele, die erreicht werden sollen, sondern auch auf die Handlungsergebnisse bezogen werden. ad 7: Handlungen erfolgen immer unter spezifischen Erwartungen hinsichtlich des Gelingens einer Handlung. Erwartungen sind daher weder mit dem Handlungsziel noch mit dem Handlungsergebnis identisch, sondern deutlich unterschieden. Das Ziel bei der Handlung der Teilnahme am Lottospiel ist vermutlich zu gewinnen. Dennoch dürften die meisten Lottospieler nicht die Erwartung haben zu gewinnen. Erwartungen sind rationale und affektive Haltungen, mit denen man die Handlung ausführt. Erwartungen sind rational, weil man das Gelingen einer Handlung positiv oder negativ einschätzen kann. Verschätzt man sich hier, kommt es zu Überraschungseffekten wie beispielsweise einem zwar beabsichtigten, aber unerwarteten Lottogewinn. Affektiv ist man auf eigene Handlungen genauso wie auf alles prozesshafte Geschehen durch Erwartungen bezogen: positiv durch Hoffnung und negativ durch Furcht. Erwartungen dieser Art spielen in der Ethik in ganz unterschiedlicher Weise eine Rolle. So gehört zur Technikethik die Technikfolgeabschätzung, die durch Extrapolation gegenwärtiger Zustände zukünftige mittels Wahrscheinlichkeiten abschätzen will. Die Extrapolation ist damit eine rationale Weise menschlichen Zugriffs auf Zukunft im Erwartungsbegriff. Auf diese Weise kann sogar – zumindest teilweise – das Überraschende einkalkuliert werden. Eben dies geschieht bei Lottospielern und dies geschieht auch, wenn Victoria aufgrund ihrer Lebenserfahrung abschätzen kann, dass sie etwa auf ihrem Arbeitsweg durch einen Unfall oder durch das zufällige Treffen eines Kommilitonen überrascht werden kann. Extrapolationen bewegen sich immer in der Menge all unserer durch Lebenserfahrung gebildeten Menge von Erwartungen. Nun tritt im prozessualen Ereigniszusammenhang der geschichtlichen Welt auch immer gänzlich Neues auf. So kann Victoria zwar vor ihrer Handlung abschätzen, einen ihr schon bekannten Kommilitonen zu treffen; ja sie kann sogar abschätzen, einen ihr noch unbekannten Kommilitonen zu treffen, den sie kennenlernen, lieben und heiraten wird. Wenn sie aber tatsächlich den ihr bisher unbekannten Albert trifft, ihn kennenlernt, liebt und heiratet, konn-

Erwartungen

Technikfolgeabschätzung

30

Handeln

eschatologische Ethiken Handlungsziel

Ziele

te sie eben nicht vorher abschätzen, die partikulare Person Albert zu treffen. Es gibt daher einerseits das prospektiv Überraschende, das innerhalb der Menge unserer möglichen Erwartungen liegt, und andererseits das retrospektiv Überraschende, das nicht vorhersagbar ist und außerhalb der Menge unserer Erwartungen liegt. Und dennoch muss auch das retrospektiv Überraschende in irgendeiner Weise einbezogen werden, da es zum prozessualen Ereigniszusammenhang unreduzierbar dazugehört. Dies ist aber nicht ohne Verweis auf die religiös-weltanschaulichen Gewissheiten einer Person möglich. Ethiken, die Handeln primär unter dieser Perspektive betrachten, können eschatologische Ethiken genannt werden. ad 8: Das Handlungsziel ist dabei das, was durch die Handlung und den Mitteleinsatz erreicht werden soll. Die handelnden Personen selegieren dabei aus den ihnen bekannten oder zur Verfügung stehenden zukünftigen Möglichkeiten eine Möglichkeit, die realisiert werden soll. Diese Selektion kann, wie schon im letzten Unterkapitel bemerkt, spontan oder habituell erfolgen. Entscheidend ist nicht, dass der Handelnde sich zuvor über alle Alternativen im Klaren gewesen ist, sondern nur, dass eine Alternative realisiert wurde. Grüßt man spontan eine Bekannte, wird man nicht alle Alternativen (sich zu verstecken, bewusst nicht zu grüßen etc.) abgewogen haben oder gar keine Alternativen gesehen haben. Andernfalls wäre es keine spontane Handlung. Dennoch ist eine Auswahl erfolgt und diese Selektion ist auch absichtlich geschehen. Denn wenn jemand gefragt wird, ob er unabsichtlich jemanden gegrüßt habe, wird diese Frage vermutlich von dem Gefragten als unsinnig zurückgewiesen werden. Die relative Struktur von Masterhandlung und Teilhandlung gilt selbstverständlich auch für die Handlungsziele, nicht nur für die Handlungsmittel. Ein Handlungsziel kann und wird in der Regel immer auf ein höheres Ziel hingeordnet sein, das selbst wieder auf ein noch höheres Ziel hingeordnet sein kann. Es ist aber auch denkbar, dass Handlungsziele einen Selbstzweck bilden, was häufig bei Spielen der Fall zu sein scheint. Da sich immer mehrere Ziele oder Zwecke als Handlungsziel in einer gegebenen Situation anbieten, müssen verschiedene Ziele miteinander verglichen werden können. Ein Vergleich setzt aber immer eine Regel voraus, nach der er angewandt werden kann. Ziele sind also von Regeln nicht losgelöst zu verstehen. Der Wertbegriff kann einem Ziel den absoluten oder klassifikatorischen Wert „gut“ („richtig“, „vorzüglich“ etc.) oder „schlecht“ („falsch“, „abzulehnen“ etc.) zuschreiben: „Es ist gut, die Universität zu besuchen.“ Die Ziele oder Zwecke können aber auch durch relative oder komparative Werte

31

Ein relationaler Handlungsbegriff

geordnet werden: „Es ist besser, die Universität zu besuchen, als zu Hause zu bleiben.“ Kommen Ziele und/oder Ergebnisse sowie Werte zusammen, kann auch von absoluten (klassifikatorischen) oder relativen (komparativen) Gütern gesprochen werden. Eine Ethik, die solche Güter in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellt, wird Güterethik genannt. Sie gehört – zusammen mit der Wertethik, die den Wertbegriff in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellt – zu den teleologischen Ethiken. Wie es neben ethischen auch ästhetische Werte gibt, so auch ästhetische Güter. Wird angenommen, dass relativ wertvollere Güter relativ weniger wertvollen Gütern im Handeln vorzuziehen sind, spricht man von Präferenzen. Man kann daher sagen, Victoria präferiert es, zur Uni zu gehen, oder zu ihren Präferenzen gehört es, sich in der Universität zu bilden, anstatt sich zu Hause auszuruhen. Betrachtet man Präferenzen lediglich von ihrem syntaktischen Gesichtspunkt aus, also von der Tatsache, dass sie durch komparative Wertbegriffe konstituiert sind, unter Vernachlässigung der Frage, wie bestimmte Präferenzen durch die personalen, sozialen und natürlichen Voraussetzungen inhaltlich bestimmt sind, spricht man von normativen Präferenzen.32 Da Ziele oder Zwecke durch Handeln immer absichtlich gewählt werden, wird mitunter auch von Absichten gesprochen und die Absicht selbst als Relat in den Handlungsbegriff aufgenommen, während sie bei der hier vorgestellten Analyse in der Relation erscheint. Ziele oder Zwecke als Absichten können auch unabhängig von den Handlungsergebnissen betrachtet und mit Handlungsregeln werthaft verbunden werden. Fährt Victoria beispielsweise einen Passanten an, weil sie schnell zur Uni möchte, könnte sie auf die entrüstete Frage des Passanten entschuldigend und vielleicht ohne Unrechtsbewusstsein antworten: „Ich wollte doch nur schnell die Uni erreichen!“ Ethiken, die primär Werte oder Handlungsziele (ohne Berücksichtigung der Ergebnisse) in das Zentrum ihrer Betrachtung stellen, können intentionalistische Ethiken oder Gesinnungsethiken genannt werden. ad 9: Das Handlungsergebnis beinhaltet im besten Falle das Handlungsziel und auch die Handlungserwartung. Da die Handelnden aber nur notwendige und nicht hinreichende Bedingung zum Ereigniseintritt sind, kann dieser selbstverständlich auch davon abweichen. So kann sich Victoria während der Verfolgung ihres Handlungsziels, die Universität zu erreichen, beim Fahrradfahren durch einen Sturz einen Beinbruch zuziehen und statt der Universität ein 32 Vgl. Kutschera, F.v., Grundlagen der Ethik, 13.

Güterethik Güter Wertethik teleologische Ethiken

Präferenzen

normative Präferenzen

Gesinnungsethiken

Handlungsergebnis

32

Handeln

Verantwortungsethiken

Motiv, Ursache und Grund

Krankenhaus aufsuchen. Das Handlungsergebnis ist hier also vom Handlungsziel unterschieden, aber auch von der Handlungserwartung, denn Studierende rechnen nicht immer damit, dass der morgendliche Arbeitsweg misslingt. Aber auch wenn das Handlungsergebnis das Handlungsziel beinhaltet, ist es nicht identisch mit diesem. Da Handlungen nicht isoliert erscheinen, sondern immer in einem Handlungs- und Ereigniszusammenhang eingebettet sind, haben Handlungen immer beabsichtigte oder unbeabsichtigte Nebenfolgen, die ebenfalls zum Handlungsergebnis gehören und die offensichtlich eher von der eingesetzten Mittelwahl abhängen. So könnte Victoria als Handlungsmittel im Winter etwa den Bus oder ihr Auto wählen. Wählt sie das Auto, kommt sie schnell in der Universität an, erhöht aber als Nebenfolge ihren carbon foot print. Wählt sie den Bus, kann es geschehen, dass sie zwar ebenfalls die Universität zuverlässig erreicht, sich aber aufgrund des hohen Ansteckungspotenzials eine Erkältung einfängt. Ethiken, die insbesondere auf diese Teilrelation zwischen Mittel und Ergebnissen achten, können Verantwortungsethiken genannt werden. Angemerkt werden muss noch, dass mindestens drei Begriffe, mit deren Hilfe Handlungen oft analysiert werden, hier nicht explizit in der Relation erscheinen: Motiv, Ursache und Grund des Handelns. Handlungsgründe fragen danach, warum ein Handelnder eine Handlung unternommen hat. Geantwortet werden kann hier mittels innerer Gründe,33 die im Motiv oder der Motivation einer Handlung bestehen, sowie mit Ursachen als äußeren Gründen, die sich auf den Geschehensablauf als solchen beziehen. Gründe, Ursachen und Motive bilden aber keine eigene Relatstelle, weil unterschiedliche Relatstellen damit besetzt werden können. Das Motiv eines Handelnden für eine Handlung kann das Handlungsziel sein, aber auch die Erwartung, die eigene affektive Verfassung oder die vernünftige Einsicht in bestimmte Regeln. Ursachen können sowohl in anderen Handlungen personaler Handelnder als auch im apersonalen Geschehen bestehen.

33 Vgl. Fischer, J., Theologische Ethik, 109–114.

33

Ein relationaler Handlungsbegriff

Fazit 2 Der dieses Buch strukturierende Handlungsbegriff lautet: „Eine Person (1) mit ihren Fähigkeiten des Willens, der Affekte und der Vernunft wählt im Zusammenhang anderer Personen (2) und im Zusammenhang des natürlichen Geschehens (3) unter ihren empirischen Gewissheiten (4a) sowie ihren religiösen Gewissheiten (4b) unter Beachtung von Regeln (Normen, Pflichten, Gebote und Werte) (5) und unter Zuhilfenahme von Handlungsmitteln (6) sowie unter Erwartungen (7) ein Ziel (8) aus der Menge der ihr bekannten möglichen zukünftigen Ziele absichtlich aus und ist so notwendige Bedingung zum Eintritt des realisierten Ergebnisses (9).“ Fokussieren ethische Theorien auf die handelnde Person, spricht man von Personalethiken, zu denen auch Tugendethiken gehören. Fokussieren sie auf den Interaktionszusammenhang, spricht man von Sozialethiken. Steht der apersonale Geschehensablauf im Mittelpunkt, ist von natürlichen Ethiken die Rede. Regelethiken beziehen sich auf den regulativen Aspekt des Handelns. Sofern sie auf Gebote und Pflichten fokussieren, kann von deontologischen oder Pflichtenethiken gesprochen werden. Auf dem Begriff des Wertes basieren Wertethiken. Eschatologische Ethiken betrachten die Handlungserwartungen in besonderer Weise. Auf die Handlungsziele sind Güterethiken bezogen, die auch teleologische Ethiken sein können. Ethiken, die das Handlungsergebnis nicht betrachten, heißen Gesinnungsethiken. Ethiken, die das Handlungsergebnis in Beziehung zu den eingesetzten Handlungsmitteln betrachten, können Verantwortungsethiken genannt werden.

Literaturempfehlung Runggaldier, Edmund: Was sind Handlungen? Eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Naturalismus, Stuttgart u.a. 1996. Haynes, John-Dylan/Bode, Stefan/Hanxi He, Anna/Soon, Chun Siong/Trampel, Robert/Turner, Robert: Tracking the Unconscious Generation of Free Decisions Using Ultra-High Field fMRI, Plos One 6 (2011), 1–13. Rott, Hans: Die Freiheit in den Zeiten neurowissenschaftlichen Fortschritts, in Mühling, M. (Hg.), Gezwungene Freiheit?, Göttingen 2009, 117–134. Evers, Dirk: Hirnforschung und Theologie, ThLZ 131 (2006), 1107–1122.



3. Ethik

3.1 Ethik als Theorie vorzüglichen Handelns

das Gute

Am Ende des vorletzten Abschnitts wurde darauf hingewiesen, dass Ethik nicht einfach identisch mit Handlungstheorie ist, sondern als Theorie des vorzüglichen, d.h. vorzuziehenden Handelns bzw. als Theorie „guten“ Handelns zu verstehen ist. Nun erscheint aber der Begriff des Guten in der zuletzt beschriebenen mehrstelligen Handlungsrelation nur formal: im Zusammenhang des Begriffs kategorialer und komparativer Werte und im Zusammenhang des sich aus dem Wert- und dem Zielbegriff ergebenden Begriffs der Güter. Eine inhaltliche Bestimmung des Guten wurde noch nicht versucht, und zwar aus gutem Grund: De facto wurde nämlich in der Geschichte der Ethik versucht, den Begriff des Guten an unterschiedlicher Stelle des Handlungsbegriffs, meist an einer einzigen Relatstelle oder an nur bestimmten Teilrelationen zu verorten. So könnte man der Meinung sein, dass ein gutes Ziel eine Handlung gut macht oder eine gute Person oder gute Regelbefolgung etc. All diese unterschiedlichen Formen das Gute zu verstehen, sind im Laufe der Geschichte der Ethik oft als einander ausschließend verstanden worden und in Konkurrenz zueinander getreten, so dass mitunter Güterethik, Pflichtenethik, Verantwortungsethik oder Tugendethik als einander ausschließend betrachtet wurden. Ist unsere Analyse des Handlungsbegriffs aber richtig, dann handelt es sich bei den genannten Ethiktypen nicht um einander ausschließende Konzeptionen. Vielmehr kommt der Eindruck, dass es sich um rivalisierende Ethikkonzepte handelt, nur dadurch zustande, dass offensichtlich das „Gute“ monokausal oder monistisch bestimmt werden soll und nicht berücksichtigt wird, um welch einen relationsreichen Begriff es sich beim Begriff der Handlung handelt. Es lässt sich nun vermuten, dass sich das „Gute“ weder an einem einfachen Relat festmachen lässt noch dass es auf einer einfachen zweistelligen Relation beruht, sondern dass es irgendwo in der Multirelationalität des Handlungsbegriffs verborgen ist und noch zu entdecken ist. Ebenso ist zu vermuten, dass die genannten Typen von Ethikkonzeptionen tatsächlich verschiedene Betrachtungsweisen des Handlungsbegriffs darstellen, die einander eher ergänzen denn ausschließen. Diese zuletzt genannte Idee wurde zuerst vermutlich von F.D.E. Schleiermacher (1768–1834) vertreten, der Tugendlehre, Pflichtenlehre und Güterlehre nicht als einander ausschließende Konzeptionen verstand, sondern auf ver-

35

Ethik als Theorie vorzüglichen Handelns schiedene Relate des Handlungsbegriffs bezog. Dabei dient die Güterethik als integrierendes Konzept.1 Die hier vorliegende Konzeption baut auf Schleiermachers Gedanken auf, geht aber nicht wie Schleiermacher von drei, sondern eben von mehreren Relaten des Handlungsbegriffs aus.

In den folgenden Hauptkapiteln werden diese unterschiedlichen Ethikkonzeptionen ausführlich als auf Teilrelationen des Handlungsbegriffs beruhend erklärt. Eine Kenntnis dieser verschiedenen ethischen Aspekte ist auch für ethische Argumentationen wichtig. Oftmals lässt sich in ethischen Debatten beobachten, dass verschiedene Meinungen gegeneinander stehen und für oder gegen eine Handlungsoption mit den unterschiedlichen argumentativen Mitteln der genannten Ethikarten argumentiert wird. Versteht man diese als einander ausschließend, erreicht man bereits in dieser Phase der Diskussion faktisch einen Stillstand. Bei der vorliegenden Darstellung geht es nicht nur um eine Vermittlung der Gehalte verschiedener ethischer Argumentationsmuster, sondern die inhaltliche Frage nach dem „Guten“ soll immer mitbedacht werden. Denn Ethik kann als Theorie des vorzüglichen Handelns bzw. als Theorie des „guten“ Handelns bezeichnet werden. Die Beschreibung der Ethik als Theorie guten Handelns ist klassisch, die als Theorie vorzüglichen Handelns nicht.2 Dennoch ist aus theologischen Gründen die letztere Beschreibung vorzuziehen. Um sich dies klarzumachen, kann zunächst auf einige Überlegungen D. Bonhoeffers (1906–1945) verwiesen werden: „Das Wissen um Gut und Böse scheint ein Ziel aller ethischen Besinnung zu sein. Die christliche Ethik hat ihre erste Aufgabe darin, dieses Wissen aufzuheben. […] Die christliche Ethik erkennt schon in der Möglichkeit des Wissens um Gut und Böse den Abfall vom Ursprung […]. Das Wissen um Gut und Böse deutet auf die vorangegangene Entzweiung mit dem Ursprung. […] Der Mensch wird aber seinen Ursprung nicht los. Statt sich im Ursprung Gottes zu wissen, muß er nun sich selbst als Ursprung wissen. Sich nach seinen Möglichkeiten verstehend, nämlich gut oder böse zu sein, begreift sich der Mensch als Ursprung von Gut und Böse. Eritis sicut Deus.“3

Boenhoeffer zitiert hier Gen 3,5 und bezieht die Versuchung der Schlange – „ihr werdet sein wie Gott“ – auf die ethische Fähigkeit des Menschen, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu müssen. Im Gegensatz zur modernen Deutung der Vollendung der Schöpfung 1 Vgl. zur Ethik Schleiermachers Herms, E., Reich Gottes und menschliches Handeln. 2 Schon Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1f. (1094a), fragt in der Ethik nach dem Guten und Besten. Die Redeweise vom vorzüglichen Handeln wird in der Gegenwart v.a. in verschiedenen Schriften von Eilert Herms verwandt. 3 Bonhoeffer, D., Ethik, 301f. (19f.).

Ethikkonzeptionen

Gut und Böse

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Ethik

Sünde

des Menschen durch den „Fall“,4 in der der Mensch erst durch die Erkenntnis von Gut und Böse zu seinem Wesen kommt, versteht Bonhoeffer hier den Drang des Menschen nach dem Guten gerade als Abfall von seinem Wesen und Ursprung. Denn faktisch erreicht der Mensch keine feste Unterscheidung zwischen Gut und Böse, sondern geschichtlich und sozial relativ wechselnde Maßstäbe und damit letztlich das Gegenteil dessen, was die Schlange verspricht.5 Zwischen Gut und Böse unterscheiden zu wollen, ist Ausdruck der Sünde, die aber nicht als willentliche Tat verstanden wird. Vielmehr hat der Mensch überhaupt keine Wahl, diese Unterscheidung zwischen Gut und Böse vorzunehmen, weil sie nach Bonhoeffer schon im Inhalt des Gewissens erfolgt.6 Es sei an dieser Stelle dahingestellt, ob das Gewissen wirklich eine inhaltliche Erkenntnis von Gut und Böse zu leisten vermag (s.u. Kap. 10.2.5). Worauf es hier ankommt, ist, dass nach christlichem Verständnis der Mensch – und zwar auch der vertrauende Christ – immer zugleich Sünder und Gerechter (simul iustus et peccator) ist. Die Sünde ist aber weniger eine bewusste Tat und betrifft auch nicht nur einzelne menschliche Fähigkeiten, sondern den ganzen Menschen (totus homo). Augustin (354–430) und Martin Luther (1483–1546) konnten dabei sogar davon ausgehen, dass der Mensch ohne Gottes Hilfe notwendig nicht Gutes tun kann, eben weil er das Gute gar nicht kennt. Dennoch muss der Mensch natürlich verantwortlich handeln, obwohl es nicht möglich ist, in diesem Handeln das Gute an sich zu verwirklichen. Dies bedeutet aber keineswegs eine Bankrotterklärung der Ethik, denn es gibt eine Möglichkeit: „Es geht aus dem Gesagten hervor, daß zur Struktur verantwortlichen Handelns die Bereitschaft zur Schuldübernahme und die Freiheit gehört.“7 Diese Bereitschaft zur Schuldübernahme mag sich historisch der besonderen Situation des Engagements Bonhoeffers im Widerstand 4 Vgl. z.B. Gertz, J.C. (Hg.), Grundinformation Altes Testament, 259. Traditionell wird diese Erzählung die Erzählung vom Sündenfall genannt. In der Erzählung selbst erscheint das Wort Sünde allerdings nicht. 5 Vgl. Bonhoeffer, D., Ethik, 246 (228f.). 6 Vgl. Bonhoeffer, D., Ethik, 277f. (258f.): „Dieser [Inhalt des Gewissens] ist zunächst das eigene Ich in seinem Anspruch, ‚wie Gott‘ – sicut Deus – sein zu wollen in der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Der Gewissensruf im natürlichen Menschen ist der Versuch des Ich sich in seinem Wissen um Gut und Böse vor Gott, vor den Menschen und vor sich selbst zu rechtfertigen und in dieser Selbstrechtfertigung bestehen zu können. Das Ich, das in seiner kontingenten Einzelheit keinen Halt findet, führt sich auf ein allgemeines Gesetz des Guten zurück […]. So bleibt der Mensch in seinem Gewissen gebunden an ein selbstgefundenes Gesetz.“ 7 Bonhoeffer, D., Ethik, 275 (256).

37

Systematische Theologie

gegen den Nazionalsozialismus verdanken. Sachlich ist diese Schuldübernahmebereitschaft aber gerade keine Ausnahme, sondern entspricht dem Normalfall menschlichen In-der-Welt-Seins. Daher ist Ethik nicht als Theorie des „guten“ Handelns, sondern als Theorie des vorzüglichen Handelns zu verstehen. „Vorzüglich“ soll dabei kein absolutes Prädikat wie „exzellent“ bezeichnen, sondern bezieht sich im Sinne von „vorzuziehend“ auf die Situation menschlichen Handelns unter den Bedingungen der Sünde, in der es gegebenenfalls gilt, durch Handeln ein geringeres Übel zu realisieren. Entsprechend muss sich die Suche im mannigfachen Beziehungsgefüge des Handelns nicht primär auf Gütekriterien, sondern auf Vorzüglichkeitskriterien beziehen.

Theorie des vorzüglichen Handelns

Fazit 3 Da unterschiedliche Ethikkonzeptionen – wie Tugendethik, Güterethik, Pflichtenethik oder Verantwortungsethik – aus der Perspektive unterschiedlicher Relate des Handlungsbegriffs gewonnen sind, stellen sie keine alternativen oder einander ausschließenden Positionen dar, sondern einander ergänzende Sichtweisen. Da der Mensch im Leben der unvollendeten Gegenwart immer zugleich Sünder und Gerechter bleibt, ist tatsächlich gutes Handeln faktisch nicht verwirklichbar, denn „Güte“ ist primär eine Gottesprädikation (Mk 10,18). Im Handeln des Menschen geht es nicht darum, das tatsächlich Gute zu verwirklichen, sondern darum, unter der Bedingung ggf. bewusster Schuldübernahme das jeweils vorzuziehende Handeln verantwortlich zu gestalten. Daher ist Ethik nicht die Theorie des guten Handelns, sondern die Theorie des vorzüglichen oder vorzuziehenden Handelns.

3.2 Systematische Theologie Aus dem hier verwandten Handlungsbegriff geht hervor, dass Handeln immer Interaktion ist und in einen synchronen (gleichzeitigen) und diachronen (geschichtlichen) Handlungsablauf eingebunden ist. Die Gesamtheit derjenigen Handlungsgeschehensabläufe, deren religiöse Gewissheiten im christlichen Wirklichkeitsverständnis bestehen – also die Gesamtheit des Handelns und des In-der-Welt-Seins von Christen – kann die christliche Praxis genannt werden. Systematische Theologie kann dann verstanden werden als die methodischkontrollierte Selbstexplikation der christlichen Praxis. Systematische Theologie ist damit selbst ein Handeln, nämlich explikatives, das auf einen Handlungszusammenhang, die christliche Praxis, bezogen ist und immer aus diesem kommt. Diese Bestimmung des Begriffs Systematischer Theologie ist allerdings noch erläuterungsbedürftig und muss gegen verschiedene

Systematische Theologie

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Ethik Einwände

transzendentale Fragen

Wissenschaft von Gott

Missverständnisse geschützt werden. Im Wesentlichen sind zwei Einwände gegen diese Begriffsbestimmung von Systematischer Theologie denkbar: a) Der transzendentalistische Einwand: Wenn Systematische Theologie menschliche Praxis zum Gegenstand hat, bedeutet dies dann, dass sie einfach die jeweils historisch vorzufindenden Zustände des christlichen Glaubens zu beschreiben hätte? Und falls dem so wäre, müsste Systematische Theologie nicht eher die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit jeglicher christlichen Praxis als die christliche Praxis selbst zum Gegenstand haben? Solche Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit werden transzendentale Fragen genannt. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nach konkreten empirischen Gegebenheiten, sondern nach deren Bedingungen fragen. Und müssten diese Bedingungen der Möglichkeit christlicher Praxis dann nicht jedenfalls in etwas diese christliche Praxis selbst Begründendem und ihr Vorausliegendem bestehen, wie beispielsweise „das christliche Wahrheitsbewusstsein“ oder das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ des Selbstbewusstseins an sich, um Begriffe aus der Theologie F.D.E. Schleiermachers (1768–1834) zu wählen, die ein Beispiel eines solchen transzendentalistischen Ansatzes sind? Dieser Einwand besteht aus zwei Teilen. Auf die erste Frage, ob nicht das Thema der Bedingungen der Möglichkeit christlicher Praxis Gegenstand der Systematischen Theologie, vielleicht sogar deren primärer Gegenstand zu sein hätte, ist uneingeschränkt mit „ja“ zu antworten. Die zweite Frage, ob nicht diese Bedingungen außerhalb der christlichen Praxis liegen müssten, ist hingegen mit „nein“ zu antworten. Die christliche Praxis kann durchaus ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen mitbedingen und mitenthalten. Eine Verschiebung auf reine Bewusstseinsphänomene jedenfalls ist zwar prinzipiell möglich, aber nicht notwendig und auch nicht sinnvoll, weil auch Bewusstseinsphänomene Teil der christlichen Praxis sind. Ob es sinnvoll ist, solche Theorien des Selbstbewusstseins in einen fundamentalen oder basalen Rang zu erheben, erscheint allerdings fraglich: Auch über Bewusstseinsphänomene kann nur sprachlich oder zeichenhaft kommuniziert werden. Wenn überhaupt einem Teil des Gegenstandsbereichs christlicher Praxis ein fundamentaler Rang gegenüber anderen zugesprochen werden soll, dann böte sich eher die Semiotik an, die sich mit Zeichen beschäftigt. Aber eine fundamentale Grundlagentheorie für die Systematische Theologie muss gar nicht isoliert werden, da die Bearbeitung der transzendentalen Frage in der Definition nicht ausgeschlossen ist. b) Der theologische Einwand: Dieser Einwand kann in der Form mindestens zweier Gestalten, formal und inhaltlich, vorgebracht werden: Formal könnte darauf hingewiesen werden, dass „Theologie“ wörtlich eher Wissenschaft von Gott bedeute und auf diese Weise in der Geschichte der Theologie auch gebraucht worden sei. Darauf ist zu antworten, dass sich beide Definitionen nicht ausschließen. Systematische Theologie wird immer Rede von Gott sein, aber Gott erscheint nicht abstrakt als raumzeitlicher Gegenstand neben anderen raumzeitlichen Gegenständen, sondern eben nur im Vollzug der christlichen Praxis und

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Systematische Theologie ihren Voraussetzungen selbst. Christlicherseits wird Gott als „Schöpfer aller Dinge“8 bekannt, so dass man durchaus präzisieren kann, dass Systematische Theologie auch als Wissenschaft von Gott und allen Dingen in Bezug auf Gott9 verstanden werden kann. In seiner inhaltlichen Gestalt ist der Einwand noch schärfer: Wenn christliche Theologie Explikation christlicher Praxis sein soll, gleichzeitig die Möglichkeitsbedingungen in dieser christlichen Praxis selbst liegen sollen und Systematische Theologie dennoch Rede von Gott sein soll, wird dann nicht die christliche, also jedenfalls menschliche Praxis zur Bedingung der Möglichkeit der Rede von Gott? Würde damit nicht etwas Bedingtes, menschliche Praxis, zum Grund für etwas Unbedingtes (Gott)? Würde sich somit nicht das Bedingte als vermeintlich Unbedingtes ausgeben? Gerade eine solche Vertauschung von Bedingtem und Unbedingtem ist aber nach Paul Tillich (1886–1965) ein Kennzeichen des Aberglaubens und wird von ihm auch als das Dämonische bezeichnet.10 Oder noch anders ausgedrückt: Würde dann nicht gerade die Einsicht verraten sein, dass Theologie nichts anderes als „wissenschaftliche Selbstprüfung der christlichen Kirche hinsichtlich des Inhalts der ihr eigentümlichen Rede von Gott“11 zu sein habe, dass sie also nur die Selbsterschließung Gottes nachdenken kann, nicht aber dieser vorausgehen kann, um Bestimmungen Karl Barths (1886–1968) aufzunehmen? In der Tat wird man zugestehen müssen, dass, wenn Gott Gott und nicht Mensch ist – bzw. wenn unter dem Gottesbegriff „das, worüber hinaus größeres nicht denkbar ist“,12 zu verstehen ist –, Gott nicht unter menschliche Praxis gefasst werden kann und auch nur dann durch menschliche Praxis ansatzweise erkannt werden kann, wenn er sich selbst in, mit und unter menschlicher Praxis erschließen will und erschließt. Der Terminus christliche Praxis bezieht sich nicht nur auf alles Handeln, das Christen zum Subjekt hat, sondern auch auf dasjenige (de facto göttliche) Handeln, das die menschliche und damit auch die christliche Praxis erst schafft, zurechtbringt und inspiriert. Subjekt der christlichen Praxis ist eben nicht einfach der Mensch und sind nicht einfach Menschen untereinander, sondern Personen in ihrem interaktionellen Handeln. Aber sowohl der Begriff des Handelns als auch der Personbegriff kann und muss auch auf den Gottesbegriff angewandt werden, ja sogar vorgängig auf den Gottesbegriff und erst sekundär auf menschliche Interaktion. Göttliches Handeln unterscheidet sich dabei präzise dadurch von menschlichem Handeln, dass es seine eigenen Möglichkeitsbedingungen setzt (s.u. Kap. 12).

8 Vgl. etwa Luther in der 9. Strophe des Weihnachtslieds EG 24. 9 Vgl. Pannenberg, W., ST, Bd. 1, 15; Pannenberg, W., Wissenschaftstheorie und Theologie, 300. 10 Vgl. Tillich, P., ST I, 46. 11 Barth, K., KDI/1, §1, 1. 12 Anselm von Canterbury, Proslogion, Kap. 2, 84.

Unbedingtes

das Dämonische

christliche Praxis

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Ethik

Fazit 4 Systematische Theologie kann sowohl als (a) methodisch-kontrollierte Selbstexplikation christlicher Praxis als auch als (b) wissenschaftliche Rede von Gott in seiner Offenbarung und allem Geschehen in Bezug auf Gott verstanden werden. Beide Definitionen sagen sogar das Gleiche, nur von einem anderen Ausgangspunkt aus. Während (a) epistemologisch der Erkenntnisordnung folgt, folgt (b) ontologisch der Sachordnung.

3.3 Ethik und Systematische Theologie

Dogmatik

Theologie der Religionen Eschatologie

Religionsphilosophie, Fundamentaltheologie

Ethik

Dogmatik und Ethik

Eine solche Explikation der christlichen Praxis kann aus unterschiedlicher Perspektive erfolgen. Geht man in der Explikation von der Perspektive der christlich-religiösen Gewissheiten aus, wählt man also die Perspektive des Glaubens, betreibt man Dogmatik. Geht man von der Tatsache aus, dass die christliche Praxis immer nur in Interaktion mit einer nicht-christlichen Praxis existieren kann, d.h. im Zusammenhang anderer (quasi)religiöser Gewissheiten, betreibt man eine Theologie der Religionen. Geht man in der Darstellung von der Perspektive der Erwartungen aus, betreibt man Eschatologie (die Lehre von dem Letztgültigen), die nicht als Teilgebiet der Dogmatik verstanden werden kann, sondern als eine eigenperspektivische Darstellung des Ganzen der Systematischen Theologie zu verstehen ist.13 Geht man primär von der personalen Teilperspektive der Vernunft aus, kann Systematische Theologie als Religionsphilosophie oder Fundamentaltheologie verstanden werden. Geht man in der Darstellung von der Relation zwischen religiösen Gewissheiten und empirischen Gewissheiten aus, betreibt man Wissenschaftskulturdialog oder kombinatorische Theologie. Wählt man die Perspektive der Regeln, der Mittel, der Ziele, des Ergebnisses, des Willens oder der Affekte, dann kann Systematische Theologie als Ethik verstanden werden. In all den genannten Teildisziplinen der Systematischen Theologie geht es also um einen einheitlichen Gegenstand – die christliche Praxis –, die aus unterschiedlichem Blickwinkel dargestellt wird. Entsprechend kann keine der Disziplinen von den anderen separiert werden, und Fragestellungen der anderen Disziplinen werden immer erscheinen müssen. Das Gesagte gilt dann auch für das Verhältnis von Dogmatik und Ethik: Sie sind perspektivisch unterschieden, aber durch ihren einheitlichen Gegen13 Vgl. Mühling, M., Eschatologie, 40.

Ethik und Systematische Theologie

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standsbereich so aufeinander bezogen, dass dogmatische Arbeit ohne Einbezug der Ethik genauso unmöglich ist wie ethische Arbeit ohne den Einbezug dogmatischer Fragestellungen. Diese Verortung der Ethik im Bereich der Systematischen Theologie ist nicht unumstritten. Es bieten sich mehrere Alternativen, wobei sich aufgrund der historischen Ausbildung von Dogmatik und Ethik als akademisch institutionalisierten Hauptdisziplinen die Fragestellung meist auf das Verhältnis dieser beiden Teildisziplinen beschränkt: a) Ethikeinschließende Dogmatik:14 Ethik wird hier so verstanden, dass sie in ethikeinschließeneiner logischen Folgebeziehung zur Dogmatik steht. Gleichzeitig wird dabei de Dogmatik die Dogmatik als Explikation des Glaubens vorgeordnet und die Ethik sachlich nachgeordnet, so dass zwar eine ethikunabhängige Dogmatik denkbar ist, nicht aber eine dogmatikunabhängige Ethik. Diese Verhältnisbestimmung der Dogmatik vor der Ethik kann innertheologisch durch die Vorordnung des Glaubens vor den Werken oder des Indikativs vor dem Imperativ begründet werden. Tatsächlich wurde auf diese Weise geradezu Jahrhunderte lang Dogmatik die Verhältnisbestimmung vorgenommen. Dennoch gibt es einen nicht zu unterschätzenden Einwand gegen diese Verhältnisbestimmung: Es mag zwar systematisch-theologisch richtig sein, dass der GlauEthik be die Werke impliziert, so dass die Werke die Früchte der glaubenden Person sind.15 Ebenso ist es richtig, dass dogmatische Fragestellungen ethische Implikationen haben. Aber daraus folgt noch nicht eine sachliche Überordnung der Dogmatik über die Ethik. Dies wäre nur dann gegeben, wenn der GegenAbb. 3: Ethikeinschließende Dogmatik standsbereich der Dogmatik umfangreicher als der der Ethik wäre, so dass Ethik nichts anderes als eine Teilmenge der Dogmatik wäre. Dies ist aber offensichtlich falsch, denn die Ethik kann sich mit Problemen beschäftigen, die in der Dogmatik nicht immer angerissen werden müssen. Die hier vorgelegte Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik mit dem einheitlichen Gegenstandsbereich der christlichen Praxis erkennt die particula veri an, dass ethische Probleme sich als dogmatische Folgen darstellen können, muss aber betonen, dass das Umgekehrte auch der Fall ist: Auch dogmatische Problemstellungen können sich als Folgen aus ethischen Fragestellungen ergeben. b) Dogmatikfremde Ethik: Hier wird Ethik als vollständig von der Dogma- dogmatikfremde tik unabhängig verstanden, deren Gegenstandsbereiche sich wie zwei ele- Ethik mentfremde Mengen nicht überlappen. Für diese Verhältnisbestimmung spräche die zunehmende Emanzipation der Ethik als wissenschaftlicher 14 Die hier vorgenommene Einteilung setzt die von Birkner, H.-J., Verhältnis von Dogmatik und Ethik, und die von Fischer, J., Theologische Ethik, 49–57, vorgenommene voraus, ist aber nicht mit diesen identisch. 15 S.u. Kap. 12.

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Ethik

Disziplin von der Dogmatik seit der Zeit der Reformation. Aber Dogmatik Ethik auch wenn es so scheint, als könnten die Bereiche strikt getrennt werden, so ist doch deutlich, dass eine solche Verhältnisbestimmung die Einheit der Theologie überhaupt sprengen würde. Faktisch wird eine solche Position auch kaum vertreten. Dennoch ist es möglich, eine Abb. 4: Dogmatikfremde Ethik dogmatikunabhängige Ethik zu behaupten. dogmatikein- c) Dogmatikeinschließende Ethik: Eine dogmatikunabhängige Ethik kann nur schließende Ethik konsequent vertreten werden, wenn die Ethik die Aufgabe der Dogmatik mit übernimmt. Man kann dann zu der Behauptung gelangen, dass die Ethik die Dogmatik ersetzen kann, weil sie deren Aufgaben mit übernimmt bzw. besser übernehmen kann als die Dogmatik selbst. Im 20. Jh. dürfte T. Rendtorffs Programm einer „ethischen Theologie“ diesem Ethikverständnis faktisch am nächsten gekommen Ethik sein, wenn er auch formal diese Aufgabe an die Fundamentaltheologie delegieren will.16 Klassische dogmatische Fragestellungen hätten nur insoweit Bedeutung, wie sie in der Ethik als Lebenswissenschaft selbst zur Sprache kämen. Der Dogmatik Gegenstandsbereich der Dogmatik wäre eine Teilmenge der Ethik. Ethik könnte von Dogmatik unabhängig gedacht werden, nicht aber Dogmatik von Ethik. Es handelt sich dann gewissermaßen um die umgekehrte Verhältnisbestimmung zu Typ a) und letztlich ist gegen sie der gleiche Einwand Abb. 5: Dogmatikeinschließende vorzubringen: Es mag sein, dass Ethik bestimmte dogmatiEthik sche Fragestellungen mitbehandeln, vielleicht sogar besser behandeln kann. Aber auch das Umgekehrte ist möglich: Nicht alle Fragen des christlichen Glaubens lassen sich rein aus der Perspektive von Regeln, Mitteln, Zielen etc. behandeln. dogmatiküberlap- d) Dogmatiküberlappende Ethik: Man könnte auch annehmen, dass sich die pende Ethik Gegenstandsbereiche von Dogmatik und Ethik überlappen, so dass eine gemeinsame Schnittmenge entsteht. Für diese Verhältnisbestimmung würde sprechen, dass in der theologischen Ethik auch Fragestellungen und Probleme der nicht-theologischen, philosophischen oder „allgemeinen“ Ethik behandelt werden und immer behandelt worden sind, wie auch die nicht ungefährliche Vermutung, es gäbe dogmatische Problemstellungen, die mit menschlichem Handeln nichts zu tun hätten. Die im Gefolge Thomas v. Aquins (ca. 1225–1274) in der katholischen Theologie üblich gewordene Unterscheidung zwischen einer Natur, zu der dann ein natürliches Gesetz (lex naturalis) gehören würde, und einer auf Offenbarung beruhenden Über-

16 Vgl. Rendtorff, T., Ethik, Bd. 1, 44.

Ethik und Systematische Theologie

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natur, würde für diese Verhältnisbestimmung sprechen.17 Aber Dogmatik Ethik auch wenn ein Vergleich gegenwärtiger dogmatischer und ethischer Lehrbücher jeweils eine Schnittmenge und einen Eigenbestand an verhandelten Themen zu Tage fördern dürfte, spricht dies nicht für diese Verhältnisbestimmung. Denn die faktische Überlappung des TheAbb. 6: Dogmatiküberlappende Ethik menbestands von Dogmatik und Ethik ist pragmatisch aufgrund akademischer Funktionen bedingt, nicht aufgrund eines getrennten Gegenstandes. Die Tatsache einer Arbeitsteilung spricht nicht für unterschiedliche Gegenstandsbereiche. e) Dogmatikidentische Ethik: Vor allem Karl Barth (1886–1968) hat sich strikt dogmatikidentigegen die These gewandt, es könne einen Gegenstandsbereich der Ethik sche Ethik geben, der von der Dogmatik unabhängig wäre und damit letztlich gegen die hier vorgestellten Typen b), c) und d), ja sogar gegen den Typ a). Barths These lautet vielmehr: „Die Dogmatik selbst ist Ethik. Auch die Ethik ist Dogmatik.“18 Barth will auf diese Weise eine Auflösung der Dogmatik in die Ethik ausschließen. Eine auch nur methodische Unterscheidung zwischen Dogmatik und Ethik bedeute schon, dass es zu einer „fatale[n] Vertauschung der Subjekte, nämlich Gottes und des Menschen“ komme und dabei der Mensch „zum eigentlichen Ethik konstituierenden Prinzip der Ethik gemacht“ werde.19 Eine solche Subjektvertauschung wäre aber gefährlich, weil nun Dogmatik die Eigenmächtigkeit und Selbstzweckhaftigkeit des Menschen Gott ablösen und damit instrumentalisieren würde. Daher ist eine auch nur im Ansatz gedachte Eigenständigkeit von Ethik für Barth Ausdruck von Sünde, während eine korrekte Einordnung der Ethik gerade die Heiligung des Menschen durch Gott zum Ausdruck zu bringen habe. Aber eben auch Barth sieht hier nur eine particula veri: Die Gefahr, dass Theologie anstelle von Gott oder Gottes Selbsterschließung Abb. 7: Dogmatikidentische Ethik nur noch vom Menschen spricht und damit Maßstab und zu Messendes vertauscht, ist sicherlich bei einer Ethik, die nicht mit Dogmatik identisch ist, gegeben. Aber diese Gefahr besteht nicht zwangsweise. Und diese Gefahr besteht auch, wenn Dogmatik und Ethik in ihrem Gegenstandsbereich und ihren Methoden als identisch angesehen werden. Diese Gefahr besteht sogar, wenn ein einheitlicher Gegenstandsbereich und nur eine perspektivische Differenz angenommen wird. Denn diese Gefahr ist nicht von

17 Vgl. Thomas von Aquin, s.th. I, q1, a1. 18 Barth, K., KD, I/2, §22, 888. 19 Barth, K., KD, I/2, §22, 884.

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Ethik den formalen Konstruktionsprinzipien, sondern von der inhaltlichen Ausgestaltung abhängig.

perspektivische Verhältnisbestimmung

Das größte Problem bei allen hier aufgezählten und letztlich abgelehnten Verhältnisbestimmungen besteht darin, dass sie von einer Verschiedenheit des Gegenstandsbereichs von Dogmatik und Ethik oder der Methoden ausgehen. Geht man aber von einer Identität des Gegenstandsbereichs bei perspektivischer Verschiedenheit aus, stellt man fest, dass sich die genannten Alternativen überhaupt nicht stellen, ja dass sogar die Frage nach dem Verhältnis von Dogmatik und Ethik eine Einengung der systematisch-theologischen Frage an sich darstellt.20 Trotz dieser prinzipiell perspektivischen Verhältnisbestimmung ist die vorliegende Ethik aber nicht zugleich eine Einführung in die Dogmatik. Dies wäre aufgrund des zur Verfügung stehenden Raumes und aufgrund der gegenwärtigen Studienorganisation gar nicht möglich. Die Lektüre dieser Ethik ist also durch dogmatische Literatur zu ergänzen. Zwar nicht prinzipiell, aber aus praktischdidaktischen Gründen ist es hilfreich, wenn die Leserin oder der Leser bereits mit dogmatischen Grundfragen vertraut ist.

Fazit 5 Die Teildisziplinen der Systematischen Theologie wie Dogmatik, Ethik, Eschatologie, Fundamentaltheologie, Theologie der Religionen etc. sind nicht durch verschiedene Gegenstandsbereiche unterschieden, sondern sie ergeben sich aufgrund unterschiedlicher Perspektiven auf den einheitlichen Gegenstand der Systematischen Theologie als Theorie der christlichen Praxis. Wird diese aus der Perspektive des Glaubens betrachtet, kann man von Dogmatik sprechen, wird sie aus der Perspektive der Relate des Handlungsbegriffs betrachtet, von Ethik. Dogmatik und Ethik sind daher wechselseitig voneinander abhängig, und die jeweils andere Teildisziplin ist zur Erfassung des je eigenen Gegenstandes notwendig.

3.4 Theologische Ethik und Urteilsbildung

Theologie Philosophie

Die Verhältnisbestimmung von theologischer zu nicht-theologischer Ethik hängt im Wesentlichen von der Verhältnisbestimmung zwischen Theologie und anderen Wissenschaften, insbesondere der Philosophie, aber auch von der Sichtweise von Natur- und Geisteswissenschaften, ab. Dieses Themenfeld kann hier nicht annähernd referiert werden. Es ist die primäre Aufgabe von Religionsphilosophie und Fundamentaltheologie. An dieser Stelle sollen daher einige Hinweise genügen: Ausgehend vom hier entfalteten relationalen 20 Vgl. z.B. Fischer, J., Theologische Ethik, 56.

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Theologische Ethik und Urteilsbildung

Handlungsbegriff gehören religiös-weltanschauliche Voraussetzungen zu jedem Handeln, auch zu wissenschaftlichem Handeln. Der Unterschied zwischen verschiedenen Wissenschaften kann daher nur darin bestehen, dass unterschiedlich mit diesen Voraussetzungen umgegangen wird, nicht, dass sie eliminiert werden. Entsprechend können philosophische Ethiken aus dieser Perspektive nicht als voraussetzungslos verstanden werden. Vielmehr teilen sie mit der theologischen Ethik und jeder möglichen Ethik die Abhängigkeit von weltanschaulichen Voraussetzungen. Der Unterschied kann auch nicht in unterschiedlichen Arten des Vernunftgebrauchs – etwa eines begründenden in der philosophischen Ethik und eines hermeneutisch-verstehenden in der theologischen Ethik – bestehen. Ihrer Geschichte nach ist die Unterscheidung von hermeneutischen Wissenschaften und empirischen Wissenschaften – auch bei den Vätern der Hermeneutik – abhängig von einem bestimmten Bild der Naturwissenschaften, wie es im (Neo-)Positivismus grundgelegt wurde. Aufgrund dieser Basis ergibt sich die Distinktion von Erklären und Verstehen sowie die davon abhängige Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Wissenschaftsgeschichte und -theorie des 20. Jh. haben aber plausibel gezeigt, dass auch die Naturwissenschaften mannigfach von historischen, sozialen, traditionellen und auch religiös-weltanschaulichen Voraussetzungen abhängig sind.21 Ferner kann darauf hingewiesen werden, dass sowohl Theologie als auch die Naturwissenschaften sich oft ähnlicher begrifflicher Mittel, nämlich theoretischer Modelle bedienen.22 Daher kann de facto die Distinktion zwischen erklärenden und verstehenden Wissenschaften nicht als kategoriale Distinktion ausgegeben werden. Sie sollte aus verschiedenen Gründen auch nicht dazu dienen, innertheologisch wichtige Unterscheidungen, wie die zwischen Glaube und Aberglaube, zu rekonstruieren.23 Dieser Befund bedeutet nicht, dass die durch die Entwicklung hermeneutischen Denkens gewonnenen Einsichten überholt sind; aber es handelt sich um Einsichten, die de facto in jeder Wissenschaft zu berücksichtigen sind, unabhängig von der Frage, ob es sich um Theologie oder nicht-theologische Wissenschaften handelt.

Man wird das Verhältnis der theologischen Ethik zur nicht-theologischen, d.h. philosophischen Ethik, daher so zu bestimmen haben, dass die theologische Ethik an bestimmte religiös-weltanschauliche Voraussetzungen, nämlich die des christlichen Wirklichkeitsverständnisses, gebunden ist und diese stets mit zu thematisieren hat, währenddessen philosophische Ethiken an andere, beliebige religiösweltanschauliche Voraussetzungen gebunden sind, die sie ebenfalls 21 Vgl. Kuhn, T.S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 22 Zur Bedeutung von Modellen in Theologie und Naturwissenschaft vgl. Mühling, M., Gott ist Liebe, 33–43. 23 Vgl. aber anders Fischer, J., Theologische Ethik, 39–44.

Voraussetzungen

Hermeneutik

Erklären und Verstehen

Modelle

religiösweltanschauliche Voraussetzungen

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Ethik

Dialog Pluralismus

mit zu thematisieren haben. Der Dialog zwischen theologischer Ethik und philosophischen Ethiken ist damit nicht nur ein interdisziplinärer Dialog, sondern immer auch ein interreligiöser Dialog und somit Ausdruck des für unsere Gesellschaften grundlegenden weltanschaulichen Pluralismus. Als Wissenschaft verfährt die theologische Ethik als perspektivisch begründete Teildisziplin der Systematischen Theologie methodisch kontrolliert. Diese methodische Kontrolle nutzt dabei Kriterien, die dem Gegenstand der Systematischen Theologie – der christlichen Praxis – nicht fern sind, sondern aus dieser selbst stammen. Denn christliche Theologie ist ein Teilbereich christlicher Praxis. Man kann diese Kriterien in modifizierender Anlehnung an Chr. Schwöbel folgendermaßen aus sieben Kennzeichen der christlichen Praxis ableiten:24

Kennzeichen der christlichen Praxis

Kennzeichen der christlichen Praxis: 1. Christliche Praxis besitzt einen Bezug auf Jesus Christus, sei es im persönlichen Gebet, in der Liturgie des Gottesdienstes oder im Religionsunterricht. 2. Die christliche Praxis ist eine Sozialform, die in historisch gewachsenen, partikularen Gemeinschaften mit Traditionen gelebt wird. 3. Die christliche Praxis ist eine Sozialform der Gegenwart. 4. Die christliche Praxis kommuniziert zeichenhaft das Evangelium, das als notwendige Bedingung des Zum-Glauben-Kommens und des weiteren Bestehens des Glaubens der an der christlichen Praxis beteiligten Personen verstanden werden muss. 5. Christliche Praxis kommt hinreichend erst durch das Handeln des Heiligen Geistes, der die kommunizierten Gehalte des Evangeliums den Beteiligten der christlichen Praxis vergewissert, zustande und wird dauerhaft auf diese Weise erhalten. 6. Die christliche Praxis findet innerhalb aller anderen gesellschaftlichen Teilbereiche und innerhalb des gesamten prozesshaften Ereigniszusammenhanges der Welt statt, der innerhalb der christlichen Praxis selbst thematisiert wird, indem das ihr eigene Wirklichkeitsverständnis unhintergehbar als Schöpfungsglaube, Versöhnungs- und Vollendungsglaube beschrieben werden kann. 7. Die christliche Praxis ist auf Basis von religiös-weltanschaulichen Gewissheiten ethisch-orientierende Praxis.

Kriterien

Kriterien der systematisch-theologischen Urteilsbildung 1. Der Bezug zu Jesus Christus, wie immer er auch aussehen mag, bildet das Kriterium christlicher Identität. Der Bezug zu Jesus Christus ist aber nicht ohne Bezug zum Zeugnis der Schrift in der Praxis vermittelt, so dass sich als Kriterium der Schriftbezug ergibt. Anzuwendende Methoden zur Prü-

Schriftbezug

24 Vgl. dazu Schwöbel, C., Doing Systematic Theology. Die Modifikation besteht v.a. in der Ergänzung eines siebten Punktes.

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Theologische Ethik und Urteilsbildung

2.

3.

4.

5.

6.

7.

fung einer theologischen These hinsichtlich ihrer christlichen Identität sind daher alle in den exegetischen Wissenschaften des Neuen und des Alten Testaments angewandten Methoden. Aufgrund ihres Bestehens in konkreten, historisch gewachsenen Gemeinschaften hat jede christliche Praxis und die in ihr eingeschlossene Theologie auch eine konfessionelle Identität, d.h. einen Traditionsbezug. Zur Einordnung der konfessionellen Identität sind Kenntnisse und Kompetenzen der Kirchen-, Dogmen- und Theologiegeschichte erforderlich. Als gegenwärtige Sozialform besitzt die christliche Praxis Gegenwartsrelevanz. Um festzustellen, auf welche Weise eine zur christlichen Praxis gehörende theologische Aussage gegenwartsrelevant ist, sind Kenntnisse und Kompetenzen in allen Wissenschaften erforderlich, die sich mit der Gegenwartsanalyse befassen. Da die primäre theologische Teildisziplin, die auf den Dialog mit diesen Wissenschaften ausgerichtet ist, die Praktische Theologie ist, sind auch praktisch-theologische Kenntnisse und Kompetenzen zur systematisch-theologischen Urteilsbildung erforderlich. Aufgrund ihrer zeichenhaften Evangeliumskommunikation muss jegliche aus der christlichen Praxis kommende theologische Arbeit Minimalerfordernissen von Zeichenkommunikation entsprechen, d.h. grundlegenden semiotischen Regeln in den Dimensionen Semantik (Bezug von Zeichen und Bezeichnetem), Pragmatik (Bezug von Zeichen und Zeichenbenutzern) und Syntaktik (Bezug der Zeichen untereinander) und den darin implizierten logischen Minimalbedingungen wie dem Identitätsprinzip (a = a) und dem Nichtwiderspruchsprinzip (a ≠ ¬a). Aus dem Kennzeichen zeichenhafter Evangeliumskommunikation folgt so die interne Kohärenz. Da erst durch das Wirken des Heiligen Geistes hinreichende Evidenz der Gewissheit des christlichen Glaubens entsteht, ergibt sich die grundlegende Unverfügbarkeit von religiös-weltanschaulichen Gewissheiten, so dass einerseits christlicher Glaube mit menschlichen Mitteln nicht allein bewirkt werden kann und daher andererseits unter welthaften Bedingungen stets andere weltanschauliche Gewissheiten neben denen des christlichen Glaubens existieren werden. Der sich daraus ergebende prinzipielle und nicht nur faktische Pluralismus menschlicher Interaktion erfordert das Kriterium toleranter Dialogbereitschaft zu anderen Religionen und damit Kommunikabilität zu anderen Religion, d.h. zu anderen religiös-weltanschaulichen Gewissheiten. Dafür sind Grundkenntnisse in Religions-, Missions- und Ökumenewissenschaften unabdingbar. Da der christliche Glaube Schöpfungs-, Versöhnungs- und Erlösungsglaube ist, der als solcher auf das Ganze der prozesshaften Wirklichkeit bezogen ist, ergibt sich das Kriterium der Dialogbereitschaft oder Kommunikabilität zu anderen Wissenschaften und Wissenschaftskulturen, insbesondere der Naturwissenschaften und der Philosophie. Da die christliche Praxis auf Basis von religiös-weltanschaulichen Gewissheiten Handlungsorientierung ermöglicht, ergibt sich für die Systematische Theologie als Dogmatik das Kriterium der ethischen Implikativität, mit dessen Hilfe man dogmatische Aussagen nach ihren ethischen Implikationen befragt, und umgekehrt für die Ethik das Kriterium dogmatischer

Traditionsbezug

Gegenwartsrelevanz

interne Kohärenz

Kommunikabilität zu anderen Religion

Kommunikabilität zu anderen Wissenschaften

dogmatische Implikativität

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Ethik

Identitätskriterien Wahrheitskriterien

Implikativität. Mit dessen Hilfe kann man nach dem dogmatischen Bezug eines ethischen Problems fragen. Die Kriterien 1–3 sind Adäquanz- oder Identitätskriterien, die Kriterien 4–7 sind Wahrheitskriterien im Sinne notwendiger Bedingungen für die Wahrheit theologischer Aussagen: Sie verbürgen nicht die Wahrheit einer theologischen Aussage, können aber deren notwendige Falschheit ausschließen. Alle Kriterien können analytisch verwandt werden, um einen vorhandenen systematisch-theologischen Problemlösungsvorschlag explizieren zu können, oder konstruktiv, um einen systematisch-theologischen Problemlösungsvorschlag unterbreiten zu können.

Fazit 6 Theologische und nicht-theologische Ethik unterscheiden sich nicht durch ihren Gegenstandsbereich im weiteren Sinne (Praxis) und nicht dadurch, dass nicht-theologische Ethik im Unterschied zur theologischen voraussetzungslos wäre. Beide sind an religiös-weltanschauliche Voraussetzungen gebunden. Der Unterschied besteht darin, dass diese Gebundenheit im Falle der theologischen Ethik in Bezug auf den christlichen Glauben besteht. Kennzeichen der christlichen Praxis: Sie weist 1. einen Bezug zu Jesus Christus auf, wird 2. in einer traditionsgewachsenen Gemeinschaft gelebt, die 3. ein Teil der Gegenwart ist. Sie besteht aufgrund der Kooperation von 4. zeichenhaft bezeugendem Handeln von Menschen und 5. von göttlichem Handeln. Sie findet 6. innerhalb aller welthaft denkbaren Interaktionsbereiche statt und vollzieht sich 7. vor dem Hintergrund des christlichen Glaubens. Kriterien der Systematischen Theologie als Ethik: 1. Schriftbezug, 2. Traditionsbezug, 3. Gegenwartsbezug, 4. interne Kohärenz, 5. Kommunikabilität zu anderen religiösen Gewissheiten, 6. Kommunikabilität zu anderen Wissenschaften, 7. dogmatische Implikativität. Die Kriterien 1–3 sind Identitätskriterien, die Kriterien 4–7 notwendige Wahrheitsbedingungen. Sie können analytisch oder konstruktiv eingesetzt werden.

3.5 Aspekte der Ethik Ethos

Der Gegenstand einer Ethik ist ein Ethos, d.h. die Menge aller Handlungsregeln (Normen, Gebote, Werte, Gesetze etc.), die in einer Gesellschaft in der Form von Gebräuchen, Sitten, Traditionen, Erzählungen, Gesetzeskodices etc. vorliegen.

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Aspekte der Ethik

Die normative Ethik ist auf dieses Ethos mit dem Ziel bezogen, selbst normative Aussagen zu erhalten, zu korrigieren, zu verbessern, zu erklären oder dem herrschenden Ethos begründet entgegenzusetzen. Sie hat das Ziel, selbst Aussagen zum vorzüglichen Handeln zu machen bzw. zur Handlungsorientierung einen Betrag zu leisten. Die Metaethik hingegen findet nicht im Ethos ihren Gegenstand, sondern in der Ethik, d.h. also meist in der normativen Ethik. Sie fragt sich, was Normen, Werte, Gebote eigentlich sind, wie sie sprachlich oder logisch, semantisch oder pragmatisch beschrieben werden können, welchen Sinn die Rede vom Guten hat und dergleichen mehr. Man kann sie daher als die der Ethik eigentümliche Wissenschaftstheorie begreifen. Metaethische Überlegungen gab es schon immer, aber im 20. Jh. erlebten metaethische Überlegungen einen bedeutenden Aufschwung. Auch der Ausdruck Metaethik stammt aus dem 20. Jh.25 Die Überlegungen dieser einleitenden Kapitel tragen größtenteils metaethischen Charakter. Neben der normativen Ethik und der Metaethik gibt es noch die deskriptive Ethik. Damit kann Unterschiedliches gemeint sein: Sie kann als Beschreibung, also Deskription eines Ethos oder einer normativen Ethik verstanden werden. Ersteres wäre der Fall, wenn etwa ein Ägyptologe das Ethos der Pharaonen zur Amarnazeit beschreibt. Letzteres wäre der Fall, wenn ein gegenwärtiges Lehrbuch der Ethik die Geschichte ethischer Reflexion beschreibt. Ein Problem entsteht dadurch, dass unklar ist, was mit „Deskription“ oder Beschreibung gemeint ist. Hierunter können mindestens drei verschiedene Tätigkeiten verstanden werden: a) Deskription als Abstraktion, b) Deskription als bewusste Wertneutralität, c) Deskription als hermeneutisch verstehender Zugang zur Ethik. M.E. ist es sinnvoll, das erste Verständnis von Deskription zu verwenden.

normative Ethik

a) Deskription als Abstraktion: Ein Ethos oder eine Ethikgeschichte kann primär unter darstellendem Interesse beschrieben werden, ohne dass die Bewertung der normativen Aussagen des Ethos oder des ethikgeschichtlichen Sachverhaltes im Mittelpunkt stünde. In diesem Sinne erscheint deskriptive Ethik in so gut wie jeder Wissenschaft, nicht unbedingt nur in der Ethik selbst. Da Deskriptionen selbst Handlungen sind und im Handlungsbegriff immer Wertungen und weltanschauliche Gebundenheiten erscheinen, bedeutet dieses Verständnis deskriptiver Ethik nur, dass diese Wertungen nicht im Vordergrund stehen sollen, sondern dass von ihnen abstrahiert werden soll.

Deskription als Abstraktion

25 Als sich im eigentlichen Sinne zuerst primär mit Metaethik befassend gilt Moore, G.E., Principia Ethica. Der Ausdruck dürfte nach Härle, W., Ethik, 14, zurückgehen auf Rosenzweig, F., Stern der Erlösung, 16f. 82ff.

Metaethik

deskriptive Ethik

50 Deskription als Wertneutralität

Ethik b) Deskription als Wertneutralität: Über das Verständnis von a) hinausgehend kann nicht nur gemeint sein, dass der normative Gehalt der eigenen Beschreibung nicht im Mittelpunkt stehen soll, sondern völlig ausgeschaltet werden soll, um so zu einer wertneutralen Aussage über ein Ethos zu gelangen. Ein solches Verständnis setzt bestimmte wissenschaftstheoretische und religiös-weltanschauliche Gewissheiten voraus: nämlich konkret die These möglicher weltanschaulicher Neutralität wissenschaftlicher Arbeit. Sieht man davon ab, dass diese These selbst äußerst fragwürdig und wahrscheinlich falsch ist,26 dürfte deutlich sein, dass eine deskriptive Ethik in diesem Sinne gerade kein Teilbereich der Ethik mehr wäre, sondern höchstens ein Bestandteil anderer Wissenschaften sein könnte.27 c) Nun erscheinen auch theologische Ethiken des beginnenden 21. Jh. mit dem Anspruch, gerade keine normative, sondern primär deskriptive Ethik bieten zu wollen.28 Darunter kann offensichtlich nicht das Verständnis b) stehen, denn Voraussetzungslosigkeit kann keine theologische Disziplin behaupten wollen. Eine deskriptive Ethik nach Verständnis a), die zwar ihre religiös-weltanschauliche Gebundenheit anerkennt, nicht aber eigens thematisiert, würde gerade die systematisch-theologische Aufgabe der Selbstexplikation des christlichen Wirklichkeitsverständnisses verfehlen. Also scheidet auch ein solches Verständnis deskriptiver Ethik aus. Um verstehen zu können, was gemeint ist, seien im Folgenden die Ausführungen J. Fischers, der eine solche deskriptive Position beansprucht, näher untersucht: Fischer bezieht den Begriff der normativen Ethik auf die Tätigkeit der allgemeingültigen Begründung von Normen,29 die von der Aufgabe der sittlichen Orientierung deutlich unterschieden ist.30 Denn jede Begründung von allgemeingültigen Normen ist zwar eine sittliche Orientierung, nicht aber umgekehrt: Auch das Verstehen von Normen und Gebräuchen ist notwendig zur sittlichen Orientierung. Jemand kann durch ein Ethos auch immer schon sittlich orientiert sein, ohne es begründen zu müssen. Ferner können auch Begründungen erscheinen, die keinen Allgemeingültigkeitsanspruch erheben. Und in diesem Bereich verortet Fischer die Aufgabe theologischer Ethik: „Hierzu [zur deskriptiven Ethik] lassen sich alle Formen hermeneutisch gerichteter ethischer Reflexion rechnen, welche vorhandene Orientierungen ins Bewusstsein heben, interpretieren und im Blick auf aktuelle moralische Fragen konkretisieren. […] Denn insofern sie [die Ethik] als Auslegung des christlichen Ethos hermeneutisch orientiert und nicht auf die Begründung

26 Im sog. Werturteilsstreit wurde diese für die Sozialwissenschaften bis heute z.T. verheerend wirkende These allerdings vertreten, vgl. Hügli, A., Art. Werturteil/Werturteilsstreit. Zur Abhängigkeit auch der Naturwissenschaften von Werturteilen bzw. bestimmten, empirisch nicht entscheidbaren Ontologien vgl. Mühling, M., Einstein und die Religion, 15–22. 27 Vgl. Kutschera, F.v., Grundlagen der Ethik, 39f. 28 Vgl. z.B. Fischer, J., Theologische Ethik, 206. 29 Vgl. Fischer, J., Theologische Ethik, 78f. 30 Vgl. Fischer, J., Theologische Ethik, 201.

Aspekte der Ethik

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normativer Prinzipien gerichtet ist, ist sie nicht der normativen Ethik zuzurechnen.“31 Fischer gelangt dann auch zu einer Vierteilung von Aspekten in deskriptivempirische Ethik, deskriptiv-hermeneutische Ethik, normative Ethik und Metaethik.32 Die deskriptiv-hermeneutische Ethik wäre nach der hier vorgenommenen Einteilung kein eigener Teilaspekt, sondern ein Teilbereich der normativen Ethik. Das geht freilich nur, wenn man sich bewusst macht, dass dann nicht nur unterschiedliche Verständnisse deskriptiver Ethik, sondern vor allem auch normativer Ethik enthalten sind. Fischer erkennt den Anspruch einiger moderner Theorien, allgemeingültige und damit in gewissem Sinne absolute Aussagen über „gut“ und „richtig“ aufstellen zu wollen – und genau dieses Unternehmen mit dem Terminus „normative Ethik“ bezeichnen zu wollen –, faktisch an, hält ihn aber – m.E. zu Recht – für falsch. Allerdings meine ich im Unterschied zu Fischer, dass man unter diesen Umständen den Anspruch entsprechender Ethiken auf den Terminus „normative Ethiken“ zurückweisen sollte. Andernfalls würde nämlich eine Reihe ethischer Theorien der Geistesgeschichte, die eindeutig zur Handlungsorientierung beitragen wollen (z.B. die Aristotelische Ethik), nicht mehr als normative Ethik gelten können.

Normative Ethik, Metaethik und deskriptive Ethik werden mitunter als Teildisziplinen der Ethik bezeichnet.33 Ob dies sinnvoll ist, hängt weitgehend von dem Verständnis des Wortes Disziplin ab. Verstünde man darunter notwendigerweise eine Organisationsform des akademischen Betriebes mit Lehrstühlen, eigenen Prüfungsordnungen und Abschlüssen, wäre die Bezeichnung verfehlt. Verfehlt wäre die Bezeichnung auch, wenn man annähme, deskriptive Ethik, normative Ethik und Metaethik könnten isoliert behandelt werden. Zumindest für die theologische Ethik erscheint dies unmöglich, so dass hier lieber von unterschiedlichen Aspekten die Rede ist. So werden auch in den folgenden Kapiteln immer deskriptive mit normativen Aspekten verwoben erscheinen, aber auch metaethische Überlegungen weiterhin eine Rolle spielen. Auf einer anderen Ebene liegt die Unterscheidung von allgemeiner Ethik und materialer oder angewandter Ethik. Allgemeine Ethik ist hier nicht zu verwechseln mit allgemeingültiger Ethik, sondern bezieht sich auf Grundlagenreflexionen ethischer Urteilsbildung, während sich die materiale Ethik mit konkreten ethischen Fragestellungen beschäftigt, die in einer gegebenen historischen Situation eine Rolle spielen: Fragen des Rechts zum Kriegseintritt, zum Lebensab31 Fischer, J., Theologische Ethik, 201. 32 Vgl. Fischer, J., Theologische Ethik, 201f. 33 Vgl. Härle, W., Ethik, 12.

allgemeine Ethik

materiale Ethik

52

Bereichsethiken

Individualethik und Sozialethik

Ethik

bruch am Lebensanfang oder -ende, zu verschiedenen Lebensformen, zur Vorzüglichkeit bestimmter Techniken der Energiegewinnung etc. In der materialen Ethik spielt eine Kenntnis der jeweiligen Disziplin und der in einem Staat jeweils gültigen Rechtslage meist eine wesentlich größere Rolle als die ethische Grundlagenreflexion. Daher wird die materiale Ethik oft auch in verschiedene Bereichsethiken differenziert,34 um überhaupt bearbeitbar zu bleiben. Aufgrund der Anlage dieses Buches spielen die Bereichsethiken und die materiale Ethik hier eine nur untergeordnete Rolle. Ebenfalls zur Strukturierung der Ethik wird häufig das Begriffspaar Individualethik und Sozialethik bzw. die Begriffstetrade Individual-, Personal-, Sozial- und Umweltethik verwandt. Auch diese Bezeichnungen sind nicht eindeutig: a) Individualethik und Sozialethik als Unterscheidung von strukturellen Handlungszusammenhängen: In diesem Sinne kann ein und dasselbe Problem, z.B. die Frage nach Sterbehilfe, an unterschiedlichen Orten und strukturellen Handlungsfragen behandelt werden: Individualethisch stünden Fragen im Mittelpunkt, ob Sterbehilfe ethisch erlaubt oder gar geboten sein darf; sozialethisch stünden Fragen im Mittelpunkt, mit welchen rechtlich organisatorischen Mitteln die Gesellschaft mit dem Problem umgehen soll. Allgemein formuliert: Individualethik fragt nach dem Beitrag von Handlungen für die Erreichung der Bestimmung einzelner Personen. Sozialethik fragt nach dem Beitrag von Handlungen für den Normzustand einer Sozialordnung.35 Sozial- und Individualethik in diesem Sinne schließen einander gerade nicht aus, sondern sind aufeinander bezogen, weil sie verschiedene Dimensionen des menschlichen Handelns bezeichnen.36 Abgesehen von der Frage nach dem strukturellen Handlungsort können Gründe reformatorischer Anthropologie, wie etwa die Unterscheidung zwischen Person und Amt, für diese Unterscheidung geltend gemacht werden.37 In diesem Sinne einer dimensionalen und nicht fundamentalen Distinktion ist die Unterscheidung begrüßenswert, wenn auch die Termini, die sich eingebürgert haben, ein wenig unglücklich zu sein scheinen. b) Individual- und Sozialethik als Unterscheidung unterschiedlicher Sphären: Die Unterscheidung von Individual- und Sozialethik könnte aber auch so verstanden werden, dass sich verschiedene ethische Probleme unterschiedlichen Handlungssphären zuordnen lassen, etwa Fragen der Lebensformen, der Ehe oder der Religion der privaten Sphäre, Fragen der Gerechtigkeit einer Gesellschaft oder Fragen nach technisch zur Verfügung stehenden Energieformen der öffentlichen Sphäre. Nun wird man in der Neuzeit eine Entwicklung diagnostizieren dürfen, die eine Trennung dieser 34 Vgl. Nida-Rümelin, J., Angewandte Ethik. 35 Vgl. Herms, E., Grundzüge sozialer Ordnung, 56f. 36 Vgl. Härle, W., Ethik, 15. 37 Vgl. Fischer, J., Theologische Ethik, 59; Honecker, M., Theologische Ethik, 10f.; ähnlich auch Andersen, S., Einführung in die Ethik, 10.

53

Aspekte der Ethik beiden Sphären und damit erst die Rede von Sphären ermöglicht oder mitunter programmatisch fordert.38 Eine solche Trennung entspricht allerdings nicht der christlichen Anthropologie, ist aufgrund der Tatsache, dass jegliches Handeln in Interaktionszusammenhänge eingebettet ist, nicht sachgemäß, und befördert schlimmstenfalls die Vorstellung, die soziale Dimension sei weltanschaulich neutral zu betrachten – nämlich immer dann, wenn religiöse Sachverhalte als „Privatsache“39 ausgegeben werden. Ein Begriffsgebrauch in diesem Sinne kann nur als verfehlt bezeichnet werden. c) Arthur Rich unterscheidet zwischen Individual-, Personal,- Umwelt- und Sozialethik. Hinter dieser Unterscheidung steht seine am dialogischen Personalismus Martin Bubers (1878–1965) angelehnte Anthropologie. Daraus ergibt sich, dass es in der Individualethik um die Verantwortung eines Ichs für sein Selbst, in der Personalethik um die Verantwortung eines Ichs für ein Du/Ihr, in der Umweltethik um die Verantwortung eines Ichs für ein Es geht und die Sozialethik die institutionalisierten Strukturen thematisiert, in denen diese Verantwortungsbereiche erscheinen.40 Richs Unterscheidung beruht auf einer Analyse von Handlungszusammenhängen, die eine spezifische Anthropologie voraussetzt. Ihr Vorteil besteht darin, dass sie deutlich macht, dass eine Handlungsbetrachtung immer spezifische dogmatische Prämissen voraussetzt; ihr Nachteil besteht in dem gleichen Sachverhalt: Stimmt man dieser Anthropologie nicht im Detail zu oder setzt andere Schwerpunkte, kann man sich dieser Unterscheidung nicht anschließen.

Aus unserer Analyse des Handlungsbegriffs geht hervor, dass jegliches Handeln immer als Interaktion und daher immer als Sozialethik zu verstehen ist.41 Ferner geht auch daraus hervor, dass es immer Personen sind, die handeln, so dass jegliche Ethik immer Personalethik sein wird. Dies scheint mit der genannten Unterscheidung des Begriffsgebrauchs zwischen Individual- und Sozialethik nach a) kompatibel zu sein. Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass der Begriff des Individuums vor dem Hintergrund einer ausgeführten christlichen Anthropologie, wenn nicht fragwürdig, so doch äußerst missverständlich ist, aus Gründen, auf die noch detailliert einzugehen sein wird. Partikulare Personen sind stets durch Beziehungen konstituiert. Der Individuumsbegriff könnte aber das individualistische Missverständnis mit sich bringen, Personen könnten ohne diese Bezogenheiten sinnvoll betrachtet werden. Daher soll hier präzise nur von Sozialethik und Personalethik gesprochen werden, um deutlich 38 Vgl. Honecker, M., Theologische Ethik, 9. 39 Vgl. das Görlitzer Programm. 40 Vgl. Rich, A., Wirtschaftsethik, Grundlagen, 65–66. 41 So auch Herms, E., Gesellschaft gestalten, XII. Der Einwand von Fischer, J., Theologische Ethik, 57f. (Anm.), es gäbe auch nicht-interaktionelles Handeln, was sich am Beispiel einer Bergwanderung veranschaulichen ließe, verkennt gerade den notwendigen interaktionellen Charakter einer solchen Bergwanderung, auf den ich in Mühling, M., Eschatologie, 38, hingewiesen habe.

Sozialethik Personalethik

54

Ethik

zu machen, dass es sich um unterschiedliche Betrachtungsweisen eines einheitlichen Sachverhalts handelt. Fazit 7 Ethik ist auf ein Ethos bezogen. Sie kann als normative Ethik, Metaethik oder in unterschiedlichen Verständnissen als deskriptive Ethik betrieben werden. Normative Ethik, Metaethik und deskriptive Ethik sind keine ethischen Teildisziplinen, sondern bezeichnen unterschiedliche Aspekte ethisch-orientierender Urteilsbildung. Von der allgemeinen Ethik ist die materiale Ethik unterschieden, die sich in verschiedene Bereichsethiken gliedert. Jegliche Ethik ist Sozialethik und Personalethik. Das Begriffspaar Sozialethik und Personalethik bezeichnet daher unterschiedliche Sichtweisen auf die gleichen ethischen Gegenstände, keine unterschiedlichen Gegenstandsbereiche.



Literaturempfehlung Barth, Karl: Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I/2, Zürich 1938, §22, 831–890. Birkner, Hans-Joachim: Das Verhältnis von Dogmatik und Ethik, in Hertz, A./Korff, W./Rendtorff, T. (Hg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1, Freiburg 1993, 281–296. Schwöbel, Christoph: Doing Systematic Theology – Das Handwerk der Systematischen Theologie, in Ders., Gott in Beziehung, Tübingen 2002, 1–24.

4. Das Gute und die Natur

Um ein vorzügliches Handeln gegenüber einem nicht vorzuziehenden Handeln diagnostizieren zu können, bedarf es eines Maßstabes. Doch woher stammt dieser? Eine einfache Antwort auf diese Frage könnte lauten, dass das Gute selbst auf irgendeine Weise in 1 der Natur gegeben vorliegt. Person 1c 2 Vernunft Der Handlungsbegriff wird 1b andere Affekte Personen dann entweder vom Relat des natürlichen Geschehens oder 1a vom Relat der empirischen Wille Gewissheiten aus gemessen. Ankerpunkt von Wert- und Normbegriffen bzw. des Be9 Ergebnis greifens des Guten ist dann das natürliche Geschehen selbst oder dessen empirische 8 Ziele Erkenntnis. Dies kann auf prinzipiell drei sehr unterschiedliche Ar5 7 Regeln Erwartungen 6 ten erfolgen: durch eine naMittel türliche Ethik, durch eine naturalistische Ethik oder durch eine intuitionistische Abb. 8: Natürliche Ethiken Ethik. Dabei versuchen die natürliche und die intuitionistische Ethik vom Relat des natürlichen Geschehens selbst auszugehen, während die naturalistisch-reduktionistische Ethik vom Relat der empirischen Gewissheiten ausgeht. Alle diese drei Unterarten weisen jeweils wieder breite, unterschiedliche Konzeptionen aus allen geschichtlichen Epochen und Kulturen auf. Im Folgenden sei der Sachverhalt anhand von Beispielen dargestellt.

3 natürliches Geschehen

4a empirische Gewissheiten 4 Gewissheiten 4b religiöse Gewissheiten

4.1 Natürliche Ethiken Natürliche Ethiken gehen davon aus, dass in der Ordnung der Natur selbst das Gute als eben Gutes vorliegt. Als Beispiel kann das MaatKonzept der altägyptischen Kultur genannt werden, das die Weltordnung einschließlich deren sittlicher Gestalt beschreibt, ferner das

Ordnung der Natur Maat-Konzept

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Das Gute und die Natur

Weisheit

Dharma Islam

Plato Aristoteles

Stoa

Augustin

Thomas von Aquin

Schöpfungsordnungen

gemeinaltorientialische Weisheitskonzept, wie es im biblischen Zeugnis des AT vor allem in der sog. „frühen“ Weisheit vorliegt und sich inhaltlich im Postulat eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs äußert – also der Vorstellung, dass es dem Rechttuenden im Laufe seines Lebens auch gut und dem Schlechttuenden auch schlecht erginge.1 Aber auch in anderen Kulturkreisen begegnen uns Argumentationen eines mit der Weltordnung gegebenen Guten: so im Hinduismus in Gestalt des Begriffs des Dharma, der auch im Buddhismus eine Rolle spielt oder in der chinesischen Kultur im Begriff des Dao. Lediglich der Islam bildet hier eine Ausnahme. Zwar hat es auch hier zeitweise Ansätze zur Idee eines naturgegebenen Guten gegeben, faktisch hat sich aber eine Theologie durchgesetzt, in der das Gute als strikt abhängig vom Willen Gottes gesehen wird. Dies aber wäre ein naturalistisch-reduktionistisches Verständnis des Guten.2 Im europäischen Kulturkreis betont Plato (428/7–348/7 v.Chr.) gegen die Sophisten, die ethische Regeln vornehmlich als auf Konventionen beruhend begreifen, eine gewissermaßen natürliche Ethik. Aristoteles (384–322 v.Chr.) gestaltet diese aus und verbindet sie vor allem mit dem Gedanken des Zieles, so dass eine teleologische Ethik entsteht, die die Jahrhunderte bis Ende des Mittelalters bestimmen wird. Diese geschichtliche Bestimmung wird erleichtert durch die Stoa, die, wie etwa bei Cicero (106 v.Chr.–43 v.Chr.), explizit von einem Naturrecht spricht und dies dem geschichtlich in Gesellschaften begründeten Recht gegenüberstellt. Augustin (354–430) kann diese Gedanken mit Aussagen wie Röm 1,19 verbinden, die zumindest darauf hinweisen könnten, dass ethische Regeln oder Gesetze durch Gott nicht nur in der Schrift offenbart, sondern jedem Menschen von der Schöpfung an natürlich ins Herz geschrieben seien. Inhaltlich wird der Bestand dieses Naturrechts dann in den zehn Geboten gesehen, aber auch in traditionell einfachen Regeln, wie sie etwa bei Cicero formuliert werden (z.B. pacta sunt servanda). Durch Thomas von Aquin (ca. 1225– 1274) entsteht ein systematisch angelegtes Naturrechtskonzept, das in eine teleologische Ethik eingebunden ist. Auf protestantischer Seite wären die im Zuge des Neuluthertums des 19. Jh. entstandenen Lehren von der Schöpfungsordnung bzw. den Schöpfungsordnungen zu nennen, die dem Typus einer natürlichen Ethik entsprechen. Obwohl bei Thomas der Begriff des Rechtes nicht auf den juristischen Begriff festgelegt ist, sondern noch den ethischen Bereich mit einbezieht, spielt die Frage nach einer natürlichen Begründung nicht nur 1 Vgl. Freuling, G., Art. Tun-Ergehen-Zusammenhang, online-resource unter www. wibilex.de. 2 Vgl. Hock, K., Art. Naturrecht III.

Natürliche Ethiken

eines ethischen, sondern im engeren Sinne auch eines rechtlichen Begriffes ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle. Geschichtliche Situationen, in denen sich diese Frage nach einem Naturrecht gegenüber rein positiv gesetzten Rechtsregeln aktualisiert hat, waren die Situationen des Nationalsozialismus, seiner Bewältigungsversuche nach 1945, die Situation der Wiedervereinigung Deutschlands nach 1990 angesichts der sog. „Mauerschützenprozesse“ sowie gegenwärtig die Weltgesellschaft betreffend die Frage nach einer naturrechtlichen Begründung der Menschenrechte, die angesichts militärischer Interventionen in Krisengebieten eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Im Folgenden seien exemplarisch die Koinzidenz des Guten, Wahren und Schönen im spätantiken Neuplatonismus, das Naturrechtskonzept des Aquinaten sowie ein Beispiel einer protestantischen Theologie der Schöpfungsordnungen angeführt.

57

Menschenrechte

Fazit 8 Natürliche Ethiken, die davon ausgehen, dass das Gute in der Ordnung der Natur selbst vorliegt, finden sich nahezu in allen Zivilisationen, Religionen und Epochen. Beispiele sind das altorientalische Weisheitsdenken, die platonischen und aristotelischen Ethiken, die Stoa, der Neuplatonismus, Augustin, das Naturrechtsdenken Thomas von Aquins, am Begriff der Schöpfungsordnungen orientierte neulutherische Theologien und die Tradition der Menschenrechte.

4.1.1 Das Gute, Wahre und Schöne

Auf Plotin (205–270) geht der Neuplatonismus zurück, ein umfassendes System religiöser Philosophie, das das Denken der Spätantike weit bis in das Mittelalter und auch darüber hinaus, bis etwa in die Zeit des Idealismus und der Deutschen Klassik, bestimmte. Hier verbindet sich ontologische Welterklärung mit Erkenntnistheorie, Logik und Begriffstheorie. Durch die neuplatonische Isagoge von Porphyrius (ca. 233–301/305) wurde neuplatonisches Gedankengut auch Teil des Elementarbildungsbereichs. Im Prinzip handelt es sich um eine Synthese platonischer und aristotelischer Traditionen, die aber auch offen für weitere Traditionen war. So verwundert es nicht, dass auch ein christlicher Neuplatonismus in der Spätantike entstand, der spätestens seit Augustin (354–430), der neuplatonisches Gedankengut von Marius Victorinus (ca. 281/291–ca. 363) übernommen hatte, die Christentumsgeschichte zu großen Teilen bestimmte. Ontologisch ist ein Partizipations- und Emanationsgedanke federführend: Das Eine (hen) als das überfließende Sein selbst emaniert in zahlreichen Stufen unterschiedliches Seiendes, aus dem die Welt

Neuplatonismus

Emanationsgedanke

58

Das Gute und die Natur Sein selbst = das Wahre = das Gute = das Schöne

xxxxx xxxxx xxxxx xxxxx

Körper

xxxxx

Lebewesen xxxxx

Mensch

xxxxx

xxxxx

xxxxx



xxxxx

xxxxx xxxxx

xxxxx

Individuen

xxxxx xxxxx

xxxxx

xxxxx xxxxx

xxxxx



Abb. 9: arbor Porphyriana

Realismus Allgemeinbegriffe

Definitionen

besteht. Von Stufe zu Stufe nimmt dabei die Seinsmächtigkeit ab; auf den unteren Ebenen befindet sich die materielle Welt und schließlich das Individuelle. Das Individuelle ist daher nur aktual, insofern es an den Allgemeinbegriffen, die eine höhere Seinsmächtigkeit haben, partizipiert und nichts als deren Instantiation ist. Insofern handelt es sich um einen universalienrelevanten Realismus oder Platonismus: Die Allgemeinbegriffe existieren logisch und ontologisch vor dem individuellen Seienden (universalia sunt ante rem). Dieses Konzept hat Implikationen für die Begriffstheorie und Epistemologie: Nach der arbor Porphyriana, einem Begriffsbaum oder einer Begriffspyramide, können die Allgemeinbegriffe relativ in Genus und Spezies geordnet werden: Betrachtet man z.B. den Allgemeinbegriff des körperlichen Seins, kann dieser als Genus verstanden werden, dem die Lebewesen als Spezies untergeordnet sind. Aber auch der Begriff des Lebewesens kann wiederum als Genus verstanden werden, dem etwa der Mensch als Spezies untergeordnet ist. Auf diese Weise können alle Allgemeinbegriffe als Spezies definiert werden: Durch Angabe des nächst höheren Genus und Angabe der spezifischen Differenz (definitio fit per genus proximum et differentiam specificam). So kann etwa für die Spezies Mensch als nächsthöheres Genus „Lebewesen“ oder „Zweifüßler“ genannt werden und die spezifische Differenz „vernunftbegabt“ oder „federlos“, so dass man als Definitionen des Menschen „vernunftbegabtes Lebewesen“ oder „federloser Zweifüßler“ erhielte. Nicht definiert werden können aber individuelle Gegenstände (individuum est ineffabile), denn eine spezifische Differenz kann nicht angegeben werden. Aber nicht nur die Basis der Pyrami-

59

Natürliche Ethiken

de kann nicht definiert werden, sondern auch deren Spitze, das Sein selbst oder das (göttliche) Eine kann nicht definiert werden, da es kein nächst höheres Genus mehr geben kann. Das Sein ist damit selbst kein Genus (esse non est in genere). Welche Bedeutung hat nun dieses System für die Ethik und die Frage nach dem Guten? Das Gute ist nichts Individuelles, aber individuelles Sein kann gut sein. Es partizipiert am Guten, das den Rang eines Allgemeinbegriffs zu haben scheint. Aber auch dies ist trügerisch. Denn der Allgemeinbegriff etwa des „guten Menschen“ ist selbst nicht das Gute, sondern partizipiert wiederum nur so am Guten, wie auch ein „gutes Pferd“ oder eine „gute Handlung“. Das Gute steht damit an der Spitze der Pyramide. Es ist identisch mit dem Sein selbst und kann daher nicht definiert werden. Es kann nur aufgewiesen werden, indem auf gutes Seiendes gezeigt wird, das kraft des Partizipationsgedankens am Guten Anteil hat. Was für das Gute gilt, gilt letztlich auch für das Schöne und das Wahre. Das Gute, Wahre und Schöne fällt damit an der Spitze der Pyramide jeweils ineinander und ist identisch mit dem Sein selbst. Da die Spitze der Pyramide aufgrund ihrer Undefinierbarkeit aber nicht zum Seienden der Begriffspyramide gehört, ist es dieser transzendent und Bedingung der Möglichkeit der partikularen guten, schönen und wahren Dinge, weshalb man vom Guten, Wahren, Schönen auch als den drei Transzendentalien spricht. Das Schlechte oder das Böse ist letztlich nicht wirklich real. Wo es erscheint, ist es nur Mangel an Gutem (privatio boni) bzw. Mangel an Sein. Das Gute ist in diesem System also nicht nur identisch mit dem Sein selbst, das Grund alles Seienden ist, sondern im Seienden auch aufgrund des Partizipationsgedankens zeigund erlebbar, also der Vernunft eines jeden Menschen allgemein erschließbar. Obwohl auch in der Neuzeit immer wieder neuplatonisches Gedankengut an unterschiedlichster Stelle der Kulturgeschichte durchscheint – so trägt z.B. die Frankfurter Alte Oper von 1880 die Widmung „dem Wahren, Schönen, Guten“, ist die Akzeptanz dieses Konzepts eines naturgegebenen, im Sein selbst verankerten Guten letztlich nur zu haben, wenn man alle voraussetzungsreichen und weltanschaulichen Prämissen des neuplatonischen Wirklichkeitsverständnisses akzeptiert. Dies ist aber sowohl in der Neuzeit als auch in der gegenwärtigen Gesellschaft nur ausnahmsweise der Fall. Insbesondere die naturwissenschaftliche Welterfassung passt nur schwer zu diesem neuplatonischen Wirklichkeitsverständnis. Denn hier sind es ja gerade die einzelnen konkreten, prozessualen Erfahrungsabläufe der Welt, die durch empirische Erfahrung betrachtet werden sollen. Der Blick auf das konkrete Individuelle ist aber gerade kein

Sein selbst

Das Gute

das Gute, Wahre und Schöne

privatio boni

60

Das Gute und die Natur

Rationalismus

natürliche Gotteserkenntnis

ex gradibus

Königsweg der Erkenntnis innerhalb der neuplatonischen Weltsicht, in der die empirielose Begriffsarbeit eines Rationalismus im Vordergrund steht. Aber auch von philosophischer Seite ergeben sich Einwände: Warum sollte das abstrakte Gute mit dem Wahren und Schönen identisch sein? Der Wahrheitsbegriff wird von den Wahrheitstheorien untersucht, der Begriff des Schönen von der Ästhetik. All diese Reflexionen zeigen aber, dass die jeweilige Begriffslogik und der Verwendungsgebrauch von Begriffen wie „gut“, „wahr“ und „schön“ deutlich unterschiedlich ist. Ihre einzige Gemeinsamkeit besteht darin, dass es sich um wertende oder valuative Begriffe handelt. Von der Alltagssprache her lässt sich insbesondere die Identität des Guten mit dem Schönen bestreiten: Während es in der Ethik doch um allgemein einsehbare und objektive Sachverhalte geht oder zumindest gehen sollte oder könnte, wird dies für den Begriff des Schönen meist nicht angenommen: Schönheit liegt im Auge des Betrachters, heißt es, weswegen man sich über Geschmack nicht streiten sollte (de gustibus non est disputandum). Freilich wird man auch diese Ansichten mit guten Gründen bestreiten können. Aber darum geht es hier nicht. Allein dass sie de facto bestritten werden, zeigt ihre Strittigkeit auf. Ist aber Strittigkeit vorhanden, erscheint die Annahme einer neuplatonischen Seinspyramide, in der das Gute natürlich verortet ist, selbst strittig und zweifelhaft. Zuletzt erhebt schließlich die gegenwärtige Theologie einen nicht zu unterschätzenden Einwand: Auch wenn es geschichtlich zu allen Zeiten der Christentumsgeschichte immer einen christlichen Neuplatonismus gegeben hat, so ist doch zweifelhaft, ob er auch adäquat ist: Bindet sich die Theologie und damit die theologische Ethik nicht an ein außerchristliches Wirklichkeitsverständnis, das sich in seinen Grundannahmen aus anderen Quellen speist? Führt nicht der rationale Begriffsaufstieg zu einer natürlichen Gotteserkenntnis, die als solche mit dem Selbsterschließungsgedanken Gottes als theologische Grundprämisse in Konkurrenz gerät? Verändert sich dann nicht auch die inhaltliche Bestimmung des christlichen Gottesverständnisses? Tatsächlich führte Thomas von Aquin unter seinen „fünf Wegen“, die Existenz Gottes aufzuweisen (quinque viae), auch den Beweis aus den Stufen des Seins „ex gradibus“ an, der eben jenes neuplatonische Wirklichkeitsverständnis voraussetzt: „Der vierte Weg stammt aus den Stufen des Seins, die in den Dingen gefunden werden. Denn unter den Dingen sind einige mehr und einige weniger gut, wahr oder vornehm etc. Aber ‚mehr‘ und ‚weniger‘ wird von sehr unterschiedlichen Dingen ausgesagt, je nachdem, wie sich diese in unterschiedli-

Natürliche Ethiken

61

cher Weise einem Maximum annähern; so wie etwas ‚heißer‘ genannt wird, wenn es sich einer Maximalhitze nähert. Es gibt also auch etwas Wahrstes, etwas Bestes und etwas Vornehmstes und folglich auch ein maximal Seiendes […]. So ist nun auch das Maximum in den anderen Genera; es ist die Ursache alles dessen, was in jenen Genera ist, so wie das Feuer, das die Maximalhitze ist, in allem ist, was heiß […] ist. Also gibt es etwas, das in allem Seienden Ursache von Sein, Güte und beliebiger anderer Perfektionen ist. Und das nennen wir ‚Gott‘.“3 Offensichtlich stehen hier nicht nur das fragwürdige neuplatonische Stufendenken und eine aristotelische Physik im Hintergrund, sondern am Ende der Argumentation steht auch eine willkürliche Identifikation: „et hoc dicimus Deum“. Diese Identifikation eines perfekten Maximalseins mit dem christlichen Gott geschieht aber willkürlich und ad hoc.

Wird Gott aber in neuplatonischer Weise als maximales Sein selbst verstanden, ist dies kohärent nur möglich, wenn nicht nur die erkenntnistheoretische Aufstiegslogik übernommen wird, sondern auch die ihr entsprechende ontologische Degradations- und Emanationslogik. Unter diesen Voraussetzungen würde aber Gott letztlich ein Teil der Welt, weil die Weltentstehung nun nicht mehr kontingent und ohne welthafte Voraussetzungen (creatio ex nihilo) erfolgen würde, sondern selbst notwendig wäre. Dieses Beispiel mag zur Illustration genügen. Es geht bei der Abwehr des neuplatonischen Gedankenguts nicht um einen Ausschluss philosophischer Prämissen aus der Theologie. Das wäre nicht möglich und oft auch nicht wünschenswert. Es geht vielmehr um eine Abwehr der Übernahme von solchen Prämissen, die eine Verzeichnung wesentlicher Gehalte bedeuten, die sich aus einer Rekonstruktion der Selbsterschließung des dreieinigen Gottes ergeben. Ist eine solche Übernahme des neuplatonischen Systems aber ausgeschlossen, verbietet sich auch die neuplatonische Bestimmung des Guten für die Ethik.

3 Thomas von Aquin, s.th.I, q2, a3, c5: „Quarta via sumitur ex gradibus qui in rebus inveniuntur. Invenitur enim in rebus aliquid magis et minus bonum, et verum, et nobile, et sic de aliis huiusmodi. Sed magis et minus dicuntur de diversis secundum quod appropinquant diversimode ad aliquid quod maxime est, sicut magis calidum est, quod magis appropinquat maxime calido. Est igitur aliquid quod est verissimum, et optimum, et nobilissimum, et per consequens maxime ens, […]. Quod autem dicitur maxime tale in aliquo genere, est causa omnium quae sunt illius generis, sicut ignis, qui est maxime calidus, est causa omnium calidorum. Ergo est aliquid quod omnibus entibus est causa esse, et bonitatis, et cuiuslibet perfectionis, et hoc dicimus Deum.“

creatio ex nihilo

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Das Gute und die Natur

Fazit 9 In neuplatonischen Traditionen fällt das Gute mit dem Wahren und Schönen als dem Sein selbst zusammen. Das Sein selbst ist kein Seiendes, sondern ist den einzelnen seienden Dingen transzendent. Einzelnes Seiendes ist nur insofern gut, als es am Guten bzw. am Sein selbst partizipiert. Das Schlechte hat keinen eigenen Wert, sondern ist Mangel an Güte und daher auch Mangel an Sein. Gegen diese Verortung des Guten im Sein nach neuplatonischem Muster ergeben sich Einwände aufgrund der empirischen Basis der Naturwissenschaften, aufgrund der unterschiedlichen Begriffslogiken des Gebrauchs von „gut“, „schön“ und „wahr“ sowie aufgrund spezifisch theologischer Erfordernisse des christlichen Glaubens, der eine Emanationsontologie aufgrund des Gedankens der creatio ex nihilo nicht zulässt.

4.1.2 Naturrecht

lex aeterna

Obwohl bei Thomas der Terminus lex federführend ist, geht es noch nicht um ein Gesetz im juridischen Sinne im Unterschied zu ethischen Regeln. Gesetz ist vielmehr ein umfassender Ordnungsbegriff, der die gesamte natürliche Ordnung der Welt bestimmt, also ethische, juridische sowie die Regeln des natürlichen Geschehens (Naturgesetze) umfasst. Diese Ordnung ist eine ewige Ordnung der göttlichen Vernunft, die vor und über der Schöpfung welthaften Seins besteht. Dies ist die lex aeterna, das ewige Gesetz. „Deutlich ist […], dass die gesamte Gemeinschaft des Universums durch göttliche Vernunft bestimmt wird. […] Und weil göttliche Vernunft nichts zeitlich begreift, sondern durch einen ewigen Begriff, muss diese Art des Gesetzes ewig genannt werden.“4

lex naturalis

Diese lex aeterna definiert auch das Gute an sich und fällt mit der göttlichen Vernunft zusammen. Sie ist nicht göttlichem Willen unterworfen, sondern koinzidiert mit göttlicher Vernunft. Auch Gott kann nicht gegen die lex aeterna durch einen Willensakt verstoßen. Die lex aeterna bildet den Maßstab allen geschöpflichen Seins, aber in unterschiedlicher Weise. Dies ist möglich, weil das geschaffene Sein in unterschiedlicher Weise an der lex aeterna partizipiert. Insofern der Mensch als vernünftiges Wesen an der lex aeterna partizipiert, wird von der lex naturalis gesprochen, also dem natürlichen Gesetz, das der Mensch kraft seiner partizipatorischen Vernunft einsehen kann: 4 Thomas von Aquin, s.th.IIa, q91, a1, resp.: „Manifestum est […] quod tota communitas universi gubernatur ratione divina. […] Et quia divina ratio nihil concipit ex tempore, sed habet aeternum conceptum […] huiusmodi legem oportet dicere aeternam.“

63

Natürliche Ethiken „Da nun alles, was göttlicher Providenz unterliegt, von der lex aeterna reguliert und gemessen wird […], ist klar, dass alles an der lex aeterna unterschiedlich partizipiert. […] Vor allem aber ist die vernünftige Kreatur [d.i. Mensch und Engel] der göttlichen Providenz unterworfen. […] Und diese Partizipation der lex aeterna in der rationalen Kreatur wird lex naturalis genannt. […] Von daher ist die lex naturalis nichts anderes als die Partizipation der lex aeterna innnerhalb der rationalen Kreatur.“5

Ausgehend von dieser lex naturalis vermag der Mensch nun Schlüsse zu ziehen, sowohl in der theoretischen Vernunft als auch in der Ethik und im Rechtswesen. Auf diese Weise – als von der lex naturalis abgeleitete Schlüsse – entstehen nun partikular geschichtlich-ethische Regeln des Guten oder juridische Gesetze: „Ähnlich ist nun das Vorgehen beim Schließen durch praktische und spekulative Vernunft, denn bei beiden wird von Prinzipien auf Konklusionen geschlossen. […] Und jene partikularen Schlüsse, die durch menschliche Vernunft erhalten werden, werden leges humanae genannt. […] Weshalb auch Tullius sagt, der Anfang des Rechts sei in der Natur grundgelegt.“6

Thomas geht also von einer dreigeteilten Stufung aus: In Ewigkeit besteht die lex aeterna göttlicher – d.h. ewiger – Vernunft, an der die lex naturalis der geschaffenen – d.h. der menschlichen – Vernunft partizipiert. Durch menschliches Schließen können partikulare Gesetze und ethische Regeln davon abgeleitet oder gerechtfertigt werden, die nun die lex humana bilden. Thomas’ Denken unterscheidet sich hier wenig vom allgemeinantiken Denken. Denn ob es der personale Gott des Christentums ist, der in Ewigkeit die lex aeterna einsieht, oder ob diese nach der Art eines platonischen Ideenkosmos in sich selbst besteht, spielt letztlich keine Rolle. Ein spezifisch christliches Element führt Thomas nun mit dem Gedanken einer lex divine data ein. In der thomasischen Theologie sind Natur und Gnade in einer spezifischen Art und Weise aufeinander bezogen, so dass die Gnade die Natur nicht aufhebt oder zerstört, sondern vervollständigt und perfektioniert (gratia non tollit, sed perficit naturam). Gnade ist in 5 Thomas von Aquin, s.th., IIa, q91, a2, resp.: „Unde cum omnia quae divinae providentiae subduntur, a lege aeterna regulentur et mensurentur; […] manifestum est quod omnia participant aliqualiter legem aeternam, […]Inter cetera autem rationalis creatura excellentiori quodam modo divinae providentiae subiacet […]. Et talis participatio legis aeternae in rationali creatura lex naturalis dicitur. […]Unde patet quod lex naturalis nihil aliud est quam participatio legis aeternae in rationali creatura.“ 6 Thomas von Aquin, s.th., IIa, q91, a3, resp.: „Similis autem processus esse invenitur rationis practicae et speculativae, utraque enim ex quibusdam principiis ad quasdam conclusiones procedit […] Et istae particulares dispositiones adinventae secundum rationem humanam, dicuntur leges humanae. […] Unde et Tullius dicit, in sua Rhetor., quod initium iuris est a natura profectum.“

lex humana

lex divine data Natur und Gnade

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Das Gute und die Natur

gewisser Weise also immer schon Natur und Natur schon Gnade, nur dass die wahre Natur eben nicht aufgrund der vernünftigen Natur des Menschen erkannt werden kann, weil die Partizipation der geschaffenen Vernunft an der ewigen Vernunft derart unvollständig und fehlerhaft ist, dass es einer gesonderten Erschließung oder Offenbarung der ewigen Vernunft bedarf. Dies gilt auch für die lex aeterna: Sie ist in der lex naturalis nur sehr unvollkommen vorhanden, so dass es neben der lex naturalis noch eine andere Form der innerweltlichen Darstellung der lex aeterna gibt: die lex divine data. Thomas nennt insgesamt vier Gründe für die Offenbarungs- oder Partizipationsparallelität der lex divine data über die lex naturalis hinaus: das teleologische Hingeordnetsein des Menschen auf ein übernatürliches Ziel, die Fehlbarkeit menschlicher Vernunft, die Unfähigkeit der lex humana zur Ordnung menschlicher Affekte und Tugenden sowie den Bezug zur Sünde: „Außer der lex naturalis und der lex humana ist es zur Führung menschlichen Lebens notwendig, dass es eine lex divina gibt, und zwar aus vier Gründen: Erstens […], weil der Mensch auf ein Ziel ewigen Glücks hingeordnet ist, das er nicht aufgrund des Maßes seiner natürlichen Fähigkeiten erreichen kann, […] war es notwendig, dass er über die lex naturalis und die lex humana hinaus durch ein Gesetz, das gottgegeben ist, zu seinem Ziel geführt würde. Zweitens: Aufgrund der Unsicherheit menschlichen Urteilens […], damit der Mensch also ohne Zweifel wissen kann, was zu tun und zu lassen ist, ist es notwendig, dass der Mensch in seinem eigenen Handeln durch ein göttlich gegebenes Gesetz geführt werde, das nicht irrtumsfähig ist. Drittens […] kann die lex humana nicht hinreichend die inneren Akte ordnen, weshalb es nötig war, dass die lex divina zu diesem dazu komme. Viertens, […] damit kein Übel unverboten bliebe, war es notwendig, dass eine lex divina dazukomme, durch die alle Sünden verboten seien.“7

Beide, die lex naturalis (und daher abgeleitet auch die leges humanes) sowie die lex divine data erhalten also ihre Dignität und Richtigkeit durch Partizipation an der lex aeterna. Die Partizipation geschieht aber in unterschiedlicher Weise. Die Partizipation der lex naturalis 7 Thomas von Aquin, s.th., IIa, q91, a4, resp.: „praeter legem naturalem et legem humanam, necessarium fuit ad directionem humanae vitae habere legem divinam. Et hoc propter quatuor rationes. Primo […] Et si quidem homo ordinaretur tantum ad finem qui non excederet proportionem naturalis facultatis hominis, […] ideo necessarium fuit ut supra legem naturalem et humanam, dirigeretur etiam ad suum finem lege divinitus data. Secundo, quia propter incertitudinem humani iudicii, […] Ut ergo homo absque omni dubitatione scire possit quid ei sit agendum et quid vitandum, necessarium fuit ut in actibus propriis dirigeretur per legem divinitus datam, de qua constat quod non potest errare. Tertio, […] lex humana non potuit […] ordinare sufficienter interiores actus, sed necessarium fuit quod ad hoc superveniret lex divina. Quarto […] Ut ergo nullum malum improhibitum […] remaneat, necessarium fuit supervenire legem divinam, per quam omnia peccata prohibentur.“

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Natürliche Ethiken

ist eine Anteilhabe am Ewigen nach der Maßgabe der menschlichen Vernunft, gewissermaßen eine Anpassung (Akkomodation) an diese. Die lex divine data partizipiert in höherem oder perfekterem Maße an der lex aeterna, bleibt aber von dieser immer noch unterschieden:

Akkomodation

„Die lex naturalis partizipiert an der lex aeterna nach dem Maß der Fähigkeiten der menschlichen Natur. […] Das göttlich dazugegebene Gesetz partizipiert an der lex aeterna in einem höherem Maße.“8

Obwohl Thomas den Terminus lex divina auch selbst verwendet, sollte dieser besser vermieden werden, weil er missverständlich oder doppeldeutig ist: ein „göttliches Gesetz“ ist nämlich auch die lex aeterna selbst, sogar im eigentlichen Sinne. Die lex divine data kann auch lex divina genannt werden, ist aber aus den o.a. Gründen nicht identisch mit der lex aeterna. Worin aber besteht die lex divine data inhaltlich? Nun, dies sind einfach in unterschiedlicher Partizipationsqualität die Schriften des AT und des NT: „Auf zweifache Weise können Unterscheidungen stattfinden. Die eine Weise bezieht sich auf spezifische Unterschiede, wie Pferd und Ochse. Die andere Weise bezieht sich innerhalb derselben Spezies auf das Perfekte und Imperfekte, wie Junge und Mann. Nach dieser zweiten Weise wird die lex divina unterschieden in ein Altes Gesetz und ein Neues Gesetz.“9

Kennzeichen dieser thomasischen Naturrechtslehre ist, dass es sich nicht nur um eine kognitivistische Ethik handelt, sondern dass es sich auch um ein intellektualistisches System handelt: Da das Gute in der göttlichen Vernunft begründet ist, ist es nicht von göttlicher, willenshafter Autorität abhängig. Erst mit dem Ausgang der Hochscholastik bei Johannes Duns Scotus (ca. 1266–1308) und im voluntaristischen Denken der Spätscholastik (William von Ockham [ca. 1288–1347], Gabriel Biel [ca. 1415–1495] u.a.) wird dieser Schritt vollzogen. Etwas plakativ könnte man auch sagen, dass bei Thomas Gott das Gute will, weil es selbst gut bzw. vernünftig ist (perseitas boni), dass im Voluntarismus hingegen das Gute gut ist, weil Gott es will (perdeitas boni). Damit ähnelt die voluntaristische Konzeption des Guten eher der islamischen Konzeption, in der der Mensch zwar von Natur aus im Prinzip das Gute erkennen kann, das Gute aber im Willen Gottes 8 Thomas von Aquin, s.th., IIa, q91, a4, ad1.: „per naturalem legem participatur lex aeterna secundum proportionem capacitatis humanae naturae. […] Et ideo superadditur lex divinitus data, per quam lex aeterna participatur altiori modo.“ 9 Thomas von Aquin, s.th., IIa, q91, a5, resp.: „Dupliciter autem inveniuntur aliqua distingui. Uno modo, sicut ea quae sunt omnino specie diversa, ut equus et bos. Alio modo, sicut perfectum et imperfectum in eadem specie, sicut puer et vir. Et hoc modo lex divina distinguitur in legem veterem et legem novam.“

Spätscholastik

Voluntarismus

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reformatorische Sündenlehre

Das Gute und die Natur

besteht. Eine wichtige geschichtliche Konsequenz besteht darin, dass die aufklärerische Kritik eines auf dem Willen Gottes beruhenden Naturrechtsdenkens als heteronom zwar die voluntaristische, nicht aber die thomasische Konzeption trifft. Ein solches voluntaristisches Konzept wäre freilich nicht mehr das einer nichtreduktionistischen Ethik, weil jetzt Wert- und Normbegriffe auf den Willen Gottes zurückgeführt und damit reduziert würden. Aus anderen Gründen lehnt die reformatorische Tradition dieses Naturrechtsdenken weitgehend ab: Da das Naturrechtsdenken abhängig ist von der spezifisch thomasischen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Natur und Gnade, die Reformation aber genau diese Verhältnisbestimmung ablehnt, kann auch das Naturrechtsdenken nicht in dieser Form übernommen werden. Denn die thomasische Verhältnisbestimmung setzt voraus, dass die menschliche Vernunft an der lex aeterna partizipiert, also nicht durch den gegenwärtigen Sündenstand des Menschen in dem Maße geschädigt ist, dass eine solche Einsicht unmöglich wäre. Genau dies aber nimmt letztlich die reformatorische Sündenlehre an: Der Mensch als Ganzer, als totus homo, ist Gegenstand der Sünde, so dass auch das menschliche Vernunftvermögen so grundlegend gestört ist, dass eine solche Einsicht nicht mehr bestehen kann. Dennoch blieb das thomasische Naturrechtsdenken geschichtlich weiter wirkungsvoll: Von der Konstitution des Katholizismus im Tridentinum über die Barock- und Neuscholastik blieb das (nun als thomistisch zu bezeichnende) Naturrechtsdenken für die röm.-kath. Kirche bis in die Gegenwart bestimmend und dürfte sogar Einflüsse auf die Entstehung der bundesrepublikanischen Verfassung nach 1945 gehabt haben. Aber auch in der protestantischen Tradition der Neuzeit, etwa bei Ernst Troeltsch (1865–1923) und in der Diskursethik (s.u. Kap. 11), spielen Naturrechtsfragen eine große Rolle.10

Fazit 10 Im Naturrechtsdenken Thomas’ von Aquin zur Zeit der Hochscholastik besteht das Gute in der lex aeterna, dem ewigen Gesetz, das identisch mit der ewigen Vernunft Gottes ist und an das Gott gebunden ist. Im Unterschied zum späteren Voluntarismus, der das Gute vom Willen Gottes abhängig macht, ist das Gute aus sich selbst heraus gut und ewig. Welthaftes Seiendes, insbesondere die menschliche Vernunft, partizipiert an der lex aeterna in Form der lex naturalis: Mit seiner Vernunft hat der Mensch Einsicht in dieses naturgegebene Gute. Da diese Einsicht nicht eindeutig ist, offenbart Gott in AT und NT die lex divine data, das göttlich gegebene Gesetz. Indem der Mensch durch

10 Vgl. Tanner, K., Der lange Schatten des Naturrechts, 59–119.183–201.

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Natürliche Ethiken

Schlussfolgerungen von der lex naturalis Ableitungen trifft, entsteht nun das menschliche Gesetz, die lex humana. In der reformatorischen Tradition ist die Naturrechtslehre weniger ausgeprägt, da die thomistische Tradition eine starke Kontinuität von (göttlicher) Natur und (menschlicher) Vernunft voraussetzt (gratia non tollit, sed perficit naturam), der Protestantismus aber die Vernunft des Menschen durch die Sünde derart geschädigt sieht, dass sie zu einer solchen Einsicht nicht fähig ist.

4.1.3 Schöpfungsordnungen

Mit der Konstitution des Neuluthertums11 entstanden auf vorwiegend lutherischer Seite im 19. und frühen 20. Jh. verschiedene Lehren von der Schöpfungsordnung bzw. von den Schöpfungsordnungen. Diese Lehren sind in sich nicht einheitlich und stehen nicht einfach in Kontinuität zu reformatorischen Gedanken, knüpfen aber daran an. Um sie darzustellen, sind also zunächst deren allgemeinreformatorische Wurzeln zu beschreiben: Gemeinsame Wurzeln: Nach reformatorischer Ansicht lässt sich ein Schöpfungshandeln Gottes von einem Heilshandeln Gottes unterscheiden. Zum Schöpfungshandeln Gottes gehört einerseits die creatio ex nihilo, die „Schöpfung ohne welthafte Voraussetzungen“, gemäß der Gottes Welthandeln hinreichende Bedingung zur Konstitution welthaften Seins ist, andererseits aber auch Gottes creatio continua (andauernde Schöpfung) oder creatio continuata (fortgesetzte Schöpfung), durch die Gott die Welt erhält (conservatio mundi). Damit ist das Handeln Gottes dauerhaft auch eine notwendige Bedingung zum Bestehen der Welt in jedem Augenblick. Gottes Schöpfungshandeln gilt damit gerade auch unter den Bedingungen des Falles, der den Erhalt der Welt nötig macht. Vom Welthandeln Gottes unterschieden ist sein Heilshandeln, mit dem er die Welt nicht nur erhält, sondern zu ihrem eschatischen Ziel der Vollendung des Reiches Gottes führt. Man kann daraus eine Unterscheidung zweier Handlungweisen Gottes an der Welt gewinnen, die als Zwei-RegimentenLehre bezeichnet werden kann.12 An beiden Handlungsweisen hat sich der Mensch zu beteiligen: Das Heilshandeln setzt Gottes Zurechtbringung der Welt in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi sowie die Gabe des inspirierenden Geistes voraus. Eine Beteiligung besteht schlicht darin, dass passiv zum Glauben als Vertrauen gekommene Menschen diesen – ihren Glauben – bezeugen und damit das Evangelium von Gottes Heilshandeln weitererzählen. Ob dies gelingen 11 Vgl. Mühling, M., Art. Neuluthertum II. Theologiegeschichtlich. 12 Vgl. Härle, W., Zwei-Regimenten-Lehre.

creatio ex nihilo

creatio continuata

Welthandeln Heilshandeln

Zwei-RegimentenLehre

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Das Gute und die Natur

kann, bleibt dem Menschen aber unverfügbar und ist Sache des Heiligen Geistes selbst. Insofern geschieht jegliche menschliche Beteiligung an Gottes Heilshandeln sine vi humana sed verbo („Ohne Zwang, sondern durch das Wort“, CA 28). Ziel von Gottes Heilshandeln ist die Verwirklichung des Guten. Demgegenüber ist das Ziel von Gottes Erhaltungshandeln nur die Hinderung des Bösen. Auch an Gottes Erhaltungshandeln kann und muss sich der Mensch in Mitarbeit beteiligen, und zwar auf unterschiedliche Art und Weise. Luther konnte beispielsweise mit Hilfe dieses Gedankens die Unrechtmäßigkeit zölibatär lebender Stände ausdrücken, da diese eine Verweigerung der Mitarbeit am Erhaltungsauftrag Gottes darstellen. Auch die lutherische Ständelehre, die bis in vorchristliche platonische Traditionslinien (Wehrstand, Lehrstand, Nährstand) zurückreicht,13 findet hier ihren systematischen Ort. Voraussetzung zur Teilnahme an Gottes erhaltendem Regiment ist selbstverständlich nicht, dass ein Mensch zum christlichen Glauben gekommen ist. Luther kann beispielsweise sogar das weltliche politische Regiment des türkischen und muslimischen Sultans als besonders beispielhaft anführen.14 Ein gemeinsames Problem: Angesichts dieser allgemeinlutherischen Ausgangslage stellt sich allerdings ein Problem: Wenn auch der Nicht-Gerechtfertigte sich am erhaltenden Regiment Gottes beteiligen kann und muss, muss es auch Kriterien vorzüglichen Handelns für diese Beteiligung geben. Und diese Kriterien können nicht einfach im Doppelgebot der Liebe oder gar im Gebot der Nächstenliebe bestehen, die dem Heilshandeln Gottes zugewiesen sind. Wie soll ein solches Kriterium der Beteiligung am erhaltenden Handeln Gottes aber unter den Bedingungen der Sünde einsehbar sein, wenn der totus homo, der ganze Mensch, einschließlich seiner Vernunft und seines Wollens, von der Sünde betroffen, also geschädigt ist?

13 Vgl. Platon, Politeia, 369b–412e. 14 Vgl. Luther, M., WA 30II, 189f.: „wirstu sehen bey den Türcken nach dem eusserlichen wandel ein tapffer strenge und ehrbarlich wesen: Sie […] haben grossen trefflichen gehorsam, zucht und ehre gegen yhren Keiser und herrn, Und haben yhr regiment eusserlich gefasset und ym schwanck, wie wirs gern haben wollten ynn Deudschen landen.“ Dennoch ist Luthers Bild des Islam insgesamt negativ bestimmt, denn Luther wertet die Türken als Feinde des christlichen Glaubens, die Bedrohung durch das Osmanische Reich als Mittel des Zornes Gottes, der dennoch legitim zu begegnen ist, und insgesamt sieht er den Islam als eine Religion, in der sich die unterschiedlichen Häresien nur so bündeln. Vgl. Ehmann, J., Luther, Türken und Islam, 445–449. Gerade angesichts dieser Äußerungen überraschen die positiven Äußerungen über die türkische Vorzüglichkeit im weltlichen Regiment umso mehr.

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Natürliche Ethiken

Fazit 11 Gottes Handeln an der Welt ist im Sinne der creatio ex nihilo hinreichende und notwendige Bedingung zum Bestand anderen Seins als Gott selbst und im Sinne der creatio continuata notwendige Bedingung zum Bestand jeglichen welthaften Ereignisses. Darauf ruht die Zwei-Regimenten-Lehre: Gottes Heilshandeln führt den Menschen zum Glauben und setzt als Mitwirkung das kommunikative Zeugnis von Christen voraus. Gottes Welthandeln, sein Regiment zur Linken, hat nicht die Aufgabe der Heilsverwirklichung, sondern die Aufgabe der Hinderung des Bösen. Auch hieran kann sich der Mensch beteiligen, und zwar unabhängig von der Frage, ob er zum Glauben gekommen ist oder nicht. Daher stellt sich die Frage nach Kriterien für diese Mitwirkung an Gottes erhaltendem Handeln.

Die Lösung der Ordnungstheologien: Die unterschiedlichen Ordnungstheologien wollen dieses zuletzt genannte Problem lösen, indem davon ausgegangen wird, dass es von Gott gewollte Ordnungen gibt, die auch unter den Bedingungen der Sünde noch von der Vernunft eingesehen werden können. Diese Ordnungen können einen unterschiedlichen theologischen Status zugeschrieben bekommen. So geht etwa Paul Althaus (1888–1966) davon aus, dass die Ethik der Liebe, die dem Heilshandeln zuzuordnen ist, in Kontinuität mit Gottes Schöpfungshandeln steht. Dementsprechend begegnet Gottes Forderung nach Liebe auch unabhängig von der Verkündigung in allen Bereichen der Schöpfung und in deren konkreten Beziehungsgefügen. Diese Forderung äußert sich konkret in Schöpfungsordnungen, d.h., diese Ordnungen stehen in Kontinuität zu Gottes erhaltendem Handeln auch vor dem Fall:

Ordnungstheologien

Schöpfungsordnungen

„Die Ordnungen, die meine Vernunft als Bedingungen des Fortlebens der Menschheit erkennt, weiß ich im Glauben als von Gott geordnete Mittel für seinen Willen zum Leben der Menschheit.“15

Andere Theologen wie Walter Künneth (1901–1997) sehen hingegen weniger Kontinuität zwischen den Ordnungen vor dem Fall, die unerkennbar bleiben, und sprechen von „Erhaltungsordungen“, „Interimsordnungen“, „Zwischenordnungen“ oder „Notordnungen“ Gottes, die angesichts des sündhaften Zustands der Welt eingesetzt werden und keinen ewigen Bestand haben: „Gott erhält trotz Fall und Sünde die Welt, die immer noch seine Kreatur bleibt, durch bestimmte Ordnungen, um seine Schöpfung auch in ihrer entarteten Gestalt vor der völligen Zerstörung und Selbstauflösung zu bewahren […].“16

15 Althaus, P., Theologie der Ordnungen, 9. 16 Künneth, W., Offenbarung und die Ordnungen, 30f.

Notordnungen

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Das Gute und die Natur

Eigengesetzlichkeit

Diese Ordnungen sind zwar an sich für die Zwischenzeit der Sünde unveränderlich, erscheinen aber in geschichtlicher Gestalt stets nur in Ordnungsformen, die Gegenstand veränderbarer menschlicher Kulturleistungen und als solche Ausdruck menschlicher Sündhaftigkeit sind.17 Damit lösen die Ordnungstheologien das Problem, zu dessen Lösung sie angetreten sind, nicht wirklich, denn die Frage nach einer Kriteriologie stellt sich anhand dieser Ordnungsformen neu. Nicht viele Ordnungstheologien haben dieses Problem erkannt. Im Gegenteil ist es oft zu einer Ablösung der Ordnungen oder Ordnungsformen von der Kriteriologie einer spezifisch christlichen Ethik vor dem Hintergrund des Heilshandelns gekommen und damit zu einer Verzeichnung der ursprünglichen Zwei-Regimenten-Lehre zu einer Zwei-Reiche-Lehre, in der dem weltlichen Regiment eine Eigengesetzlichkeit, die nicht mehr kritisierbar ist, zugesprochen wird. Interessanterweise geschieht dies nicht nur bei den Ordnungstheologien der radikal lutherischen Theologen, sondern lässt sich im Falle Emil Brunners (1889–1966) auch bei einem reformierten Theologen beobachten: „Gott gebraucht die menschlich zwecksetzende Vernunft, im Verein mit dem natürlichen Instinkt, im Dienst seiner Welterhaltung. […] Darum gehorchen diese Ordnungen nicht der Logik des Glaubens oder der Liebe, sondern der Logik menschlich-vernünftiger – und das heißt immer auch sündhafter – Zwecksetzung.“18

Ordnungsidentifikation

Was angesichts dieser Eigengesetzlichkeit an Kritikpotenzial bleibt, ist dann eine rein innervernünftige Kritik, denn die Sittlichkeit gehört in diesen Bereich als Ganzen.19 Ordnungsidentifikation: Kennzeichen aller Ordnungstheorien ist aber auch eine Identifikation dieser Schöpfungs- oder Erhaltungsordnungen mit konkreten, geschichtlich-gesellschaftlich verwirklichten Ordnungen. In der Regel werden Familie, Staat und Gesellschaft als solche konkreten Ordnungen benannt. Im Falle von Paul Althaus, Werner Elert (1885–1954), auch von Walter Künneth und vor allem von Emanuel Hirsch (1888–1972) kam es aber auch zu Identifikationen dieser Ordnungen mit nationalsozialistischem Gedankengut nahestehenden Traditionslinien oder zur direkten Identifikation mit nationalsozialistischem Gedankengut. So kann Paul Althaus 1929 die Gewissheit vor Gott als Voraussetzung des Willens zur Macht des Staates kennzeichnen, sieht aber doch diesen Willen

17 Vgl. Künneth, W., Offenbarung und die Ordnungen, 35. 18 Brunner, E., Gebot und die Ordnungen, 207. 19 Vgl. Brunner, E., Gebot und die Ordnungen, 216.

Natürliche Ethiken

71

zur Macht im „rechten“ Führertum kulminieren.20 Die Betonung liegt hier auf dem „rechten“ Führertum, das den Willen zur Macht durchaus noch relativiert sieht und damit von der nationalsozialistischen Führerideologie und einem Rechts- bzw. Ethikpositivismus21 noch, allerdings um Haaresbreite, entfernt ist. Nicht hinsichtlich der Führerfrage, sondern hinsichtlich der Rassefrage gerät schließlich auch Künneth mit seiner Ordnungslehre in gefährliche Nähe zu nationalsozialistischer Ideologie: „Der Ertrag […] fasst sich in dem grundsätzlichen Urteil zusammen, dass auch die Wirklichkeit von Rasse, Volk, Staat in der Sicht biblischer Offenbarung als Erhaltungsordnungen Gottes zu begreifen sind. […] Es liegt kein Grund vor, das Schöpfungsprinzip, dass Gott ein jegliches nach seiner Art geschaffen hat (1.Mose 1,11), auf die rassischen und volkhaften Verschiedenheiten nicht anzuwenden.“22

Auch hier ist die Grenze zum Nationalsozialismus noch nicht deutlich überschritten. Aber man sieht das grundsätzliche Problem einer vermeintlich auf Vernunft beruhenden, eigengesetzlichen Theologie der Schöpfungs- oder Erhaltungsordnungen: Im Deutschland der 20er und 30er Jahre galt die szientistische Rassenideologie als biologische Erkenntnis, also als Ausdruck der Vernunft. Das Problem besteht nicht nur darin, dass man heute weiß, dass es sich nicht um Naturwissenschaft, sondern um szientistische Ideologie gehandelt hat, sondern vor allem darin, dass völlig willkürlich eine zuvor vermeintlich durch Vernunft diagnostizierte Ordnung exegetisch im Nachhinein offenbarungstheologischen Rang zugeschrieben bekommt, um angesichts einer theologischen Kriterienlosigkeit nun doch eine Identifikation der Ordnungen vornehmen zu können. Dieses Problem besteht grundsätzlich bei jeder Ordnungstheologie. Auch die Familie oder konkrete Lebensformen können nicht ohne Weiteres mit einer Schöpfungs- oder Erhaltungsordnung identifiziert werden. Die Betonung liegt hier auf dem Wort „Ordnung“, denn eine solche muss notwendigerweise konkret sein, also an konkrete und de facto immer nur geschichtlich kontingent existierende Institutionsordnungen von Familie oder Staat, Wirtschaft etc. denken. Da jede Schöpfungsordnung immer nur medialen Charakter haben kann und nicht auf das wirklich Gute des Reiches Gottes bezogen ist, sondern nur auf die Erhaltung der Welt, kann alles, was dieser dient, nun als Schöpfungsordnung gerechtfertigt werden. Werden konkrete Schöpfungsordnungen identifiziert, besteht somit immer 20 Vgl. Althaus, P., Leitsätze zur Ethik, 61. 21 Vgl. Schmitt, C., Der Führer schützt das Recht. 22 Künneth, W., Offenbarung und die Ordnungen, 40f.

Rassenideologie

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Das Gute und die Natur

Krieg

Ansbacher Ratschlag

die Gefahr, dass ein (selbst immer nur medial gedachter) Zweck die Mittel heiligt. Mit einer solchen Denkfigur konnte sogar Krieg als Schöpfungsordnung (und somit als Ausdruck des immerhin medial Guten) verstanden werden: Emanuel Hirsch ist bereits 1920 überzeugt, dass es ohne „Weltreiche keinen Weltfrieden“23 gäbe, sich ein Weltreich aber nur durch den Krieg verwirklichen lasse, so dass „der Krieg als notwendiges Stück der göttlichen Schöpfungsordnung begriffen“24 werden müsse. Vollends zur Verkennung der nationalsozialistischen Ideologie und damit zumindest faktisch25 zur Rechtfertigung nationalsozialistischer Ideologie mit Hilfe des Gedankens der Schöpfungsordnungen kommt es 1934 im Ansbacher Ratschlag, der zunächst von Elert und Althaus unterzeichnet und maßgeblich entworfen wurde, bevor es zu deren Rückzug vom Ansbacher Kreis kam: „Das Gesetz […] bindet jeden an den Stand, in den er von Gott berufen ist, und verpflichtet uns auf die natürlichen Ordnungen, denen wir unterworfen sind, wie Familie, Volk, Rasse (d.h. Blutzusammenhang). Und zwar sind wir einer bestimmten Familie, einem bestimmten Volk und einer bestimmten Rasse zugeordnet. […] Die natürlichen Ordnungen geben uns aber nicht nur den fordernden Willen Gottes kund. Indem sie in ihrer Verbindung unsere gesamte natürliche Existenz begründen, sind sie zugleich die Mittel, durch die Gott unser irdisches Leben schafft und erhält. […] In dieser Erkenntnis danken wir als glaubende Christen Gott dem Herrn, daß er unserem Volk in seiner Not den Führer als ,frommen und getreuen Oberherren‘ geschenkt hat und in der nationalsozialistischen Staatsordnung ,gut Regiment‘, ein Regiment mit ,Zucht und Ehre‘ bereiten will. Wir wissen uns daher vor Gott verantwortlich, zu dem Werk des Führers in unserem Beruf und Stand mitzuhelfen.“26

23 Hirsch, E., Deutschlands Schicksal, 86. 24 Hirsch, E., Deutschlands Schicksal, 95. 25 Der Ansbacher Ratschlag wurde 1934 von Pfarrern des Nationalsozialistischen Evangelischen Pfarrerbundes unter maßgeblicher Mitwirkung von Althaus und Elert als Antwort auf die Barmer Bekenntnissynode von 1934 erstellt. Die Rolle, die Althaus und insbesondere Elert dabei spielten, ist umstritten. So könnte Elert durchaus der maßgebliche Verfasser gewesen sein (vgl. Haustein, J., Ansbacher Ratschlag, 222). Andererseits wird betont, dass Elerts Engagement mehr von einem Antibarthianismus getragen gewesen sei als von einer Rechtfertigung nationalsozialistischer Ideologie. Elert sei kein Deutscher Christ gewesen, sondern habe als Dekan der Erlanger Fakultät eine Politik des Arrangements mit den nationalsozialistischen Machthabern versucht. Dies habe eine, wenn auch vorsichtige, Distanz nicht ausgeschlossen, die sich darin zeige, dass kein Deutscher Christ während Elerts Dekanat habilitiert wurde. Ferner liege die Betonung des Ansbacher Ratschlags darauf, dass Gott in den gegenwärtigen Machthabern gut Regiment bereiten wolle, was ein kritisches Element einschließe. Vgl. Beyschlag, K., Erlanger Theologie, 160–170. 26 Ansbacher Ratschlag, Grundlagen, 3–4.

Naturalistische Ethiken

73

Ordnungsethiken führen nicht zwangsweise zur Katastrophe. Ihr wesentliches Element besteht aber unabhängig von ihren Wirkungen stets darin, dass konkrete historisch-kontingente Ordnungsgestalten, als Schöpfungs-, Erhaltungs-, Not- oder Interimsordnungen identifiziert werden und damit sowohl einer allgemein einsehbaren Sittlichkeit als auch einem geoffenbarten Gehalt zugewiesen werden. Somit teilen sie mit dem thomasischen Naturrechtssystem nicht den Charakter einer lex aeterna, denn sie sind bleibend temporär, wohl aber den Anspruch einer göttlichen Offenbarung in Parallelität zur lex divine data sowie den Anspruch einer Einsehbarkeit durch Vernunft. Fazit 12 Nach Auffassung der Ordnungstheologien hat Gott durch die Vernunft oder Natur einsehbare institutionelle Ordnungsgestalten gegeben, mit deren Hilfe sich der Mensch am erhaltenden Regiment beteiligen kann. Diese Ordnungen können als Schöpfungsordnung in Kontinuität zum guten Zustand des Menschen vor dem Fall und nach der Rechtfertigung gedacht werden (Althaus) oder als Interims- oder Notordnungen von geringerer Dignität sein (Künneth). Problematisch ist nicht die Rede von Interimsordnungen oder Schöpfungsordnungen an sich, sondern die Tatsache, dass sie mit konkreten, geschichtlich kontingenten Institutionen identifiziert werden müssen, um operationabel zu sein. Ehe, Staat, Familie und Arbeit werden hier häufig genannt. Geschichtlich wurde allerdings auch der Krieg (Hirsch) dazugerechnet oder konkrete, totalitäre Staatsformen. Selbst wenn man behaupten kann, dass es Schöpfungsordnungen gibt, ist dem Menschen nach dem Fall doch die konkrete Identifikation nicht möglich.

Naturrechtsdenken und Ordnungsethiken mögen hier als Beispiele natürlicher, nicht-reduktionistischer Ethiken genügen. Bevor wir zu ihrer philosophischen und theologischen Kritik schreiten, empfiehlt sich noch ein Blick auf naturalistische – d.h. reduktionistisch natürliche – Ethiken.

4.2 Naturalistische Ethiken Man spricht von Reduzierbarkeit von Sprachen oder Theorien, wenn alle wesentlichen Begriffe einer Theorie 1 durch die Ausdrücke einer anderen Theorie 2 wiedergegeben werden können. Mit den sprachlichen Mitteln von Theorie 2 können also alle wesentlichen Ausdrücke von Theorie 1 definiert werden, nicht aber umgekehrt. In diesem Fall ist Theorie 1 auf Theorie 2 reduzierbar.27 Mit Hilfe dieses Begrif27 Vgl. Kutschera, F.v., Grundlagen der Ethik, 49f.

Reduzierbarkeit

74

Das Gute und die Natur

Reduktionismus

Evolutionsbiologie

fes kann auch im Falle der Ethik dann von Reduktionismus gesprochen werden, wenn Wert- und Normbegriffe – also Begriffe, die die relative oder absolute Differenz von gut und schlecht oder besser und schlechter ausdrücken –, in anderen, nicht primär ethischen Theoriebildungen redefiniert werden können. Die Ethik ist dann als reduzierbar auf diese anderen Bereiche der Erkenntnis verstanden. Da es sich dabei in der Regel um Theorien handelt, die aus dem Bereich der Erkenntnis des Natürlichen stammen, kann man auch von reduktionistisch-naturalistischen ethischen Theorien sprechen oder einfach nur von naturalistischen ethischen Theorien. Ein Beispiel einer solchen naturalistischen Ethik bietet der englische Philosoph Herbert Spencer (1820–1903), der generell versucht, Philosophie mittels der Evolutionsbiologie zu naturalisieren. Dies gilt auch im Falle der Ethik und speziell im Falle der Begriffe des Guten und des Schlechten, die er durch Beispiele des Begriffsgebrauchs erhellen will. So kommt er zu dem Schluss: „All such approving and disapproving utterances make the tacit assertion that, other things equal, conduct is right or wrong according as its special acts, well or ill adjusted to special ends, do or do not further the general end of self-preservation. […] we regard as good the conduct furthering selfpreservation, and as bad the conduct tending to self-destruction.“28

Selbsterhaltung

Das Gute wird hier also mit dem evolutionistisch verstandenen Wert der Selbsterhaltung identifiziert und Ethik damit biologistisch naturalisiert. Dabei können durchaus letztlich altruistische Werte durch eine evolutionistische Philosophie begründet werden.29 In dieser Tradition stehen auch moderne Theorien evolutionärer Ethik, wie sie im Gefolge der sog. Soziobiologie E.O. Wilsons (*1929) von R. Dawkins (*1941) gegenwärtig vertreten werden.30 Reduktionistisch sind aber nicht nur solche biologistischen Theorien, die Wertbegriffe als Funktion vermeintlich wertneutraler biologischer Begriffe in28 Spencer, H., Principles of Ethics, 1, Bd. 1, 3,8. 29 So schon Spencer, H., Principles of Ethics, 1, Bd. 1, 3,16: „And here we see that goodness is asserted of such conduct under each of these three aspects. Other things equal, well-adjusted self-conserving acts we call good; other things equal, we call good the acts that are well adjusted for bringing up progeny capable of complete living; and other things equal, we ascribe goodness to acts which further the complete living of others.“ 30 Die Soziobiologie wurde eingeführt von Wilson, E.O., Sociobiology, und wurde popularisiert von Dawkins, R., Selfish Gene, der in Analogie zum Konzept des biologischen Genes das kultureller Meme vorschlägt. Ein gegenwärtiger deutscher Vertreter ist F. Wuketits, z.B. in Wuketits, F.M., Provokation. Ein theologisches Gespräch mit Gedanken der evolutionären Ethik erfolgte schon in den 1980er Jahren durch Theissen, G., Evolutionäre Sicht. Eine sehr konzise Bearbeitung bietet Meisinger, H., Liebesgebot und Altruismusforschung.

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Naturalistische Ethiken

terpretieren wollen, sondern auch Theorien, die Wertbegriffe auf den ökonomischen Wert, auf einen sozialen oder kulturellen Wert reduzieren wollen. Letztlich fällt in diesen Bereich jede Definition des Guten mit Hilfe anderer Begriffe. Dies kann z.B. im Hedonismus mit dem Prinzip der Luststeigerung und Schmerzvermeidung geschehen oder im Utilitarismus, dem wir uns später noch ausführlicher zuwenden werden, mit dem Prinzip der Nützlichkeit.31 Auch jede streng eudämonistische Ethik, also eine Ethik, die das Gute auf den Begriff des Glücks zu begründen sucht, ist letztlich reduktionistisch. Ebenso können theologische Theorien des Guten reduktionistisch sein, nämlich dann, wenn sie wie im Voluntarismus das Gute als den Willen Gottes definieren, nicht aber umgekehrt.32 In besonderer Weise ist dies in der islamischen Theologie des Ascharismus der Fall. Hier gibt es keine Schöpfungsordnung. Gott erschafft kraft seines Willens alle Dinge jederzeit neu. Gut ist das, was durch den Willen Gottes als gut deklariert wird. Da der Mensch und seine geistigen und ethischen Fähigkeiten von Natur aus intakt sind, vermag er den Willen Gottes und damit das Gute im Prinzip einzusehen, gäbe es nicht Fehlentwicklungen seiner Sozialisation. Der Eindruck, es gäbe in der Welt doch eine Ordnung, entsteht nur dem Menschen, de facto handelt es sich aber um die Gewohnheiten Gottes.33 Entscheidend für den reduktionistischen Charakter des theologischen Voluntarismus ist nicht, dass das Gute auf Gottes Willen, sondern dass es überhaupt auf Willenssetzungen reduziert wird. Insofern ist auch eine streng rechtspositivistische Rechtsauffassung, die auch als Dezisionismus bezeichnet wird und die den Bestand jeglichen Naturrechts leugnet, so dass Recht ausschließlich als Wille des Gesetzgebers definiert ist, unter den Reduktionismus zu zählen. Ein solcher radikaler reduktionistischer Rechtspositivismus findet sich z.B. in dem Versuch Carl Schmitts, das Führerprinzip zu Zeiten des nationalsozialistischen Totalitarismus zu rechtfertigen: „Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft.“34 Der Schutz des Rechts wird hier aus der Konstitution des Rechtschaffens 31 Gegenwärtige Zugänge zu einer Naturalisierung der Ethik werden u.a. beschrieben und entworfen in den Beiträgen aus Wetz, F.J./Steenblock, V., Ethik zwischen Kulturund Naturwissenschaft. 32 Hier muss Kutschera, F.v., Grundlagen der Ethik, 87f., kritisiert werden, der in diesem Zusammenhang pauschal von einem „theologischen Naturalismus“ spricht, ohne darauf hinzuweisen, dass es sich dabei nur um eine (und nicht einmal repräsentative) Option handelt, eine theologische Ethik zu entwerfen. 33 Vgl. Hock, K., Art. Naturrecht III. 34 Schmitt, C., Der Führer schützt das Recht, 946.

Hedonismus

Voluntarismus Ascharismus

Dezisionismus

76

Das Gute und die Natur abgeleitet, Rechtsquelle ist damit nichts anderes als das autoritäre Führertum selbst. Anders als der Missbrauch protestantischen Ordnungsdenkens sind Schmitts Äußerungen nicht als nichtreduktive natürliche Ethik, sondern als reduktiver Naturalismus zu verstehen. Dieser Zug ist freilich nicht der einzige in Schmitts Argumentation. In demselben Artikel bedient er sich unvermittelt neben reduktionistisch-positivistischen Argumentationen auch naturrechtlicher Argumentationen mithilfe des Begriffs „Lebensrecht des Volkes“.35 Man erkennt hier, dass nicht logische Kohärenz Schmitts Anliegen war, sondern lediglich ein Rechtfertigungsversuch des Führerprinzips, gleich mit welchen Mitteln.

Fazit 13 Reduzierbarkeit meint, dass alle Begriffe einer Theorie 1 mithilfe einer anderen Theorie 2 ausgedrückt werden können, nicht aber umgekehrt. Ethischer Reduktionismus bezeichnet Theorien, die das Gute mittels anderer Sachverhalte definieren. Biologistische Reduktionismen behaupten, das Gute bestehe im Überlebensvorteil, ökonomistische Reduktionismen behaupten, rationale Minimal-Maximal-Nutzen-Kalkulationen bezeichneten das Gute, der Hedonismus spricht von Schmerzvermeidung, der Eudämonismus vom Glück, der Utilitarismus vom Nutzen und der Voluntarismus sieht das Gute als Willenssetzung, sei es in Gestalt des im Christentum seltenen theologischen Voluntarismus als identisch mit dem Willen Gottes oder sei es in Gestalt säkularer Voluntarismen in Form des Rechtspositivismus oder Dezisionismus, der das Gute als identisch mit dem positiven Recht betrachtet, das ausschließlich vom Willen des Gesetzgebers abhängt.

4.3 Das Sein-Sollen-Problem und der naturalistische Fehlschluss Die beiden wichtigsten Argumente, die man gegen natürliche bzw. naturalistische Ethiken ins Feld führen kann, sind das Sein-SollenProblem und das Problem des sog. „naturalistischen Fehlschlusses“. Obwohl beide Probleme miteinander verwandt sind und sogar mitunter beide unter dem Terminus „naturalistischer Fehlschluss“ verhandelt werden, sind sie argumentationslogisch und in ihrer Tragweite nicht identisch.

4.3.1 Das Sein-Sollen Problem

Humes Gesetz

Dieses geht zurück auf eine Äußerung David Humes (1711–1776) und wird mitunter auch „Humes Gesetz“ genannt. Er schreibt: 35 Schmitt, C., Der Führer schützt das Recht, 947.

77

Das Sein-Sollen-Problem und der naturalistische Fehlschluss “In every system of morality which I have hitherto met with I have always remarked, that the author proceeds for some time in the ordinary way of reasoning, and establishes the being of a God, or makes observations concerning human affairs; when of a sudden I am surprised to find, that instead of the usual copulutions of propositions, is, and is not, I meet with no proposition that is not connected with an ought, or an ought not. This change is imperceptible; but is, however, of the last consequence. For as this ought, or ought not, expresses some new relation or affirmation, it is necessary that it should be observed and explained; and at the same time that a reason should be given, for what seems altogether inconceivable, how this new relation can be a deduction from others, which are entirely different from it.”36

Die Behauptung besteht also darin, dass aus Aussagen, die nichtdeontisch sind, also keine Sollens- oder Wert-Begriffe enthalten, nicht ohne Weiteres Aussagen abgeleitet werden können, die solche Begriffe enthalten. Mit Hilfe der sog. deontischen Logik lässt sich dies verdeutlichen. Exkurs: Deontische Logik und Modallogik Die deontische Logik befasst sich mit den Ausdrücken des Gesollten (der Pflicht oder des Gebots), dem des Verbotenen und dem des Erlaubten. Nach Versuchen von Leibniz (1646–1716) und Bentham (1748–1832),37 die sich historisch nicht durchsetzen konnten, kam es seit den 1950er Jahren im Gefolge von Georg Henrik von Wright38 (1916–2003), einem Weggefährten und Schüler Wittgensteins (1889– 1951), zu einer Neubegründung der deontischen Logik in Analogie zur Modallogik. Die Modallogik39 behandelt die Umformbarkeit von Modalbegriffen wie „möglich“, „unmöglich“, „zufällig“, „kontingent“, „notwendig“. Diese Begriffe werden als Modaloperatoren (M für „es ist möglich, dass …“ und N für „es ist notwendig, dass …“) Aussagesätzen (abgekürzt mit Kleinbuchstaben wie p, q etc.) vorangestellt. Ein Satz wie „Es ist möglich, abzutreiben“ würde dann folgendermaßen formalisiert werden: Mp, wenn p heißt, „Es gibt Abtreibung“. Was der Inhalt eines möglichen Aussagesatzes p ist, ist dabei für die Semantik der Modalbegriffe unerheblich. Sie können folgendermaßen ineinander umgeformt werden:

36 Hume, D., Treatise, Vol. 2, 177f. 37 Vgl. Wright, G.H.v., Deontic Logic. 38 Vgl. Wright, G.H.v., Deontic Logic. 39 Eine knappe Einleitung in die Modallogik bietet Menne, A., Einführung in die formale Logik, 55–64. Eine detaillierte Darstellung der Modalitäten in ihrer Bedeutung für die Theologie findet sich jetzt in Evers, D., Gott und mögliche Welten.

deontische Logik

Modallogik

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Das Gute und die Natur ¬Mp = Up = N¬p

„es ist nicht möglich, dass …“ = „es ist unmöglich, dass …“ = „es ist notwendig, dass nicht …“

¬M¬p = U¬p = Np

„es ist nicht möglich, dass nicht …“ = „es ist unmöglich, dass nicht …“ = „es ist notwendig, dass …“

¬Np = M¬p

„es ist nicht notwendig, dass …“ = „es ist möglich, dass nicht …“

¬N¬p = Mp

„es ist nicht notwendig, dass nicht …“ = „ es ist möglich, dass …“

Mp & M¬p = Kp

„es ist möglich, dass … und es ist möglich, dass nicht …“ = „es ist kontingent, dass …“

Abb. 10: Modalbegriffe

Die Faktizität erhält keinen eigenen Modaloperator. Denn wenn man sagt, dass es faktisch ist, dass es Ziegelhausen gibt, dann sagt man nichts anderes, als „Es gibt Ziegelhausen“. Die Faktizität wird also einfach mit der entsprechenden Aussage p ohne Modaloperator ausgedrückt. Zu ergänzen sind neben diesen Umformungsmöglichkeiten noch einige wichtige Gesetze der Modallogik: p → Mp

„wenn …, dann ist es auch möglich, dass …“ Bsp.: Wenn es faktisch richtig ist, dass es Braemar gibt, dann muss es auch möglich sein, dass es Braemar gibt.

Np → p

„wenn es notwendig ist, dass …, dann …“ Bsp.: Wenn es notwendig ist, dass Dreiecke im euklidischen Raum eine Winkelsumme von 180° haben, dann gilt dies auch faktisch.

Abb. 11: Gesetze der Modallogik

Das letzte Gesetz gilt offensichtlich von der Notwendigkeit, aber nicht von der Möglichkeit. Daher wäre das Folgende kein Gesetz der Modallogik: ungültig: Mp → p

„wenn es möglich ist, dass …, dann …“ Bsp.: Wenn es möglich ist, dass Schneewittchen existiert, dann existiert Schneewittchen auch. Dieser Schluss ist falsch.

Abb. 12: Ungültigkeitserklärung der Modallogik

Das Sein-Sollen-Problem und der naturalistische Fehlschluss

Die deontische Logik behandelt deontische Begriffe wie „erlaubt sein“, „gesollt sein“, „vorgeschrieben sein“, „zulässig sein“, „verboten sein“. Auch hier können diese Begriffe mit Modaloperatoren ausgedrückt werden, die vor einen Aussagesatz gestellt werden. Dabei fällt auf, dass die Umformungen dieser Begriffe genau den Umformungen der Modalbegriffe entsprechen. O steht nun für „es ist gesollt“ (= „es ist vorgeschrieben“ = „man muss …“), P für „es ist erlaubt“, F für „es ist verboten“ und I für „es ist ethisch gleichgültig“. ¬Pp = Fp = O¬p

„es ist nicht erlaubt, dass …“ = „es ist verboten, dass …“ = „es ist vorgeschrieben, dass nicht …“

¬P¬p = F¬p = Op

„es ist nicht erlaubt, dass nicht …“ = „es ist verboten, dass nicht …“ = „es ist vorgeschrieben, dass …“

¬Op = P¬p

„es ist nicht vorgeschrieben, dass …“ = „es ist erlaubt, dass nicht …“

¬O¬p = Pp

„es ist nicht vorgeschrieben, dass nicht …“ = „es ist erlaubt, dass …“

Pp & P¬p = Ip

„es ist erlaubt, dass … und es ist erlaubt, dass nicht …“ = „es ist ethisch gleichgültig, dass …“

Abb. 13: Deontische Begriffe

Auch die Ungültigkeit des Schlusses von der Möglichkeit auf die Faktizität sieht in der deontischen Logik ähnlich aus, denn man kann offensichtlich nicht von der Erlaubnis auf die Faktizität schließen: ungültig: Pp → p

„wenn es erlaubt ist, dass …, dann …“. Bsp.: Wenn es erlaubt ist, dass LKW’s überholt werden, dann werden LKWs auch stets überholt. Dieser Schluss ist falsch.

Abb. 14: Ungültigkeitserklärung der deontischen Logik 1

Die Umformungen der Modalbegriffe entsprechen also genau den Umformungen der deontischen Begriffe und dieser einen Ungültigkeitserklärung ebenso. Die Entsprechung von deontischer Logik und Modallogik gilt aber nicht mehr, wenn man die aufgeführten Gesetze betrachtet. Denn offensichtlich folgt aus der Faktizität eines Ereignisses noch nicht, dass es auch erlaubt ist, genauso wenig wie aus der Gebotenheit eines Ereignisses auch dessen Verwirklichung folgt:

79 deontische Logik

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Das Gute und die Natur ungültig: p → Pp

„wenn …, dann ist es auch erlaubt, dass …“. Bsp.: Wenn es faktisch zutrifft, dass Menschen ermordet werden, dann ist es auch erlaubt, Menschen zu morden. Dieser Schluss ist falsch.

ungültig: Op → p

„wenn es geboten ist, dass …, dann …“. Bsp.: Wenn es geboten ist, nicht schneller als 120 km/h zu fahren, dann wird auch immer 120 km/h gefahren. Dieser Schluss ist falsch.

Abb. 15: Ungültigkeitserklärung der deontischen Logik 2 Sein-SollenProblem

Das Sein-Sollen-Problem kann nun mithilfe der deontischen Logik formuliert werden. Wir hatten ja schon gesehen, dass p→Pp nicht gilt, dass also aus dem faktischen Bestehen einer Handlung oder eines Sachverhaltes noch nicht folgt, dass dieser auch erlaubt ist. Das Gleiche gilt auch für die Schlüsse p→Op, p→Fp und p→Ip; d.h., dass aus dem Bestehen einer Handlung noch nicht folgt, dass sie geboten, verboten oder ethisch irrelevant ist. Aus dem Bestehen einer oder mehrerer faktischer Prämissen folgt noch nicht, dass sie in irgendeiner Weise ethisch relevant sind. Erst wenn in den Prämissen selbst deontische Ausdrücke erscheinen, kann auch in der Schlussfolgerung ein deontischer Ausdruck erscheinen. Das Gleiche gilt nicht nur für den Schluss von faktischen auf deontische Ausdrücke, sondern auch für den Schluss von faktischen auf werthaltige Ausdrücke:40 Man kann also nicht einfach von der Tatsache p, dass es schneit, darauf schließen, dass es gut oder schlecht – oder verglichen mit anderen Sachverhalten besser oder schlechter – ist, dass es schneit. Auch hier gilt das Gleiche für Handlungsaussagen: Von der Tatsache, dass Forschung an totipotenten Stammzellen erfolgt, die mit überschüssigen Embryonen der In-Vitro-Fertilisation durchgeführt wird, kann nicht geschlossen werden, dass dies gut oder schlecht oder dass diese Forschung geboten, erlaubt, verboten oder ethisch irrelevant wäre.

40 Kutschera, F.v., Grundlagen der Ethik, 29 und 31, weist darauf hin, dass diese Form strenggenommen nicht gültig sei. Falsch sei nicht, dass aus nicht-normhaltigen Ausdrücken normhaltige Ausdrücke folgten, sondern nur, dass aus nicht-normhaltigen Ausdrücken normhaltige Ausdrücke folgten, die nicht unabhängig von den in Frage stehenden und zur Begründung herangezogenen Ausdrücken gelten. (Also der Satz p→Pp ist falsch, nicht aber der Satz p→ (Pp v Pq). Ähnlich verhielte es sich mit werthaltigen Ausdrücken. Hier gelte Humes Gesetz nur, wenn auf eine wahrscheinlichkeitstheoretische Deutung von Präferenzausdrücken verzichtet werde. Von Kutscheras Einwand ist richtig unter der Prämisse, dass es immer schon unbegründete oder anders begründete normative Ausdrücke gebe bzw. dass Präferenzausdrücke semantisch wahrscheinlichkeitstheoretisch zu deuten seien.

Das Sein-Sollen-Problem und der naturalistische Fehlschluss

81

Stimmt „Humes Gesetz“, wären die Konsequenzen für jede naturalistisch-reduktionistische Ethik verheerend: Jede naturalistische Ethik wäre schlicht falsch. Für natürliche, nicht reduktionistische Ethiken wie die Naturrechtslehre oder die Lehre von den Schöpfungs- oder Erhaltungsordnungen stellt „Humes Gesetz“ allerdings keinen Einwand dar. Denn hier wird ja nicht behauptet, dass aus faktischen, natürlichen Gegebenheiten normative oder werthaltige Ausdrücke entnommen werden könnten, sondern dass die Welt faktisch so beschaffen ist, dass sie immer schon norm- oder werthaltige Elemente enthält. Fazit 14 Das Sein-Sollen-Problem oder „Humes Gesetz“ bezeichnet die mit den Gesetzen der deontischen Logik in Einklang stehende Beobachtung, dass es nicht möglich ist, von Faktenaussagen, die keine deontischen oder evaluativen Begriffe enthalten, auf deontische oder evaluative Schlüsse zu kommen. Gebotenes, Verbotenes, Erlaubtes, Deklarationen von Güte oder Schlechtigkeit etc. ließen sich nach dieser Theorie nicht aus Faktenaussagen gewinnen. Jegliche naturalistisch-reduktionistische Ethik würde dadurch unmöglich, nicht jedoch nichtreduktionistisch-natürliche Ethiken.

Dennoch muss weiter gefragt werden, ob „Humes Gesetz“ überhaupt gültig ist. Es gibt nämlich eine Reihe von Gegenbeispielen. Eines liefert John Searle (*1932): “(1) Jones uttered the words ‘I hereby promise to pay you, Smith, five dollars.’ (2) Jones promised to pay Smith five dollars. (3) Jones placed himself under (undertook) an obligation to pay Smith five dollars. (4) Jones is under an obligation to pay Smith five dollars. (5) Jones ought to pay Smith five dollars.”41

In diesem Beispiel enthält die Schlussfolgerung einen normativen Begriff, die Prämissen jedoch nicht. Man könnte nun dagegen einwenden, dass etwa in Schritt 4, vielleicht auch schon früher, unmerklich ein normativer Sollensgehalt in rein deskriptive Aussagen eingetragen würde, so dass Searles Argument nicht gültig wäre. Searle besteht aber darauf, dass das nicht der Fall ist. Vielmehr gäbe es institutionelle Fakten, wie etwa die Praxis, Versprechen abzugeben, bei denen ein Übergang von Ist-Aussagen zu Sollensaussagen möglich sei. Der gleichen Logik folgt ein noch einfacheres Beispiel, das Alasdair MacIntyre (*1929) im Anschluss an A.N. Prior (1914–1969) anführt:

41 Searle, J.R., Ought from Is, 44.

Gegenbeispiele

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Das Gute und die Natur “[F]rom the premise ‘He is a sea-captain’, the conclusion may be validly inferred that ‘He ought to do whatever a sea-captain ought to do’. This counterexample […] shows that […] an ‘is’ premise can on occasion entail an ‘ought’ conclusion.”42

Faktenaussagen Werturteile

Natürlich könnte man auch hier den Gegeneinwand erheben, allein der Ausdruck „sea-captain“ sei kein rein deskriptiver Ausdruck, sondern enthalte – ähnlich Searles institutionellen Fakten – schon einen normativen Gehalt. Dieser Einwand ist wahrscheinlich auch richtig. Aber dennoch spricht er nicht gegen die Vermutung, dass „Humes Gesetz“ als Ganzes falsch sein dürfte. Man kann Searles und Priors Einwände nämlich noch steigern und anzweifeln, ob sich überhaupt institutionelle von sonstigen Fakten trennen lassen und ob es überhaupt rein deskriptive, wert- oder normneutrale Faktenbeschreibungen geben kann. So wie jede Faktenbeschreibung schon „theoriegetränkt“ ist,43 beinhaltet sie letztlich auch immer schon einen normativen oder evaluativen Gehalt. Faktenaussagen beinhalten immer auch schon Norm- und Werturteile, wenn auch u.U. in versteckter Weise. Die vordergründige Plausibilität von „Humes Gesetz“, dem er selbst in seiner Ethik übrigens gar nicht folgt, beruht nur darauf, dass eine strikte Trennung zwischen Faktenaussagen und normativen Gehalten behauptet wird. Eine solche Trennung überzeugt aber nur für hochformalisierte Sprachen, wie die strikte Abgrenzung der Aussagen der Modallogik einerseits, die es mit „Sein“ zu tun hat, und die deontische Logik andererseits, die es mit „Sollen“ zu tun hat. Diese formale Möglichkeit, Seins- von Sollensaussagen zu trennen, bedeutet aber gerade nicht, dass diese beiden verschiedenen Sprachklassen grundlegend und logisch einfach („primitiv“) wären; vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Es handelt sich um Abstraktionen eines zuvor einheitlichen Sprachbereichs, in dem eben keine Trennung von „Ist“ und „Sollen“ vorgenommen werden kann. Damit ist „Humes Gesetz“ letztlich nicht nur kein pauschaler Einwand gegen natürliche Ethiken, sondern auch nicht gegen naturalistische Ethiken.

42 MacIntyre, A., After Virtue, 57. 43 Vgl. Hanson, N.R., Patterns, 12.

83

Das Sein-Sollen-Problem und der naturalistische Fehlschluss

Fazit 15 Gegen „Humes Gesetz“ sprechen die Existenz von institutionellen Fakten, wie z.B.die Abgabe eines Versprechens oder die Ausübung der Tätigkeit eines Kapitäns. Aus solchen Fakten bzw. ihrer sprachlichen Beschreibung lassen sich deontische Aussagen und damit auch Pflichten und Werte ableiten. Gesetzt den Fall, dass alle Faktenaussagen mindestens implizite Werturteile erhalten, so dass die Trennung von Deskription und Evaluation nur eine Abstraktion eines einheitlichen Sachverhalts ist, ist „Humes Gesetz“ generell ungültig.

4.3.2 Der naturalistische Fehlschluss

Popularisiert wurde der Ausdruck naturalistic fallacy 1903 von G.E. Moore (1873–1958) in seinen Principia Ethica, womit er sich mittels verschiedener Argumente, die alle nicht von ihm selbst stammen, sondern ihrerseits übernommen sind, gegen jeden Versuch wendet, natürliche oder naturalistische Ethiken begründen zu können. Moores Argumente gehen davon aus, dass sich ethische Aussagen nicht mittels anderer natürlicher oder naturalistischer Aussagen begründen lassen, weil letztlich „gut“ zwar diese anderen „natürlichen“ Eigenschaften beinhalten mag, aber nie mit ihnen identisch sein kann. Die Bezeichnung „naturalistisch“ innerhalb des Ausdrucks „naturalistischer Fehlschluss“ ist also irreführend, weil nicht nur naturalistische Ethiken getroffen werden sollen. „Gut“ sei letztlich undefinierbar und ähnelt den sog. Qualia, wie sie etwa in der Farbwahrnehmung bestehen: “Consider yellow, for example. We may try to define it, by describing its physical equivalent; we may state what kind of light-vibrations must stimulate the normal eye, in order that we may perceive it. But a moment’s reflection is sufficient to show that those light-vibrations are not themselves what we mean by yellow. They are not what we perceive. Indeed we should never have been able to discover their existence, unless we had first been struck by the patent difference of quality between the different colours. The most we can be entitled to say of those vibrations is that they are what corresponds in space to the yellow which we actually perceive. Yet a mistake of this simple kind has commonly been made about ‘good’. It may be true that all things which are good are also something else […]. But far too many philosophers have thought that when they named those other properties they were actually defining good; that these properties, in fact, were simply not ‘other’ but absolutely and entirely the same with goodness. This view I propose to call the ‘naturalistic fallacy’ […].”44

44 Moore, G.E., Principia Ethica (ND 1922), 10.

naturalistic fallacy

Qualia

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Das Gute und die Natur

Moores Betrachtung ist abhängig von einer Unterscheidung zwischen „natural objects“, zu denen durchaus auch scheinbar subjektive Empfindungen wie Freude oder Lust gehören, und dem Guten, das nicht zu diesen „natürlichen Gegenständen“, zumindest nicht im gleichen Sinne, gehört: “But if [… one] confuses ‘good’, which is not in the same sense a natural object, with any natural object whatever, then there is a reason for calling that a naturalistic fallacy […].”45 Undefinierbarkeit des Guten

Daraus folgt die Undefinierbarkeit des Guten, die Moore auch explizit äußert: “In fact, if it is not the case, that ‘good’ denotes something simple and indefinable, only two alternatives are possible: […] It might possibly denote a complex, as ‘horse’ does; or it might have no meaning at all. Neither of these possibilities has, however been clearly conceived and seriously maintained […]. ‘Good’ then, is indefinable; and yet, so far as I know, there is only one ethical writer, Prof. Henry Sidgwick, who has clearly recognised and stated this fact.”46

Open-questionArgument

Zu den interessantesten Argumenten für die Nichtzurückführbarkeit des Guten auf andere Prädikate, sei es nun ein einfaches oder eine Verbindung mehrerer solcher Eigenschaften, ist das sog. Open-question-Argument. Es besagt, dass die Frage nach dem wirklich Guten bei jedem Definitionsversuch möglich bleibt: “[…] whatever definition be offered, it may be always asked […] whether it is itself good.”47

Moore lehnt also jegliche Definierbarkeit des Guten, sei es mithilfe natürlicher, naturalistischer oder beliebiger anderer – auch anderer ethischer48 – Begriffe strikt ab und plädiert für dessen Undefinierbarkeit. Die behauptete Undefinierbarkeit des Guten ist also letztlich der Kern der Argumentation für die Unterstellung von „naturalistischen Fehlschlüssen“ bei seinen Gegnern. Bis in die evangelische deutschsprachige Ethik der Gegenwart haben Moore und Sidgwick49 dafür eine breite Zustimmung gefunden.50

45 Moore, G.E., Principia Ethica (ND 1922), 13. 46 Moore, G.E., Principia Ethica (ND 1922), 15–17. 47 Moore, G.E., Principia Ethica (ND 1922), 15. 48 Vgl. Moore, G.E., Principia Ethica (ND 1922), 127: “And also Kant commits the fallacy […].” Im vierten Kapitel werden alle „metaphysischen“ Ethiken dem Fehlschluss unterworfen. 49 Henry Sidgwick (1838–1900), utilitaristischer Ethiker, war der Lehrer Moores, von dem er faktisch seine kritischen Argumente übernommen hatte. 50 Vgl. Härle, W., Ethik, 77.

Das Sein-Sollen-Problem und der naturalistische Fehlschluss

85

Aber wie plausibel ist der Kern von Moores Argument wirklich? Für formale Sprachen gilt, dass Prädikate dann undefinierbar sind, wenn es innerhalb dieses bestimmten formalen Systems keine anderen, basaleren Termini gibt, die es definieren könnten, wenn es also selbst ein solcher basaler Terminus ist. Dennoch hindert auch dann nichts daran, den Terminus in anderen formalen Sprachen mit Hilfe von deren Grundbegriffen zu definieren. Aber „gut“ erscheint nicht zuerst in formalen Sprachen, sondern in der Alltagssprache von Handelnden. Und hier wird man Begriffe immer definieren können. Freilich wird auch immer der Zweifel bleiben, ob die Definition gültig ist. Denn das Open-question-Argument – also die Frage, ob das Definierende wirklich das ist, was das Zu-Definierende besagt – kann immer gestellt werden. Damit bleibt von der Undefinierbarkeitsbehauptung letztlich nur der Vergleich mit Qualia wie der Farbwahrnehmung von „gelb“ übrig. Aber ob „gut“ damit wirklich vergleichbar ist, bleibt fraglich. Sowohl „Humes Gesetz“ als auch Moores „naturalistischer Fehlschluss“ bieten damit keine prinzipiellen Einwände gegen natürliche, nichtreduktionistische oder gegen naturalistische, reduktionistische Ethiken, wie wir sie vorgestellt haben. Dennoch sind die Argumente auch nicht völlig unplausibel, sondern ihre Gültigkeit hängt offensichtlich vom verwandten Kontext ab und gilt nicht prinzipiell. Damit entsteht aber das Problem, dass sowohl natürliche als auch naturalistische Ethiken jeweils anhand des Einzelfalls hinsichtlich ihrer Gültigkeit zu überprüfen sind. Fördert eine solche Überprüfung keine Inkohärenzen zu Tage, die nicht ausräumbar sind, wird das Problem noch verschärft. Denn nun stellt sich die Frage, mit welchen Kriterien die entsprechenden natürlichen oder naturalistischen Ethiken beurteilt werden können, zumal diese ja beanspruchen, jeweils selbst die Grundkriterien normativer und evaluativer Begriffe erklären zu können. Fazit 16 Moores Theorie des naturalistischen Fehlschlusses besagt, dass „gut“ ähnlich wie die Qualia der Farbempfindungen nicht definierbar sei, da man bei jeder angebotenen Definition immer wieder fragen könne, ob dies auch wirklich „gut“ sei (openquestion-Argument). Moore beansprucht damit, jegliche natürliche oder naturalistische Ethik ablehnen zu können. In der Alltagssprache lassen sich fast alle Begriffe, auch der Begriff des Guten, definieren. Jedoch wird damit das open-question-Argument nicht ausgeräumt. Daher wird man von Fall zu Fall kontextabhängig überprüfen müssen, ob das Argument gültig ist oder nicht.

86

Das Gute und die Natur

4.4 Intuitionismus

Intuitionismus

Moore entwirft seine Kritik natürlich nicht, ohne selbst eine Position einzunehmen. Und diese ist am Rande des letzten Abschnitts schon deutlich geworden. Man nennt die Position Moores auch die eines ethischen „Intuitionismus“. Dieser Ausdruck besagt, dass das „Gute“ zwar undefinierbar ist, dass es aber dennoch eine objektive Realität ist, die ein Grundbegriff nicht nur der Sprache, sondern des menschlichen In-der-Welt-Seins ist, so dass es die Intuition des Menschen ist, mit deren Hilfe er das Gute begreift. Dieser Intuitionsbegriff ist allerdings nicht unser heutiger Intuitionsbegriff, der einfach von einer subjektiven und häufig beliebigen Vorstellungskraft bestimmt wird. Denn Moore geht in utilitaristischer Art davon aus, dass diejenige Handlung richtig ist, die im Vergleich zu anderen das meiste Gute erbringt. Dieses Gute ist zwar nicht definierbar, aber Moore bestimmt letztlich doch die davon abgeleiteten Güter, die das Gute dann als identisch mit dem Schönen bestimmen. Man kann das Gute zwar nicht begrifflich definieren, aber man kann zeigen, was gut ist: “Indeed, once the meaning of the question is clearly understood, the answer to it, in its main outlines, appears to be so obvious, that it runs the risk of seeming to be a platitude. By far the most valuable things, which we know or can imagine, are certain states of consciousness, which may be roughly described as the pleasures of human intercourse and the enjoyment of beautiful objects. No one, probably, who has asked himself the question, has ever doubted that personal affection and the appreciation of what is beautiful in Art or Nature, are good in themselves; nor, if we consider strictly what things are worth having purely for their own sakes […]. This simple truth may, indeed, be said to be universally recognised. What has not been recognised is that it is the ultimate and fundamental truth of Moral Philosophy […]. That they are truths – that personal affections and aesthetic enjoyments include all the greatest, and by far the greatest, goods we can imagine, will, I hope, appear more plainly […].”51

universal gültige Intuition

Moore geht also davon aus, dass jeder universal letztlich das Gute begreifen kann, wenn ihm Gutes gezeigt wird, ohne dass dies natürlich erklärbar sei. Dies geschieht durch universal gültige Intuition und ist mit dem Wert des Schönen identisch. Damit ist Moore aber letztlich selbst Anhänger einer natürlichen Ethik, auch wenn er das Gute als eine „nicht natürliche“ Eigenschaft (wenigstens im selben Sinne wie andere natürliche Eigenschaften) beschreibt. Es ist jedem Menschen auf natürliche Weise möglich, das Gute zu erfassen. Ja, noch weit mehr: Moore entpuppt sich mit der Bestimmung der Koinzidenz des Guten, Schönen und Wahren letztlich als in neuplato51 Moore, G.E., Principia Ethica (ND 1922), 188f.

87

Emotivismus und die Krise der Ethik

nischer Tradition stehend. Auch dort konnte das Gute selbst nicht definiert werden. Auch dort war es mit dem Schönen identisch. Auch dort konnte zwar nicht das Gute selbst, aber es konnten gute Dinge gezeigt werden. Der Unterschied besteht letztlich darin, dass im Neuplatonismus ein Grund angegeben wird, warum dies so ist, bei Moore allerdings nicht: Im Neuplatonismus besteht dies aufgrund des Partizipationsgedankens guter Dinge am Guten selbst. Ohne weltanschauliche Hintergrundtheorie scheint der Intuitionismus aber nicht vollständig plausibel: Erscheint unterschiedlichen Menschen nicht doch sehr viel Unterschiedliches als gut, wenn ihnen vermeintlich Gutes gezeigt wird? Der ethische Intuitionismus tendiert daher letztlich zur emotivistischen Ethik. Die Bestimmung der Ethik Moores als in neuplatonischer Tradition stehend geschieht nicht ohne Ironie. Denn der Neuplatonismus findet in der Neuzeit seine Erben in der idealistischen Philosophie, die zu kritisieren Moore angetreten war.52

Neuplatonismus

Fazit 17 Moore vertritt einen ethischen Intuitionismus, der besagt, dass das Gute zwar nicht definierbar, aber universal für jeden aufzeigbar ist. Es ist allgemein, d.h. nichtsubjektiv durch Intuition zu erkennen. Gegen seine Absicht vertritt er damit doch eine natürliche Ethik.

4.5 Emotivismus und die Krise der Ethik Die Begriffe Emotivismus oder Nonkognitivismus können in einem engen und einem weiteren Sinne gebraucht werden. Wir beschäftigen uns zunächst mit dem engen Sinne des Emotivismus, der im 20. Jh. vom neopositivistischen Flügel der Analytischen Philosophie vertreten wurde: Emotivisten akzeptieren die Ablehnung jeder natürlichen oder naturalistischen Ethik, und zwar in dem umfassenden Sinne, in dem Moore dies auch tut, einschließlich der Ablehnung ethischer Systeme wie des kantischen, das normalerweise nicht als natürlich oder naturalistisch gedeutet werden könnte. Moore hatte ja als Alternative aufgestellt, dass werthafte Ausdrücke wie „gut“ entweder (1) eine einfache Eigenschaft oder (2) einen Komplex von Eigenschaften bedeuten oder aber (3) gar keine Bedeutung haben. Moore hält die Alternativen (2) und (3) für unsinnig und entscheidet sich in seinem Intuitionismus für die Alternative (1), von norm- und werthaften Ausdrücken als nicht-natürlichen Eigenschaften zu spre52 Vgl. Moore, G.E., Refutation of Idealism.

Emotivismus

88

Das Gute und die Natur

chen. Emotivisten akzeptieren gewissermaßen diese Alternative, kommen aber zu einem anderen Ergebnis. Die Schwierigkeiten der intuitionistischen Lösung werden gesehen und somit wird auch diese (1) abgelehnt, zusammen mit der Alternative (2). Auf diese Weise bleibt die Alternative (3) übrig: Norm- und werthaltige Ausdrücke haben keine Bedeutung. So schreibt C.L. Stevenson (1908–1979): “‘This is wrong’ means I disapprove of this; do so as well ‘He ought to do this’ means I disapprove of his leaving this undone; do so as well ‘This is good’ means I approve of this; do so as well.”53

Sätze, die normative Ausdrücke enthalten, sind demnach keine Aussagen, selbst wenn sie deren grammatikalische Gestalt besitzen. Sie geben nach A.J. Ayer (1910–1989) nur eine Einstellung des Sprechers zu einem Sachverhalt wieder: “The presence of an ethical symbol in a proposition adds nothing to its factual content. Thus if I say to someone, ‘You acted wrongly in stealing that money’ I am not stating anything more than if I had simply said, ‘You stole that money’. In adding that this action is wrong I am not making any further statement about it. I am simply evincing my moral disapproval of it. It is as if I had said, ‘You stole that money!’ in a peculiar tone of horror, or written it with the addition of some special exclamation mark.”54

Die Konsequenz aus dieser Auffassung ist, dass norm- und werthaltige Ausdrücke überhaupt keine Begriffe sind, Ethik keine kognitive Bedeutung hat und damit auch keine Wissenschaft sein kann: “We find that ethical philosophy consists simply in saying that, ethical concepts are pseudo-concepts and therefore unanalysable. The further task of describing the different feelings that the different ethical terms are used to express, and the different reactions that they customarily provoke, is a task for the psychologist. There cannot be such a thing as ethical science, if by ethical science one means the elaboration of a ‘true’ system of morals”.55

Zunächst muss man sich klarmachen, was der Emotivismus nicht ist: Er ist kein psychologischer Naturalismus, der normative oder evaluative auf psychologische Fakten reduzieren will, und er versucht auch nicht, die Rolle der Affekte in den Mittelpunkt zu stellen, wie das schon Hume (1711–1776) tat, sondern er bestreitet jeglichen kognitiven Bedeutungsgehalt. Die Folgen sind damit klar: Ethiken sind genauso wenig begründbar, wie verschiedene evaluative Wertungen richtig oder falsch sein können. Letztlich wird die Ethik damit ästhetisiert: Es wird zur beliebigen Geschmacksfrage, was für gut oder 53 Stevenson, C.L., Ethics and Language, 21. 54 Ayer, A.J., Language, Truth and Logic, 107. 55 Ayer, A.J., Language, Truth and Logic, 112.

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Emotivismus und die Krise der Ethik

falsch gehalten wird. Ob ethische Argumentationen überzeugen oder nicht, liegt nicht an deren kognitiven Gehalt, sondern an den rhetorischen Fähigkeiten der Vortragenden oder an deren Macht oder Autorität. Damit übersteigt der Emotivismus noch jeden möglichen ethischen Relativismus, der behaupten würde, dass unterschiedliche inkommensurable ethische Argumentationen gleich wahr sein könnten. Der Emotivismus ist innerhalb der Philosophie – genauso wie der Neopositivismus als seine Hintergrundtheorie – verschwunden, weil er letztlich nicht haltbar ist. Das hat u.a. folgende Gründe: Alasdair MacIntyre weist darauf hin, dass der Emotivismus die Sprechakttheorie falsch anwendet. Es kann gut sein, dass normative Ausdrücke dazu benutzt werden, um Zustimmung, Ablehnung, Abscheu auszudrücken oder um andere dazu zu bringen, das Gleiche zu denken. Aber aus der Tatsache, dass entsprechende Sätze so gebraucht werden, folgt noch nicht, dass sie auch diese Bedeutung haben. Als Theorie des Gebrauchs ethischer Ausdrücke wäre der Emotivismus richtig und banal; als Theorie der Bedeutung ist er hingegen unhaltbar.56 Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass seine neopositivistische Hintergrundtheorie letztlich unhaltbar ist. Der Emotivismus ist gewissermaßen der radikalste Versuch, Faktenaussagen strikt von wertenden Sätzen zu unterscheiden (der Begriff „Werturteil“ wäre falsch, weil es sich ja gar nicht um „Urteile“ handeln kann). Jede Wissenschaft benötigt aber gerade wertende Urteile und schon die Beschreibung von Fakten ist nicht frei von solchen, wie oben zu sehen war. Der Begriff des Emotivismus im weiteren Sinne kann noch in einer anderen Bedeutung gebraucht werden: Die Ansicht, dass ethische Aussagen letztlich nicht durch rationale Argumentation entscheidbar, sondern eine Sache der bloßen Willkür, der Macht oder des Geschmacks seien, ist gerade nicht auf die Tradition der analytischen Philosophie beschränkt, sondern findet sich in der Geistesgeschichte an unterschiedlicher Stelle – so etwa bei den Sophisten als Gegnern Platos (428/7–348/7 v.Chr.) im antiken Athen, in der Neuzeit als Reduzierung von Ethik auf unmotivierte Willensentscheidungen in S. Kierkegaards (1813–1855) „Entweder – Oder“ oder in F. Nietzsches (1844–1900) Reduktion von ethischen Fragen auf Machtfragen.57 Die Beispiele könnten beliebig vermehrt werden, wobei aber auffällt, dass sich jene emotivistischen Positionen im weiteren Sinne in der Neuzeit häufen. Dabei wird man MacIntyres These, dass der Emotivismus weniger ein Ausdruck der Fachphilosophie als vielmehr des 56 Vgl. MacIntyre, A., After Virtue, 12–16. 57 Vgl. MacIntyre, A., After Virtue, 39–45.113–130.

ethischer Relativismus

Neopositivismus Sprechakttheorie

Emotivismus im weiten Sinne

90

Das Gute und die Natur

Pluralismus

allgemeinen Kulturguts ist, unter den Bedingungen der Postmoderne zustimmen können. Gerade unter den Entwicklungen des ethischen und religiösen Pluralismus des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jh. scheint der Emotivismus eine bequeme Lösung zu sein: Derart viele Traditionen konkurrieren in den westlichen und nördlichen Gesellschaften nicht nur um religiöse Wahrheitsansprüche, sondern ebenso auch um ethische Ansprüche, was als „gut“ oder „vorzüglich“ zu gelten habe, dass der emotivistische Ausweg dem einen oder der anderen verlockend erscheinen mag. Haltbar oder fruchtbar für die gegenwärtigen Gesellschaften ist diese Auffassung freilich nicht: Die Folge wäre nämlich, dass konkurrierende ethische Behauptungen nicht mehr rational entscheidbar wären: Ob man Abtreibung für richtig oder falsch hält, ob man Pazifist ist oder Krieg zulassen mag, ob es gerechtere und ungerechtere Wirtschaftsordnungen geben mag oder ob Mord verwerflich oder im Gegenteil vorzüglich ist, ist dann nicht mehr entscheidbar, weil die entsprechenden Wertungen nach emotivistischer Auffassung keine Bedeutung besitzen. Gesellschaften könnten auch existieren, wenn die emotivistische These stimmen würde; aber ihre Existenzmöglichkeiten hingen dann von nichts anderem als von Machtallokationen ab.

Fazit 18 Der Emotivismus stimmt der Kritik, „gut“ sei nicht definierbar, zu. Er hält „gut“ aber auch nicht für aufzeigbar, sondern bestreitet dem Ausdruck „gut“ sowie allen wertenden Aussagen den kognitiven Gehalt. Daher ist er eine nonkognitivistische Ethik: Eine Handlung als gut zu deklarieren, bedeutet nichts anderes, als andere davon zu überzeugen, nach ihr handeln zu sollen. Der Emotivismus tendiert daher dazu, ethische Fragen in ästhetische Fragen oder in Fragen der Machtverteilung aufzulösen. Der Emotivismus macht einen sprechakttheoretischen Fehler: Die Tatsache, dass wertende Ausdrücke wie „gut“ in bestimmten Kontexten in der Absicht gebraucht werden können, um andere zur Zustimmung zu bewegen, bedeutet nicht, dass dies auch ihre Bedeutung ist.



Literaturempfehlung Thomas von Aquin: Die Deutsche Thomas Ausgabe. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologica, Bd.13: Das Gesetz (I–II/90–105), hg. v. d. Albertus-Magnus-Akademie Walberberg, Graz 1974. Moore, George Edward: Principia Ethica, Cambridge 1922. MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend, Frankfurt/M. 1995.

5. Das Gute und die Schöpfung

Die Darstellung verschiede1 ner Theorietypen der Suche Person 1c nach dem Guten oder Vor2 Vernunft 1b andere Affekte züglichen, die vorrangig von Personen den Elementen der natürli3 chen Umstände des Han1a natürliches Wille Geschehen delns oder deren Erfassung im menschlichen Faktenwissen ausgeht, geschah nicht 4a 9 empirische Ergebnis um der vorgelegten EinteiGewissheiten lung selbst willen und sie 4 Gewissheiten geschah nicht, um in die ver4b 8 religiöse schiedenen ethischen TheoZiele Gewissheiten rien als Spezialwissen einzuführen. Vielmehr ist es 7 5 Erwartungen Regeln so, dass die verschiedenen 6 Mittel vorgestellten Konzeptionen hochelaborierte, exemplarische Beispiele von ethischen Abb. 16: Natürliche Ethiken, christliche Perspektive Argumentationen sind, wie sie im Alltag begegnen, und zwar unabhängig davon, ob das den Alltag Argumentierenden bewusst ist. Eine Möglichkeit, sich im Alltag ethisch zu orientieren, kann die Auffassung sein, das Gute selbst sei natürlich. Eine andere Alltagsauffassung besteht darin, dass sich das Gute auf Rationalitäten anderer natürlicher Eigenschaften reduzieren ließe. So wie Humes Gesetz und die These des naturalistischen Fehlschlusses durchaus gute Argumente gegen eine universale Gültigkeit solcher Auffassungen in der ethischen Theoriebildung liefern, liefern sie auch gute Gründe gegen eine universale Gültigkeit entsprechender Alltagsargumentationen. Aber wie Humes Gesetz und die These vom naturalistischen Fehlschluss keine universale und allgemeine Gültigkeit beanspruchen können, können auch natürliche, nichtreduktionistische und naturalistische Argumentationen nicht prima facie durch sie abgewiesen werden. Auch der Intuitionismus begegnet in der Praxis, nämlich immer dann, wenn die Hoffnung herrscht, das Gute werde sich schon der Evidenz erschließen. Und auch der Emotivismus erscheint in der Praxis häufiger als man annehmen mag. Man achte nur auf die Begründungen, warum sich Menschen für oder gegen eine Ehe entscheiden oder gar eine bestehende Ehe auflösen; die Gründe, die genannt werden, rekurrieren in der Regel auf unterschiedliche Gefühle; allerdings nicht mit dem Anspruch, diese einer weiteren rationalen Argumen-

naturalistischer Fehlschluss

92

Das Gute und die Schöpfung tation zur Verfügung zu stellen, sondern im Gegenteil, eine solche abbrechen zu lassen. Und ebenso wie Intuitionismus und Emotivismus in ethischen Alltagssituationen erscheinen, sind auch die Gründe, die gegen sie sprechen, in den Alltagssituationen gültig. Man wird also behaupten können, dass die Suche nach dem naturgegebenen Guten aus Kap. 4 einigermaßen von Bedeutung ist. Aber kann das auch das Ergebnis dieser Untersuchung beanspruchen? Es besteht ja in dem prima facie verwirrend scheinenden Resultat, dass sich für und gegen die einzelnen Typen letztlich keine schlagenden Gründe geltend machen ließen. Angesichts dieser Situation hat man verschiedene Möglichkeiten vorzugehen. Man könnte auf die Multirelationalität des Handlungsbegriffs verweisen und hoffen, dass sich ein rein positives Ergebnis bei einer Betrachtung des Guten oder Vorzüglichen von einem anderen Relat aus ergeben könnte. Man könnte auch meinen, dass ein solches Vorgehen jeweils wieder mehrdeutige Ergebnisse liefern wird, und hoffen, dass eine Einbeziehung aller unterschiedlichen Perspektiven ein besseres Ergebnis liefern mag als dies jeweils nur die monoperspektivische Betrachtung vermag – getreu dem Grundsatz, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Mag darin auch ein Körnchen Wahrheit stecken, so doch noch nicht die ganze.

Die zuletzt vorgelegte Untersuchung naturgegebener Ethiken ist noch nicht abgeschlossen. Denn es handelt sich bisher noch nicht wirklich um eine theologisch-ethische Betrachtung, auch wenn die vorgestellten Beispiele z.T. der Theologiegeschichte entnommen waren. Um eine systematisch-theologische Betrachtung nun tatsächlich bieten zu können, ist es unumgänglich, explizit den schon implizit vorhandenen theologischen Standpunkt einzunehmen und zu explizieren, was sich theologisch über das Verhältnis des Natürlichen zum Guten oder Vorzüglichen überhaupt sagen lässt. Eine solche theologische Theorie hätte zumindest ein großes Erklärungspotential, wenn sie erklären könnte, warum das Ergebnis aus Kap. 4 ambivalent erscheinen musste. Im Kontext der hier verwandten Handlungsrelation bedeutet dies, dass aus dem Blickwinkel der weltanschaulichen Überzeugungen die Relate der natürlichen Bedingungen und des Faktenwissens in den Blick genommen werden. Wenn wir uns nun dieser theologischen Aufgabe zuwenden, ist es unumgänglich, Begriffsgut aus der materialen und positionalen Dogmatik zu bieten. Der Ausgangspunkt ist einfach: Die Natur ist in christlicher Sicht Schöpfung des dreieinigen Gottes. In den folgenden Schritten sei dieser Satz erklärt. Fazit 19 Alle bisher untersuchten ethischen Argumentationen, das Gute in irgendeiner Form natürlich erfassen zu können, begegnen uns auch im Alltag. Sie sind dort – wie auch in ihrer systematischen Besprechung – ambivalent zu beurteilen. Der christliche Glaube versteht Welt und Natur als Schöpfung Gottes im Zusammenhang eines Wirklichkeitsverständnisses, das diese Ambivalenz zu erklären vermag.

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Der dreieinige Gott

5.1 Der abstrakte Gottesbegriff Als Minimalbedingungen der Rede von Gott können Begriffe verwandt werden wie „Gott“ als Perfektionsbegriff, d.h. als „das, worüber hinaus Größeres nicht denkbar ist“,1 Gott als „das, woran der Mensch sein Herz hängt“2 bzw. das, „was uns unbedingt angeht“,3 Gott als die „alles bestimmende Wirklichkeit“,4 Gott als der „Grund des Seins“,5 Gott als das, was „die Zeit zusammenhält“,6 als summum bonum (höchstes Gut)7 und Ähnliches mehr. Jeder dieser Begriffe ist ein religionsphilosophischer und abstrakter Begriff. Denn jeder dieser Begriffe kann sich sowohl auf den dreieinigen Gott, auf den Gott einer theistischen Religion, aber auch auf den Gott von pantheistischen Religionen – die Welt als Ganzes ist dann die Perfektion oder das höchste Sein – und ebenso auch auf vermeintlich atheistische Religionen beziehen. Aufgrund ihrer Abstraktheit muss noch spezifiziert werden, was unter Gott konkret verstanden werden soll.

Minimalbedingungen

Fazit 20 Abstrakte Gottesbegriffe – wie Gott als die „alles bestimmende Wirklichkeit“, als das, „worüber hinaus Größeres nicht denkbar ist“, als das, „woran der Mensch sein Herz hängt“, als das, „was uns unbedingt angeht“, als der Grund des Seins, als das, „was die Zeit zusammenhält“, oder als summum bonum – gehören in den Bereich der Religionsphilosophie und sind im Rahmen des christlichen Glaubens zu konkretisieren.

5.2 Der dreieinige Gott Da nach keiner der genannten abstrakten Gottesdefinitionen Gott ein Gegenstand neben anderen Gegenständen ist, ist es gar nicht so einfach, einen konkreten Gott zu identifizieren bzw. zu sagen oder gar zu erkennen, was Gott konkret bedeuten kann. Denn da Gott einzelnes welthaftes Seiendes offensichtlich übersteigt, kann einzelnes welthaftes Seiendes wie der Mensch aus eigenem Vermögen Gott nicht erkennen und nicht konkret identifizieren. Dennoch ist dies 1 Anselm von Canterbury, Proslogion, Kap. 2, 84. 2 Martin Luther in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, BSLK, 560. 3 Tillich, P., ST I, 247–251. 4 Bultmann, R., Welchen Sinn; Pannenberg, W., Wissenschaftstheorie und Theologie, 304f. 5 Vgl. Tillich, P., ST I, 273. 6 Jenson, R.W., ST I, 54f. 7 Vgl. etwa in augustinischer Tradition und mit Identifikation zur Trinität Bonaventura, Itinerarium, 136 (VI,2).

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Das Gute und die Schöpfung

Offenbarung Selbstidentifikation Gottes

empirische Trinität

Liebe

möglich, und zwar unter der Bedingung, dass sich dieses, jedes einzelne welthafte Seiende übersteigende Sein jenem selbst erschließt, identifiziert oder offenbart. Selbstidentifikation, Selbsterschließung oder Offenbarung ist damit der Anfang jeder theologischen Erkenntnis. Diese Erkenntnis oder Selbstidentifikation Gottes geschieht immer, wenn sich Christen die Botschaft des Evangeliums erzählen und diese miteinander kommunizieren. Sie werden dann in die Geschichte des Evangeliums einbezogen. Sie vergewissern sich dabei, dass es derselbe Gott ist, der sich in ihrem Leben zeigt, der es auch war, der die Gewissheit der Wahrheit der Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus den ersten Christinnen und Christen erschlossen hat. Sie vergewissern sich dabei, dass dies auch derselbe Gott ist, der sich in Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi gezeigt hat. Und es erschließt sich ihnen, dass dieses derselbe Gott ist, der in der Geschichte des Volkes Israel gehandelt hat und der als Grund allen welthaften Seins gilt. Die Selbstidentifikation Gottes hat dabei unhintergehbar narrativen Charakter in der Verschränkung der Narration des eigenen Lebens von Christinnen und Christen mit der Narration des Evangeliums, wie es in den biblischen Erzählungen bezeugt wird. Diese Narration in ihrer Verschränkung hat dabei eine dreifache Struktur: Gott, wie er sich in der Geschichte, insbesondere der des Volkes Israel, allgemein zeigt, Gott, wie er sich in der Geschichte Jesu Christi zeigt, und Gott, wie er sich in der Geschichte der Glaubenden selbst zeigt. Diese dreifachen Metaerzählungen, die all die partikularen Erzählungen des Evangeliums zusammenfassen, können abgekürzt werden mit den so selbstidentifizierten Namen Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Gott zeigt sich damit unhintergehbar trinitarisch, was als ökonomische oder selbstidentifizierende und empirische Trinität bezeichnet werden kann. Wenn Gott aber sich selbst erschließt, wie er ist – was eine notwendige Bedingung der Rede von der Selbsterschließung Gottes ist –, muss Gott auch in Ewigkeit, d.h. als ob es die Welt nicht gäbe (etsi mundus non daretur), als dreieinig gedacht werden. Hier setzt die theologische Rekonstruktion an und sie erkennt Gott damit in Ewigkeit als eine Gemeinschaft der Liebe von Vater, Sohn und Geist bzw. als eine dreieinige Selbstidentifikation von Vater, Sohn und Geist für sich selbst als Liebe bzw. als ein ewiges, nicht zeitlich-weltliches Sich-Ereignen, Prozedieren oder Geschehen der Liebe zwischen den drei göttlichen Personen. Gott ist damit primär eine Relation, und zwar eine ereignishafte Relation. Gott ist damit primär auch eine Narration und zwar eine Selbstnarration. Gott hat selbst primär ereignishaften Charakter und dies ist das Ereignis ewiger und perfekter Liebe (1Joh 4,8.16). Damit ist Gott

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Die Schöpfung der natürlichen Welt

aber selbst auch Handeln und es kann und muss sehr wohl gefragt werden, ob auch Gott damit eine Ethik hat oder Gegenstand einer Ethik wird. Zwar ist göttliches Handeln nicht identisch mit menschlichem Handeln und u.U. nicht mit der zwölffachen Handlungsrelation menschlichen Handelns wiederzugeben, aber Gott ist immerhin Handeln – sogar in dem Sinne, dass primär Gott Handeln ist und alles andere, geschöpfliche Handeln nur als davon abgeleitet begriffen werden kann. Die Ansicht, Gott sei nur Bedingung der Möglichkeit menschlichen Handelns, selbst aber kein Handeln,8 nimmt jedenfalls die Selbsterschließung Gottes und die Inkarnation des Sohnes und das Beisein des Geistes (Konkarnation9) nicht ernst, sondern bleibt in einer natürlichen Theologie (und damit einer allgemeinen und letztlich abstrakten Religionsphilosophie) verfangen. Fazit 21 Da Gott alles welthafte Sein übersteigt, kann der Mensch Gott nur erkennen, wenn er sich selbst erschließt. Dies geschieht, indem Menschen ihre eigene Lebensgeschichte im Lichte des Evangeliums gedeutet bekommen, in der sich Gottes dreieinige narrative Identität als Vater, Sohn und Heiliger Geist zeigt. Da eine Selbstoffenbarung nur eine solche ist, wenn Gott ist, wie er sich zeigt, ist Gott in Ewigkeit ein handelndes, selbstprozedierendes Beziehungsgefüge der Liebe zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist.

5.3 Die Schöpfung der natürlichen Welt Ist dieser dreieinige Gott Ursprung der natürlichen Welt, kann die natürliche Welt einerseits keine Emanation Gottes sein. Die Welt ist nicht notwendig für Gott an sich, weil andernfalls welthaftes Prozedieren selbst Gott wäre. Das Handeln, Prozedieren und Sich-Ereignen, das Gott in sich selbst ist, entlässt dabei in Freiheit – ohne jegliche welthafte Voraussetzungen – ein nun welthaftes, natürliches Prozedieren, Sich-Ereignen und Handeln: den Zusammenhang der Schöpfung. Gott ist damit hinreichende und notwendige Bedingung jeglichen natürlichen Sich-Ereignens (creatio ex nihilo). Die Natur bekommt damit als Ganze kontingenten, d.h. nicht notwendigen Charakter. Als creatio continuata, als fortgesetzte Schöpfung, ist göttliches Sich-Ereignen aber in jedem Augenblick des zeitlich-weltlichen Sich-Ereignens auch notwendige Bedingung für den Fortbestand und den Erhalt der Schöpfung, neben allen Wirkungen welthaften Sich-Ereignens (Kokreativität der Schöpfung). 8 9

Vgl. so z.B. Preul, R., Problemskizze. Vgl. Mühling, M., Concarnation.

Schöpfung

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Das Gute und die Schöpfung

Ordnung geschaffener Liebe

das Gute

wahrer Gott und Mensch

Inkarnation

Versöhnung

Die Welt erweist sich damit als Schöpfung des dreieinigen Gottes, und geschöpfliches Prozedieren ist als Bild des Prozedierens der Liebe Gottes geschaffen. Die Natur hat daher eine Ordnung, und zwar ist dies eine Ordnung geschaffener Liebe. Diese Ordnung geschaffener Liebe hat eine deontische und eine nicht-deontische Seite: Die geschaffene Ordnung der Liebesgemeinschaft welthaften Sich-Ereignens ist einerseits als eine von Gott geschaffene Ordnung letztlich von den Geschöpfen selbst unaufhebbar. Daher hat auch geschaffene Liebe zuallererst eine seinshafte (ontische) Qualität. Die Ordnung ist aber andererseits auch deontisch, d.h. die Geschöpfe können gegen diese Ordnung verstoßen. Damit heben sie zwar nicht die Ordnung der Liebe auf, aber sie stören sie nachhaltig. Nach christlicher Überzeugung ist dies immer schon der Fall. Die geschaffene Ordnung ist daher korrumpiert – und zwar in ihrer Totalität einschließlich der Erkenntnisfähigkeiten des Menschen, so dass die geschaffene und natürliche Welt als Liebesordnung nicht mehr verstehbar und einsehbar ist. Die Liebesordnung der geschaffenen Welt selbst ist das Gute (und nicht nur Vorzügliche), aber diese Erkenntnis ist auf natürliche Weise keinem Geschöpf möglich. Gott erhält nicht nur eine de facto gestörte Ordnung, sondern er bringt sie auch wieder zurecht, indem der Sohn in der Geschichte Jesu Christi selbst in das welthafte Beziehungsgefüge eintritt und nun ein doppeltes Beziehungsgefüge – ein innergöttliches und ein geschöpfliches – und eine doppelte Narration – eine innergöttliche und eine geschaffene – besitzt und somit auch eine innergöttliche Identität hat, zu der er eine geschaffene (und sündhaft gestörte Identität) dazu erhält: als wahrer Gott und Mensch. Durch dieses Zurechtbringungsgeschehen – und nicht qua Schöpfung – wird nun die Welt in der Tat ein Teil Gottes: Denn ist der ewige Sohn in seiner Identität der Liebe an Vater und Geist gebunden, erhält er aber eine Identität geschaffener Beziehungen in der Inkarnation hinzu; und ist auch die Identität und das ewige Sein von Vater und Geist bleibend von dem Sein und der Identität des Sohnes abhängig, dann wird mit der Inkarnation ewiges und geschöpfliches Prozedieren auf eine Weise verschränkt, die unaufhebbar ist: Nun kann Gott in der Tat nicht mehr ohne die Welt gedacht werden, aber Gott übersteigt die Welt bleibend. Das Christentum ist damit weder eine theistische noch eine pantheistische Religion, sondern eine soteriologisch-panentheistische Religion. Mit der Versöhnung der Welt in Christus, die durch das gewissheitsstiftende Handeln des Geistes den Glaubenden angeeignet wird, besteht damit auch für diese wieder die Möglichkeit der Erkenntnis der Güte der geschaffenen Ordnung der Liebe – soweit die Glaubenden tatsächlich gerechtfertigt und damit wieder in das

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Die Schöpfung der natürlichen Welt

korrekte Verhältnis gesetzt sind. Da aber unter faktischen Bedingungen der Mensch sowohl Sünder als auch Gerechter ist (simul iustus et peccator), bleibt die Erkenntnis des Guten in der geschaffenen Ordnung der Liebe den Glaubenden selbst unverfügbar und somit nur im Lichte des Glaubens als Liebesordnung erkennbar. Ohne dieses Licht des Glaubens bleibt die Ordnung der Schöpfung zwei- und mehrdeutig: Sie mag als Ordnung, d.h. als Relationsgefüge, erkennbar sein; ob dies aber die Ordnung einer Liebe oder die Ordnung eines gegenseitigen Fressens-und-Gefressen-Werdens ist, bleibt genauso unentscheidbar wie die Frage, ob dies nun eine Ordnung des Guten, des ethisch Indifferenten oder des Bösen ist. Gottes Handeln an der Welt beschränkt sich aber nicht nur auf die Schöpfung der Welt (einschließlich ihrer Erhaltung) und auf die Zurechtbringung der gefallenen Welt, sondern auch auf die Vollendung der geschaffenen Ordnung der Welt: Diese Vollendung der geschaffenen Ordnung der Welt ist nicht einfach eine auf das gesamte geschaffene Prozedieren oder Sich-Ereignen ausgedehnte Zurechtbringung und damit nicht einfach die Herstellung des gedachten Urzustandes der Schöpfung. Schon diese Ordnung des Urzustandes mag zwar gut (vgl. Gen 1) sein, nicht aber perfekt. Die geschaffene Ordnung des regelhaften Prozedierens war daher von Anfang an auf ein Telos, ein Ziel hin angelegt. Dieses Ziel ist in der Auferstehung Christi angedeutet. Es besteht darin, dass das Geschick Christi letztlich das Ziel der ganzen Schöpfung ist. Diese Vollendung der Schöpfung in der Vollendung des Reiches Gottes, das unter welthaften Bedingungen schon im Hier und Jetzt angebrochen ist, ist die unmittelbare Verschränkung aller welthafter Erzählungen mit der Erzählung Gottes bzw. das Aufgehen welthaften Prozedierens oder Sich-Ereignens im Ereignis und Prozess, der Gott selbst ist: Die geregelte, aber gestörte geschaffene Ordnung der Liebe ist nicht nur auf ihre umfassende Entstörung angelegt, sondern ihr (geschaffenes, und damit auch natürliches, nicht aber natürlich einsehbares) Ziel ist das Aufgehen geschaffener Liebe in göttlicher Liebe, ist die unmittelbare Präsenz und das unmittelbare Zusammensein des geschaffenen Relationsgefüges im Relationsgefüge, das Gott selbst ist. Diese eschatische Vollendung kann als visio beatifica, Theosis und mit einer Reihe anderer Metaphern beschrieben werden.

simul iustus et peccator

Vollendung

Auferstehung Christi

Theosis

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Das Gute und die Schöpfung

Fazit 22 Gott, das Beziehungsgefüge der ewigen, ungeschaffenen Liebe, schafft durch creatio ex nihilo und creatio continuata eine geschaffene Ordnung der Liebe: das welthafte Prozedieren. Dieses ist nach dem Fall faktisch gestört. In der Inkarnation des ewigen Sohnes nimmt dieser ein zweites, geschaffenes Beziehungsgefüge an und wirkt zusammen mit dem Heiligen Geist die Zurechtbringung der Geschöpfe. In Gottes eschatischem, vollendeten Handeln werden die Geschöpfe im Beziehungsgefüge der Liebe, die Gott selbst ist, aufgehoben (Theosis). Im hic et nunc bleibt der Mensch simul iustus et peccator. Das wahrhaft geschaffene Gute, die ontisch welthafte Liebesordnung, ist daher nur mit den Augen glaubenden Vertrauens (fiducia) als solche erkennbar und bleibt unter nicht vollendeten Bedingungen dauerhaft zweideutig und strittig.

5.4 Gibt es eine naturgegebene Einsicht des Guten?

Evangelium

Jegliche ethische Konsequenz ist inhaltlich streng an die christliche Kommunikationsgemeinschaft und das in ihr kommunizierte Evangelium gebunden. Und jegliche ethische Konsequenz ist an eine jeweils spezifische, theologische Gestalt der Rekonstruktion dieser Evangeliumskommunikation gebunden und nicht von ihr ablösbar. An sich hätte daher jede Systematische Theologie als Ethik auch zu begründen, warum die in 4.1–4.3 gebotenen Entscheidungen so und nicht anders ausfallen. Da dies aber im Rahmen dieses Lehrbuches nicht zu leisten ist, sei hier hilfsweise – nicht prinzipiell – auf dogmatische Hintergrundkenntnis verwiesen. Keines der Elemente dieser Rekonstruktion ist sakrosankt, sondern durchaus fallibel, aber auch keines der Elemente der Rekonstruktion ist von seinem Gegenstandsbereich her beliebig; es kann daher nicht aufgegeben werden. D.h. vor allem: Ohne eines der Elemente Schöpfung, Zurechtbringung (Versöhnung oder Erlösung) und Vollendung können keine ethischen Konsequenzen gezogen werden; jedenfalls nicht, ohne den christlichen Charakter als solchen aufzugeben. Die Konsequenzen, die im Einzelnen für eine Benennung eines naturgegebenen, d.h. geschaffenen Guten oder Vorzüglichen zu ziehen sind, sind daher von folgender Distinktion abhängig:

Fazit 23 Es sind zu unterscheiden die ursprüngliche, aber gestörte Ordnung der Liebe, die als Erhaltungsordnung der Welt Bestand hat, von der ursprünglichen, zurechtgebrachten Ordnung der Welt und diese wiederum von dem ursprünglichen geschaffenen und natürlichen Ziel der Welt. Jede dieser Ordnungen ist geschaffen und insofern natürlich, aber keine dieser Ordnungen ist ohne eine zurechtgebrachte christliche Sicht

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Gibt es eine naturgegebene Einsicht des Guten?

allgemein einsehbar. Daher verwundert es auch nicht, dass jegliche Suche nach einer naturgegebenen und allgemein einsehbaren Ordnung, wie sie in Kap. 4 durchgeführt wurde, scheitern musste und in ihrer Wertung ambivalent bleiben musste. Diese Ambivalenz einer allgemeinen Einsehbarkeit ist damit letztlich eine Bedingung der Kohärenz der christlichen Sicht einer möglichen naturgegebenen Ordnung.

5.4.1 Die Erhaltungsordnung

Auch unter den Bedingungen des Falls gilt, dass an Gottes erhaltendem Handeln die Geschöpfe in ihrer Kokreativität beteiligt sind. Ein naturgegebenes Vorzügliches muss also in einer Hinsicht einsehbar sein, in einer anderen Hinsicht kann es aber nicht einsehbar sein. Beides ist nur möglich, wenn nicht der konkrete Inhalt des Guten, sondern nur die spezifisch vom Menschen – in seiner Mitarbeit an der Erhaltung der Welt – zu leistenden Aufgaben einsehbar und damit natürlich bestimmt sind. Das aber ist bei keiner der in 3.1.3 vorgestellten Ordnungs- oder Erhaltungstheologien der Fall. Sie überschreiten die Grenze des Sagbaren von einer Aufgabenbestimmung hin zum Inhalt einer solchen möglichen natürlichen Ordnung und sind daher aus den genannten theologischen Gründen strikt abzulehnen. Es gibt aber durchaus Vorschläge, die sich dieser Gefahr bewusst sind und sie zu vermeiden suchen. Zwei dieser Vorschläge – der Vorschlag Bonhoeffers (1906–1945) und der Vorschlag Eilert Herms’ (*1940) – sollen im Folgenden besprochen werden.

Aufgabenbestimmung

Fazit 24 Dem Sündersein des Menschen im hic et nunc tragen Erhaltungsordnungen Rechnung, die sich durch eine konkrete Aufgabenbestimmung unter Verzicht einer Festlegung des Inhalts des Gutes auszeichnen.

5.4.1.1 Bonhoeffers Mandatenlehre

Bonhoeffer ist sich der Herkunft seiner Mandatenlehre aus der Theologie der Schöpfungsordnungen bewusst und versteht sie als Korrektur der bisher verwandten Begriffe der Ordnung und des Standes. Bonhoeffer definiert: „Unter ‚Mandat‘ verstehen wir den konkreten in der Christusoffenbarung begründeten und durch die Schrift bezeugten göttlichen Auftrag, die Ermächtigung und Legitimierung zur Ausrichtung eines bestimmten göttlichen Gebotes, die Verleihung göttlicher Autorität an eine irdische Instanz.

Mandatenlehre

100

Das Gute und die Schöpfung Der Träger des Mandats handelt in Stellvertretung, als Platzhalter des Auftraggebers.“10

Die einzelnen Mandate, deren Bonhoeffer vier kennt, sind also primär Aufträge, d.h. Leistungen, die zu erbringen sind. Damit ist eine unserer Anforderungen erfüllt. Ebenso gründen sie in der Christusoffenbarung, d.h. sie sind aufgrund von Gottes Selbsterschließung begründet. Dass die einzelnen vier Mandate aus der die Christusoffenbarung bezeugenden Schrift abgeleitet werden,11 stellt keinen Schaden und keine Inkonsequenz dar, sondern entspricht der Rolle der Schrift bei Bonhoeffer. „Um solche Mandate Gottes handelt es sich in der Kirche, in Ehe und Familie, in der Kultur und in der Obrigkeit“.12 Das Mandat der Kultur wird an anderer Stelle auch mit „Arbeit“ betitelt.13 In Bonhoeffers Definition der Mandate kommt aber noch ein anderer wichtiger Begriff vor; der des göttlichen Gebotes. Die Christusoffenbarung lässt offensichtlich nicht nur eine schöpfungsgegebene Erhaltungsordnung erkennen, sondern durchaus mehr, nämlich das sich in den Mandaten äußernde göttliche Gebot: „Wir sprechen von göttlichen Mandaten statt von göttlichen Ordnungen, weil damit der Charakter des göttlichen Auftrages gegenüber einer Seinsbestimmung deutlicher heraustritt. […] Die Göttlichkeit der Arbeit läßt sich also nicht im Hinblick auf ihre allgemeine Nützlichkeit, ihren Wert, sondern allein im Hinblick auf den Ursprung, den Bestand und das Ziel der Arbeit in Jesus Christus begründen. Ebenso verhält es sich mit den anderen Mandaten. Nur als Mandate Gottes sind sie göttlich, nicht aber schon durch ihr faktisches Gegebensein in dieser oder jener konkreten Gestalt. Nicht weil Arbeit, Ehe, Obrigkeit, Kirche ist, ist sie göttlich geboten, sondern weil sie von Gott geboten ist, darum ist sie, und nur sofern ihr Sein – bewußt oder unbewußt – dem göttlichen Auftrag unterworfen ist, ist es göttliches Mandat.“14

Nicht durch die Begründung der Mandate in der Christusoffenbarung und nicht durch ihre Gestalt als Aufträge, sondern in ihrer Anordnung durch ein dem Sein vorgängiges göttliches Gebot treten nun spezifische Kennzeichen der bonhoefferschen Mandatenlehre zutage, die durchaus ambivalent sind. Es handelt sich dabei um Folgendes: 1. Bonhoeffer unterscheidet explizit nicht zwischen weltlich und kirchlich bei den Mandaten und kann so die Evangeliumsverkündigung der Kirche selbst als Mandat bezeichnen. 10 11 12 13 14

Bonhoeffer, D., Ethik, 392f. Vgl. Bonhoeffer, D., Ethik, 54–60. Bonhoeffer, D., Ethik, 392. Vgl. Bonhoeffer, D., Ethik, 55. Bonhoeffer, D., Ethik, 54–56.

Gibt es eine naturgegebene Einsicht des Guten?

2. Indem der Auftrag an ein spezifisches Gebot rückgebunden ist, kann er erfüllt oder nicht erfüllt werden. Nicht die Institutionen der Arbeit (Kultur), der Kirche, der Ehe (Familie) und Obrigkeit (Politik) an sich sind der Auftrag, sondern eine spezifische Gestalt, deren Wohlordnung und Vorzüglichkeit. Das verleiht der bonhoefferschen Mandatenlehre eine ungemein kritische Kraft gegenüber bestehenden Institutionalisierungsformen. 3. Bonhoeffers Mandatenlehre erweist sich demnach nicht als natürliche, nichtreduktionistische Ethik, sondern als reduktionistische Ethik mit voluntaristischem Charakter: Die Mandate wurzeln nicht in einer mit der Erhaltung der Schöpfung gegebenen Aufgabe, sondern in einer göttlichen Anordnung. 4. Aufgrund der Anordnung der Autorität des göttlichen Gebotes handelt es sich dabei letztlich um einen reduktionistischen Zug, der auf dem Relat der Regeln, Normen und Pflichten beruht, also auf einer Ausformung einer spezifischen Gestalt einer deontologischen Pflichtenethik. Diese vier Kennzeichen des Gebotscharakters der Mandatenlehre haben aber nicht nur Vorteile, sondern auch ihre Schwierigkeiten: 1. Nach Bonhoeffer ist keines der Mandate voneinander isolierbar. Wird eines der Mandate nicht erfüllt, kann auch keines der anderen erfüllt werden. Wie steht es dann aber mit den Mandaten in nichtoder vorchristlichen Gesellschaften? Und wie steht es mit der Erfüllung der Mandate in pluralistischen Gesellschaften? Über beide Fragen erhält man bei Bonhoeffer letztlich keine befriedigende Auskunft. Wenn aber ganze Geschichtsepochen mit Bonhoeffers Theorie nicht erfassbar sind, kann es sich offensichtlich nicht um die zwar nur durch die Christusoffenbarung einsehbare, de facto aber auch remoto Christo gültige Erhaltungsordnung handeln. 2. Bonhoeffers Mandatenlehre ist nicht nur in der Offenbarung begründet, sondern ihr Inhalt zielt auch, gerade durch die Tilgung von Erhaltungsordnung und Heilsordnung, auf das Gutsein und nicht nur auf die Vorzüglichkeit der so bezeichneten Institutionen. Auch damit kann die Mandatenlehre nicht das leisten, was nötig ist: die Mitarbeit des Menschen an der Erhaltung der Welt auch unter den Bedingungen des Falls. 3. Mit dem voluntaristischen Unterton der Mandatenlehre stellt sich die Frage, inwieweit Gottes Gebot tatsächlich einer Selbsterschließung oder Selbstidentifikation seines Seins entsprechen kann. Mit der spezifisch hier vorgelegten Gotteslehre ist dieser voluntaristische Unterton nicht vereinbar. 4. Die Systematik der bonhoefferschen Gliederung in gerade diese vier Mandate ist nicht direkt einsehbar. Weder auf natürlichem Wege

101

Schwierigkeiten

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Das Gute und die Schöpfung

noch auf Basis einer Gesellschaftsanalyse noch auf exegetischem Wege lässt sich einsichtig machen, warum es gerade diese vier Mandate in genau dieser Abgrenzung sein sollen. Bonhoeffers Mandatenlehre ist also auf dem richtigen Weg, kann aber aufgrund der genannten Schwächen die an sie gestellten Anforderungen noch nicht erfüllen. Fazit 25 Bonhoeffer versteht Arbeit (Kultur), Kirche, Ehe (Familie) und Obrigkeit (Politik) als göttliche Mandate oder Aufträge. Sie beruhen auf Gottes voluntativem Gebot, so dass eine deontologisch reduktionistische Begründung mit voluntaristischen Tendenzen auf die – aus dem Bereich natürlicher Ethiken stammende – Frage nach der Möglichkeit von Erhaltungsordnungen antwortet. Zusätzlich zur Aufgabenbestimmung enthalten die Mandate die Vorstellung einer inhaltlichen Wohlordnung, zu der es gehört, dass alle Mandate nur zusammen erfüllt werden können. Da Bonhoeffer nicht zwischen Heils- und Welthandeln Gottes unterscheidet, indem auch die Kirche als Mandat erscheint, stellt sich das Problem, wie in einer pluralistischen Gesellschaft die Mandatenlehre zu verstehen wäre.

5.4.1.2 Herms’ Interaktionsordnungen Interaktionsordnung

Herms hat verschiedentlich ein System einer Interaktionsordnung mit vier unreduzierbaren und interdependenten Teilbereichen beschrieben. Dieses System ergibt sich aus dem Grundbegriff menschlichen Handelns als Interaktion und ist daher jeglicher menschlichen Interaktion vorgegeben, aber nur durch Interaktion selbst zu gestalten. Das Element des Vorgegebenseins kann daher aus der Sicht des christlichen Wirklichkeitsverständnisses als geschaffene Erhaltungsordnung interpretiert werden und ist insofern nicht weltanschauungsfrei begründbar, verliert aber seine Valenz auch unter der Bestreitung dieser Begründung nicht: „Die biblisch-christliche Tradition begreift den Menschen als leibhaftes Vernunftwesen. Aufgrund dieser Verfassung ihrer Existenz können die Menschen ihr Leben in der Welt nur erhalten, wenn sie kooperativ gewisse Grundleistungen erbringen, die unterschiedlicher Art, aber gleichursprünglich sind und darum nicht aufeinander zurückgeführt werden können, sondern voneinander abhängen und sich durchgehend wechselseitig bedingen. Das sind insgesamt vier. Erstens muß sichergestellt werden, daß überhaupt elementare Regeln der Kooperation zuverlässig erbracht werden, und zwar relativ unabhängig von der jeweiligen Einsicht und Neigung der beteiligten Einzelnen. Das geschieht durch die – Herrschaft und Rechtssicherheit produzierende – politische Interaktion.

103

Gibt es eine naturgegebene Einsicht des Guten? Zweitens muß die Allokation (Herstellung und Verteilung) von Mitteln zur Deckung der Leibesnotdurft sichergestellt werden. Das geschieht durch wirtRel. schaftliche Interaktion. Beide Arten von Interaktion kann der Mensch als Vernunftwesen nur unter Rückgriff auf Einsichten und Gewißheiten erbringen, und zwar auf zweierlei Arten von Einsicht und Gewißheit. Erstens Einsichten und Gewißheiten über die Regelmäßigkeiten, denen das Weltgeschehen folgt, in dessen Zusammenhang die menschliche Interaktion Wi. sich vollzieht, und zwar nicht nur, sofern sie das physische, sondern auch das psychische und soziale Geschehen betrifft. Dieses ‚empirische Regelwissen‘ […] muß […] selbst durch Interaktion gewonnen Abb. 17: Interaktionsordnung und kommuniziert werden. Das geschieht in der erfahrungswissenschaftlichen Interaktion […]. Zweitens aber ist die menschliche Interaktion nicht nur auf Einsichten angewiesen, die Wege zu feststehenden Zielen weisen, sondern auch auf solche, welche die lebensdienlichen Ziele […] selbst zu bestimmen erlauben und insofern eine zielwahlorientierende oder ethisch orientierende Funktion erfüllen. Dabei kann es sich […] nur um […] Gewißheiten über diejenige ursprüngliche und endgültige Bestimmung des Menschen handeln, die in der Verfassung seines Daseins begründet und allen seinen Aktivitäten vorgegeben ist. Auch solche ethisch orientierenden weltanschaulich-religiösen Einsichten […] kommen nur im Kontext von Interaktion zustande […]. So ist das Konstruktionsprinzip menschlicher Gesellschaft die Interdependenz von vier leistungsspezifischen Interaktionsarten. Dies ist das Konstruktionsprinzip jeder möglichen, also aller menschlichen Gesellschaften, unabhängig von Größe und Entwicklungsstand. Alle Zustände von Gesellschaft […] sind Variationen dieses Grundmusters. Sie unterscheiden sich […] durch die Ausdifferenzierung der Leistungsbereiche gegeneinander und die Binnendifferenzierung der Leistungsbereiche.“15

Zumindest wird man die Interaktionsleistungen, die hier beschrieben werden, für jede Gesellschaft als notwendig betrachten können. Rudimentäre Gesellschaften, die nur aus einer Familie bestehen – oder auch eine Familie innerhalb weiter entwickelter Gesellschaften –, müssen diese Interaktionsleistungen genauso erbringen wie hochdifferenzierte Gesellschaften. So muss eine Familie etwa in der Lage sein, wirtschaftlich überleben zu können, sie muss aber auch eine regelhafte Kommunikationsgestalt, die Keimzelle jeder politischen Interaktion, aufweisen. Besonders bei der Kindererziehung wird deutlich, dass eine wie rudimentär auch immer geartete wissenschaftliche Kommunikation – d.h. Kommunikation über Faktenwis15 Herms, E., Pluralismus aus Prinzip, 467–469.

Pol.

Oek.

Interaktionsleistungen

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Das Gute und die Schöpfung

sen – und eine weltanschaulich-ethisch orientierende Kommunikation de facto immer erbracht wird. Eine andere Frage ist, ob Herms’ Schema auch vollständig ist. Man kann etwa fragen, ob innerhalb einer Zivilgesellschaft nicht auch der kulturell-musische Bereich – einschließlich von Spiel und Sport – eines eigenen Bereichs bedürfe. Man kann aber diesen Bereich auch als Ausdruck gerade der Interaktion der vier Bereiche untereinander verstehen, d.h. als den hier durch die Pfeile dargestellten Bereich. Interpretieren wir nun diese vierfache Interaktionsordnung als geschaffene Ordnung der Mitarbeit an der Erhaltung der Welt, hat dies mehrere Vorteile: 1. Als geschaffene Erhaltungsordnung und damit als göttlicher Auftrag ist sie nur durch die Selbsterschließung Gottes und des damit korrelierten christlichen Menschenbildes einsehbar. 2. Gleichzeitig kann sie als Ordnung zu erbringender Mindestleistungen von Interaktion eine natürliche Gültigkeit beanspruchen. 3. Dabei ist sie nicht auf konkrete Institutionen festgelegt, die diese Leistungen zu erbringen haben. Die konkreten Ordnungen – also die institutionellen Gestalten und deren Ausdifferenzierung, in denen sich Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Religion vollziehen –, sind variabel. 4. Ebenso sind die Inhalte der jeweiligen Kommunikation variabel. Gefordert als Mindestbedingung ist nur, dass sie die jeweiligen Leistungen erbringen. Wenn Interaktionsleistungsordnungen wie die von Herms’ hier als „naturgegebene“ Ordnungen bezeichnet werden, impliziert dies, dass damit auch ein – wenn auch rudimentärer – Begriff des Guten oder des Vorzuziehenden auf natürliche Weise mitgesetzt ist. Dies ist aber nur ein rudimentärer Begriff des Vorzuziehenden, nicht des eigentlich Guten: Denn „vorzüglich“ in diesem Sinne ist jede Interaktion oder Handlung, die eben diejenige spezifische Leistung erbringt: Jede politische Interaktion, die überhaupt Kommunikation und die Distribution von Macht ermöglicht, ist „gut“ in diesem rudimentären Sinne, und „schlecht“ wäre nur eine solche Interaktion, die Anarchie produziert. Ebenso ist jede Art wissenschaftlicher, religiöser oder wirtschaftlicher Beschäftigung, die dem Erhalt einer Gesellschaft überhaupt dient (nicht einer spezifischen Form der Gesellschaft!), im rudimentären Sinne „gut“. „Schlecht“ wären entsprechend nur Handlungen, die die Gesellschaft untergehen ließen.

Gibt es eine naturgegebene Einsicht des Guten?

105

Fazit 26 Herms unterscheidet als gesellschaftliche Leistungsbereiche politische, ökonomische, wissenschaftliche und religiöse Interaktion. Diese Interaktionsbereiche stellen notwendige Aufgaben zum Funktionieren einer jeden Gesellschaft dar. Das Erbringen dieser Interaktionsleistungen ergibt sich aus der geschöpflichen Verfassung des Menschen als leibhaftes Vernunftwesen. Der Vorteil gegenüber den klassischen Erhaltungsordnungen besteht in ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit und institutionellen Offenheit.

5.4.1.3 Die Zwei-Regimenten-Lehre

Man kann daher diese Interpretation der natürlichen, vierfachen Interaktionsordnung als Ausdruck der Mitarbeit an Gottes erhaltendem Handeln mithilfe der Terminologie der sog. Zwei-RegimentenLehre deuten. Dies ist allerdings nicht unproblematisch. Die beiden Termini Zwei-Regimenten-Lehre und Zwei-Reiche-Lehre bedeuten nicht dasselbe und jeder hat nicht eine, sondern mehrere Bedeutungen und Interpretationen. Die Begriffe stammen aus der evangelischen Theologie des 20. Jh., versuchen aber, Anliegen der reformatorischen und biblischen Tradition aufzunehmen. In der Geschichte vor allem der sog. Zwei-ReicheLehre kam es dabei im 20. Jh. zu einer Reihe unterschiedlicher Interpretationen, zur ideologischen Instrumentalisierung und zu einer gefährlichen und falschen Verwendung als Konfessionsmarker, insbesondere wenn eine als „lutherisch“ verstandene Zwei-Reiche-Lehre einer als „reformiert“ verstandenen Lehre von der Königsherrschaft Christi entgegengesetzt wurde. Betrachtet man die Traditionsgeschichte über die reformatorische Tradition hinaus, finden sich eine Reihe von terminologischen Ahnen über das Mittelalter, die Alte Kirche bis hin zur biblischen Tradition, die aber zum großen Teil völlig andere Sachprobleme zum Gegenstand haben. Im 16. Jh. finden sich Unterscheidungen, an denen die Konstruktion zweier Reiche oder Regimente Anhalt finden kann, sowohl bei Luther als auch bei Zwingli, Calvin und Melanchthon.16 Sehr problematisch ist die Verwendung des Terminus Zwei-Reiche-Lehre, wenn damit unterschiedliche extensionale Bereiche (unterschiedliche Menschengruppen oder unterschiedliche Institutionen) oder gar der Gedanke einer Eigengesetzlichkeit einer dieser extensional bestimmten Bereiche gegenüber dem Heilshandeln Gottes gemeint ist. Problematisch ist auch, dass dieser Terminus vor allem zur Verhältnisbestimmung zwischen Staat und Kirche verwandt wurde und damit sozialethisch zu kurz greift, weil die anderen Interaktionsbereiche nicht mitgedacht sind. Die Verwendung des Terminus Zwei-Regimenten-Lehre ist im Unterschied zum Terminus Zwei-Reiche-Lehre dann sinnvoll, wenn eine strikte Bedeutungssetzung festgehalten wird: Die Zwei-Regimenten-Lehre bildet eine Aussage über Gottes Handeln an der Welt, indem einerseits von Gottes Erhaltungshandeln und geschöpflicher Mitarbeit daran, und andererseits von Gottes 16 Vgl. Anselm, R., Art. Zweireichelehre I, und Härle, W., Art. Zweireichelehre II.

Zwei-Reiche-Lehre

Zwei-RegimentenLehre

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Das Gute und die Schöpfung Heilshandeln (noch einmal zu unterscheiden zwischen Gottes Versöhnungs- und Vollendungshandeln) und geschöpflicher Mitarbeit daran sowohl unterscheidend als auch aufeinander beziehend gesprochen wird. Solche Verwendungsweisen des Terminus sind nicht neu und auch in der Gegenwart gebräuchlich.17

„gute“ Gesellschaft

Kirche

Unter den genannten Bedingungen wird man vorsichtig sagen können: Das naturgegebene, rudimentäre Verständnis von „gut“ als dasjenige, was eine der vier Leistungen überhaupt erfüllt, sagt nichts über den Zustand einer Gesellschaft aus, sondern nur, dass es sich überhaupt um eine solche handelt. Es geht nicht darum, eine irgendwie besonders „gute“ Gesellschaft zu produzieren, sondern darum, die Gesellschaft vor Bösem – und d.h. hier vor ihrem notwendigen Verfall (d.h. der Gesellschaft überhaupt, nicht einer bestimmten Gesellschaftsform) – zu schützen. Die Pointe dabei ist, dass in diesem Sinne auch das System der religiösen Kommunikation am erhaltenden „Regiment“ teilhat. Zwar wird jede Religion die letzten Ziele menschlichen In-der-Welt-Seins im Auge haben und sich selbst daher in Analogie zur Kirche als Kommunikationssystem des Heils und somit des wirklich Guten verstehen. Insofern die Kirche, d.h. die Gemeinschaft der Geheiligten, also das Evangelium in seiner spezifischen Gestalt kommuniziert, gehört sie zur Heilsordnung, nicht zur Erhaltungsordnung und damit nicht in das weltliche, sondern in das geistliche „Regiment“. Insofern die Kirche aber überhaupt ethisch-orientierende Zielbestimmungen menschlichen Lebens betreibt, ohne dass man diese Kommunikation als Evangeliumskommunikation beschreibt, gehört sie in das erhaltende oder weltliche „Regiment“, wie auch andere, nicht-christliche Religionsgemeinschaften aus christlicher Sicht als Gemeinschaften zu würdigen sind, die zu diesem „Regiment“ gehören und sich an der Erhaltung Gottes beteiligen.

Fazit 27 Die Zwei-Regimenten-Lehre bezieht sich auf Gottes Regiment oder Handlungsmodus zur Rechten – d.h. Gottes Heilshandeln – und Gottes Handlungsmodus zur Linken – d.h. Gottes welterhaltendes Handeln. Die politische, wissenschaftliche und ökonomische Interaktion gehören zu Gottes erhaltendem Handlungsmodus, an dem sich Menschen auch kooperativ beteiligen können. Aufgabe ist die Hinderung des Bösen durch den Erhalt einer Gesellschaft an sich, nicht einer bestimmten Gesellschaftsform. Auch das Vorhandensein eines Systems religiöser Kommunikation gehört als notwendige Bedingung zum erhaltenden Regiment, und zwar unabhängig vom Inhalt der religiösen Kommunikation. Insofern die Kirche eine Religionsgemeinschaft ist, gehört sie ebenfalls zum erhaltenden Handlungsmodus. Insofern sie inhaltlich Kommunikationsgemeinschaft des Evangeliums ist, gehört sie in die Heilsordnung.

17 Vgl. Härle, W., Zwei-Regimenten-Lehre.

107

Gibt es eine naturgegebene Einsicht des Guten? 5.4.2 Ein Vorausblick auf die Liebe

Von Gottes erhaltendem Handeln ist Gottes erlösendes (versöhnendes) und vollendendes Handeln zu unterscheiden und darauf zu beziehen. In Gottes erlösendem und vollendendem Handeln ist ebenso vorausgesetzt, dass es eine geschaffene Regelhaftigkeit gibt, die als Ordnung der Liebe benannt werden kann. Obwohl diese Regelhaftigkeit für die Augen des Glaubens primär eine ontische Bedeutung welthaften Seins ausdrückt, entlässt sie auch einen deontischen Anteil einer Pflichtenethik aufgrund einer teleologischen Vorstellung des Zieles und der Bestimmung menschlichen In-derWelt-Seins. Ferner sind personale Faktoren berührt, so dass es sich empfiehlt, den entsprechenden begrifflichen Aufweis dieser christlichen Liebe erst nach Abschluss der Besprechung der anderen Relate des Handlungsbegriffs zu explizieren. Fazit 28 Theologische Ethik geht nicht in natürlicher Ethik auf, sondern beinhaltet auch die Perspektiven einer Pflichtenethik, einer teleologischen Ethik, einer Wertethik, einer Verantwortungsethik sowie einer Tugendethik etc.

Literaturempfehlung Schwöbel, Christoph: Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens, in: Ders., Gott in Beziehung, Tübingen 2002, 25–51. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik. Neu angeordnete Auflage, Gütersloh 1992. Härle, Wilfried: Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Handeln Gottes, MJTh 1 (1987), 37–77. Herms, Eilert: Kirche in der Zeit, in: Ders., (Hg.), Kirche für die Welt, Tübingen 1995, 231– 317.



6. Regeln und Pflichten

Das Scheitern der Suche nach einem allgemein einsehbaren Guten in der Perspektive von natürlichen oder naturalistischen Ethiken bedeutet noch nicht, dass gutes oder vorzügliches Handeln überhaupt nicht allgemein, d.h. unabhängig vom historischen Ort, 1 Person sondern gültig für alle Zeiten, 1c 2 Vernunft Orte und Handelnden, ein1b andere Affekte Personen sehbar wäre. Denn eine solche Allgemeingültigkeit müsste 3 1a sich ja nicht unbedingt aus natürliches Wille Geschehen der Perspektive der Natur ergeben, sondern könnte auch 4a auf einem anderen Element 9 empirische Ergebnis des Handlungsbegriffs beruGewissheiten 4 hen. Wir wenden uns nun Gewissheiten daher denjenigen Versuchen 4b 8 religiöse Ziele der Geschichte der Ethik zu, Gewissheiten die dieses Gute oder die Vorzüglichkeit des Handelns von 5 7 Regeln Erwartungen 6 der Perspektive der HandMittel lungsregeln aus bestimmt haben. Wir sahen eingangs des Abb. 18: Regel- u. Pflichtenethiken Buches, dass es unterschiedliche Handlungsregeln gibt, etwa Normen und Pflichten, die Gebote und Gesolltes ausdrücken, also von anderen Elementen des Handlungsbegriffs abstrahieren, aber auch Regeln, die komplizierter sind, indem sie andere Elemente des Handlungsbegriffs, wie die Handlungsziele, mit betrachten und so zu absoluten oder relativen Werten gelangen. Im Folgenden Pflichtenethik beschränken wir uns zunächst auf das Beispiel einer Pflichtenethik.

6.1 Die Pflichtenethik Kants Immanuel Kant (1724–1804) unterscheidet zwischen einem Reich der Natur oder Notwendigkeit und einem Reich der Freiheit. In Letzterem ist sowohl menschliches Handeln als auch die menschliche Vernunft angesiedelt. Kant beschäftigt sich bei der Suche nach der Güte des Handelns mit bestimmten Handlungsregeln, nämlich mit

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Die Pflichtenethik Kants

Pflichten, die in der Gestalt von Imperativen erscheinen, also mit Sätzen, die deontologisch das bezeichnen, was gesollt ist, und die, wie wir sahen, auch mit Aussagesätzen der deontischen Logik umschrieben werden können.

Pflichten

(1) Der Imperativ „Ernähre dich gesund!“ ließe sich umschreiben mit Op: „Es ist gesollt (O), dass du dich gesund ernährst (p).“

Die meisten konkreten Imperative und Pflichten, nach denen wir uns im Alltag richten, gelten nicht unbedingt und sind nicht allgemeingültig, sondern sie sind abhängig von bestimmten Bedingungen. Daher können sie mit Kant hypothetische Imperative genannt werden. So besteht die Pflicht zur gesunden Ernährung nur unter der Bedingung, dass man die Wahrscheinlichkeit, Krankheiten zu bekommen, reduzieren möchte. Beispiel (1) ist daher eigentlich unvollständig ausgedrückt. Die vollständige Formulierung wäre:

hypothetische Imperative

(2) „Wenn du die Wahrscheinlichkeit, Krankheiten zu bekommen, reduzieren willst: Ernähre dich gesund!“ Oder allgemein: q→Op „Wenn jemand die Wahrscheinlichkeit, Krankheiten zu bekommen, reduzieren will (q), dann ist es gesollt (O), dass er sich gesund ernährt (p).“

Kant geht nun davon aus, dass jede konkrete empirische Pflicht, eben weil sie konkret und empirisch ist, nicht allgemeingültig sein kann und daher den Bedingungen hypothetischer Imperative folgt. Hypothetische Imperative sind per se nicht allgemeingültig und nicht universalisierbar. Eine Pflicht, die allgemeingültig und universalisierbar sein soll, müsste demnach ein nicht-hypothetischer Imperativ sein, d.h. mit den Worten Kants, ein kategorischer Imperativ, der eben deswegen kategorisch ist, da er uneingeschränkt und unabhängig von Bedingungen gilt. Kant ist nun überzeugt, dass der Mensch durch den Gebrauch seiner Vernunft tatsächlich diesen kategorischen Imperativ finden kann. Da offensichtlich jeder konkrete Inhalt immer von Bedingungen abhängig ist, kann ein kategorischer Imperativ nur die bloße Form einer Pflicht oder eines Imperativs sein. Kant benutzt in diesem Zusammenhang auch den Begriff „Gesetz“, der aber nicht legalistisch misszuverstehen ist: (3) „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“1

1 Kant, I., GMS AA, 421. Diese Form des kategorischen Imperativs findet sich bei Kant noch an anderen Stellen, meist wird die Form der „Kritik der praktischen Vernunft“ zitiert. Für eine Übersicht vgl. Härle, W., Die weltanschaulichen Voraussetzungen.

kategorischer Imperativ

Vernunft

110

Regeln und Pflichten Maxime

Gesinnungsethik

Autonomie

Zweck

Mit Maxime meint Kant dabei eine Handlungsregel, die der Handelnde sich selbst zum Prinzip macht.2 Kants Ethik ist daher als Regelethik eine Pflichtenethik. Als solche ist sie bei Kant auch eine Gesinnungsethik, weil die Handlung nicht nach ihrem Handlungsergebnis oder ihrem Handlungsziel oder den eingesetzten Mitteln beurteilt wird. Allein die gute Gesinnung, d.h. eine Absicht, die den kategorischen Imperativ zu verwirklichen sucht, macht die Güte einer Handlung aus. Dabei setzt Kant voraus, dass Sollen Können impliziert und der Mensch sich daher entsprechend verhalten kann. Die Güte einer Handlung muss dabei nicht in Übereinstimmung mit dem stehen, was ein Mensch an Präferenzen und Wünschen kennt. Die Präferenzen und Wünsche eines Menschen sind von den konkreten empirischen Lebensumständen determiniert und gehören daher nicht in das Reich der Freiheit; sie haben also nach Kant auch keine ethische Relevanz. Der kategorische Imperativ hingegen ist nach Kant allgemein der Vernunft einsehbar und universalisierbar; er erhebt damit apriorischen, keinen aposteriorischen Anspruch. Kant beansprucht ferner, damit eine autonome Ethik zu liefern und die Autonomie des handelnden Subjekts, das als Naturwesen ansonsten einer von ihm als deterministisch zu verstehenden Natur unterworfen sei, zu begründen. Autonomie meint also gerade nicht, zu tun, was man will, und seinen Präferenzen zu folgen, weil diese Präferenzen immer von den aposteriorischen Gegebenheiten der natürlichen Welt determiniert sind. Sondern Autonomie meint die Fähigkeit, seinen Willen der dem vernünftigen Subjekt einsehbaren Handlungsregel des Guten zu unterstellen, die eben im kategorischen Imperativ besteht. Da die Autonomie der Vernunft grundlegend für das Erkennen des Guten ist, kommt Kant u.a. noch zu einem weiteren Imperativ, den er selbst für nichts anderes als eine andere Form des kategorischen Imperativs hält: Einen Willen zu haben bedeutet nach Kant, sein Handeln vernunftgebunden an ethischen Gesetzen ausrichten zu können, also einen Zweck verfolgen zu können. Da die Vernunft aber bei allen die gleiche ist, erkennt sie auch nur einen Zweck, der notwendigerweise bei allen vernünftig Handelnden der gleiche sein muss. Auch dieser Zweck, der beim guten Handeln zu verfolgen ist, muss notwendigerweise ein formaler Zweck sein, wenn er allgemeingültig sein soll. Alle anderen, konkreten Zwecke wären nur mit hypothetischen Imperativen verbunden. Gibt es einen solchen formalen Zweck? Kant bejaht dies, denn er geht davon aus, dass das vernünftige Handeln selbst einen solchen Zweck darstellt. Als solches wäre das vernünftige Handeln ein Selbstzweck, der nicht wiederum 2

Vgl. Kant, I., Werke, Bd. 8, 33.

111

Die Pflichtenethik Kants

Mittel für andere Zwecke wäre. Da vernünftiges Handeln aber Menschen als vernünftigen Subjekten zukommt, ist das handelnde menschliche Subjekt aufgrund seiner Vernunft ein Selbstzweck.3 Ein solcher Selbstzweck aber kann nie ausschließlich als Mittel erscheinen. Daher kommt Kant zu einer weiteren Formulierung des kategorischen Imperativs:

Selbstzweck

(4) „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“4

Kant hält die beiden Formulierungen (3) und (4) für äquivalent und für nur unterschiedliche Ausdrucksweisen desselben kategorischen Imperativs. Wahrscheinlich ist dies aber nicht der Fall. Ohne eine ganze Reihe von zusätzlichen Definitionen, Begriffen und Gleichsetzungen kommt man kaum von (3) auf (4) oder umgekehrt. Tatsächlich handelt es sich also um zwei verschiedene Imperative, die mit unterschiedlichen Argumentationen gewonnen werden, die aber dabei durchaus eine wichtige Gemeinsamkeit aufweisen: Beide beruhen u.a. notwendigerweise auf einer Generalisierbarkeitsannahme und auf einer Verallgemeinerungsannahme, die wir hier beide mit v. Kutschera formulieren: (5) Generalisierbarkeitsannahme: „Für alle Personen x und y gilt: Ist es x unter der Bedingung B geboten, A zu tun, so auch y.“5

Generalisierbarkeitsannahme

(6) Verallgemeinerungsannahme: „Wäre es schlecht, wenn alle Leute (einer bestimmten Gruppe P) eine Handlungsweise F vollzögen, so darf keiner (aus P) F tun.“6

Verallgemeinerungsannahme

Fazit 29 Der kategorische Imperativ Kants unterscheidet sich von hypothetischen Imperativen, d.h. Pflichten, die nur unter bestimmten Bedingungen gelten, dadurch, dass er Allgemeingültigkeit beansprucht und gemäß dem Selbst des Menschen als Vernunftwesen – d.h. in Autonomie – einsehbar ist. Er setzt die Generalisierbarkeitsannahme und das Verallgemeinerungsprinzip voraus. Er wurde von Kant unterschiedlich ausgedrückt. Die beiden bekanntesten Ausdrücke sind die Universalisierungsformel („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“) und die Selbstzweckformel („Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“).

3 4 5 6

Vgl. Kant, I., GMS AA, 427–429. Vgl. Kant, I., GMS AA, 429. Kutschera, F.v., Grundlagen der Ethik, 33. Kutschera, F.v., Grundlagen der Ethik, 36.

112

Regeln und Pflichten

6.2 Kritik der Pflichtenethik Kants

Formalismus

Eine schnell einzusehende Tatsache, die Kant auch gar nicht bestreitet, ist, dass seine Ethik rein formal bleibt. Bedenkt man, dass Kant ja die Frage, wie wir handeln sollen, beantworten will und dass jegliches Handeln immer konkretes Handeln sein wird, wird man bei dem kategorischen Imperativ – bzw. den kategorischen Imperativen – nicht stehen bleiben können, sondern es ist zu überprüfen, ob einzelne inhaltliche Gebote dem kategorischen Imperativ entsprechen. Und in der Tat nimmt bei Kant der Nachweis, dass bestimmte Gebote dem kategorischen Imperativ entsprechen und andere nicht, mehr Raum ein als die Begründung selbst. Alle diese Beispiele können aber nicht als Ableitungen im strengen Sinne gelten; vielmehr zeigt sich, dass Kant in der inhaltlichen Ausgestaltung durchaus Kind seiner Zeit und Umstände geblieben ist. Kants kategorischer Imperativ bleibt also notwendigerweise formal, und es führt kein Weg zu konkreten Pflichten.7 Darüber hinaus ist aber darauf hinzuweisen, dass auch der kategorische Imperativ selbst erstens nicht genügt, eine universal einsehbare Ethik zu begründen, zweitens auch zu verheerenden Ergebnissen führen kann und drittens selbst keinesfalls eine allgemein einsehbare Ableitung aus einer allgemeinen Vernunft darstellt, sondern eine weltanschauliche Gewissheit, die angenommen werden kann, aber nicht muss. Erstens ist das formale Prinzip Kants nach (3) wie auch die Generalisierungsannahme nach (5) und das Verallgemeinerungsprinzip nach (6) ungenügend, um bestimmte, im Allgemeinen als gültig angenommene Prinzipien zu begründen. (7) Betrachten wir zwei Personen, Anna und Bertram, die verheiratet sind. Für Anna ist es geboten, Bertram mit ehelicher Liebe zu lieben. Für eine mit dem Paar befreundete, weitere Person Carla ist es aber nicht geboten, Bertram ebenso zu lieben. Dieses Beispiel bedeutet noch kein Problem für den kategorischen Imperativ, denn dieser beruht ja auf der Generalisierungsannahme (5). Und danach ist es nicht jeder Person geboten, die Handlung, die für eine Person geboten ist, auszuführen, sondern nur solchen Personen, die unter den gleichen Umständen und Bedingungen B stehen. Wenn es also Anna, unter dem Umstand, dass sie mit Bertram verheiratet ist, geboten ist, Bertram ehelich zu lieben, so ist es auch Carla unter dem Umstand, wenn sie mit Bertram verheiratet wäre, geboten, Bertram zu lieben. Da Letzteres nicht 7 Hegel meinte dann auch, mit Kants Formalismus ließe sich alles unmoralische Handeln rechtfertigen, was später auf bittere Weise bestätigt wurde, als sich der Kriegsverbrecher Adolf Eichmann in seinem Prozess auf Kant berief, vgl. Pannenberg, W., Grundlagen der Ethik, 54.

113

Kritik der Pflichtenethik Kants der Fall ist, entsteht hier schlicht kein Problem. Eheliche Liebe, Liebe zwischen bestimmten Eltern und Kindern und anderes bildet also kein Problem für den kategorischen Imperativ und die Generalisierungsannahme. (8) Die Situation lässt sich aber leicht abwandeln, wenn man das sog. Schwarzfahrerproblem8 betrachtet: Schwarzfahren ist verboten, denn wenn alle schwarzführen, könnten öffentliche Verkehrsmittel nicht finanziert werden. Dies ist einsichtig, lässt sich aber weder mit dem kategorischen Imperativ noch mit der Generalisierungsannahme noch mit der Verallgemeinerungsannahme begründen: Armin entscheidet sich unter der Bedingung B, dass er weiß, dass eine signifikante Zahl der Fahrgäste gezahlt hat, dafür schwarzzufahren. Dabei handelt er nach der Maxime, dass es ein allgemeines Gesetz sein kann, dass jeder, der an seiner Stelle stünde, genauso handeln kann. Denn „an Armins Stelle“ zu stehen, bedeutet ja gerade zu wissen, dass eine signifikante Zahl der Fahrgäste gezahlt hat. Jeder, der also weiß, dass die Mehrheit wirklich gezahlt hat, könnte nach dieser Logik der Generalisierbarkeitsannahme schwarzfahren. Das Gleiche gilt auch für die Verallgemeinerungsannahme: Zwar könnte man formulieren: „Wenn es schlecht ist, wenn alle aus der Gruppe der Fahrgäste nicht zahlen, so darf keiner aus der Gruppe der Fahrgäste nicht zahlen“, was einen korrekten Anwendungsfall von (6) darstellt. Allerdings könnte Armin argumentieren: Es gibt gar nicht einfach die Gruppe der Fahrgäste, sondern die beiden Gruppen der zahlende Fahrgäste X und die zahlenmäßig als Ausnahme erscheinende Gruppe der nicht zahlenden Fahrgäste Y. Nun ist es aber eindeutig nicht schlecht, wenn alle aus der Gruppe Y nicht zahlen, also kann auch ein Einzelner aus der Gruppe Y nicht zahlen. Auch dies ist eine korrekte formale Anwendung der Verallgemeinerungsannahme (6). Man mag Armin entgegen halten, dass er die Gruppen hier falsch gebildet habe und dabei recht haben. Aber dass dies so ist, ist eine rein inhaltliche und materiale Behauptung, keine formale Ableitung des Prinzips.

Schwarzfahrerproblem

Zweitens führt der kategorische Imperativ, wird er angewandt und konkretisiert, mitunter zu verheerenden Geboten, die im Allgemeinen gerade nicht dem ethisch Guten oder Vorzuziehenden dienen, sondern im Gegenteil dem, was von den meisten Menschen für ethisch schlecht gehalten wird: Das berühmteste Beispiel gibt Kant selbst, der auf die Frage, ob man lügen dürfe, wenn man von einem Mörder gefragt würde, ob der als Mordopfer ausersehene Freund anwesend sei, antwortet: „Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem andern daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen“.9 Aus Kants Sicht handelt es sich dabei um eine eindeutige Anwendung des kategorischen Imperativs: Die Folgen einer Handlung (der Tod des Freundes) spielen genauso wenig eine Rolle wie die Präferenzen (der Wunsch, der Freund möge leben) für die ethische Beurteilung. Allein die 8 9

Vgl. Pannenberg, W., Grundlagen der Ethik, 55. Kant, I., Aus Menschenliebe zu lügen, 638.

Lüge

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Regeln und Pflichten Gesinnung der Pflicht nach dem kategorischen Imperativ zählt hier. Allerdings zeigen sich bedeutende Unterschiede: Während man den kategorischen Imperativ nach der Form (3) durch Kant gewahrt sieht, wird man nicht so leicht sagen können, die Zweck-an-sich-Formel aus (4) oder die Generalisierungsannahme aus (5) brächten hier die gleichen Ergebnisse. Die Zweckan-sich-Formel ließe nämlich die Bedingung der Lüge zum Schutz des Lebens zu: Sie würde dann besagen, dass Personen auch nicht zum reinen Medium der Pflichterfüllung oder Sittlichkeit werden dürfen.

Kants kategorischer Imperativ ist aber nicht nur zu formal, zu eng und zu weit, sondern eben gerade nicht durch eine allgemeingültige Vernunft zu erweisen. Kants Argumentation ist abhängig von zahlreichen ontologischen oder weltanschaulichen Grundannahmen: – von der deterministischen Sicht der Natur als Reich der Notwendigkeit (die heute in der Regel nicht mehr vertreten wird) und dem damit korrelierten Reich der Freiheit und der Vernunft; – von der Auffassung, dass es nicht-empirische – d.h. apriorische und nicht kulturrelative – Standards der Vernunft gäbe, die ein hohes Maß an materialen Inhalten enthielte; – von der Auffassung von Raum und Zeit als Formen der Anschauung; – von Kants Kategoriensystem; – von der Annahme, eine bestimmte Argumentationslogik sei allgemeingültig; – von der Annahme, Sollen impliziere Können; – von der Annahme, Präferenzen seien immer egoistisch und als solche keiner ethischen Betrachtung wert etc.10 Fazit 30 Kants kategorische Imperative stellen entgegen dem eigenen Anspruch keine allgemeingültige, für alle durch Vernunft einsehbare Ethik dar. Vielmehr ist die Akzeptanz abhängig von unterschiedlichen weltanschaulichen Annahmen, die jeweils unbegründbar sind. Inhaltlich hat der kategorische Imperativ das Problem, rein formal zu bleiben, bestimmte im Alltag als gültig angenommene Grundsätze nicht begründen zu können (Schwarzfahrerproblem), so dass er zu weit ist, und andererseits bestimmte andere ethische Grundsätze auszuschließen (Problem der Notlüge), so dass er zu eng ist.



Literaturempfehlung Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, Akademie Ausgabe Bd. 5, Berlin 1908. Kant, Immanuel: Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen, in: Weischedel, W. (Hg.), Immanuel Kant – Werke in 12 Bänden, Frankfurt/M. 1960, 637–643. Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Stuttgart 1974.

10 Vgl. auch den instruktiven Aufsatz Härle, W., Die weltanschaulichen Voraussetzungen.

7. Liebe

Gebote und Pflichten spielen 1 auch in der christlichen und Person 1c biblischen Tradition eine 2 Vernunft 1b andere Affekte nicht unerhebliche Rolle. TeiPersonen le der Aufklärungstheologie 3 sahen in Kants praktischer 1a natürliches Wille Geschehen Vernunft geradezu eine Explikation des Grundanliegens christlicher Ethik. So 4a 9 empirische Ergebnis sah etwa Ende des 19. Jh. AlGewissheiten brecht Ritschl (1822–1888) 4 Gewissheiten im kategorischen Imperativ 4b 8 religiöse tatsächlich das GrundanlieZiele Gewissheiten gen christlicher Ethik ausgesprochen, und sein Begriff des 7 5 Erwartungen Regeln 6 Reiches Gottes kulminierte Mittel im Reich der Zwecke, das die Erfüllung des kategorischen Imperativs bedeute. Wie Kant Abb. 19: Regel- und Pflichtethiken, christliche Perspektive ging auch Ritschl davon aus, dass der kategorische Imperativ im Prinzip vernünftig einsehbar sei. Nun hatte schon Kant beobachtet, dass der Mensch einen Hang hat, gerade nicht nach dem kategorischen Imperativ zu handeln, sondern bösen Maximen zu folgen, was er in Parallelität zur christlichen Erbsündenlehre als das „radikal Böse“ bezeichnet hatte.1 Ritschl ging das radikal Böse allerdings noch darüber hinaus, indem er die Erfüllung des kategorischen Imperativs nur aufgrund des Opfers Christi am Kreuz für möglich hielt, wodurch Christus zum Gründer des Reiches Gottes – d.h. zum Erstling und Ermöglichungsgrund des Handeln gemäß dem Sittengesetz des kategorischen Imperativs – geworden sei.2 Sind solche und andere Inanspruchnahmen Kants von christlicher Seite aus begründet und gerechtfertigt? Und falls ja, partizipiert die christliche Ethik an den bei Kant diagnostizierten Schwächen? Will man solche Fragen klären, wird man sich den spezifisch christlichen Auffassungen von Geboten und Pflichten zuwenden müssen. Wir werden dies im Folgenden tun, indem wir über den Dekalog, das 1 2

Vgl. Kant, I., Religion innerhalb AA, 37. Vgl. Mühling, M., Versöhnendes Handeln, 74–76.

116

Liebe

Doppelgebot der Liebe, die Goldene Regel, das Gebot der Feindesliebe und das Gebot der Bruderliebe ausführlich sprechen.

7.1 Der Dekalog Dekalog

Universalisierung

Zehnereinteilung

Bilderverbot

Mit Dekalog wird eine Gebotsreihe bezeichnet, die in Ex 20,1–17 und Dt 5,6–21 mit leicht abweichendem Wortlaut überliefert ist und die eine lange Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte hinter sich hat. In der heute vorliegenden Textgestalt erscheint sie als gottgegebene Gebotsreihe, die die Gemeinschaft zwischen Gott und den Israeliten, nachdem diese durch die Befreiungstat der Herausführung aus Ägypten durch Gott konstituiert wurde, weiterhin reguliert. Die Einzelgebote haben unterschiedliche Längen und einen unterschiedlichen Inhalt, der je nach Rezeptionszeit unterschiedlich verstanden wurde. So wurde beispielsweise vermutet, dass das Tötungsverbot sich ursprünglich nur auf den männlichen erwachsenen Angehörigen der eigenen Sippe bezog.3 Es liegt aber auf der Hand, dass im Laufe der Zeit dieses und die anderen Gebote universalisiert und gleichsam auf alle Menschen ausgedehnt wurden. Diese Universalisierung kommt etwa bei Luther dadurch zum Ausdruck, dass er dem Dekalog nicht einfach die heilsgeschichtliche Begründung der Gottestat der Herausführung im Exodus gibt, sondern die Begründung schöpfungstheologisch-anthropologisch versteht.4 Diese Geschichte der Inanspruchnahme des Dekalogs zeigt damit sehr schön: Zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort geschichtlich gewachsene Gebote werden universalisiert und erheben nun universalen Anspruch. Offensichtlich wurde und wird beides nicht als einander ausschließend verstanden. Nicht nur die christliche Tradition, sondern auch andere Religionen können sich des Dekalogs bedienen.5 „Dekalog“ wird im Deutschen mit „Zehn Gebote“ übersetzt. Dennoch handelt es sich nicht einfach um zehn Gebote. Betrachtet man den Text, erscheint die Zahl zehn eher willkürlich. Die Zehnereinteilung hat also praktische Gründe und wird in unterschiedlichen Traditionen unterschiedlich vorgenommen. Die reformierten, orthodoxen und anglikanischen Kirchen zählen das Bilderverbot als eigenes 3 Vgl. Schüngel-Straumann, H., Der Dekalog, 42–45. 4 Vgl. Härle, W., Ethik, 169. 5 Die Dekalogtexte selbst spielen in der jüdischen Tradition eine bedeutende Rolle; der Qu’ran der islamischen Religion kennt den Dekalog nicht, aber die einzelnen Gebote finden Analogien, ähnlich verhält es sich in vielen anderen Religionen. Für eine kurze Übersicht materialethischer Themen in verschiedenen Religionen vgl. Klöcker, M./Tworuschka, U.H., Ethik der Weltreligionen.

117

Der Dekalog

Gebot und fassen das 9. und 10. Gebot zu einem Gebot zusammen. Sachlich schließt sich dem die Deutung an, dass es hier nicht um ein Verbot von Bildern und Götterstatuen der Götter anderer Religionen und Gemeinschaften gehe, sondern dass es sich auf den eigenen Gott beziehe. Die lutherischen und röm.-kath. Kirchen hingegen zählen das Bilderverbot nicht als eigenes Gebot, sondern betrachten es entsprechend als Teil des ersten Gebots, so dass sich die Zehnerzahl nur ergibt, wenn das – reformiert verstandene – 10. Gebot nun in ein 9. und 10. Gebot aufgeteilt wird. Entsprechend ergibt sich in beiden Traditionen eine unterschiedliche Zählung. Folgt man, wie wir hier, der lutherischen Tradition, bedeutet das nicht, dass das Bilderverbot nicht wichtig wäre. Es steht aber sachgemäß beim ersten Gebot: Ob nun fremde Götter oder der eigene Gott bildlich abgebildet und begriffen werden – in beiden Fällen besteht die Gefahr, die Abbildung oder den Begriff Gottes mit dem zu verwechseln, was Gott wirklich ist als das, „was uns unbedingt angeht“6 oder woran der „Mensch sein Herz hängt“.7 Diese Verwechselung des Bedingten mit dem Unbedingten kann mit Paul Tillich (1886–1965) daher als das Dämonische bezeichnet werden, das immer dann auftritt, wenn Vorletztgültiges vom Menschen mit eschatischer oder letztgültiger Würde betrachtet wird. Diese Abwehr ist aber genau das Thema des 1. Gebots, so dass das Bilderverbot sachlich zum 1. Gebot gezählt werden kann. Darüber hinausgehend wird man christlicherseits betonen müssen, dass das Bilderverbot nicht literalistisch misszuverstehen ist: Da Gott in Christus Mensch geworden ist und daher Christus tatsächlich das wahre Bild Gottes ist, kann mit dem Bilderverbot keine radikale Transzendenz Gottes oder ein Nichtoffenbarsein Gottes gemeint sein; menschliche zeichenhafte Deutbarkeit Gottes aufgrund der Selbstdeutung Gottes darf daher nicht ausgeschlossen werden. In der christlichen Tradition wird der Dekalog mit der Rede von den „zwei Tafeln“ unterteilt: Die erste Tafel wird von den Geboten 1–3 (Gebote gegen Gott) gebildet, die zweite Tafel von den Geboten 4–10 (Gebote gegen den Nächsten). Auf diese Weise dient das Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe als Zusammenfassung, Auslegungs- und notfalls Korrekturregel der Zehn Gebote. Exemplarisch hat Martin Luther dieses Verfahren in seiner Auslegung im Großen Katechismus durchgeführt.8

6 Tillich, P., ST I, 247–251. 7 Luther, M. in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, BSLK 560. 8 Vgl. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-luhterischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, BSLK 560ff.

das Dämonische

zwei Tafeln

118

Liebe Luthers Auslegung

Darüber hinaus ist Luthers Auslegung dadurch bestimmt, dass alle Gebote aus dem ersten Gebot fließen und dass er die einseitige Gebots- und Verbotsform jeweils ergänzt durch die entsprechenden positiven oder negativen Formulierungen. Könnte man aus dem Text des Dekalogs aufgrund des Übergewichts von Verbotsformulierungen zunächst den Eindruck bekommen, es ginge hier weniger um eine Beförderung des Guten als um eine Hinderung des Bösen,9 so wird der Dekalog durch dieses Verfahren zur materialethischen Explikation des Doppelgebots der Liebe.

1. Gebot

So wird das erste Gebot – „DU solt nicht andere Gotter haben“ (WA 30I, 132) – erklärt mit der grundlegenden und positiven Formulierung, einen Gott zu haben bedeute, ihm von Herzen zu glauben und zu vertrauen bzw. sein Herz daran zu hängen. Rechtes Vertrauen bedeutet dabei, sich alles Guten zu versehen und Zuflucht in allen Nöten zu suchen beim dreieinigen Gott. Wird diese Haltung unbedingten, existenzbestimmenden Vertrauens auf andere Instanzen gerichtet – wie materieller Besitz (gleichgültig, ob man diesen tatsächlich besitzt oder nur gern besäße), Macht, Klugheit und Wissen, Ehre, Freundschaft, Gesundheit etc. –, handelt es sich um falsches Vertrauen und um Abgötter. Ferner kann man auch den dreieinigen Gott selbst zum Abgott machen, indem man sich ihm nicht in der Haltung unbedingten existenzbestimmenden Vertrauens zuwendet, sondern sich ihm berechnend, mit verdienstlichen Absichten nähert, also indem man sein Gottesverhältnis nicht als eine Liebesbeziehung, sondern als eine Handelsbeziehung deutet.10 Beim zweiten Gebot – „DU solt Gottes namen nicht vergeblich füren“ (WA 30I, 139) – stellt Luther dem Missbrauch der Lüge und des Fluchens im Namen Gottes den positiven Gebrauch gegenüber, der im regelmäßigen, täglichen Lob-, Dank- und Bittgebet besteht, d.h., dass man sich „gewehne teglich Gotte zu befelhen mit seel und leib, weib, kind, gesind und was wir haben“ (WA 30I, 142). Die positive Formulierung des 3. Gebots – „DU solt den Feyertag heiligen“ (WA 30I, 143) –, die im Hören des Wortes Gottes besteht, das allein heilig zu machen vermag, wird um das Verbot der Entheiligung ergänzt, welche geschieht, wenn man sich nicht Gottes Wort aussetzt oder es nicht mit Ernst hört oder sich selbst richtend darüber stellt. Das 4. Gebot – „DU solt dein vater und mutter ehren“ (WA 30I, 147) – wird von Luther auch genutzt, um das Verhältnis zu anderen Vorgesetzten und zum Staat zu klären. Auch hier gibt es entsprechende negative Verbotsformulierungen. Dem Gehorsam von Kindern und anderen Untergebenen entspricht das Verbot des Missbrauchs des Autoritätsgefälles durch Eltern und Vorgesetzte. Das 5. Gebot – „DU solt nicht tödten“ (WA 30I, 157) – bezieht sich bei Luther nicht nur auf den Mord, sondern auf das generelle Verbot, jemandem Leid anzutun und zwar nicht erst bei der vollzogenen Tat, sondern schon bei der

2. Gebot

3. Gebot

4. Gebot

5. Gebot

9 Vgl. Härle, W., Ethik, 173. 10 Vgl. Luther, M., WA, Bd. 30I, 132–139.

119

Der Dekalog Absicht. Auch dieses wird durch eine positive Formulierung ergänzt: „Daruemb ist die endliche meinung Gottes, das wir keinem menschen leid widderfaren lassen, sondern alles gut und liebe beweisen.“11 Das 6. Gebot – „DU solt nicht ehebrechen“ (WA 30I, 160) – bezieht sich nicht nur auf den vollzogenen Ehebruch, sondern auch auf das Verbot unkeuscher Gedanken oder Worte. Positiv entspricht ihm die Treue und der Respekt der Ehegatten. Luther verbindet damit auch ein Gebot zur Ehe und ein Verbot des Zölibats. Das 7. Gebot – „DU solt nicht stelen“ (WA 30I, 163) – bezieht sich nicht nur auf das Verbot des Diebstahls, sondern auch auf Übervorteilung, Nachlässigkeit und Unzuverlässigkeit sowie Neid. Ihm entspricht das positive Gebot, das Eigentum des anderen zu schützen und zu befördern sowie die Aufgabe des Staates, eine regulierte Wirtschaftsordnung zu garantieren. Das 8. Gebot – „DU solt nicht falsch gezeugnis reden widder deinen nehisten“ (WA 30I, 169) – erhält eine besonders spannende Auslegung: Es geht nicht nur um das Verbot des falschen Zeugnisses vor Gericht, um das Verbot der üblen Nachrede und Verleumdung sowie um das Verbot, über den Nächsten im eigenen Urteil negativ zu richten, sondern auch um das Gebot, den Ruf des Nächsten positiv zu stärken, und zwar auch dann, wenn man von dessen Fehlern und Sünden weiß. Im Einzelfall kann dieses Gebot daher nicht nur das Schweigen über die Fehler des anderen, sondern auch das „Zudecken“ (und damit gewissermaßen das Sagen der Unwahrheit zugunsten des Nächsten) beinhalten: Es geht darum, „seine zunge brauchen und dienen lassen von yderman das beste zureden, seine sunde und gebrechen zudecken, entschuldigen und mit seiner ehre beschoenen und schmuecken.“12 Hier korrigiert gewissermaßen das Liebesgebot und die regulative „Goldene Regel“ den eigentlichen Wortlaut des Gebots. Das 9. und 10. Gebot – „DU solt nicht begeren deines nehisten haus. DU solt nicht begeren seines weibs, knecht, magd, viehe odder was sein ist.“ (WA 30I, 174) – wird von Luther zusammen besprochen; hier geht es nicht nur um das Verbot des Geizes und der Habgier, sondern um das Gebot der Gunst, des Wohlwollens und der Förderung des Besitzes des anderen.

Eine weitere Entfaltung oder Besprechung des Dekalogs wäre ein Gegenstand der materialen Ethik, die nicht Aufgabe dieses Buches ist. Da mit der Aufteilung in eine erste und eine zweite Tafel das Doppelgebot der Liebe hermeneutischer Schlüssel zum Dekalog ist, wenden wir uns nun diesem zu.

11 Luther, M., WA 30I, 159. 12 Luther, M., WA 30I, 173.

6. Gebot

7. Gebot

8. Gebot

9. und 10. Gebot

120

Liebe

Fazit 31 Der Dekalog ist eine Sammlung von Geboten, die partikular historisch-kontingent entstanden sind, aber universalen Anspruch erheben. Die Bedeutung der Gebote hat sich im Laufe der Zeit, der Gemeinschaft und der Religion, für die sie galten und gelten, verändert. Die Zehnerzahl ergibt sich aus pragmatischen Gründen der Erinnerungsfähigkeit und wird je nach Konfession anders konstruiert – je nachdem, ob man das Bilderverbot als Teil des ersten Gebots betrachtet oder nicht. Luther nutzt als hermeneutische Auslegungsregel des Dekalogs die Doppelregel der Liebe, deren Konkretion der Dekalog darstellt. Dies zeigt sich einerseits in der Aufteilung in zwei Tafeln, indem sich die Gebote 1–3 auf die Liebe zu Gott (erste Tafel) und die Gebote 4–10 auf die Liebe zum Nächsten (zweite Tafel) beziehen. Dies zeigt sich andererseits auch darin, dass Luther den meist negativen Formulierungen durch Verbote auch Gebote positiven Handelns an die Seite stellt.

7.2 Die Doppelregel der Liebe

Innovationen

totus homo

Die Gebote der Nächstenliebe und der Gottesliebe finden sich unabhängig voneinander im at. Schrifttum (Lev 19,18 + Dt 6,5). Dennoch handelt es sich bei deren nt. Zusammenstellung nicht um eine einfache Übernahme aus der Tradition, sondern es finden tatsächliche Innovationen statt: 1. Die Zusammenstellung und die zentrale Rolle als Richtschnur der Auslegung aller anderen Gebote findet sich erst neutestamentlich (Mk 12,30f. parr). 2. Der Zusatz zum Gebot der Gottesliebe „von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allem Vermögen“ ist dabei nicht so zu verstehen, als würde es sich um eine besonders gesteigerte Intensität affektiver Liebe handeln, sondern Herz, Seele und Vermögen sind Ausdrücke für den ganzen Menschen, den totus homo mitsamt all seinen Vermögen wie Vernunft, Wille und Affekten. Obwohl sich dieser Zusatz nur beim ersten Gebot wörtlich findet, zeigt der Umgang Jesu mit den beiden Geboten, dass er sachlich auch auf das Gebot der Nächstenliebe zutrifft. Denn neu ist im Munde Jesu eine Radikalisierung und Verinnerlichung aller Gebote auf Basis des Nächstenliebegebots: Einen Verstoß gegen das Gute stellt bereits die Absicht, ja schon der affektive unausdrückliche Wunsch etwa eines Begehrens oder nicht-liebenden Verhaltens gegenüber dem Nächsten dar, der vom Reich Gottes ausschließt (Mt 5,21f.; 5,27–30; etc.). Auch die Nächstenliebe wird also vom totus homo einschließlich all seiner Fähigkeiten verlangt. Der Zusatz zum Gebot der Gottesliebe ist damit sachlich auf das der Nächstenliebe ausgeweitet.13

121

Die Doppelregel der Liebe

Damit entsteht freilich in beiden Fällen – in dem der Gottesliebe wie in dem der Nächstenliebe – ein gravierendes Problem. Es geht jedenfalls nicht einfach um Fairness Gott oder dem Nächsten gegenüber und es geht gerade nicht – wie im Falle von Kants kategorischem Imperativ – um die voluntative, an der Vernunft ausgerichtete Maxime des Handelns. Es geht auch nicht einfach um Altruismus.14 Vielmehr wird etwas geboten, über das der Mensch überhaupt keine Verfügungsgewalt hat: sein affektiver Zustand. Was immer „Liebe“ hier inhaltlich bedeuten mag, auf alle Fälle sind positive Affekte oder Gefühle mitgeboten; was immer man zu tun hat, man hat sich darüber auch zu freuen. Damit hat das Gebot aber die Struktur eines pragmatischen Selbstwiderspruchs wie auch etwa das Gebot „Sei jetzt spontan!“15 Aber im Unterschied zu „Sei jetzt spontan!“ handelt es sich nicht um einen wirklichen Widerspruch, eine Antinomie, sondern es steckt ein tieferer Sinn dahinter. In seiner Struktur als pragmatischer Selbstwiderspruch wird das Doppelgebot der Liebe als „Gesetz“ im Unterschied zum „Evangelium“ ansichtig. Es erfüllt eine wichtige Funktion: Im Anschluss an paulinische Aussagen wurde von der Tradition die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium entwickelt. Gesetz ist dabei das, was Gott vom Menschen getan haben will, Evangelium das, was Gott für den Menschen tut. Beides ist vom Inhalt her die Liebe zu Gott und zum Nächsten, lediglich die Form variiert. Das Gesetz besagt Op: „Du sollst (O) lieben von ganzem Herzen (p).“ Der Mensch erkennt daran den Ernst der Sünde, denn er kann diesem Gebot gar nicht nachkommen. Sollen impliziert also im Unterschied zu Kant nach christlicher Vorstellung keineswegs Können, sondern hier sogar Nicht-Können. Damit ist die Realität und der Ernst der Sünde erst erschlossen: Sie ist so mächtig, dass alle Fähigkeiten des Menschen verdorben sind und er aus sich selbst nichts als das Schlechte tun kann. In lutherischer Tradition hat man dies den usus elenchticus sive theologicus des Gesetzes genannt – die überführende oder theologische Funktion des Gesetzes. Das Evangelium ist vom Inhalt her gleich, hat aber eine andere Funktion, nämlich die Funktion der promissio oder des Versprechens Ep: „Ich verspreche dir, du wirst (E) lieben von ganzem Herzen (p).“ Dieses Versprechen ist Gottes Handeln am Menschen, der durch die Inspiration des Heiligen Geistes nicht nur die Plausibilität der Botschaft des Evangeliums bewirkt, sondern auch die Affekte des Menschen wandelt. Denn nichts kann einen Affekt besiegen als ein stärkerer Affekt. Aufgrund der Freude und Dankbarkeit Christus 13 Die Ansicht, wie sie etwa von Härle, W., Ethik, 184f. vertreten wird, nach der die Nächstenliebe „nicht ‚von ganzem Herzen […]‘ gefordert ist, sondern ‚nur‘ ‚wie dich selbst‘“, erscheint daher nicht haltbar. 14 Zum Verhältnis von Altruismus und Liebesgebot vgl. Meisinger, H., Liebesgebot und Altruismusforschung, und jetzt auch Klein, R.A., Sozialität als Conditio Humana. 15 Vgl. Watzlawick, P., Anleitung zum Unglücklichsein.

affektiver Zustand

pragmatischer Selbstwiderspruch

Gesetz und Evangelium

usus elenchticus promissio

122

Liebe

Reihenfolge

Fehldeutungen

gegenüber für sein Versöhnungshandeln in Leben, Kreuz und Auferstehung gelingt es dem Menschen nun spielerisch und spontan, sowohl Gott als auch den Nächsten „von ganzem Herzen“ zu lieben, womöglich ohne dass es ihm bewusst wird. Die Streitfrage des 20. Jh., ob es eine spezifische Reihenfolge von Gesetz und Evangelium gebe, erübrigt sich von dieser Analyse herkommend: Werner Elert (1885–1954) hatte behauptet, stets müsse die Predigt des Gesetzes der Predigt des Evangeliums vorausgehen und Evangelium und Gesetz verhielten sich strikt kontravalent zueinander.16 Dem hatte Karl Barth (1886–1968) widersprochen, wenn er die Reihenfolge „Evangelium und Gesetz“ für die richtige hielt.17 Von ihrem Inhalt her sind Gesetz und Evangelium aber identisch, beides ist die Liebe zu Gott und zum Nächsten (p), so dass man mit Barth in der Tat sagen kann, dass auch das Gesetz Evangelium ist und das Evangelium Gesetz, wenn man nur auf den Inhalt achtet, der in beiden Fällen nicht überholt werden kann, sondern unbedingte Gültigkeit hat. Das Evangelium ist daher in der Tat die Erfüllung des Gesetzes, denn es sagt, woher der Mensch das, was ihm geboten ist und was er aus eigenem Vermögen nicht tun kann, nehmen soll.

Die Funktion des Doppelgebotes der Liebe als Gebot ist daher die Einsicht, dass es dem Menschen unmöglich ist, das wirklich Gute (und nicht nur Vorzuziehende) aufgrund eigenen Vermögens zu tun. Das entschuldet den Menschen aber gerade nicht, es gar nicht zu versuchen, wenn auch jeder aktive Versuch der voluntativen Affektsteuerung nur fehlschlagen kann. Damit erscheinen jedenfalls zwei beliebte Fehldeutungen des Doppelgebots der Liebe ausgeschlossen: Ausgeschlossen ist einerseits, im Alltag auf das Doppelgebot zu verzichten und nach anderen, bequemeren ethischen Regeln Ausschau zu halten. Das Doppelgebot gilt unbedingt, jederzeit und allerorts. Andernfalls könnte es seine die Sünde aufdeckende Funktion überhaupt nicht wahrnehmen. Ausgeschlossen ist aber andererseits auch jeder ethische Rigorismus, der verlangt, tatsächlich im Alltag – so gut es eben geht – alles zu tun, um zu einer vermeintlichen Gesetzeserfüllung zu kommen, wie etwa sich tatsächlich jeden Eigentums zu entledigen und auf die anderen, die jenes nicht tun, als unverständig herabzusehen. Wer sich seines Eigentums entledigt, ohne dabei wirkliche, vollständige Freude zu spüren oder wer sich dabei selbst für ethisch vorzüglich und das Richtige tuend richtet, der erfüllt das Doppelgebot der Liebe genauso wenig wie ein vorsätzlicher Raubmörder. Selbstverständlich würde eine solche Person ethisch vorzüglicher handeln als ein vorsätzlicher Raubmörder. Beim Doppelgebot der Liebe geht es jedoch nicht darum, was ethisch vorziehbar, son16 Vgl. Slenczka, N., Selbstkonstitution und Gotteserfahrung, 266–287. 17 Vgl. Barth, K., Evangelium und Gesetz. Zur Thematik vgl. auch Yang, C.-H., Begründung der Ethik bei Barth und Elert.

123

Die Doppelregel der Liebe

dern darum, was wirklich und ohne quantitative Vergleichbarkeit das Gute selbst ist. Eine bis heute umstrittene Deutung hat der Zusatz zum Nächstenliebegebot „wie dich selbst“ gefunden. Dabei sind ohne Anspruch auf Vollständigkeit mindestens vier unterschiedliche Deutungen vertreten worden: 1. Die psychologistisch-konstitutive Deutung: Die Selbstliebe des Menschen ist eine Bedingung der Nächstenliebe. Wer sich zuerst nicht selbst liebt, kann auch seinen Nächsten nicht lieben. So beliebt diese Deutung auch sein mag, sie entspricht nicht dem christlichen Wirklichkeitsverständnis. Denn dem eigenen Subjekt gebührt kein Vorzug gegenüber dem Nächsten. Vielmehr sind beide gleichursprünglich Geschöpfe und Ebenbilder Gottes. Diese Deutung ist daher abzulehnen. 2. Die psychologistisch-inhaltliche Deutung: Hier ist das vorgängige Vorhandensein von Selbstliebe zwar keine Bedingung von Nächstenliebe, aber die Selbstliebe ist das Maß, an dem gemessen werden kann, wie der Nächste zu lieben ist.18 Diese Deutung vermeidet die falsche Vorgängigkeit der Selbstliebe. Sie nimmt diese nur als Maß und Erkenntnisgrund der Art und Weise, wie der Nächste zu lieben ist. Damit entspräche diese Deutung in etwa der sog. „Goldenen Regel“ (s.u.). Aber auch diese Deutung ist offensichtlich nicht unproblematisch: Denn das Verhalten dem Nächsten gegenüber sollte sich nicht an den eigenen Wünschen und Vorstellungen – die ja unter sündhaften Bedingungen durchaus falsch sein können und meistens falsch sein werden – orientieren, sondern gerade auf die wahren Bedürfnisse des Nächsten eingehen. 3. Die speziesistisch-schöpfungstheologische Deutung: Exegetisch vertreten wurde auch die Meinung, die treueste Übersetzung laute: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du.“19 Man könnte diese Deutung auch „kantisch“ nennen, weil – wie im Falle der Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs Kants (s.o.) – hier das Handeln mit einer gemeinsamen Klassenzugehörigkeit, mit der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Spezies, begründet wird. Bei Kant war dies die Klasse der Personen, die wiederum durch Vernunftgebrauch bestimmt wird; worin die gemeinsame Klassenzugehörigkeit im Falle des Nächstenliebegebots bestünde, wird im Nächstenliebegebot selbst nicht ausgesprochen. Diese Deutung stellt vermutlich für Lev 19,18 die korrekte Deutung dar, und man kann die biblisch nicht angegebene, gemeinsame Klassenzugehörigkeit leicht ergänzen, indem man darauf hinweist, dass sowohl das Subjekt wie der Nächste auf alle Fälle zur gemeinsamen Klasse der Geschöpfe Gottes gehören. Dann würde die Formel besagen: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du Geschöpf Gottes.“

18 Die psychologistisch-qualitative Deutung wird gegenwärtig innerhalb der Theologie vertreten u.a. von Härle, W., Ethik, 185, wenn hier nicht gar an die psychologistisch-konstitutive Deutung gedacht ist. 19 Vgl. Schüle, A., Denn er ist wie Du.

„wie dich selbst“

Selbstliebe

„er ist wie du“

124 kontrafaktischepistemische Deutung

Liebe 4. Die kontrafaktisch-epistemische Deutung: Luthers Deutung erscheint geradezu eigenwillig: „Daher glaube ich, dass jenes Gebot, ‚wie dich selbst‘, nicht gebietet, dass der Mensch sich selbst lieben soll, sondern es wird die fehlerhafte Liebe aufgezeigt, durch die man sich de facto liebt, d.h. Du bist ganz in Dich verkrümmt und verdreht in Deiner Liebe, von der Du nicht frei wirst, es sei denn, Du hörst inwendig auf, Dich zu lieben und liebst selbstvergessen allein Deinen Nächsten. Denn es ist eine Verkehrtheit, dass wir von allen geliebt werden wollen und in allem das Unsere suchen. Richtig aber ist, dass Du in allem handelst nach dem umgekehrten Vermögen: So sehr Du durch all Deine Anstrengung jetzt das Schlechte tust, so sehr tue das Gute.“20 Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ob Luther hier gerade das Gegenteil des Wortlauts ausdrücken wolle: „Liebe deinen Nächsten anstatt deiner selbst.“ Aber das sagt er bei genauerem Hinsehen nicht. Vielmehr besagen seine Ausführungen: „Den gleichen Eifer, mit dem du dich jetzt unter der Sünde selbst liebst, diesen Eifer bringe deinem Nächsten entgegen.“ Indem es Luther dabei um die quantitative Stärke und den qualitativen Einbezug aller Seelenvermögen der Bemühung um (falsche) Selbstliebe als Maß für die richtige Nächstenliebe geht, vermeidet er auch den Fehler der psychologistisch-inhaltlichen Deutung, die eigenen Wünsche zum Maß der Nächstenliebe zu machen. Man wird also die kontrafaktisch-epistemische Deutung neben der speziesistisch-schöpfungstheologischen Deutung als sinnvoll anerkennen können.

Seinen Nächsten „wie sich selbst“ zu lieben heißt also, ihn zu lieben, weil er wie man selbst Geschöpf und Ebenbild Gottes ist, und darüber hinaus, dass das Gebot fordert, ihn mit der Stärke und umfassenden Qualität desjenigen Bemühens zu lieben, mit dem man sich als sündiger Mensch fälschlich um sich selbst kümmert. Selbstliebe ist damit jedenfalls nicht geboten, allerdings ist auch Selbstannahme eingeschlossen.21 Um dies sehen zu können, bedarf es, einen Schritt weiter zu gehen.

20 Luther, M., WA 56, 518: „Igitur Credo, Quod isto precepto ‚Sicut teipsum‘ Non precipiatur homo diligere Se, Sed ostendatur vitiosus amor, quo diligit se de facto, q.d. Curuus es totus in te et versus in tui amorem, A quo non rectificaberis […], Nisi penitus cesses te diligere et oblitus tui solum praximum diligas. Peruersitas enim est, Quod Volumus ab omnibus diligi et in omnibus querere, quae nostra sunt; Rectidudo autem ist, Vt si id omnibus facias, quod tibi fieri vis peruerse, Tanto studio facias malum, quanto faecisti bonum“. 21 Für ein sinnvolles Verständnis christlicher Selbstannahme vgl. Tietz, C., Freiheit zu sich selbst.

Die Doppelregel der Liebe

125

Fazit 32 Die beiden Teile der Doppelregel der Liebe – das Gebot der Gottesliebe und das Gebot der Nächstenliebe – finden sich beide unabhängig voneinander im AT. Neu im NT ist die Zusammenstellung zu einem Doppelgebot, die Bündelung aller Pflicht in diesem sowie die Verinnerlichung und der Bezug auf den ganzen Menschen einschließlich seiner Affekte. Es geht daher nicht um Fairness dem anderen gegenüber, sondern um eine Liebe, die den ganzen Menschen umfasst. Da der Mensch über seine Affekte nicht verfügen kann und seine Affektivität unter sündhaften Bedingungen gestört ist, wird die Doppelregel zum Gebot und Gesetz, das der Mensch nicht erfüllen kann. Das Doppelgebot hat so die Struktur eines pragmatischen Selbstwiderspruchs, der den Ernst des eigenen Unvermögens zum Guten aufdecken soll (usus elenchticus). Das Gesetz ist immer auf das Evangelium bezogen. Der Inhalt ist in beiden Fällen der gleiche: Die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Die Form variiert: Das Gesetz hat Gebotsform, das Evangelium die Form des Versprechens (promissio). Der Zusatz zum Nächstenliebegebot „wie dich selbst“ gebietet keine Selbstliebe, sondern es geht darum, den Nächsten wie sich selbst als Geschöpf Gottes zu erkennen und zu erkennen, dass er mit der gleichen Intensität und Qualität zu lieben ist, wie man sich auch in falscher Selbstliebe unter sündhaften Bedingungen liebt.

All unsere Ausführungen zum Doppelgebot der Liebe haben bislang eine Frage außer Acht gelassen: Was heißt es eigentlich, zu lieben? Liebe ist ein Wort, mit dem sich in Geschichte und Gegenwart so viele unterschiedliche Inhalte verbinden, dass jede Aufforderung zur Liebe geradezu unverständlich wird. Zu wissen, dass Affekte jedenfalls eingeschlossen sind (s.o.), ist noch zu wenig. Eine Möglichkeit, der Bedeutung auf die Spur zu kommen, wäre eine begriffsgeschichtliche Betrachtung: Amor (lat.), Eros (gr.) bezeichnet allgemein die aufgrund eines eigenen Mangels bestehende, begehrende Liebe; caritas (lat.), agape (gr.) als vorherrschender nt. Terminus die schenkende Liebe; storge (gr.) Zuneigung; philia (gr.), die wechselseitige, auf ein gemeinsames Gut bezogene Liebe und dilectio (lat.) kann ohne weitere Spezifizierungen für Liebe verwandt werden. Verschiedentlich wurde auf Basis dieser Unterscheidungen versucht, eine dogmengeschichtlich-wertende Einteilung vorzunehmen. Am bekanntesten ist der Versuch des schwedischen Lutheraners Anders Nygren (1890–1978), der in seinem zweibändigen Werk „Eros und Agape“22 diese Formen der Liebe als strikte Gegensätze betrachtet: Der Eros entsteht aufgrund eines Mangels und ist begehrende Liebe und habe als solcher nichts mit der christlichen Liebe der Agape zu tun. Diese erscheine vor allem bei Paulus in reiner 22 Nygren, A., Eros und Agape I, Bd.1, und ebd. 1938 Bd. 2. Weitere klassische begriffsgeschichtliche, aber weniger radikale Untersuchungen sind Scholz, H., Eros und Caritas, und mehr populärwissenschaftlich Lewis, C.S., Four Loves (dt.: Was man Liebe nennt). Unter den neueren systematischen Untersuchungen zum Liebesbegriff ragen heraus Brümmer, V., Model of Love und Jeanrond, W.G., Theology of Love.

begriffsgeschichtliche Betrachtung

„Eros und Agape“

126

Liebe Form. Hier handelt der Mensch nicht aus sich, sondern er wird zum Mittel oder Rohr, mit dem er die schenkende Liebe Gottes weitergibt, ohne je nach dem Eigenen zu fragen. Durch Augustins „Caritassynthese“ sei dieser genuin christliche Begriff der Liebe verdunkelt worden, indem im lat. Begriff der caritas die agape mit dem eros vermischt worden sei. Erst Luther habe die christliche Liebe von dieser verunklärenden Zutat befreit und habe so zur genuin christlichen agape zurückgefunden. Sieht man von Nygrens Versuch ab, der im Wesentlichen von dogmatischen Entscheidungen her Dogmengeschichte rekonstruiert, sind auch sonst gegen entsprechende Versuche dieser Einteilung zwei Bedenken einzuwenden: Erstens bedeutet eine Betrachtung der diachronen Begriffsgeschichte noch nicht, dass man auch den gegenwärtigen Wortgebrauch oder das Phänomen erhellt, und zweitens zeigen genauere Betrachtungen der Begriffsgeschichte an unterschiedlichen historischen Orten, wie z.B. der Verwendung des Begriffs bei Augustins, dass die Bedeutungsabgrenzungen mitnichten scharf sind, sondern verschwimmen.23

modelltypologisch-systematische Einteilung

Sinnvoller dürfte es sein, eine modelltypologisch-systematische Einteilung vorzunehmen, die untersucht, in welcher Weise und für welche Phänomene der Liebesbegriff verwandt wird,24 und diese sekundär mit der Begriffsgeschichte zu vermitteln:

„Liebe“ als Summe von Gefühlen

1. „Liebe“ als Summe von Gefühlen: Gefühle oder Affekte sind interne Relationen, die mit körperlichen Vorgängen verbunden sind und in der Regel durch reale Relationen hervorgerufen werden.25 Liebe in diesem Sinn als Gefühl zu bezeichnen, ist zwar üblich. Fragt man aber, was der Unterschied des Gefühls der Liebe zu den mit ihr verbundenen Gefühlen wie Freude, positives Aufgeregtsein, Niedergeschlagenheit im Falle der versagten Liebe etc. sein soll, so wird man feststellen, dass es kein eigenes Gefühl der Liebe gibt, sondern die Rede von Liebe als Gefühl sich auf eine Klasse oder Summe unterschiedlicher Gefühle bezieht.

Haltungen

Unterschieden von Affekten sind Haltungen, die Handlungsdispositionen als Möglichkeiten des Handelns darstellen, die präferiert oder aktualisiert werden, wenn die Dinge, auf die sie sich richten, in raumzeitlicher Nähe des Handelnden stehen. Haltungen richten sich daher nicht auf partikulare Dinge oder Personen in ihrer Besonderheit, sondern immer auf eine Klasse von Personen oder Dingen, die mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet sind. Auch als Haltung kann Liebe verstanden werden. Dabei können diese Haltungen der Liebe die Gefühle der Liebe einschließen, müssen es aber nicht per se. Als unterschiedliche Haltungen der Liebe können unterschieden werden:

Begehren

2. Liebe als Sachbegehren oder Menschenbegehren: Hier nimmt ein Handelnder bei sich einen Mangel an einer bestimmten Eigenschaft wahr und richtet entsprechend die Haltung auf diejenige Klasse von Dingen, die diesen Mangel nicht aufweist. So soll der Mangel dieser Eigenschaft von 23 Vgl. Mühling, M., Gott ist Liebe, 69. 24 Vgl. zum Folgenden Mühling, M., Gott ist Liebe, 271–297. 25 Vgl. Mühling, M., Gott ist Liebe, 280f.

127

Die Doppelregel der Liebe einer oder mehreren Instantiationen dieser Klasse gestillt werden. Er oder sie hofft, das entsprechende Gut übertragen zu bekommen. In diesem Sinne „mag“ oder „liebt“ man z.B. Erdbeeren oder lehrreiche Literatur. Aber dieses Begehren kann sich auch auf Menschen richten, wie es etwa im Filmtitel „Blondinen bevorzugt“ zum Ausdruck kommt. Begriffsgeschichtlich kommt diese Art der Liebe der o.a. Bestimmung des eros sehr nahe. 3. Liebe als Wohlwollen: Hier wird die umgekehrte Haltung beschrieben: Der Handelnde nimmt bei einer bestimmten Klasse von Menschen einen Mangel einer bestimmten Eigenschaft wahr, den er selbst in der Lage zu stillen ist. Er kann und will auf Instantiationen dieser Klasse Gut, über das er verfügt, übertragen. Humanistische Zuwendung zu den Armen, Entrechteten und Hilfsbedürftigen gehört hierher, aber auch die Rede von Tierfreunden, Mäzenen etc. Auf den ersten Blick scheint dieser Haltung die agape zu entsprechen. Das ist jedoch nicht der Fall. Die biblische agape schließt diese Haltung zwar ein, bezeichnet aber noch viel mehr. 4. Liebe als Förderung: Verwandt mit dem Wohlwollen ist die Förderung. Auch hier versucht man das Gut von bestimmten Instantiationen einer Klasse von Individuen, die einen Mangel hinsichtlich einer bestimmten Eigenschaft aufweisen, zu stillen. Im Unterschied zum einfachen Wohlwollen übt man die Haltung der Förderung aber nicht einfach aus, weil man als partikulare Person entsprechend veranlagt ist, sondern weil man selbst zu einer Klasse gehört, die durch eine spezifische, andere Eigenschaft bestimmt ist: So sollte jeder Lehrer, weil er zur Klasse der Lehrer gehört, jeden Schüler, unabhängig vom Ansehen der Person, fördern bzw. in diesem Sinne lieben. Andere Beispiele bilden Fördervereine, Stiftungen oder gemeinnützigen Vereine wie Johanniter oder Rotarier. 5. Liebe als „Gleich und Gleich gesellt sich gern“: Diese Haltung ist mit der Förderung verwandt, aber mit einem wichtigen Unterschied: Die Eigenschaften, die die Klasse der Fördernden und der Geförderten bestimmen, sind identisch. Daher bringt man diese Haltung der Förderung all jenen entgegen, die die gleiche Eigenschaft aufweisen wie man selbst. Umgekehrt erwartet man dann aber auch die Haltung von ihnen, d.h. man begehrt auch, entsprechend gefördert zu werden. Auch eine bestimmte Art von Selbstliebe ist hier eingeschlossen, weil man diese Haltung auch sich selbst entgegenbringen muss, wie man sie auch den anderen Mitgliedern der Klasse entgegenbringt, da sie auf gemeinsamen Eigenschaften beruht. Beispiele dieser Liebeshaltung können mehr oder weniger positiv oder negativ beurteilt werden: Ein positives Beispiel ist Kants kategorischer Imperativ, der eine entsprechende, nicht mediatisierende Haltung all denjenigen gegenüber verlangt, die genauso wie man selbst zur Klasse der Vernunftwesen gehören. Negative Beispiele sind Nepotismus, Chauvinismus und die sog. „Konventikelethik“, die sich nur auf Angehörige der eigenen Gemeinschaft bezieht. Oftmals wurde das joh. Liebesgebot, das im Unterschied zum synoptischen die Bruder- oder Geschwisterliebe betont, als eine solche Konventikelethik missverstanden26 (s.u.). 26 Vgl. die in Mühling, M., Geschwisterliebe, genannten Positionen.

Liebe als Wohlwollen

Liebe als Förderung

Liebe als „Gleich und Gleich gesellt sich gern“

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Liebe

reale Relationen

Freundschaft

condilectus

das gemeinsame Projekt

Von Gefühlen und Haltungen sind reale Relationen deutlich unterschieden. Sie sind aktuale Ereignisse der Interaktion zwischen partikularen Personen. Als solche beinhalten sie immer auch Gefühle und Haltungen, und dies können auch die genannten Gefühle und Haltungen der Liebe sein, die oben aufgeführt wurden. Zu denjenigen realen Relationen, die nicht als Liebe zu bezeichnen sind, gehören z.B. Handelsbeziehungen zwischen partikularen Partnern, die nur aufgrund weiterer, von den Handelnden unterschiedener Güter bestehen, wie die Beziehung eines Kunden zum Verkäufer, die durch die weiteren Güter des Handelsguts und des monetären Wertes bestimmt sind. Auch unterschiedliche Rechts- und Pflichtbeziehungen und autoritative Strukturen gehören hierzu. Zu den personalen Beziehungen, die keine Liebe sind, gehören auch manipulative Beziehungen, in denen nur einer der Partner als handelnd und verantwortlich betrachtet wird.27 Kommen wir nun im Unterschied zu manipulativen, ökonomischen und reinen Rechtsbeziehungen zu Liebesbeziehungen: 6. Liebe als reale Relation der „Freundschaft“: Liebe in diesem Sinne ist keine zwei-, sondern eine dreistellige Beziehung. Sie besteht zwischen zwei Interagierenden und einem dritten Element, das man das, den oder die Mitgeliebte28(n) (condilectus) nennen kann. Dieses dritte Element kann personal oder apersonal sein, es kann konkret sein oder eine gemeinsame Klasse von Interessen. Freundschaft ist immer auf etwas Drittes bezogen: Dies kann das gemeinsame Projekt eines Studiums bei Kommilitoninnen sein, es kann ein gemeinsam ausgeübter Beruf im Falle von Kollegen sein oder eine gemeinsam ausgeübte Freizeitbeschäftigung wie bei Sportkameraden. Steht das gemeinsame Erleben sexueller Erfüllung als Drittes im Vordergrund, handelt es sich um partnerschaftliche Liebe, ist das gemeinsame Projekt zeitlich und räumlich unbeschränkt und bezieht es sich auf möglichst viele, wenn nicht alle Lebensbereiche, handelt es sich um eine Lebenspartnerschaft. Es liegt auf der Hand, dass auch eine Familie und Kinder gemeinsame Projekte sein können. Die unterschiedliche Art der gemeinsamen Projekte bestimmt die involvierten Haltungen und Gefühle der beiden partikularen Interaktions- und Kooperationspartner. Wie wichtig dieses dritte Relat ist, kann an der traurigen Erfahrung erkannt werden, dass solche Beziehungen oft enden oder in die Krise geraten, wenn ein gemeinsames Projekt endet und nicht durch ein neues oder modifiziertes ersetzt werden kann. „Freundschaften“ in diesem Sinne sind daher nicht leicht zu einem gemeinsamen Begriff zusammenzufassen. Wie sehr der Inhalt aber auch differieren mag, einige formale Kennzeichen sind stets vorhanden: Erstens: Die Interaktion ist reziprok, wenn auch nicht unbedingt in allen Teilbereichen symmetrisch, d.h. beide Partner der Beziehung sind vollwertige Handlungspartner. Beide übertragen sich daher wechselseitig ein Gut. Dennoch können sich verschiedene Zuständigkeits27 Vgl. Brümmer, V., Model of Love, 155ff. 28 Zur konstitutiven Dreistelligkeit von Liebes- und Freundschaftsbeziehungen vgl. Mühling, M., Gott ist Liebe, 286–293, 171. Die Bezeichnung des unreduzierbaren dritten Elementes als Mitgeliebten oder Mitgeliebtes geht zurück auf das 12. Jh. und findet sich bei Richard von St.Victor, De Trinitate, Buch 3,11, 192–194.

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Die Doppelregel der Liebe bereiche für Teilprojekte ergeben. Zweitens: So wichtig auch das oder der/ die Mitgeliebte sein mag, im Unterschied zu Handelsbeziehungen ist das in dieser Liebesbeziehung kommunizierte – d.h. ausgetauschte – Gut nicht von den partikularen Personen ablösbar: Es ist die Identität der beteiligten Personen, die durch wechselseitige Identitätsansprüche und Identitätserwartungen an den jeweils anderen beanspruchen, die Person zu sein, die in Liebe zur anderen Person steht. Die Partner sind nicht austauschbar! Aus christlicher Sicht ist dies freilich korrekturbedürftig, denn jede Liebesbeziehung birgt die Gefahr, dass wir uns für die Summe unseres Handelns oder Erleidens aus diesen Beziehungen halten könnten. In der Tat sind wir von solchen Liebesbeziehungen abhängig und empfangen hier unsere Identität mit. Aber ausschließlich kann unsere Identität hier nicht gebildet werden. Dies geschieht vielmehr in einer anderen Beziehung, der Beziehung Gottes zu uns, die unsere Identität erhält und trägt, so dass die partikularen geschöpflichen Liebesbeziehungen von der Gottesbeziehung umfangen werden und wir einander „Hände, Rohre und Mittel“29 des Gebens Gottes werden. Drittens: Aufgrund dieses Charakters der Identitätskommunikation gibt es eine dreifach perspektivische Metaregel, die für alle diese Beziehungen gilt: Die Partner sind sich in Treue, Vertrauen und Wahrhaftigkeit zugetan. Treue, Vertrauen und Wahrhaftigkeit sind keine verschiedenen Sachverhalte oder Haltungen, sondern drei Seiten derselben Medaille: Ohne meine Treue zu einem anderen Partner gibt es aus dessen Sicht kein Vertrauen und umgekehrt. Und da ich in einer solchen Beziehung meine Identitätsansprüche an den anderen Partner geknüpft habe, ist es mir nicht möglich, einen Treuebruch zu begehen und das Vertrauen des Partners zu missbrauchen, ohne mir selbst gegenüber unwahrhaftig zu werden und mich selbst zu verletzen. Die so beschriebene Liebe ähnelt z.T. der griechischen (besonders aristotelischen) philia; im Unterschied zu dieser sind diese Freundschaftsbeziehungen allerdings viel umfassender. Aristoteles’ philia ist nur eine von vielen denkbaren Beziehungen dieser Art. 7. Liebe als filiale Beziehung (reale Eltern-Kind-Relation): Für diese gilt alles, was auch hinsichtlich von Freundschaften gesagt ist, mit zwei Ausnahmen: Die Übertragung von Gut ist wesentlich stärker asymmetrisch und erfolgt von dem oder den Elter(n) zum Kind. Ferner gehört zum gemeinsamen Projekt, dass sich die filiale Beziehung selbst überkommt und sich im Laufe der Zeit idealerweise zu einer reinen reziproken Freundschaftsbeziehung entwickelt und im hohen Alter der Eltern auch umkehren kann. Es liegt auf der Hand, dass damit zahlreiche Konfliktmöglichkeiten gegeben sind. Kein unterscheidendes Kennzeichen ist, dass Eltern-Kind-Beziehungen nicht wählbar sind: Das gilt zwar für die meisten, aber doch nicht für alle dieser Beziehungen, denn adoptive Eltern-Kind-Verhältnisse dürfen nicht ausgenommen werden. 8. Liebe als geschwisterliche Beziehung: Auch diese ähnelt in allen Teilen der Freundschaftsbeziehung, allerdings gibt es auch hier einen wesentlichen 29 Vgl. Luther, M., in Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, BSLK, 566,21.

Identität

Treue, Vertrauen und Wahrhaftigkeit

Liebe als filiale Beziehung

Liebe als geschwisterliche Beziehung

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Liebe Unterschied: Geschwisterliche Beziehungen sind nicht durch Wahl, sondern durch eine gemeinsame filiale Beziehung zu wenigstens einem Elter30 konstituiert.

Fazit 33 Während begriffsgeschichtliche Bestimmungen (eros, amor = begehrende Liebe, agape, z.T. caritas = schenkende Liebe, storge = Zuneigung, philia = wechselseitige Liebe) das Phänomen der Liebe nur ungenügend auszudrücken vermögen, bietet sich eine systematische Einteilung an. Zu unterscheiden ist Liebe als Begriff für eine Summe von Gefühlen (Affekten), Liebe als Haltung und Liebe als reale Relation der Interaktion. Haltungen sind Handlungsdispositionen, die je und je aktualisiert werden. Für diese Haltungen ist nicht die partikulare Person wichtig, sondern bestimmte Eigenschaften. Dazu gehört Liebe als Sach- und Menschenbegehren, das sich vom geliebten Gegenstand ein Gut erhofft, Liebe als Wohlwollen, das ein bestimmtes Gut auf den Geliebten übertragen will, Liebe als Förderung, die ein bestimmtes Gut auf den Gegenstand übertragen will, weil man selbst eine bestimmte förderungsfähige Eigenschaft inne hat, und Liebe als „Gleich und Gleich gesellt sich gern“, d.h. eine Haltung, in der man ein Gut übertragen will oder übertragen bekommen will, weil man selbst die gleichen Eigenschaften wie das Geliebte besitzt. Im Falle von Liebe als realer Relation handelt es sich im Unterschied zu ökonomischen und manipulativen Beziehungen um eine reale Interaktionsbeziehung, in der die Identität der partikularen Personen auf dem Spiel steht. Zu nennen ist die Grundform der Liebe als Freundschaft, in der in Treue, Vertrauen und Wahrhaftigkeit zwei Partner wechselseitig in ihren Identitäten verschränkt sind, sich wechselseitig Gut übertragen und auf ein gemeinsames Drittes – das, den oder die Mitgeliebte (condilectus) – bezogen sind. Dieses gemeinsame Dritte entscheidet über die Art der Beziehung. Die Liebe als filiale Beziehung unterscheidet sich von der Freundschaft dadurch, dass hier die Kommunikation des Guts einseitig, vom Elter zum Kind, verläuft und als gemeinsames Projekt die Transformation in eine Freundschaftsbeziehung angestrebt wird. Liebe als geschwisterliche Beziehung ist eine Freundschaftsbeziehung, die durch eine gemeinsame filiale Beziehung konstituiert ist.

Gott ist Liebe

Da diese Unterteilung anhand der Alltagserfahrung gewonnen ist, bezieht sich noch keines dieser Modelle ohne Weiteres auf das christliche Liebesgebot. Um diesen Schritt zu gehen, muss man sehen, dass nach biblischem Zeugnis Gott selbst nicht nur liebt, sondern dass gilt: Gott ist Liebe (1Joh 4,8.16). Damit ist offensichtlich nicht einfach die Relation zwischen den Menschen gemeint, so wie es Feuer-

30 Die Gewohnheit der Biologie, das Wort „Eltern“ auch im Singular als „Elter“ zu benutzen, sei hier übernommen.

Die Doppelregel der Liebe

bach verstand31 und wie es auch innerhalb der christlichen Theologie mitunter in pantheistischer Weise geschieht.32 Vielmehr wird Gott auch unabhängig von der Welt trinitarisch als Liebe verstanden werden müssen, dergestalt, dass Gott eine reale Liebesrelation (6) ist, in der die drei Personen Vater, Sohn und Geist jeweils einander Liebender, Geliebter und Mitgeliebter (condilectus) sind. Da es sich dabei um Gottes Wesen handelt, ergeben sich spezifische Veränderungen: In Gott sind alle Eigenschaften identisch, so dass Gottes Liebe auch Gottes Sein ist. Im Unterschied zum Menschen geht es dabei nicht nur einfach um die Identitätskommunikation und -konstitution, sondern um Seinskommunikation und -konstitution selbst. Die Liebe Gottes in diesem Sinne hat primär ontische Valenz. Schafft nun Gott in Entsprechung zu seinem Wesen eine Welt, erhält, versöhnt und vollendet er sie, dann muss auch dieses Welthandeln Gottes als Konstitution einer realen Liebesbeziehung filialer Liebe verstanden werden (7). Damit aber ist das Verhältnis der Geschöpfe untereinander, ob personal oder apersonal, grundsätzlich als geschwisterliche Liebe (8) bestimmt. Damit ist das Sein von Welt und Mensch bestimmt, d.h.: Wird nach der Relation zwischen den Menschen und Geschöpfen untereinander gefragt, und wird nach dem Verhältnis zu Gott gefragt, ist jeweils Liebe die Antwort, aber zunächst in einem ontischen Sinne: Das Sein des Menschen wie aller Geschöpfe ist immer schon Liebe. Aufgrund dieses primär ontischen und nicht schon ethischen Gehaltes ist es besser, von der Regel der Liebe als vom Gebot der Liebe zu sprechen. Freilich besitzt der Mensch im Unterschied zu anderen Geschöpfen die Fähigkeit, dieser Liebe und daher seinem Sein nicht entsprechen zu können. Der gleiche Sachverhalt lässt sich etwas poetischer mit den Worten Luthers so ausdrücken:

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Verhältnis der Geschöpfe untereinander

„Kein Geschöpf lebt sich selbst oder dient sich selbst außer der Mensch und der Teufel. Die Sonne scheint nicht für sich selbst, Wasser fließt nicht für sich selbst, usw. So verhält sich jedes Geschöpf nach der Regel der Liebe.“33

Aus diesem Sachverhalt ergeben sich mehrere Konsequenzen: Das korrekte Verhältnis des Menschen zu Gott ist die Entsprechung filialer Liebe. Das korrekte Verhältnis des Menschen untereinander ist 31 Vgl. Feuerbach, L./Schuffenhauer, W., Wesen des Christentums, 104–108, und zur Kritik Jüngel, E., Gott als Geheimnis der Welt, 431f. 32 Vgl. das Bekenntnis zum letztlich apersonalen pantheistischen Gottesverständnis in Härle, W., Ethik, 157. 33 Luther, M., WA 5,38,14–16: „[…] nulla creatura sibi vivit aut servit praeter hominem et diabolum. Sol non sibi lucet, aqua non sibi fluit &c. Ita omnis creatura servat legem charitatis.“

Konsequenzen

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Liebe

Liebe als Gebot

Autonomie Theonomie

Sünde

geschwisterliche Liebe. Erst unter der Sünde, d.h. der faktischen Nichtbefolgung, wird die Doppelregel der Liebe zum Gebot. Dabei ist zu beachten: In der Nichtbefolgung der Regel der Liebe schädigt sich der Mensch in seinem Sein; er vergeht nur deswegen nicht, weil Gottes erhaltende Liebe aufgrund der Wahrhaftigkeit Gottes am Menschen festhält. Der Widerspruch oder die Sünde ist dabei primär kein ethischer, sondern ebenfalls ein ontischer Sachverhalt: Der Mensch schädigt sich in seinem Sein, und zwar in allen Bereichen. U.a. wirkt sich dies darin aus, dass er nicht mehr in der Lage ist, die eigentlich natürliche, weil seiner eigenen Natur entsprechende, Regel der Liebe als Konstitutionsregel seines eigenen Seins zu erkennen. Auf diese Weise wird die Liebe zum Gebot. Dabei zeigt sich folgender, scheinbar paradoxer Sachverhalt: Einerseits ist Liebe als Gebot der eigenen Natur des Menschen entsprechend. Sie ist daher kein heteronomes Gebot oder bestünde nur, weil ein unendlich mächtigerer Gott es in seiner Autorität so will. Sondern als dem Sein des Menschen als Liebe entsprechend ist das Gebot ein autonomes Gebot, im gleichen Sinne wie Kants Imperativ eine autonome Ethik begründet, weil auch hier der Anspruch erhoben wird, dass dem Sein des Menschen entsprochen wird. Nichts anderes bedeutet hier Autonomie. Im Unterschied zu Kant ist dies aber nicht der Mensch als Vernunftwesen, sondern der Mensch als Liebeswesen. Diese Autonomie ist zugleich auch Theonomie,34 nicht weil es sich um ein von Gott gegebenes Gesetz handelt, sondern weil es sich zugleich um diejenige Regel handelt, die auch das Leben, Wesen und Handeln Gottes ausmacht. Andererseits ist aber das Gebot für den Menschen unter der Sünde unerfüllbar: Als reale Relation schließt Liebe nicht nur Haltungen ein, sondern auch eine korrekt ausgefüllte, affektive Ausrichtung oder Gefühlswelt, was dem Menschen unverfügbar ist und bleibt. Und als reale Relation bezieht sich das Gebot nicht nur auf einzelne Handlungen, sondern auf jeden Augenblick im Leben eines Menschen; ja eigentlich bezieht es sich nicht nur auf des Menschen Tun, sondern auch auf sein Erleiden. Eingeschlossen ist in dieser Forderung nicht Selbstliebe, aber Selbstannahme: Der Mensch soll sich als das annehmen, was er ist: Als durch Liebesbeziehungen bestimmte und von Gott geschaffene Person. Dazu gehört einerseits, dass der Mensch annehmen können müsste, dass er diesen Inhalt immer schon verfehlt, andererseits aber auch, dass dies nicht seine Konstitution betrifft. Er müsste sich selbst von seinem Beziehungsgefüge unter34 Der Autonomie einschließende Theonomiebegriff geht zurück auf Tillich, P., Idee einer Theologie der Kultur.

Die Goldene Regel

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scheiden können. Gerade dies ist aber unter nicht zurechtgebrachten Bedingungen dem Menschen nicht möglich; denn er müsste sich selbst als zugleich liebenswürdig erkennen unter der Bedingung, dass er dies nicht ist.35 Möglich wird dies erst unter dem Vertrauen (fiducia) auf Gottes Heilstat im Evangelium.

Damit ist natürlich die ethische Bedeutung des Gebots eingeschränkt: In der Frage nach dem guten Handeln gibt es nur die eine Antwort der Handlung nach dem Doppelgebot der Liebe; aber dieses ist nicht absichtlich erfüllbar. Das macht das Gebot aber nicht ungültig. Vielmehr wird man sagen müssen, dass es Ethik nicht einfach nur mit dem guten, sondern vielmehr unter den Bedingungen der immer schon verletzten Liebe mit dem vorzuziehenden Handeln zu tun hat. Fazit 34 Liebe im christlichen Sinne bezieht sich zunächst auf das trinitarische Wesen Gottes, das selbst eine reale Liebesbeziehung von Vater, Sohn und Heiligem Geist ist, das aber nicht nur Identitätskommunikation, sondern auch (konstitutive) Seinskommunikation beinhaltet. Abgeleitet davon ist auch das Sein von Mensch und Welt relationale Liebe, so dass der Mensch zu Gott in einer filialen Liebesbeziehung steht, die Menschen untereinander in geschwisterlichen Beziehungen. Die unter sündhaften Bedingungen des Menschen geschehende, falsche Liebe führt aufgrund der Liebe Gottes als Erhalter in göttlicher Toleranz nicht zum Untergang des Menschen, aber die (Selbstannahme einschließende) Doppelregel der Liebe wird nun zum (für den gefallenen Menschen unerfüllbaren) Gebot. Da das Sein des Menschen selbst und Gottes in unterschiedlicher Weise durch Liebe konstituiert ist, handelt es sich um ein Gebot in Autonomie und Theonomie.

7.3 Die Goldene Regel Die positive Formulierung – „Alles nun, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“ (Mt 7,12 parr) – und die negative Formulierung – „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ (Tob 4,16) – stammen beide aus gemeinorientalischer weisheitlicher Tradition und sind beide biblisch belegt, an hervorragender Stelle jedoch nur die positive Formulierung. In beiden Fällen ist die Goldene Regel nicht mit der Doppelregel der Liebe identisch und enthält auch nichts darüber hinaus: Sie formuliert als notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung jener Liebe den Grundsatz der Reziprozität der geschwisterlichen Liebe. Hinsichtlich dieser Reziprozität stellt sie eine Verallgemeinerungsregel dar, die hier 35 Vgl. Tietz, C., Freiheit zu sich selbst, 208.

Goldene Regel

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Liebe

eigene Präferenzen

an Kants Imperativ erinnert, sich aber darin von diesem unterscheidet, dass eigene Präferenzen und Wünsche ausdrücklich in den Blick genommen sind. Darin findet die Goldene Regel auch ihre Grenze: Liebe bedeutet eben nicht einfach, sich an den eigenen Bedürfnissen im Handeln anderen gegenüber zu orientieren. Das Gut des anderen zu suchen und zu befördern, dabei aber immer nur den eigenen, sündigen und daher irrtumsfähigen Maßstab anzuwenden, wäre unter dem Gesichtspunkt der Doppelregel der Liebe geradezu Lieblosigkeit. Allein genommen – als ethisch verabsolutierte Grundregel – ist die Goldene Regel daher – gegen die Worte der Autoren des NT – unbrauchbar. Als immer wieder an die Reziprozität erinnernde, verdeutlichende notwendige Bedingung hingegen ist sie sinnvoll.

Fazit 35 Die sog. Goldene Regel ist nur als regulative Regel sinnvoll, indem sie das Verallgemeinerungsprinzip ausdrückt. Für sich allein genommen ist sie problematisch, weil sie das Handeln an den – unter den Bedingungen der Sünde fehlerhaften – eigenen Präferenzen orientiert.

7.4 Feindesliebe Feindesliebe

Tun-ErgehenZusammenhang

Feindschaft

Das Gebot der Feindesliebe (Mk 5,43f. parr) stellt ebenfalls eine – auf das Doppelgebot bzw. die Doppelregel der Liebe bezogene – regulative Regel dar. Es wird ausdrücklich in weisheitlicher Tradition mit dem Hinweis begründet, dass Gott als Schöpfer seine Sonne über Gute wie Böse scheinen lässt (Mt 5,45 parr), womit jedem vermeintlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang eine radikale Absage erteilt ist. Als regulative und erläuternde Regel ist das Feindesliebegebot aber nicht wie die Goldene Regel im Sinne einer notwendigen Bedingung auf die Nächstenliebe bezogen, sondern im Sinne einer hinreichenden Bedingung: Wer seine Feinde liebt, verwandelt die Feindschaft. Denn Feindschaft bedeutet ja gerade, kein gemeinsames Drittes, kein gemeinsames Projekt zu verfolgen, sondern Projekte, die einander ausschließen – von der damit verbundenen affektiven Lage ganz zu schweigen.

Fazit 36 Die Funktion des Feindesliebegebots ist eine doppelte: Wo Feindesliebe gelingt, endet die Feindschaft. Als Gebot zeigt das Feindesliebegebot noch einmal, dass es allein menschlichem Willen nicht möglich ist, das wirklich Gute zu tun.

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Geschwisterliebe

7.5 Geschwisterliebe Im johanneischen Schrifttum findet sich anstelle der Nächstenliebe das Gebot der Geschwisterliebe, einander zu lieben (Joh 13,34f ) bzw. seinen Bruder (1Joh 4,1–21). Niemand habe größere Liebe als der, der sein Leben für seine Freunde gebe (Joh 15,13). Man hat darin den Versuch gesehen, die synoptische Nächstenliebe abzuschwächen, erfüllbar zu machen, ja geradezu in ihr Gegenteil einer Konventikelethik zu verkehren. Denn wer nur seine Freunde liebt, liebt ja Gleiches und ist auf gleiche gemeinsame Projekte bezogen, so dass das Gebot relativ leicht zu erfüllen ist, ja geradezu überflüssig zu werden scheint. Eine sorgfältige systematische Analyse offenbart diese Auffassung allerdings als Missverständnis.36 Um diesen Sachverhalt erklären zu können, muss zunächst gefragt werden, in welcher Weise das Gebot der Nächstenliebe erfüllbar ist und in welcher nicht. Bisher hatten wir darauf hingewiesen, dass die Doppelregel der Liebe für die Absicht des gefallenen Menschen unerfüllbar ist, weil hier etwas geboten wird, das voluntativ unerfüllbar bleibt. Aber dies bedeutet nicht, dass die Regel überhaupt nicht erfüllbar wäre. Es gibt ihre Erfüllung. Diese geschieht immer dann, wenn der Mensch zurechtgebracht ist, wenn er in das korrekte Gottesverhältnis wieder eingesetzt ist. Aus der erfüllten Gottesliebe fließt also die erfüllte Nächstenliebe. Die Gottesliebe ist aber nicht anders erfüllt als im vertrauenden Glauben auf den dreieinigen Gott. Auch dieser Glaube ist unerfüllbar; er wird durch menschlich-kommunikatives, das Evangelium bezeugendes Handeln (verbum externum) und durch das gewissheits- und plausibilitätsstiftende Handeln Gottes des Heiligen Geistes (testimonium internum) geschaffen. Glauben in anderen Menschen zu schaffen, ist also nichts anderes als das gemeinsame Projekt der filialen Liebesbeziehung zwischen Gott und denjenigen, die bereits zum Glauben gekommen sind und sich damit als Kinder Gottes erkannt haben, wenn auch beide in unterschiedlicher Weise auf dieses gemeinsame Projekt bezogen sind (nämlich so, dass dem Menschen der Erfolg immer unverfügbar bleibt). Jedes Zeugnis des Glaubens ist aber eine Erfüllung des Nächstenliebegebots, denn die fiducia ist hinreichende Bedingung der wirklich guten Werke. Glaube impliziert die Erfüllung der Nächstenliebe, sei es im direkten, worthaften Zeugnis oder im unaufdringlichen diakonischen Zeugnis. Kommt dieses Zeugnis aber bei den Noch-nicht-Glaubenden mit Hilfe des Handelns Gottes zum Ziel, erkennen auch diese das filiale Verhältnis ihrer selbst zu Gott und das geschwisterliche Verhältnis 36 Vgl. dazu Mühling, M., Geschwisterliebe, Nächstenliebe.

Geschwisterliebe

Konventikelethik

Glaube

Erfüllung des Nächstenliebegebots

Zeugnis

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Liebe

eschatische Regel des Seins

zueinander. Das johanneische Gebot, die Freunde zu lieben, ist daher in der Tat der höchste Ausdruck von Liebe, weil es die Erfüllung der Nächstenliebe beschreibt. Die Nächstenliebe ist nicht für sich selbst da, sie hat selbst zeugnishaften oder projekthaften Charakter wie die Feindesliebe auch. Kommen Nächstenliebe und Feindesliebe zu ihrem Ziel, entsteht geschwisterliche Liebe. Das johanneische Liebesgebot ist daher nicht das höchste Gebot in dem Sinne, dass es ethisch besser als andere Gebote ist, sondern der Superlativ ist ernst zu nehmen: Es drückt die ultimative, eschatische Regel des Seins aus. Ist sie erfüllt (und nur dann), ist das Gute verwirklicht.

Fazit 37 Das johanneische Geschwisterliebegebot meint keine Konventikelethik, nach der nur die Freunde im Unterschied zu den anderen Menschen zu lieben seien, sondern es beschreibt den eschatischen Zustand, in dem sich alle Menschen als in filialer Liebesbeziehung zu Gott – d.h. als Kinder Gottes – verstehen und darum untereinander als Geschwister ansehen. Für die Gegenwart gilt: Durch das passiv gewirkte Vertrauen in diese Beziehung wird das Zeugnis darüber zusammen mit dem Handeln Gottes zum gemeinsamen Projekt zwischen Gott und Glaubenden, mit dem Ziel, auch die noch nicht Glaubenden in diese Beziehung mit hineinzunehmen.

7.6 Die Gebote der christlichen Ethik – eine Pflichtenethik?

Pflichtenethik

natürliche Ethik

kategorischer Imperativ Unterschiede

Kommen wir zurück zu der Frage, ob die Gebote der christlichen Ethik damit eine Pflichtenethik bilden und wie ihr Verhältnis insbesondere zur kantischen Ethik zu bestimmen ist. Kants Ethik ist eine Pflichtenethik. Die christliche Ethik aber nicht. Sie beinhaltet eine Pflichtenethik, aber sie geht darin nicht auf. Das Doppelgebot der Liebe stellt eine Pflicht dar, aber nur, weil es dem Sein des Menschen entspricht. Daher handelt es sich auch um eine natürliche Ethik. In späteren Kapiteln werden wir sehen, dass auch die anderen Begriffe ethischer Argumentation (Güterethik, Tugendethik, Verantwortungsethik) eine konstitutive Rolle für das Verständnis christlicher Ethik spielen. Vergleicht man das Doppelgebot der Liebe mit dem kategorischen Imperativ Kants, fallen Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf: Unterschiede: Kants Imperativ erhebt den Anspruch, auf Vernunft zu gründen, das christliche Gebot gründet auf Liebe. Kant versucht, Präferenzen, Wünsche und Gefühle aus der Ethik auszuschließen, das christliche Liebesgebot schließt all diese Dinge bewusst ein. Kant hält den Imperativ für den natürlichen Menschen für erfüllbar, so dass dieser keinen pragmatischen

Funktionalisierung und Hingabe Selbstwiderspruch darstellt. Das christliche Doppelgebot der Liebe ist demgegenüber für den natürlichen, weil sündhaften Menschen immer unerfüllbar und stellt einen pragmatischen Widerspruch dar. Während Kant es mit Ethik zu tun hat, mit menschlichem Handeln, nicht aber menschlichem Sein, ist es beim Doppelgebot der Liebe genau umgekehrt: Es hat zuerst mit menschlichem Sein und erst dann mit menschlichem Handeln zu tun. Kant beansprucht eine natürliche Einsicht in das Gute durch Vernunft, das christliche Doppelgebot erschließt sich unmissverständlich erst dem Zurechtgebrachten. Gemeinsamkeiten: Neben diesen gravierenden Unterschieden gibt es aber auch einige Gemeinsamkeiten: In beiden Fällen handelt es sich um autonome Gesetze, Pflichten oder Regeln, weil beansprucht wird, dass hier jeweils dem autos – dem Selbst des Menschen – entsprochen ist, wenn dieses auch unterschiedlich gedeutet wird. Darüber hinausgehend ist das christliche Gebot aber auch noch theonom. In beiden Fällen ist ein universalistischer Anspruch vorhanden, d.h. eine Gültigkeit zu allen Orten, allen Zeiten und für alle Menschen. Gerade diese Gemeinsamkeit lässt aufgrund der vorhandenen Differenzen die beiden Pflichten, die kantische und die christliche, aber auch zu Konkurrenten der Deutung des wirklich Guten in der pluralistischen Gesellschaft werden. Eine weitere wichtige Gemeinsamkeit besteht noch zwischen der Zweck-an-sich-Fassung des kategorischen Imperativs und dem christlichen Liebesgebot, aber hier gibt es auch einen Unterschied in Bezug auf den Funktionalisierungsbegriff.

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Gemeinsamkeiten

Fazit 38 Kategorischer Imperativ und Doppelgebot der Liebe beschreiben beide autonome Ethiken, die dem Selbst des Menschen entsprechen. Der kategorische Imperativ deutet dieses Selbst als wesentlich durch Vernunft bestimmt, das Doppelgebot der Liebe aber durch Liebe bestimmt. Es ist im Unterschied zum kategorischen Imperativ zugleich autonom und theonom, schließt die Affektivität des Menschen mit ein, ist dem natürlichen Menschen unerfüllbar und erst unter den Bedingungen der Zurechtbringung erfüllbar. Es ist eine ethische Regel, weil es eine Aussage über die Natur des Menschen als durch Liebe konstituiert macht.

7.7 Funktionalisierung und Hingabe Wenn die korrekte Seinskonstitution des Menschen in realen Liebesbeziehungen zu Gott und Mensch besteht, verbietet sich jegliche Funktionalisierung oder Verzwecklichung sowohl Gottes als auch anderer Menschen. Als die Grundform der Sünde ist daher die Funktionalisierung anderer personaler Geschöpfe zu verstehen. In abgeleiteter Form lässt sich vielleicht auch sagen, dass die Behandlung apersonaler Geschöpfe als Personen, an die man wie in Liebesbezie-

Funktionalisierung Grundform der Sünde

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Liebe

Pseudopersonalisierung

Hingabe

Verfügungsgewalt

Opfer

hungen sein Herz teilweise oder vollständig hängt, eine weitere (abgeleitete) Grundform der Sünde darstellt: die der Pseudopersonalisierung. In der Ablehnung der Funktionalisierung oder Mediatisierung von Personen kommen christliche Ethik und der kantische Imperativ also überein. Allerdings auch mit einem wichtigen Unterschied: Die christliche Liebe verbietet nur die Funktionalisierung anderer Menschen in absoluter Weise, nicht die des eigenen Selbst: Denn sich selbst als Mittel für die wahren (d.h. mit der Liebe übereinstimmenden) Ziele der oder des anderen zur Verfügung zu stellen, ist die Haltung der Hingabe, die notwendigerweise durch reale Liebesbeziehungen impliziert ist. Diese Hingabe ist auch die Basis des christlichen Verständnisses des Opferbegriffs.37 Hingabe und damit in gewissem Sinne Selbstverzwecklichung ist also christlicherseits möglich und geradezu geboten, aber nicht unter allen Umständen. Denn hingeben kann man nur etwas, was einem auch selbst gehört, worüber man Verfügungsgewalt besitzt. Da das menschliche Selbst aber durch die filiale Liebesbeziehung Gottes zum Menschen konstituiert ist, gehört kein Mensch sich selbst. Hingabe ist daher nur in Entsprechung zu Gott möglich, nicht aufgrund eigener Entscheidung oder gar aufgrund der impliziten oder expliziten Forderung anderer Menschen. Phänomene wie Ko-Abhängigkeit in partnerschaftlichen Beziehungen im Falle des Drogenmissbrauchs oder Fälle von Aufopferung eines – meist des weiblichen – Partners in Lebensgemeinschaften für die selbst definierten Ziele des anderen Partners bleiben sündhaft und damit ethisch auf alle Fälle abzulehnen. Der Grund ist aber nicht, wie z.T. angenommen wird,38 dass Hingabe und Opfer keine sinnvollen Werte oder sogar schädlich wären, sondern dass hier im christlichen Sinne überhaupt keine Hingabe geübt und dem Hingabe- und Opfergedanken selbst widersprochen wird, weil man nur etwas hingeben kann, was einem selbst gehört. Das eigene Leben und die eigene Identität gehören aber nicht dazu. Da die Pseudopersonalisierung von der Funktionalisierung abgeleitet ist, ist sie ihr auch im Konfliktfall nachgeordnet. Ergibt sich ein ethischer Konflikt zwischen Pseudopersonalisierung und Funktionalisierung, ist die ethische Alternative zu wählen, die die Funktionalisierung ausschließt und dann in diesem Falle die Pseudopersonali-

37 Vgl. dazu Mühling, M., Versöhnendes Handeln, 326–332. 38 Vgl. z.B. Strobel, R., Gekreuzigt für uns? und Strobel, R., Kreuz. Die regelmäßig wiederkehrende Ablehnung der Heilstat Christi mit Hilfe des Opfergedankens, wie es z.B. zuletzt durch Jörns, K.-P., Abschied vom Sühnopfermahl, geschehen ist, ist damit nicht nur dogmatisch inkorrekt, sondern hat auch äußerst gefährliche ethische Implikationen.

Der ordo amoris

139

sierung zulässt. Dies wäre dann eine vorzuziehende, wenn auch keine im eigentlichen Sinne gute Handlung. Fazit 39 Ethische Ausdrucksformen der Sünde als Widerspruch gegen die Doppelregel der Liebe sind Funktionalisierung und nachgeordnet Pseudopersonalisierung. Eine Selbstfunktionalisierung ist ambivalent: Im Sinne der Christus entsprechenden Haltung der Hingabe an die wirklichen Ziele des anderen ist sie notwendig für Liebe, im Sinne der eigenmächtigen Hingabe an die durch den anderen selbstdefinierten Ziele ist sie selbst sündhaft und damit keine eigentliche Hingabe und widerspricht dem Opfergedanken.

7.8 Der ordo amoris Das Doppelgebot der Liebe ist nicht leicht ethisch anzuwenden. Das liegt nicht nur an seinem unter den Bedingungen einer nicht korrekt ausgerichteten Affektivität unerfüllbaren Charakter, sondern auch an seinem sehr offenen Charakter: Liebesbeziehungen, wie wir sie oben beschrieben haben, sind noch sehr unbestimmt. Es ist deutlich, dass nicht alle Menschen alle anderen auf die gleiche Art und Weise lieben, lieben sollen und lieben können. Wäre es angesichts dieser Situation nicht praktisch, wenn man so etwas wie eine ethische Liebesordnung aufstellen könnte, nach der man sich richten könnte? Genau dies hat beispielsweise Augustin (354–430) versucht. Augustins Liebesverständnis39 ist dadurch geprägt, dass es im Wesentlichen aus voluntativen Elementen, nicht aus affektiven Elementen besteht und sehr am Begriff der begehrenden Liebe orientiert ist. Es handelt sich um eine Haltung, und zwar um die Haltung des Sach- oder Menschenbegehrens. Jeder Mensch erkennt sich als Mängelwesen, hat eine egestas, die ein desiderium oder einen appetitus, ein Verlangen, auslöst. Dieses Verlangen oder Begehren kann um der Dinge, die man begehrt, selbst willen geschehen oder diese können begehrt werden, um Mittel zum Zweck anderer begehrter Dinge zu werden. Man kann also etwa ein gutes Essen um seiner selbst willen begehren oder um der Erhaltung des Körpers willen. Im ersten Falle genießt man das Essen (frui), im zweiten Falle gebraucht man das Essen (uti). Der Unterschied zwischen Gebrauchen und Genießen wird dabei durch den Unterschied der Beziehung des Um-etwas-willen verdeutlicht: Ist das „Etwas“ dieser Relation das Begehrte selbst, handelt es sich um frui, ist es etwas anderes, um uti. Das Schaubild (Abb. 20) drückt die Relation des Um-etwas-willen mit Pfeilen aus. Augustin geht nun davon aus, dass alle temporalia, d.h weltlich zeitlichen Dinge, nur um etwas anderen willen gebraucht werden dürfen: Speise darf nur um des 39 Vgl. Mühling, M., Gott ist Liebe, 68–77.

Liebesordnung

begehrende Liebe

Gebrauchen und Genießen

140

Liebe

Körpers willen begehrt werden, der Körper darf nur um der Seele willen begehrt werden, die Dreieinigkeit Seele darf nur um Gottes willen begehrt werden. Einzig Gott darf um seiner selbst willen beNächster Selbst Sel lb Engel gehrt, also genossen werden. Augustin hat nun Schwierigkeiten, mittels dieses Begehrensbeeigener en ner Körper griffs die Nächstenliebe verstehen zu können. Offensichtlich kann der Nächste nicht genosandere temporalia oral (zeitl. Dinge) sen werden, wenn er nicht zum Abgott gemacht werden soll. Pfeile: „wird begehrt um … willen“ Ihn zu gebrauchen, würde aber eine Funktionalisierung darAbb. 20: ordo amoris stellen. Augustin spricht an dieser Stelle davon, man könne daher den anderen doch genießen, aber in frui in deum Gott (frui in deum).

An dieser Stelle zerstört Augustin die strenge Kohärenz seines Systems und deutet auf dessen Unzulänglichkeiten insgesamt hin: Augustins Fehler besteht darin, Liebe einseitig als begehrende Liebe zu verstehen, einseitig den voluntativen Aspekt überzubetonen und mit Hilfe der „Um-willen-Relation“ eine sehr starre und festgefügte Ordnung aufzustellen. Aber dies heißt noch nicht, dass der Grundgedanke an sich schlecht wäre. Könnte man nicht unter Einbeziehung der ganzen Weite des Liebesbegriffs, insbesondere auch unter dem Aspekt der Hingabe als notwendig mit realen Liebesrelationen korrelierter Haltung, die Idee einer Liebesordnung wiederbeleben, die es uns erlaubt, unsere Liebesbeziehungen in personalethischer Weise zu unterscheiden?40 Und würde ein solches Verfahren es nicht unter Umständen sogar ermöglichen, den engen personalethischen Bereich der Liebe zu erweitern und konform mit der Bedeutung des Liebesgebots auch die sozialethische, institutionelle, ja sogar politische Bedeutung der Liebe wieder stärker in den Vordergrund zu rücken?41 Die Explikation einer entsprechenden Liebesordnung stellt eine der wichtigsten materialethischen Aufgaben der christlichen Ethik der Gegenwart dar.

40 Dieser Gedanke spielt, ohne allerdings tatsächlich personalethisch vollständig durchgeführt worden zu sein, in der personalethischen Debatte derzeit eine große Rolle, so z.B. bei Stock, K., Wahre Liebe, 195–278. 41 Vgl. dazu Jeanrond, W.G., Theology of Love, 173–238.

141

Der ordo amoris

Fazit 40 Da sich Liebesbeziehungen unterscheiden, stellt sich die Frage, ob sie nicht geordnet werden können. Augustin hatte mit dem Gedanken der voluntativ-begehrenden Liebe die Unterscheidung von „gebrauchen“ (uti) und „genießen“ (frui) eingeführt: Alles außer Gott darf nach der korrekten Liebesordnung nur gebraucht werden. Augustins Liebesordnung basiert auf einem einseitigen Liebesverständnis. Die Suche nach einer nicht einseitigen Liebesordnung ist eine wichtige Aufgabe gegenwärtiger christlicher Ethik.

Literaturempfehlung Brümmer, Vincent: The Model of Love, Cambridge 1993. Vate, Dwight, van de: Romantic Love, University Park/London 1981. Nygren, Anders: Eros und Agape, Bd.1, Gütersloh 1930. Luther, Martin: Der große Katechismus, in: BSLK, bes. 553–645. Richard von St.Victor: De quattuor gradibus violentiae caritatis – Über die Gewalt der Liebe. Ihre vier Stufen, München u.a. 1969.



8. Ziele und Werte

8.1 Ziel- und wertbasierte Ethiken Da Handeln immer intentional erfolgt, sind Handlungen und Handelnde immer auf Handlungsziele bezogen. Ethiken, die diese Ziele in den Mittelpunkt stellen, können Güterethiken oder teleologische Ethiken genannt werden. Der Begriff der Teleologie kann dabei weiter und enger gemeint sein: Er kann sich darauf beziehen, dass in 1 partikularen Handlungen imPerson 1c mer Ziele ausgewählt werden, 2 Vernunft 1b andere die um anderer, höherer Ziele Affekte Personen willen angestrebt werden, so 3 dass man zu einem höchsten 1a natürliches Wille Geschehen Ziel gelangt. Er kann sich aber zusätzlich darauf beziehen, dass es zum Wesen menschli4a 9 empirische Ergebnis chen Handelns gehört, dass Gewissheiten ihm ein solches Ziel einge4 Gewissheiten schrieben ist und zu seiner 4b 8 religiöse Natur gehört. An dieser Stelle Ziele Gewissheiten soll es um Teleologie in ersterem Sinne gehen, im Kapitel 7 5 Erwartungen Regeln über die Tugendethik (Kap. 6 Mittel 11) wird eine exemplarische teleologische Ethik im letzteren Sinne vorgestellt. Abb. 21: Ziel- u. wertbasierte Ethiken 8.1.1 Utilitarismus

Utilitarismus

Zu den Ethiken, die primär aus der Perspektive des Handlungselements der zu erreichenden Ziele oder Güter entworfen sind – und ausschließlich von dieser her die Güte einer Handlung bemessen wollen –, gehören die meisten Spielformen des Utilitarismus, der somit i.d.R. als ein Beispiel einer zielbasierten Ethik anzusprechen ist. Der Utilitarismus stammt ursprünglich aus dem englischen Empirismus und wurde u.a. von Jeremy Bentham (1748–1832) begründet. John Stuart Mill (1806–1873) gab ihm eine strengere Form. Mill schreibt:

Ziel- und wertbasierte Ethiken

143

“The creed which accepts as the foundation of morals, Utility, or the Greatest Happiness Principle, holds that actions are right in proportion as they tend to promote happiness, wrong as they tend to produce the reverse of happiness. By happiness is intended pleasure, and the absence of pain; by unhappiness, pain, and the privation of pleasure.”1

Der Utilitarismus lässt sich hier auch als reduktionistische Ethik erkennen, denn er reduziert die Definition des Guten auf die des Glücks, verstanden als die Steigerung von Freude und das Vermeiden von Leid. Das macht allerdings noch nicht das spezifisch Utilitaristische der Ansicht Mills aus.

reduktionistische Ethik

“According to the Greatest Happiness Principle, […], the ultimate end, with reference to and for the sake of which all other things are desirable (whether we are considering our own good or that of other people), is an existence exempt as far as possible from pain, and as rich as possible in enjoyments, both in point of quantity and quality; the test of quality, and the rule for measuring it against quantity, being the preference felt by those who in their opportunities of experience, to which must be added their habits of selfconsciousness and self-observation, are best furnished with the means of comparison. This, being, according to the utilitarian opinion, the end of human action, is necessarily also the standard of morality; which may accordingly be defined, the rules and precepts for human conduct, by the observance of which an existence such as has been described might be, to the greatest extent possible, secured to all mankind; and not to them only, but, so far as the nature of things admits, to the whole sentient creation.”2

Aus Selbstbeobachtung lasse sich also entnehmen, dass die Maximierung des Glücks das höchste Ziel des eigenen Handelns sei, wobei sowohl die Quantität als auch die Qualität des Glücks zu berücksichtigen ist. Dieses Glück gilt aber nicht nur als höchstes Ziel des eigenen Handelns, sondern muss auch allen anderen Menschen als deren höchstes Ziel zugeschrieben werden, ja sogar allen fühlenden Kreaturen. Glücksmaximierung ist hier also als das summum bonum, als das höchste Gut selbst verstanden. Vorausgesetzt ist eine Verallgemeinerungsfähigkeit dieser Selbstbeobachtung, so dass die Maximierung nicht des eigenen Glücks, sondern die des Glücks aller zum Standard der Ethik wird: Es geht um das größte Glück für die größte Zahl. Die eigene Perspektive wird nicht vor der der anderen bevorzugt. Der Utilitarismus ist daher gerade keine egoistische Ethik. Mill beansprucht dabei sogar, letztlich die biblische Tradition korrekt zu erklären:

1 2

Mill, J.S., Utilitarianism, 10. Mill, J.S., Utilitarianism, 14f.

Maximierung des Glücks

summum bonum

144

Ziele und Werte “As between his own happiness and that of others, utilitarianism requires him to be as strictly impartial as a disinterested and benevolent spectator. In the golden rule of Jesus of Nazareth, we read the complete spirit of the ethics of utility. To do as you would be done by, and to love your neighbour as yourself, constitute the ideal perfection of utilitarian morality.”3

Goldene Regel

Theologisch sachgemäß ist dies sicherlich nicht: Mill sieht hier die Goldene Regel als identisch mit dem Nächstenliebegebot an. Wir hatten aber gesehen, dass beides nicht identisch ist, sondern dass die Goldene Regel in ihrer Dignität gegenüber der Doppelregel der Liebe deutlich herabgesetzt ist. Richtig ist aber, dass die Goldene Regel für sich mit dem Utilitarismus darin übereinstimmt, dass von der Selbstbeobachtung auf ein allgemein angewandtes ethisches Prinzip geschlossen wird. Dass dieses Ziel auch in Glücksmaximierung besteht, geht aus der Goldenen Regel freilich nicht hervor. Problematisch an dieser Konzeption des Utilitarismus bleibt, was tatsächlich als ein glückbringendes Ziel erscheinen kann und was nicht. Mill versucht zwar, verschiedene Güter abzuwägen, aber es ist fraglich, ob dies tatsächlich gelingt. Man hat daher im 20. Jh. versucht, einen Utilitarismus zu entwerfen, der ohne den Begriff des Glücks auskommt. Anstelle dieses Begriffs tritt nun der Begriff der Präferenzen oder der Interessen. Ein Beispiel gibt der australische Philosoph Peter Singer: „Angenommen, ich beginne dann so weit moralisch zu denken, daß ich erkenne, daß meine eigenen Interessen nicht einfach aus dem Grund, weil sie meine eigenen sind, mehr zählen als die Interessen anderer. Anstelle meiner eigenen Interessen habe ich nun die Interessen aller zu berücksichtigen […]. Dies erfordert von mir, daß ich alle diese Interessen abwäge und jenen Handlungsverlauf wähle, von dem es am wahrscheinlichsten ist, daß er die Interessen der Betroffenen weitestgehend befriedigt. Also muß ich […] den Handlungsverlauf wählen, der per saldo für alle Betroffenen die besten Konsequenzen hat.“4

Präferenzutilitarismus

Der Unterschied zwischen diesem Präferenzutilitarismus und dem ursprünglichen Utilitarismus besteht also darin, dass er keine Überlegungen mehr anstellt, worin das Glück, das es zu maximieren gilt, material besteht, sondern diese Frage mit dem Verweis auf den formalen Begriff der Interessen bzw. der subjektiven Präferenzen offen lässt. Damit ist der Einwand, Glück, Freude und Leid könnten höchst Unterschiedliches bezeichnen, gegen die Basis der Theorie nicht treffend. Allerdings wird er nun bei der konkreten Güterabwägung im Falle eines materialen ethischen Problems wieder erscheinen. 3 4

Mill, J.S., Utilitarianism, 19. Singer, P., Praktische Ethik, 30.

145

Ziel- und wertbasierte Ethiken

Der Utilitarismus in allen seinen Formen erfordert die Aufstellung einer Präferenzordnung, die angibt, welche Präferenzen welchen vorzuziehen, also „besser“ oder „schlechter“ bzw. „glücksbringender“ oder „leidvermeidender“ sind. Der Utilitarismus kennt also sowohl einen absoluten Wert (Maximierung des Glücks aller bzw. Maximierung der Präferenzwahrung aller) und daneben auch relative Werte. Er bezeichnet eine Güterethik und beinhaltet doch zugleich eine Wertethik. Der erste und wichtigste Einwand gegen den Utilitarismus lautet: Ist es wirklich plausibel, dass das Glück aller im Zweifel auf Kosten einiger weniger oder eines Einzelnen durchzusetzen ist? Unverletzliche Rechte Einzelner, wie sie etwa die Menschenrechte darstellen, lassen sich utilitaristisch nicht so einfach begründen. Ein zweiter Einwand betrifft die Verteilung der Handlungsmittel, mit deren Hilfe das Glück oder individuelle Präferenzen zu verwirklichen wären: Müsste ich nicht etwa alle meine Ersparnisse, also Mittel, die ich nicht zur Verwirklichung von Handlungszielen einsetze, aufgeben und sie an andere verteilen, damit diese sie für ihre Präferenz- oder Glückmaximierung einsetzen können, und zwar auch dann, wenn es sich bei diesen anderen nicht um Notleidende handelt? Ein dritter Einwand bezieht sich auf den naturalistisch-reduktionistischen Charakter des Utilitarismus: Auch hier kann sinnvoll gefragt werden, ob es wirklich die Glückmaximierung ist, die gut ist, auch hier kann sinnvoll gefragt werden, ob Präferenzbefolgung wirklich gut ist. Da es in der Natur subjektiver Präferenzen liegt, dass diese nur sehr bedingt miteinander verglichen werden können, der Utilitarismus aber Glücksvorstellungen oder Präferenzen in einer relativen Wertordnung ordnen muss, wenn er praktische Konsequenzen haben soll, ist zu vermuten, dass der Utilitarismus mit dem empirischen Verweis auf das Glücksstreben oder die Präferenzbefolgung relative oder absolute Werte nicht begründet, sondern bereits in Anspruch nehmen muss und voraussetzt. Bevor wir uns einem anderen Konzept einer teleologischen Wertethik zuwenden, sei noch Singers materiale Ethik kurz umrissen: Ethische Subjekte sind all jene Wesen, die Präferenzen (Interessen, Wünsche etc.) verfolgen können. Die Fähigkeit, Präferenzen verfolgen zu können, ist offensichtlich von der Eigenschaft des Selbstbewusstseins abhängig. In der Tradition John Lockes ist diese Eigenschaft dasjenige Prädikat, das zur Definition der Person herangezogen wird.5 Zu diesen Personen gehören letztlich auch höhere Primaten, so dass Singer den Anwendungsbereich der Ethik konsequent auf diese ausdehnt. 5

Vgl. Singer, P., Praktische Ethik, 120.

Präferenzordnung

Güterethik Wertethik

Präferenzen

Person

146

Ziele und Werte

ethische Subjekte

Speziesismus

Tötungsverbot

Umgekehrt gibt es Angehörige der Spezies Mensch, die kein Selbstbewusstsein haben (Föten, Komatöse) und infolgedessen keine Präferenzen verfolgen können. Sie scheiden als ethische Subjekte gewissermaßen aus und ihre Tötung ist in bestimmten Grenzfällen nach Singer zulässig. Singer bezeichnet die Behandlung von Menschen als ethische Subjekte unabhängig von deren Eigenschaft, Präferenzen verfolgen zu können, in Analogie zu Begriffen wie Rassismus, Chauvinismus etc. als einseitige und unbegründete Bevorzugung einer biologischen Klasse und nennt sie Speziesismus. Man wird dagegen einwenden können, dass Klassen immer durch Eigenschaften oder Prädikate intensional definiert sind. Entsprechend schließt jede vorhergehende intensionale Definition einer Klasse bestimmte Individuen ein, andere aus. Wird nun der intensional definierende Bestandteil der Klasse zum Kriterium ethischer Subjektwürdigkeit gemacht, ist dies immer „speziesistisch“, sei es nun, dass diese Spezies lautet „präferenzverfolgende Wesen“ oder „Angehörige der Gattung Mensch“. Aber auch wenn ein Wesen in die Klasse der ethischen Subjekte gehört, besteht nach Singer noch kein absolutes Tötungsverbot. Vielmehr bedeutet dies ja nur, dass nun der Präferenzutilitarismus verwandt werden kann. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: „Sofern der Tod eines behinderten Säuglings zur Geburt eines anderen Säuglings mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird. Der Verlust eines glücklichen Lebens für den ersten Säugling wird durch den Gewinn eines glücklicheren Lebens für den zweiten aufgewogen. […] Die Totalsicht behandelt Säuglinge ebenso als ersetzbar wie nichtselbstbewußte Tiere. Viele werden der Ansicht sein, das Ersetzbarkeits-Argument lasse sich nicht auf menschliche Säuglinge anwenden. […] Doch bei weiterem Nachdenken scheinen die Implikationen des Ersetzbarkeits-Arguments nicht ganz so ausgefallen.“6

Tötung behinderter Säuglinge

Um nicht falsch verstanden zu werden: Singer tritt hier nicht für die Tötung behinderter Säuglinge ein, sondern entwirft ein theoretisches Argument. Vor der Basis eines modifizierten Utilitarismus kann er auch ein alternatives Argument entwerfen, das zum umgekehrten Ergebnis führt.7 Hinsichtlich dieser speziellen Frage entscheidet er sich für keine der beiden Möglichkeiten. Will man auf das zuletzt genannte Argument reagieren, wird es nicht sinnvoll sein, sich auf die Frage, welche Eigenschaften ethische Subjekthaftigkeit ausmachen, überhaupt einzulassen. Personalität bedeutet christlicherseits jedenfalls etwas vollständig anderes und 6 7

Singer, P., Praktische Ethik, 238. Vgl. Singer, P., Praktische Ethik, 237.

147

Ziel- und wertbasierte Ethiken

kann nicht mit irgendwelchen intensionalen Klassenbegriffen beschrieben werden (s.u. Kap. 12). Vielmehr wird man darauf verweisen müssen, dass schon die utilitaristische Option als Ganze einem verheerenden Fehler unterliegt: Sie versucht, Handlungsziele durch eine Präferenzordnung zu bestimmen. Der Begriff einer solchen Präferenzordnung ist aber nur unter der Verwendung von (relativen und absoluten) Werten sinnvoll, die gerade nicht reduktionistisch aus der Erfahrung zu entnehmen sind. Fazit 41 Der ursprüngliche Utilitarismus behauptet, die Güte von Handlungen bestehe darin, dass Güter angestrebt würden, die eine Glücksmaximierung versprechen („Das größte Glück für die größte Zahl“). Der Präferenzutilitarismus nimmt an, dass die Maximierung der Präferenzen oder Interessen aller vorrangig zu verfolgen ist. Problematisch an dieser Position sind die folgenden Sachverhalte: 1. Die Aufstellung einer Präferenzordnung ist praktisch schwierig, weil unterschiedliche Präferenzen nur schwer vergleichbar sind. 2. Es gibt keine unverletzlichen Rechte Einzelner. 3. Eine Ungleichverteilung von Eigentum ist ausgeschlossen. 4. Der Utilitarismus ist eine reduktionistische Ethik. 5. Der Utilitarismus setzt eine versteckte Wertethik voraus, die nicht expliziert wird. Ein Sonderproblem des Präferenzutilitarismus besteht darin, dass als ethische Subjekte nur Subjekte in Betracht kommen, die Präferenzen verfolgen können und dass dieser Begriff als Definition für den Personbegriff gebraucht wird.

8.1.2 Schelers materiale Wertethik

Der Utilitarismus als Beispiel einer an Zwecken oder Zielen orientierten Ethik zeigt, dass um verschiedene Zwecke, Ziele, Präferenzen und Interessen ethisch überhaupt beurteilen zu können, offensichtlich Werte vorausgesetzt werden müssen, die dies ermöglichen. Diese Werte können nämlich nicht aus den Präferenzen und Zielen selbst abgeleitet werden, will man nicht auf reduktionistische Weise dem naturalistischen Fehlschluss verfallen. Woher kommen diese Werte dann aber? Der Wertbegriff selbst ist zwar in der Gegenwart auch über die wissenschaftliche Ethik hinaus und gerade im Bereich des Politischen ein ethischer Zentralbegriff („Wertewandel“), ist aber in der Geschichte der Ethik selbst relativ neuen Datums. Ursprünglich stammt der Begriff des Wertes als Äquivalent zu „Preis“ aus der Ökonomik. Noch für Kant war diese relative Bedeutung des Wertbegriffs die ursprüngliche und primäre.8 Dieser Befund überrascht einiger8

Vgl. Kant, I., GMS AA, 397–400.

Werte

„Wertewandel“

148

Unabhängigkeit von Werten

Ziele und Werte

maßen, denn Wertbegriffe wie gut/schlecht, besser/schlechter, angenehm/unangenehm, liebreizender/hässlicher etc. spielen in der Ethik eine so große Rolle, dass ethische Reflexion ohne Wertbegriffe nicht zu denken ist. Eine einfache Güterabwägung oder eine Beschreibung von Handlungsalternativen wäre ohne Wertbegriffe nicht möglich. Und selbstverständlich wurden Wertbegriffe auch immer ethisch reflektiert, wenn auch nicht der Terminus „Wert“ selbst. Zu den ambitioniertesten Versuchen, eine Wertethik aufzubauen, gehört Anfang des 20. Jh. die materiale Wertethik Max Schelers (1874–1928). Was hat es damit auf sich? Scheler vertritt die relative Unabhängigkeit (1), Gleichursprünglichkeit (2), Vorgängigkeit hinsichtlich der Frage des Guten von Werten gegenüber Gütern und Zwecken (3) sowie deren Materialität (4), Apriorizität (5) und Geordnetheit (6). 1. Unabhängigkeit von Werten: In Analogie zu den Qualia der Sinneseindrücke geht Scheler davon aus, dass Werte wie gut, schön, abstoßend, anziehend, hässlich, vornehm etc. relativ unabhängig von den Gütern sind, auf die sie sich beziehen. Sie verändern sich nicht, wenn sich die Güter verändern. Ist eine Freundschaft angenehm und entwickelt sich zum Unangenehmen, verändert sich die Freundschaft, nicht der Wert, so wie sich auch ein blauer Mittagshimmel in einen roten Abendhimmel verwandelt, ohne dass dabei die Qualität rot zu blau würde: „So wenig wie die Farbennamen auf bloße Eigenschaften von Dingen gehen […], so wenig gehen auch die Namen für Werte auf die bloßen Eigenschaften der dinglich gegebenen Einheiten, die wir Güter nennen. Wie ich mir ein Rot auch als bloßes extensives Quale […] zur Gegebenheit bringen kann […], so sind mir auch Werte wie angenehm, reizend, lieblich, aber auch freundlich, vornehm, edel prinzipiell zugänglich, ohne daß ich sie mir hierbei als Eigenschaften von Dingen oder Menschen vorstelle. […] So sinnlos es ist, nach den gemeinsamen Eigenschaften aller blauen oder roten Dinge zu fragen, da ja nur die einzige Antwort möglich wäre: sie besteht darin, daß sie eben blau oder rot sind, so sinnlos ist es auch, nach den gemeinsamen Eigenschaften guter oder böser Handlungen, Gesinnungen, Menschen usw. zu fragen. Aus dem Gesagten geht hervor, dass es echte und wahre Wertqualitäten gibt, die einen eigenen Bereich von Gegenständen darstellen […].“9

Obwohl Scheler sogar davon ausgehen kann, dass der Wert noch vor anderen Eigenschaften einer Sache erkannt werden kann, meint er, dass diese Unabhängigkeit insofern relativ ist, als die Werte immer zusammen mit Gütern oder Zwecken auftreten und nur für Personen, die sie erfahren, existieren. 9

Scheler, M., Wertethik, 7, 9f.

Ziel- und wertbasierte Ethiken

2. Gleichursprünglichkeit von Werten und Gütern: Güter und Zwecke einerseits und Werte andererseits sind daher gleichursprünglich in einer Relation verbunden. Weder sind die Güter den Werten vorgängig, noch konstituieren die Werte die Güter:

149 Gleichursprünglichkeit von Werten und Gütern

„Erst in den Gütern werden Werte ‚wirklich‘. Sie sind es noch nicht in den wertvollen Dingen. Im Gute aber ist der Wert objektiv […] und wirklich zugleich. […] Es ist also das Gesagte auch so auszudrücken: Güter und Dinge sind von gleicher Ursprünglichkeit der Gegebenheit. Mit diesem Satze weisen wir ein Doppeltes zurück. Einmal jeden Versuch, das Wesen des Dinges selbst […] auf Gütereinheiten zurückzuführen. Ein solcher Versuch ist überall da gemacht worden, wo man die Dinglichkeit auf eine Einheit einer bloß ‚ökonomischen‘ Zusammenfassung von Inhalten und Empfindung (Ernst Mach) […] auffassen zu dürfen meinte. […] Aber ebenso ist durch das Gesagte zurückgewiesen, die ‚Güter‘ als bloße ‚wertvolle Dinge‘ anzusehen. Denn eben dies ist für die Güter wesentlich, daß hier der Wert nicht auf das Ding nur aufgebaut erscheint […].“10

Damit verbietet sich aber, dass aus den Gütern selbst Werte abgeleitet werden können, wie es etwa im Utilitarismus unausdrücklich geschieht. 3. Vorgängigkeit von Werten hinsichtlich des Guten: Entsprechend machen nicht die Güter einen Wert gut, sondern umgekehrt wird die Güte eines Guts oder eines Zwecks durch den Wert bestimmt. Dies gilt aber für Scheler mit Kant nicht nur für Zwecke und Güter, sondern gegen Kant selbst auch für den Willen und für Pflichten, die immer nur aufgrund von Werten als gut erscheinen können.11 4. Materialität von Werten: Werte sind per definitionem nicht formal, sondern material:

Vorgängigkeit

Materialität von Werten

„Dann ist es ein erster Irrtum Kants, zu leugnen, es seien ‚gut‘ und ‚bös‘ materiale Werte. Es sind aber […] klar fühlbare materiale Werte eigener Art. Definierbar ist natürlich hier nichts, wie bei allen letzten Wertphänomenen. Wir können hier nur auffordern, genau hinzusehen, was wir im Fühlen eines Bösen und Guten unmittelbar erleben.“12

5. Apriorizität von Werten: Da die Werte keine Ableitung von Gütern sind, werden sie material, d.h. inhaltlich apriorisch, ohne von der Erfahrung der Güter und Zwecke abgeleitet zu sein, erkannt: „Der eigentliche Sitz alles Wertapriori (und auch des sittlichen) ist die im Fühlen, Vorziehen, in letzter Linie im Lieben und Hassen sich aufbauende Werterkenntnis resp. Werterschauung, sowie die der Zusammenhän-

10 Scheler, M., Wertethik, 16f. 11 Vgl. Scheler, M., Wertethik, 23–25. 12 Scheler, M., Wertethik, 20.

Apriorizität von Werten

150

Ziele und Werte ge der Werte, ihres ‚Höher-‚ und ‚Niedrigerseins‘, d.h. die ‚sittliche Erkenntnis‘.“13

Wertordnung

„natürliche“ Weltanschauung

Unmittelbarkeit

6. Wertordnung: Aus dem zuletzt Gesagten geht schon hervor, dass Scheler auch von der Einsehbarkeit in eine konkrete Wertordnung ausgeht, die im Einzelnen recht komplex ist und hier nicht wiedergegeben werden muss. Den Beobachtungen der Unabhängigkeit und Gleichursprünglichkeit von Werten wird man zwanglos zustimmen können. Schelers Argument ähnelt hier dem Moores, der „gut“ ebenso in Analogie zu den Qualia und entsprechend als undefinierbar verstand. Wichtig an Scheler ist auch, dass er nicht nur Güter und Zwecke gegenüber Werten für sekundär hält, sondern eben auch (gegen Kant) Pflichten. Auch dies erscheint einleuchtend. Weniger plausibel wird aber bei genauerem Hinsehen, dass die Werte gerade in ihrer Materialität apriorisch einsehbar seien – und entsprechend fragwürdig wird auch die konkrete Wertordnung Schelers. Problematisch wird hier Schelers Herkunft aus der Phänomenologie: Während die Phänomenbeschreibung zunächst gute und nachvollziehbare Ergebnisse liefert, schreitet Scheler hier über die eigentliche Phänomenalität der Werte hinaus, weil er diese in der „natürlichen Weltanschauung“ gegeben sieht. Der Terminus „Weltanschauung“ ist hier nicht im Sinne von „Wirklichkeitsverständnis“ gebraucht, wie es heute meist üblich ist, sondern es geht Scheler um die Unmittelbarkeit des Gegebenseins der Welt. „Alltagserfahrung“, „Lebenswelt“ oder „Alltäglichkeit“ sind dabei Begriffe, die besser den Terminus der „natürlichen Weltanschauung“ bezeichnen. Die natürliche Weltanschauung ist so von der explikativen Beschreibung der Phänomenologie und den Beschreibungen der Naturwissenschaften unterschieden. Damit erscheint aber das Problem bei Scheler in voller Deutlichkeit: Er muss eine nicht theoriebestimmte und zugleich nicht empirische Erfahrung annehmen, denn eben dies heißt ja eine materiale Erkenntnis a priori. Dies scheint aber m.E. unmöglich zu sein, falls alle Erfahrung theoriegetränkt ist.14 Scheler hat recht, dass Werte offensichtlich unabhängig von Gütern zu bestimmen sind. Unterschiedliche Güter und Zwecke lassen sich nur vergleichen oder ethisch bewerten, wenn Werte vorgängig sind. Die Vorgängigkeit von Werten gegenüber Gütern, Zielen und Pflichten bedeutet aber noch nicht, dass sie ethisch basal und insofern apriorisch und objektiv wären.

13 Scheler, M., Wertethik, 64. 14 Vgl. Hanson, N.R., Patterns, 12.

Ziel- und wertbasierte Ethiken

151

Fazit 42 Eine Ordnung im Handeln anzustrebender Güter, wie sie etwa in der utilitaristischen Ethik vorausgesetzt ist, oder die Annahme der Existenz von Pflichten generiert keine Werte, sondern setzt diese voraus. Ein Versuch, Werte zu erfassen, ist die materiale Wertethik Max Schelers. Nach ihm sind Werte 1. unabhängig von Gütern und Pflichten, treten 2. gleichursprünglich mit Gütern auf und sind 3. vorgängig gegenüber Gütern und Pflichten, wenn es um die Güte von Handlungen geht. Es wird angenommen, dass 4. Werte nichts Formales, sondern etwas Materiales, d.h. inhaltlich Bestimmtes, sind und dass 5. Werte apriorisch durch eine phänomenale Werterschauung erkannt werden. 6. kann Scheler die unterschiedlichen Werte in einer Wertordnung ordnen. Während die ersten vier Kennzeichen eine wichtige Korrektur einer reinen Pflichtenoder Güterethik darstellen, wird man das 5. und 6. Kennzeichen nur teilen können, wenn man Schelers gesamtes philosophisches System übernimmt.

8.1.3 Starke Wertungen

Eine Beurteilung von Handlungszielen, -gütern und -präferenzen – aber auch von Pflichten – setzt offensichtlich den Wertbegriff voraus. Die materiale Wertethik Schelers ist aber gerade aufgrund ihres universalen und aprioristischen Anspruchs nicht in der Lage, eine befriedigende Erklärung dieser Tatsache zu liefern, denn sie erkennt ihre eigene Partikularität und Perspektivität nicht. Einen Ausweg schlägt der kanadische Philosoph Charles Taylor (*1948) mit dem Begriff der starken Wertung vor. Harry G. Frankfurt (*1929) hatte zwischen Wünschen erster Ordnung und Wünschen zweiter Ordnung unterschieden. Wünsche erster Ordnung sind die einfachen Wünsche oder Präferenzen, die Menschen (aber auch Tiere) haben: ein Eis essen zu wollen, sich auszuruhen, dem Bewegungsdrang nachzugeben etc. Sie haben die Struktur „ich wünsche, dass x“. Wünsche zweiter Ordnung beziehen sich auf Wünsche erster Ordnung und bezeichnen die Fähigkeit des Menschen, sich wollend (oder nicht wollend) auf Wünsche erster Ordnung beziehen zu können. Sie haben die Struktur „ich wünsche, dass ich wünsche, dass x“. So kann ich den Wunsch erster Ordnung haben, eine Zigarette rauchen zu wollen. Ein Wunsch zweiter Ordnung besteht in meiner Fähigkeit, diesen Wunsch ablehnen zu können und ihm nicht nachzugehen (etwa weil ich das Rauchen ablehne und Nichtraucher werden möchte) oder ihm bewusst nachzugehen (in Ablehnung des gesellschaftlichen Zwanges zum Nichtrauchen).

Wünsche erster Ordnung

Wünsche zweiter Ordnung

152

Ziele und Werte

starke Wertungen

Wünsche zweiter Ordnung charakterisieren den Menschen als Handelnden, bei Frankfurt explizit als Person und machen ihn zum ethischen Subjekt.15 Diese Wünsche zweiter Ordnung, so Taylor,16 stehen nun unter der Alternative entweder starke oder schwache Wertungen beinhalten zu können, während Wünsche erster Ordnung immer schwache Wertungen beinhalten. Was ist damit gemeint? Starke Wertungen beziehen sich immer auf Wünsche zweiter Ordnung und beinhalten qualitative, kontrastierende Werte. Schwache Wertungen hingegen erfolgen nur quantitativ und vermeiden kontrastierende Wertungen. Wenn ich überlege, ob es mir jetzt besser gefällt, zu rauchen oder Sport zu treiben, übe ich eine schwache, quantitative Wertung aus: Ich frage schlicht, was mir jetzt besser gefällt. Komme ich aber mit den Wünschen zweiter Ordnung zur Einsicht, dass es einer guten Persönlichkeit zukommt, die Sucht überwinden zu können, dann ist dies eine kontrastierende, qualitative Wertung. Rauche ich jetzt tatsächlich nicht, kann ich mich als gute Persönlichkeit verstehen; gebe ich dem Wunsch erster Ordnung zu rauchen aber nach, werde ich mich auf der Ebene der starken Wertungen sofort als schwache Person erleben.

moralische Ontologie

Der Kontrastbegriff in diesem Beispiel ist der wertende Begriff der Stärke oder Schwäche. Wichtig ist, dass die in starken Wertungen enthaltenden Werte nicht frei gewählt werden können. Sie sind eingebettet in einen meist unausdrücklichen Rahmen des Selbstverständnisses und werden im ethischen Konfliktfall mitunter expliziert oder artikuliert. Der Rahmen ist abhängig von der Lebensform einer Person, ihrer Geschichte und Sozialität, aber er ist nicht identisch mit der Summe aller Sozialisationsfaktoren, denn auch auf eine bestimmte, Wertungen beinhaltende Sozialisationsgestalt („ich bin aufgeklärter Europäer“) kann ich mich ablehnend oder zustimmend noch einmal beziehen, wobei die Werte hier wieder vorgegeben sind. Sie sind also in eine „moralische Ontologie“ oder ein Wirklichkeitsverständnis eingebettet. Taylor beschreibt den Begriff der starken Wertung folgendermaßen: „Das heißt, sie [die starken Wertungen] beinhalten Unterscheidungen zwischen Richtig und Falsch, Besser und Schlechter, Höher und Niedriger, deren Gültigkeit nicht durch unsere eigenen Wünsche, Neigungen oder Entscheidungen bestätigt wird, sondern sie sind von diesen unabhängig und bieten selbst Maßstäbe, nach denen diese beurteilt werden können.“17

15 Vgl. Frankfurt, H.G., Willensfreiheit. 16 Vgl. Taylor, C., Was ist menschliches Handeln. 17 Taylor, C., Quellen des Selbst, 17.

Ziel- und wertbasierte Ethiken

Taylor gibt noch ein wichtiges Kriterium der Unterscheidung von starken Wertungen und schwachen Wertungen an, mit dessen Hilfe starke Wertungen erkannt werden können: „In jedem dieser beiden Fälle bezieht sich unsere Reaktion auf einen Gegenstand mit einer bestimmten Eigenschaft. Im einen Fall jedoch kennzeichnet die Eigenschaft den Gegenstand als einen, der diese Reaktion verdient, wogegen der Zusammenhang im anderen Fall nichts weiter ist als eine nackte Tatsache.“18

Wenn ich also den Wunsch erster Ordnung habe, eine Zigarette zu rauchen, ist es nicht sinnvoll zu fragen, ob dieser Wunsch verdient ist, er ist schlicht da und als solcher jenseits ethischer Beurteilung. Auf der Ebene der Wünsche zweiter Ordnung kann ich aber fragen, ob der Wunsch zu rauchen es wert ist, ihm nachzugeben. Die Antwort wird vom Werthorizont bzw. der moralischen Ontologie gespeist, die implizit ist, bei unterschiedlichen Menschen anders beschaffen ist und erst artikuliert werden muss. Der Wert der Achtung menschlichen Lebens oder der der Achtung der Persönlichkeitsrechte sind auf diese Weise z.B. starke Wertungen. Sie leuchten den meisten Menschen intuitiv ein, sind aber abhängig von einem „Hintergrundbild“: „Dies könnte ich nun umformulieren und sagen, mir gehe es um die moralische Ontologie, die diese intuitiven Vorstellungen artikuliert. […] Diese Artikulierung kann überaus schwierig und umstritten sein, was nicht nur in dem offenkundigen Sinn gemeint ist, daß unsere Mitmenschen hinsichtlich der moralischen Ontologie nicht immer einer Meinung sind. Das liegt auf der Hand, denn auf die Frage nach einer Begründung der oben erörterten Reaktionen der Achtung vor dem Leben würden sich viele auf die dort genannte theistische Erklärung stützen und unsere Gleichrangigkeit als Geschöpfe Gottes beschwören, während andere diese Erklärung zugunsten einer rein säkularen Darstellung verwerfen […] würden. Aber sobald man darüber hinausgeht, kann die Artikulierung des Hintergrundes jeder einzelnen Person strittig sein. […] Das ist vor allen Dingen deshalb der Fall, weil die den Ansichten jeder Person zugrundeliegende moralische Ontologie weitgehend unausgesprochen bleiben kann. Das ist sogar der Normalfall […].“19

18 Taylor, C., Quellen des Selbst, 20. 19 Taylor, C., Quellen des Selbst, 25.

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Ziele und Werte

Fazit 43 Menschen streben verschiedene Handlungsziele an und folgen dabei ihren Wünschen und Präferenzen. Diese lassen sich nicht vereinheitlichen oder reduzieren mit dem Hinweis auf das Erstreben des Glücks, so wie es der Utilitarismus versteht. Vielmehr ist es nötig, diese Wünsche und Ziele mit Hilfe von Werten zu beurteilen, denn die Werte sind unabhängig von den Zielen, insofern nicht die Ziele und Wünsche die Werte generieren. Die Werte sind aber auch nicht apriorisch und allgemein einsehbar, wie Scheler dachte, sondern beruhen auf starken Wertungen, die aufgrund der Differenz von Wünschen erster und zweiter Ordnung möglich sind. Werte drücken sich also in den Wünschen zweiter Ordnung aus, sofern es sich um kontrastierende Wertbegriffe handelt. Sie stammen aus der meist unausdrücklichen „moralischen Ontologie“ eines Handelnden oder kurz aus dessen Wirklichkeitsverständnis. In einer pluralistischen Gesellschaft gibt es mehrere konkurrierende Wirklichkeitsverständnisse, die nicht auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert werden können, wie noch zu sehen sein wird.

8.1.4 Werte und Wertungen

Wertung

Werte erscheinen immer im Zusammenhang von Wertungen, seien diese nun schwache oder starke Wertungen. Diese sind aber selbst Handlungen und unterliegen daher der Problematik des Handlungsbegriffs selbst: Der Handlungsbegriff wird hier rekursiv oder selbstbezüglich. Ist Handeln ein relationaler Begriff, dann auch der Begriff der Wertung. Der Einfachheit halber sei hier der Begriff der Wertung in allgemeiner Hinsicht als fünfstelliger Begriff20 verstanden: Jemand (A) bewertet etwas (B) vor dem Hintergrund des Werthorizonts (C) und dem (vermeintlichen) (Fakten-)Wissen (D) mit der Absicht (E). Wertungen können nur Handelnde, also Personen (A), vornehmen. Die Objekte oder Sachverhalte der Bewertung (B) können unterschiedlichster Art sein. Es können Dinge (natürliche oder kulturelle) oder Ereignisse sein, und zwar gegenwärtige, zukünftige oder vergangene. Für den Lehrer bildet etwa die schriftliche Klausur eines Schülers oder dessen mündliche Leistung das Objekt der Bewertung. Für unsere umfassenden ethischen Zwecke ist es wichtig, dass die Handlungsziele und -wünsche selbst Objekte der Bewertung sein können. Daher können wir den Begriff des Objekts hier auf den des Handlungszieles einschränken (B’). Deutlich ist auch, dass ein Wertbegriffe enthaltender Hintergrund oder Horizont vorhanden sein muss, vor dem gewertet wird und der der Maßstab für die Bewertung ist (C). Im Beispiel der Schülerbewertung besteht der Werthorizont einfach in der durch die jeweilige Prüfungsordnung vorgegebenen Notenskala, d.h. es handelt 20 Dabei handelt es sich um eine Modifikation des von Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 150, verwandten vierstelligen Wertungsbegriffs.

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Ziel- und wertbasierte Ethiken sich um einen sehr beschränkten Werthorizont. Werthorizonte können unterschiedlich umfangreich und beschränkt, expliziert oder stillschweigend vorausgesetzt sein. Im Falle der starken Wertungen ist deutlich, dass es sich um den denkbar breitesten Werthorizont handeln wird, d.h. in Taylors Worten, um die moralische Ontologie bzw. das, was wir das Wirklichkeitsverständnis oder die religiös-weltanschaulichen Voraussetzungen des Handelns genannt haben. Auf diesen umfassenden Werthorizont konzentrieren wir uns im Folgenden (C’). Bewertungen setzen immer ein Wissen um Fakten voraus. So muss z.B. ein Lehrer die Klausur der Schüler auch tatsächlich kennen, um Bewertungen vornehmen zu können (D). Als Handlungen sind Bewertungen nie absichtslos und unterliegen selbst der Zielwahl. So kann ein Lehrer mit der Bewertung unterschiedliche Absichten verfolgen: Seine im Dienstvertrag geregelte Pflicht zu tun, eine Schülerin zu fördern oder einen missliebigen Schüler von Klasse und Schule zu verweisen etc. Im Sinne des ethischen Wertbegriffs, der primär Handlungsziele bewertet, ist das Handlungsziel des rekursiven Wertungshandelns festgelegt: Es besteht in der Orientierungsfähigkeit im Handeln (E’).

Der ethisch relevante Begriff der starken Wertung oder der ethischen Wertung bedeutet daher: Jemand – d.h. eine personale Instanz (A) – bewertet die Handlungsziele oder -wünsche (B’) vor dem Hintergrund eines Wirklichkeitsverständnisses (C’) und dem Wissen (D) zum Ziele der Handlungsorientierung (E’). Für die christliche Ethik handelt es sich dabei schlicht um das christliche Wirklichkeitsverständnis (C’’), so dass wir als Begriff der christlichen Wertung erhalten: Jemand (A) bewertet die Handlungsziele oder -wünsche (B’) vor dem Hintergrund des christlichen Wirklichkeitsverständnisses (C’’) und dem Wissen (D) zum Ziele der Handlungsorientierung (E’). Der Begriff der (starken) Wertung kann dabei in allen Fällen auf Teilziele des Handelns wie auch auf das letzte Ziel menschlichen Handelns – das summum bonum oder das höchste Gut – angewandt werden. Im Folgenden wird daher zu untersuchen – und dabei mithilfe des Wertungsbegriffs zu bewerten – sein, was im christlichen Sinne als höchstes Gut bestimmt werden kann.

ethische Wertung

christliche Wertung

Fazit 44 Werte drücken sich in Wertungen aus, die selbst Handlungen sind. Ein allgemeiner Wertbegriff kann folgendermaßen definiert werden: Jemand (A) bewertet etwas (B) vor dem Hintergrund des Werthorizonts (C) und dem (vermeintlichen) (Fakten-) Wissen (D) mit der Absicht (E). Vom allgemeinen Begriff der Wertung ist der Begriff der ethischen Wertung unterschieden: Jemand – d.h. eine personale Instanz (A) – bewertet die Handlungsziele oder -wünsche (B’) vor dem Hintergrund eines Wirklichkeitsverständnisses (C’) und dem Wissen (D) zum Ziele der Handlungsorientierung (E’).

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Ziele und Werte

Daraus ergibt sich dann der Begriff der christlichen Wertung: Jemand (A) bewertet die Handlungsziele oder -wünsche (B’) vor dem Hintergrund des christlichen Wirklichkeitsverständnisses (C’’) und dem Wissen (D) zum Ziele der Handlungsorientierung (E’).

8.2 Das Reich Gottes und das höchste Gut Das höchste Ziel, das summum bonum, konnte nach christlichem Verständnis augustinisch-neuplatonischer Prägung mit Gott selbst identifiziert werden, wie es etwa aus Augustins ordo amoris hervorgeht (s.o. Kap. 7.8). Als sol1 ches ist das summum bonum summum bonum Person 1c zwar ein möglicher Gegen2 Vernunft 1b andere stand menschlichen Strebens, Affekte Personen nicht aber menschlichen Handelns und daher auch 3 1a natürliches nicht im eigentlichen Sinne Wille Geschehen Gegenstand der Ethik. Bezieht man den Menschen mit 4a 9 ein, wird man sagen können, empirische Ergebnis Gewissheiten dass das summum bonum in 4 der vollendeten GottesgeGewissheiten meinschaft besteht, in der Re4b 8 religiöse alisierung der noch unvollenZiele Gewissheiten deten Doppelregel der Liebe. Neutestamentlich findet die 7 5 Erwartungen Regeln Rede vom höchsten Gut, von 6 Mittel dem alle anderen Güter ihren relativen Wert erfahren, ihren Abb. 22: Ziel- und wertbasierte Ethiken, christl. Perspektive Ausdruck in der Rede vom Reich Gottes bzw. der basileia tou theou. Dabei ist die Verkündigung des Reiches Gottes der Kern Reich Gottes der Wirksamkeit Jesu. Dieses Reich Gottes wird aber nirgendwo begrifflich beschrieben. Vielmehr kommt es in Jesu Gleichniserzähltätigkeit, in seinen Heilungen, seinen Mahlgemeinschaften sowie seiner Praxis der Sündenvergebung zum Ausdruck – und performativ zur Verwirklichung.21 Betrachten wir einige Aspekte der biblischen Rede vom Reich Gottes.

21 Vgl. Becker, J., Urchristentum, 21–29.

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Das Reich Gottes und das höchste Gut Zunächst kann man einen zeitlichen Aspekt in der biblischen Rede vom Reich Gottes diagnostizieren. Das Reich Gottes ist einerseits eine zukünftige Größe, deren Verwirklichung noch aussteht und als ultimative Bestimmung des Zieles der Geschichte Gottes mit der Welt betrachtet wird (Mk 10,23–25; Mk 14,25; Lk 13,28–30; Mt 7,21; 1.Kor 6,9f.; 1.Kor 15,50; Gal 5,21). Die Zukünftigkeit des Reiches Gottes wurde in besonderer Weise von Johannes Weiss22 (1863–1914) und Albert Schweitzer (1875–1965) betont. Andererseits ist das Reich Gottes eine gegenwärtige Größe, deren Anbruch bereits geschehen ist und die Gegenwart bestimmt (Lk 11,20; Lk 10,9; Lk 16,16; 1.Thess 2,10–12; Röm 14,17). Auffassungen, dass das Reich Gottes eine rein gegenwärtige Größe ist, erscheinen, wenn man nicht solche Vorstellungen dazuzählen will, die das Reich Gottes zugleich als innerpersonales, geistiges Geschehen betrachten, eher selten in der Geschichte der Christenheit. Charles H. Dodd (1884–1973) sprach im 20. Jh. davon, dass es sich bei dem Reich Gottes biblisch um eine realisierte Eschatologie handele. Vollständig in der jeweiligen Zeit und Gesellschaft der Gegenwart wird das Reich Gottes als realisiertes nur dort verstanden, wo es zum Schwärmertum kommt, etwa im Täuferreich zu Münster. Neben Texten, die das Reich Gottes als gegenwärtig oder zukünftig beschreiben, gibt es auch solche, die versuchen, die Spannung in einer Einheit aufzuheben (Mk 4,30–32; Lk 13,18–21; Mk 1,14f.). Während das Reich Gottes hier mit Hilfe von zeitlicher Distanz und Nähe beschrieben wird, finden sich andere Belege, die es mit räumlicher Distanz und Nähe beschreiben. Einerseits ist die Vorstellung zu nennen, dass das Reich Gottes ein räumlich ferner, nämlich himmlischer Bereich ist. Diese Vorstellung begegnet bereits vorjesuanisch (Dan 4,34; Ps 145,10–17). Andererseits ist die Vorstellung zu nennen, dass das Reich Gottes räumlich anwesend ist. Diese Vorstellung ist in den Vorstellungen der zeitlichen Gegenwart des Reiches Gottes vorausgesetzt. Eine Verbindung der Vorstellung von räumlich entferntem und räumlich gegenwärtigem Herrschaftsbereich findet sich dann auch dort, wo von einer Verschränkung von himmlischer und irdischer Welt die Rede ist. Exemplarisch geschieht dies etwa in der Rede von der Herabkunft des himmlischen Jerusalem auf die Erde (Apk 21,2). Eine andere Frage, die man an Beschreibungen des Reiches Gottes stellen kann, betrifft die Frage der Personalität. Einerseits wird das Reich Gottes als interpersonale oder soziale Größe gedacht, die die Wohlordnung zwischen den Personen betrifft (Lk 13,23–30). Betont wird dieser Aspekt überall dort, wo das Reich Gottes entweder selbst als ethische Größe betrachtet wird oder Einfluss auf die Ethik ausübt. Diese Unterscheidung ist deswegen wichtig, weil damit nicht impliziert ist, dass es sich automatisch um Auffassungen handelt, die das Reich Gottes auch als durch ethisches Handeln bewirkt verstehen. Andererseits wird das Reich Gottes aber auch als innerpersonale Größe verstanden, die auf die Vollendung der Person und ihres affektiven Zustandes 22 Vgl. Weiss, J., Die Predigt Jesu vom Reich Gottes, 49f.

zeitlicher Aspekt

räumlicher Aspekt

Frage der Personalität

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Ziele und Werte

Handlungssubjekte

Selbstverständnis Jesu

zielt (Lk 17,20f.). Eine solche Spiritualisierung findet sich in der Alten Kirche in der Theologie der Alexandriner, insbesondere bei Origenes (ca. 185– 254),23 in der mittelalterlichen Mystik, aber auch in der neuzeitlichen Theologie im Kulturprotestantismus bei Adolf von Harnack (1851–1930), wo es um die individuelle Seele und ihren Gott geht.24 Beide Aspekte, der interpersonale und der innerpersonale, können auch verbunden werden, etwa, wenn Paulus das Reich Gottes als eine Einheit von Gerechtigkeit, Frieden und Freude beschreibt (Röm 14,17). Dieser Ansatz zielt auf nichts anderes als auf die Koinzidenz von Gebot und affektiver Steuerung desselben, oder anders ausgedrückt: auf Spontaneität der Gesetzeserfüllung. Diese Verbindung von innerpersonalem und interpersonalem Aspekt des Reiches Gottes spielt bei der Entwicklung der reformatorischen Rechtfertigungslehre und der in ihr enthaltenen Auffassung des Verhältnisses von Glaube und Werken eine bedeutende Rolle. Exemplarisch kann hier Luthers Auffassung genannt werden, nach der der Heilige Geist in den Herzen der Glaubenden „Lust und Liebe zu allen Geboten“25 spendet. Eine weitere Frage, die an die christliche Rede vom Reich Gottes gestellt werden kann, besteht darin, dass man nach den Handlungssubjekten fragt, die das Reich Gottes befördern. Einerseits kann das Reich Gottes interessanterweise auf menschlichem Handeln beruhen und damit als ethisches Phänomen charakterisiert werden (Mt 5,17–20). Als allein auf menschlicher Tätigkeit beruhend wird das Reich Gottes im Christentum aber eher selten verstanden. Andererseits ist das Reich Gottes, wie der Name schon sagt, Wirkung des Zur-Herrschaft-Kommens Gottes, so dass es allein auf göttlichem Handeln beruht und nicht nach menschlichen Werten beurteilt werden kann (Lk 14,15–24). Auch diese Vorstellung findet sich im Christentum letztlich so gut wie nicht, weil das Reich Gottes konstitutiv an die Person Jesu Christi gebunden ist, die nicht allein als göttlich, sondern zugleich immer auch als menschlich zu verstehen ist. Beides, göttliches und menschliches Handeln, verbindet sich in Jesus bzw. Christus als Subjekt des Reiches Gottes. Dies zeigt sich einerseits darin, dass der historische Jesus in einzigartiger Weise den Selbstanspruch der Verwirklichung des Reiches Gottes in seinem Handeln sah, bis dahin, dass er in seinem Handeln den Maßstab für das Reich Gottes erblickte (Lk 12,8f.). Andererseits ist dies im späteren Bekenntnis der ersten Christen ausgedrückt, in dem das Reich Gottes und das Reich Christi oder des Sohnes identifiziert werden (1.Kor 15,24f.; Mt 20,21; Joh 18,36; Phil 2,9–11; Kol 1,15–17). Geschichtlich dürften sich die meisten Formen der Rede vom Reich Gottes in diese Kategorie einordnen lassen. Gefragt werden kann nun auch, auf welche Weise bereits im Wirken Jesu das Reich Gottes anbricht. Achtet man auf diese Frage, erhält man nicht nur eine Antwort auf die Frage nach dem Selbstverständnis Jesu, sondern auch eine Antwort auf die Frage nach der Extension der Gottesherrschaft. 23 Vgl. Frick, R., Die Geschichte des Reich-Gottes-Gedankens, 100–103. 24 Vgl. Harnack, A.v., Das Wesen des Christentums, 89f. 25 BSLK, 661.

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Das Reich Gottes und das höchste Gut Einerseits äußert sich die Gottesherrschaft in Jesu Wundertätigkeit. Neben unterschiedlichen Aspekten, die hier genannt werden könnten,26 ist allen Wundergeschichten gemeinsam, dass in die Gottesherrschaft auch die natürliche Welt eingeschlossen ist und sich so die Schöpfermacht Gottes in Jesu Wirken erschließt. Ebenso ist die Gottesherrschaft etwas, das in der personalen und sozialen Welt seine Wirkung zeigt. Dies kommt vor allem in Jesu Gleichniserzählungen zum Ausdruck. Die Pointe von Jesu Tätigkeit als Gleichniserzähler ist dabei weniger, dass seine Gleichnisse beschreiben, wie das Reich Gottes sein könnte, sondern dass im Erzählen der Gleichnisse in perillokutionärer Weise, d.h. in der Wirkung, die er bei den Zuhörern erzielt,27 das Reich Gottes selbst gerade anbricht. Indem die Gleichnisse als Erscheinungsform des Reiches Gottes damit als performative Rede zu kennzeichnen sind, erweist sich das Reich Gottes dann selbst als Kommunikationsgeschehen.28 Der dritte Aspekt, wie das Reich Gottes in Jesu Tätigkeit Wirklichkeit wird, verbindet den sozial-personalen mit dem natürlichen Aspekt. Denn das Reich Gottes bricht in Jesu Mahlgemeinschaften an, die er zusammen mit seinen Jüngern mit Zöllnern und Sündern hält. Auch hier verbindet sich der gegenwärtige mit dem zukünftigen Aspekt, denn die eschatische Realität kann von Jesus wesentlich als Mahl und damit als gemeinschaftlicher Genuss der Schöpfungsgaben verstanden werden (Mk 14,25).

Wundertätigkeit

Gleichniserzählungen

Mahlgemeinschaften

Fazit 45 Der Begriff des summum bonum, des höchsten Guts, kann rein dogmatisch als Gott selbst verstanden werden oder ethisch unter Einbeziehung des Menschen als die vollendete Gottesgemeinschaft im Reich Gottes. Neutestamentlich erscheint das Reich Gottes performativ in der Verkündigungstätigkeit Jesu, konkret in seinen Gleichniserzählungen, in seiner Sündenvergebungstätigkeit, in seinen Mahlgemeinschaften und in seiner Heilungstätigkeit. Die unterschiedlichen Zeugnisse des NT bringen unterschiedliche Aspekte der Rede vom Reich Gottes zum Ausdruck: Beinhaltet sind zeitliche Aspekte, indem das Reich Gottes als zukünftig, als gegenwärtig oder als schon in der Gegenwart anbrechend, aber seiner Vollendung noch harrend beschrieben werden kann. Beinhaltet ist ein räumlicher Aspekt, indem das Reich Gottes als diesseitig, jenseitig oder in einer Verbindung von diesseitig und jenseitig gesehen werden kann. Beinhaltet sind personale Aspekte, indem das Reich Gottes als innerpersonal, interpersonal und als eine Verbindung von Innerpersonalem und Interpersonalem gesehen werden kann. Hinsichtlich der Frage nach dem Subjekt des Reiches Gottes kann es dergestalt als ethische Größe verstanden werden, dass es auf menschlichem Handeln beruht. Andererseits kann es auch als ausschließlich auf göttlichem Handeln

26 Vgl. Becker, J., Jesus von Nazareth, 211–233. 27 Eine gute Einführung in die Terminologie der Sprechakttheorie von Austin und Searle und ihre theologische Anwendung liefert Brümmer, V., Theology and Philosophical Inquiry, 9–33. 28 Vgl. Becker, J., Jesus von Nazareth, 176–211.

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Ziele und Werte

beruhend gedacht werden. Durch die Person Christi als Subjekt des Reiches Gottes sind menschliche und göttliche Subjekthaftigkeit verbunden. Die Wundertätigkeit Jesu zeigt, dass das Reich Gottes die natürliche Welt einschließt, seine Tätigkeit als Gleichniserzähler, dass die personale und soziale Welt eingeschlossen ist, und in seinen Mahlgemeinschaften zeigt sich, dass natürlicher und personaler Aspekt verbunden sind.

8.2.1 Das Reich Gottes auf Erden bei Schleiermacher

Reich Gottes auf Erden

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) betrachtet die Ethik aus einer dreifachen Perspektive. Geht man davon aus, dass ethische Subjekte auf das sittlich Gewollte aus sind, kann von einer Tugendethik gesprochen werden. Unter dem Gesichtspunkt des Vollzugs kann von einer Pflichtenethik gesprochen werden und unter dem Gesichtspunkt seines Realisiertseins kann von einer Güterlehre gesprochen werden: Hier ist das höchste Gut das Reich Gottes auf Erden.29 Dieses Reich Gottes auf Erden ist durch folgende Kennzeichen bestimmt: 1. Es versteht sich als beruhend auf der Gesamtsumme allen Handelns von Handelnden in der Welt bzw. in der kulturellen Gestaltung der Natur, sofern in dieser die Überwindung der Unsittlichkeit durch Sittlichkeit geschieht.30 2. Da die Sittlichkeit nach Schleiermacher von der Frömmigkeit abhängig ist und diese darin besteht, dass das unmittelbare Selbstbewusstsein über das zeitliche Sinnenbewusstsein dominiert, geht es beim Reich Gottes auf Erden nicht um eine völlige Ausschaltung der Unsittlichkeit. Es gibt einen deutlichen eschatischen Vorbehalt: Der ethische Prozess menschlichen Handelns strebt damit einem Ziel zu, das selbst kein ethisches Produkt (das Reich Gottes an sich) ist. Realisiert werden kann vielmehr „nur“ das Reich Gottes auf Erden.31 3. Da die Dominanz des unmittelbaren über das zeitliche Bewusstsein bei Schleiermacher „Erlösung“ bedeutet, diese Erlösung aber in Christus ihren Anfang nimmt und sich im Gemeingeist in der Kirche ausbreitet, ist das Reich Gottes auf Erden „die Art und Weise des Christen zu sein, die sich immer durch Handeln muß zu erkennen geben.“32 Da dieses Handeln in allen Lebensbereichen 29 30 31 32

Vgl. Herms, E., Reich Gottes und menschliches Handeln, 104. Vgl. Herms, E., Reich Gottes und menschliches Handeln, 110. Vgl. Herms, E., Reich Gottes und menschliches Handeln, 114f. Schleiermacher, F., Christliche Sitte, 13.

Das Reich Gottes und das höchste Gut

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erfolgt (Politik, Wirtschaft etc.), bezieht es sich auf Kirche und Welt bzw. auf eine gegenseitige Durchdringung von Kirche und Welt.33 Die Beschreibung des höchsten Gutes als „Reich Gottes auf Erden“ ist daher eine religiöse Beschreibung, die aber andere Beschreibungen beinhaltet: als ewiger Frieden hinsichtlich der Rechtsordnung, als goldenes Zeitalter hinsichtlich der Wirtschaftsordnung und als vollkommenes Reich des Wissens hinsichtlich der Wissenschaftsgestalt.34 Deutlich ist, dass hier sowohl die biblische Unterscheidung des gegenwärtigen Aspekts vom zukünftigen Aspekt der Rede vom Reich Gottes aufgenommen wird als auch die Unterscheidung, dass das Reich Gottes einerseits durch menschliches Handeln realisiert wird, andererseits aber jenseits von menschlichem Handeln liegt. Wie immer man auch Schleiermachers bewusstseinstheoretisches Paradigma beurteilen mag, wird man doch zugeben müssen, dass die Unterscheidung von Gott und Mensch gewahrt ist und dass dem durch menschliches Handeln Erreichbaren deutliche Grenzen gesetzt sind. Nicht ganz deutlich wird allerdings, worin die die Unsittlichkeit überwiegende Sittlichkeit besteht. Der Verweis auf den Frömmigkeitsbegriff ist hier zwar – wenn auch nur innerhalb des bewusstseinstheoretischen Paradigmas Schleiermachers – verständlich und konsequent, aber noch unvollständig: Wird nicht auch hier versteckt auf Werte rekurriert, die sich in diesem christlichen Leben ausdrücken? Fazit 46 Schleiermachers Güterlehre kulminiert im Begriff des Reiches Gottes auf Erden als relativ höchstem Gut. Es meint einen Gesamtzustand allen welthaften Handelns, in dem Sittlichkeit gegenüber Unsittlichkeit überwiegt, keinen Zustand, in dem Unsittlichkeit vollkommen ausgeschlossen wäre.

8.2.2 Richard Rothes Auffassung vom Reich Gottes

Während bei Schleiermachers Rede vom durch menschliches Handeln verwirklichbaren Gut als Reich Gottes auf Erden noch der eschatische Vorbehalt erkennbar ist und daher alles menschliche Handeln letztlich auf die Verwirklichung des höchsten Gutes zielt, dieses aber nicht erreichen kann, so dass man durchaus in Konkordanz zu unserer Terminologie sagen kann, dass es Schleiermacher hier um vorzügliches Handeln im Sinne des vorzuziehenden Handelns geht, 33 Vgl. Herms, E., Reich Gottes und menschliches Handeln, 119f. 34 Vgl. Herms, E., Reich Gottes und menschliches Handeln, 122f.

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Ziele und Werte

Produkt menschlich-sittlichen Handelns

Theokratie

Gottes Handeln und menschliches Handeln

wird diese Unterscheidung in der christlichen Tradition mitunter auch aufgegeben, so dass das Reich Gottes als höchstes Gut ein Produkt menschlich-sittlichen Handelns bzw. menschlicher Kulturtätigkeit ist. Als beliebtes Beispiel könnten hier beispielsweise einige Aufklärungstheologien genannt werden.35 Aber auch in der Zeit nach Schleiermacher wurde die Unterscheidung zwischen dem Reich Gottes an sich und dem Reich Gottes auf Erden nicht immer beachtet. Ein solches Beispiel dürfte in der Theologie Richard Rothes (1799– 1867) zu finden sein. Rothe schreibt über das vollendete (!) Reich Gottes: „Da in den moralischen Proceß seinem Begriff zufolge der religiöse eingeschlossen ist, so involviert die Vollendung von jenem, wie sie in dem hier erreichten Punkte eingetreten ist, wesentlich auch die von diesem. Die vollendete Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit muß gedacht werden als wesentlich zugleich das absolute Bestimmtsein derselben durch Gott und folglich das absolute Zugeeignetsein des Menschen an Gott. Oder näher: das vollendete menschliche Verstandesbewußtsein […] muß gedacht werden als wesentlich zugleich schlechthin vollständiges Gottesbewußtsein, – und die vollendete menschliche Willensthätigkeit […] als wesentlich zugleich schlechthin vollendete Gottesthätigkeit. Mit anderen Worten: mit der vollendeten (normalen) Entwicklung des menschlichen Verstandesbewußtseins und der menschlichen Willensthätigkeit sind wesentlich zugleich auch das Gottesbewußtsein und die Gottesthätigkeit schlechthin realisiert in der Menschheit. Das Gleiche gilt auch sofort von der religiösen Gemeinschaft. Jener allgemeine Staatenorganismus muß gedacht werden als wesentlich zugleich das schlechthin vollendete Reich Gottes, als die absolute Theokratie (Gottesherrschaft). Eben damit koincidiren aber dann auch die religiössittliche Gemeinschaft und die ausschließend religiöse ihrem Umfang nach schlechthin, und es fällt sonach die letztere, d.h. die Kirche schlechthin hinweg.“36

Rothe geht also davon aus, dass das höchste Gut in der Verwirklichung der geschichtlichen Gemeinschaft der Menschheit besteht, sofern in dieser Gottes Handeln und menschliches Handeln identisch werden. In diesem Fall ist auch eine Gemeinschaft der Kirche überflüssig, weil die Welt selbst – oder wie Rothe sich ausdrückt, der „Staatenorganismus“ – die Kirche geworden ist, ja mehr als die Kirche geworden ist, da diese immer nur in Differenz zu anderen Gemeinschaften existiert und sie daher keinen eschatischen Rang haben kann. Soweit wären Rothes Aussagen noch unverdächtig. Als Übereinstimmung von Gottes Willen und des Menschen Willen mag man das höchste Gut durchaus in christlicher Tradition bestimmen kön35 Vgl. z.B. Lessing, G.E./Kiermeier-Debre, J., Erziehung des Menschengeschlechts. 36 Rothe, R., Theologische Ethik, Bd. 2, 475f.

163

Das Reich Gottes und das höchste Gut

nen – solange man es für durch sittliches Handeln selbst unproduzierbar hält. Genau dies scheint aber nicht der Fall zu sein, denn Rothe begreift das Reich Gottes als eine innergeschichtliche Realität: „Der konstruierte allgemeine Staatenorganismus ist, vom Standpunkte der Geschichtsbetrachtung aus angesehen, nichts weniger als ein phantastischer Traum; vielmehr zeigen sich die bestimmten Einleitungen zu seiner künftigen Realisirung, nach Myriaden von Jahrhunderten, bereits sehr deutlich […]. Die jetzige Geschichte lässt augenscheinlich den Staat zunehmen, die Kirche (nicht zu verwechseln mit dem wahren, lebendigen Christenthum,) abnehmen. Sollten die Völker denn wirklich niemals hinter die einfache Wahrheit kommen, dass die Interessen aller durchaus gegenseitige sind?“37

Das höchste Gut ist hier also als innergeschichtlich verwirklichbar gedacht. Rothe betrachtet sogar die gegenteilige Meinung als abwegig. Interessant ist seine Begründung: Die vermeintlich einfache Erkenntnis der Gegenseitigkeit der Interessen genüge, um zur Erkenntnis der Verwirklichbarkeit zu kommen. Rothe rekurriert mit der Gegenseitigkeit der „Interessen“ hier auf eine utilitaristische Denkfigur! Damit denkt Rothe hier – wie auch der Utilitarismus – allzu formal. Zwar macht nicht allein die Gegenseitigkeit der Interessen (denn diese könnten ja auch vollends unsittlich sein), sondern deren Koinzidenz mit dem Gotteswillen das höchste Gut des Reiches Gottes aus. Aber dieser Gotteswille ist letztlich nicht material bestimmt. Es fehlen in dieser Güterethik letztlich Werte, nach denen das höchste Gut inhaltlich bestimmt werden könnte. Fazit 47: In der Theologie Richard Rothes findet sich ein Beispiel, wonach das vollendete Reich Gottes in optimistischer Weise als vollendete, geschichtlich verwirklichte, menschliche Kulturtätigkeit begriffen wird, die ein zukünftiger, aber realer Zustand der Gesellschaft sein wird.

8.2.3 Mission als das höchste Gut

Nach christlicher Überzeugung koinzidieren im Reich Gottes Wollen und Sollen, da es einen Zustand beschreibt, in dem das Gesetz in den Herzen der Menschen erfüllt (Jer 31,33) ist. Das Reich Gottes ist also ein Zustand, in dem bei allen Interaktanten die Doppelregel der Liebe gelebt wird und diese ihren Gebotscharakter verloren hat. Am schärfsten lässt sich nach Hubertus G. Hubbeling (1925–1986)38 diese Einsicht mit Hilfe der deontischen Logik und der Modallogik 37 Rothe, R., Theologische Ethik, Bd. 2, 472f. 38 Vgl. Hubbeling, H.G./Swart, H.C.M.d., Inleiding, 114.

Reich Gottes

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Ziele und Werte

logische Definition des Reiches Gottes

Theosis

ausdrücken. Wir hatten gesehen (s.o. Kap. 4.3.1, Exkurs), dass beide Logiken größtenteils parallel verlaufen, bis auf zwei Ausnahmen: Während in der Modallogik der Schluss von der Faktizität auf die Möglichkeit vorausgesetzt ist (p→Mp), verbietet sich in der deontischen Logik der Schluss von der Faktizität auf die Erlaubnis (ungültig: p→Pp). Ebenso ist in der Modallogik der Schluss von der Notwendigkeit auf die Faktizität gültig (Np→p), nicht aber in der deontischen Logik der Schluss von der Gebotenheit auf die Faktizität (ungültig: Op→p). Eine logische Definition des Reiches Gottes könnte lauten: Das Reich Gottes bezeichnet einen Zustand, in dem Modallogik und deontische Logik völlig parallel verlaufen und in dem es diesen Unterschied nicht mehr gibt, und zwar ohne dass die Gesetzmäßigkeit jener auf diese reduziert würde (oder umgekehrt). Man kann also nicht sagen, die Modallogik würde zur deontischen Logik oder die deontische Logik würde zur Modallogik. Ebensowenig kann man sagen, das Sollen ginge allein im Wollen auf oder das Wollen allein im Sollen. Zwar wird das Gesetz Evangelium, aber eben auch das Evangelium Gesetz. Als Realisation der Doppelregel der Liebe entspricht das Reich Gottes daher der Vollendung der Bestimmung der Schöpfung, ja es ist erst die wirkliche Aktualisierung der Schöpfung, der gegenüber alle davon abweichenden Zustände eigentlich noch im Modus des Vorläufigen und des Nichtwirklichen verharren. Das Reich Gottes in diesem Sinne ist eine eschatische Größe: Es kann durch menschliches Handeln nicht erreicht werden, da es auf Bedingungen zielt, die menschlichem Handeln nicht verfügbar sind, aber es kann nicht ohne menschliches Handeln erreicht werden. Es setzt die Konkarnation des Heiligen Geistes, sein inspirierendes39 und vollendendes Handeln voraus. Damit ist es eine Größe, deren Subjekt Gott ist, aber nicht ohne den Menschen. Daher ist es die vollendete Gottesgemeinschaft und insofern das unmittelbare, kommunikative Zusammensein der Geschöpfe mit Gott (Theosis40). Es ist genauso eine soziale wie eine personale Größe, denn es kann nicht verwirklicht sein ohne den Wandel der Innerlichkeit einer Person, ja der Aktualisierung der Person an sich, aber es kann auch nicht verwirklicht sein ohne das vollkommene Liebesverhältnis der Nächstenliebe zwischen den Personen. Ist im Hier und Jetzt das Gesetz erfüllt, weil partikular das Evangelium zum Ziel gekommen ist und die Af39 Vgl. Mühling, Concarnation. 40 Der Begriff der Theosis kann unterschiedliche Bedeutung haben, vgl. Saarinen, R., Art. Theosis. Bei Anasthasius v. Sinai, Wegweiser, PG 89, 36, bedeutet sie keine Aufhebung der menschlichen Natur. Hier ist sie im strikten Sinne als nicht mediale Inkorporation in die innertrinitarische Kommunikation verstanden, vgl. Mühling, M., Eschatologie, 259–262.

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Das Reich Gottes und das höchste Gut

fekte und der Wille des Menschen gewandelt sind, ist das Reich Gottes eine gegenwärtige Größe. Es bleibt aber auch eine zukünftige Größe, solange dieser Zustand nicht universal ist. Dass es sich bei dem Übergang zwischen dem unter der Ambivalenz stehenden realen Sein des Reiches Gottes im Hier und Jetzt und zwischen seiner Vollendung um einen nur graduellen Übergang handele, der sich durch menschliches Handeln oder durch die Summe menschlichen Handelns und des natürlichen Geschehensprozesses ereignen könnte, ist dabei radikal ausgeschlossen. Dies ist mehr als eine Behauptung, wenn man die Zentraldefinition des Reiches Gottes als Parallelität von Modallogik und deontischer Logik genau betrachtet: Denn diese Parallelität und Identität unreduziert zu denken, ist uns unter den Bedingungen des gegenwärtigen gefallenen Zustands, der auch die Depravation der Vernunft einschließt, de facto unmöglich. Als eschatische Größe ist das Reich Gottes zwar das höchste Gut, aber es ist ein höchstes Gut, das nicht in dem Sinne menschliches Handeln im Hier und Jetzt bestimmen kann, dass alles ethische Handeln zum hinreichenden Mittel würde, so dass Ethik im weiteren Sinne in technischem Handeln und in der Befolgung von Kunstregeln bestünde.41 Der Grund liegt in folgendem Sachverhalt: Das Reich Gottes ist weder eine Idealisierung noch ein Ideal.42 Idealisierungen sind Abstraktionen von der Wirklichkeit zu hermeneutischen Zwecken unter bewusster Ausblendung wirklichkeitsbestimmender Faktoren, wie etwa in der Modellbildung der Naturwissenschaften. Einen perfekten kugelförmigen Körper gibt es nicht unter geschichtlichen Bedingungen, und es macht keinen Sinn, sein Handeln nach dessen empirischer Suche oder Produktion auszurichten. Im Gegenteil, es könnte sogar negative Folgen haben, weil es von der geschichtlichen Realität ablenkt. Ideale wie Freiheit oder Gerechtigkeit hingegen können als Utopien der Motivation ihrer partikularen Verwirklichung unter geschichtlichen Bedingungen gelten, weil nichts dagegen spricht, ihre Realisation anzunehmen und sich alle gesellschaftlichen Zustände, die nicht mit dem Ideal identisch sind, als nur quantitativ oder graduell minderwertige Realisationen des Ideals zu denken. Das Reich Gottes ist keine Idealisierung, denn es bezeichnet einen Zustand der tatsächlich wirklich werden wird und unter geschichtlichen Bedingungen immer schon teilweise verwirklicht ist. Es kann auch zum Handeln motivieren. Darin gleicht es dem Ideal. Aber da es prinzipiell nicht durch das Handeln, das es motiviert, erreicht wer41 Vgl. gegen Herms mit Schleiermacher in Herms, E., Reich Gottes und menschliches Handeln, 106. 42 Vgl. Rescher, N., Pluralism, 195–198.

Idealisierungen

Ideale

166

Ziele und Werte

Reich Gottes als höchstes Gut

Zeugnis

Mission

Missionsbegriff in Misskredit

den kann, gleicht es auch einer Idealisierung, ohne in einer solchen aufzugehen. Es bleibt Projekt: Das Reich Gottes als höchstes Gut ist zwar das höchste Gut des Strebens, Erwartens und Hoffens des Menschen, aber es ist nicht das höchste Gut und sinnvolle Ziel des ethischen Handelns des Menschen. Nun ist menschliche Kommunikation aber notwendige Bedingung der Kooperation zwischen Gott und Mensch in der Glaubenskonstitution. Ebenso ist die Verwirklichung der Doppelregel der Liebe eine asymmetrische Kooperation zwischen dem Liebesverhältnis zwischen Gott und Mensch, dergestalt, dass das Reich Gottes durchaus Projekt dieser gemeinsamen Liebesbeziehung bleibt. Innerhalb dieses Projekts ist aber die Aufgabe des Menschen klar: Das Evangelium und damit die Liebe Gottes zu bezeugen und zu kommunizieren, und zwar nicht einfach durch verbale oder nonverbale Kommunikation, sondern durch jegliches Handeln des Menschen. Denn zeichenhafte Kommunikation und ausgeführte Handlungen gehören als Handeln alle zum Ausdruck des Menschseins und sind insofern eine fundamentalanthropologische (und sogar eine fundamentaltheologische) Bedingung menschlichen Seins und Handelns. Die korrekte Bezeichnung der Mitarbeit des Menschen an der Verwirklichung des Reiches Gottes in allen Handlungsfeldern besteht daher im Zeugnis der Wirklichkeit des Handelns Gottes. Das Reich Gottes auf Erden ist damit schlicht der Zustand menschlichen Handelns, in welchem dieses als Zeugnis dient. Das Wort und das Handeln Gottes unter bewusstem Verzicht zu bezeugen, seine Effektivität verwirklichen zu wollen (was ein Widerspruch und daher kein Zeugnis wäre), ist aber nichts anderes als der richtig verstandene Begriff der Mission. In jedem geschichtlich-gesellschaftlichen Zustand wie auch in jedem personal-lebensgeschichtlich verwirklichbaren und verwirklichten Zustand bleibt als höchstes Gut ethischen Handelns nichts anderes als dieses Zeugnis. Wäre das Reich Gottes ein Ideal, wie es bei Rothe der Fall zu sein scheint, würde sich die christliche Ethik kaum von einer utilitaristischen Ethik unterscheiden. Sie wäre der gleichen wesentlichen Gefahr ausgesetzt: dass der Zweck die Mittel heiligen würde. Genau diese Grundverwechselung ist nun dafür verantwortlich, dass der Missionsbegriff in Misskredit geraten ist, weil es allzu viele geschichtliche Zustände gab, in denen missionarisches Handeln missbraucht wurde und gerade darum kein missionarisches Handeln mehr war. Wird das christliche Wirklichkeitsverständnis in einer Weise rekonstruiert, dass die moralische Ontologie vom Ideal des Reiches Gottes abhängig wäre, ließen sich bestimmte Werte, wie die Unverletzlichkeit der Person, nicht mehr ableiten. Wird es aber so rekonstruiert,

167

Das Reich Gottes und das höchste Gut

dass die Unterscheidung des Reiches Gottes an sich und des Reiches Gottes auf Erden beachtet wird, ergeben sich die hier vorgenommene Wertung des höchsten Guts und entsprechend mögliche andere Teilziele des Handelns. Es ergeben sich aber auch ganz andere partikulare Werte, die nun in starken Wertungen von Teilzielen menschlichen Handelns angewandt werden können. Es wäre falsch, diese Werte exakt zu benennen und wie Scheler in einer Ordnung zu katalogisieren. Die Werte entspringen weder apriorischer Reflexion wie bei Scheler noch rationaler Deduktion, sondern sie ergeben sich aus konkreten Lebenszusammenhängen und Lebensformen. Sie sind quasi-intuitiv einsehbar: Sie sind spürbar. Sie überzeugen mit innerer Evidenz. Gegen sie zu verstoßen, würde das Gewissen auf den Plan rufen (s.u.). Sie können nicht universal begründet werden, sondern nur durch Explikation oder Artikulation des Wirklichkeitsverständnisses, in das sie eingebettet sind. Sie sind starke Wertungen im Vollzug der christlichen Praxis. Sie sind nicht rational zu deduzieren, wohl aber ihrerseits von der christlichen Ethik selbst noch einmal explizit vor dem Hintergrund des christlichen Wirklichkeitsverständnisses und der in ihm enthaltenen Begriffe des höchsten Guts und des höchsten Guts auf Erden zu bewerten. Fazit 48 Das Reich Gottes an sich bedeutet ethisch betrachtet einen Zustand der Koinzidenz von Sollen und Wollen, von Sollen und Sein oder die vollständige Parallelität von Modallogik und deontischer Logik. Als solches ist es die Verwirklichung des Gesetzes unter den Bedingungen des Evangeliums, die unmittelbare kommunikative Liebesgemeinschaft mit Vater, Sohn und Heiligem Geist bzw. die Vollendung der Welt. Als solches kann das Reich Gottes nicht ohne den Menschen, aber auch nicht hinreichend durch den Menschen erreicht werden. Es ist keine Idealisierung, weil es faktisch erreicht werden wird, aber es ist auch kein Ideal, weil menschliches Handeln nicht zum Reich Gottes an sich führt. Der Anteil menschlich möglichen Handelns an der Verwirklichung des Reiches Gottes besteht einfach nur im kommunikativen, verbalen und nonverbalen, Diakonie einschließenden Zeugnis des Vertrauens auf das Evangelium. Zeugnis in diesem Sinne ist aber nichts anderes als Mission. Insofern ist das letzte mögliche Ziel, das durch menschliches Handeln verwirklichbar ist, d.h. das Reich Gottes auf Erden, Zeugnis oder Mission.

Literaturempfehlung Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart 21994. Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Halle 1916. Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M. 2005. Herms, Eilert: Reich Gottes und menschliches Handeln, in: Ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 101–123.



9. Erwartungen und Hoffnung

Erwartungen sind weder Ziele noch Ergebnisse des Handelns. Ein Lottospieler wird das Ziel des Gewinnens verfolgen, aber meist nicht die Erwartung haben, zu gewinnen. Ebenso sind Erwartungen als Aussagen über die Gegenwart der Zukunft von den Ergebnissen, die 1 Person die zukünftige Gegenwart be1c 2 Vernunft treffen, unterschieden. Erwar1b andere Affekte Personen tungen hat man mit mehr oder minder großer Wahrscheinlich3 1a keit prospektiv und sie stehen natürliches Wille Geschehen unter der affektiven Differenz von Furcht und Hoffnung. Er4a wartungen sind daher, wie der 9 empirische Ergebnis Gewissheiten Glaube selbst, für die handeln4 de Person nicht wählbar. Ob ich Gewissheiten furchtsam oder hoffnungsvoll 4b 8 religiöse Ziele in Bezug auf bestimmte SachGewissheiten verhalte in die Zukunft blicke, ist kein sinnvoller Gegenstand 5 7 Regeln Erwartungen 6 von Wahlentscheidungen, sonMittel dern beruht auf Plausibilitätserfahrungen. Handeln vollzieht Abb. 23: Erwartungsethiken sich immer unter dem Bewusstsein solcher Erwartungen, die Handeln mitbestimmen und motivieren. Insofern überrascht es, dass Erwartungen im Gegensatz zu zahlreichen anderen Elementen des Handlungsbegriffs eher selten in den Fokus der Ethik geraten sind. Am ehesten ist dies noch in der theologischen Ethik selbst geschehen. In der nicht theologischen Ethik findet man eine Betrachtung von Erwartungen selten. Das deutlichste Beispiel für eine Berücksichtigung von Erwartungen im Bereich der nicht theologischen Ethik dürfte in der sog. Technikfolgeabschätzung bestehen. Erwartungen

9.1 Technikfolgeabschätzung Die Technikfolgeabschätzung (Technology Assessment) entstand Mitte der 1960er Jahre in den USA aus Bedürfnissen politischer Transparenz.1 1

Vgl. Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 65.

169

Technikfolgeabschätzung

Spätestens seit Anfang der 1970er Jahre Prognosen zur wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklung öffentlich eine große Rolle spielten,2 und seit der technische Fortschrittsoptimismus seit Ende der 1960er Jahre zunächst langsam,3 dann ab den 1980er Jahren beschleunigt abnahm, hat sich das Instrument der Technikfolgeabschätzung als Steuerungs- und Beratungselement politischer Meinungsbildung immer mehr durchsetzen können. Dabei handelt es sich um keinen einheitlichen Begriff. Während das Ziel einigermaßen klar ist – die Folgen und Nebenfolgen von Technologien abzuschätzen und bewerten zu können, um besser steuernd im Handeln entscheiden zu können – bleiben Methoden, Verfahrensfragen und Sozialformen der Technikfolgeabschätzung vielfältig. Neben Wissenschaftlern der unterschiedlichsten Disziplinen können auch andere Personen der Öffentlichkeit und Bürger beteiligt sein, Parlamentsberatung tritt neben Wissenschaftsberatung und die Methoden stammen aus unterschiedlichen Wissenschaften.4 Technikfolgeabschätzung ist von Anfang an als wertendes und gerade nicht als wertfreies Unternehmen gekennzeichnet. Schon die Auswahl und die Art und Weise, die Fragen hinsichtlich einer Technologie zu stellen, beeinflusst das Ergebnis,5 ebenso das Bild der Zukunft, das vorausgesetzt wird. So konnte Zukunft im Rahmen der Technikfolgeabschätzung begriffen werden als prognostische Zukunft, die aus den heute gegebenen Systembedingungen im Prinzip vorhersehbar und determiniert ist, als gestalterische Zukunft, die wesentlich offen ist und deren Gestalt von den jetzigen Handlungsentscheidungen abhängt, oder als evolutive Zukunft, die – im Modell der Evolution gedacht – von zufälligen Selektionsfaktoren abhängt und deren Entwicklung emergent, d.h. erst retrospektiv erkennbar ist.6 Entsprechend wichtig ist es, diese zu den ontologischen Voraussetzungen zählenden Bedingungen transparent zu machen.7 Technikfolgeabschätzung hat es weniger mit den tatsächlichen Folgen oder Ergebnissen in der Zukunft, sondern mehr mit den Erwartungen der Gegenwart zu tun und insofern mit Zukünften im Plural: „Alles, was zukünftige Gegenwarten betrifft, ist nicht empirisch zugänglich, sondern befindet sich in unseren Gedanken, in den Debatten, in Texten oder in Diagrammen. Zukunft besteht grundsätzlich aus unseren gegenwärtigen Erwägungen über Zukünftiges. Empirisch zugänglich sind nur die Bilder, die wir uns auf verschiedenste Weise von der Zukunft machen, nicht aber die 2 3 4 5 6 7

Vgl. Meadows, D./Randers, I./Behrens, W., Grenzen des Wachstums. Vgl. z.B. Marcuse, H., Ende der Utopie. Vgl. Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 114–118. Vgl. Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 125. Vgl. Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 141–143. Vgl. Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 145.

Zukünfte

170

Erwartungen und Hoffnung Zukunft selbst, wie sie einmal Gegenwart sein wird. Auf diese Weise wäre es konsequent, von Zukunft nur im Plural zu sprechen.“8

Die Technikfolgeabschätzung hat so die Aufgabe der bewertenden Konstruktion verschiedener Zukünfte. Spezifische, dem Unternehmen der Technikfolgeabschätzung inhärente Eigenarten bestehen u.a. im „Experten-Dilemma“ und im „Collingridge-Dilemma“: ExpertenDilemma

CollingridgeDilemma

Das Experten-Dilemma besteht darin, dass im Laufe der politischen Meinungsbildung zu Technikfragen oft verschiedene Gutachten und Gegengutachten eingeholt werden, die jeweils verschiedene Handlungsoptionen hinsichtlich einer bestimmten Technik bevorzugen. „Epistemologischer Hintergrund des Expertendilemmas ist, dass sich zu Fragen gesellschaftlichen Handelns Wissen und Werte nicht strikt trennen lassen. Die Trennung in eine deskriptive (wertfreie) Phase des ‚Erkennens‘ von Technikfolgen und eine darauf folgende Phase der gesellschaftlichen Bewertung […] ist eine Fiktion: das, was erkannt werden kann, hängt von vorgängigen bewertenden Entscheidungen ab.“9 Das nach David Collingridge (1945–2005) – einem englischen Pionier10 der Technikfolgeabschätzung – benannte Collingridge-Dilemma besteht darin, dass in den frühen Phasen einer Technologieentwicklung die Gestaltungsmöglichkeiten von Zukünften durch menschliches Handeln zwar am größten sind, die Orientierungsleistung, die die Technikfolgeabschätzung zum Handeln beitragen kann, allerdings am geringsten, da die Zahl der Erwartungen höher und die durch die zu untersuchende Technologie bestimmten Zukünfte offener und weniger stark prognostizierbar sind. Umgekehrt ist in späteren, mehr etablierten Phasen der Technikentwicklung und -anwendung die Zukunft besser prognostizierbar, allerdings sind die Gestaltungsmöglichkeiten durch Handeln, etwa das Verhindern negativer Folgen, wesentlich geringer. Dabei spricht dies nicht gegen die Verwendung des Instruments der Technikfolgeabschätzung: „Technikfolgenabschätzung ist danach als begleitend im Entwicklungsprozess zu konzeptualisieren. Je nach Entwicklungsphase stehen andere Fragen, andere Zwecke, andere Methoden, andere Kontexte und andere Problemlösungsmöglichkeiten im Mittelpunkt.“11

Die in der Technikfolgeabschätzung angewandten Methoden sind vielfältig. Im Prinzip herrscht eine Methodenoffenheit. Verwandt werden u.a.: Input-Outputanalysen

Stoffstromanalysen und Input-Outputanalysen: Rohstoffe und Energieträger einer Technik werden auf der Inputseite mit Emissionen auf der Outputseite verrechnet.12

8 9 10 11 12

Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 145. Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 156. Vgl. sein Standardwerk Collingridge, D., Social Control of Technology. Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 167. Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 170–176.

171

Technikfolgeabschätzung Ökobilanzierung: „Die Ökobilanzierung stellt eine Operationalisierung der Lebenszyklusanalyse dar. Sie soll die durch Produkte, Prozesse, Verfahren, Anlagen oder Dienstleistungen entlang ihrer gesamten Lebenszyklen – Rohstoffförderung und Materialproduktion, Herstellung des interessierenden Produktes, Nutzung und Entsorgung – verursachten Umweltbelastungen in möglichst objektivierter Weise erfassen.“13 Risikoanalyse: Mögliche zukünftige Schäden sollen in ihrer Wahrscheinlichkeit bewertet werden.14 Trendanalyse: Ausgehend vom gegenwärtigen statistischen Datenmaterial und von unterschiedlichen zur Verfügung stehenden mathematischen Deutungsfunktionen, die zu diesem Datenmaterial passen, wird die Zukunft extrapoliert. Die prognostizierte Zukunft ist bei diesem Verfahren unabhängig von Funktionszusammenhängen eines Systems und insofern konservativ, als mit einer mehr oder weniger kontinuierlichen Entwicklung gerechnet wird.15 Modellbasierte Simulationen: Hier wird versucht, die hauptsächlichen Wirkmechanismen eines Systems modellhaft zu erfassen, um zur Konstruktion einer Zukunft zu gelangen. Da Modelle neben positiven und negativen Analogien immer auch auf unbestimmten oder neutralen Analogien beruhen,16 von denen noch nicht bekannt ist, worin sie bestehen oder wie sie sich auswirken, können Modelle, die sich für eine bestimmte Zukunft als retrospektiv sinnvoll erwiesen haben, für eine weitere Zukunft auch nahezu vollständig versagen.17 Szenariotechnik: Die Szenariotechnik versucht, die verschiedenen Faktoren eines Systems hinsichtlich ihrer Interdependenz zu bewerten, z.B. mittels einer Einflussmatrix.18 Es gibt nie nur ein richtiges Szenario, sondern im Prinzip unendlich viele. „Im Gegensatz zu Trendextrapolationen wird nicht der Eindruck einer Zukunft erweckt, die man vorhersehen könne, sondern es wird – abhängig von verschiedenen angenommenen Randbedingungen – mit mehreren möglichen Zukünften gearbeitet. Szenarien geben nicht die Zukunft wieder, sondern beschreiben mögliche Zukünfte. Dadurch ist ihnen, anders als in Prognosen üblicher Art, der Gestaltungs- und Entscheidungsbezug inhärent.“19 Faktisch beschränkt man sich auf eine Anzahl von Szenarien, etwa ein worst case-, ein best case- und ein konservatives Szenario, das mit einer starken Gegenwartskontinuität rechnet. Auf diese Weise hofft man, die Bandbreite innerhalb eines „Szenariotrichters“ in etwa abbilden zu können.20 Verschiedene Verfahren der Expertenbefragung, diskursanalytische Verfahren und Beteiligungsverfahren ergänzen die derzeit gängigen Methoden.21 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 173. Vgl. Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 176–178. Vgl. Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 178–180. Vgl. Hesse, M.B., Models, 9ff. Vgl. Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 180f. Vgl. Retzmann, T., Szenario-Technik. Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 182. Vgl. Retzmann, T., Szenario-Technik Vgl. Grunwald, A., Technikfolgeabschätzung, 185–198.

Ökobilanzierung

Risikoanalyse Trendanalyse

Modellbasierte Simulationen

Szenariotechnik

172

Erwartungen und Hoffnung

Logik der Erwartungen

Extrapolation

Allen Methoden ist eines gemeinsam: Sie bewegen sich gemessen an der Logik der Erwartungen innerhalb des Erwartbaren,22 d.h. innerhalb partikularer weltlicher Erwartungshorizonte. Die Erwartungshorizonte werden gebildet durch alle Erwartungen, die Menschen aufgrund ihrer augenblicklichen Lebenserfahrung besitzen. Zum Erwartbaren gehört auch das prospektiv Überraschende, d.h. dasjenige, was sich als völlig unwahrscheinlich darstellen mag, das sich aber immerhin im Bereich des Denkbaren und daher Prognostizierbaren befindet. Zur Logik der Erwartungen gehören aber noch zwei andere Klassen: Das absolut-retrospektiv Überraschende, das in keiner Weise vorhersehbar ist und nur im Nachhinein als Überraschung bezeichenbar ist, und das relativ-retrospektiv Überraschende: Das relativ-retrospektiv Überraschende kann teilweise erwartet werden, weil innerhalb eines Erwartungshorizonts genügend Evidenz für sein Eintreten besteht, aber es kann nicht bestimmt werden, worin das Überraschende besteht. Die Überraschungsqualität bleibt also völlig kontingent. Gute Geburtstagsüberraschungen gehören zu diesem Typus: Ich weiß, dass ich dieses Jahr Geburtstag haben werde. Das ist hinreichend, um Geschenke zu erwarten. Allerdings weiß ich in keiner Weise, worin diese Geschenke bestehen. Das relativ-retrospektiv Überraschende gehört zu einem Grundzug menschlichen In-derWelt-Seins: Kaum lebens- und handlungsfähig wäre eine Person, die aufhört zu erwarten, überrascht zu werden. Sowohl das absolut-retrospektiv Überraschende als auch das relativ-retrospektiv Überraschende gehören also zu den Handlungsbedingungen ethischen Handelns. Von der Technikfolgeabschätzung, die weitgehend mittels Extrapolation des Bekannten verfährt, kann es aber nicht erfasst werden.

Fazit 49: Erwartungen sind nicht mit Zielen identisch, da man auch Dinge erwarten kann, die man nicht als Ziel verfolgt. Ebenso sind Erwartungen nicht mit Folgen identisch, da Folgen eintreten können, die man nicht erwartet hat. Erwartungen stehen unter der affektiven Distinktion von Furcht und Hoffnung sowie unter einer rationalen Distinktion von Wahrscheinlichkeit und Überraschung. Das Erwartete und prospektiv Überraschende befindet sich innerhalb des Erwartungshorizonts. Mit diesen Arten der Erwartung beschäftigt sich die Technikfolgeabschätzung, die mittels verschiedener, meist extrapolativer Verfahren versucht, verschiedene Zukünfte prognostizierbar zu machen. Je weiter fortgeschritten eine spezifische Technik ist, desto sicherer ist die Analyse, aber desto unsicherer die Beeinflussungsmöglichkeit durch Handeln und um-

22 Vgl. zum Folgenden Mühling, M., Eschatologie, 41–45.

Theologische Ethiken der Erwartungen

173

gekehrt (Collingridge-Dilemma). Für das absolut-retrospektiv Überraschende fehlt jegliche Erfahrung, die es prognostizierbar machen würde; es kann nur im Nachhinein als Überraschung beschrieben werden. Für das relativ-retrospektiv Überraschende gibt es innerhalb des Erwartungshorizonts der Lebenserfahrung genug Evidenz, um seinen Eintritt erwarten zu können, allerdings bleibt nur retrospektiv diagnostizierbar, worin die erwartete Überraschung bestand.

9.2 Theologische Ethiken der Erwartungen 9.2.1 Das Reich Gottes, Erwartung und Hoffnung

Im Unterschied zu nicht-theologischen Zugängen zu einer ethischen Betrachtung von Erwartungen ist die theologische Ethik von Anfang an auf das relativ-retrospektiv Überraschende ausgerichtet: Auf die absolute Zukunft des Reiches Gottes als höchstes Gut, das zwar kein Zukunft des mögliches Ziel menschlichen Handelns ist, das aber zu dem gehört, Reiches Gottes was Christen begründet erwarten und erhoffen. Derjenige Anteil des relativ-retrospektiv Überraschenden, der aus der Erfahrung des Glaubens stammt, ist die Gewissheit der Auferstehung Christi durch Auferstehung das Christus vergegenwärtigende Handeln des Heiligen Geistes. Christi Christus, der den Anspruch hatte, die Herrschaft des Vaters durchzusetzen, ist mit diesem Anspruch nicht erfolglos ge1 blieben, sondern in der AufPerson 1c 2 Vernunft erstehung bestätigt worden. 1b andere Affekte Personen Christen nutzen mit dem Terminus der Auferstehung eine 3 Metapher, die zum Ausdruck 1a natürliches Wille Geschehen bringt, dass man sich gewiss ist, dass Christus nicht im Tod geblieben ist und seine 4a 9 empirische Ergebnis Verkündigung des höchsten Gewissheiten Gutes, des Reiches Gottes, er4 Gewissheiten folgreich ist. Was „Auferste4b 8 religiöse hung“ darüber hinaus seZiele Gewissheiten mantisch bedeutet, bleibt unbekannt. So sind Kreuz 7 5 Erwartungen Regeln und Auferstehung Christi 6 Mittel Modelle der christlichen Hoffnung: Sie sind hinreichender Grund für die Hoff- Abb. 24: Erwartungsethiken

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Erwartungen und Hoffnung

Eschatologie

nung auf die Vollendung des Reiches Gottes. Allerdings ist auch der retrospektive Aspekt gewahrt: Wie die Teilhabe an der Vollendung des Reiches Gottes für uns aussehen wird, bleibt weiterhin ein nur retrospektiv Überraschendes. Aufgrund des Charakters des höchsten Gutes nicht als Handlungsziel, sondern als Erwartungsgegenstand im Modus des relativ-retrospektiv Überraschenden gibt es einen Kontinuitäts- und einen Diskontinuitätsaspekt zwischen dem Leben und Handeln im Hier und Jetzt und der Vollendung des Reiches Gottes. Aufgrund des Diskontinuitätsaspekts ist es ausgeschlossen, dass das Reich Gottes selbst zum letzten Ziel rein menschlichen Handelns würde; Gefahren, wie sie in der Eschatologie Richard Rothes angedeutet sind, sind somit ausgeschlossen. Wenn das Reich Gottes aber kein mögliches Ziel menschlichen Handelns ist, kann es dann überhaupt handlungsrelevant werden? Oder ist christliche Eschatologie doch nichts anderes als ein Ausdruck einer Haltung, der von der Lebensgestaltung der Welt ablenkt und prinzipiell zum Dulden und Ertragen des jeweiligen gesellschaftlichen status quo beiträgt? Die Antwort auf diese und andere Anfragen lautet: Eben weil das Reich Gottes Gegenstand der christlichen Hoffnung ist, wird sich der Christ gerade nicht mit dem status quo einer spezifischen Lebenswelt abfinden, sondern sich aktiv an der Gestaltung der Lebenswelt beteiligen, und zwar in einem Maße, wie es von Erwartungshaltungen aufgrund des prospektiv Überraschenden gerade nicht möglich ist. Im Folgenden betrachten wir als Beispiel die Black Theology, eine Befreiungstheologie.

Fazit 50: Die Vollendung des Reiches Gottes ist Gegenstand hoffnungsvoller, relativretrospektiver Überraschung. Die Gewissheit der Auferstehung Christi ist hinreichender Grund zur Annahme der Erwartung der Vollendung des Reiches Gottes, während die konkrete Gestalt der Vollendung des Reiches Gottes retrospektiv überraschend bleibt. Christliche Eschatologie ist der Anfrage ausgesetzt, ob sie nicht zu Handlungsverzicht und damit zur Verfestigung des jeweiligen status quo einer Gesellschaft beiträgt. Faktisch bewirkt aber die Hoffnung auf das relativ-retrospektiv Überraschende der Vollendung des Reiches Gottes die Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten, auf die ansonsten verzichtet würde.

9.2.2 Hoffnung in der „Black Theology“

1970 erschien, noch unter dem Eindruck der Ermordung Martin Luther Kings geschrieben, A Black Theology of Liberation von James H. Cone (*1938). Aus der heutigen Perspektive handelt es sich dabei

175

Theologische Ethiken der Erwartungen

um eine sog. Kontextuelle Theologie, weil sie dezidiert aus der Perspektive der unterdrückten Afroamerikaner geschrieben ist. Die Titulation als „kontextuelle Theologie“ kann dabei unterschiedlich verstanden werden und ist nicht ganz unproblematisch. Versteht man darunter eine nur für einen bestimmten soziokulturellen Kontext gültige Theologie, wäre das Anliegen Cones verfehlt, denn er beansprucht keine partikulare, sondern im Gegenteil eine universale Gültigkeit der Black Theology. Versteht man darunter die Tatsache, dass jegliche Theologie in einem soziokulturellen Kontext erscheint und insofern „kontextuelle Theologie“ ist, ist die Bezeichnung nicht falsch, aber letztlich trivial. Cones Theologie lebt von ihren europäischen Vorgängern: Karl Barth (1886–1968), Paul Tillich (1886– 1965), Rudolf Bultmann (1884–1976) und insbesondere Jürgen Moltmann (*1928) und seine Theologie der Hoffnung23 werden positiv und modifizierend aufgenommen. Dabei stellt die Black Theology aber mitnichten einen kulturellen Import dieser europäischen Theologien in die spezifische kulturelle Situation Cones dar. Vielmehr wird aufgezeigt, wo Kontinuitäten dieser Theologien zur Black Theology bestehen, aber auch, wo keine solche Kontinuitäten bestehen. Bestehen keine Kontinuitäten, wird die Black Theology zum Maßstab der Kritik der europäischen Gesprächspartner. Cone wendet sich auch gegen die Vorstellung, die Black Theology sei eine relativ späte Erscheinung in der Mitte des 20. Jh. im Gefolge des civil rights movement. Eine solche Sichtweise spiegele vielmehr die Absicht der Unterdrücker wider und verkenne, dass die Black Theology entstand, als zum ersten Mal die Vorfahren der Afroamerikaner versuchten, sich gegen die Versklavung zu wehren.24 Hauptansatzpunkt der Theologie Cones ist dabei eine offenbarungsidentifizierte Theologie: Es handelt sich um eine Offenbarungstheologie, weil die theologische Erkenntnis rein auf Offenbarung beruht. Sie ist identifiziert, weil sich die Offenbarung Gottes in der Gegenwart in einer spezifischen Situation ereignet: dem Kampf der Afroamerikaner gegen die Unterdrückung. Aus dieser Offenbarungsidentifikation ergeben sich für Cone auch die Quellen und Kriterien der Theologie,25 wie auch deren wichtigster hermeneutischer Grundsatz: “The norm of all God-talk which seeks to be black-talk is the manifestation of Jesus as the black Christ who provides the necessary soul for black liberation.”26 23 24 25 26

Vgl. Moltmann, J., Theologie der Hoffnung. Vgl. Cone, J.H., Black Theology of Liberation, 27. Vgl. Cone, J.H., Black Theology of Liberation, 24–41. Cone, J.H., Black Theology of Liberation, 40.

Kontextuelle Theologie

Black Theology

Offenbarungsidentifikation

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Erwartungen und Hoffnung

Noch wichtiger ist, dass Cone von diesem Hauptmerkmal seiner Theologie aus seine Aufgabenbestimmung von Theologie an sich entwirft, universal für alle Zeiten und Räume gültig: “The task of Christian theology, then, is to analyze the meaning of hope in God in such a way that the oppressed community of a given society will risk all for earthly freedom, a freedom made possible in the resurrection of Jesus.”27 Freiheit

Die Aufgabe aller Theologie ist bei Cone also eine ethische: der risikobehaftete Einsatz gegen Unterdrückung und für irdische Freiheit. Die Bedingung der Möglichkeit besteht dabei gerade in einer Analyse der Bedeutung der christlichen Hoffnung, d.h. in der eschatischen Erwartung des aufgrund der Auferstehung Christi begründeten Reiches Gottes. Ausgeschlossen sein muss also die Vorstellung, die christliche Hoffnung sei eine Vertröstungshoffnung auf ein Jenseits. Sofern es solche Vorstellungen in der Kultur des Christentums gibt, werden sie als unchristlich gewertet: “An eschatological perspective that does not challenge the present order is faulty. If contemplation about the future distorts the present reality of injustice and reconciles the oppressed to unjust treatment committed against them, then it is unchristian and thus has nothing whatsoever to do with the Christ who came to liberate us.”28

Um diese unchristlichen Vertröstungshoffnungen ablehnen zu können, bedient sich Cone eines Arguments von Moltmann: “If one thinks that Christ’s work is finished, then there is nothing to do but wait for the Second Coming. But Moltmann’s concern is to show that such a view means that one has not really heard the promise of God. To hear God’s promise means that the church cannot accept the present reality of things as God’s intention for humanity. The future cannot be a perfection of the present. Therefore, ‘To know God’, writes Moltmann, ‘is to suffer God’”.29

Weil also die Hoffnung und Erwartung auf das Reich Gottes gerichtet ist, das gerade nicht in Kontinuität zum Bestehenden steht, ist christliches Handeln auch dann aktiv motiviert, wenn aus der Gegenwart keinerlei Erfolgsaussichten gewonnen werden können. Christliches Handeln orientiert sich nach Cone also gerade nicht an geschichtlich oder aus gegenwärtigen Verhältnissen prognostizierbaren Zukünften, wie dies beispielsweise in der Technikfolgeabschätzung geschieht. Würde christliche Hoffnung darauf ihr Handeln gründen wollen, gäbe es Situationen, in denen sie das Handeln ein27 Cone, J.H., Black Theology of Liberation, 4. 28 Cone, J.H., Black Theology of Liberation, 145. 29 Cone, J.H., Black Theology of Liberation, 148.

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Theologische Ethiken der Erwartungen

stellen müsste. Denn die Erfolgsaussichten wären zu gering, ja das Scheitern wäre vorprogrammiert. Die christliche Hoffnung auf das Reich Gottes ist aber immer Hoffnung durch das Kreuz hindurch und führt auch dann zum aktiven Handeln, wenn alle Prognosen auf Erfolg auf Basis weltlicher Erwartungshorizonte versagen. Christliche Hoffnung, weil sie nicht auf Basis extrapolativer, szenarischer oder modellhafter Zukünfte entworfen ist, motiviert dabei sogar zu einem Handeln, das den Verlust der eigenen Handlungsmöglichkeit im eigenen Tod in Kauf nimmt:

Erfolgsaussichten Kreuz

“Without a meaningful analysis of the future, all is despair. The guns, atomic power, police departments, and every conceivable weapon of destruction are in the hands of the enemy. By these standards, all seems lost. But there is another way of evaluating history; it involves the kind of perspective that enables blacks to say no in spite of the military power of their oppressors. If we really believe that death is not the last word, then we can fight, risking death for human freedom, knowing that the ultimate destiny of humankind is in the hands of the God who has called us into being. We do not have to worry about death if we know that it has been conquered and that as an enemy it has no efficacy. Christ’s death and resurrection have set us free. Therefore it does not matter that whites have all the guns and that, militarily speaking, we have no chance of winning. There comes a time when a people must protect their own, and for blacks the time is now.”30

Handeln auf Basis der Erwartungen welthafter Erwartungshorizonte, wie sie beispielsweise in der Technikfolgeabschätzung erforscht werden, bleibt erfolgsorientiert. Handeln auf Basis der Erwartung des Reiches Gottes als höchstem Gut ist – im Sinne weltlicher Erwartung – gerade nicht erfolgsorientiert; es motiviert auch dann zum Handeln, wenn keine Erfolgsaussichten bestehen, gerade weil das Reich Gottes kein mögliches Handlungsziel ist, gerade weil es nur durch das Gleichgestaltetwerden mit dem Kreuz Christi im gerechten Leiden und durch die nicht menschlichem Handeln verfügbare Auferstehung und Vollendung des Reiches Gottes erreicht werden kann. Für diese kontrafaktische Erwartung – so erinnern wir uns – riskieren Christen nach Cone alles. Cones Worte sind aus der Situation des Kampfes heraus geschrieben und insofern pathetischer als unsere Analyse. Aber auch jenseits der Situation des Kampfes ist seine Analyse gültig aufgrund der Grundstruktur christlicher Hoffnung, die auf der relativ-retrospektiven Erwartung des Reiches Gottes besteht. Man hätte den gleichen Sachverhalt auch an Jürgen Moltmanns Theologie aus unserem eigenen kulturellen Kontext oder aus dem Kontext der Befreiungstheo30 Cone, J.H., Black Theology of Liberation, 150.

kontrafaktische Erwartung

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Erwartungen und Hoffnung

Vorteile

Nachteile

Einsatz fremden Lebens

Gewaltfreiheit

logie Südamerikas, etwa am Beispiel Gustavo Gutiérrez’ Theologie, aufweisen können.31 Die Vorteile gegenüber anderen Handlungsbegründungen sind klar: Aufgrund seiner Erwartungen erhält der Christ eine Handlungsmotivation auch dann, wenn motivierende Ziele und Erwartungen nicht christlicher Ethikkonzeptionen keine Handlungen oder Handlungsbeteiligungen mehr empfehlen können. Gibt es neben diesen Vorteilen aber auch Nachteile oder Gefahren? Sind nicht nur die Ziele, die immerhin auf Handlungserfolg aus sind, Motivationsgrund des Handelns, wie im Utilitarismus, sondern auch die eschatische Hoffnung auf das relativ-retrospektiv zu erwartende Reich Gottes, dann ist die Gefahr des Missbrauchs nur umso höher. Nicht mehr der Zweck heiligt die Mittel, sondern schon die bloße Erwartung, die nicht mehr mit Erfolg rechnet. Im Falle Cones sind die Folgen deutlich: Auch der Einsatz des eigenen Lebens, ja sogar der Einsatz fremden Lebens ist gerechtfertigt: “Contrary to what whites say in their history books, black power is not new. It began when black mothers decided to kill their babies rather than have them grow up to be slaves.”32

Aber nicht nur der Einsatz des eigenen und fremden Lebens als Mittel ist gerechtfertigt, auch Gewaltfreiheit wird explizit abgelehnt, so dass Töten als Werk Gottes angesehen wird: “Like black power, black theology is not new either. It came into being when the black clergy realized that killing slave masters was doing the work of God.”33

Cones Theologie ist damit radikal, aber nicht fundamentalistisch; ein fundamentalistischer Literalismus der Schrift wird gerade abgelehnt, denn eine literalistische Bibelauslegung habe der Gewalt der Unterdrücker gedient. Die biblischen Schriften sind auslegungsbedürftiges Zeugnis, und die Interpretationsnorm ist die Offenbarung in der Black-Power-Bewegung selbst. Entsprechend gilt: “Even today the same kind of literalism is being used by white scholars to encourage blacks to be nonviolent, as if nonviolence were the only possible expression of Christian love. It is surprising that it never dawns on these white religionists that oppressors are in no moral position to dictate what a Christian response is.”34 31 Vgl. Gutiérrez, G., Befreiung, 223, und Moltmann, J., Theologie der Hoffnung, 266. 32 Cone, J.H., Black Theology of Liberation, 27. 33 Cone, J.H., Black Theology of Liberation, 27. 34 Cone, J.H., Black Theology of Liberation, 33f.

179

Theologische Ethiken der Erwartungen

Allein die Frage zu stellen, ob diese Konsequenzen von Cones Theologie kritisch zu betrachten sind, stellt den Fragenden auf die Seite der Unterdrücker. Dennoch sind diese kritischen Fragen an die Theologie Cones als akademische Theologie ein Zeichen von Respekt. Es sind im Wesentlichen drei Gründe, die zu den genannten Konsequenzen führen: 1. Die Erwartung des kontrafaktischen Reiches Gottes wird zum alleinigen Standard des Guten. Damit ist Cones Theologie das Beispiel einer monistischen Bestimmung des Guten. Das Gute wird ausschließlich vom Relat der Erwartung bzw. Hoffnung her bestimmt, der Beziehungsreichtum des Handlungsbegriffs spielt keine Rolle. 2. Offenbarung ist bei Cone historisch identifiziert. Sie ist mit der Black-Power-Bewegung identisch. Zwar ist es richtig, dass der Heilige Geist Christus vergegenwärtigt und Christus und sein Werk fortgesetzt ist. Allerdings findet dieses christusvergegenwärtigende Handeln des Geistes in der Welt gerade nicht wie die Inkarnation des Sohnes in Christus als Inkarnation, als raumzeitlich exakt zu identifizierendes Handeln statt. Das Handeln des Heiligen Geistes vollzieht sich vielmehr als Konkarnation, d.h. als Mitarbeit am inkarnatorischen Wirken Christi, und bleibt so den inspirierten Personen und Gemeinschaften strikt unverfügbar.35 Christus ist gegenwärtig – aber im Medium des Handelns des Geistes. Eine unmittelbare Gegenwart Christi bleibt der Parusie – d.h. der Realisierungsgestalt des Reiches Gottes – vorbehalten und ist gerade deren Spezifikum.36 Indem Cone aber diesen identifikatorischen Fehler begeht, kann gefragt werden, ob er – contra intentionem – das Reich Gottes tatsächlich noch im Modus der Erwartung denkt und nicht doch letztendlich im Modus des Handlungszieles. 3. Aus dieser Fehleinschätzung des konkarnierenden, Christus vergegenwärtigenden Handelns Gottes des Heiligen Geistes geht auch ein nicht unproblematisches Sündenverständnis hervor. Cone versteht Sünde als die “condition of human existence in which we deny the essence of God’s liberating activity as revealed in Jesus Christ”.37 Damit wird letztlich Sünde mit der white community identifiziert, ohne dass diese – aufgrund der fehlenden Anwesenheit von Offenbarung – in der Lage wäre, Sünde zu verstehen. Dass aber auch der Gerechtfertigte stets simul iustus et peccator bleibt,

35 Vgl. Mühling, M., Concarnation. 36 Vgl. Mühling, M., Eschatologie, 239. 37 Cone, J.H., Black Theology of Liberation, 112.

monistische Bestimmung des Guten

Konkarnation

Sünde

180

Erwartungen und Hoffnung

bleibt hier undenkbar. Die Tiefe der Verderbnis der Sünde als den totus homo betreffend ist damit letztlich doch unterschätzt. Die genannten Schwächen von Cones Theologie sind aber nicht notwendigerweise mit einer Ethik der erwartenden Hoffnung auf das Reich Gottes verbunden. Fazit 51 Cones Black Theology illustriert, wie die christliche, hoffende Erwartung auf das Reich Gottes Handeln motivieren kann: Gerade weil das Reich Gottes kein mögliches Handlungsziel ist, sondern Gegenstand der hoffenden Erwartung, motiviert es auch dort zum Handeln, wo extrapolativer Erwartung jeder Erfolg versagt ist. Im Falle Cones schließt dies den Einsatz eigenen und fremden Lebens sowie Gewaltbereitschaft ein. Diese negativen Folgen von Cones Ethik beruhen aber nicht auf deren eschatologischem Grundcharakter, sondern darauf, dass Cone 1. das Gute monistisch versteht, 2. das Handeln des Heiligen Geistes inkarnatorisch statt konkarnatorisch, d.h. offenbarungsidentifizierend, deutet und 3. ebenso die Sünde einseitig identifiziert und das simul iustus et peccator überspringt.

9.2.3 Haltungen der Hoffnung

vertrauende Vernunft Nüchternheit

Aufmerksamkeit

Der durch den heiligen Geist und das Wort geschenkte Rechtfertigungsglaube bringt das Beziehungsgefüge des Menschen wieder zurecht. Dies gilt auch für die an sich orientierungslose und inhaltsleere Vernunft, die nun zur vertrauenden Vernunft wird. Als solche ist sie mit spezifischen Haltungen der Erwartung des Reiches Gottes verbunden.38 Nüchternheit als Unterscheidungsfähigkeit des Wichtigen und Unwichtigen: Da Hoffnung auf das Reich Gottes, die vollendete Realisation personaler Liebesbeziehungen besteht, wissen die Hoffenden, dass zwar personale Liebesbeziehungen von eschatischem oder letztgültigem Wert sind, nicht aber merkantile Handelsbeziehungen, in denen die handelnden Partner austauschbar und das gehandelte Gut primär ist, und ebenso nicht manipulative Beziehungen, in denen nur ein Handelnder verantwortlich ist. Christen werden daher an diese Art von Beziehungen, gleichgültig, wie wichtig sie für das Hier und Jetzt sein mögen, und gleichgültig, wie viel Zeit sie in der Lebensgeschichte im Hier und Jetzt fordern, nicht allzu stark ihre Herzen hängen und daher unter der Haltung der Aufmerksamkeit für die Unterschiedlichkeit jener Werte Handlungen gestalten. Umgekehrt wissen Christen auch um die Vorläufigkeit weltlicher Gestaltungs38 Vgl. zum Folgenden Mühling, M., Eschatologie, 240f.

181

Theologische Ethiken der Erwartungen

möglichkeiten im Allgemeinen, so dass auch Raum für die bleibende Bedeutung des Noch-nicht ist: Christen sind sich bewusst, dass vor der Parusie kein Ende von Tod, Leid und Schuld zu erwarten ist. Sie haben keine „schwärmerische“ Haltung der Welt gegenüber und üben Zurückhaltung gegenüber allen Versuchen einer geschichtlichen, vorbehaltlosen Heilsverwirklichung. Wachsamkeit als Aufmerksamkeit für den Nächsten: Das Reich Gottes ist kein mögliches Ziel menschlichen Handelns und bleibt unverfügbar, aber es ist ein Ziel göttlich-menschlicher Kooperation. Der Eintritt seiner Vollendungsgestalt hat personale Züge und kann als Beisammensein mit Christus (Parusie) bezeichnet werden. Die urchristliche Auffassung, der Tag des Herrn käme wie ein Dieb in der Nacht (1 Thess 5,2), bringt die Plötzlichkeit und Unerwartetheit dieses Sachverhalts zum Ausdruck, nicht primär die Naherwartung. Christen leben daher im Bewusstsein einer „Stetserwartung“. Diese Wachsamkeit äußerst sich in Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse ihrer Nächsten. Risikobereitschaft: Christen wissen, dass die christliche Existenz ein Leben unter einem hohen Risiko bedeutet (1.Kor 15,14–19), gerade weil sie untrennbar mit der Hoffnung auf Vollendung verknüpft ist, die in der Auferstehung Christi ihren Erkenntnisgrund findet. Diese Risikobereitschaft ist aber im Unterschied zu Pascals „Wette“39 auch an die Bereitschaft zum gestaltenden Handeln aufgrund des Wissens um dieses Risiko gebunden. „Pascals Wette“ ist ein Argument, nach dem der Gottesglaube mit Hoffnung über den Tod hinaus die rationalere Annahme ist, weil sie spieltheoretisch mehr Gewinn verspricht, als die gegenteilige Annahme: Gott existiert

Gott existiert nicht

Glaube an Gott

1 (ewiger Gewinn)

0 (neutral)

Glaube nicht an Gott

–1 (ewige Strafe)

0 (neutral)

Aus dieser Matrix folgt, dass es rationaler ist, an Gott und das ewige Leben zu glauben als dies nicht zu tun. Abgesehen von den theologisch problematischen Auffassungen, dass hier der Glaube als verdienstliches Werk für Belohnung und Strafe verstanden wird und dass Gott als Handelspartner für ein von den Personen ablösbares Gut dient, kann gegen diese Argumentation eingewandt werden, dass Glaube aufgrund von rationaler Gewinnabwägung niemals tatsächlich Glaube, nämlich personales Vertrauen, sein kann. Bei Paulus geht es dann auch um eine andere Risikobereitschaft: Sollten sich Christen irren, bedeutet dies für ihn nicht einen neutralen Wert, sondern sie wären dann die elendesten unter den Kreaturen (1 Kor 15, 19). Ferner ist der 39 Vgl. Pascal, B., Über die Religion (Pensées), Fragment 233.

Wachsamkeit

Risikobereitschaft

„Pascals Wette“

182

Erwartungen und Hoffnung christliche Glaube im Unterschied zur Pascals Wette von tatsächlicher Handlungsrelevanz. Furchtlose Gelassenheit

Furchtlose Gelassenheit: Aufgrund nicht nur der Kontinuität, sondern auch der Diskontinuität zwischen Hier und Jetzt und vollendetem Reich Gottes ist ein Übergang nur mithilfe einer Transformation denkbar, die die christliche Tradition durch die Rede vom Gericht zum Ausdruck bringt. Dennoch kann der Urteilsspruch des Gerichts kein anderer sein als der im vergegenwärtigenden Handeln des Geistes vorweggenommene Urteilsspruch, der auch zur Glaubenskonstitution führt. Der Parusieglaube bewirkt daher in Konkordanz zu Röm 8,38f. und 1Joh 4,18 in der Gegenwart Heilsgewissheit und entsprechend ein befreites Handeln gemäß der Rechtfertigung und schließt den Gedanken individueller oder kollektiver Selbstkonstitution von Subjekten aus.

Fazit 52 Die hoffende Erwartung auf die Vollendung des Reiches Gottes generiert eine vertrauende Vernunft, zu der die personalen Haltungen der Nüchternheit, der Wachsamkeit, der Risikobereitschaft und der furchtlosen Gelassenheit gehören.



Literaturempfehlung Grunwald, Armin: Technikfolgeabschätzung. Eine Einführung, Berlin 22010. Cone, James H.: A Black Theology of Liberation (1970), 40th ann. ed., Maryknoll 2010. Moltmann, Jürgen: Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 1964.

10. Folgen und Mittel

10.1 Verantwortungsethik Von Ethiken, die sich an den anvisierten Zielen oder den Erwartungen und Hoffnungen orientieren, ist eine Ethik deutlich unterschieden, die sich an den tatsächlichen oder tatsächlich prognostizierten Folgen orientiert, da diese wesentlich auch vom Mitteleinsatz sowie tatsächlichen oder zu erwartenden Nebenfolgen abhängt. Ethiken, die hier zum Tragen kommen, werden „Verantwortungsethiken“ genannt. Als Beispiele von Verantwortungsethiken seien im Folgenden Grundzüge der Gedanken Max Webers (1864– 1920) und Hans Jonas’ (1903– 1993) angeführt.

1 Person 1c Vernunft 1b Affekte

2 andere Personen

3 natürliches Geschehen

1a Wille

4a empirische Gewissheiten

9 Ergebnis

4 Gewissheiten 4b religiöse Gewissheiten

8 Ziele

7 Erwartungen

6 Mittel

5 Regeln

Abb. 25: Verantwortungsethiken

10.1.1 Verantwortungsethik bei Max Weber

Programmatisch wird der Begriff der „Verantwortungsethik“ vom Klassiker soziologischer Literatur, Max Weber (1864–1920), gebraucht: Weber entwickelt seinen Begriff von Verantwortungsethik im Zusammenhang seines Politikverständnisses. Professionelle Politik zeichnet sich durch eine Eigengesetzlichkeit gegenüber anderen gesellschaftlichen Systemen aus. Diese besteht darin, dass Politik stets mit Macht arbeiten muss, die gewaltsanktioniert ist, und zwar unabhängig von der konkreten Gestalt des politischen Systems.1 Der Politiker kann nach Weber nicht nach einer absoluten Gesinnungsethik handeln, wie er sie in der Ethik der Bergpredigt, aber auch

1

Vgl. Weber, M., Politik als Beruf, 439.

Verantwortungsethik

Eigengesetzlichkeit

Gesinnungsethik

184

Folgen und Mittel im Sozialismus am Werke sieht. Dieser absoluten Gesinnungsethik wird die Verantwortungsethik gegenübergestellt: „Wir müssen uns klarmachen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann ‚gesinnungsethisch‘ oder ‚verantwortungsethisch‘ orientiert sein. Nicht daß Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet –: ‚der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘, oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat. […] Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt [dem Gesinnungsethiker] nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen oder – der Wille des Gottes, der sie so schuf. Der Verantwortungsethiker dagegen rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten der Menschen, […], er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet. ‚Verantwortlich‘ fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, daß die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme z.B. des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt. […] Aber auch damit ist das Problem noch nicht zu Ende. Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, daß die Erreichung ‚guter‘ Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, daß man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben: wann und in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen Mittel und Nebenerfolge ‚heiligt‘. Für die Politik ist das entscheidende Mittel: die Gewaltsamkeit […]“2 „Der Gesinnungsethiker erträgt die ethische Irrationalität der Welt nicht. […] Es ist nicht möglich, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unter einen Hut zu bringen oder ethisch zu dekretieren: welcher Zweck welches Mittel heiligen solle […]“ Gesinnungsethik und Verantwortungsethik sind nach Weber also Gegensätze, aber keine absoluten. Der Berufspolitiker benötigt durchaus beides, sowohl Verantwortungsethik als auch Gesinnungsethik.3 Allerdings hat das letzte Wort die Verantwortungsethik. Weber versucht am Beispiel unterschiedlicher Religionen aufzuzeigen, dass man sich dieser Tatsache im Prinzip auch in den Religionen bewusst war und man über unterschiedliche Wege religiöse Begründungen gefunden habe, um die absoluten gesinnungsethischen Inhalte der Religionen nicht für den politischen Bereich anwenden zu müssen und verantwortungsethische Strukturen zumindest für den Bereich der Politik zuzulassen.4 2 3 4

Weber, M., Politik als Beruf, 441f. Vgl. Weber, M., Politik als Beruf, 448f. Vgl. Weber, M., Politik als Beruf, 444–448.

185

Verantwortungsethik

Weber nutzt zwar als Beispiel für seinen Begriff von Gesinnungsethik das Beispiel der Bergpredigt. Allerdings treffen seine Beispiele zur Gesinnungsethik viel eher auf eine Pflichtenethik kantischer Provenienz zu, bei der man nach der Pflicht des Sittengesetzes handelt, ohne um die Folgen zu klügeln. Besonders anschaulich wird dies beim frühen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), der sich z.Zt. des sog. Atheismusstreits 1798/99 als besonders radikaler Kantianer erweist:

Bergpredigt

„Wer Böses tun will, damit Gutes daraus komme, ist ein Gottloser. In einer moralischen Weltregierung kann aus dem Bösen nie Gutes folgen, und so gewiß du an die erstere glaubst, ist es dir unmöglich, das letztere zu denken. – Du darfst nicht lügen, und wenn die Welt darüber in Trümmern zerfallen sollte. Aber dies ist nur eine Redensart, wenn du im Ernste glauben dürftest, daß sie zerfallen würde, so wäre wenigstens dein Wesen schlechthin widersprechend und sich selbst vernichtend. Aber dies glaubst du eben nicht, noch kannst, noch darfst du es glauben […]. Der eben abgeleitete Glaube ist aber auch der Glaube ganz und vollständig. Jene lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines anderen Gottes […]“5

Deutlich ist hier, dass sich eine kantisch-fichtesche Pflichtenethik als Paradigma der Gesinnungsethik erweist, gegen die Weber vorgeht. Weber glaubt nicht mehr an die moralische Weltordnung, wie dies noch Fichte tut. Darin erweist sich Weber gegenüber Fichte als nicht mehr aufklärerisch-modern. Weber wählt statt des Beispiels der Pflichtenethik das der Bergpredigt. Damit sitzt er dem schon besprochenen Missverständnis auf, die christliche Ethik im Sinne Kants zu deuten (s.o.). Neben einer rein an Pflichten orientierten Ethik wendet sich Weber auch gegen eine rein an Zielen orientierte Ethik. Während deutlich ist, von was sich Weber abgrenzt, sind sein Begriff der Verantwortungsethik und der Begriff der Verantwortung selbst noch sehr ungeklärt. Schränkt man Webers Verantwortungsethik nicht von vornherein auf das Feld der Berufspolitik ein, ist unklar, wer für was Verantwortung übernimmt, nach welchen Werten die Folgen gemessen werden sollen und insbesondere, was es bedeuten soll, Verantwortung zu übernehmen. Problematisch ist auch, dass Weber nur verlangt, für die voraussehbaren Folgen solle Verantwortung übernommen werden. Allerdings blieb die Verantwortungsethik nicht bei Weber stehen.

5

Fichte, J.G., Göttliche Weltregierung, 19.

Pflichtenethik als Paradigma der Gesinnungsethik

186

Folgen und Mittel

Fazit 53 Max Weber prägte den Begriff der Verantwortungsethik. Sie ist einer Gesinnungsethik entgegengesetzt, wie sie sich z.B. in Gestalt von Pflichtenethiken finden kann, die weder nach Zielen noch nach Folgen des Handelns fragen, aber auch einer rein zielbasierten Ethik, in der der Zweck die Mittel heiligt. Kennzeichen der Verantwortungsethik ist es, dass Verantwortung für die durch die Mittel bewirkten Folgen und Nebenfolgen des Handelns übernommen werden soll. Problematisch ist 1., dass Weber nur von den prognostizierbaren Folgen, nicht auch von den tatsächlichen spricht, und 2., dass unklar bleibt, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen.

10.1.2 Verantwortungsethik bei Hans Jonas

Im Kontext des Bewusstseins der ökologischen Krise entwickelte Hans Jonas (1903–1993) Ende der 1970er Jahre die Verantwortungsethik weiter. Im Unterschied zu Weber betrachtet er sie nicht als vorzügliche Ethik für einen Gesellschaftsbereich, sondern für menschliches Handeln unter den Bedingungen der erweiterten technischen Möglichkeiten insgesamt: neuer kategorischer Imperativ

Verantwortung

Unbedingter, d.h. neuer kategorischer Imperativ ist für Jonas die Möglichkeit zukünftigen Handelns, und zwar auch unter den Bedingungen einer fernen Zukunft, in der die Handlungsfolgen nicht ohne Weiteres absehbar sind: „Auch auf die hier gesuchte Ethik der Zukunftsverantwortung trifft also die kantische, auf die Gleichzeitigkeitsethik gemünzte Unterscheidung von hypothetischem und kategorischem Imperativ zu. Der hypothetische […] lautet: Wenn es in Zukunft Menschen gibt […], dann gelten ihnen gegenüber die und die […] Pflichten …; der kategorische gebietet einfach, daß es Menschen gebe, mit der Betonung gleicherweise auf dem Daß und auf dem Was des Existierensollens. Für mich […] ist dieser Imperativ der einzige, auf den die Kantische Bestimmung des Kategorischen, das heißt Unbedingten, wirklich zutrifft.“6 Entsprechend ist seine Ethik kein Beitrag zum Programm einer Technikfolgeabschätzung. Verantwortliches Handeln hat die Aufgabe, die Tatsächlichkeit dieses zukünftigen Handelns zu sichern. Verantwortung wird dabei bestimmt als „die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein, die bei Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur ‚Besorgnis‘ wird.“7 Dieser Verantwortungsbegriff hat eine ontologische Grundlage, da er ein bestimmtes Menschenbild voraussetzt. Vorausgesetzt ist die Solidarität menschlichen Daseins, auch über die Zukunft hinweg, sowie die Ambivalenz menschlichen Daseins: „Denn auch damit muß man sich abfinden, daß es eine eindeutige ‚Natur‘ des Menschen nicht gibt; daß er zum Beispiel von Natur (‚an sich‘) weder gut noch schlecht ist: er hat die Fähigkeit zum Gut- oder Schlechtsein, 6 7

Jonas, H., Prinzip Verantwortung, 91f. Jonas, H., Prinzip Verantwortung, 391.

187

Verantwortungsethik ja, zum einen mit dem andern – und dies allerdings gehört zu seinem ‚Wesen‘“.8 Es gibt also keine Perfektibilität des Menschen gemäß der Tradition der Aufklärung, aber auch keinen sittlichen Verfall. Um nun dennoch Verantwortung üben zu können, ist es angesichts dieses neuen Imperativs des Bestands der Menschheit bei den gesteigerten technischen Möglichkeiten, die auch das Nichtsein des Menschen in Zukunft mit sich bringen kann, nötig, sich von einer Heuristik der Furcht leiten zu lassen, da die Besorgnis schon in seiner Verantwortungsdefinition steckt: „Als Potential aber steckt die Furcht schon in der ursprünglichen Frage, mit der man sich jede aktive Verantwortung beginnend vorstellen kann: was wird ihm zustoßen, wenn ich mich seiner nicht annehme? Je dunkler die Antwort, desto heller die Verantwortung. Und je weiter in der Zukunft, je entfernter vom eigenen Wohl und Wehe und je unvertrauter in seiner Art das zu Fürchtende ist, desto mehr müssen Hellsicht der Einbildungskraft und Empfindlichkeit des Gefühls geflissentlich dafür mobilisiert werden: eine aufspürende Heuristik der Furcht wird nötig“.9 Die Betonung der Furcht ist bedingt einerseits durch die gesteigerte kulturelle Handlungsmacht, andererseits aber auch durch Jonas’ These, dass sich das Schlechte und zu Fürchtende leichter als das Gute erkennen lasse: „Der Vorstellung des Übels bedarf schon die Theorie der Ethik so sehr wie der Vorstellung des Guten“.10 Diese Furcht wird damit sogar zur Pflicht: „In einer solchen Lage […] wird also die bewußte Anstrengung zur selbstlosen Furcht, in der mit dem Übel das davor zu rettende Gute sichtbar wird […] – wird also Fürchten selber zur ersten, präliminaren Pflicht einer Ethik geschichtlicher Verantwortung werden. Wen diese Quelle dafür, ‚Furcht und Zittern‘ […] nicht vornehm genug […] dünkt, dem ist unser Schicksal nicht anzuvertrauen.“11 Menschliches Handeln, das als Nebenfolge mit noch so geringer Wahrscheinlichkeit die Gefährdung des Fortbestands der Menschheit zur Folge hätte, hat damit zu unterbleiben, da Handeln auf der Basis von Wahrscheinlichkeiten immer eine Wette darstellt, die im Falle des Einsatzes des Fortbestandes zukünftigen Handelns eindeutig ethisch verwerflich ist.

Jonas’ Verantwortungsethik meint damit etwas anderes als Webers Verantwortungsethik. Gemeinsam ist beiden, dass die Folgen und Handlungsmittel in den Fokus genommen werden. Während aber Weber sowohl prospektive als auch retrospektive Verantwortlichkeit im Blick haben dürfte – denn der Berufspolitiker muss ja nicht nur bereit sein, Verantwortung für sein Handeln für die nähere Zukunft zu übernehmen, sondern gegebenenfalls rückwirkend auch Rechenschaft für die Folgen seines Handelns leisten –, kommt dieser retrospektive Aspekt bei Jonas nicht in Betracht: Aufgrund der begrenzten Lebensdauer des Menschen ist es völlig ausgeschlossen, für Hand8 9 10 11

Jonas, H., Prinzip Verantwortung, 385. Jonas, H., Prinzip Verantwortung, 391f. Jonas, H., Prinzip Verantwortung, 392. Jonas, H., Prinzip Verantwortung, 392.

Heuristik der Furcht

188

Folgen und Mittel

Ethik der Hoffnung

lungsfolgen der fernen Zukunft Rechenschaft ablegen zu können, da man diese ja mit Sicherheit nicht erleben wird. Aber auch die Frontstellung ist eine andere: Nicht die Gesinnungsethik bildet den Gegenpol, sondern die Ethik einer Hoffnung, wie wir sie in etwa am Beispiel James Cones beschrieben hatten (s. 9.2.2). Jonas nimmt allerdings nicht die christliche Ethik der Hoffnung als Gegenfolie, sondern die utopische Ethik Ernst Blochs (1885–1977): „Gesteht man aber der Verantwortung soviel zu, dann macht es gewiß in der Gestaltung unseres ‚Schicksals‘ […] einen Unterschied aus, ob wir einer bestimmten Aussicht mit Jubel oder mit Bangen entgegensehen, mit unserm Ja oder unserm Nein […] und da wird denn Glaube oder Unglaube an die Utopie zum realen Faktor, zwar kaum zu Gunsten oder Ungunsten der Utopie selber, wenn diese überhaupt ein Irrlicht ist, aber zu Gunsten oder Ungunsten wirklich gegebener Alternativen – wovon die Verfolgung des Irrlichtes in der Tat eine ist. […] Dem Prinzip Hoffnung stellen wir das Prinzip Verantwortung gegenüber, nicht das Prinzip Furcht. Wohl aber gehört die Furcht zur Verantwortung so gut wie die Hoffnung, und da sie das weniger gewinnende Gesicht hat, so müssen wir ihr hier nochmals das Wort reden“.12

Ernst Bloch nutzt die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft als Movens des Handelns, betont aber, dass das gegenwärtige Sein der Welt nur durch eine Ontologie des Noch-Nicht zu beschreiben ist.13 Das setzt voraus, dass sich die Utopie geschichtlich verwirklichen lässt. Bei James Cone dagegen ist die kontrafaktische Hoffnung auf das Reich Gottes, dessen innergeschichtliche Verwirklichung nicht angenommen wird, Movens für das Handeln. Dies war Vorteil und Nachteil zugleich: Es war Vorteil, weil man der christlichen Ethik der Hoffnung kaum vorwerfen kann, zum Handlungsverzicht zu führen. Es war Nachteil, weil damit gewissermaßen auch gegen besseres Wissen ein Ziel angestrebt werden kann unter bewusster Inkaufnahme der Nebenfolgen, wie schlimm diese auch seien. Wir hatten gesehen, dass sich mit der Ethik Cones durchaus Selbstmordattentate rechtfertigen lassen. Wenn Jonas’ Ethik der fürchtenden Verantwortung Blochs utopischem Denken Einhalt gebieten kann, dann erst recht den Nebenfolgen einer christlichen Hoffnungsethik. Ein weiterer Vorteil der Verantwortungsethik Jonas’ besteht darin, dass er im Gegensatz zu Weber von Anfang an die unkalkulierbaren Nebenfolgen von Handeln mit in den Blick nimmt. Allerdings ergeben sich dabei eine ganze Reihe von Anfragen: 12 Jonas, H., Prinzip Verantwortung, 390. 13 Vgl. Bloch, E., Ontologie des Noch-nicht-seins, 18, wo sich als Grundform der Seinsbeschreibung Blochs die Formel „S ist noch nicht P“ für S = Subjekt und P = Prädikat im Gegensatz zur klassischen Formel „S ist P“ findet.

189

Verantwortungsethik

1. Ist Jonas’ Verantwortungsethik nicht inhärent konservativ, insofern immer der Verzicht einer Handlungsmöglichkeit die ethisch vorzügliche Wahl ist – zumindest, wenn die Zukunft des Bestands der Menschheit auf dem Spiel steht oder dies nur zu fürchten ist? Aus der Sichtweise dieser Verantwortungsethik gibt es zu den Fragen der Nutzung von Kernenergie, von Gentechnik in allen möglichen Anwendungsbereichen und hinsichtlich der Frage von Energieerzeugung, die nicht eindeutig klimaneutral ist, nur eine Antwort: Jegliche Nutzung dieser Techniken hat zu unterbleiben.

2. Ist Jonas’ Ethik der verantwortungsbasierten Furcht überhaupt kompatibel mit einer christlichen Ethik der Hoffnung, wenn die „Furcht nicht in der Liebe“ (1.Joh 4,18) ist? 3. Jonas’ Begriff der Verantwortung basiert auf einer moralischen Ontologie und einer bestimmten Anthropologie, wie auch die Ethik seines Gegners Bloch. Beides hat aber mit der christlichen Anthropologie nichts zu tun. Bloch hält die Utopie für verwirklichbar; damit gehört er auf die Seite des Menschenbildes der Aufklärung, insofern hier die Perfektibilität des Menschen vorausgesetzt ist, bzw. auf die „schwärmerische“ Seite christlicher Eschatologie, die einen Chiliasmus bejaht und nicht nur das „Reich Gottes auf Erden“, sondern das Reich Gottes an sich als höchstes Ziel menschlichen Handelns betrachtet und für verwirklichbar hält. Im Unterschied zur reformatorischen Position wird hier die Realität der Sünde unterschätzt. Jonas’ Position aber ähnelt gewissermaßen der sog. „gnesiolutherischen“ Position Mathias Flacius’ (1520–1575), der behauptet hatte, die Sünde sei die Substanz, d.h. das Wesentliche des Menschen. Denn Jonas sieht die Zweideutigkeit und damit das Schlechte als zum Wesen des Menschen gehörend. Wie schon Flacius nähert sich Jonas damit (nicht ganz zufällig14) einem stark dualistisch-gnostischen Menschenbild.

4. Zu fragen wäre auch, ob Jonas die Möglichkeiten menschlichen Handelns nicht überschätzt: Nach ihm ist der Mensch für den Erhalt der Welt – wenn auch nicht der Welt an sich, so doch der Welt des Menschen – verantwortlich. Damit ist deutlich, dass Jonas unter den Bedingungen des „Todes Gottes“ schreibt, denn er macht letztlich nichts anderes, als einen genuinen theologischen topos – die Erhaltung von Mensch und Welt durch Gott – auf den Menschen zu übertragen. Damit aber ähnelt Jonas’ Prinzip Verantwortung dem von ihm so gefürchteten Prinzip Hoffnung Ernst Blochs in einer ganz überraschenden Hinsicht: Beide drücken ei14 Jonas ist neben seiner jüdischen Herkunft und der Existenzphilosophie v.a. von seiner Beschäftigung mit der Gnosis geprägt, die er nicht nur mit rein philosophiegeschichtlichem Interesse betrachtet, sondern als Ausdruck einer überzeitlichen Erfahrung sieht. Vgl. Jonas, H., Gnosis und spätantiker Geist.

Anfragen

190

Folgen und Mittel

nen beachtlichen menschlichen Titanismus aus. Unter christlicher Perspektive gibt es keine Verantwortung des Menschen für die Erhaltung der Menschheit, sondern eine Verantwortung für die Mitarbeit an der Erhaltung der Menschheit! 5. Jonas’ Verantwortungsbegriff basiert nicht auf dem umgangssprachlichen Verantwortungsbegriff, wenn er auch versucht, einen anschlussfähigen Verantwortungsbegriff zu entwickeln. Fazit 54 Für Hans Jonas gibt es nur einen neuen kategorischen Imperativ: dass es in Zukunft Menschen geben soll. Angesichts der in der Neuzeit erlangten technischen Handlungsmöglichkeiten ist die Gefahr für den Bestand der Menschheit gegeben. Daher bedarf es einer Heuristik der Furcht: Jedes Handeln, das als mögliche Nebenfolge den Bestand der Menschheit gefährdet, hat zu unterbleiben. Nicht Hoffnung, sondern Furcht soll handlungsleitend sein. Problematisch ist: 1. Jonas’ Verantwortungsethik neigt mit der Unterlassung als wichtigster Handlungsoption zum Konservativismus. 2. Das Verhältnis zu einer christlichen Hoffnungsethik ist ungeklärt. 3. Jonas setzt ein Menschenbild voraus, in dem das Schlechte zum Wesen des Menschen gehört. 4. Jonas überfordert menschliche Möglichkeiten, wenn der Mensch das Subjekt seiner Erhaltung ist. 5. Jonas’ Verantwortungsbegriff ist nicht der der Alltagssprache.

Sind die Vor- und Nachteile der Konzepte von Verantwortungsethik damit hinreichend deutlich, kommen wir nun zu der Frage, in welcher Weise sich das Konzept der Verantwortlichkeit für menschliches Handeln im Rahmen einer christlichen Ethik entwickeln lässt. Dabei ist zu erwarten, dass sich dies nur durch eine weitere Klärung des Verantwortungsbegriffs erreichen lässt.

10.2 Verantwortung in christlicher Perspektive Der Verantwortungsbegriff15 wird erst im 20. Jh. zur ethischen Grundkategorie und erst in der Neuzeit einer philosophischen Betrachtung unterworfen. Ursprünglich stammt der Verantwortungs15 Vgl. zum Verantwortungsbegriff u.a. Jonas, H., Prinzip Verantwortung, 172–221; Herms, E., Art. Verantwortung/Verantwortlichkeit; Herms, E., Art. Verantwortungsethik; Holl, J./Lenk, H./Maring, M., Art. Verantwortung; Picht, G., Wahrheit, Vernunft, Verantwortung.

191

Verantwortung in christlicher Perspektive

begriff aus der Rechtssprache und hat die Bedeutung von „Rechenschaft ablegen“. Dabei kann streng genommen nicht von einem Verantwortungsbegriff gesprochen werden, sondern es gibt mehrere Verantwortungsbegriffe in unterschiedlichen Bereichen.

1 Person 1c Vernunft 1b Affekte

2 andere Personen

3 natürliches Geschehen

1a Wille

4a empirische Gewissheiten

9 Ergebnis

4 Gewissheiten 4b religiöse Gewissheiten

8 Ziele

7 Erwartungen

6 Mittel

5 Regeln

Abb. 26: Verantwortungsethiken, christliche Perspektive

Fazit 55 Im Kern lässt sich folgende relationale Strukturformel festhalten: Eine Instanz (A) übernimmt oder hat Verantwortung für etwas (B) vor den externen und internen Foren (C) nach dem Maßstab (D).16

10.2.1 Die Verantwortungsrelation

Im weitesten Sinne bezieht sich Verantwortung auf Ereigniszusammenhänge, die mit hinreichenden und notwendigen Bedingungen verbunden sind. Im apersonalen Bereich kann von verantwortlichen Faktoren oder Ursachen eines Ereignisses gesprochen werden. Der oder die verantwortlichen Faktoren ist oder sind dabei nicht identisch mit einer notwendigen Bedingung, aber auch nicht mit der Summe der notwendigen Bedingungen, die zusammen erst hinreichend sind. Vielmehr werden, wenn Ereignis- oder Handlungsprozesse aus der Perspektive der dritten Person betrachtet werden, durch Zuschreibung eine oder mehrere notwendige Bedingungen als verantwortliche Bedingung(en) bezeichnet.17 16 Vgl. aber anders die nur 3-stellige Analyse bei Herms, E., Art. Verantwortung/ Verantwortlichkeit, und die 5-stellige Analyse bei Holl, J./Lenk, H./Maring, M., Art. Verantwortung, 570. 17 Vgl. Brümmer, V., Was tun wir, wenn wir beten?, 66.

Zuschreibung

192

Folgen und Mittel Obwohl auch der Computerhersteller und der publizierende Verlag notwendige Bedingungen für das Erscheinen eines Buches sind, wird doch der Autor als verantwortlich herausgestellt. Nicht immer ist dabei die Verantwortungszuschreibung so einfach wie in dem genannten Beispiel. In christlicher Tradition ist die Zurückweisung von Verantwortlichkeit ein Paradebeispiel des sündhaft gestörten Beziehungsgefüges, etwa wenn sukzessive die Verantwortlichkeit von Adam auf seine Gefährtin, von dieser auf die Schlange und von Adam sogar auf Gott verschoben wird (Gen 3,12f.).

Solche Fremd- und Selbstzuschreibungen bilden jedoch nicht den Konstitutionszusammenhang von Verantwortung, sondern es ist vorausgesetzt, dass Verantwortung besteht und die Zuschreibung nur den Entdeckungszusammenhang von Verantwortung bildet. Andernfalls stünde die Zurückweisung der Zumutung und die Verschiebung der Verantwortung nicht unter der Alternative, wahr oder falsch sein zu können. Der Verantwortungsbegriff kann retrospektiv oder prospektiv gebraucht werden: retrospektiv, wenn vergangene Ereigniszusammenhänge betrachtet werden, prospektiv, wenn gegenwärtige oder zukünftige Ereigniszusammenhänge betrachtet werden. Ferner steht der Verantwortungsbegriff unter der Alternative, den Ereigniszusammenhang als solchen zivilrechtlich, strafrechtlich oder ethisch zu betrachten. Wird der Ereigniszusammenhang als solcher betrachtet, spielen Handelnde keine Rolle, da – metaphorisch – aus der Menge der notwendigen Bedingungen einfach die verantwortliche(n) Ursache(n) identifiziert werden sollen. Zivilrechtlich wird nach Versäumnissen oder Handlungen von Handelnden gefragt, so dass der Verantwortliche haftbar ist und er selbst oder dessen Versicherung ggf. eine Entschädigung leisten muss. Strafrechtlich spielt der Begriff der Schuld eine wichtige Rolle. Als Folge von Verantwortung kommt neben der Entschädigung vor allem die Strafe in Frage. Auch ethisch ist der Schuldbegriff mit dem Verantwortungsbegriff verbunden. Die Folgen im eigentlichen Sinne sind im Unterschied zum juristischen Gebrauch lediglich der Tadel (und umgekehrt das Lob), der freilich durch den Sozialzusammenhang akzidentiell mit weiteren Folgen verbunden sein kann. Im Folgenden schränken wir die Betrachtung auf den ethischen Gebrauch ein und wenden uns den einzelnen Relaten zu.

Verantwortung in christlicher Perspektive

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Fazit 56 Die Verantwortungsrelation besteht zwischen einer oder mehreren der notwendigen Bedingungen, die Ursachen für eine Folge im Ereigniszusammenhang sind. Verantwortung wird zugeschrieben, aber die Zuschreibung konstatiert eine bestehende Verantwortung und konstituiert diese nicht. Verantwortung besteht für vergangene und zukünftige Ereignisfolgen. Der Verantwortungsbegriff kann als solcher zivilrechtlich, strafrechtlich und ethisch verwandt werden. Zivilrechtlich ist der Entschädigungsbegriff, strafrechtlich der Begriff der Schuld und Strafe, ethisch ebenfalls der Begriff der Schuld, aber auch der des Tadels und des Lobes damit verbunden.

10.2.2 Die Verantwortung tragende Instanz

Die Verantwortung ausübende Instanz (A) kann eine Person oder ein Kollektiv als Träger der Verantwortung sein. Ein erstes Problem betrifft die Frage, wie Verantwortung hier zustande kommt. In der Philosophiegeschichte kann man zwei Traditionen unterscheiden, die die Konstitutionsfrage stellen und beantworten, d.h. die Frage, wie es zur Verantwortlichkeit des einzelnen Menschen kommt. Der individualistische Typus verankert Verantwortung auf die eine oder andere Weise in der Selbstwahl und Freiheit des individuellen Menschen und wurde u.a. von S. Kierkegaard (1813–1855), F. Nietzsche (1844–1900), E. Husserl (1859–1938), M. Heidegger (1889–1976) und J.-P. Sartre (1905–1980) vertreten. Demgegenüber steht der alteritäre Typus, in dem die Verantwortung eines Subjekts durch sein Gegenüber als anderes konstituiert wird. Er wird vertreten u.a. von E. Levinas (1906–1995), H. Jonas (1903–1993), J. Derrida (1930– 2005) und P. Ricoeur (1913–2005).18 Aus christlicher Sicht wird man betonen müssen, dass beide Traditionen sowohl eine particula veri erfassen als auch zu kritisieren sind. Offensichtlich hängt die Frage nach der Konstitution von der zugrunde gelegten Anthropologie ab. Nach christlichem Verständnis ist der Mensch aber weder freies Individuum noch ausschließlich vom anderen Menschen her konstituiert, sondern gleichursprünglich als Bild der Liebe Gottes Person in Beziehung (s.u.). Ein zweites Problem betrifft die Frage, wie die individuelle Verantwortung und die kollektive Verantwortung zusammenhängen. Während einige Vertreter, darunter auch diejenigen, die Verantwortung individuell konstituiert sehen, die Vorgängigkeit der individuellen Person vertreten und die kollektive Verantwortung von Korporationen als davon abgeleitet verstehen, betonen andere Vertreter, dass der Begriff der kollektiven Verantwortung sich nicht vollständig aus dem 18 Vgl. Holl, J./Lenk, H./Maring, M., Art. Verantwortung.

Verantwortung ausübende Instanz

individualistischer Typus

alteritärer Typus

kollektive Verantwortung

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Übertragung von Verantwortung

Arten von Verantwortung

Folgen und Mittel

der individuellen ableiten lässt, aber auch nicht von diesem isoliert werden kann.19 Christlicherseits wird man auch hier darauf hinweisen müssen, dass personale Verantwortung und korporative Verantwortung gleichursprünglich im christlichen Menschenbild gründen. Damit ist zwar nicht ein Abweisen und eine Verschiebung von Schuld und Verantwortung zulässig, wohl aber im Unterschied zur Tradition der Aufklärung gerade eine Übertragung von Verantwortung wie auch von Sünde.20 Damit stellt sich nicht mehr die Frage, wer verantwortlich ist und wer nicht, weil innerhalb der menschlichen Gemeinschaft letztlich jeder verantwortlich ist und auch der Nicht-Täter an der Schuld des Täters teilhat (s.u.). Ein drittes Problem betrifft die Frage, welche Arten von Verantwortung es gibt: Einerseits kann von einer natürlichen oder positiven Verantwortung gesprochen werden, die einfach besteht, ohne dass die unter Verantwortung stehende Person oder Instanz eine Wahl hätte, die Verantwortung zu übernehmen oder nicht. Als Beispiel kann hier die elterliche Verantwortung genannt werden. Davon zu unterscheiden ist die Verantwortung, die aus persönlicher Wahl der Verantwortungsübernahme besteht, etwa durch die Übernahme eines öffentlichen Amtes oder einer zivilgesellschaftlichen Funktionsposition. Als Beispiel kann hier die Übernahme eines politischen Mandats dienen. Aus Sicht der christlichen Anthropologie wird man sagen müssen, dass die Verantwortung aus Wahl auf dem Begriff der natürlichen Verantwortung ruht: Übernimmt jemand eine öffentliche Position, besteht die Verantwortung schon als positive oder natürliche Verantwortung aufgrund dieser Funktionsposition in der Gemeinschaft und beruht daher auf der Verantwortung der ganzen Gemeinschaft. Die bewusste Übernahme bei der Entscheidung für eine Funktionsposition bedeutete lediglich die Übernahme einer gesteigerten Verantwortung.

Fazit 57 Der individuelle Typus sieht Verantwortung im Selbst eines Menschen konstituiert, der alteritäre Typus durch die Begegnung mit einem anderen. Christlicherseits gehört beides strikt zusammen, da Personen immer nur Personen in Beziehung sind. Daher lassen sich auch personale oder individuelle Verantwortung des Einzelnen und korporative Verantwortung einer Gemeinschaft nicht voneinander trennen. Während eine natürliche Verantwortung immer schon besteht, kann durch Wahl einer Funktionsposition in einer Gemeinschaft eine gesteigerte Verantwortung übernommen werden.

19 Vgl. Holl, J./Lenk, H./Maring, M., Art. Verantwortung, 573f. 20 Vgl. Mühling, M., Versöhnendes Handeln, 316f.

Verantwortung in christlicher Perspektive

195

10.2.3 Die Objekte der Verantwortung

Verantwortung wird für eine Instanz (B) übernommen. Dieses können andere Personen sein bzw. Ereignisse, in die andere Personen verstrickt sind. Genau gesprochen handelt es sich bei diesen Ereignissen um die Handlungsfolgen derjenigen Handlungen, für die der Handelnde verantwortlich ist. Bei der Vorstellung der Verantwortungsethik sahen wir schon, dass hier das Problem besteht, ob sich Verantwortung nur auf die voraussehbaren Folgen bezieht (Weber) oder auch auf die nichtvoraussehbaren Folgen (Jonas).

Handlungsfolgen

Dieses Problem besteht nicht nur im Falle der ethischen Verantwortung, sondern auch im Falle der juristischen Verantwortung. Als Beispiel kann die verminderte Erkenntnisfähigkeit unter Alkoholkonsum betrachtet werden, die in unterschiedlichen strafrechtlichen Systemen unterschiedlich behandelt wird: Vermindert die durch Alkoholkonsum bestehende mangelnde Absehbarkeit der Folgen das Strafmaß (und damit die Verantwortlichkeit) oder erhöht der Alkoholkonsum gerade das Strafmaß und die Verantwortlichkeit, weil der Täter damit rechnen musste, die Folgen nicht mehr überblicken zu können?

Aus christlicher Sicht wird man auch hier sagen müssen, dass aufgrund des christlichen Menschenbildes eine Unkenntnis der Folgen gerade nicht von der Verantwortung entbindet. Die Verantwortlichkeit gestaltet sich aber unterschiedlich, je nachdem, welcher der drei zu unterscheidenden Sachverhalte vorliegt: Sind die Folgen bekannt? Sind die Folgen gänzlich unerwartet? Sind unbekannte Folgen zu erwarten? Aber auch unter dem alltagssprachlichen Verantwortungsbegriff verbietet sich jedenfalls ein Zurückweisen der Verantwortung bei gänzlicher oder teilweiser Unkenntnis der Folgen, weil ein solches Verhalten den Verantwortungsbegriff missversteht: Basis der Verantwortungsdiagnose ist ja gerade, dass der Verantwortliche nicht als notwendige und hinreichende Bedingung des Ereigniszusammenhangs gesehen wird, sondern nur als eine notwendige Bedingung, die erst zusammen mit anderen als hinreichend betrachtet wird. Gerade angesichts dieser Situation wird aber der Handelnde als verantwortlich angesehen, d.h. als wesentliche Ursache unter anderen Ursachen benannt. Wären die Folgen immer absehbar oder fiele der verantwortlich Handelnde mit der hinreichenden Bedingung zusammen, wäre der Begriff der Verantwortung überflüssig. Fazit 58 Objekte der Verantwortung, für die Verantwortung besteht, sind die Folgen einer Handlung, und zwar die voraussehbaren Folgen und die vorher nicht bekannten Nebenfolgen. Der Einbezug von unbekannten Nebenfolgen ist gerade Kennzeichen des Verantwortungsbegriffs. Verantwortung gestaltet sich daher je anders, abhängig davon, ob es sich um bekannte, erwartbare oder unerwartbare Folgen handelt.

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Folgen und Mittel

Im Falle der ethischen Verantwortung sind immer zwei Foren (C), vor denen die Verantwortung besteht, denkbar: ein forum externum und ein forum internum. 10.2.4 Externe Foren forum externum

Das forum externum können verschiedene Gemeinschaften sein: partikulare Gemeinschaften wie eine Familie, eine öffentliche Institution, ein Staat, aber auch die Gemeinschaft der personalen Kreaturen als solche, diachron und synchron. Besonders vor dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes ist Letzteres zu betonen: Das forum externum ist aufgrund der relationalen Konstitution des Menschen als Person in Beziehung prinzipiell unbegrenzt. Daher wird man auch sagen müssen, dass auch bei scheinbar individualethischen Problemen stets ein forum externum, dessen Umfang unterschiedlich sein kann, besteht, da rein individuelles Handeln undenkbar ist: Auch im Falle der Bergbesteigung eines Alleingängers hat dieser Verantwortung: Für die Menschen, die er zurücklässt, wenn er sich dem Risiko des Alleingangs aussetzt, aber auch für die Bergsteiger, die nach ihm den Weg gehen werden, so dass er diesen in akzeptablem Zustand zurückzulassen hat.

Rechenschaftspflicht

Wichtigste Funktion dieser externen Foren ist die Rechenschaftspflicht des Handelnden für seine Handlungen: Der Handelnde ist prinzipiell auskunftspflichtig für seine Handlungen. Ein rein individualethisches Handeln, das in dem radikalen Sinne privat wäre, dass eine Auskunftspflicht ausgeschlossen wäre, ist nicht denkbar. Die Frage ist nicht, ob ein Handelnder überhaupt auskunftspflichtig ist, sondern vor welchem Forum er auskunftspflichtig ist und ggf. in welchem Umfang. Denn die Zurückweisung jeglicher Auskunftspflicht wäre mit der Zurückweisung von Verantwortung identisch. Die Auskunftspflicht bezieht sich auf die Motive und Handlungsgründe und bezieht daher die Auskunft über die absichtsvollen Ziele, Erwartungen, eingesetzten Mittel, Pflichten und Werte genauso wie über die moralische Ontologie, die der Handelnde vertritt, mit ein. Während Anlass einer Rechenschaftsgabe vor einem externen Forum in der Regel die realen Folgen einer Handlung und die eingesetzten Mittel (bei retrospektiver verantwortlicher Rechenschaft) oder die erwarteten Folgen und eingesetzten Mittel (bei prospektiver verantwortlicher Rechenschaft) sein werden, sind also auch alle anderen Elemente des Handlungsbegriffs konstitutiv mit dem Verantwortungsbegriff verbunden, wenn sie auch nicht als Anlass der Frage nach der Verantwortung fungieren. Insofern ist die Entgegensetzung einer Verantwortungsethik und einer Gesinnungsethik bei M. Weber

Verantwortung in christlicher Perspektive

197

äußerst problematisch. Sie findet ihre particula veri darin, dass Folgen und Mittel Beginn einer verantwortlichen Rechenschaft sein können. Da aber Normen, Werte und die moralische Ontologie eher zu dem gehören, was Weber als „Gesinnungsethik“ bezeichnet, wird sich jede Verantwortungsethik dadurch auszeichnen, dass sie gerade keinen Gegensatz zu einer Gesinnungsethik darstellt, sondern notwendig zu einer solchen dazugehört. Wahrscheinlich wird man den Terminus der Gesinnungsethik als ethischen Terminus überhaupt aufgeben können, da er nach Webers Sprachgebrauch immer schon pejorativ besetzt ist, d.h. sich auf eine defizitäre Pflichtenethik oder Wertethik bezieht, die immer schon von den Folgen und Mitteln getrennt ist. Über die Auskunftspflicht vor externen Foren hinaus besteht keine gemeinsame Funktion von Foren. Gerichtliche Foren, aber auch andere öffentliche Gremien können gegebenenfalls Sanktionen verhängen, also Folgen für die Nebenfolgen des Handelns festlegen. Ein Spezifikum des Forenbegriffs überhaupt ist dies jedoch nicht. Bei negativen Folgen ist mitunter eine Entschädigung denkbar, allerdings nur in sehr überschaubaren und zeitlich sehr nahen Handlungszusammenhängen. Bei Fernfolgen ist dies nicht denkbar. Oft besteht eine Konsequenz – sei es durch ein Forum extern verhängt oder von dem Betroffenen selbst gewählt – darin, dass zusätzlich zur Rechenschaftspflicht die Verantwortung entzogen oder abgegeben und die jeweilige Funktionsposition aufgegeben wird. Im Bereich des Ethos des Berufspolitikers hat es sich so eingebürgert, den Rücktritt von einem Amt als Übernahme von Verantwortung zu sehen. Die Tatsache, dass in der Pressemeinung mitunter ein Rücktritt auch als Flucht vor weiterer Verantwortung gewertet werden kann, zeigt jedoch, dass auch der Entzug von Verantwortung angesichts der Auskunftspflicht vor einem Forum nicht zu den wesentlichen Bestandteilen des Verantwortungsbegriffs gehört, sondern zu den akzidentiellen.

Fazit 59 Externe Foren, vor denen Verantwortung abzulegen ist, sind konkrete Gemeinschaften unterschiedlichen Umfangs. Theoretisch besteht eine Verantwortung vor der Gemeinschaft geschaffener Personen als Ganzer, und zwar theoretisch bei jeder Handlung, auch bei vermeintlich sog. „individualethischen“ Handlungen. Die Rechenschaftspflicht oder Auskunftspflicht vor diesen Foren ist deren wichtigste Funktion. Dabei ist die Frage wichtig, vor welchen Foren und in welchem Umfang diese Auskunftspflicht besteht. Daneben können spezifische Foren (z.B. Gerichte) auch noch weitere Funktionen besitzen.

198

Folgen und Mittel 10.2.5 Das Gewissen

forum internum Gewissen

Kaum zu unterschätzen ist der Begriff des forum internum für den Verantwortungsbegriff. Dieses besteht im Gewissen.21 Was ist darunter zu verstehen? Das Phänomen des Gewissens erscheint schon dort, wo noch gar kein Terminus dafür zur Verfügung steht. Es kann in unterschiedlicher kultureller Ausprägung als innere Stimme eines daimon, als ein schlagendes Herz (1Sam 24,6 u.a.) oder – bei Euripides (ca. 480–ca. 406 v.Chr.) – als Wirkung der Furien verstanden werden, die den Mörder zur Strafe in den Wahnsinn treiben. Die anfängliche terminologische Erfassung wird mit syneidesis (gr.), conscientia (lat.) und Gewissen (dt.) vorgenommen. In allen Varianten wird dabei deutlich, dass es sich um ein Mit-Wissen eines Täters um seine Handlungen handelt, also jedenfalls um ein Bewusstseinsphänomen, das primär Personen zuzusprechen ist. Die Rede von einem kollektiven oder einem sozialen Gewissen wäre demgegenüber als hoch metaphorische Rede zu bestimmen.

Fehlformen

Nun ist die Erfassung des Phänomens nicht nur von der terminologischen Benennung abhängig, sondern auch von der begrifflichen Ausgestaltung. Und obwohl das Gewissen in Gestalt der Gewissensfreiheit Grundrechtcharakter erhalten hat und insofern auch ein wichtiger Rechtsterminus ist, ist die begriffliche Erfassung des Gewissens bis heute oft unklar und von Missverständnissen getragen. Um festzustellen, was das Gewissen ist und was es nicht ist, sind daher zunächst jene missverständlichen Fehlformen zu untersuchen, die eindeutig mit dem Gewissen nichts zu tun haben, obwohl sie mitunter als Gewissen benannt werden. Dabei handelt es sich um zwei spiegelbildliche Fehlurteile:

10.2.5.1 Fehlbestimmungen des Gewissens Normbewusstsein

– Ist das Gewissen das Normbewusstsein von Gut und Böse? Das Phänomen des Gewissens trifft uns ungewollt. U.U. ist dieser Zug des Phänomens die Basis, das Phänomen des Gewissens als Stimme Gottes zu bezeichnen und im Gewissen eine angeborene Gotteserkenntnis zu sehen. Gestützt wurde diese Ansicht für die Theologie durch eine Interpretation von Röm 2,15, wonach auch den Heiden das Gesetz in das Herz geschrieben sei.22 Terminologisch fest verankert wird diese Unterscheidung zur 21 Vgl. zum folgenden Abschnitt Härle, W., Art. Gewissen IV; Reiner, H., Art. Gewissen; Preul, R., Religion, Bildung, Sozialisation, 187–214. 22 Zum Gewissensverständnis Pauli vgl. Eckstein, H.-J., Syneidesis bei Paulus.

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Verantwortung in christlicher Perspektive Zeit der Hochscholastik. So unterscheidet Thomas von Aquin (ca. 1225– 1274) zwei Gewissensbegriffe: Neben der conscientia (als Übersetzung von syneidesis) kommt die synderesis zu stehen. Dieses – eigentlich auf einem Übersetzungsfehler und einer Randglosse beruhende – Wort23 bezeichnet nun das Gewissen als diejenige Instanz, mit der die lex aeterna als lex naturalis vernehmbar ist (s.o.).24 Das Gewissen wird damit zu derjenigen Instanz, in der das inhaltlich Gute bekannt und von göttlicher Autorität ist. Die altprotestantische Orthodoxie verwendet diese Denkfigur z.T. weiter, so z.B. in der Rede von der notitia insita, d.h. der innewohnenden Gotteserkenntnis in den Herzen der Menschen. Diese Auffassung, dass der Inhalt der Sittlichkeit im Gewissen bekannt sei und auf Gott zurückgehe, findet sich auch bei J.G. Fichte (1762–1814)25 oder bei J.H. Newman (1801–1890)26 und vielen anderen. Die Identifikation des Gewissensinhaltes mit der Sittlichkeit ist aber nicht an den göttlichen Ursprung gebunden. Sie kann auch wie bei G.W.F. Hegel (1770–1831) als selbstbestimmt oder wie bei F. Nietzsche (1844–1900) oder S. Freud (1856–1939) als fremdbestimmt erscheinen, nämlich als Resultat eines Introjektionsoder Internalisierungsprozesses aufgrund von Sozialisationsbedingungen, das sich im „Über-Ich“ äußert und dessen Konstitution im Modell pathologischer Krankheitsgenese beschrieben wird.27

Alle diese Versuche der Gewissenbestimmung laufen am Phänomen des Gewissens grundlegend vorbei, und zwar unabhängig vom behaupteten göttlichen, autonomen oder heteronomen Ursprung. Der Grund für diesen Fehler besteht darin, dass das Gewissen inhaltliche Werte und Pflichten benennbar angeben können müsste. Genau das aber ist weder beim „schlechten Gewissen“ noch beim „guten Gewissen“ der Fall. Das Gewissen wird in all diesen Fällen mit dem Normbewusstsein verwechselt, also mit dem Wissen, dass man selbst eine – wie auch immer entstandene – moralische Ontologie als Person besitzt und welche Inhalte dieser ungefähr zukommen. – Ist das Gewissen die Instanz der Beurteilung, ob die praktische Vernunft eine Beurteilung vorgenommen hat oder nicht? Während die genannten Fehlurteile in der Bestimmung des Gewissens dem Gewissen zu viel zutrauen, macht I. Kant (1724–1804) gewissermaßen den spiegelbildlichen Fehler: Für ihn ist die Instanz, mit deren Hilfe der Mensch das Gute, d.h. das Sittengesetz in Form des kategorischen Imperativs, einsehen kann, die praktische Vernunft. Die praktische Vernunft sieht aber nicht nur den Inhalt der Sitt23 24 25 26 27

Vgl. Reiner, H., Art. Gewissen, 582. Vgl. Thomas von Aquin, De veritate, q16. Vgl. Fichte, J.G., Bestimmung des Menschen, 139f. 143f. Vgl. Newman, J.H., Zustimmungslehre, 75.77. Vgl. Freud, S., Unbehagen in der Kultur, 484–506.

Kant

200

Folgen und Mittel

lichkeit ein, sondern sie urteilt auch, in welcher Form eine Handlung mit dem durch die Vernunft erkannten Guten übereinstimmt oder nicht. Angesichts dieser Bestimmung bleibt für das Gewissen scheinbar keine Funktion übrig, bis auf eine: „Das Gewissen richtet nicht die Handlungen als Casus, die unter dem Gesetz stehen; denn das tut die Vernunft […], sondern hier richtet die Vernunft sich selbst, ob sie auch wirklich jene Beurteilung […] übernommen habe“.28 W. Härle weist darauf hin, dass auch diese Bestimmung nicht das Phänomen trifft: „Aber wenn er damit recht hätte, dann müssten wir ein gutes Gewissen haben, wenn wir eine Handlung […] auf ihr ethisches Gutsein hin geprüft hätten, selbst wenn wir dabei zu einem negativen Ergebnis gekommen wären. Das stimmt aber nicht.“29 Fazit 60 Das forum internum, d.h. die Instanz, vor der Verantwortung besteht, ist das Gewissen. Das Gewissen ist nicht das Normbewusstsein oder dessen Inhalt. Das Gewissen ist auch keine Instanz, die beurteilt, ob überhaupt eine Beurteilung vorgenommen wurde. Die erste Fehlbestimmung traut dem Gewissen zu viel, die zweite zu wenig zu.

10.2.5.2 Das Gewissen als beurteilende Instanz

Gewissen

„reines Gewissen“

Martin Luther (1483–1546) hat schon klar gesehen, dass es sich beim Gewissen nicht um eine virtus operandi, sondern um eine virtus iudicandi handelt.30 Das Gewissen ist die relationale, urteilende Instanz zwischen Handlungsbewusstsein einerseits und Normbewusstsein andererseits. Es macht daher nichts anderes als zu diagnostizieren, ob eine Übereinstimmung zwischen beiden vorliegt oder nicht. Wenn eine Übereinstimmung vorliegt, ist das phänomenal unspektakulär: Man kann diesen Fall zwar als „reines Gewissen“ bezeichnen, aber kaum phänomenal ausweisen. Denn bei einer Übereinstimmung schweigt das Gewissen in der Regel. Nur der Fall, dass ein Widerspruch zwischen Handlung und Normbewusstsein vorliegt, wird phänomenal als schlechtes Gewissen wahrgenommen und als Selbstschädigung der Integrität der Identität der eigenen Personalität empfunden. Das Gewissen kann dabei retrospektiv als verurteilende Instanz auftreten, als conscientia consequens, oder aber prospektiv als warnende Instanz, als conscientia antecedens. In beiden Fällen ist das 28 Kant, I., Religion innerhalb der Grenzen, 247 [289]. 29 Härle, W., Ethik, 115. 30 Vgl. Luther, M., WA 8, 608.

Verantwortung in christlicher Perspektive

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Gewissen unverfügbar, und zwar sowohl für den Handelnden selbst als auch für Interaktionspartner. Nicht eingeschränkt wird die Fähigkeit des Gewissens durch die Tatsache, dass es – wie alle menschlichen Bewusstseinsphänomene – nur in Gestalt biologischer Medialität erscheint. Das Gewissen ist frei von der Einflussnahme externer personaler Interaktionspartner: Wären andere Personen oder Sozialisationsfaktoren fähig, das Gewissensurteil zu beeinflussen, wäre das Gewissensurteil identisch mit dem Urteil eines partikularen forum externum; das aber ist ausgeschlossen. Keine noch so ausgefeilte, psychologische Manipulationspraxis kann ein Gewissensurteil bei einer Person bewirken. Entsprechende Manipulationsversuche – etwa in totalitären Gesellschaften – können nur indirekt verfahren, um das Gewissensurteil zu steuern: Sie können entweder das Handlungsbewusstsein verändern, etwa indem die Handelnden nicht über die tatsächlichen Folgen ihres Handelns informiert werden, wie es im Beispiel der vermeintlich unbekannten Folterungs- und Mordlager im Falle des faschistischen Deutschlands der 1930er und 1940er Jahre der Fall gewesen sein könnte. Oder man kann versuchen, das Normbewusstsein zu beeinflussen, also die Vorstellungen der inhaltlichen Werte und Pflichten einer Person zu verändern. Letzteres gilt natürlich nicht nur für Manipulationsversuche, sondern auch für die die personale Achtung wahrende Mitwirkung an der personalen Bildung einer Person: Kommt es bei einer Person zu „fehlenden“ Gewissensurteilen, d.h. zu einem schlechten Gewissen in Situationen, in denen dies nicht angemessen erscheint, und zu keinem schlechten Gewissen angesichts von Situationen, in denen es angemessen wäre, haben die Interaktionspartner die Bildungspflicht, zur Korrektur des Normbewusstseins der betroffenen Person sine vi sed verbo, ohne Gewalt, aber durch das Wort, beizutragen. Die Grenze zwischen Gehirnwäsche und Psychotherapie ist daher alles andere als klar.

Das Gewissen ist in diesem Sinne auch frei von der Verfügungsgewalt eigenen bewussten oder freien Handelns: Das Gewissensurteil kann nicht vom Handelnden gewählt werden, ein Handelnder kann nicht einmal wählen, ob das Gewissen tätig werden soll oder nicht. Die Rede von der (rechtlich garantierten) Gewissensfreiheit (GG Art. 4,1) entzieht also recht verstanden die Beurteilungsinstanz des forum internum des Gewissens sowohl externen Faktoren als auch der willkürlichen Entscheidung der eigenen Person. Dabei ist eine rechtliche Garantie dieser Gewissensfreiheit an sich nicht möglich, da das Recht diese nur deskriptiv beschreiben und voraussetzen kann. Gemeint ist mit der Rede von der Gewissensfreiheit dann in der Regel auch präziser (GG Art. 4,3), dass niemand zu Handlungen gegen sein Gewissen (hier den Kriegsdienst) gezwungen werden darf.

Gewissensfreiheit

202

Folgen und Mittel

Irrtumsfähigkeit

das fröhliche Gewissen

Das Urteil des Gewissens ist damit in einer Hinsicht vollständig irrtumslos, in einer anderen aber irrtumsfähig: In der Hinsicht, ob eine Übereinstimmung zwischen Normbewusstsein und Handlungsbewusstsein vorliegt, ist das Gewissen im Falle des „schlechten Gewissens“ nicht irrtumsfähig: Eine Inkohärenz innerhalb der handelnden Person liegt dann zweifelsfrei vor. Da es im eigentlichen Sinne kein „gutes Gewissen“ gibt, ist das Schweigen des Gewissens allerdings umgekehrt kein Hinweis, dass hier auch tatsächlich eine Übereinstimmung und insofern keine Inkohärenz innerhalb der Person vorliegt. Ein schlechtes Gewissen kann sich auch erst Jahre nach der vollzogenen Handlung melden, falls dieses Phänomen nicht auf ein verändertes Normbewusstsein hinweist. Insofern ist das schlechte Gewissen nicht irrtumsfähig, das „gute Gewissen“ allerdings ist irrtumsfähig. Die Irrtumsfähigkeit des Gewissens betrifft auch noch einen anderen Sachverhalt: Ob eine Handlung wirklich gut oder schlecht ist, kann das Gewissen nicht beurteilen, da es ja hier vom vorausgesetzten Normbewusstsein abhängig ist. M.E. ist es aber nicht sinnvoll, diesen Sachverhalt mit Härle als Irrtumsfähigkeit des Gewissens zu bezeichnen,31 da das Gewissen überhaupt nicht die Aufgabe hat, eine solche Diagnose vorzunehmen. Aus christlicher Sicht bezieht sich das Normbewusstsein inhaltlich immer auf die Doppelregel der Liebe, wie sie in der Form des Gesetzes, d.h. des „Du sollst“, erscheint. Martin Luther hat daher erkannt, dass das Gewissen – gerade angesichts dieses Gesetzes – immer nur ein schlechtes Gewissen sein kann.32 Für die Ethik ist diese Einsicht wichtig: Ein Handeln, das nicht alle Erfordernisse der Doppelregel der Liebe erfüllt, ist kein wirklich gutes Handeln. Menschliches Handeln kann schon von daher nicht die Aufgabe haben, im Konfliktfall das zweifelsfrei Gute zu wählen, sondern das Vorzuziehende. Da auch dieses Vorzügliche – gemessen an der im Normbewusstsein vorliegenden Doppelregel der Liebe – in zahlreichen Fällen nicht dieser Doppelregel entspricht und insofern schlecht, aber weniger schlecht als die verworfenen Handlungsalternativen sein mag, wird es auch im Falle einer Entscheidung für dieses Schlechte, aber Vorzuziehende, zum schlechten Gewissen kommen. Luther spricht andererseits auch vom fröhlichen Gewissen, vom evangelischen oder christlichen Gewissen, das ein wieder aufgerichtetes und befreites Gewissen ist.33 Dieses fröhliche Gewissen ist nicht 31 Vgl. Härle, W., Ethik, 113. 32 Vgl. Luther, M., WA 4, 67. 33 Vgl. Luther, M., WA 1, 372; WATR 3, 3411; WA 8, 8; Großer Katechismus, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-luhterischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, BSLK, 683.

Verantwortung in christlicher Perspektive

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identisch mit der Beurteilung der richtenden Instanz des Gewissens. Es geht nicht um das Übereinstimmungsurteil. Vielmehr geht es um eine den Freispruch des Evangeliums aufnehmende personale Instanz, die daher das schlechte Gewissen zu trösten bzw. zu befreien vermag. Auch diese „Gewissen“ zu nennen, hat einen Nach- und einen Vorteil: Der Nachteil besteht darin, dass damit die missverständliche Rede aufkommt, als gäbe es ein „gutes Gewissen“, d.h. die Meinung, ein Gefühl der Selbstzufriedenheit bestünde zu Recht für den Fall, dass das Gewissen keine mangelnde Übereinstimmung diagnostiziert. Dies ist nicht gemeint. Der Vorteil besteht darin, dass der reformatorisch nicht zu unterschätzende Unterschied zwischen wirklicher Gnade und sog. „billiger“34 Gnade, die in Wirklichkeit nichts mit Gnade zu tun hat, deutlicher wird: Die Rechtfertigung erfolgt immer angesichts eines schlechten Gewissens und seiner affektiven Erscheinungen wie Reue, Selbstzweifel, Unsicherheit. Sie beruhigt und befreit das Selbstwertgefühl extern aufgrund der promissio des Evangeliums. Nach autonomen Maßstäben geurteilt, bestünde dazu überhaupt kein Anlass und der verurteilende Urteilsspruch bliebe dauernd vorhanden. Gerade angesichts der Tatsache, dass wirklich gutes Handeln hic et nunc kaum möglich ist, weiß der Christ, dass er auf beides, die rechtfertigende Gnade wie auch auf die logisch vorgängig richtend-verurteilende Instanz des Gewissens, dauerhaft angewiesen ist. Fazit 61 Das Gewissen ist die relationale, urteilende Instanz zwischen Handlungsbewusstsein einerseits und Normbewusstsein andererseits. Es diagnostiziert eine Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zwischen beiden. Es äußert sich daher im schlechten Gewissen und diagnostiziert eine Selbstverletzung der Integrität der Identität der Person. Ein gutes Gewissen im Sinne von Selbstzufriedenheit hat nichts mit dem Gewissen zu tun. Das Gewissen kann als conscientia antecedens (vor Ausführung von Handlungen) oder als conscientia consequens (nach Ausführung von Handlungen) tätig werden. Die Gewissensfreiheit bezieht sich auf die Unverfügbarkeit des Gewissens. Es ist sowohl der handelnden Person selbst unverfügbar als auch den Gemeinschaften, die das forum externum bilden. Das schlechte Gewissen ist nicht irrtumsfähig, wohl kann aber ein Irrtum des Handlungsbewusstseins oder des Normbewusstseins vorliegen. Daher ist das Gewissen selbst nicht manipulierbar, so dass die Gewissensfreiheit eine deskriptive Rede darstellt. Luthers Rede von einem guten oder fröhlichen Gewissen bezieht sich demgegenüber auf das durch die promissio des Evangeliums in der Rechtfertigung getröstete schlechte Gewissen. Da der Inhalt des Normbewusstsein christlicherseits die Doppelregel der Liebe ist, mithin nicht tatsächlich gutes, sondern vorzuziehendes Handeln ethisch im Vordergrund steht, kann Verantwortung nicht darin bestehen, ein schlechtes Gewissen vermeiden zu wollen. 34 Vgl. Bonhoeffer, D., Nachfolge, 29–43.

204

Folgen und Mittel 10.2.5.3 Das Gewissen als verantwortende Instanz

Grund des Gewissens

Gewissensfreiheit als Grundrecht

„Verantwortung vor Gott und den Menschen“

Der Handlungsbegriff ist in jedem Fall nicht nur an externe Foren, sondern auch an das interne Forum des Gewissens gebunden. Als solches ist es unverfügbar, auch für die handelnde Person. Als Beurteilungsinstanz der Übereinstimmung ist es für die personale Identität von Handelnden unerlässlich, auch wenn – oder besser: gerade weil – es unter der Bedingung des christlichen Wirklichkeitsverständnisses und der in ihm enthaltenen Doppelregel der Liebe letztlich eine Instanz ist, die nur geschädigte und unvollständige personale Identität diagnostizieren kann. Der Ursprung des Gewissens ist daher mit dem Ursprung der Personalität identisch. Indem sich das Gewissen nicht auf externe Foren reduzieren lässt, aber aufgrund seiner Unverfügbarkeit für die Person selbst auch nicht den Handelnden selbst zum Ursprung haben kann, lässt sich die Frage nach dem letzten Grund des Gewissens religionsphilosophisch nur zweifach lösen: Entweder ist der Grund des Gewissens eine alle externen und internen Foren umgreifende und mit dieser Gesamtheit identische Instanz oder es ist eine alle externen und internen Foren umgreifende Instanz und nicht mit deren Gesamtheit identisch. Anders ausgedrückt: Entweder ist der Grund des Gewissens pantheistisch die Gesamtheit von allen Ereignisprozessen, d.h. die Gesamtheit der Welt, oder es ist eine die Welt transzendierende Instanz. In beiden Fällen kann diese Instanz formal mit dem Terminus „Gott“ benannt werden, ohne dass sich mit diesem Terminus nähere Inhalte einzelner Religionen verbinden würden.35 Wenn also das deutsche Grundgesetz die Gewissensfreiheit als Grundrecht betont, ist damit implizit als letzte Instanz, vor der Verantwortung übernommen wird, dieser unbestimmte (!) Gottesbegriff genannt. Im Falle des Grundgesetzes geschieht diese Nennung des Gottesbegriffs sogar explizit in der Präambel, wenn hier das Bewusstsein der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“36 genannt wird. Die Präambel rekurriert also auf den Gottesbegriff nur, insofern er den Ursprung des Gewissens bezeichnet, nicht insofern er auf irgendeine geschichtliche religiöse Tradition, etwa die jüdisch-christliche, verweist. Letzteres wäre sogar gefährlich: Subjekt von Traditionen und Religionen sind Menschen und Gemeinschaften von Menschen und insofern immer innerweltliche, immanentistische37 Instanzen. Bezöge sich der Gottesbegriff in der Präambel auf religiöse oder spirituelle Traditionen als menschlich verfügbare Kulturgüter, wäre damit gerade der Bedingung für die Gewissensfreiheit der Boden entzogen. Im Falle der Debatten um eine neue niedersächsische Verfassung in den 1990er Jahren und im Falle der Debatten um eine europä35 Vgl. Herms, E., Verantwortung vor Gott, hier 213–215, 218. 36 Vgl. Herms, E., Verantwortung vor Gott, 218–221. 37 Vgl. zum Begriff Mühling, M., Art. Immanentismus.

205

Verantwortung in christlicher Perspektive ische Verfassung in den 2000er Jahren wurde diese wichtige und grundlegende Unterscheidung oft nicht hinreichend bedacht. Dabei geht es nicht nur um eine rechtliche Frage, sondern um die Frage, ob eine spezifische positive Rechtsgestalt, wie eine partikulare Verfassung, mit den Grundbedingungen des Handelns – wie sie im für das Handeln unerlässlichen Verantwortungsbegriff ausgesprochen sind – vereinbar ist oder diesen widerspricht.

Fazit 62 Da einerseits das Gewissen Richter hinsichtlich der Integrität der Identität der Person ist, andererseits der handelnden Person selbst – und auch allen möglichen externen Foren – unverfügbar bleibt, kann als Grund des Gewissens entweder pantheistisch nur die Welt als Ganze benannt werden oder eine die Welt transzendierende Instanz. Beides kann mit dem Begriff „Gott“ in einem formalen Sinne benannt werden. Die Aufnahme dieses noch inhaltlich unbestimmten Gottesbegriffs, der gerade nicht an eine bestimmte Tradition gebunden ist, ist daher ein wichtiges Element von Verfassungspräambeln im Zusammenhang mit der Gewissensfreiheit.

10.2.6 Maßstäbe ethischer Verantwortung

Verantwortung erfolgt immer aufgrund eines Maßstabes (D), der mit der moralischen Ontologie bzw. dem Wirklichkeitsverständnis oder der ethisch orientierenden Gewissheit von Handelnden identisch ist. Im Falle der christlichen Verantwortung ist dies das christliche Wirklichkeitsverständnis. Im Falle öffentlicher Verantwortung vor externen Foren müssen die Teilnehmer dieser externen Foren nicht dasselbe Wirklichkeitsverständnis teilen. Wie mit dieser Situation des religiösen Pluralismus genau umzugehen ist, wird noch zu sehen sein. Auf alle Fälle gehört gerade angesichts der Pluralität der Wertmaßstäbe zur Verantwortung vor externen öffentlichen Foren, dass das entsprechende Wirklichkeitsverständnis angegeben und nicht etwa verschwiegen wird. Auch hier zeigt sich, dass Religion offensichtlich alles andere als Privatsache ist.

Pluralismus

Fazit 63 In pluralistischen Gesellschaften gehört zur Rechenschaftspflicht vor öffentlichen, externen Foren die Angabe der inhaltlichen Bestimmtheit des Normbewusstseins bzw. der moralischen Ontologie oder des Wirklichkeitsverständnisses, aufgrund derer Verantwortung wahrgenommen wird. Daher ist Religion keine Privatsache.

10.2.7 Verantwortungsethik und Ethik der Hoffnung

Christliche Verantwortungsethik und christliche Hoffnungsethik sind vereinbar, wenn sie auch nicht zur Vermeidung von Konflikten

Hoffnungsethik

206

Folgen und Mittel

Konflikt

Rechtfertigung

führen. Die christliche Ethik der Hoffnung motiviert selbst dann zum Handeln, wenn der Handlungserfolg nicht erwartbar ist. Aber das Handeln angesichts von nicht erwartbarem Handlungserfolg ist etwas völlig anderes als die Inkaufnahme befürchteter Nebenfolgen. Ersteres ist möglich, Letzteres ist nicht gesollt: Widersprechen erwartbare Nebenfolgen dem christlichen Wirklichkeitsverständnis, tritt die christliche Verantwortungsethik auf den Plan und untersagt die entsprechende Handlung, wenn sich andere Handlungsalternativen ergeben oder die Unterlassung der Handlung möglich ist. Unter dem Gesichtspunkt der christlichen Verantwortungsethik entpuppt sich das Beispiel der Befreiungstheologie Cones überhaupt nicht als christliche Ethik der Hoffnung. Die Black Theology teilt zwar mit der Ethik der christlichen Hoffnung die Hoffnung auf das unter den Bedingungen des hic et nunc nicht zu verwirklichende Reich Gottes und motiviert u.U. auch dann zum Handeln, wenn der Erfolg ausgeschlossen ist. Aber Nebenfolgen – wie etwa das Opfer des eigenen Lebens oder das fremder Leben – können eben gegen Cone nicht ohne weitere theologische Begründung in Kauf genommen werden. Im Falle Cones ist diese Inkaufnahme nur möglich, weil das menschliche Befreiungshandeln zu Unrecht mit der Offenbarung selbst identifiziert wird, anstatt lediglich als missionarisches Zeugnis oder Bezeugungshandeln der Offenbarung verstanden zu werden. Ein viel schwierigeres Problem besteht aber dann, wenn keine der Handlungsalternativen gutes – d.h. mit der Doppelregel der Liebe in Einklang stehendes – Handeln ermöglicht. Dieser Fall dürfte keine Ausnahme, sondern die Regel christlichen In-der-Welt-Seins darstellen. In diesem Fall wird das mahnende Gewissen (conscientia antecedens) bei allen Handlungs- und Unterlassungsalternativen eine Nichtübereinstimmung diagnostizieren. Nun soll zwar niemand von jemand anderem gegen sein Gewissen zu Handlungen gezwungen werden, aber es dürfte nur allzu oft vorkommen, dass jemand sich selbst in dem genannten Fall zum Handeln zwingen muss. Gerade dies macht den ethischen Konflikt erst aus. Das christliche Wirklichkeitsverständnis beansprucht sogar, dass dies die grundlegende Situation des Menschen in der Welt ist. Christen sind damit allerdings nicht alleingelassen: Sie wissen um die Möglichkeit der Gnade und Rechtfertigung gerade angesichts dieser Situation. Sie wissen, dass die letzten Ziele Gottes durch diese Situation des eigenen Schuldigwerdens nicht in Frage gestellt sind. Sie wissen um die Bedeutung des zurechtbringenden und erlösenden Todes und der Auferstehung Jesu Christi, wie sie ihnen durch das Handeln des Geistes angeeignet werden, indem auch hier der Geist die Affekte wandelt: zwar nicht zu einem guten Gewissen, aber zu einem getrösteten Gewissen. Gerade

207

Verantwortung in christlicher Perspektive

die bewusste Inkaufnahme dieser Situation mit Gewissenbissen, Reue und Tröstung durch das Evangelium macht den Realismus christlicher Verantwortungsethik aus. Die christliche Ethik der Verantwortung entpuppt sich so im Kern als Ethik der Rechtfertigung. Fazit 64 Christliche Verantwortungsethik und christliche Hoffnungsethik sind vereinbar. Die christliche Hoffnungsethik motiviert zum Handeln – auch dort, wo Handlungserfolg nicht erwartbar ist. Die christliche Verantwortungsethik lässt dies zu, untersagt aber Handeln, wenn die prognostizierbaren Folgen dem christlichen Wirklichkeitsverständnis widersprechen. In der Regel wird die christliche Verantwortungsethik allerdings diagnostizieren, dass alle Handlungsalternativen der für den christlichen Glauben grundlegenden Doppelregel der Liebe widersprechen. Die Abwägung mehrerer schlechter Handlungsalternativen unter Abwesenheit von tatsächlich guten macht das Wesen des ethischen Konflikts aus. Unter diesen Bedingungen die vorzuziehende Handlungsalternative unter bewusster Verantwortungsübernahme – d.h. unter der Möglichkeit des Schuldigwerdens, der Inkaufnahme eines schlechten Gewissens, der bewussten Inkaufnahme der Rechenschaftspflicht vor öffentlichen Foren und der Möglichkeit von Reue sowie der eigenen Abhängigkeit auf das Angewiesensein der promissio des Evangeliums – auszuwählen, ist der Kern ethischen Handelns.

Literaturempfehlung Weber, Max: Politik als Beruf, in: Ders., Ausgewählte Schriften. Potsdamer Internet-Ausgabe, Potsdam 1919, 396–450. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 1979. Preul, Reiner: Religion – Bildung – Sozialisation, Gütersloh 1980, 168–214.



11. Gemeinschaft, Person und Tugend

Die spezifischen ethischen Differenzen und Entschei1c 2 Vernunft dungen hängen letztlich 1b andere Affekte Personen vom Verständnis des Handelnden selbst – und damit 3 vom vorausgesetzten Men1a natürliches Wille Geschehen schenverständnis ab. Es ist daher an der Zeit, dieses Menschenverständnis zu un4a 9 empirische Ergebnis tersuchen. Dabei geht es zuGewissheiten nächst um die Frage nach 4 Gewissheiten der Konstitution des Men4b 8 schen selbst und um das Verreligiöse Ziele Gewissheiten hältnis von Person und Gemeinschaft; ferner wird auch 7 5 Erwartungen Regeln auf die Frage nach der inter6 Mittel nen Konstitution des Menschen einzugehen sein. Um zu veranschaulichen, von Abb. 27: Person- u. Tugendethiken welch eminenter Wichtigkeit Person und diese anthropologischen Voraussetzungen sind, soll im Folgenden Gemeinschaft ausgehend von materialethischen Fragen die Thematik veranschaulicht werden. 1 Person

11.1 Individualismus und Vertragstheorien

Individualethik und Sozialethik

Vertragstheorien

Wir hatten diagnostiziert, dass ein einzelner Handelnder nicht denkbar ist, sondern Handeln immer im Zusammenhang mit anderen Handelnden erscheint, so dass sich eine strikte Distinktion von Individualethik und Sozialethik verbietet. Umso dringlicher stellt sich nun die Frage, auf welche Weise das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und den anderen zu verstehen ist. Eine Antwort auf diese Fragen liefern Vertragstheorien, die die Konstitution des Sozialwesens ideal durch Verträge bedingt sehen. Obwohl Theorien des Herrschafts- und Gesellschaftsvertrages schon ältere Wurzeln haben, blühen seit der Neuzeit unterschiedliche Theorien v.a. bei Th. Hobbes (1588–1679), J. Locke (1632–1704) und J.-J. Rousseau (1712–1778) auf, finden sich aber auch noch bei I. Kant

209

Individualismus und Vertragstheorien

(1724–1804) und J.G. Fichte (1762–1814).1 Wir veranschaulichen die Grundgedanken am Beispiel Lockes. Lockes Naturrechtslehre beruht auf einer theistischen Basis. Aus ihr geht der Naturzustand des Menschen hervor:

Naturzustand

“[…]we must consider, what state all men are naturally in, and that is, a state of perfect freedom to order their actions, and dispose of their possessions and persons, as they think fit, within the bounds of the law of nature, without asking leave, or depending upon the will of any other man. A state also of equality, wherein all the power and jurisdiction is reciprocal, no one having more than another.”2

Zu den egalitären Rechten des Urzustandes gehört auch die Erhaltung des Individuums durch Aneignung natürlicher Güter, die für den Lebenserhalt unentbehrlich sind (Eigentum). Insofern es sich dabei um verderbliche Güter handelt, ist eine Ansammlung dem einzelnen Individuum nicht erlaubt; insofern es sich um unverderbliche Güter handelt (Geld, wertvolle Metalle), ist dies erlaubt. Da unverderbliche Güter als Tauschmittel dienen können, kommt es zu einer ungleichen Verteilung von Gütern und Macht (Handlungsfähigkeit) zwischen den Individuen. Der Naturzustand birgt daher die Gefahr, dass er schnell in einen Kriegszustand übergeht.3 Um nun diesen Kriegszustand auszuschließen, schließen sich die Individuen freiwillig zu Gemeinschaften oder Gesellschaften zusammen:

Kriegszustand

“Men being […] by nature, all free, equal, and independent, no one can […] [be] subjected to the political power of another, without his own consent. The only way whereby any one divests himself of his natural liberty, and puts on the bonds of civil society, is by agreeing with other men to join and unite into a community, for their comfortable, safe, and peaceable living one amongst another, in a secure enjoyment of their properties.”4

Obwohl diese älteren Vertragstheorien hinsichtlich ihrer Auffassung der Genese von Gemeinschaften historisch nicht haltbar sind, kommt es im 20. Jh. im Zuge von materialen Gerechtigkeitstheorien zu einer Erneuerung von Vertragstheorien, die nun allerdings nicht mehr den Anspruch haben, eine historische Wirklichkeit der Vergangenheit zu beschreiben, sondern einen modellhaften, idealtypischen Charakter besitzen und die Konstitution von Gerechtigkeit erklären wollen. Nach einem alten, vielleicht auf Ulpian (ca. 170–223) zurückgehenden Grundsatz besteht Verteilungsgerechtigkeit im berühmten suum cuique (jedem das Seine), d.h. darin, dass jedem sein Recht zuteil 1 2 3 4

Vgl. Euchner, W., Art. Gesellschaftsvertrag/Herrschaftsvertrag. Locke, J., Treatises on Government, II,II, §4, 195. Vgl. Locke, J., Treatises on Government, II,III §16–21, 206–212. Locke, J., Treatises on Government; II, VIII, §95, 279.

Gerechtigkeit suum cuique

210

Gemeinschaft, Person und Tugend

werden soll. Dieser Grundsatz besagt aber noch nicht viel, sondern ist höchst erklärungsbedürftig. Eine solche Erklärung hat im 20. Jh. u.a. John Rawls (1921–2002) gegeben. Rawls geht es darum, ein Verfahren zu finden, nach dessen Prinzipien eine gerechte Gesellschaft aufgebaut sein müsste. Dazu nimmt er in einem Gedankenexperiment einen hypothetischen Urzustand des Schleiers des Nichtwissens an, in dem die Individuen, die die Gerechtigkeitsprinzipien finden sollen, weder ihre zukünftige soziale Stellung noch ihre individuelle biologische Ausstattung kennen: “The idea of the original position is to set up a fair procedure so that any principles agreed to will be just. The aim is to use the notion of pure procedural justice as a basis of theory. Somehow we must nullify the effects of specific contingencies […]. Now in order to do this I assume that the parties are situated behind a veil of ignorance. They do not know how the various alternatives will affect their own particular case […] no one knows his place in society, his class position or social status; nor does he know his fortune in the distribution of natural assets and abilities, his intelligence and strength […]. Nor […] does anyone know his conception of the good, the particulars of his rational plan of life, or even the special features of his psychology such as his aversion to risk of liability to optimism or pessimism. […]. I assume that the parties do not know the particular circumstances of their own society […]. The persons in the original position have no information as to which generation they belong.”5 Gerechtigkeitsprinzipien

Unter diesen Bedingungen, so Rawls, würden die Beteiligten folgende Gerechtigkeitsprinzipien für ihre zukünftige gerechte Gesellschaft finden: “First: each person is to have an equal right to the most extensive scheme of equal basic liberties compatible with a similar scheme of liberties for others. Second: social and economic inequalities are to be arranged so that they are both (a) reasonably expected to be to everyone’s advantage, and (b) attached to positions and offices open to all.”6

Freiheitsprinzip Verteilungsgerechtigkeit

Rawls konkretisiert diese beiden Prinzipien noch weiter. Alles in allem besagt das vorrangige Freiheitsprinzip, dass die Freiheit des Einzelnen das wichtigste Gut ist, das nur eingeschränkt werden darf durch die Kompatibilität der Freiheiten der anderen Individuen. Das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit besagt, dass Ungleichheiten zuzulassen sind, dass sie aber (a) einen Vorteil für die Gesamtheit bedeuten und dass (b) Funktionspositionen prinzipiell allen offenstehen müssen. In den Konkretisierungen wird deutlich, dass Rawls bei dem Vorteil für die Gesamtheit daran denkt, dass eine Ungleichverteilung gerecht ist, wenn die am wenigsten Begünstigten den größtmög-

5 6

Rawls, J., Theory of Justice, 118. Rawls, J., Theory of Justice, 53.

211

Individualismus und Vertragstheorien lichen Vorteil erhalten und dass eine Güterverteilung nicht auf Kosten zukünftiger Generationen geschehen darf. Alasdair MacIntyre versucht, das Rawls’sche Gerechtigkeitsverständnis in ein Alltagsbeispiel zu übersetzen: „B, der vielleicht Freiberufler, Sozialarbeiter oder jemand mit ererbtem Vermögen ist, ist beeindruckt von den willkürlichen Ungleichheiten in der Verteilung von Wohlstand, Einkommen und Chancen. Noch beeindruckter ist er […] von der Unmöglichkeit für die Armen und Benachteiligten, sehr viel an ihrer Lage zu ändern […]. Er hält diese […] Ungleichheit für ungerecht […]. Allgemeiner glaubt er, daß jede Ungleichheit dringend der Rechtfertigung bedarf und daß die einzig mögliche Rechtfertigung der Ungleichheit darin besteht, die Lage der […] Benachteiligten zu verbessern – zum Beispiel durch die Förderung des Wirtschaftswachstums. Er kommt zu dem Schluß, daß die Gerechtigkeit unter den gegenwärtigen Umständen umverteilende Steuern erfordert, die Wohlfahrt und soziale Dienste finanzieren.“7

Uns geht es hier nicht darum, material besprechen zu wollen, inwieweit Rawls Konzept der Gerechtigkeit angemessen ist. Rawls Konzept gleicht dem Lockes darin, dass er von einer grundsätzlichen Freiheit des Individuums und nicht von einer Abhängigkeit von anderen Individuen ausgeht. Er lässt auch eine gerechte Ungleichverteilung von Eigentum zu, die allerdings nicht wie bei Locke auf einem natürlichen Recht auf Eigentum beruht. An dieser Stelle hat der frühe Robert Nozick (1938–2002) Einspruch erhoben und eine von Rawls unterschiedene Theorie der Gerechtigkeit vertreten. Nozick geht davon aus, dass eine Güterverteilung in einer Gesellschaft dann gerecht ist, wenn (a) jemand ein Gut durch einen gerechten Akt einer ersten Aneignung erworben hat oder wenn (b) jemand ein Gut durch einen gerechten Akt der Übergabe von jemandem erwirbt, der seinerseits das Gut durch einen gerechten Akt der Übergabe erworben hat oder der es durch einen gerechten Akt einer ersten Aneignung erworben hat. Ein gerechter Akt einer ersten Aneignung wäre z.B. das Auflesen einer Muschel am Strand, da sie bisher niemanden gehört hat und da dort genügend Muscheln für andere übrig sind. Ein gerechter Akt der Übergabe wäre z.B. eine vertragsmäßige Übergabe wie ein Verkauf oder eine Vererbung.8 Das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit besagt also nach Nozick, „daß eine Verteilung dann gerecht ist, wenn jeder ein Anrecht auf das hat, was er aufgrund der Verteilung besitzt.“9 Auch Nozicks Anliegen wurde von MacIntyre in ein Alltagsbeispiel übersetzt: „A., der vielleicht ein Geschäft besitzt […], hat mit einiger Mühe genug von seinem Verdienst gespart, um sich ein Häuschen zu kaufen, seine Kinder aufs lokale College zu schicken, seinen Eltern eine medizinische Spezialbehandlung zu bezahlen. All diese Projekte werden plötzlich durch steigende Steuern 7 8 9

MacIntyre, A., Verlust der Tugend, 326. Vgl. Nozick, R., Anarchie, Staat, Utopia, 151–153. Nozick, R., Anarchie, Staat, Utopia, 153.

Recht auf Eigentum

212

Gemeinschaft, Person und Tugend bedroht. Er betrachtet diese Bedrohung seiner Projekte als ungerecht; er behauptet, ein Recht auf das zu haben, was er verdient hat, und daß niemand ein Recht hat, ihm wegzunehmen, was er sich ehrlich erworben und worauf er einen berechtigten Anspruch hat.“10

Beitragsprinzip

individualistische Positionen

Zugewinngemeinschaft

Hier geht es nicht darum, Gerechtigkeitstheorien zu besprechen. Dazu müssten noch eine ganze Reihe weiterer Aspekte, wie etwa das Beitragsprinzip, nach dem die Verteilung bei gemeinschaftlichen Unternehmen im Verhältnis zum eingebrachten Beitrag erfolgt,11 besprochen werden. Vielmehr ist auf Folgendes hinzuweisen: Obwohl Nozicks und Rawls’ Ansatz unversöhnlich erscheinen, obwohl beide Ansätze in ihrer Argumentationslogik für sich kohärent erscheinen und daher letztlich auf Differenzen in nicht weiter begründbaren Menschenbildern beruhen – einmal gehört das Recht des Eigentums zum Individuum dazu, einmal nur die Freiheit –, teilen beide doch eine wesentliche Gemeinsamkeit: Es handelt sich um individualistische Positionen, die beide, wenn auch in unterschiedlicher Weise, die ontische und ethische Vorgängigkeit des Individuums betonen. Es sind Individuen, die sich in beiden Beispielen zu Gemeinschaften zusammenschließen. Die Gemeinschaft hat dabei nur instrumentellen Charakter, um die Bedürfnisse des Individuums zu befriedigen. Bei Locke ist es vor allem eine Schutzfunktion, die die Gemeinschaft erbringt, es wären aber auch andere Konzeptionen denkbar, wie etwa die Konzeption der Gemeinschaft als Zugewinngemeinschaft, in der die Gemeinschaft das Instrument für einen größeren Gewinn wäre, als ihn die Individuen für sich erbringen könnten. In all diesen Fällen ist der Mensch nicht wesentlich auf Gemeinschaft angelegt, das Individuum prinzipiell auch ohne die Gemeinschaft denkbar und jegliche Gemeinschaft im Sinne eines Modells ökonomischen Handelns so verstehbar, dass sie selbst nur um der Güter willen, die ausgetauscht werden, besteht. Christlicherseits wird man dieses gesamte individualistische Menschenbild ablehnen müssen, falls man nicht das Verständnis christlicher Nächstenliebe in bloße Fairness verkehren will (s.o. Kap. 7).

Fazit 65 Individualistische Menschenverständnisse betonen die Vorgängigkeit des Individuums vor der Gemeinschaft. Die individuelle Person besteht zunächst ohne die Gemeinschaft und hat auch eigene Rechte. In Vertragstheorien gehen die Individuen, um im Modell ökonomischen Handelns weitere Vorteile zu erhalten oder um befriedet leben zu können, einen Gesellschaftsvertrag ein.

10 MacIntyre, A., Verlust der Tugend, 326. 11 Vgl. Taylor, C., Wesen und Reichweite distributiver Gerechtigkeit, 174.

213

Diskursethiken

Beispiele solcher individualistischen Menschenverständnisse sind die Vertragstheorien der Aufklärung, z.B. die Lockes, in der die Gemeinschaft um des Friedens willen besteht, und im 20. Jh. die Gerechtigkeitstheorien von Rawls und Nozick. Obwohl sie zunächst sehr gegensätzlich erscheinen – Rawls’ Theorie betont eher die Gerechtigkeit als Umverteilung, Nozicks eher die Gerechtigkeit als Besitzstandswahrung – kommen beide jedoch im prinzipiellen Individualismus überein. Aus christlicher Sicht ist diese individualistische Grundlage abzulehnen, da sie nicht mit der Doppelregel der Liebe vereinbar ist.

11.2 Diskursethiken Ausgehend von Überlegungen von Karl Otto Apel (*1922) und Jürgen Habermas (*1929) haben sich unterschiedliche diskursethische Modelle entwickelt. Aufgabe in allen Fällen ist es, die Universalität ethischer Modelle begründen zu können, so dass es sich um universalistische und kognitivistische Ethiken handelt. Ausgangspunkt sind hier nicht das Individuum und dessen naturrechtlich begründete, unverletzliche Rechte, sondern die Tatsache, dass sich Individuen als Handlungssubjekte immer schon intersubjektiv in Handlungen, Sprechhandlungen und Diskursen vorfinden. Ein Diskurs ist dabei dadurch gekennzeichnet, dass es um die Geltungsansprüche der aufgestellten Behauptungen geht, hier um die der ethisch vorzüglichen Normen. Diskursethiken verstehen sich daher in der Regel als deontologische Ethiken. Diskursethiken haben den Vorteil, dass sie nicht die Unmöglichkeit anstreben, vorurteilsfrei verfahren zu wollen. Vielmehr behaupten sie nur, dass man nicht in einem Diskurs stehen kann, ohne bestimmte Grundannahmen teilen bzw. unterstellen zu müssen. Dabei geht es nicht um die Rekonstruktion realer Diskurse, sondern um die Bedingungen der Möglichkeit von Diskursen überhaupt, d.h. es handelt sich um transzendentalistische Ansätze. Um diese Bedingungen finden zu können, muss eine ideale Diskurssituation als Ausgangspunkt genommen werden, die a) rational, b) offen für im Prinzip alle rationalen Individuen, c) endlos und d) herrschaftsfrei ist. In einem solchen idealen Diskurs über Normen ergibt sich dann ein Konsens über universal gültige Normen. Habermas, der nach dem „linguistic turn“ schreibt, sich u.a. auf den Pragmatismus von Ch.S. Peirce (1839–1914) und auf die Sprechakttheorie J.L. Austins (1911–1960) und J.R. Searles (*1932) beruft, geht dabei im Anschluss an den Juristen R. Alexy (*1945) davon aus, dass die ideale Diskurssituation bestimmt ist durch die vorauszusetzende Anerkennung einer Reihe von Diskursregeln, wie die Teilnahmefähigkeit jedes sprachfähigen

Diskurs

Diskursregeln

214

Gemeinschaft, Person und Tugend

Universalisierungsprinzip

Diskursgrundsatz

faktische Kommunikationsgemeinschaft ideale Kommunikationsgemeinschaft

Subjekts, die Voraussetzung, dass jeder jede Behauptung problematisieren darf, dass kein Sprecher durch Zwang gehindert werden darf, dass grundsätzliche Regeln der Logik beachtet werden müssen, dass Behauptungen nur wahrhaftig, also ohne zu lügen, eingebracht werden dürfen etc.12 Gegen diese Diskursregeln kann nicht verstoßen werden, ohne dass sich jemand in einen pragmatischen Selbstwiderspruch verwickelt, so wie jemand, der die Behauptung „Es gibt keinen wahren Satz“ aufstellen würde, sich in einen pragmatischen Selbstwiderspruch verwickelt, weil eben dieser Satz einen universal gültigen Wahrheitsanspruch impliziert, wenn er geäußert wird. Analoges gilt für alle Diskursregeln. Nach Habermas ergibt sich dann das Universalisierungsprinzip U: „Jede gültige Norm muß der Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenfolgen, die sich aus der allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können.“13 Neben diesem Universalisierungsprinzip kennt Habermas noch einen Diskursgrundsatz D, der das Grundanliegen seiner Diskursethik bündig beschreibt. Es besagt, „daß nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).“14 Habermas ist sich durchaus darüber im Klaren, dass es sich dabei um eine hoch abstrakte Formulierung handelt, die sich nicht ohne Weiteres auf konkrete Handlungssituationen anwenden lässt.15 Dies ist zugleich Stärke und Schwäche der Habermas’schen Diskursethik. Es handelt sich nicht um ein diskursethisches Verfahren zur Gewinnung konkreter Normen, sondern um ein metaethisches Verfahren, das eher beschreibt, was mit dem Normbegriff überhaupt sinnvoll gemeint sein kann. In mehrerlei Hinsicht unterscheidet sich der Ansatz Apels, den er vor Habermas vorgestellt hat,16 von diesem. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass Apel von der idealen Kommunikationsgemeinschaft eine faktische unterscheidet. Die Hauptaufgabe der faktischen Kommunikationsgemeinschaft ist das Überleben und Aufrechterhalten dieser faktischen Kommunikationsgemeinschaft an sich und darüber hinaus die zunehmende Realisierung der idealen Kommunikationsgemeinschaft unter den Bedingungen der faktischen.

Unter bestimmten Bedingungen kann der ideale Diskurs als moderne Umschreibung des christlichen Verständnisses des Reiches Gottes verstanden werden. Die von uns oben eingeführte Unterscheidung zwischen dem Reich Gottes an sich und dem Reich Gottes auf Erden entspräche dann Apels Unterscheidung zwischen der idealen und der faktischen Kommunikationsgemeinschaft. Man 12 Vgl. Habermas, J., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 99, im Anschluss an Alexy, R., Theorie des praktischen Diskurses. 13 Habermas, J., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 75f., 102f. 14 Habermas, J., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 103. 15 Vgl. Habermas, J., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 114f. 16 Vgl. Apel, K.-O., Apriori der Kommunikationsgemeinschaft.

215

Diskursethiken

muss sich klarmachen, dass die Diskursethik von einer Reihe von Annahmen der moralischen Ontologie ausgeht, die unbegründbar, aber in ihrem Selbstverständnis auch nicht widerlegbar sind, und die nicht nur den Diskurs, sondern auch das vorausgesetzte Menschenbild betreffen. Wichtig festzuhalten ist, dass dazu die prinzipielle Integrität menschlicher Rationalität gehört, die allerdings durch den Gedanken der Totalität der Sünde christlicherseits bestritten werden könnte. Ferner gehört eine Hochschätzung des Konsenses als Instrument der Wahrheits- oder Geltungsfindung dazu. So hat Habermas auch eine Konsensustheorie der Wahrheit entwickelt, die Voraussetzung seiner Diskursethik ist. Allerdings kann, auch unter idealen Bedingungen, Konsens nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für Wahrheit sein. Auch für die Geltung ethischer Normen ist dieser Einwand gültig, wenn diese nicht als voluntaristisch-dezisionistisch durch den Diskurs hervorgebracht, sondern als aufgefunden verstanden werden sollen. Die Diskursethik wird allerdings problematisch, wenn sie aufgrund der Bedeutung des Konsenses über ihre regulative und metaethische Funktion hinaus als Instrument der Steuerung tatsächlicher Diskurse verstanden werden soll. Festzuhalten ist: Die Diskursethik geht im Unterschied zu Vertragstheorien nicht von einem individualistischen Menschenbild aus, sondern von einem Menschenbild, das von Anfang an intersubjektiv verstanden ist. Allerdings bleibt auch dieses Menschenbild abstrakt: In welcher Weise einzelne Personen als konstitutiv für den Diskurs vorausgesetzt werden, so dass sich der Diskurs als vom vorgängigen Individuum abgeleitete Größe versteht, oder in welcher Weise der Diskurs die beteiligten Handelnden konstitutiv mit hervorbringt, bleibt offen. Kann sich ein Handelnder dem Diskurs entziehen oder erst gar nicht in (irgend) einen Diskurs eintreten? Wenn man die Meinung vertritt, dass das möglich ist, hat man sich für ein individualistisches Menschenbild entschieden, das sich nicht von den vertragstheoretischen Menschenverständnissen unterscheidet. Verneint man die Frage, hätte man ein nicht individualistisches Menschenbild vorausgesetzt. Allerdings bleibt dieses im Rahmen der Diskursethik notwendigerweise zu abstrakt, um aussagefähig zu sein. Denn die Diskursethik will gerade nicht mit inhaltlich verbindlichen anthropologischen Vorstellungen arbeiten, da diese nicht als Voraussetzungen, sondern als Gegenstand des Diskurses angesehen werden.

Konsens

216

Gemeinschaft, Person und Tugend

Fazit 66 Diskursethiken verstehen sich als universalistische Ethiken, die die Bedingungen der Möglichkeit von Normen im Diskurs und dessen Voraussetzungen sehen. Der ideale Diskurs geschieht nach Habermas ohne Zwang, erkennt logische Regeln an, geschieht wahrhaftig und schließt prinzipiell jeden ein. Widerspräche man den Regeln, würde man sich in einen pragmatischen Selbstwiderspruch verwickeln. Apel unterscheidet neben der idealen Kommunikationsgemeinschaft die reale Kommunikationsgemeinschaft, die Verwirklichungsfeld für die ideale ist. Das Menschenbild der Diskursethiken ist ein intersubjektives: Es kann individualistisch verstanden werden – falls angenommen wird, dass sich ein Individuum dem Diskurs entziehen kann –, es kann aber auch nicht-individualistisch verstanden werden – falls die Möglichkeit der Diskursentziehung verneint wird.

11.3 Kommunitarismus

zoon politikon

Während Vertragstheorien auf einem individualistischen Menschenverständnis beruhen und die Diskursethik hinsichtlich der Frage des vorausgesetzten Menschenverständnisses ambivalent bleibt, entscheiden sich kommunitaristische Theorien für ein Menschenverständnis, in dem die Gemeinschaft über den instrumentellen Wert hinaus wesentlich für Menschsein ist. Insofern überrascht es nicht, dass die meisten Kommunitaristen sich mehr oder weniger positiv auf Aristoteles’ (384–322 v.Chr.) Bestimmung des Menschen als zoon politikon, als gemeinschaftliches Lebewesen, beziehen.

Kommunitarismus

Der Kommunitarismus ist keine einheitliche Bewegung. Im Wesentlichen entstand er in der 2. Hälfte des 20. Jh. als Reaktion auf liberalistische individualistische Positionen wie Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. Mitunter werden so unterschiedliche Denker wie Amitai Etzioni (*1929), Alasdair MacIntyre (*1929), Charles Taylor (*1948), Michael Walzer (*1935) u.a. dazugerechnet, auch wenn sie sich (zu Recht) gegen dieses doch etwas missverständliche Etikett wehren.17 Wir beschreiben im Folgenden kurz MacIntyres Position aus den 1980er Jahren.

aristotelische Ethik

MacIntyre betrachtet die aristotelische Ethik, wie sie sich seit der Spätantike und vor allem seit dem Hochmittelalter in ihrer thomistischen Gestalt durchgesetzt habe, als ein umfassendes ethisches System, das tief in die Gemeinschaft inkorporiert war. Im Zuge der frühen Neuzeit sei dessen Plausibilität verlorengegangen und man habe im Projekt der Neuzeit versucht, die Ethik neu zu begründen, 17 So MacIntyre, A., After Virtue, xii: “… supposing me to be a communitarian, something that I have never been. I see no value in community as such – many types of community are nastily oppressive …”.

Kommunitarismus

indem man sie streng auf Vernunft beruhen lassen wollte. MacIntyre zeichnet die Geschichte dieses Unternehmens als eine Verfallsgeschichte mit ihren Protagonisten des Utilitarismus, der Pflichtenethik, der intuitionistischen und emotivistischen Tradition als eine Geschichte fortwährenden Scheiterns: Eine allgemeingültige und vernünftige Ethikbegründung des Guten gelinge gerade nicht.18 Daher wende man sich von Begründungsfragen der Ethik ab und einzelnen materialethischen Themen zu, wie etwa der Frage nach der Gerechtigkeit. Aber auch bei diesen einzelnen Fragen ende man in Aporien, wie die (scheinbar entgegengesetzten) Gerechtigkeitsverständnisse Nozicks und Rawls’ zeigten. Der Grund sei auch hier, dass die so konstruierten Begriffe losgelöst von einer umfassenden moralischen Ontologie oder einem ethisch-orientierenden Wirklichkeitsverständnis erschienen bzw. ein solches unkontrolliert und unausdrücklich voraussetzten. Insgesamt nutzt MacIntyre für die Beschreibung der neuzeitlichen und gegenwärtigen Ethik im Verhältnis zur vorneuzeitlichen, an Aristoteles orientierten Ethik ein drastisches Bild:

217

Verfallsgeschichte

Man stelle sich eine Gesellschaft vor, in der durch irgendeine Katastrophe alles naturwissenschaftliche Wissen verlorengehe. Die Menschen nach der Katastrophe würden aus den einzelnen Naturwissenschaften nur wenige Begriffe wiederentdecken, ohne deren Zusammenhänge in den Systemen der jeweiligen Wissenschaften zu kennen. Während sie dies für wirkliche Naturwissenschaft hielten und vielleicht halten müssten, ist klar, dass ihr Unternehmen mit Naturwissenschaft eigentlich nichts zu tun hat. Genauso verhalte es sich mit dem gegenwärtigen Zustand der Ethik.19

Als Lösung der Krise schlägt MacIntyre aber auch nicht einfach eine Rückkehr zur aristotelisch-thomistischen Ethik vor. Dies ist vor dem Hintergrund unserer Gesellschaftsentwicklung ausgeschlossen. Dennoch hält er fest: Eine funktionierende Ethik muss in der Gemeinschaft oder den Gemeinschaften verwurzelt sein; sie muss die Identität der Person selbst betreffen, was MacIntyre durch eine narrative Einheit der Identität der Person ausdrückt,20 und sie wird daher eine Tugendethik sein müssen. Da eine solche Ethik aber wesentlich in gemeinschaftliche Lebensformen und Traditionen eingebunden sein muss, lässt sie sich nicht einfach erfinden. Sie kann nur innerhalb eines entsprechenden Ethos entstehen. Wie zu Beginn des Frühmittelalters die monastische Bewegung der Benediktiner der umfassenden aristotelischen Ethik eine neue Lebensform bot, so schließt 18 Vgl. MacIntyre, A., Verlust der Tugend, 75–109. 19 Vgl. MacIntyre, A., Verlust der Tugend, 13–18. 20 Vgl. MacIntyre, A., Verlust der Tugend, 275–304.

Gemeinschaft narrative Einheit der Identität der Person

218

Gemeinschaft, Person und Tugend

MacIntyre mit der Hoffnung auf einen „neuen Benedikt“, d.h. eine neue geschichtliche Bewegung, die eine solche integrale, in Lebensformen eingebettete Ethik ermöglicht.21 Um verstehen zu können, worum es letztlich geht, ist die Kenntnis der aristotelischen Ethik nötig. Fazit 67 Kommunitaristische Ethiken betrachten den Menschen im Gegensatz zum Individualismus oder Liberalismus als wesentlich in Gemeinschaften stehend. Sie schließen daher häufig an Aristoteles’ Bestimmung des Menschen als zoon politikon (gemeinschaftsbezogenes Lebewesen) an. MacIntyre z.B. beschreibt die Geschichte der nacharistotelischen Ethik als eine fortwährende Geschichte des Scheiterns einer vernunftbegründeten Ethik. Da man nicht einfach zu einer aristotelischen Ethik zurückkehren kann, erhofft er sich für die Zukunft eine neue, in Gemeinschaften eingebettete Tugendethik, in der die narrative Identität der Person im Mittelpunkt steht.

11.4 Aristoteles’ Tugendethik

gutes Leben

Ausgangspunkt von Aristoteles’ (384–322 v.Chr.) Ethik ist die Grundfrage, worin das gute Leben besteht. Die formale Antwort auf die Frage lautet, dass dieses Ziel die eudaimonia – das „Gutbegeistertsein“ oder die Glückseligkeit – sei. Dieses Gutbegeistertsein ist allerdings material weder etwas subjektiv Individualistisches noch einfach etwas Lustförderndes. Um zu seiner materialen Bestimmung kommen zu können, setzt Aristoteles beim Menschenverständnis an sich an. Der Mensch, wie alle Dinge, gehört zum Ereignisablauf der Bewegung, und wie alle Dinge hat der Mensch daher ein telos, ein Ziel, das sein Gutsein bestimmt. Aristoteles’ Ethik ist teleologisch, allerdings nicht im Sinne des Utilitarismus. Es geht nämlich nicht um das Ziel einzelner Handlungen und nicht um das Ziel einer Handlung als Motivation zum Handeln. Vielmehr beobachtet man, dass die partikularen Handlungsziele um höherer Handlungsziele willen aufgenommen werden. Aristoteles postuliert nun, dass es ein Handlungsziel gäbe, das nicht wiederum um anderer Handlungsziele willen verfolgt werde, sondern um seiner selbst willen. Dieses mache das wahre telos des Menschen und zugleich das eudaimonia bedeutende, höchste Gut aus, das zu seiner Natur gehört. Inhaltlich besteht es in der Praxis der arete (Tugend). Dabei ist zu beachten, dass der teleologische Charakter von Aristoteles’ Ethik kein Spezifikum seiner Ethik ist, sondern seiner Ontologie: Alles am bewegenden Geschehen Teilhabende hat ein ihm innewohnendes Ziel. Beim Men21 Vgl. MacIntyre, A., Verlust der Tugend, 341–350.

219

Aristoteles’ Tugendethik schen ist dieses Ziel ebenso objektiv vorhanden, aber es kann im Tätigsein verfehlt werden, so dass sich die Frage stellt, wie der Mensch in Übereinstimmung mit diesem telos leben kann. Denn nur dies gewährt die eudaimonia. Bei einzelnen partikularen Tätigkeiten des Menschen ist das Ziel klar: Der Schiffbauer hat ein funktionstüchtiges Schiff hervorzubringen. Daran misst sich seine Güte als Schiffbauer. Woran aber ist die Tätigkeit des Menschen eben als Mensch zu messen? Aristoteles verweist zur Beantwortung dieser Frage zunächst auf verschiedene Strebevermögen, die dem Menschen innewohnen. Diese sind das Strebevermögen aufgrund der Tatsache seines Lebens und Wachsens, das er mit allen Lebewesen einschließlich der Pflanzen teilt, das affektive Vermögen, das er mit den Tieren teilt, sowie die Vernunft, die er allein besitzt. Da menschliches Tätigsein auf allen drei Strebevermögen beruht und deren Aktualisierung darstellt, allerdings allein die Vernunft das für den Menschen Spezifische ist, kommt Aristoteles zu dem Ergebnis, dass es bei der Frage, ob der Mensch mit seinem spezifischen telos übereinstimmt, wesentlich darauf ankommt, dass diese drei Strebevermögen derart arrangiert und aufeinander bezogen sind, dass sie in vernünftiger Weise ausgeübt werden. Dies ist im Fall der arete oder Tugend gegeben, so dass die eudaimonia inhaltlich in der Ausübung der arete besteht.

Tugenden sind dabei verstanden als hexeis, d.h. Haltungen oder Handlungsdispositionen. Als solche sind sie ein komplexes relationales Gebilde. In ihnen ist ein von der Vernunft angeregter Wunsch zweiter Ordnung22 – um die o. eingeführte Terminologie Harry Frankfurts zu benutzen – auf die von den Affekten angeregten Wünsche erster Ordnung innerhalb einer Handlungssituation derart bezogen, dass die Mitte zwischen zwei Verfallsformen – den Lastern – gehalten wird. Aristoteles schreibt: „Es ist […] die Tugend ein Habitus des Wählens, der durch die nach uns bemessene Mitte und durch die Vernunft bestimmt wird, und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt.“23 Eine spezifische Handlungssituation, wie beispielsweise Todesgefahr, erweckt bestimmte Affekte wie Furcht. Indem nun nicht dieser Affekt handlungsleitend wird, sondern die Vernunft sich hier einschaltet und den auf Furcht beruhenden Handlungsimpuls des Wunsches erster Ordnung – z.B. den der Flucht – bemisst, kommt es zur Tugend der Tapferkeit. Sie wäre das Mittlere (mesotes) zwischen den beiden Verfallsformen des Übermuts und der Feigheit. Das Laster des Übermuts würde die Furcht zu sehr, das der Feigheit zu wenig unterdrücken. Weder die Mitte noch die Tugenden sind absolut, sondern von Fall zu Fall verschieden. Wenn jemand angesichts einer Todesgefahr gar keine Furcht verspüren würde, würde sich vielleicht seine Handlung kaum von der eines Tapferen unterscheiden; allerdings wäre sie

22 Vgl. zu Wünschen erster und zweiter Ordnung Frankfurt, H.G., Willensfreiheit u.o. Kap. 7.2. 23 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 36 (1107a).

Strebevermögen

Tugenden

Mitte

Tapferkeit

220

Gemeinschaft, Person und Tugend

Ziel: Gutes Leben in eudaimonia durch Übung der Tugend (arete) in auf philia (Freundschaft) beruhenden Gemeinschaften

dianoetische Tugenden

Charaktertugenden

Laster Übermut

auf poiesis (mediatorisches Handeln um etwas anderes willen) bezogen

Weisheit (sophia)

Tapferkeit (andreia) Feigheit

Gier Verständnis (episteme)

Mäßigkeit (sophrosyne) Enthaltsamkeit

Verschwendung Kunstfertigkeit (techne)

Freigiebigkeit (eleutheriotes) Geiz

Angeberei hochherzig (megaloprepeia)

auf praxis (Handeln um seiner selbst willen) bezogen

Engherzigkeit

Eitelkeit Klugheit (phronesis)

Großmut (megalopsychia) Kleinmut

Überheblichkeit Ehrgeiz ( philotimia) Verzagtheit

… bilden Beispiele der arete, keinen sakrosankten Katalog

Jähzorn Sanftmut (praotes) Phlegmatismus

… sind von den Situationen abhängig

Verlogenheit Wahrhaftigkeit (aletheia) Redseligkeit

… sollen alle zusammen gebildet werden Sarkasmus Humor (eutrapelia) … werden durch Nachahmung gebildet … bilden den Charakter

falscher Ernst

Unrecht tun Gerechtigkeit (dikaiosyne) Unrecht leiden

Abb. 28: Aristotelische Tugendlehre

221

Aristoteles’ Tugendethik nicht tapfer. Ferner kann ein und dieselbe Handlung in einer Handlungssituation auf einer Tugend beruhen, in einer anderen auf einem Laster.

Aristoteles liefert im Hauptteil seiner Ethik eine beispielhafte Aufzählung von Tugenden, innerhalb derer er die einzelnen Tugenden recht genau beschreibt. – Er kennt zunächst dianoetische Tugenden des Verstandes: Weisheit (sophia), Verständnis oder Wissenschaft (episteme), Kunstfertigkeit (techne), die auf Handeln bezogen ist, das nicht um seiner selbst willen besteht (poiesis) und Klugheit (phronesis), die auf um seiner selbst willen bestehendes Handeln bezogen ist (praxis). – Davon unterschieden sind die Charaktertugenden: Tapferkeit (andreia) als Mitte zwischen Übermut und Feigheit, Mäßigkeit (sophrosyne) als Mitte zwischen Enthaltsamkeit und übermäßiger Begierde, Freigiebigkeit (eleutheriotes) als Mitte zwischen Verschwendung und Geiz, Hochherzigkeit (megaloprepeia) als Mitte zwischen Angeberei und Engherzigkeit, megalopsychia (Großmut), Ehrgeiz (philotimia) als Mitte zwischen mangelndem und zu wenig Streben, Sanftmut (praotes), Wahrhaftigkeit (aletheia), Humor (eutrapelia) und Gerechtigkeit (dikaiosyne). Wichtig an diesem Arrangement zum Gesamtverständnis sind vor allem die folgenden Sachverhalte: a) Obwohl man bezweifeln kann, dass es überhaupt einen systematisch vollständigen Tugendkatalog geben kann, und obwohl Aristoteles seine Übersicht gerade nicht für vollständig, sondern für unabgeschlossen und prinzipiell unabschließbar hält,24 ist er der Auffassung, dass alle Charaktertugenden strikt zusammen ausgeübt werden müssen, wenn sie überhaupt zum Leben in der arete beitragen sollen.25

Aufzählung von Tugenden

dianoetische Tugenden

Charaktertugenden

Die Charaktertugenden sind nämlich auf die Tätigkeit des Menschseins als Menschsein bezogen und nicht auf spezifische Tätigkeiten, die ein Mensch qua Beruf ausüben mag. Ein Soldat, der tapfer, aber nicht sanftmütig ist, mag technisch gesehen (die poiesis und die techne betreffend) ein guter Soldat sein, ein tugendhafter Mensch, der gemäß der phronesis klug handelt und eudaimon werden kann, wäre er nicht; denn dazu bedürfte es auch der anderen Tugenden.

b) Mit der Mitte bezieht sich Aristoteles nicht auf eine rechnerische Mitte, sondern auf die dem Menschen gemäße Mitte. Diese steht nicht fest, sondern ist jeweils zu ermitteln, indem die dianoetische Tugend der phronesis (Klugheit) hier zu urteilen hat. 24 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 122. 25 Vgl. MacIntyre, A., Verlust der Tugend, 208.

die dem Menschen gemäße Mitte

222

Gemeinschaft, Person und Tugend

Gerechtigkeit

Missverständnis

Nachahmung

philia

c) Gerechtigkeit wird ausdrücklich als Tugend bezeichnet. Damit ist sie – obwohl Aristoteles einige wichtige Unterscheidungen späterer Gerechtigkeitstheorien wie die zwischen distributiver und kommutativer Gerechtigkeit und Billigkeit vorwegnimmt – viel mehr als das Gerechtigkeitsverständnis innerhalb des liberalen Streites der Vertragstheoretiker jemals sein könnte. Dieses versucht nämlich, Gerechtigkeit in einer einfachen Regel bzw. Regelbefolgung einzufangen, während sie bei Aristoteles durch den Begriff der Tugend in ein umfassendes Wirklichkeitsverständnis eingebunden ist. d) Obwohl es von der Situation abhängt, was als Tugend erscheint und was nicht, ist die Praxis der arete nicht auf einzelne Handlungen, sondern auf den zeitlichen Handlungszusammenhang des Menschen als Ganzen bezogen. Als Dispositionen ähneln die Tugenden den Gewohnheiten und bilden den Charakter des Menschen. Folgt man der aristotelischen Ethik soweit, könnte das Missverständnis aufkommen, als handele es sich um eine individualistische Ethik, die primär den einzelnen Menschen in seinem Leben in den Blick nimmt. Dieses Missverständnis wäre bedingt durch die Tatsache, dass Aristoteles dem Entdeckungszusammenhang in seiner Darstellung folgt und dabei beständig auf die Alltagserfahrung seiner Leser und daher auf deren partikulare Perspektive rekurriert. Dass dies ein Missverständnis ist, wie es größer nicht sein könnte, wird deutlich, wenn man sich Folgendes klarmacht: a) Die Tugenden sind weder von Natur aus vorhanden noch zufällig, sondern entstehen durch die Praxis. Dazu bedarf es aber der Nachahmung anderer in der Gemeinschaft der polis. Schon von daher verbietet sich die Vorstellung, dass es sich um ein individualistisches Menschenverständnis handele. b) Noch bedeutsamer ist: Unsere Darstellung der aristotelischen Ethik ist noch unvollständig, denn diese Ethik kulminiert in der Darstellung der Freundschaft (philia): „Nach diesem kommt die Erörterung der Freundschaft an die Reihe; denn sie ist eine Tugend oder mit der Tugend verbunden.“26 Aristoteles nimmt sie also von den Tugenden gewissermaßen aus, wenn sie auch der Logik der Tugenden folgt. Diese Ausnahme besteht nicht darin, dass die Freundschaft ein mögliches Anhängsel der Ethik wäre, vielmehr gilt: „Ferner ist sie fürs Leben das Notwendigste.“27 Aristoteles unterscheidet von Freundschaften, die nur um des Angenehmen oder Nützlichen willen eingegangen werden – in denen also das kommunizierte Gut von den Freundschaftspartnern ablösbar ist, so dass diese nur 26 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 181 (1155a). 27 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 181 (1155a).

223

Aristoteles’ Tugendethik Mittel zum Zweck dieser anderen Güter sind – die wahre Freundschaft, in der es den Beteiligten um die andere Person selbst geht. Dies ist nur möglich, wenn deren tatsächliches Gut gemeinsam angestrebt wird. Das gemeinsame Gut ist aber nichts anderes als die Praxis der Tugend und damit das Leben in der eudaimonia. Aristoteles unterscheidet verschiedene Arten von wahrer Freundschaft, wie die Freundschaft zwischen Ehepartnern, Eltern und Kindern, Geschwistern etc.

Wichtig ist zweierlei: Die Freundschaft zwischen zwei partikularen Personen ist auch das Modell, in dem jemand mit sich selbst befreundet ist: Die eigene Tugend zu praktizieren bedeutet, sich selbst Freund sein und dies ist gleichursprünglich mit der Freundschaft (dem Streben zur arete) bei anderen.28 Freundschaft ist bei Aristoteles nichts anderes als Zusammenleben und Gemeinschaft. Und da sie das Notwendigste zum Leben ist, ist menschliches Leben wesentlich Gemeinschaft. Die Freundschaft bildet aber nicht nur das Modell der nach arete strebenden Selbstliebe, sondern sie ist auch vollständig konstitutiv für das Recht, den Staat der polis und dessen unterschiedliche Regierungsformen. Aristoteles kann also nicht nur verschiedene Regierungsformen wie Monarchie, Demokratie etc. von verschiedenen Formen der Freundschaft ableiten, sondern auch ausdrücklich die Gleichursprünglichkeit von Freundschaft und Recht betonen:

wahre Freundschaft

sich selbst Freund sein

„Man darf aber […] annehmen, daß die Freundschaft es mit denselben Dingen und Personen zu tun hat wie das Recht. Denn in jeder Gemeinschaft scheint es, wie ein Recht, so auch eine Freundschaft zu geben. […] Soweit man in Gemeinschaft steht, soweit gibt es eine Freundschaft […].“29

Bemerkenswert ist hier, dass es keine kategoriale Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem, keine zwischen Ethik und Recht gibt. Bemerkenswert ist auch, dass Aristoteles die Gerechtigkeit – und zwar die Tugend der Gerechtigkeit, keine technischen Regeln von Verteilungsgerechtigkeit – als wichtig für das Leben der polis betrachtet, die Freundschaft aber als wichtiger, nämlich als konstitutiv: „Freundschaft ist es auch, die die Staaten erhält und den Gesetzgebern mehr am Herzen liegt als die Gerechtigkeit. […] Auch bedarf es unter Freunden der Gerechtigkeit nicht, wohl aber unter den Gerechten der Freundschaft.“30

Die Suche nach der eudaimonia und die Behandlung der Freundschaft bilden die Klammer, innerhalb derer alles in der Nikomachischen Ethik Verhandelte steht. Am Anfang steht der Gedanke des 28 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 223 (1168b). 29 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 195f. (1159b). 30 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 181f. (1155a).

Privates und Öffentliches

224

Gemeinschaft, Person und Tugend

in Freundschaften bestehendes Lebewesen

Bewertung

Anmerkungen

Menschen als eines Lebewesens, das sich von anderen durch die Vernunft unterscheidet, und der Begriff des Tätigseins, wodurch die Suchbewegung ausgelöst wird; am Ende steht die Freundschaft und damit das volle Verständnis des Menschen als eines in Freundschaften bestehendes Lebewesen (zoon politikon31). In der Mitte der Klammer steht das Verständnis der Tugend. Die Antwort, worin für Aristoteles das summum bonum und damit die eudaimonia besteht, lautet: im gemeinsamen Verfolgen der Tugenden oder in der wahren (d.h. arete-haften) Freundschaft selbst. Aristoteles’ Ethik behandelt gleichursprünglich die gemeinschaftliche Konstitution des Menschen, d.h. das Verhältnis der handelnden Personen untereinander wie auch die internen intentionalen Relationen der partikularen Person selbst. Über Aristoteles’ Nikomachische Ethik wären noch viele Details nachzutragen, über die regulative Rolle einiger absoluter Verbote (wie Diebstahl), über Innovationen wie seine Lehre vom syllogismus practicus, aber auch Anmerkungen über viele abgebrochene und mitunter explizite oder implizite Widersprüche, wie etwa Aristoteles’ Diagnose, dass die wahre Freundschaft zugleich konstitutiv für die Gemeinschaft der polis ist, aber auch doch nur zwischen wenigen bestehen soll. Zur Bewertung der aristotelischen Ethik sei eine nachdrückliche Warnung ausgesprochen: Würde man sie wie einen einzigen großen Beweis der Begründung ethischen Handelns in Analogie zu den unterschiedlichen Ethiken der Neuzeit verstehen, würde man sie wahrscheinlich häufig als inkohärent bewerten müssen – und sie damit vollständig missverstehen. Aristoteles’ Ethik ist kein einziger Beweis, es handelt sich vielmehr um ein holistisches System: Man könnte bei jedem Element der Beschreibung einsetzen und würde zu jedem anderen kommen. Aristoteles’ Ethik ist nichts anderes als die Beschreibung einer gemeinschaftlichen Lebensform, die das gute Leben in eudaimonia und im summum bonum selbst ist. An diesem Anspruch wird sie zu messen sein. Bevor dies erfolgen kann, sind allerdings noch einige Anmerkungen notwendig. Man könnte sich des Anspruches der aristotelischen Ethik schnell erwehren, wenn man auf ihre Zeitgebundenheit und insbesondere auf die Gemeinschaft der polis verweist, die doch so wenig mit unseren Staaten gemeinsam hat. Aber dies würde vom Wesentlichen ablenken. Auch die griechische polis war nicht das Gemeinwesen, das Aristoteles beschreibt; dazu war sie viel zu groß. Vielmehr beschreibt Aristoteles ein ideales Leben und entsprechend auch eine ideale Gemeinschaft und damit eine ideale polis. Dass Aristoteles zeitbedingt kontingente soziale Umstände als naturgegeben annimmt, verwundert nicht: Der Handarbeiter, der Sklave, Frauen, Fremde, die kein Bürgerrecht in einer Stadt haben (zu denen in Athen aber auch Aristoteles selbst gehörte!), werden entweder gar nicht oder kaum betrachtet bzw. haben schlicht keine Chance auf ein Leben in eudaimonia. 31 Vgl. Aristoteles, Politik, 4. 88 (1253a. 1278b).

Theologische Tugendethiken

225

Aristoteles’ Ethik ist eine Tugendethik, die von der Konstitution der in Gemeinschaft handelnden und so konstituierten Subjekte ausgeht, aber sie ist auch eine teleologische Güterethik im eigentlichen Sinne, und zuweilen erscheinen auch deontische Elemente. Der Wertbegriff ist ihr noch fremd, wenn auch Werte implizit fortlaufend erscheinen. Von allen behandelten philosophisch-ethischen Konzeptionen lässt sich die aristotelische Ethik am wenigsten als eine Ethik verstehen, die von der spezifischen Perspektive eines der Relate des Handlungsbegriffs aus entworfen ist. Ihr Anliegen ist es vielmehr, alle Relate des Handlungsbegriffs und damit den Handlungsbegriff selbst zu beschreiben, wenn auch Aristoteles noch nicht an alle Relate des Handlungsbegriffs denkt, die sich im Laufe der Geschichte der Ethik als wichtig erwiesen haben, und wenn er auch aus der Perspektive der Handelnden selbst seine Ethik in den Blick nimmt. Angesichts dieser umfassenden Konzeption kann man schon verstehen, dass MacIntyre die Geschichte der Ethiken der Neuzeit gegenüber Aristoteles als defizitär versteht. Ausgehend von unserem mehrstelligen Handlungsbegriff hatten wir gesagt, dass der Fehler vieler ethischer Ansätze in ihrer Einseitigkeit besteht: Zwar wird man notwendigerweise eine Relation immer aus der Perspektive eines Relats betrachten müssen und so auch das Handeln von einem seiner Aspekte aus, aber dies bedeutet doch nicht, dass die anderen Aspekte verloren gehen dürfen. Besteht diese Gefahr bei den unterschiedlichen neuzeitlichen Ethiken nur allzu oft, so besteht sie erstaunlicherweise bei Aristoteles am wenigsten. Fazit 68 Aristoteles’ umfassende ethische Konzeption beschreibt eine teleologische Tugendethik, in der der Mensch als ein in Freundschaften bestehendes Lebewesen (zoon politikon) beschrieben wird. Das Ziel des guten Lebens ist die eudaimonia (Gutbegeistertheit), die durch die Praxis der arete (Tugend) in Gemeinschaften erreicht wird. Die arete besteht aus verschiedenen Tugenden, die Aristoteles beispielhaft aufzählt, während er seinen Tugendkatalog für unabgeschlossen hält. Dennoch ist für den guten Charakter die Praxis aller Tugenden erforderlich. Die einzelnen Tugenden versteht Aristoteles jeweils als Mitte zwischen zwei Verfallsformen, den Lastern. Aristoteles’ Darstellung ist die eines Ideals.

11.5 Theologische Tugendethiken Zusammen mit anderen antiken Traditionen geht auch die aristotelische Tugendlehre in die Tradition christlicher Theologie ein. Zur Zeit der Hochscholastik findet sich die ausführlichste Form hier wie-

Hochscholastik

226

Gemeinschaft, Person und Tugend

der bei Thomas von Aquin (ca. 1225–1274). Thomas’ Ethik ist einerseits von seiner Naturrechtsethik gekennzeichnet, die die äußeren Bedingungen des Handelns reflektiert, andererseits aber auch von seiner anthropologischen Tugendlehre.

Kardinaltugenden

Gnade

Reformatoren

Auch bei Thomas ist eine Tugend ein habitus oder eine Handlungsdisposition der Seele.32 Allerdings beruhen nicht alle Tugenden auf Einübung. Von diesen Tugenden werden andere Tugenden unterschieden, die durch Gott eingegossen werden.33 Zu Ersteren gehören die auf unterschiedliche antike Traditionen zurückgehenden sog. Kardinaltugenden temperantia (Mäßigung), iustitia (Gerechtigkeit), prudentia (Klugheit) und fortitudo (Tapferkeit),34 an denen alle anderen durch menschliche Übung erwerb-, steiger- oder verlierbaren Tugenden hängen. Zu den Zweiten gehören die sog. „theologischen“ Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung, die durch die göttliche Gnade eingegossen werden.35 Beide Tugendreihen sind so Haltungen der Seele, die gemäß der ontologischen Distinktion von forma und materia nun als Form des Leibes bestimmt sind. Auf Basis der Ausübung der Tugenden kann der Mensch nun meritorisch (verdienstlich) handeln und sich so die vollständige Gnade und das Heil erwerben.

Im Vergleich zur aristotelischen Tugendlehre ist sichtbar, dass das höchste Gut nicht allein durch menschliches Handeln und nicht allein durch menschlich erwerbbare Tugenden erreicht werden kann, sondern dass die Gnade Gottes hinzukommen muss. Thomas trägt insofern den Erfordernissen des christlichen Wirklichkeitsverständnisses, nach dem der Mensch Sünder ist und passiv zurechtgebracht werden muss, Rechnung. Allerdings werden Glaube, Liebe und Hoffnung nun auch als Tugenden und daher als Handlungsdispositionen oder Haltungen verstanden und insofern vom Verständnis der Tugenden abhängig gemacht, so dass sie Vorbedingungen der zum Heil führenden menschlichen Tätigkeit werden. Die Reformatoren betonten daher, dass Liebe, Hoffnung, insbesondere aber Glaube völlig falsch verstanden werden, wenn sie als habitus verstanden werden.36 Der Mensch ist als Sünder nicht in der Lage, das göttliche Gebot zu erfüllen. Indem er aber passiv im Glauben als Vertrauen das in Christus ansehbare korrekte Verhältnis des Geschöpfs zum Schöpfer erkennen kann, wird er auf das Gute hin ausgerichtet, so dass er im Gehorsam das göttliche Gebot erfüllen kann. Dabei ist der Glaube als Vertrauen hinreichende Bedingung für die Liebe, die selbst als aktuale Praxis verstanden wird. Dadurch 32 33 34 35 36

Vgl. Thomas von Aquin, s.th. II q50 a2. Vgl. Thomas von Aquin, s.th. II q51 a1.2.3. Vgl. Thomas von Aquin, s.th. II q61. Vgl. Thomas von Aquin, s.th. II q62. Vgl. Suda, M.J., Ethik Luthers, 54.

227

Theologische Tugendethiken

werden einerseits Glaube, Liebe und Hoffnung aus der thomistischen Tugendlehre gelöst, andererseits tritt in der Ethik die Tugendlehre selbst in den Hintergrund zugunsten der Vorstellung des göttlichen Gebots. Dennoch verschwindet die Tugendethik bei den Reformatoren gerade nicht, sondern nimmt nur einen deutlich untergeordneten Rang ein.37 Dieser ist freilich nichtsdestotrotz ein notwendiger Rang, geht doch etwa Luther gerade davon aus, dass nur eine gute Person gute Handlungen hervorbringen kann.38 Während die altprotestantische Orthodoxie in der Regel weniger Tugendethiken hervorbringt, werden im Gefolge des ethischen Ansatzes Schleiermachers (1768–1834) im 19. Jh. wieder protestantische Tugendreflexionen durchgeführt.39 Im 20. Jh., durchaus unter Einfluss der dialektischen Theologie, gerät der Tugendbegriff jedoch in Verdacht, gänzlich unreformatorisch zu sein, auf einer falschen, weil dualistischen Anthropologie zu beruhen und – gemessen am thomasischen Verständnis der Tugend – gegen die Grundgedanken der Rechtfertigungslehre zu verstoßen. Stattdessen tritt nun, etwa bei Barth (1886–1968) und in Aufnahme eines kulturprotestantischen Gedankens, die Entsprechung von göttlichem Gebot und menschlichem Gehorsam in den Fokus.40 Unter diesem Gesichtspunkt kann Barths Ethik durchaus als eine Pflichtenethik verstanden werden. Wenn sich auch hierfür Anknüpfungen bei den Reformatoren finden,41 kann diese Entwicklung doch nicht als eine Rückkehr hinter die Bedingungen der Moderne zu einer Ethik der Reformatoren verstanden werden. Es handelt sich auch nicht um eine postmoderne Ethik. Vielmehr handelt es sich – auch und gerade bei Barth und der in dieser Hinsicht verwandten Ethik Bonhoeffers (1906–1945) –42 um dezidiert moderne Ethiken, die dem kantischen Programm einer ausschließlichen Pflichtenethik vollständig verhaftet bleiben. Dass dabei an Stelle der vermeintlich autonomen Vernunft nun die Christusoffenbarung tritt, ist nicht mehr als eine kleine inhaltliche Modifikation. Als spezifisch neuzeitliche Ethiken partizipieren sie aber am Scheitern jeder monistischen Ethikbegründung. Man hat Kant gern als den „Philosophen des Protestantismus“ bezeichnet. Dieser Eindruck kommt weniger dadurch zustande, dass hinsichtlich einer reinen 37 Vgl. Herms, E., Virtue, 134. 38 Vgl. Luther, M., WA 7, 32. 39 Vgl. Herms, E., Virtue, 126. 40 Barths Ethik findet sich u.a. in Barth, K., KD II/2, 564–875. Vgl. zur Ethik Barths und dessen Anschluss an und Überpointierung von W. Hermanns in kantischer Tradition gewonnener Ethik: Jüngel, E., Anrufung Gottes als Grundethos. Einführende Bemerkungen zu den nachgelassenen Fragmenten der Ethik der Versöhnungslehre Karls Barths, hier 327. 41 Vgl. Herms, E., Virtue, 133. 42 Eine der besten kommentierenden Einführungen in die Ethik Bonhoeffers liefert jetzt Ziegler, P.G., Bonhoeffer’s Ethics.

altprotestantische Orthodoxie

dialektische Theologie

Barths Ethik

228

Gemeinschaft, Person und Tugend Pflichtenethik von den Reformatoren zu Kant und der dialektischen und postdialektischen Theologie ein kohärenter Traditionsstrang bestünde, als vielmehr dadurch, dass Letztere reformatorisch getaufte Versionen des kantischen Programms bieten. Vorurteil

Nun ist diese Wertung der Tugendethik durch die protestantische Theologie der ersten Hälfte des 20. Jh. aber nicht nur ein Vorurteil, das an der Einsicht der Reformatoren vorbeiläuft, sondern auch sachlich falsch: Wenn die Handlungsfolgen zum Handlungsbegriff dazugehören, betreffen diese Folgen auch immer das handelnde Subjekt und gestalten es mit; insofern kann auf die Frage nach der Konstitution des Subjekts gerade im Handlungszusammenhang nicht verzichtet werden. Diese Frage aber ist letztlich die Frage nach einer Tugendethik.43 Seit den 1980er Jahren treten daher unterschiedliche Versuche, eine protestantische Tugendlehre zu begründen, verstärkt in den Fokus der theologisch-ethischen Diskussion.44

Fazit 69 Die aristotelische Tugendlehre wurde schnell mit christlichem Gedankengut verbunden. Vor allem bei Thomas von Aquin zeigt sich eine ausgereifte Tugendlehre, die die innere Seite seiner Naturrechtslehre darstellt. Thomas unterscheidet die Kardinaltugenden der antiken Tradition, die z.T. durch Einübung entstehen, von den theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung, die durch die Gnade Gottes eingegossen werden. Dies führt zur Problematik, dass damit der Glaube ein habitus wird, und dass es ohne den Gebrauch der Tugend der Liebe keinen Glauben geben kann, denn der Glaube muss durch die Liebe geformt und dadurch erst wirklich werden (fides caritate formata). Dieser Gebrauch der Tugenden ist meritorisch und daher verdient sich der Mensch nach der Eingießung der Gnade mithilfe der Tugenden das Heil. Der negative Grundzug dieser Tugendlehre wurde von den Reformatoren scharf kritisiert, nicht jedoch die Tugendethik als solche, wenn sie auch nicht im Mittelpunkt der reformatorischen Ethik steht. In der Folgezeit hat der Protestantismus dies häufig übersehen, eher selten Tugendethiken entwickelt und stattdessen eher Pflichtenethiken zu begründen versucht. In der Theologie der Gegenwart erkennt man verstärkt, wie wichtig die Entwicklung einer protestantischen Tugendethik ist. Tugenden sind keine Voraussetzungen des Heils, aber Voraussetzung menschlicher Pflichterfüllung.

Hauerwas

Der bedeutendste dieser Versuche einer protestantischen Tugendethik stammt dabei von dem methodistischen texanischen Theologen Stanley Hauerwas (*1940). Sein Programm kann verstanden werden als eine spezifisch theologische Parallele zum Anliegen MacIntyres, das daneben noch deutlich von dem mennonitischen 43 Vgl. Herms, E., Virtue, 136. 44 Vgl. exemplarisch Herms, E., Virtue; Stock, K., Wahre Liebe.

229

Theologische Tugendethiken

Theologen John Howard Yoder (1927–1997) und dessen Pazifismus beeinflusst ist. Hauerwas’ Tugendethik beansprucht gerade nicht, ein definitives System zu sein. Daher verstehen sich die folgenden Kennzeichen seiner Tugendlehre, die sich auf seine Aufsatzsammlung A Community of Character45 von 1981 beziehen, nicht als eine strenge Abfolge von Kennzeichen. Vielmehr wäre es möglich, bei jedem dieser Kennzeichen mit der Beschreibung einzusetzen. a) Hauerwas unterscheidet zwischen der Tugend und den Tugenden. Ein Mensch von Tugend zeichnet sich dadurch aus, dass er die Handlungsentscheidungen bewusst zu seinen Entscheidungen macht,46 dass Vernunft und Affekte in einem ausgeglichenen Verhältnis stehen47 und sich verschiedene Tugenden entwickeln, die aber nicht in einem einzelnen Tugendkatalog erfassbar sind48 und die zusammen nicht „die Tugend“ ergeben, die damit holistisch mehr als ihre Teile ist.49 b) Das Problem, dass die Tugenden bei Aristoteles und bei Thomas einerseits Handlungsvoraussetzungen sind, dass sie andererseits aber erst durch Handeln gebildet werden, so dass es in diesem zirkulären Verfahren keinen Anfangspunkt gibt,50 wird von Hauerwas gelöst, indem er die Tugend im Wesentlichen durch die narrative Identität eines Handelnden gebildet und veranlasst sieht. Jeder muss sich eine oder mehrere Geschichten (stories) zu eigen machen, die seine und die Rollen der anderen in der Welt beschreiben. Die Einheit des Selbst ist die einer narrativen Einheit mit Nebenplots und Nebenfiguren.51 Z.T. ist innerhalb dieser Geschichte auch eine probeweise Rollenübernahme möglich. In der Führung des eigenen Lebens kommt es dabei innerhalb einer Geschichte zu mehreren Rollenübernahmen, der Wechsel erfolgt nicht kontinuierlich, sondern ist durch Brüche, die Krisen markieren, gekennzeichnet. Die Geschichten sind wesentlich Abenteuergeschichten, d.h. sie bieten Identität durch Partizipation an einer Rolle im Rahmen dieses dramatischen Abenteuers.52 Durch die Rollenübernahmen innerhalb dieser Geschichten entstehen sowohl die Tugenden als auch die Tugend, und der Mensch wird ein Mensch von Charakter. c) Geschichten sind wesentlich kommunitär verfasst; sie sind nicht Schöpfung eines Einzelnen und sie beinhalten stets verschiedene andere Akteure. Sie kommen aus einer Gemeinschaft (polity) und sind, wie auch die einzelne Person, wesentlich auf diese Gemeinschaft bezogen. Die einzelne Person hat im Laufe ihrer Charakterbildung die Aufgabe, sich diese Geschichte anzueignen und zu ihrer eigenen zu machen. In genau dem Maße, in dem dies 45 Hauerwas, S., Community of Character. Für eine detailliertere deutschsprachige Darstellung der Ethik Hauerwas’ vgl. Klother, K., Charakter, Tugend, Gemeinschaft. 46 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 115. 47 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 124. 48 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 122. 49 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 113. 50 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 136–139. 51 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 144. 52 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 148–151.

Tugend und die Tugenden

narrative Identität

Gemeinschaft

230

Gemeinschaft, Person und Tugend

Geschenk

Spannung

wahre Geschichte

Kirche

gelingt, entsteht auch der Charakter des Menschen, und er ist fähig, seine Handlungsentscheidungen als seine eigenen anzuerkennen und zu verantworten. Hauerwas kann auch davon sprechen, dass sowohl Gemeinschaften als auch Personen Geschichten (stories) sind, weil auch Gott selbst ontisch erzählartig ist: “To insist on the significance of narrative […] involves a claim about the nature of God, the self and the nature of the world. We are ‘storied people’ because the God that sustains us is a ‘storied God’ whom we come to know only by having our character formed appropriate to God’s character. The formation of such character […] requieres the existence of a corresponding society – a ‘storied society’”.53 d) Der narrative Charakter von Mensch und Gesellschaft ist universal. Auch das Anliegen des Individualismus, den einzelnen Menschen in seiner Vernunft suffizient zu betrachten und eine begriffliche Prinzipienethik aufbauen zu wollen, ist letztlich an Geschichten und Gemeinschaften gebunden, wenn auch an andere.54 Die grundlegende Alternative ist dabei, ob individualistisch die andere Person und das Fremde als Bedrohung und Schicksal wahrgenommen werden, oder ob der andere wie die eigene Person als Geschenk und der Fremde als Gast wahrgenommen werden. Schicksal wird so zur Bestimmung. In der Folge bilden sich ganz andere Haltungen aus.55 e) Das Problem besteht nicht darin, ob Gemeinschaften und Geschichten die Person und deren Handeln steuern; es besteht darin, dass die Person an unterschiedlichen Geschichten und Gemeinschaften partizipiert, die nicht ohne Spannung bestehen. Dabei stellt sich die Frage, welches die wahre Geschichte ist, so dass Christinnen und Christen selbst Wahrheit werden können.56 f) Ebenso besteht das Problem des Handelns nicht darin, dass der Mensch sich für verschiedene Handlungsalternativen entscheiden kann oder für welche er sich entscheidet. Die entscheidende Frage ist vielmehr, wie er diese Handlung vollführt.57 Der Tugendhafte vollführt sie als seine bewusst verantwortete Handlung im Rahmen einer Geschichte aufgrund von verschiedenen Tugenden. g) Die wahre Geschichte, d.h. diejenige, die sich in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit befindet, ist die Geschichte der Person Jesu Christi, der als Sohn des Vaters Menschen ins Reich Gottes ruft, das diese erben können.58 h) Die Gemeinschaft der Kirche ist die Gemeinschaft, die durch die Geschichte Jesu Christi konstituiert ist, diese als verbindlich anerkennt und innerhalb dieser Geschichte lebt sowie hier ihre Charaktere ausbildet.59 53 Hauerwas, S., Community of Character, 91. 54 So Hauerwas, S., Community of Character, 99–101 mit MacIntyre am Beispiel Kants. 55 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 93. 56 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 132. 149. 57 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 131. 58 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 41. 43. 149. 59 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 49–52.

231

Theologische Tugendethiken i) Die Geschichte Jesu ist die Geschichte des Widerstreites zwischen der Geschichte Jesu und den Geschichten der Welt, die zum Konflikt und damit zum Kreuz Christi führt. Entsprechend ist die Geschichte der Kirche die Geschichte einer Gemeinschaft, die sich von der Welt und deren Geschichten unterschieden weiß. Der Beitrag der Kirche zur Welt besteht daher nicht darin, dass sie allgemeingültige ethische Prinzipien zur größeren Gesellschaft der Welt beiträgt, sondern dass sie die Welt befähigt, sich als Welt zu erkennen. Die Kirche ist damit immer eine Kontrastgesellschaft zur Welt.60 j) Geschichten sind immer partikular, sie lassen sich nicht auf Metaerzählungen oder begriffliche Prinzipien reduzieren.61 Der Universalitätsanspruch der Geschichte der Kirche besteht daher einfach darin, dass diese Geschichte wahr ist, weil sie der Effekt der Geschichte Jesu ist: Die Kirche ist die Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger Jesu.62 k) Der Wahrheitserweis der Geschichte Jesu wird nicht durch historische Forschung erbracht, wenn auch historische Forschung dazu akzidentell beitragen kann. Der Wahrheitserweis der Geschichte Jesu besteht darin, dass Menschen Jesus Christus als ihren Herrn anerkennen, handeln wie Jesus gehandelt hat und so den Charakter der Gemeinschaft der Kirche ausbilden und damit zur Wahrheit werden.63 l) Aufgrund der spezifischen Geschichte der Kirche, die mit der Geschichte Jesu verbunden ist, bildet sich der Charakter der Kirche mit den unterschiedlichen Tugenden aus. Wenn auch diese nicht verbindlich katalogisierbar sind, so ist doch deutlich, dass aufgrund des eschatischen Charakters sowohl der Geschichte Jesu als auch der Geschichte der Kirche Hoffnung und Geduld die beiden wichtigsten Einzeltugenden sind.64 m) Die Kirche hat keine Politik und keine Sozialethik. Sie ist eine politische Gemeinschaft und sie ist eine Sozialethik, weil auch Christus keine Sozialethik hatte oder vertrat, sondern – den alten Gedanken der autobasileia aufnehmend – eine Sozialethik ist. 65 In der Geschichte Jesu gehören Person und Werk untrennbar zusammen; dies bedeutet auch, dass das Werk Christi – die Versöhnung, das Heil für die Menschen – nicht vorgängig vor der Person Christi behandelt werden darf. Andernfalls würden die vorgängigen und trügerischen Erlösungswünsche der Personen bestimmen, was und wer Christus sein könnte, was auszuschließen ist.66 Entsprechendes gilt für Abstraktionsversuche, die die Geschichte Christi auf Begriffe reduzieren wollen. Die Geschichte der Kirche und die Geschichte Christi sind nicht reduzierbar und nicht abstrahierbar; ihre Wahrheit erweist sich schlicht darin, dass Menschen in der Gemeinschaft der Kirche leben und damit Christus als ihren Herrn anerkennen.

60 61 62 63 64 65 66

Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 11f. 50. Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 96f. 149. Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 52. Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 41f. 150. Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 127. Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 40–46. Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 42, im Anschluss an Pannenberg.

Kreuz

Kontrastgesellschaft Universalitätsanspruch

Wahrheitserweis

Hoffnung und Geduld Sozialethik

232

Gemeinschaft, Person und Tugend

Charakterbildung

Kritik

Kirche und Welt

n) Die Geschichte Jesu ist nicht ohne Spannungen; in ihr haben die Spannungen des Lebens, wie es die Personen der Gemeinschaft der Kirche erfahren, ihren Platz.67 Ferner sind das Leben und die Charakterbildung der Person in der Erzählung der Gemeinschaft der Kirche nicht spannungsfrei. Charakterbildung kann nicht mit Entwicklungstheorien beschrieben werden. Entwicklungstheorien gehen von einem kontinuierlichen Prozess oder aufeinander folgenden Stufen aus, die aufgrund eines ethischen Prinzips eine Zielvorstellung kennen. Die christliche Charakterbildung aber erweist sich in nichts anderem, als dass in den unterschiedlichsten Lebenssituationen die Geschichte Jesu als die Wahrheit der eigenen Lebensgeschichte erkannt wird. Entsprechend gibt es ein Wachstum im Charakter, aber auch eine Degeneration des Charakters ist möglich.68 Ferner ist das Wachstum nicht kontinuierlich, sondern es beruht auf Konversion. Eine solche Konversion ist nicht einmalig, sondern erfolgt immer dann, wenn in unterschiedlichen Handlungssituationen der Handelnde vor der Aufgabe steht, die Geschichte Jesu stets wieder aufs Neue als seine Geschichte anzuerkennen.69

Hauerwas’ Tugendlehre wurde von verschiedener Seite kritisiert.70 Eine häufig zu hörende Kritik besteht darin, dass ihm vorgeworfen wird, er beschreibe die Kirche als die Gemeinschaft einer Kontrastgesellschaft, die derart idealisiert sei, dass sie nirgendwo existiere.71 Dieser Vorwurf scheint mir jedoch nicht zuzutreffen: Denn zum einen macht sich Hauerwas diesen Einwand selbst72 und kann ihm dadurch entgehen, dass die Geschichte Jesu und die Geschichte der Kirche gerade keine spannungsfreien Geschichten sind, sondern im Gegenteil beanspruchen, die Spannungen des Lebens in geradezu unüberbietbarer Schärfe zu beschreiben.73 Ein Folgeeinwand besteht darin, dass man fragen kann, worin der Unterschied zwischen Kirche und Welt noch besteht, wenn beide nicht auf spannungsfreien Geschichten beruhen. Hauerwas’ Antwort lautet hier einfach, dass die Kirche die Gemeinschaft ist, die die Geschichte Jesu als verbindlich anerkennt, während das die verschiedenen Gemeinschaften der Welt nicht tun. Man wird allerdings fragen müssen, ob es dann nicht gerechtfertigt ist, diese Geschichte Jesu und der Kirche auch im Kontrast zu den Geschichten der Welt begrifflich zu erfassen und mittels ethischer Konzepte wie Pflichten, Werte, Ziele etc. zu thematisieren. Hauerwas 67 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 47f. 68 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 135. 69 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 131. 70 Eine gute Darstellung der Ethik Hauerwas’ in deutscher Sprache, die jeweils auch auf die verschiedenen Kritiken eingeht, findet sich bei Rommel, B., Ekklesiologie und Ethik bei Stanley Hauerwas. 71 Vgl. z.B. Fischer, J., Theologische Ethik, 162. 72 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 108. 73 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 148f.

233

Theologische Tugendethiken

gesteht zwar richtigerweise zu, dass Pflichtenethik, Güterethik und Tugendethik keine Gegensätze sind, sondern Tugenden die Voraussetzung von Pflichterfüllung darstellen,74 aber er verweigert die begriffliche Explikation dessen. Diese Verweigerung geschieht deshalb, weil er die Gefahr sieht, dass die Geschichte dann auf die abstrakten Begriffe reduziert werden könnte. Diese Gefahr besteht sicherlich, aber sie besteht nicht notwendigerweise. Eine begriffliche Explikation, die sich immer als sekundär zur Geschichte versteht, könnte im Gegenteil Hauerwas’ Anliegen eine stärkere Plausbilität verleihen. Die inhaltliche Hauptfrage ist allerdings, ob es Hauerwas gelingt, in seiner Tugendethik die Verzeichnung des Christlichen zu vermeiden. In der thomistischen Tugendethik bestand diese Verzeichnung darin, dass Thomas’ Auffassung des Glaubens als habitus meritorische (verdienstliche) Implikationen beinhaltet. Zum Teil gelingt dies Hauerwas. Er betrachtet den Glauben nicht als Tugend. Er steht auch auf dem Boden der reformatorischen Grundüberzeugung, dass die Werke Implikationen des Glaubens sind, also aus diesem fließen, wenn er auch diese Beschreibung für sehr abstrakt hält.75 Ferner zeigt die Beschreibung, wie innerhalb der Gemeinschaft der Kirche sich der Charakter durch die Aneignung einer Geschichte entwickelt, dass hierbei menschliches Wählen und Entscheiden nicht Grund, sondern Folge der Wirkung der Geschichte Jesu ist. Alle Aktivität des Menschen wird hier als Betätigung der endlichen und geschenkten Freiheit verstanden, ist es doch gerade eine wesentliche Haltung dessen, der so im Charakter gebildet wird, sich selbst, die Gemeinschaft und die Welt als Geschenk zu verstehen. Problematisch erscheint allerdings, dass bei Hauerwas eine christozentrische Verengung vorzuliegen scheint. Deutlich ist zwar, dass gerade in der Aneignung der Geschichte im Charakter der Gemeinschaft die Person Christus gegenwärtig ist oder zu sein scheint. Wie diese Gegenwart aussieht oder inwiefern hier ein Handeln des Heiligen Geistes vorliegt oder nicht, darüber erfährt man beim frühen Hauerwas nichts. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass bei Hauerwas eine Irresistibilität der Gnade jedenfalls ausgeschlossen ist und auch die Fähigkeit des freien Willens in der Aneignung des Charakters und dessen ethischer Praxis überschätzt zu sein scheint. Letztlich ist damit ein meritorischer Schatten auf Hauerwas’ Theologie beobachtbar.76 74 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 114. 75 Vgl. Hauerwas, S., Community of Character, 132. 76 Vgl. Hauerwas, S., Selig sind die Friedfertigen, 80. Ebd. schreibt Hauerwas auch: „Wie ich […] vorgeschlagen habe, bedeutet erlöst zu werden nichts weniger als zu lernen, uns in Gottes Geschichte einzuordnen.“ Problematisch ist hier die deutliche Aktivität des Menschen und die unterstellte Fähigkeit des Sich-Einordnens und aktiven Lernens.

begriffliche Explikation

Hauptfrage

christozentrische Verengung

234

Gemeinschaft, Person und Tugend

Fazit 70 Der wohl bedeutendste Versuch der Gegenwart zur Begründung einer protestantischen Tugendlehre stammt von S. Hauerwas. Er entwickelt eine Tugendethik auf Basis eines narrativen, kommunitären Ansatzes. Die Tugenden und der Charakter bilden sich in Gemeinschaften, indem Personen die Geschichten der Gemeinschaften als ihre eigenen Geschichten und ihre Identität anerkennen. Die Geschichte (story) Jesu, wie sie in der Geschichte (story) der Gemeinschaft der Glaubenden bewahrheitet wird, ist dabei die wahre Geschichte, die in Kontrast zu den Geschichten der Welt steht. Wie Jesus Christus eine Sozialethik ist und nicht lehrt, ist auch die Kirche eine Sozialethik. Hauerwas’ Ansatz ist in vielen Punkten vielversprechend, in manchen zu kritisieren. Am problematischsten ist, dass sich Hauerwas aufgrund einer falsch verstandenen narrativen Theologie klarer Begriffsarbeit verweigert.



Literaturempfehlung Aristoteles: Nikomachische Ethik, Darmstadt 1995. MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend, Frankfurt/M. 1995. Hauerwas, Stanley: A Community of Character. Toward a Constructive Christian Social Ethic, Notre Dame 1981. Hauerwas, Stanley: Selig sind die Friedfertigen, Neukirchen-Vluyn 1995.

12. Personen

Die Frage, wer und was Handelnde sind und welche Bedeutung sie für den Begriff des (vorzüglichen) Handelns haben, ist nun systematisch zu beantworten. Dabei wird sich zeigen, dass Handelnde Personen sind, so dass der Personbegriff eine fundamentalethische Personbegriff Bedeutung erhält. Dabei gilt es, Missverständnisse und 1 Person Vorurteile konsequent zu 1c 2 Vernunft vermeiden: Der Personbe1b andere Affekte Personen griff ist kein Begriff, der erst in der Neuzeit entstanden 3 1a wäre. Er ist auch kein Begriff, natürliches Wille Geschehen der primär vom Menschen auszusagen wäre, sondern er ist vielmehr umgekehrt pri4a 9 empirische Ergebnis mär von Gott und erst abgeGewissheiten leitet vom Menschen auszu4 Gewissheiten sagen. Das Gleiche gilt in 4b 8 Folge auch für die damit zureligiöse Ziele Gewissheiten sammenhängenden Begriffe des Handelns, der Praxis, des 7 5 Ethos und letztlich sogar der Erwartungen Regeln 6 Mittel Ethik.1 Denn die „Reflexion auf menschliches Handeln führt in eine Dimension von Abb. 29: Person- u. Tugendethiken, christliche Perspektive Fragen, die über den Bereich des menschlichen Handelns hinausreichen.“2 Im Folgenden seien zunächst unterschiedliche Typen von Personbegriffen dargestellt.

1 Diese Vorurteile werden u.a. auch von Theologen geteilt, vgl. z.B. Härle, W., Ethik, 95, und Preul, R., Problemskizze. Diese Engführung kann Herms, E., Personbegriff, weitgehend vermeiden. Zwar werden auch hier als Gegenstand der Ethik primär geschaffene Personen benannt (404). Indem aber korrekterweise der Begriff der geschaffenen Person als Ableitung des theologischen Personbegriffs verstanden wird (409– 411), liegt dieses Missverständnis nicht prinzipiell vor. 2 Tanner, K., Der lange Schatten des Naturrechts, 234.

236

Personen

12.1 Personbegriffe 12.1.1 Personalität als Eigenschaft

boethianischer Personbegriff

Der Begriff der Person kann deskriptiv mittels aktualer oder potentieller Eigenschaften definiert werden. Das Paradigma dieses Personbegriffs findet sich klassisch bei Boethius (ca. 480/5–ca. 524/6), der „Person“ definiert als individua substantia rationa(bi)lis naturae (eine individuelle Substanz einer vernünftigen [zur Vernunft fähigen] Natur).3 Boethius hatte diesen Personbegriff im Rahmen der Christologie entwickelt, um damit die Einheit der Person Christi gegen die vermeintlichen Alternativen des Nestorianismus und Eutychianismus verteidigen zu können. Sein Anliegen ist dabei explizit, dass sein Personbegriff auch für die Personen der Trinität verwendbar sein soll.4 Boethius’ Interesse liegt dabei ganz auf der Identitäts- bzw. Individuationsfrage – d.h. auf der Frage, was eine bestimmte Person zu dieser Person im Unterschied zu anderen Personen und in Identität mit sich selbst macht –, weniger auf der Frage, was Personen von anderen Entitäten unterscheidet. Die Individuationsfrage beantwortet er mit dem Verweis auf eine individuelle allgemeine Substanz. Platon kommt die substantia secunda, d.h. die allgemeine Substanz „Mensch“, bzw. humanitas zu. Was unterscheidet ihn von anderen Menschen und macht ihn zu dem Menschen, der er ist? Dies können offensichtlich nicht die zahlreichen Akzidentien – d.h nicht notwendigen Eigenschaften – sein. Daher antwortet Boethius, dass es außer der substantia secunda noch eine substantia prima geben müsse, eine allgemeine Substanz, die aber per definitionem nur durch eine Entität instantiiert ist und die deren Identität gewährleistet. Im Falle Platos wäre dies die „platonitas“, im Falle Daniels die „danielitas“ etc. Die Identität einer Person in ihrem geschichtlichen Verlauf wird daher mit einer zeitlosen und ungeschichtlichen individuellen Substanz gesichert. Die andere Frage, was Personen im Unterschied zu Nichtpersonen ausmacht, beantwortet Boethius eher en passent mit der These, Personen käme eine rationa(bi)lis natura zu. Boethius unterscheidet also Personen von Nichtpersonen durch die Prädikation der Vernünftigkeit bzw. durch die potentielle Möglichkeit zur Vernunftbegabtheit. In den Texten erscheint als textkritisches, aber nicht historisch entscheidbares Problem beides. Dabei handelt es sich um eine inhaltlich bedeutsame Differenz: Sind Personen nur Entitäten, die faktisch vernunftbegabt sind, so dass Kleinkinder, Komatöse und Schlafende ausgeschlossen sind? Oder handelt es sich um die Möglichkeit zur Vernunft (Vernunftbegabtheit), so dass Kleinkinder und Schlafende ebenfalls als Personen anzusprechen sind, nicht aber Personen im irreversiblen Koma? Obwohl Boethius diese bedeutsamen Fragen der Gegenwart nicht im Sinne hat, zeigt dieser textkritische Befund, dass ein Problem der Gegenwart der Sache nach 3 4

Vgl. Boethius, A.M.S., Contra Eutychen et Nestorium, 74f. Vgl. Boethius, A.M.S., Contra Eutychen et Nestorium, 80f.

237

Personbegriffe schon in der Persondefinition des Boethius angelegt ist. Eine weiteres Problem besteht in der Frage, was Boethius mit Vernunftbegabtheit überhaupt meint. Neuere Untersuchungen zeigen, dass er wahrscheinlich gar nicht bei einer abstrakten Prädikation stehen bleibt, sondern Vernunftbegabtheit durch die Fähigkeit zur Verständigung, d.h. durch Kommunikabilität erklärt, die eine fundamentale Relationalität einschließt. Allerdings eine solche, die Relationalität nicht mehr nur als Akzidens verstehen kann und damit das aristotelische Kategorienschema, mit dem Boethius selbst arbeitet, sprengt.5

Wichtig an diesem Typus sind vor allem zwei Elemente: Die Differenz zu anderen Entitäten und die Identitäts- bzw. Individuationsfrage. In beider Hinsicht handelt es sich um einen prädikativen Typus. Prädikative Personbegriffe sind in der Frage, was eine Person im Unterschied zu Nichtpersonen ausmacht, dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Eigenschaft deskriptiv am Phänomen der Person identifizieren, die dann Personalität definiert. Dies kann die Vernunftbegabtheit oder die Fähigkeit dazu sein, aber auch die Sprachlichkeit oder die Sprachfähigkeit. Neben Boethius haben diesen Weg der Erfassung des Phänomens der Personalität Thomas von Aquin (ca. 1225–1274), John Locke (1632–1704) oder in der Gegenwart Peter Singer (*1946) beschritten.6 Problematisch ist an dem prädikativen Typus nicht, welches Prädikat zur Definition ausgewählt wird. Problematisch ist auch nicht, dass die vielfältigen Prädikate, die zur Definition dienen können, sich sicherlich an der Phänomenalität des Sprachgebrauchs, was wir Person nennen, zumindest z.T. ausweisen lassen. Das Problem ist vielmehr, dass durch den prädikativen Typus immer irgendeine intensionale Definition mittels Prädikation geboten wird, die dazu führt, dass bei Nichtdiagnose der entsprechenden Eigenschaft oder Fähigkeit Entitäten, die normalerweise als Personen anzusprechen sind, ausgeschlossen werden. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass im Phänomen der Personalität eine unhintergehbare Geschichtlichkeit liegt, die dieser Typus von Personbegriffen aufgrund der prinzipiell zeitlosen logischen Prädikation nicht erfassen kann. Auch der Versuch, die Identitätsfrage durch den Verweis auf eine Individuation der Person mittels einer individuellen, allgemeinen Substanz, etwa im Falle Platons der platonitas, zu lösen, befriedigt nicht. Denn die Frage, was eine Person im Wechsel der Geschichte zu derselben Person macht, wird durch den Rekurs auf ein individuelles Allgemeines beantwortet, auf eine individuelle Substanz. Neben der Frage, ob dies außer im Rahmen der aristotelischen Ontologie tatsächlich ein kohärenter Begriff sein kann, befriedigt in der Gegenwart daran vor allem nicht, dass es sich dabei im Vergleich zur Wahrnehmung der geschichtlichen Phänomenalität von Personalität nicht um eine Rekonstruktion der Identität oder deren Erklärung handelt, sondern 5 Vgl. Schlapkohl, C., Persona est naturae rationabilis individua substantia, 120– 124. 6 Vgl. Singer, P., Praktische Ethik, 120.

prädikative Personbegriffe

Problem

238

Personen um ein bloßes Identitätspostulat. Dieser Einwand trifft im Prinzip nicht nur Boethius’ und alle verwandten Persondefinitionen, sondern auch alle Versuche, die Identität von Personen mittels eines Begriffs der Seele als principium individuationis oder forma der Materie zu bestimmen.

Fazit 71 Prädikative Personbegriffe definieren die Unterschiedenheit der Person von Nichtpersonen oder ihre Identität mit sich selbst mittels einer oder mehrerer Eigenschaften, die Personalität im Unterschied zu Nichtpersonalität ausmachen soll. Dies ist häufig die Vernunft- oder Sprachfähigkeit des Menschen. Als Paradigma dieser Personbegriffe kann die Persondefinition des Boethius dienen: Eine Person ist eine individuelle Substanz einer vernünftigen (oder zur Vernunft fähigen) Natur (individua substantia rationa[bi]lis naturae). Dieser Typus von Personbegriffen ist abzulehnen, weil jede Persondefinition mittels Eigenschaftsprädikation notwendigerweise Personen, die im Alltag als solche erkannt werden, ausschließen muss, sofern sie nicht die entsprechende Eigenschaft besitzen. Problematisch ist ferner, dass mit der Behauptung, es gäbe eine individuelle allgemeine Substanz, atomare Entitäten ein grundlegendes Prinzip werden, so dass Individualismus vertreten wird.

12.1.2 Personalität und Subjektivität

Selbsterschlossenheit

Zur Erfahrung der Phänomenalität des Personseins gehört offensichtlich auch die unhintergehbare Perspektive der ersten Person Singular, d.h. die unmittelbare Erfahrung von Selbsterschlossenheit und Ichheit. Diese Erfahrung wurde in der Geschichte z.T. mit dem Begriff der Subjektivität ausgedrückt. Das Subjektivitätsthema der Personalität ist nun tatsächlich ein vor allem neuzeitliches Thema, wenn es auch in der Theologie Augustins (354–430) einen bedeutenden Vorläufer hat. Veranschaulichen lässt sich dieser Aspekt an der berühmten Persondefinition John Lockes (1632–1704), der eine Person bestimmt als ein „thinking intelligent being that has reason and reflection, and can consider itself as itself“.7 Eigentlich bildet die Definition John Lockes keinen eigenen Typus, sondern es handelt sich de facto um einen prädikativen Typus, der mit der Beschreibung der Person als thinking intelligent being that has reason ziemlich nahe an der boethianischen Definition steht. Neu ist hier aber, dass diese Vernunft nun erklärt wird mit dem Verweis auf die Selbstbeziehung der reflection und der Selbstwahrnehmung. 7

Locke, J., Identity and Diversity, II, XXVII, §9.

Personbegriffe Obwohl hier der prädikative Typus beibehalten ist, geschieht doch eine signifikante Wendung: Das Paradigma der Substanz wird durch das Paradigma des Subjekts abgelöst. Interessant ist, dass sich dies sogar bei dem Empiristen Locke zeigt, während man zunächst geneigt sein könnte, diesen Personbegriff eher bei den idealistischen Positionen zu suchen. Mit dieser Wendung tritt zwar mit der Phänomenalität des Selbsterlebens ein wichtiger Aspekt in den Vordergrund, aber es ergeben sich auch neue, spezifische Probleme: Das Subjekt des Selbsterlebens ist immer auf Objekte bezogen, die primär nicht Subjekt sind, und zwar auch dann, wenn sie – zunächst überraschenderweise – als Person anzusprechen sind. Dieses Problem des eigenen und fremden Personseins tritt dann auch durch den weiter unten zu besprechenden askriptiven Persontypus in den Vordergrund. Indem Personsein primär als Subjekt und die Umwelt, gleich welcher Form, als Objekt bestimmt werden, ist die wesentliche Beziehung eines Subjekts zum anderen die manipulative Beziehung: Selbsterleben, Rationalität, Handlungsmöglichkeiten und Verantwortung werden primär dem Ich zugeschrieben und das andere oder der oder die andere werden primär als Objekt behandelt. Zwar ist auch darin eine particula veri zu erkennen, aber eben auch implizit eine gefährliche Reduktion der Beziehungswirklichkeit des Menschen. Sozialität kann nur über den Umweg der Intersubjektivität erfasst werden und wird damit zur sekundären Kategorie, was der Erfahrungswirklichkeit schwerlich Genüge tun kann. Denn zu dieser Erfahrungswirklichkeit gehört auch die Tatsache, dass von der anderen Person ausgehend eine spezifische personale Macht erfahren wird, die sich gerade nicht vollständig auf durch das Subjekt berechenbare Gesetzmäßigkeiten reduzieren lässt, sondern personal vollständig transzendent bleibt und das Subjekt in einer Weise bestimmt, wie es innerhalb des Paradigmas nicht vorgesehen ist.

239

Paradigma des Subjekts

Fazit 72 Eine Variation der prädikativen Persondefinition besteht darin, die Erfahrung von Subjektivität oder Selbsterschlossenheit als wesentliche Eigenschaft auszugeben. Ein Beispiel ist die Persondefinition Lockes. Das Paradigma der Substanz wird hier durch das des Subjekts ersetzt. Positiv ist, dass damit ein wichtiger Bestandteil der Phänomenalität von Personalität eingefangen wird. Problematisch ist, dass sich das Ich als Subjekt hier allem anderen – auch anderen Personen – als Objekten entgegensetzt, so dass die manipulative Beziehung paradigmatische Bedeutung erlangt, mit der Folge, dass Sozialität nur sekundär durch Intersubjektivität beschrieben werden kann und somit ebenfalls eine individualistische Position vorliegt.

12.1.3 Personalität und Geschichte

Unter den zahlreichen Prädikaten, die zur Definition innerhalb des prädikativen Typus genutzt werden können, spielen Rationalität, Sprachfähigkeit und Selbsterleben sicherlich eine große Rolle und hängen auf die eine oder andere Weise mit der Identität der Person

240

Personen

Geschichtlichkeit der Person

Probleme

unvollständige Identität

Endgericht

getäuschte Subjektivität

zusammen. Nun ist die Erfahrung dieser Identität der Person allerdings keine abstrakt-zeitlose, sondern sie unterliegt dem geschichtlichen Wandel. Diese Geschichtlichkeit der Person kommt ebenfalls deutlich im Personbegriff John Lockes zum Ausdruck, dessen Definition bisher nur unvollständig geboten wurde. Vollständig wird die Person bestimmt als ein “thinking intelligent being that has reason and reflection, and can consider itself as itself, the same thinking thing in different times and places”.8 Mit dem Verweis auf die Geschichtlichkeit wird einerseits ein bedeutender Aspekt der Phänomenalität des Erlebens von Personalität und Identität nun explizit hervorgehoben, andererseits treten auch spezifische Probleme zutage, von denen zwei hier genannt seien: Das erste Problem besteht in der Tatsache, dass durch den Verweis auf die Zeit- und Räumlichkeit nun eine Identität im Wechsel der Geschichte prinzipiell eine unvollständige Identität ist, zumindest bis hin zu einem gedachten Ende der Person. Die Person wird damit gewissermaßen mit ihrer Geschichte identisch. Entgegen der populären Vorstellung, diese Identität könnte am Ende oder Abschluss des geschichtlichen Seins einer Person, etwa im Tode, bestimmt werden, ist sich John Locke selbst aber bewusst, dass damit das Problem nicht gelöst ist. Denn jeder Tod kann nicht nur prinzipiell als Abbruch einer Geschichte erfahren werden, sondern er kann auch als Abbruch einer Geschichte gedacht werden. Allein mit dieser Möglichkeit ist für Definitionszwecke aber der Verweis auf die Geschichte allein unbrauchbar, es sei denn, man zieht eine Instanz ein, die nicht als Abbruch, sondern als Vollendung und Sanktionierung der Geschichte einer Person gedacht wird. John Locke tut dies überraschenderweise selbst, wenn er Überlegungen zum traditionellen eschatischen Endgericht durchaus mit in seine Überlegungen zur Personalität einbezieht.9 Explizit hat Wolfhart Pannenberg (*1928) diesen Gedanken in seiner Anthropologie aufgenommen, indem er darauf insistiert, dass zumindest menschliches Personsein immer unter geschichtlichen Bedingungen unvollendet ist und Person und Identität damit prinzipiell, also unhintergehbar, zu eschatischen Begriffen werden.10 Indem das Endgericht so Relevanz für die Konstitution der Person erhält, ist jedenfalls ein strikter doppelter Ausgang nicht an den Gerichtsbegriff gebunden.11 Das zweite Problem besteht darin, dass durch den Verweis auf die Geschichtlichkeit der Subjektivitätsbegriff seinerseits keine primitive oder basale Funktion mehr bekommen kann, weil eine getäuschte Subjektivität vorliegen kann. Sie ist etwa gegen Descartes’ (1596–1650) umstrittene Intuition des cogito ergo sum und gegen den frühen Fichte (1762–1814), der im „Ich“ den 8 Locke, J., Identity and Diversity, II, XXVII, §9. 9 Vgl. Locke, J., Identity and Diversity, §22. §26. 10 Vgl. Pannenberg, W., ST, Bd. 1, 409. 465f; Pannenberg, W., Anthropologie in theologischer Perspektive, 151–235; Pannenberg, W., Person und Subjekt, 93. Zur Besprechung vgl. Mühling, M., Gott ist Liebe, 219f. 11 Zur Problematik einer Begründung des doppelten Gerichtsausgangs, aber auch dem einer Allversöhnung vgl. Rosenau, H., Allversöhnung.

241

Personbegriffe archimedischen Punkt der Einheit von Erkenntnistheorie und Ontologie sah,12 dazu gerade nicht in der Lage, weil sich auch in der Erfahrung der Selbstidentität durch die Geschichte ein Subjekt täuschen kann, ohne es je bemerken zu können. Auf diese Tatsache weist der Essayist Stanislaw Lem (1921–2006) in einem Gedankenexperiment hin:13 Man stelle sich eine Person A mit einem Selbsterleben vor, die abends in tiefen Schlaf fällt, und einen Wissenschaftler, dem es gelungen ist, eine Maschine zu konstruieren, die eine perfekte körperliche Kopie von Personen anfertigen kann und die in der Lage ist, alle Erinnerungen einer Person zu extrahieren, zu speichern und der kopierten Person einzupflanzen. Der Wissenschaftler wendet nun die Maschine an der schlafenden Person A an, schafft eine Person B mit den gleichen körperlichen Eigenschaften und Erinnerungen wie Person A, bringt Person A um, beseitigt die Leiche und legt die schlafende Person B auf die Bettstatt von Person A. Wenn nun morgens Person B erwacht, hält diese sich zwangsläufig für Person A und hat keine Möglichkeit, durch ihr Selbsterleben ihren Irrtum zu erkennen. Es ist bei diesem Gedankenexperiment völlig unwichtig, dass es sich dabei um science fiction handelt. Denn dieses Szenario lässt sich gerade nicht mit logischer Notwendigkeit widerlegen, sondern nur mit dem Verweis auf Fakten. Genau das ist aber nicht genug, wenn der Begriff der reflexiven Subjektivität die Identität der zur Selbstwahrnehmung fähigen Person sichern und so zu einer verlässlichen Basis im Rahmen eines Subjektparadigmas werden soll.

Gedankenexperiment

Fazit 73 Geschichtlichkeit ist ein weiterer wichtiger Aspekt von Personalität, der berücksichtigt werden muss. Auch dazu finden sich Ansätze in Lockes Persondefinition. Einerseits erlaubt dies nun, die Identität der Person raumzeitlich zu bestimmen. Andererseits ist die Identität der Person hier immer unabgeschlossen, es sei denn, man bestimmt diese durch den Gedanken einer eschatischen Vollendungsinstanz (Endgericht). Ferner bedingt die Geschichtlichkeit die Möglichkeit der Selbsttäuschung, so dass die Beschreibung von Personalität durch den Subjektbegriff weder in der Lage ist, den Begriff der Identität einer Person zu konstituieren, noch diesen zu sichern. Dazu bedarf es offensichtlich etwas anderen als des Subjekts, von dessen Identität die Rede ist, etwas, das diesem Subjekt extern ist, aber mit ihm in Beziehung steht.

12.1.4 Personalität als Askription

Eine andere Möglichkeit, den Begriff der Person zu bestimmen, liegt darin, nicht Prädikate, die aus der Phänomenalität der Erfahrung von Personalität stammen, deskriptiv aufzunehmen, sondern von einer 12 Vgl. Fichte, J.G., Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 16. 13 Vgl. zum Problem die Texte in Flew, A., Body, Mind and Death; Das folgende Szenario gibt einige Gedanken von Stanislaw Lems „Die Auferstehungsmaschine“ wieder, in Lem, S., Die phantastischen Erzählungen, 343–361.

242

Personen

Zuschreibung

Würde

askriptiver Personbegriff

Zuschreibung von bestimmten Prädikaten im Rahmen des kommunikativen Miteinanderseins von Personen auszugehen. Das Paradigma bildet hier der Personbegriff Alexander von Hales’ (ca. 1185– 1245): Persona est hypostasis distincta proprietate ad dignitatem pertinente (Eine Person ist eine durch eine die Würde betreffende Proprietät unterschiedene Hypostase).14 Alexander von Hales nimmt hier die u.a. auf Cicero (106–43 v.Chr.) zurückgehende Tradition auf,15 dass sich Personen dadurch auszeichnen, dass ihnen eine bestimmte Würde zugeschrieben wird. Dabei handelt es sich zunächst nicht um eine allen Personen gemeinsame Personwürde, denn der Würdebegriff wird in dieser Definition nur implizit zur Unterscheidung der Person von der Nichtperson verwandt. Diese Unterscheidung ist in der Definition bereits durch den Begriff der Hypostase vorausgesetzt. Entscheidend ist vielmehr, dass hier in Analogie zur unterschiedlichen Würde von Ämtern der Gesellschaft nun jede einzelne Person mit einer sie unterscheidenden Würde ausgestattet gedacht wird, um so eine direkte Antwort auf die Identitätsfrage zu geben. Alexander selbst versteht diese Ausstattung mit einer personspezifischen Würde noch nicht durch Askription konstituiert. Dennoch ist unübersehbar, dass die dieser Definition zugrunde liegende Bestimmung mittels des Würdebegriffs aus dem ethisch kommunikativen Umgang von Personen miteinander stammt. Alexanders Personbegriff stellt damit faktisch einen Urahn von sehr unterschiedlichen Personbegriffen dar. Zu nennen wäre hier vor allem die Verwendung des Personbegriffs durch Kant (1724–1804), der implizit die Bedeutung der Person in der Formulierung seines kategorischen Imperativs deutlich macht: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“16 Obwohl Kant selbstverständlich den Anspruch besitzt, diesen Imperativ durch einen allgemeinen Vernunftbegriff zu gewinnen, ist doch deutlich, dass er sich nur im Handeln zwischen Menschen verwirklichen lässt, so dass im Akt eines Subjekts gegenüber einem anderen diesem Personalität zugesprochen wird. Ein askriptiver Personbegriff findet dann seine Vollendung bei Derek Parfit (*1942). Parfit bezieht die Geschichtlichkeit von Personalität explizit mit in seine Überlegungen ein, allerdings dergestalt, dass er davon ausgeht, dass verschiedene Rekonstruktionen einer Erlebnis- oder Ereignisfolge möglich sind. Welche Erlebnisse und Ereignisse dabei zu einer bestimmten Geschichte verbunden werden, sei mehr oder weniger willkürlich, und die Tatsache, dass ich meine Geschichte mit meiner personalen Identität verbinde, sei nicht vom Erleben meiner Subjektivität abhängig, sondern geschähe kontingent und aus mehr oder weniger egoistischen Gründen. Auf diese Weise geschieht die Zuschreibung von Personalität nicht primär dem anderen, sondern mir selbst und dem anderen erst sekundär. Da es dafür aber keinen rationalen Grund gibt, spräche nach Parfit nichts dagegen, dass es auch 14 Alexander von Hales, Glossa, Buch I, 23,9c, 226. 15 Vgl. Cicero, M.T., Vom rechten Handeln, 91f. 16 Kant, I., GMS AA IV, 429, 10–12.

Personbegriffe

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andersherum geschehen könne, d.h., dass ich die Geschichte und die Erfahrungen des anderen als die meiner Person anerkenne.17

Fazit 74 In der Tradition des Personbegriffs Alexanders von Hales stehen z.B. die Personenbegriffe Kants und Parfits, die letztlich auf Zuschreibung beruhen. Wird der Personbegriff askriptiv verwandt, indem Personen in ihrem ethischen Handeln einander eine spezifische oder auch allgemeine Personwürde zuschreiben, hat der Begriff für die Begründung etwa der Menschenwürde u.U. durchaus eine sinnvolle Funktion. Zudem entspricht dieser Personbegriff der Erfahrung der Phänomenalität der Personalität, insofern Menschen ihr Personsein und das der anderen in kooperativen und interaktionellen Zusammenhängen erfahren. Die unhintergehbare Relationalität des Personseins wird somit aufgewertet. Als Definition des Personseins und der darauf beruhenden Personalität ist aber auch dieser askriptive Personbegriff unbrauchbar, weil dann Personalität alleine durch die Handlungen von Menschen konstituiert würde und insofern nichts Unverlierbares bezeichnen könnte.

12.1.5 Personalität als Beziehung 12.1.5.1 Historischer Hintergrund

Die genannten Personbegriffe können weder die phänomenale Erfahrung menschlichen Personseins abbilden noch den nötigen Zusammenhang und die Unterschiedenheit zwischen Handeln Gottes und Handeln des Menschen ausdrücken. Dazu bedarf es strikt relationaler Personbegriffe. Als Paradigma dieses relationalen Personbegriffs kann unübertroffen Richards von St. Victor (ca. 1110–1173) Definition der Person als incommunicabilis ex-sistentia (unmitteilbares Voneinander-und-Füreinandersein) gelten.18 Der Vorteil dieser erläuterungsbedürftigen Definition besteht zudem darin, dass es sich hier auch um einen genuin theologischen Personbegriff handelt. Eine kurze Geschichte der Person: Zwar kann die Verwendung der trinitarischen Formel una substantia, tres personae schon Tertullian (ca. 150–ca. 220) zugeschrieben werden, jedoch handelt es sich hier noch nicht um eine begriffliche Entfaltung, sondern nur um ein unspezifisches Vorkommen der Termini. Der Personbegriff kann daher auch nicht mithilfe des etymologischen Verweises auf per-sonare (hindurchklingen) oder mit Verweis auf das griechische Äquivalent prosopon (Angesicht), das von der Theatermaske herstammt, aufgeklärt werden, wenn man die Bedeutung eines Begriffs nicht mit seiner Genese verwechseln will. Geht man methodisch sauber vor, wird 17 Vgl. Parfit, D., Reasons and Persons, 199–347, bes. 216f. 18 Richard von St.Victor, De Trinitate, Buch 4,18 (268).

kurze Geschichte der Person

244

Personen

Hypostase

man hinter die Einsicht L. Wittgensteins (1889–1951), nach der die Bedeutung durch die Sprachverwendung bestimmt wird und somit die semantische Frage nicht ohne die pragmatische zu klären ist, nicht zurückfallen dürfen.19 Für unsere Zwecke bedeutet dies, nicht nach den Ursprüngen des Terminus zu fragen, sondern nach den Ursprüngen des Begriffs. Dieser liegt aber weder im Terminus persona noch im Terminus prosopon, sondern in dem der Hypostase und der kappadozischen Theologie, die hypostasis scharf von ousia schied, dergestalt, dass hypostasis to idion (das Eigene) und ousia to koinon (das Gemeinsame) meint. Damit wurde nicht nur eine begriffliche Revolution eingeleitet – denn noch Athanasius (ca. 298–373) benutzte die Begriffe synonym – sondern auch eine ontologische Revolution. Entgegen allen Strömungen antiker Philosophie war es nun die konkrete Hypostase des Vaters, die als oberstes ontologisches Prinzip angenommen wurde. Damit war nicht nur das allgemeine, nicht individuierte Sein Prinzipat statt Prinzip, sondern auch die aristotelisch-neuplatonische Substanzmetaphysik, die der Relation nur akzidentiellen Status einräumen konnte, wurde zerstört: Die Hypostase als to idion konnte nämlich nur als konkretes Sein verstanden werden, wenn ihre Beziehungen zu Sohn und Geist als wesentlich für diese selbst mitgedacht wurde. Dies geschah mehr beiläufig durch den Begriff der schesis und floss noch nicht in eine Definition der Hypostase ein.20 Indem im Westen durch Augustin (354–430) der Hypostasenbegriff nun mit dem Personbegriff wiedergegeben wurde, wurde der Weg geöffnet für Richards Persondefinition. Freilich war dies zunächst ein steiniger Weg, weil Augustin das Gegenteil beabsichtigte, meinte er doch, der Hypostasenbegriff, der durch den Personbegriff wiederzugeben sei, sei nur eingeführt worden, um nicht schweigen zu müssen.21 Augustin verkannte also die kappadozische Innovation vollständig. Durch die oben angegebene Persondefinition des Boethius wurde diese Lage nur verschlimmert, da man wieder in die aristotelische Substanzmetaphysik zurückfiel. Auch Thomas von Aquin (ca. 1225– 1274), der sich nicht Richards Personbegriff anschloss, aber mit Augustin meinte, die trinitarische Person sei selbst Relation,22 änderte hier wenig. Denn damit war klar, dass „Person“ in Gott und Person beim Menschen nicht univok, sondern höchstens analog verwandt werden konnten: Eine individua substantia ist keine Relation und eine Relation keine individua substantia. Bei Thomas handelt es sich daher nur vordergründig um eine Aufwertung des Relationsbegriffs für den Personbegriff. Die kappadozische Einsicht, nach der die Hypostase sowohl konkretes Sein ist als auch nur relational zu bestimmen ist und als ontologisches Prinzip zu verstehen ist, wurde also bis Richard im Westen verkannt und auch nach ihm mitnichten Allgemeingut,

19 Vgl. Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Abschn. 43, 263. 20 Vgl. zur kappadozischen Trinitätslehre Zizioulas, J.D., Signifikanz des kappadozischen Beitrags. 21 Vgl. Augustinus, A., trin., CChr.SL 50216,43–217,11; 255–260; 262. Zur Darstellung vgl. Mühling, M., Gott ist Liebe, 84–87. 22 Vgl. Thomas von Aquin, s.th. I q40 a2.

245

Personbegriffe so dass sich Richards Personbegriff bis auf wenige Ausnahmen, etwa bei Bonaventura (1221–1274),23 nicht durchsetzen konnte.

Fazit 75 Historisch geht der Personbegriff auf den griechischen Begriff der Hypostasis zurück, wie er im 4. Jh. in den trinitarischen Auseinandersetzungen durch die Theologie der Kappadozier geschärft wurde. Er bezeichnet das konkrete Sein, das doch in wesentlichen Relationen besteht und zugleich Grundprinzip allen Seins in Gestalt der Person des Vaters ist. Die durch augustinisches Gedankengut beeinflusste westliche Tradition gab den Begriff der Hypostasis durch den der Person wieder, verkannte aber weitgehend den innovativen Charakter des kappadozischen Begriffs. Erst Richard von St. Victor (ca. 1110–1173) gelang es, eine systematisch einheitliche Ontologie der Person zu begründen, indem er eine Person definierte als incommunicabilis existentia – als unmitteilbares Voneinander-und-Füreinander-Sein. Richards Persondefinition kann daher als Paradigma aller relationalen Personbegriffe angesehen werden. Der Personbegriff wird univok auf göttliche und geschaffene Personen angewandt, so dass Gott keine Ausnahme des ontologischen Denkens darstellt.

12.1.5.2 Was ist eine Person?

Um verstehen zu können, warum dieser Sachverhalt entscheidend ist, ist es zunächst einmal wichtig, zu sehen, warum eine trinitarische Grundlegung des Personbegriffs notwendig ist. Christlicher Glaube besteht durch das Erzählen der Geschichten der christlichen Botschaft, durch die Sozialisationsleistungen der Kommunikation der christlichen Gemeinschaft. All diese Sozialisationsleistungen sind jedoch nur notwendige, keine hinreichende Bedingung der Glaubenskonstitution. Wenn man nun eine weitere Bedingung für die Glaubenskonstitution finden will, die zusammen mit diesen Sozialisationsleistungen dann als hinreichend verstanden werden kann, muss dies in Übereinstimmung mit dem Inhalt dieser Glaubenskommunikation geschehen. Der Inhalt der biblischen Erzähltradition kann aber in drei Metaerzählungen, die aufeinander bezogen und miteinander verschränkt sind, beschrieben werden: Die erste Geschichte handelt von dem Gott Israels, der als Schöpfer alles Seienden an seinem Volk handelt, die zweite von Jesus Christus, der diesen Gott Israels als seinen Vater bezeichnet und beansprucht, dessen Herrschaft zu verwirklichen, und die dritte handelt vom Handeln Gottes in den Glaubenden der Kirche, denen Gott selbst durch Kreuz und Auferweckung erschlossen hat, dass dieser Anspruch Jesu Christi nicht falsch war, sondern richtig. Mit anderen Worten: Die Glau23 Vgl. Hufnagel, A., Bonaventuras Person-Verständnis.

Glaubenskonstitution

drei Metaerzählungen

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Personen

Handeln Gottes

Relate Relation

Alterität und Differenz

wechselseitige Bezogenheit

reflexive Selbsterschlossenheit

benden erfahren durch die Sozialisation mittels der Geschichten des Evangeliums, 1. dass die Konstitution ihres eigenen Seins im Ereigniszusammenhang unverlierbar geschenkt ist, und zwar auch dort, wo diese Einsicht verfehlt ist; 2. dass der Ursprung ihres Seins und des geschaffenen Ereigniszusammenhanges selbst bereit ist, die Hindernisse der Einsicht in diesen Zusammenhang auszuräumen; und schließlich, 3. dass dieser Ursprung auch der Grund ihrer eigenen vertrauenden Einsicht in diesen Zusammenhang ist, der damit auf Vollendung angelegt ist. Damit sind aber die zum Glauben Kommenden selbst in den Inhalt ihrer Glaubenskommunikation eingeschlossen, und zwar derart, dass nun das Handeln Gottes selbst als diejenige zu suchende, noch fehlende notwendige Bedingung benannt werden muss, die zusammen mit den menschlichen Kommunikationsleistungen dann hinreichend ist. Nun ist der Begriff „Gott“ zunächst ein Abstraktum, das der Konkretion durch Identifikation bedarf. Da aber Menschen nur dann Gott identifizieren können, wenn sich Gott für die Menschen identifiziert und für sich selbst, kann die Verschränkung dieser drei Metaerzählungen nicht als dem Sein Gottes äußerlich gedacht werden. Gott ist damit unhintergehbar – auch dann, wenn es seine Schöpfung nicht gäbe (etsi mundus non daretur) – Vater, Sohn und Heiliger Geist als Gemeinschaft der Liebe, wie wir oben (Kap. 5 & 7) sahen. Die Relate dieser Relation ewiger Liebe, die mit dem ewigen Leben und dem Wesen Gottes identisch ist, werden mit dem Personbegriff benannt. Diesen Relaten müssen aber, damit es sich um göttliche Relate handelt, folgende Kennzeichen zukommen: 1. Alterität und Differenz: Die Relate sind real unterschieden, weil ansonsten Gott nicht Leben und Liebe sein könnte, sondern ein voluntaristisches Gottesbild die Folge wäre, in dem Gott auf irgendeine beliebige Welt angewiesen ist, diese aber in ihrer Gestalt beliebig formen könnte. Damit ginge der Gedanke der creatio ex nihilo (Schöpfung ohne welthafte Voraussetzungen) wie auch der Gedanke der iustificatio sola gratia (Rechtfertigung allein aus Gnade) vollständig verloren. 2. Wechselseitige Bezogenheit: Die Relate müssen wechselseitig konstituiert oder gleichursprünglich gedacht werden, um die Frage nach ihrer Konstitution nicht erneut stellen zu müssen und um dem Gottesbegriff Rechnung zu tragen. Damit aber ist deutlich, dass in dieser wechselseitigen Bezogenheit auch die Besonderheit der Relate und deren Sein selbst konstituiert sein muss. 3. Reflexive Selbsterschlossenheit: Die Relate müssen so gedacht werden, dass in ihrer wechselseitigen Konstitution auch ihre wech-

Personbegriffe

selseitige, reflexive Selbsterschlossenheit mitbegründet wird, da andernfalls dieses relationale Leben Gottes nicht als Liebe gedacht werden kann, wie es der Erschließung Gottes für uns entspricht.24 4. Charakter des Lebens Gottes als Liebesbeziehung: Aus dem Gesagten geht hervor, – dass es sich bei diesem ewigen Leben Gottes nicht um eine manipulative Relation handeln kann, weil dann im Leben Gottes etwas vorhanden wäre, was nicht Gott selbst wäre (der Gegenstand der Manipulation), und – dass es sich bei diesem ewigen Leben Gottes nicht um merkantile Handelsrelationen handeln kann, weil dann die Relate unabhängig voneinander individualistisch konstituiert wären, so dass es sich nicht um Gott handeln würde, weil dann die Konstitutionsfrage erneut gestellt werden könnte.

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Liebesbeziehung

Fazit 76 In der Glaubenskommunikation und -konstitution erschließt und identifiziert sich Gott mittels dreier Metaerzählungen so, wie er in Ewigkeit in seinem Wesen ist: als dreieinige Gemeinschaft der Relate Vater, Sohn und Geist. Den Relaten kommt dabei Alterität und Differenz, wechselseitige Bezogenheit und reflexive Selbsterschlossenheit zu. Ferner erweist sich die Gemeinschaft dieser Relate als Liebesbeziehung.

Die Relate dieser ewigen Liebesbeziehung werden aber zu Recht mit dem Ausdruck „Person“ benannt. Richards Definition der Person als Richards „besonderes Voneinander-und-Füreinander-Sein“ (incommunicabi- Definition der Person lis existentia) drückt genau dies aus:25 Eine ex-sistentia besteht aus den Elementen der Sistenz persona est incommunicabilis exsistentia oder des Relats und des Ex, d.h. des Bezogenseins: Beide Elemente – Relat und RelatiAspekt on – werden hier in einem Aspekt des kommunikativer Relats Begriff zusammengedacht. Relationalität Dabei ist der Begriff der exsistenz kein zusammengesetzter, sondern ein ontisch Eine Person ist ein besonderes Voneinander-und-Füreinander-Seiendes primitiver Begriff. Beide Elemente – das der Beziehung Abb. 30: Personbegriff und das des Relats – lassen sich nur begrifflich unterscheiden. Richard deutet dabei verschiedentlich an, dass er unter der Relation nicht nur das Voneinandersein 24 Vgl. Mühling, M., Bewußtsein und Glaube des trinitarischen Gottes, und jetzt auch Herms, E., Personbegriff. 25 Zu Richards Personverständnis vgl. Mühling, M., Gott ist Liebe, 162–167.

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Relat der perfekten Liebe

Handeln Gottes

Personen

der Personen, also deren Konstitution, versteht, sondern auch das Füreinandersein, also deren Ziel.26 Daher ist Existenz hier nicht mit „Dasein“ oder „Herausstehen“ zu übersetzen, sondern mit „Voneinander-und-Füreinander-Sein“. Der erläuternde Bestandteil incommunicabilis deutet an, dass innerhalb dieser Beziehung die Besonderheit der Personen als etwas nicht real Vermittelbares entsteht. Das notwendige Kennzeichen der Alterität und Differenz (1) wie auch das der konstitutiven wechselseitigen Beziehung (2) sind damit in Richards Personbegriff eingeschlossen. Nicht genannt ist das dritte für Gottes Sein konstitutive Element, das reflexive Erschlossensein (3). Es ist daher zu ergänzen. Eine Person, und das heißt zu allererst eine göttliche Person, ist daher ein besonderes, selbsterschlossenes Voneinander-und-Füreinander-Sein. Anders ausgedrückt: Eine Person ist das Relat der perfekten Liebe, und die perfekte Liebe ist nichts anderes als die Beziehung zwischen Personen im vollen Sinne. Ist aber Gottes Sein als Personen in Beziehung der Liebe derart zu verstehen, dann sind in diesem Begriff logisch eingeschlossen: 1. die selbstreflexive und wechselseitige Treue, das Vertrauen (fiducia) und die Wahrhaftigkeit dieser Personen (s. Kap. 7), 2. der Handlungsbegriff als vom Liebesbegriff abgeleitet: Gott liebt nicht, weil er handeln kann, sondern weil Gott Liebe ist, ist er auch Handeln. Dieses Handeln ist zweckgerichtetes Handeln, aber es ist auf keinen Zweck, der von Gott unterschieden wäre, gerichtet. Daher hat dieses Handeln in aristotelischer Terminologie den Charakter einer praxis. Weil Gott Liebe ist, ist Gott praxis. Weil Gott praxis ist, ist er auch ethos. Und weil Gott ethos ist, kann und muss auch von einer Ethik Gottes gesprochen werden. Dies ist sogar der einzige Begriff von Ethik, der dem Anspruch, dass es sich um wahrhaft gutes Handeln und nicht nur um vorzuziehendes Handeln handelt, genügen kann. Auch für das Handeln Gottes lassen sich die verschiedenen Perspektiven des Handlungsbegriffs begrifflich erfassen: Das Leben Gottes ist selbst ein Geschehen seiner Natur, die aber im Unterschied zu den präpersonalen, natürlichen Bedingungen der geschaffenen Personen nicht in der natürlichen Welt bestehen und daher vorgegeben sind, sondern sie beruhen gleichursprünglich in Gottes Sein als Liebe selbst. In der Selbsterschlossenheit der göttlichen Personen sind diese Bedingungen auch thematisch, d.h. es handelt sich dabei im übertragenen Sinne auch um Gewissheiten der göttlichen Personen. In Übereinstimmung mit geschaffenem Handeln sind diese Gewissheiten auch für die göttlichen Personen handlungsleitend. Eine Differenz besteht allerdings darin, dass diese Gewissheiten nicht irrtumsfähig sind. Eine weitere Differenz besteht darin, dass nicht zwischen empirischen Gewissheiten und 26 Vgl. Richard von St.Victor, De Trinitate, Buch 5,9 (326).

Personbegriffe weltanschaulichen Gewissheiten unterschieden werden muss, weil Gott empirisch nichts erfährt, für das er selbst nicht Ursprung und Schöpfer wäre. Ebenso kann von Regeln und Normen bei Gott gesprochen werden, denn sein gemeinschaftliches Sein als Liebe ist seine Regel oder Norm, wie schon Bonaventura (1221–1274) diagnostizieren konnte.27 Nur wenn man unter Norm mit Kant etwas verstünde, das im Handeln so zu realisieren sei, dass Sollen und Wollen auseinanderfielen, wäre der Normbegriff auf Gott nicht anwendbar. Wir hatten aber in der Thematisierung des vollendeten Reiches Gottes gesehen, dass dieses gerade nicht darin besteht, dass Sollen und Wollen verschwänden, sondern dass diese vielmehr zusammenfallen. Das vollendete Reich Gottes ist nichts als das innere Leben Gottes selbst. Ist daher das Reich Gottes oben als vollständige Koinzidenz von Modallogik und deontischer Logik verstanden, so muss auch das gemeinschaftliche Sein Gottes so verstanden werden. Es ist sogar notwendig, primär hier an die Gemeinschaft der göttlichen Relate oder Personen zu denken, weil andererseits das Reich Gottes nicht inhaltlich bestimmt wäre. Gottes Handeln ist auch vom Ziel- oder Zweckbegriff bestimmt. Freilich sind dies unter keinen Umständen die subjektiven Präferenzen des Utilitarismus, sondern es handelt sich um das telos des Selbstzwecks göttlichen Handelns. Da Liebe aus der Sicht einer handelnden Person immer Hingabe bedeutet und Hingabe Selbstmediation des Hingebenden an die geliebte Person einschließt, ist auch der Mittelbegriff auf Gott anzuwenden. Freilich gibt es im Leben Gottes keine Mittel, die nicht auch zugleich immer Zweck wären. Kann Gott auch in seinem inneren Leben, nicht nur in seinem Verhältnis zur Welt, als mit Erwartungen und Hoffnungen ausgestattet gedacht werden? Wenn nun das Leben Gottes selbst einen nicht zeitlichen und nicht räumlichen Ereigniszusammenhang des Lebens und Liebens Gottes konstituiert, in dem die Personen als wechselseitige Liebe durch Vertrauen (fiducia) konstituiert werden, spricht auch nichts dagegen, dass es wechselseitige Hoffnung und damit Erwartungen gibt. Denn die personale Erschlossenheit der einzelnen Personen kann nicht identisch gedacht werden, da andernfalls die Personen untereinander identisch wären. Eine Differenz und Alterität auch der göttlichen Personen schließt daher den Erwartungsbegriff ein, ohne dass der Zeitbegriff eingeschlossen wäre. Da Gott Selbstzweck ist, kann auch der Begriff des Handlungsergebnisses auf Gott angewandt werden. Es ist freilich im Unterschied zur geschaffenen Welt nicht unterschieden von Gottes Zielen. Damit ist gezeigt, dass alle Relate des Handlungsbegriffs, die wir aus phänomenaler Beobachtung geschöpflichen Handelns eingangs dieses Buches aufgeführt hatten, nicht nur auch vom Handeln Gottes auszusagen sind, sondern hier ihre eigentliche und definitorische Bedeutung finden. Menschliches Handeln ist also in Differenz theomorph. Schließlich ist auch das Leben Gottes ein Ereigniszusammenhang, wenn auch ein nicht weltlicher und damit ein nicht räumlicher und nicht zeitlicher. Raum und Zeit sind keine Bedingungen des Ereignisbegriffs, wie auch der Ereignisbegriff keine Voraussetzung des Handlungsbegriffs ist und dieser keine Voraussetzung des Liebesbegriffs ist. Vielmehr verhält es sich umgekehrt: Der Liebesbegriff ist die Vorausset27 Vgl. Bonaventura, Opera Omnia, Bd. 1, 602b.

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Personen zung des Handlungsbegriffs, dieser die Voraussetzung des Ereignisbegriffs und dieser die Voraussetzung für Zeit- und Raumbegriffe. Zeit- und Raumbegriffe sind der Schöpfung vorbehalten, aber die ihnen eigene individuierende Struktur haben sie nicht aus sich selbst heraus, sondern als Ableitung dieses Lebens Gottes.

Fazit 77 Die göttlichen Relate werden zu Recht als Personen bezeichnet in Übereinstimmung mit Richards Persondefinition als incommunicabilis existentia – als besonderes Voneinander-und-Füreinander-Sein. Im Begriff der ex-sistenz verbinden sich der Relataspekt und der Beziehungsaspekt in einem grundlegenden Begriff. Die Besonderheit oder Identität der Personen entsteht und besteht in ihrer Bezogenheit. Da auch die Selbsterschlossenheit als Kennzeichen göttlicher Personalität erkannt wurde, lautet eine vollständigere Definition einer Person: Eine Person ist ein besonderes, selbsterschlossenes Voneinander-und-Füreinander-Sein. Eine Person ist das Relat der Liebe, Liebe ist die Relation zwischen Personen. Dies impliziert: Treue, Vertrauen und Wahrhaftigkeit der göttlichen Personen, die Aussage „Gott ist Handeln“, eben weil Gott Liebe ist, und damit auch die folgenden Aussagen: „Gott ist praxis“ und „Gott ist ethos“. Daher kann ferner von einer Ethik Gottes gesprochen werden, deren Gegenstand als Einziger wahrhaft gutes und nicht nur vorzügliches Handeln ist. Der Handlungsbegriff kann mit allen seinen Elementen entsprechend auf Gott angewandt werden, weil der Begriff geschöpflichen Handelns selbst theomorph und vom Begriff göttlichen Handelns abgeleitet ist.

12.1.5.3 Geschaffenes Personsein

Selbsterschließung Gottes für uns

In der Selbsterschließung Gottes ist aber nicht nur seine Selbsterschließung für sich eingeschlossen, sondern auch die Selbsterschließung Gottes für uns, die zugleich die Erschließung unseres Ursprungs, unseres Seins und unseres Ziels (unserer Bestimmung) ist. Indem der Mensch sich selbst als Sein aus göttlicher Liebe, in geschaffener Liebe und zur vollendeten geschaffenen Liebe erkennt und diese Liebe als Regel des Seins versteht, versteht er sich auch als Person in Entsprechung zum Sein Gottes. Auch der Mensch als Person ist also ein besonderes, selbsterschlossenes Voneinander-und-Füreinander-Sein, oder präziser: Er ist ein solches im Werden. Die Menschheit als Ganze bildet damit gewissermaßen als imago dei (Bild Gottes) einen Beziehungsorganismus von Personen, was in besonders anschaulicher Weise von John Donne (1572–1631) zum Ausdruck gebracht wurde: “No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main. If a clod be washed away by the sea, Europe is the less, as well as if a promontory were, as well as if a manor of thy friend’s or of thine

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Personbegriffe own were. Any man’s death diminishes me because I am involved in mankind; and therefore never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee.”28

Für die geschaffene Person ist dieser Personbegriff aber qualifikationsbedürftig: Geschaffene Personen stehen in notwendigen reziproken Beziehungen zu anderen geschaffenen Personen und zur präpersonalen Umwelt als Medium ihres kommunikativen Voneinander-und-Füreinander-Seins. Dieses welthafte Beziehungsgefüge ist aber noch einmal umschlossen von der konstitutiven, zurechtbringenden und vollendenden Beziehung Gottes zur geschaffenen Person. Für geschaffene Personen ist also ein zweifaches Beziehungsgefüge notwendig: das Beziehungsgefüge zu Gott und das zu welthaften Ex-sistenzen, das wiederum in das Beziehungsgefüge zu anderen Personen und zu Präpersonen (d.h. des Eingebettetseins im natürlichen Geschehenszusammenhang) unterschieden werden muss. Darüber hinaus ist die Selbsterschlossenheit der Person eine reflexive Relation zu sich selbst. Sie liegt vor in verschiedenen, intensional unterscheidbaren Aspekten, die eine präpersonale, d.h. biologische Basis haben: Die geschaffene Person erlebt sich in ihrer Selbsterschlossenheit als wollend, als mit Gefühlen ausgestattet und als vernünftig, so dass Wille, Affektivität und Vernunft in ihrer Selbsterschlossenheit notwendig eingeschlossen sind. Wille, Affektivität und Vernunft sind zu unterscheidende, sekundäre Abstraktionen der primären internen Verfassung der Person. Sie sind nicht verschiedene substanzhafte Bereiche, die erst in ihrer Verbindung die Person ergäben. Dies wird vor allem im Falle der Affekte deutlich: Sie sind eindeutig intentional, haben einen kognitiven Aspekt, drücken also bestimmte Überzeugungen (beliefs) aus, können aber nicht auf diese reduziert werden. Ebenso schließen sie einen leiblichen Aspekt ein. Wesentlich sind sie „auf etwas gerichtete Gefühle“ (feelings towards), sind selbst in Narrationen eingebunden und haben selbst unterschiedlichen narrativen Charakter. Als solche sind sie nur im Handlungszusammenhang mit anderen Interagierenden einer Gemeinschaft denkbar. Sie können als Charakterzug, d.h. als Tugend oder Laster, erscheinen; sie können auch nur einen episodischen Charakter in der Narration einer Person besitzen oder als Emotion erscheinen. Der leibliche Aspekt kann – im episodischen Falle – u.U. von der gegenwärtigen Gehirnforschung mit ihrer Nutzung der neuen bildgebenden Verfahren erkannt werden, aber keinesfalls auf diese Phänomene reduziert werden. Sie drücken auch einen voluntativen Aspekt aus, indem sie mit Anliegen (concerns) verbunden sind, so dass sie ethisch für die Lebensführung wirksam werden.29 28 Donne, J., Devotions upon Emergent Occasions, Med. 17, 87. Zum Hintergrund vgl. Schwöbel, C., No Man is an Island. 29 Zu einer Besprechung, Analyse und theologischen Darstellung dieser u.a. von Martha Nussbaum, Peter Goldie und Robert C. Roberts für die Ethik fruchtbar gemachten Aspekte vgl. die glänzende Untersuchung bei Ammann, C., Emotionen – Seismographen, bes. 58f., 68f., 73f., 82–84, 100, 193f.

Beziehungsgefüge

Wille, Affektivität und Vernunft

Affekte

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Personen Im Falle ihrer Wertung als Charakterzug, als Tugend oder Laster wird deutlich, dass sie in eine umfassende moralische Ontologie eingebunden sind. Ihre Bedeutung für die Ethik ist kaum zu unterschätzen. Wenn hier im Folgenden die klassische Distinktion von Affekt, Wille und Vernunft genutzt wird, sind diese Ausdrücke als ein heuristisch-didaktischer Aspekt zu verstehen und stellen keine Grundbestandteile einer Ontologie der Person dar.

Fazit 78 Als aus Liebe, in Liebe und zur Liebe geschaffenes Sein der imago dei (Bild Gottes) ist auch die geschaffene Person ein selbsterschlossenes, besonderes Voneinander-und-Füreinander-Sein, aber im Prozedieren oder Werden. Als solches existiert die geschaffene Person in einem doppelten, in sich noch mehrfach strukturierten Beziehungsgefüge: Innerhalb des welthaften Beziehungsgefüges der Person sind die Bezogenheit der geschaffenen Personen untereinander, die Bezogenheit der geschaffenen Person auf die präpersonale Umwelt und die Selbstbeziehung der Person zu unterscheiden. Dieses für geschaffenes personales Sein mitkonstitutive, welthafte Beziehungsgefüge ist noch einmal umfangen von der konstitutiven Bezogenheit zum dreieinigen Gott. Innerhalb der Selbstbeziehung lassen sich mehrere weitere Aspekte unterscheiden, aber nicht scheiden, die mit Wille, Vernunft und Affektivität benannt werden können. Einen besonderen Stellenwert erhalten hierbei die in die Narrationen der Person eingebundenen Affekte oder Gefühle, die immer schon einen kognitiven und voluntativen Aspekt einschließen. Sie lassen sich unterscheiden in Emotionen, episodische Affekte in der Narration einer Person und in Charakterzüge (Tugenden und Laster).

Sünde

Abhängigkeit des Willens

Nicht notwendig eingeschlossen in die Selbsterschlossenheit der Person sind ihre Konstitutions- und Bestimmungsbedingungen der dreifachen externen Relationalität. D.h.: Eine geschaffene Person kann in ihrem willentlichen Aspekt im Handeln so ausgerichtet sein, dass sie nicht aufgrund ihrer externen Konstitutionsbedingungen handelt, sondern diese gerade verkennt. Dies aber bezeichnet der Begriff der Sünde. Durch diese Verkennung hat die Person aber keine Möglichkeit, sich von sich aus zurechtzubringen, d.h. sich eine korrekte Selbsterschlossenheit zu erwerben. Denn wenn es richtig ist, dass menschliche Personen passiv und extern konstituiert sind, und wenn es richtig ist, dass eine Verkennung dieses Sachverhalts vorliegt, dann kann die Person sich nicht von selbst korrekt ausrichten, es sei denn zufällig. In der internen Bezogenheit der Selbsterschlossenheit drückt sich dieser Sachverhalt derart aus, dass der Wille einer Person zwar ihr Handeln steuern kann, so dass eine geschaffene Person tun kann, was sie will, aber nicht wollen kann, was sie will: Die externe Abhängigkeit der Person auf der Konstitutionsebene der Personalität spiegelt sich nämlich intern in der Abhängigkeit des Willens von der Einsicht (Vernunft) und den Affekten. Nun ist aber eine geschaffene

253

Personbegriffe

Person extern zur relativen Selbstbestimmung durch die Folgen ihres Handelns konstituiert. Geschieht Handeln unter Verkennung der faktischen Konstitutionsbedingungen der Person, und ist die Person selbst stets Teil der Folgen ihres Handelns, verfestigt sich auch die spezifische Ausrichtung ihrer Willensbindung durch Affekte und Einsicht: Es kommt zu Haltungen für weiteres Handeln, die dann von den anderen Handelnden als Tugenden oder Laster gewertet werden. Denn Tugenden oder Laster schreibt man sich in der Regel nicht in der Sprache der Selbstaussage der Form „ich bin tugendhaft“ zu; eine solche Sprachform wäre geradezu ein Hinweis auf das Gegenteil. In dem Maße, in dem nun aber die anderen für die Person konstitutiven Personen in ihrer Selbsterschlossenheit ebenfalls dem Trugschluss der Sünde unterliegen, kommt es auch in den Wertungen der Haltungen der handelnden Person zu Fehlurteilen: Welche Haltungen als Tugenden und welche als Laster bewertbar sind, ist unter der Sünde nicht mehr einsehbar.

Haltungen

Fazit 79 Nicht zur Selbsterschlossenheit einer Person gehört die korrekte Einsicht in die Konstitution ihres Beziehungsgefüges. Ist diese Einsicht inkorrekt, liegt Sünde vor. Aufgrund der passiven Konstitution der Person kann die Person selbst eine falsche Selbsterschlossenheit nicht willentlich korrigieren, da es eine Abhängigkeit des Willens von den Affekten und der Einsicht gibt. Der sich in Handlungen äußernde, abhängige Wille verfestigt sich in Haltungen, die in der Fremdbeschreibung wertend als Tugenden oder Laster beschrieben werden. Die Korrektheit der Tugend-Laster-Distinktion ist von der Korrektheit der Selbsterschlossenheit der beschreibenden Person abhängig.

Eine falsche Selbsterschlossenheit einer geschaffenen Person kann nur durch die doppelte Hingabe in der Versöhnung überwunden werden. Durch Inkarnation, Leben, Sterben und Auferstehen gibt sich aber der Sohn selbst den wahren Zielen der geschaffenen Personen hin – in Übereinstimmung mit der Regel der Liebe zu leben. Ebenso gibt sich der Heilige Geist den geschaffenen Personen hin, indem er ihnen die Wahrheit der Geschichte des Lebens Christi für ihr eigenes Leben erschließt, d.h., indem er ihre falsche Selbsterschlossenheit, die man auch als Selbstverschlossenheit bezeichnen könnte, in eine korrekte Selbsterschlossenheit in Übereinstimmung mit ihren relationalen Konstitutionsbedingungen überführt. Zu dieser Selbsterschlossenheit seiner selbst als gerechtfertigter Sünder im Vertrauen gehört nun zwar nicht Selbstliebe, aber Selbstannahme. Sie geschieht implizit, indem der Mensch sich trotz seines Verstoßes nicht als Sünder ablehnt, sich nicht als vom Handeln Gottes in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung abhängig ablehnt, sich nicht als in der Gemeinschaft

doppelte Hingabe

Selbstannahme

254

Personen stiftenden Liebesbeziehung mit Gott gewürdigt ablehnt und sich nicht als von seinem faktischen Selbst unterschieden ablehnt.30 Diese Selbstannahme ist aber nur möglich, wenn eine explizite Selbstannahme erfolgt, die deutlich von der vertrauenden Annahme der Rechtfertigung durch Gottes Handeln unterschieden ist: Die Person muss sich selbst als diese Liebesbeziehung störend, d.h. als Sünder verstehen, aber so, dass diese Störung nicht ihr Wesen ausmacht. Dies ist möglich, wenn sie sich als von Gott abhängig und der Gemeinschaft mit Gott gewürdigt annehmen kann. Das setzt voraus, dass sie ihr Personsein als von Gott in der promissio der eschatischen Vollendung konstituiert erkennt und sich so im Mitsprechen mit Gottes Urteil als von ihrem faktischen Selbst im hic et nunc unterschieden versteht. Dieses faktische Selbst im hic et nunc steht aber innerhalb eines Beziehungsgefüges, das ebenfalls anzuerkennen ist.31 Als Effekt für das ethische Verhältnis im Hier und Jetzt ergibt sich eine differenzierte Selbstannahme, in der der Mensch sich als der erweist, der er sein wird. Dazu muss er sich in seinem faktischen Selbst wahrnehmen und annehmen, um sich dann unterscheiden zu können. Dies aber ist immer nur innerhalb der Gemeinschaft mit Gott und bei korrektem Liebesverhältnis möglich und daher nicht in krampfhafter Autosuggestion, sondern in der realen Kommunikation zu Gott im Gebet zu verwirklichen.32 Dieser Prozess der korrekten Selbsterschlossenheit ist also nicht einfach vom Menschen selbst herzustellen, sondern er ist auch hier auf Gott angewiesen. Allerdings würde nun Gott selbst gegen das Liebesverhältnis handeln, würde dieser Selbstannahmeprozess manipulativ durch Gott bewirkt werden und so wäre gerade die menschliche Freiheit umgangen.

Heiliger Geist

Das inspirierende und zur Selbsterschlossenheit führende Handeln des Geistes kann wiederum nur in Übereinstimmung mit der Liebe als Regel personalen Seins selbst geschehen, d.h. ohne manipulativen Zwang, sondern seinerseits in Liebe im Modell der Freundschaft: Der Heilige Geist gibt sich den Menschen nicht hin, indem er sich wie der Sohn inkarniert und damit dem Menschen z.T. verfügbar wäre. Er wandelt die Affekte und steuert so die Willensausrichtung des Menschen, aber nicht im Sinne eines Psychopharmakons. Das Wirken des Heiligen Geistes ist vielmehr als eine Konkarnation33 zu bestimmen: als ein Mitsein in unserer leibhaften Gegenwart von- und füreinander, dergestalt, dass er uns die Gegenwart Christi präsentiert, ohne dabei verfügbar zu sein. Am anschaulichsten und zugleich fundiertesten hat der schottische Theologe Thomas Erskine of Linlathen (1788–1870) dieses Handeln des Geistes ausgedrückt: “A firm-minded man, unused to the melting mode, may on a particular occasion be moved and excited by a tale far beyond his common state of 30 31 32 33

Vgl. Tietz, C., Freiheit zu sich selbst, 156–159. Vgl. Tietz, C., Freiheit zu sich selbst, 160–170. Vgl. Tietz, C., Freiheit zu sich selbst, 170–179. Vgl. Herms, E., Luthers Auslegung des Dritten Artikels, 77–83.

255

Personbegriffe feeling: His friends may wonder at an agitation so unusual; they may ask how this story has affected him more than other stories of a similar nature; but he will not be able to give any other reason […]. But these circumstances did not make the impression; they only made him more fit to receive the impression from an object which was naturally calculated to make it. […] just as the impression upon wax is entirely made by the seal, although heat may be required to fit it for receiving the impression.”34 “I have used this illustration to show that the influence of the Spirit does not necessarily destroy, and is not necessarily independent of, that natural relation of cause and effect […]”35 “This divine agent does not excite feelings or emotions in the mind, independent of reason or an intelligible cause: The whole matter of the Bible is addressed to the reason, and its doctrines are intelligible causes of certain moral effects on the characters of those who believe them. The Spirit of God brings these causes to act upon the mind with their natural innate power.”36

Infolge dieser Gegenwart des Geistes kommt es zu einer korrekten Ausrichtung der Selbsterschlossenheit einer Person, die auch als Konversion bezeichnet werden kann, weil der Mensch nun in seinem Handeln gemäß seinen wahrhaften Konstitutionsbedingungen handelt. Der Glaube als Vertrauen bringt so tatsächlich das korrekte Handeln mit sich. Allerdings sind hinsichtlich des Begriffs der Konversion hier zwei Einschränkungen zu machen: 1. Urheber der Konversion ist nicht zuerst das willentliche Handeln der geschaffenen Person, sondern die doppelte Hingabe Christi und des Geistes: Die geschaffene Person wird konvertiert durch Einsicht und korrekte Ausrichtung der Affekte auf diese Einsicht, indem diese Einsicht nun eine lustvolle, freudenbringende Einsicht ist. Infolgedessen ist nun auch der Mensch zur voluntativen Zustimmung (assensus) zu dieser korrekten Ausrichtung in der Lage. 2. Die Konversion ist kein einmaliger Vorgang. Denn die Selbsterschlossenheit hängt vom relationalen und situativen Eingebettetsein in Handlungssituationen mit anderen Handelnden ab. Sünde ist nicht nur eine Angelegenheit falscher Erschlossenheit oder Verschlossenheit aus der Perspektive einer partikularen Person, sondern auch eine Sache der gestörten Gemeinschaft. Als solche äußert sie sich auch in falschen, nämlich individualistischen und kontraktualistischen Auffassungen der Gemeinschaft. In der Situation des Lebens im hic et nunc ist die geschaffene Person daher immer simul iustus et peccator, immer zugleich Gerechtfertigter und Geheiligter, wie auch die Gemeinschaft der Heiligen immer zugleich simul iusta 34 Erskine of Linlathen, T., Evidence, 154. 35 Erskine of Linlathen, T., Evidence, 154f. 36 Erskine of Linlathen, T., Evidence, 153.

Konversion

assensus

simul iusta et peccatrix

256

Personen

Vollendung

Definition der geschaffenen Person

et peccatrix ist. Das Handeln gemäß den gleichursprünglichen Konstitutionsbedingungen von Person und Gemeinschaft ist für beide nur im Vertrauen auf die Verheißung möglich, d.h. im Vertrauen auf das Versprechen Gottes, dass die geschaffene Person aus dem Widerstreit wechselnder Selbsterschlossenheiten befreit wird zu einer eindeutigen Selbsterschlossenheit. Damit lebt sie gleichursprünglich im Vertrauen auf das Versprechen, dass die Gemeinschaft als gestörte Gemeinschaft befreit werden wird zur eindeutigen Gemeinschaft des vollendeten Reiches Gottes. Das Vertrauen auf diese eschatische Komponente ist daher ein Vertrauen darauf, dass die geschaffene Person nicht nur unzweideutig in ihrer Selbsterschlossenheit zu dem wird, was sie ist – ein partikulares, selbsterschlossenes Voneinanderund-Füreinander-Sein –, sondern auch ein Vertrauen darauf, dass sie selbst und ihre geschaffenen Mitpersonen diese Vollendung nicht herstellen können und nicht herstellen müssen, weil sie Sache der eschatischen Vollendung des in Treue welthandelnden Gottes ist. Zwar ist man schon im hic et nunc in der narrativen Kommunikationspraxis in die Lebens- und Liebesgeschichte des dreieinigen Gottes einbezogen37 – jedoch noch mittelbar bis zur unmittelbaren Theosis aus Gnade im vollendeten Reich Gottes, die nicht die Aufhebung der Personalität des Menschen bedeutet, sondern deren Vollendung.38 Insofern ist der Begriff der Person wie auch der der Gemeinschaft und der Liebe ein eschatischer Begriff. Denn eine geschaffene Person ist der Mensch in diesem Sinne nur im Voneinander-und-Füreinander-Sein zu anderen und ebenso auch immer nur im Werden. Erst die eschatische Vollendung durch das Gericht hindurch bedeutet die wirklich vollständige Konstitution der Person.39 Der Begriff der geschaffenen Person ist daher noch einmal zu präzisieren. Die Definition der geschaffenen Person lautet: Sie ist ein durch das eschatische Gericht konstituiertes, im gegenwärtigen Vertrauen oder Misstrauen auf die promissio selbsterschlossenes, partikulares Voneinander-undFüreinander-Sein. In poetischer Form lässt sich diese christliche Einsicht auch (contra intentionem des Autors) mit Ernst Blochs (1885– 1977) Wahlspruch ausdrücken: „Ich bin, aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“40 Als eschatischer Begriff hat der Begriff der geschaffenen Person aber Konsequenzen für das Leben im hic et nunc und damit für das, was Ethik genannt wird.

37 38 39 40

Vgl. Drechsel, W., Lebensgeschichte, 365. Vgl. Mühling, M., Eschatologie, 259–262. Vgl. Mühling, M., Eschatologie, 193. 284–286. Bloch, E., Tübinger Einleitung in die Philosophie I, 11.

257

Personbegriffe

Fazit 80 Die falsche, d.h. sündhafte Selbsterschlossenheit wird durch die doppelte Hingabe – des Sohnes in Inkarnation, Leben, Kreuz und Auferstehung sowie durch das mitseiende und mitwirkende Handeln des Heiligen Geistes (Konkarnation) – im Werden zurechtgebracht oder versöhnt. Diese Versöhnung schließt Selbstannahme ein und kann als Konversion beschrieben werden. Diese ist ein passiver und durch die Lebensgeschichte von geschaffenen Personen und Gemeinschaften andauernder und unabgeschlossener Vorgang, so dass die geschaffene Person simul iustus et peccator bleibt. Geschaffenes Personsein ist Personsein im Werden. Daher ist der Begriff der geschaffenen Person letztlich ein eschatischer Begriff. Die Definition der geschaffenen Person lautet vollständig präzisiert: Sie ist ein durch das eschatische Gericht konstituiertes, im gegenwärtigen Vertrauen oder Misstrauen auf die promissio selbsterschlossenes, partikulares Voneinander-und-Füreinander-Sein.

12.1.5.4 Defizitäre relationale Personbegriffe

Personbegriffe, die das kommunitäre Zusammensein geschaffener Personen untereinander auch für die einzelne Person konstitutiv halten, sind nichts der Theologie Genuines. Auch der auf Martin Buber41 (1878–1965), Ferdinand Ebner (1882–1931) u.a. zurückgehende dialogische Personalismus kennt in diesem Sinne relationale Personbegriffe, ebenso die kommunitaristische Tradition, die Tradition der auf G.H. Mead (1863–1931) zurückführbaren Sozialpsychologie, ebenso der symbolische Interaktionismus E. Goffmans (1922–1982) oder die Sichtweise der Konstitution der Person im Angesicht der radikalen Alterität des geschaffenen Anderen im französischen Postmodernismus, wie es etwa bei E. Lévinas42 (1906–1995) anschaulich wird. Hinzu kommen zahlreiche empirische Befunde, die auf diese Weise die unhintergehbare Relationalität geschaffenen Personseins ausdrücken. Dabei zeigt sich, dass Relationalität allein noch kein ethisches Vorzüglichkeitskriterium darstellt. Die Beispiele ließen sich – im Begrüßenswerten wie im Abzulehnenden – beliebig vermehren. Man wird sogar so weit gehen können zu diagnostizieren, dass wesentliche Relationalität einen Konsens der 41 Zur Bedeutung Bubers für die evangelische Theologie des 20. Jh. vgl. Leiner, M., Gottes Gegenwart. 42 Bei Lévinas tritt ferner noch das Problem auf, dass seine Philosophie der Alterität immer schon ein vorher konstituiertes Subjekt oder Seiendes voraussetzt, so dass es sich um eine individualistische Philosophie, nicht um eine relationale handelt. Zwar ist Sein immer Interessiert-Sein im Kampf der Egoismen (vgl. Lévinas, E., Jenseits des Seins, 26f.) und Alterität immer synchron zum Sein (vgl. Lévinas, E., Jenseits des Seins, 176), aber gerade damit gehört Alterität zwar wesentlich zum Sein, nicht aber zu dessen Konstitution.

Konsens

258

Personen

Unterschiede

anthropologischen Bemühungen seit dem 20. Jh. darstellt und keineswegs die Ausnahme.43 Vertreter dieser Personbegriffe stellen fruchtbare Dialogpartner für die Theologie dar. Bezüglich solcher Positionen sind aber einige grundsätzliche Unterschiede zu beachten. Der wichtigste besteht darin, dass der hier beschriebene Personbegriff des geschaffenen Personseins unhintergehbar durch die Relation des dreieinigen Gottes zum Menschen konstituiert ist. Damit ist die wechselseitige notwendige Bezogenheit geschaffener Personen untereinander und deren Bezogenheit auf den präpersonalen Bereich als Ausdruck der Kokreativität Gottes mit seinen Geschöpfen ausdrücklich positiv gewürdigt. Allerdings ist das rein geschöpfliche Beziehungsgefüge allein niemals Grund des geschaffenen Personseins. Entsprechend ist das Personsein auch nicht verlierbar. Der Mensch ist als geschaffene Person nur eine solche, weil er imago dei, daher auch imago trinitatis und somit ebenso imago personalitatis und imago dilectionis ist. Allein an dieser Dimension hängt dann auch der ethische Wert der geschaffenen Person: Sie ist Selbstzweck, durchaus inhaltlich im Sinne Kants, dass eine Person nie ausschließlich als Mittel, sondern immer auch als Zweck zu behandeln ist. Der Grund dieser Selbstzwecklichkeit ist aber keine durch Vernunft zu begründende Einsicht. Ebenso kommt dem Menschen eine unverlierbare Würde zu. Aber auch diese Würde ist nicht universal durch Vernunft begründbar, sondern strikt an das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens gebunden.

Fazit 81 Relationale Personbegriffe erscheinen nicht als die Ausnahme, sondern als die Regel gegenwärtiger, auch nicht theologischer Anthropologien. Entscheidend ist nicht, dass es sich um relationale Personbegriffe handelt, sondern in welcher Weise diese Relationalität verstanden wird. Theologischerseits ist wichtig festzuhalten, dass geschöpfliche Personalität primär durch die Gottesrelation passiv konstituiert ist und daher – einschließlich der davon abgeleiteten Personwürde – unverlierbar ist.

Fehlkonstruktionen

Bestimmung zum Personsein

Auch im theologischen Bereich kommt es mitunter zu gefährlichen Fehlkonstruktionen hinsichtlich des Personbegriffs. So sieht etwa J. Fischer menschliches Personsein durchaus relational konstituiert: Personsein ist durch das Angesicht des anderen, durch wechselseitige Kommunikation, Antwort- und Verantwortungsfähigkeit konstituiert. Dabei ist es nicht wichtig, ob die damit verbundenen Fähigkeiten faktisch ausgeübt werden, sondern nur, dass eine Bestimmung zum Personsein vorliegt. Zwar sieht Fischer als Grund dieser Bestimmung Gott, aber ob eine 43 Vgl. Schwöbel, C., Menschsein als Sein-in-Beziehung, These 1, 193f.

259

Personbegriffe solche Bestimmung vorliegt oder nicht, ist dem Menschen verfügend identifizierbar. Sie besteht im Eingebettetsein in die geschaffene Kommunikationsgemeinschaft selbst. Dies hat Folgen für konkrete ethische Probleme: Bei der In-Vitro-Fertilisation44 von Eizellen entstehen überzählige befruchtete Stammzellen, die nicht alle in den Uterus eingepflanzt werden. Die überzähligen Stammzellen würden sich nun gut für die Forschung eignen, da sie totipotent sind, d.h. entwicklungsoffen in jede Richtung. Fischer argumentiert, dass es sich dabei nicht um Personen handelt, weil sie erstens noch nicht antwortfähig in einem sozialen Beziehungsgefüge leben und weil sie zweitens als Überzählige überhaupt nicht die Bestimmung zum personalen Sein hätten. Daher sei die Forschung zuzulassen.45 Fischers Argumentation erinnert dabei rudimentär an eine jüngst vertretene präferenzutilitaristische Sicht der Person, nach der Embryonen und Neugeborene keine Personen, sondern nur potentielle Personen seien, woraus sich die ethische Schlussfolgerung ergäbe, dass Embryonen und Neugeborene hinsichtlich ihres personalen Status identisch seien. Daraus aber wurde – weit über Fischers Position hinausgehend – geschlossen, dass es in Grenzfällen ethisch zulässig, ja in bestimmten Fällen sogar geboten sei, Neugeborene zu töten (anstatt sie zur Adoption freizugeben), da potentielle Personen eben keine ethischen Subjekte seien.46 Argumentationen dieser Art sind in mehrfacher Hinsicht einer Kritik zu unterziehen: 1. Hier liegt ein Missverständnis dessen vor, was begründet als „Bestimmung“ bezeichnet werden kann. Die Bestimmung zur Vollendung des Personseins (nicht: die Bestimmung zum Personsein an sich) liegt in keiner geschaffenen Gemeinschaft noch ist sie einer solchen identifizierbar, sondern ausschließlich in der Beziehung Gottes zur Person, die selbst nicht raumzeitlich identifizierbar ist. 44 Von dem hier als Illustration angeführten Problem, wie mit überzähligen befruchteten Stammzellen zu verfahren ist, ist das Problem der IVF als ethisches Problem selbst zu unterscheiden. Vgl. dazu die differenzierte Untersuchung von Hofheinz, M., Gezeugt, nicht gemacht. Er spricht sich dafür aus, dass die IVF nicht mithilfe des Nächstenliebegebots zu rechtfertigen ist. Dennoch bedeutet ein kirchliches Beratungsangebot angesichts eines Kinderwunsches kein paternalistisches Gebot des „Neins“ für das Beratung suchende Paar, sondern vielmehr das Angebot einer beratenden Ethik. 45 Vgl. Fischer, J., Lebensverständnis, und Fischer, J., Theologische Ethik, 179–183. 46 Vgl. Giubilini, A./Minerva, F., After-Birth Abortion. Why should the Baby live? Zwischen Fischer und Guibilini/Minerva gibt es bedeutende Unterschiede: Guibilini und Minerva sehen aktuale Personalität durch Selbstwertzuschreibung konstituiert, eine Transzendenzrelation fehlt. Demgegenüber sieht Fischer Personalität letztlich durch die Gottesbeziehung konstituiert, die sich aber im kommunikativen Handeln der Gemeinschaft realisiert, bzw. identifizieren lässt. Daher sind für Guibilini/Minerva weder Embryonen noch Neugeborene aktuale Personen. Für Fischer sind Neugeborene hingegen Personen mit Menschenwürde, Embryonen nach der Nidation sind potentielle Personen mit Menschenwürde und Embryonen vor der Nidation sind keine potentiellen Personen, ihnen kommt keine Menschenwürde, aber Würde des menschlichen Lebens zu. Forschung an embryonalen Stammzellen ist daher erlaubt, sofern diese nicht eigens für den Zweck der Forschung gewonnen werden.

In-VitroFertilisation

Kritik Missverständnis

260

Personen

Schleier der Unwissenheit

mögliche Handlung

2. Die Rede von „potentiellen Personen“ verkennt, dass im Lichte des christlichen Wirklichkeitsverständnisses unter nicht vollendeten, d.h. unter allen faktischen Bedingungen, jeder Mensch eine Person im Werden und somit gemessen am Vollendungszustand als eine „potentielle Person“ zu bezeichnen wäre. Daraus folgt aber nicht, dass Menschen keine ethischen Subjekte wären. 3. Jegliche Bestimmung eines Wesens A als Person, die von den anderen Personen B anerkannt oder verweigert wird, bedeutet aber gemäß der Regel der Liebe auch, dass diese Personen B durch die Anerkennung oder Verweigerung der Personalität von A auch ihr eigenes Personsein anerkennen, verweigern oder schädigen. Die Frage ist also auch von daher nicht unerheblich, ob eine befruchtete Eizelle schon eine Person darstellt oder nicht. Da aber die Gemeinschaft hier nicht konstitutiv tätig ist, sondern nur assertorisch (zustimmend oder ablehnend), verwundert es nicht, dass es Fälle gibt, in denen sie selbst zu keinem sinnvollen Urteil über die Personalität kommen kann. Ist es aber prinzipiell für Menschen im hic et nunc unentscheidbar, ob befruchtete Stammzellen im personkonstitutiven Urteil Gottes Personen sind oder nicht, liegt hier ein Schleier der Unwissenheit vor. Unter dem Schleier der Unwissenheit ist aber rational nur so zu urteilen, dass im Zweifelsfall die Würde keiner Person verletzt wird. Das ethische Problem erweist sich somit als Anwendungsbeispiel des Konflikts zwischen den Grundformen der Sünde, zwischen Funktionalisierung und Pseudopersonalisierung (s. Kap. 7). Da die Funktionalisierung von Personen ein schlimmerer Verstoß als die Pseudopersonalisierung ist, ergibt sich ein eindeutiges Wertgefälle: Am vorzüglichsten ist die Respektierung der Würde einer Person (Wert = 2), das Zuschreiben von Personalität zu Präpersonen als eine Grundform der Sünde ist negativ (Wert = –1), aber nicht so negativ wie die Verletzung der Personwürde (Wert = –2). Der Behandlung einer Präperson als Nichtperson könnte ein neutraler oder ein ethisch guter Wert zugewiesen werden (1), er wäre aber nicht so vorzüglich wie die Respektierung einer Person als Person. Wird der Embryo also nicht als Person behandelt und er wäre doch eine, wäre der Schaden auf alle Fälle größer, als wenn er als Person behandelt würde, aber tatsächlich keine wäre. Daraus folgt, dass unter dem Schleier der Unwissenheit die Behandlung des Embryos als Person zwar nicht eine wirklich gute, auf alle Fälle aber die ethisch vorzuziehende Möglichkeit ist. 3. Aus der Beachtung der möglichen Personwürde des Embryos folgt noch kein Schluss auf die mögliche Handlung, ob Forschungen vorgenommen werden sollen oder nicht. Es wäre auch denkbar, dass diese Forschungen und damit die Zerstörung des Embryos, d.h. die Tötung der Person unter bewuss-

Embryo

ist wirkliche Person

ist keine Person

wird als Person gewertet

2

–1

wird nicht als Person gewertet

–2

1

Abb. 31: Entscheidungsdiagramm zur Personalität von Embryonen

Personbegriffe ter Missachtung von dessen Würde geschehen würde, in dem Bewusstsein des Forschers oder der Eltern, dass diese Möglichkeit zwar schlecht, aber weniger schlecht als ein partikulares Experiment wäre. In diesem Einzelfall würde sich der Forscher für etwas Schlechtes entscheiden, aber nur, weil er keine guten Alternativen sieht oder diese nicht vorhanden sind. Die moralische Ontologie, vor deren Hintergrund der Forscher oder die Eltern diese Entscheidung fällen würden, könnte unterschiedlich sein; sie würde auf alle Fälle die Tugenden des Muts und der bewussten Verantwortungsübernahme sowie die Bereitschaft zur Schuldübernahme erfordern. 4. Der rechtliche Aspekt: Die rechtlichen Möglichkeiten sind so zu gestalten, dass die Situation dauerhaft als das erkennbar bleibt, was sie ist: als ethischer Konflikt. Die prinzipielle Legalisierung wie auch das prinzipielle Verbot entnehmen aber alle Beteiligten aus dieser Situation und funktionalisieren die Beteiligten. Daher ist beides zu vermeiden. Vielmehr wird eine positive rechtliche Möglichkeit auf Einzelfalllösungen drängen müssen, in denen die beteiligten Forscher, Ärzte, Eltern und Angehörige ihrer wichtigsten Gemeinschaften Gelegenheit zum ethischen Diskurs haben.

261

rechtlicher Aspekt

Fazit 82 Auch theologische Personbegriffe können in Hinsicht der Unverfügbarkeit der Personalität problematisch sein. Ein Beispiel für einen ethischen Konflikt, in dem diese Frage eine bedeutende Rolle spielt, ist das Problem der Forschung an totipotenten, überzähligen Stammzellen, wie sie durch die In-Vitro-Fertilisation gewonnen werden. In der materialethischen Diskussion der protestantischen Theologie der 2000er Jahre gab es diesbezüglich eine Kontroverse, ob befruchtete Stammzellen und Embryonen als Personen zu zählen sind und ihnen entsprechend eine Personwürde zukommt. In diesem Konflikt ist zu berücksichtigen, 1. dass Personen nicht durch die geschaffene Sozialität, sondern passiv durch Gott zum Personsein im Werden bestimmt sind; 2. dass dieses personkonstitutive Handeln Gottes dem Menschen nicht identifizierbar ist; 3. dass ein prinzipieller Schleier der Unwissenheit für Menschen vorliegt, ob diese überzähligen Stammzellen Personen sind oder nicht; 4. dass angesichts dieser Unwissenheit die rationalere Annahme diejenige ist, die davon ausgeht, dass es sich um Personen handelt. Denn auch für den Fall, dass es sich dabei um eine falsche Annahme handelt, bestünde der Fehler in der Pseudopersonalisierung von Präpersonen, was als schlecht, aber weniger schlecht als die umgekehrte Annahme mit der Implikation der Funktionalisierung wäre. Da Handeln unter geschichtlichen Bedingungen nie gutes, sondern nur vorzuziehendes Handeln sein kann, folgt mit der Annahme der Personalität von Stammzellen und Embryonen und deren Personwürde noch keine Handlungsoption. Der ethische Konflikt bleibt offen. Rechtliche Lösungen werden diese Offenheit verantwortlich gestalten müssen, indem nur Regelungen für Einzelfallentscheidungen getroffen werden. Eine prinzipielle rechtliche Zulassung oder ein Verbot würde die konkreten beteiligten Personen und Gemeinschaften funktionalisieren und damit Ethik abrogieren.

262

Personen

12.2 Vorschlag einer christlichen Tugendlehre

Liebesbeziehungen

Treue, Vertrauen und Wahrhaftigkeit Dankbarkeit für das Geschenk der Schöpfung Hingabebereitschaft

Eine Person als ein partikulares, selbsterschlossenes Voneinanderund-Füreinander-Sein ist ein Relat eines Liebesbeziehungsgefüges, wie es in Kap. 7 beschrieben wurde. Diese Liebesbeziehungen sind ihrerseits Grundlage zurechtgebrachter Gemeinschaften, wie sie idealiter in der Kirche als Gemeinschaft der Geheiligten vorliegt. Gemeinsames Projekt der Geheiligten ist das Zeugnis, das zusammen mit dem inspirierenden Wirken des Heiligen Geistes andere Menschen in die Glaubensgemeinschaft mit einbezieht. Grundlegend für die korrekte Selbsterschlossenheit der Personen ist das Vertrauen auf den dreieinigen Gott; es ist selbst aktual und daher keine Haltung. Von ihm unterschieden sind die gleichursprünglichen Haltungen von Treue, Vertrauen und Wahrhaftigkeit der Personen untereinander, die primäre Kennzeichen der Liebesrelation sind. Da es sich wesentlich um eine filiale Liebesbeziehung zum dreieinigen Gott handelt, ist hier außerdem Dankbarkeit für das Geschenk der Schöpfung der eigenen Person in Gemeinschaft und für die präpersonale Welt eingeschlossen. Diese Liebe wäre ferner nicht ohne Hingabebereitschaft (oder Opferbereitschaft)denkbar, d.h. ohne die Haltung,

1.Tugenden der primären Liebesrelation der Gemeinschaft

SSelbstverleugnung

Prinzipienreiterei

A Argwohn

T eue Tr

W Wahrhaftig k keit

V rtrauen Ve verräterisch

Gutgläubigkeit k

Selbstbehauptung

lu lustprinzipgesteuert

g g gegebenh gegebenheitsorientiert Schöpfungsdankbarkeit k

Hingabebereitschaft SSelbstaufgabe

Servilität

2. Externe Tugenden des gemeinsamen Projekts unrealist.. Optimismus un Hoffnung

Rechthaberei Rec T Toleranzbe reitschaft

Furrcht

Relativismus R

Inklusion Inkl Gastfreundschaft

Obsession Ob Nüchternheit

E klusion Exk

Abb. 32: Primäre und externe Tugenden

Naherwartung Nah W Wachsam k keit

„Alles ist wichtig“ „A

Nieerwartung N

Vorschlag einer christlichen Tugendlehre

sich selbst in den Grenzen der eigenen Verfügbarkeit für die wirklichen, der Liebesregel entsprechenden Zwecke zur Verfügung zu stellen. Diese Haltungen können als grundlegende Tugenden der primären Liebesgemeinschaft bezeichnet werden, die im Laufe der Interaktionsgeschichte der Gemeinschaft rekursiv gefestigt werden. Dies ist aber in keinem Fall eine reine Sozialisations- oder Selbstbildungsleistung der Personen, sondern geschieht immer auch im Zusammenhang mit dem konkarnatorisch-inspirierenden Handeln Gottes des Heiligen Geistes. Dieses ist im Modus freundschaftlicher Autorität zu verstehen, und zwar so, dass der Heilige Geist selbst als Person dieser Gemeinschaft aufgefasst werden muss. In Bezug auf die Zeugnistätigkeit des gemeinsamen Projekts nach außen treten Hoffnung auf die Durchsetzung des Reiches Gottes, Toleranz und Gastfreundschaft gegenüber der Nichtakzeptanz des Zeugnisses als weitere grundlegende Haltungen an den Tag. Daraus können weitere Tugenden wie Nüchternheit und Wachsamkeit (s.o. Kap. 9.2.3) abgeleitet werden. Je nach Lebenssituation und Lebensform ergeben sich daraus im Prinzip eine Reihe von weiteren Tugenden, die sich nicht von Tugenden außerhalb des christlichen Bereichs unterscheiden, wie Begeisterungsfähigkeit, Mut, Besonnenheit, Gerechtigkeit,

3. Allgemeine Tugenden

Fixierung

Übermut Ü

Begeisterungsfähigkeit k

zw wanghaft

Mut Phlegmatismus Ph

Besonnenheit Feigheit

Unrecht tun U Gerechtigkeit k

sorglos

etc. etc

gierig

etc.

Mäßigkeit k Unrecht leiden Un

etcc.

e enthaltsam

4. Korrektive Tugenden verantwortungslose Zielorientierung veran ve verantw. w. Schuldübernahmebereitschaft

Selbstrechtfe SSelb f rtigung Reuebereitschaft

Zögerlichkeit Zö k

Selbstzerknirschung SSelb

Vergebungsfo Verg V f rderung V Vergebungsdankbar k keit

Hartherzigkeit k V Vergebungsbe reitschaft

Sellbstunterw r erfung

Abb. 33: Allgemeine und korrektive Tugenden

Verzeihensautomatismus Ve

263

Hoffnung auf die Durchsetzung des Reiches Gottes Gastfreundschaft

Nüchternheit Wachsamkeit Begeisterungsfähigkeit Besonnenheit Gerechtigkeit

264

Personen Mäßigkeit

Dreiteilung der Tugendlehre

vierte Tugendreihe Bereitschaft zur verantworteten Schuldübernahme Bereitschaft zur Reue Dankesbereitschaft Vergebungsbereitschaft

Mitte

Mäßigkeit etc. Diese Tugenden sind Tugenden, die bei jedem denkbaren Ethos, unabhängig von dessen inhaltlicher Bindung an eine moralische Ontologie, erscheinen. Auf diese Weise erhält man zunächst eine Dreiteilung der Tugendlehre in Tugenden der primären Liebesrelation der Gemeinde, Tugenden des gemeinsamen Projekts der Gemeinde nach außen und allgemeine Tugenden. Diese Unterscheidung ist eine begriffliche, keine reale Unterscheidung, da aufgrund des Seins der einzelnen Person und der Gemeinschaft im hic et nunc alle nach außen gerichteten Tugenden auch nach innen gerichtet sind: Auch die Gemeinde bedarf der gegenseitigen Zeugniskommunikation zu ihrem Erhalt. Auch die Gemeinschaft ist wie die Person als zurechtgebrachte simul iusta et peccatrix. Die Gemeinschaft wie ihre Personen sind sich daher ihrer Fehlbarkeit bewusst. Daraus ergibt sich als vierte Tugendreihe eine Reihe von korrektiven Tugenden, die sich auf die drei ersten Reihen beziehen. Diese vierte Tugendreihe ist im Wesentlichen von der Bereitschaft zur verantworteten Schuldübernahme getragen, der Bereitschaft zur Reue und der Dankesbereitschaft gegenüber der immer wieder durch Gott passiv in der Gemeinde und ihren Personen aufgerichteten Handlungsbefähigung (Rechtfertigung sola gratia) wie auch von der Vergebungsbereitschaft der geschaffenen Personen untereinander. Die genannten Tugenden verstehen sich nur als Beispiele. Da Tugenden auch von Handlungssituationen und Typen von Handlungssituationen sowie von der unterschiedlichen biologischen Neigung abhängig sind, variieren sie nicht nur von Gemeinschaft zu Gemeinschaft, sondern auch von Person zu Person sowie innerhalb der Geschichte einer Person. In all diesen Tugenden verbinden sich affektive und vernünftige Aspekte zu einem ausgewogenen Verhältnis und werden so als Haltungen handlungsleitend. Die Tugendlehre hat es daher weniger mit der Begründung einer Ethik zu tun als vielmehr mit der Motivation zu ethischem Handeln, die ohne Tugenden nicht denkbar ist. All diesen letztlich unabzählbaren, aber konkreten Tugenden sind auch Laster korreliert, zu deren Erkenntnis die aristotelische Annahme, dass Tugenden die Mitte zweier Laster sind, von heuristischem Wert sein kann. So erweist sich in der primären internen Tugendreihe Vertrauen als die Mitte von Gutgläubigkeit und Argwohn, Treue als die Mitte von Selbstaufgabe und verräterischer Gesinnung, Wahrhaftigkeit als die Mitte von zwanghafter Prinzipienreiterei und der Bereitschaft, beliebig nach dem Lustprinzip zu handeln, sowie Dankbarkeit für die Schöpfung als die Mitte von kriecherischer Servilität und allen Haltungen, die aus dem Missverständnis der Hinnahme der Welt als Gegebenheit entstehen. Hingabebereitschaft (oder Op-

Vorschlag einer christlichen Tugendlehre

265

ferbereitschaft) ist als Mitte der Laster von Selbstaufgabe und absoluter Selbstbestimmung zu sehen. In Bezug auf die externe, zeugnisorientierte Tugendreihe der Gemeinschaft erweist sich Hoffnung als die Mitte von unrealistischem Optimismus und Furcht; respektvolle Toleranzbereitschaft als die Mitte zwischen intoleranter Rechthaberei und der Haltung der relativistischen Annahme der Überzeugung des anderen als gleich wahr wie die eigene Glaubensgewissheit sowie Gastfreundschaft als die Mitte zwischen Exklusion und übertriebener Inklusion. Entsprechend lassen sich auch die Tugenden der Wachsamkeit und Nüchternheit modellieren, ebenso die Tugenden der allgemeinen Tugendreihe wie Begeisterungsfähigkeit, Besonnenheit, Mut, Gerechtigkeit etc. Auch die vierte korrektive Tugendreihe lässt sich so verstehen. So ist die Bereitschaft zur verantwortlichen Schuldübernahme unter der grundsätzlichen geschöpflichen Handlungssituation des Schleiers des Nichtwissens des wirklich Guten die Mitte zwischen Zögerlichkeit und verantwortungsloser Zielorientierung, die nichts als die gewählten Ziele im Auge hat. Reuebereitschaft kann als die Mitte von zwanghaftem Selbstrechtfertigungsdrang und Selbstzerknirschung verstanden werden, Dankesbereitschaft für gewährte Vergebung als Mitte von selbstverständlicher Hinnahme oder gar Forderung von Vergebung und heteronomer Selbstunterwerfung sowie Vergebungsbereitschaft als Mitte der Laster des Verzeihungsautomatismus und der Hartherzigkeit. Fazit 83 Abgeleitet von der filialen Liebesrelation zwischen Gott und geschaffenen Personen sowie der geschwisterlichen Liebesrelation der Geschöpfe untereinander als Kirche und auf ein gemeinsames Projekt bezogene Zeugnisgemeinschaft, die immer simul iusta et peccatrix bleibt, ergeben sich vier Tugendreihen, denen jeweils Laster korreliert sind: 1. Die Tugenden der primären Liebesrelation der Gemeinde: Treue, Wahrhaftigkeit und Vertrauen sowie Hingabebereitschaft und Dankbarkeit für die Schöpfung. 2. Die Tugenden des gemeinsamen Projekts der Gemeinde: Hoffnung auf die Vollendung des Reiches Gottes, Toleranzbereitschaft, Gastfreundschaft, Nüchternheit und Wachsamkeit. 3. Allgemeine Tugenden, wie z.B. Begeisterungsfähigkeit, Mut, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit etc. 4. Die korrektiven Tugenden: verantwortliche Schuldübernahmebereitschaft, Reuebereitschaft, Dankesbereitschaft für Vergebung, Vergebungsbereitschaft. Die aufgeführten Tugenden verstehen sich exemplarisch.

Dieses Bild der christlichen Tugenden ist ein idealisiertes Bild von Person und Gemeinschaft. Die Praxis aller Tugenden in jeder Situa-

idealisiertes Bild

266

Personen

Charakterbildung

gute Werke

tion dürfte kaum erwartbar sein. Deutlich ist, dass die Tugenden auf einem Prozess der Charakterbildung der relationalen Person beruhen, so dass die Selbstbestimmung der Person, die kommunitäre Bestimmtheit der Person, die biophysische Bestimmtheit der Person und die durch Gottes trinitarisches Handeln verursachte Bestimmtheit der Person zusammenwirken und sich je nach Situation als Handlungsbefähigung erweisen. Diese Charakterbildung unterliegt einer prozessualen Entwicklung, die nicht einlinig verläuft, also nicht einfach in den Modellen des Fortschritts, des wechselnden Fortschritts oder Verfalls und auf keinem Fall in Stufenmodellen beschreibbar ist. Dieser ganze Charakterbildungsprozess setzt die Selbsterschlossenheit der relationalen Person durch den Geist gemäß dem in Christus als korrekt ansehbaren Verhältnis zum Vater voraus. Oder anders: Rechtfertigung und Heiligung sind dauernde Voraussetzungen dieses Charakterbildungsprozesses der christlichen Tugenden, sie sind nicht mit ihm identisch. Darin sind zwei Implikationen eingeschlossen: 1. Da Rechtfertigung und Heiligung dauernde Voraussetzungen sind, gibt es keinen Moment, in dem der Charakterbildungsprozess vom Mit-Sein des Heiligen Geistes unabhängig zu denken wäre. 2. Da Rechtfertigung und Heiligung als Voraussetzungen eben nicht mit dem Charakterbildungsprozess identisch sind, gibt es auch kein Mehr oder Weniger der Rechtfertigung oder der Heiligung. Beide Begriffe beziehen sich auf das Gottesverhältnis, nicht auf das ethische Verhältnis geschaffener Personen untereinander oder auf deren kulturelle Gestaltung der präpersonalen Umwelt. Wenn Vertrauen als Wirkung von Rechtfertigung und Heiligung (p) gute Werke (q) impliziert (p→q) (und sich Letztere durch einen Prozess christlicher Charakterbildung auszeichnen), dann bedeutet dies im logischen Umkehrschluss ebenfalls zweierlei: 1. Die vollständige Ausbildung aller Tugenden und deren Ausübung in jeder denkbaren Situation in der Fremdperspektive bedeutet noch nicht, dass auf das Vorhandensein von Rechtfertigung und Heiligung und damit auf Glaube geschlossen werden könnte (falsch: [p→q] → [q→p]). Der Charakterbildungsprozess kann auch zufällig geschehen; auch andere als die christlichen Gemeinschaften können situationsgerecht handlungsbefähigende Charaktere ausbilden, wenn es auch für Christen ein (dankbar anzuerkennendes) Rätsel bleibt. 2. Nur von einem vollständigen Fehlen jeglichen Charakterbildungsprozesses könnte auf falschen Glauben (Unglauben) geschlossen werden ([p→q] → [¬q→¬p]). Ein vollständiges Fehlen eines solchen Charakterbildungsprozesses ist aber kaum denkbar.

Vorschlag einer christlichen Tugendlehre

267

Die reformatorische und biblische Einsicht, dass aus dem Glauben (p) die guten Werke (q) fließen,47 lässt sich mithilfe der logischen Operation der Implikation oder hinreichenden Bedingung (→) ausdrücken. Diese ist eine Implikation Verbindung zweier Aussagen p und q, die nur dann falsch ist, wenn p als Vordersatz wahr, q als Nachsatz aber falsch ist, was aus Abb. 34 leicht ersichtlich ist. Umgangssprachlich entspricht ihr eine bestimmte Wenn-dann-Verbindung: „Immer (oder stets) wenn p, dann auch q.“ Implikation; Man kann auch sagen: „p ist eine hinreichende (aber Hinreichende Bedingung keine notwendige) Bedingung für q.“ Ein Alltagsbei(stets/immer) wenn p, dann q spiel ist: „Immer wenn es regnet (p), ist die Straße p q p q nass (q)“: p→q. Der Schluss „(p→q) → (q→p)“ ist w w w genauso wie der Schluss „(p→q) → (¬p→¬q)“ aber w f f logisch falsch, d.h. ein Fehlschluss. Aus „Immer wenn f w w es regnet, ist die Straße nass (p→q)“ kann also weder f f w geschlossen werden „Immer wenn die Straße nass ist (p), hat es geregnet (q)“ noch „Immer wenn es nicht Abb. 34: Wahrheitswerttafel zur Implikation (¬) regnet (p), ist die Straße nicht (¬) nass (q)“. Denn die Straße könnte auch nass sein, weil es nicht geregnet hat, sondern zufällig ein Hydrant kaputt gegangen ist oder Schnee geschmolzen ist. Der gleiche Sachverhalt tritt auch ein, wenn für p „Glaube“ und für q „gute Werke“ oder „das Vorhandensein eines Charakterbildungsprozesses“ eingesetzt wird: Aus „Immer wenn jemand glaubt (p), tut er auch gute Werke (q)“ folgt weder „Immer wenn jemand nicht (¬) glaubt (p), tut er auch nicht (¬) gute Werke (q)“ noch „Immer wenn jemand gute Werke (q) tut, dann glaubt (p) er auch“. Es folgt lediglich: „Immer wenn jemand nicht (¬) gute Werke (p) tut, trifft es auch nicht (¬) zu, dass er glaubt (p).“48 Die Aussage ¬p→¬q, dass „nicht p eine hinreichende Bedingung für nicht q“ ist, kann auch so umschrieben werden, dass p als notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingung für q angesehen wird. Umgangssprachlich kann man die notwendige Bedingung (←) auch umschreiben mit „nur wenn p, dann q“. Aus „Immer wenn es regnet (p), ist die Straße nass (q)“ folgt dann korrekt sowohl „Wenn die Straße nicht (¬) nass ist (q), kann es auch nicht (¬) geregnet haben (q)“ als auch „Nur wenn die Straße nass ist (q), kann es auch geregnet haben (p)“. Ebenso folgt aus „Immer wenn jemand glaubt (p), tut er gute Werke (q)“ dann sowohl „Wenn jemand nicht (¬) gute Werke tut (q), kann er auch nicht (¬) glauben“ als auch „Nur wenn jemand gute Werke tut (q), kann er auch glauben (p), muss es aber nicht.“

Daher kann die Tugendethik zwar analytisch, diagnostisch und auch therapeutisch zur Beurteilung von Personen in Gemeinschaft gemäß deren Handlungsfähigkeit eingesetzt werden, nicht aber als Urteils47 1.Joh 4,20: „So jemand spricht: ‚Ich liebe Gott‘ und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner“; vgl. Luther, M., WA 39I, 45: „Fatemur opera bona fidem sequi debere, imo non debere, Sed sponte sequi sicut arbor bona non debet bonos fructus facere, sed sponte facit. (Wir bekennen, dass die guten Werke dem Glauben folgen müssen, ja im Gegenteil, nicht müssen, sondern spontan folgen, so wie ein guter Baum keine guten Früchte wachsen lassen muss, sondern sie spontan wachsen lässt).“ 48 Vgl. Mühling, M., Art. Logik.

268

Perspektiven des Handlungsbegriffs

Personen

instrument für das Ansehen vor Gott. Hier hat jedes Urteil streng zu unterbleiben. Nehmen Personen entsprechende Fehlurteile vor und richten über andere Personen oder Gemeinschaften, zeugt dies bestenfalls von eigener Unbesonnenheit (vgl. Mt 7,1). Die Tugenden sind nicht nur vom Begriff der geschaffenen und zurechtgebrachten Person und Gemeinschaft abgeleitet und stellen daher eine Ethik aus der Perspektive der Handelnden dar – sie sind auch in der Lage, die anderen genannten relathaften Perspektiven des Handlungsbegriffs integrativ mit aufzunehmen: Die Tugenden werden aufgrund eines dem Menschen vorgegebenen, quasi-naturhaften Guten entfaltet, das als naturhaft nur in der Perspektive des christlichen Wirklichkeitsverständnisses erkennbar ist als die geschaffenen, zurechtgebrachten und durch den dreieinigen Gott auf Vollendung angelegten vorgegebenen Bedingungen jeden Handelns. Diese naturgegebenen Bedingungen äußern sich in der Einsicht, dass die Regel menschlichen Seins in erster Linie in geschaffener Liebe als Beziehung besteht, die in die präpersonale Welt eingebunden ist. Aus dieser Regel der Liebe ergeben sich als Normen primär das Funktionalisierungsverbot von Personen und sekundär das Personalisierungsverbot von Präpersonen. In die Tugendlehre ist die Bestimmung der Menschen auf ihr letztes Ziel genauso eingebunden wie die Perspektive der Erwartungen: die Vollendung des Reiches Gottes in der unmittelbaren Kommunikation mit den trinitarischen Personen, aus der sich die Tugend der Hoffnung allererst ergibt. Insofern ist die christliche Ethik auch eine teleologische Ethik im ursprünglichen Sinne, denn dieses letzte Handlungsziel kann als summum bonum verstanden werden, von dem her sich auch die partikularen Handlungsziele der Personen ergeben bzw. von dem her die partikularen personalen Handlungsziele der Personen ihren Wert erhalten und an dem sie gemessen werden. Daher sind auch Werte in der Tugendethik impliziert, die als Maßstab der partikularen Präferenzen der geschaffenen Personen fungieren. Durch die korrektiven Tugenden der Verantwortungsbereitschaft (Bereitschaft zur möglichen Entscheidung unter Schuldübernahme), der Reuebereitschaft und der Dankesbereitschaft ist auch die Perspektive der Handlungsfolgen eingebunden. Die personale und kommunitäre Tugendethik ist somit gleichursprünglich auf Naturrechtsethik, Pflichtenethik, Güterethik, Werteethik, Hoffnungsethik und Verantwortungsethik bezogen und umgekehrt.

269

Charismen

Fazit 84 Rechtfertigung und Heiligung sind Voraussetzung des christlichen Charakterbildungsprozesses, nicht aber mit ihm identisch. Kein Moment des Charakterbildungsprozesses ist vom Mit-Sein und Mit-Wirken des Heiligen Geistes unabhängig. Es gibt außerdem kein Mehr oder Weniger des christlichen Charakters. Das Verhältnis zwischen Glaube und Werken gilt auch für das zwischen Rechtfertigung und Charakterbildungsprozess: Der Glaube ist hinreichende Bedingung der guten Werke. Umgekehrt sind die guten Werke notwendige Bedingung für das Stehen im Glauben. Die guten Werke sind aber keine hinreichenden Bedingungen für Glauben. Die Abwesenheit des Glaubens lässt nicht auf die Abwesenheit von guten Werken schließen. Entsprechend gilt: Die Rechtfertigung ist hinreichende Bedingung zur Inaugurierung eines Charakterbildungsprozesses. Das Vorhandensein eines Charakterbildungsprozesses ist nur notwendige Bedingung für Gerechtfertigtsein. Von der Abwesenheit des Glaubens lässt sich nicht auf einen fehlenden Charakterbildungsprozess schließen; vom Vorhandensein eines Charakterbildungsprozesses nicht auf das Gerechtfertigtsein. Rechtfertigung und Glaube betreffen die Bezogenheit zu Gott. Gute Werke und Charakterbildungsprozess dagegen die welthaften Beziehungsgefüge der Person. Jegliches Richten über Rechtfertigung und Heiligung verbietet sich daher streng. Die so entworfene Tugendlehre integriert die anderen Perspektiven der Ethik. Natürliche Ethiken, Pflichtenethiken, Güterlehren, Hoffnungsethik, Verantwortungsethik etc. sind keine Alternativen zur Tugendlehre, sondern diese und die Tugendethik implizieren sich gegenseitig.

12.3 Charismen Die christliche Tugendethik bezieht sich auf Haltungen, die auf Handlungen im Sinne einer praxis, d.h. eines guten bzw. vorzüglichen Handelns um seiner selbst willen, bezogen sind. Von ihm ist das im weiteren Sinne technische Handeln unterschieden, d.h. diejenigen Handlungen von Personen, die einem von ihnen unterschiedenen Zweck dienen. Auch diese Handlungen setzen Haltungen voraus, deren Aktualisierung sie darstellen. Und auch diese auf die techne und poiesis bezogenen Haltungen werden durch das konkarnatorische Wirken des Heiligen Geistes für die Personen in Gemeinschaft in den Dienst genommen und sind so als konkrete Wirkung von Rechtfertigung und Heiligung verstehbar. Dies kommt in der Lehre von den Charismen zum Ausdruck. In diesem Sinne kann ein Charisma als geistgegebene, partikulare Gabe einer auf spezifischer Anlage beruhenden Haltung, die zur Ausübung einer Funktionsposition der Gemeinschaft befähigt, bestimmt werden. Die spezifische Anlage eines Charismas wird durch die genetisch-biologischen Vorgaben sowie den Sozialisations- und Bildungs-

Charisma

spezifische Anlage

270

Personen

Haltung

Gabe des Geistes Funktionsposition der Gemeinschaft

prozess konstituiert. In der Konstitution der Anlage kann göttliches Handeln im Kontext welthafter Wirkungen soweit verstanden werden, wie die biologische Ontogenese und die Sozialisation einer Person schöpfungstheologisch interpretierbar sind. Als Haltung übersteigt ein Charisma begrifflich eine Anlage, indem ein intentionales Element erscheint: Eine Person muss die bewusste oder habituell vorliegende Absicht haben, die vorgegebene Anlage zu nutzen. Diese Absicht ist für eine Person allerdings nicht frei wählbar, sondern beruht auf deren handlungsleitenden, weltanschaulichen Gewissheiten, wie sie durch die passiv bedingte Selbsterschlossenheit im Glauben als Vertrauen gegeben ist, sowie auf der affektiven Bestimmtheit und daher auf den Charaktereigenschaften und Tugenden der Person in Gemeinschaft. Diese sind unter Beachtung der Unterscheidung zwischen opus dei und opus hominum primär der personkonstituierenden Gottesbeziehung, d.h. dem Handeln des Geistes, zuzuschreiben, worin der Charakter des Charismas als Gabe des Geistes zu sehen ist. Nur diejenigen Haltungen können als Charismen bestimmt werden, die auf eine Funktionsposition der Gemeinschaft der Kirche zielen. Als Funktionspositionen beinhalten Charismen ein überindividuelles, allgemeines Element. Es kann sich dabei um Funktionen für die Gemeinschaft der Kirche selbst handeln (Verkündigung im Gottesdienst, Gemeindeorganisation etc.) oder um Funktionen, die aus der Kirche kommend diese in Richtung größerer Gemeinschaften transzendieren (Mission, Diakonie, aber auch „weltliche“ Tätigkeiten), so dass Charismen neben den Tugenden den Ort der Entfaltung einer spezifisch christlichen Thematisierung der Sozialethik darstellen. Der gemeinschaftliche Charakter der Charismen besteht aber nicht nur in deren gemeinschaftlicher Konstitution und Funktion, sondern ebenso in der Anerkennung durch die Gemeinschaften, für die sie erbracht werden. Da nach reformatorischem Verständnis Glaube immer Handeln nach sich zieht, muss prinzipiell jeder Christ als mit spezifischen Charismen begabt verstanden werden. Die Charismen sind daher eine Berufung zum Dienst und kommen in ethischen Betrachtungen zur Entfaltung, wie sie etwa in Luthers und Ritschls Lehre vom Beruf zu finden sind.49

49 Zu Ritschls Berufsethik vgl. Mühling, M., Versöhnendes Handeln, 81–83.

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Charismen

Fazit 85 Charismen sind geistgegebene, partikulare Gaben einer auf spezifischer Anlage beruhenden Haltung, die zur Ausübung einer Funktionsposition der Gemeinschaft befähigen. Sie setzen Tugenden voraus, sind aber durch die spezifische Funktionsposition, die aus der Gemeinschaft der Kirche kommt oder für diese erbracht wird, davon unterschieden.

Literaturempfehlung Richard von St. Viktor: Über die Dreieinigkeit, Einsiedeln 1980. Herms, Eilert: Zur Systematik des Personbegriffs in reformatorischer Tradition, NZSTh 49 (2008), 377–413. Spaemann, Robert: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘, Stuttgart 21998.



13. Toleranz und die Religionen

Am Ende dieser Einführung in die Ethik zeigt sich: Es 1c gibt keine universal gültige 2 Vernunft 1b andere und allgemein durch VerAffekte Personen nunft begründbare Ethik. 3 Aus christlicher Sicht ver1a natürliches Wille Geschehen wundert dies nicht, ist doch auch die Vernunft im faktischen Zustand des Men4a 9 empirische Ergebnis schen nicht intakt. Aber Gewissheiten selbst wenn sie es wäre und 4 Gewissheiten eine allgemeine Ethik durch 4b 8 Vernunft begründbar wäre, religiöse Ziele Gewissheiten wäre noch nicht viel gewonnen. Denn entscheidend ist 7 5 Erwartungen Regeln nicht, ob eine Ethik begrün6 Mittel det werden kann, sondern ob sie tatsächlich auch das Handeln motiviert. Nicht HandAbb. 35: Ethik in pluralistischen Gesellschaften lungsbegründung , sondern Handlungs- Handlungsmotivation ist entscheidend. Die entsprechenden Promotivation bleme verschwinden allerdings, wenn eine dezidiert christliche Position eingenommen wird: Dann zeigt sich, dass eine spezifische Ethik des vorzüglichen Handelns begründbar ist, die die unterschiedlichen relathaften Aspekte des Handlungsbegriffs berücksichtigen kann. Es zeigt sich auch, dass im gelebten Ethos partikularer christlicher Gemeinschaften im Zusammenhang mit dem Handeln Gottes auch das Motivationsproblem zu vorzüglichem Handeln gelöst werden und mittels einer Tugendethik reflexiv erfasst werden kann. Eine Ethik ist immer von einem Ethos, wie es in partikularen Gemeinschaften gelebt wird, abhängig. Ein solches ist aber immer an die unterschiedlichen, im Handlungsbegriff vorausgesetzten, religiös-weltanschaulichen Gewissheiten gebunden. Damit bleibt freilich auch ein Problem bestehen: Wenn Handeln immer Interaktion ist und immer an partikulare moralische Ontologien gebunden ist, müssen offensichtlich prinzipiell Personen miteinander interagieren, deren Handeln von unterschiedlichen religiös-weltanschaulichen Gewissheiten motiviert ist. Wie ist dann aber 1 Person

273

Konsens

ein friedliches Miteinander überhaupt möglich? Eine sehr weit verbreitete und akzeptierte Antwort auf die Frage, wie eine Ethik in Freiheit zwischen den Religionen möglich sei, die eine friedliche Gesellschaft ermögliche, hält eine Übereinstimmung oder den Konsens der Religionen für notwendig. Exemplarisch kann diese Ausgangsthese an einem Zitat aus Hans Küngs (*1928) Projekt Weltethos illustriert werden:

friedliche Gesellschaft Konsens der Religionen

„Aufgrund von persönlichen Lebenserfahrungen und der notvollen Geschichte unseres Planeten haben wir gelernt, […] dass das Recht ohne Sittlichkeit auf Dauer keinen Bestand hat und dass es deshalb keine neue Weltordnung geben wird ohne ein Weltethos. […] Mit Weltethos meinen wir einen Grundkonsens bezüglich bestehender verbindender Werte, unverrückbarer Maßstäbe und persönlicher Grundhaltungen. Ohne einen Grundkonsens im Ethos droht jeder Gemeinschaft früher oder später das Chaos oder eine Diktatur, und einzelne Menschen werden verzweifeln.“1

Küngs „Projekt Weltethos“ sei hier nur als Illustration einer präzisierten These genutzt: Angesichts des religiösen Pluralismus kann es keinen Frieden ohne einen ethischen Konsens der Religionen geben. Der Konsens ist daher eine notwendige Bedingung für die Wohlordnung einer Gesellschaft. Diese These ist zu unterscheiden von der Frage, ob ein Konsens faktisch etwas zur sozialen Wohlordnung beiträgt oder beitragen kann. Und diese These der Notwendigkeit eines religiösen Konsenses gilt es im Folgenden zu überprüfen. Nun ist Konsens nicht gleich Konsens. Vielmehr gibt es verschiedene Modelle, einen Konsens der Religionen zu denken. Einige Beispiele, neben denen noch andere denkbar sind,2 seien hier exemplarisch besprochen.

13.1 Konsens 1. Vorreflexiver, erfahrungsmonistischer Konsens: „Religionen stimmen in der religiösen Erfahrung überein.“ These: Auch wenn sich die Religionen in den Wahrheitsansprüchen ihrer Lehren und in ihren religiösen Praktiken unterscheiden mögen, so beziehen sie sich doch alle auf die gleiche religiöse, manchmal als „mystisch“ bezeichnete Erfahrung, die durch die Geschichten und

1 Erklärung zum Weltethos, hg. n. Vorbereitung v. Hans Küng v. Parlament der Weltreligionen, Chicago 1993, 6 (auch im Internet unter http://www.weltethos. org/03-deklaration.htm#c1). 2 Vgl. ausführlicher Mühling, M., „Vor Gott und Menschen angenehm …“.

These

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Toleranz und die Religionen

Vorteile

Nachteil

Legenden der einzelnen religiösen Traditionen ausgedrückt und in ihren Riten praktiziert wird.3 Vorteile: Die Unterschiedenheit der Religionen und die Differenz in den Wahrheitsansprüchen ihrer Lehren muss nicht geleugnet werden. Nachteil: Menschen erfahren immer etwas, indem dieses Etwas mit Hilfe einer semantischen Einheit, die aus dem Interpretationsrahmen der bisherigen Erfahrung stammt, interpretiert wird.4 Es gibt damit keine vorreflexive Erfahrung, weil schlicht alle Erfahrung interpretationshaltig5 ist. Jede behauptete vorreflexive Erfahrung zweier unterschiedlich sprachlich ausgedrückter Erfahrungen kann immer nur aus der sprachlichen Perspektive einer dieser beiden theoretischen Erfassungen oder einer dritten partikularen Perspektive behauptet werden. Wenn sich zwei Religionen in ihrer Selbstdeutung widersprechen, kann eine zugrunde liegende, gemeinsame Erfahrung nur aus einer dritten sprachlichen Perspektive behauptet werden, die damit eine weitere partikulare religiöse Perspektive darstellt, die nicht die beiden ersten Perspektiven vereinheitlicht, sondern als eine neue, dritte, nun ihrerseits beiden anderen Perspektiven mit einem eigenen Wahrheitsanspruch entgegentritt. 2. Reflexiver, glaubensmonistischer Konsens: „Alle Religionen beziehen sich auf die gleiche unbedingte Wirklichkeit, die aber von keiner vollständig erfasst werden kann.“

These

These: Es gibt die eine göttliche Wirklichkeit, etwa „das Reale“, das aber transzendent und transkategorial ist, also nicht vollständig durch Sprache, Glauben, Erkenntnis etc. erfasst werden kann. Menschliche Religionen sind Antworten auf dieses eine Reale. Daher können sich einerseits auch unterschiedliche Religionen mit konkurrierenden Wahrheitsansprüchen letztlich auf die gleiche absolute Wirklichkeit beziehen. Andererseits ist es aber auch möglich, dass unterschiedliche Wahrheitsansprüche einzelner Lehren unterschiedlicher Religionen keine adäquaten Antworten auf das Reale sind.6 Obwohl damit noch nicht moderner Atheismus und Naturalismus

3 Vgl. z.B. Panikkar, R., Unknown Christ of Hinduism; Panikkar, R., Jordan, Tiber, Ganges. Zu einer kurzen Darstellung vgl. auch Kärkkäinen, V.-M., Theology of Religions. 4 Zu einer Analyse des Erfahrungsbegriffs vgl. Schwöbel, C., Revelation and Experience, 103–112. 5 Vgl. Hanson, N.R., Patterns. 6 Vgl. exemplarisch Hick, J., Vielfalt der Religionen, und Hick, J., Non-Absoluteness. Eine positive Aufnahme findet dieses Modell z.B. bei Schmidt-Leukel, P., Problem.

275

Konsens

berücksichtigt sind, ist es im Prinzip theoretisch möglich, sogar solche atheistischen und naturalistischen Lösungen mit einzubeziehen.7 Vorteile: Hier wird beansprucht, eine „pluralistische“ Lösung vorzustellen, die es erlaubt, die Wahrheitsansprüche unterschiedlicher Religionen auf kritische Weise anzuerkennen. Nachteile: Dieses Modell ist nur vordergründig pluralistisch,8 tatsächlich aber monistisch: Es gibt nur ein transkategoriales Reales, das damit auch nicht mehrere absolute Prinzipien neben sich bestehen lassen kann. Der Versuch, über den verschiedenen partikularen Religionen eine Metaperspektive einzunehmen, scheitert, weil dieses religionsphilosophische Konstrukt seinerseits als neue religiöse Perspektive, quasi als neue Religion, auftritt, die nun ihre eigenen Wahrheitsansprüche gegenüber denjenigen Angehörigen der anderen Religionen geltend macht, die ihm nicht zu folgen vermögen. Damit aber laufen Modelle dieses Typs Gefahr, in gefährliche Nähe eines absolutistischen Fundamentalismus zu geraten. Sie tragen nicht nur dem Selbstverständnis der einzelnen Religionen keine Rechnung, sondern sie haben nahezu keine Bedeutung für die praxis pietatis der einzelnen Religionen.9

Vorteile

Nachteile

3. Reflexiver, ethikmonistischer Konsens: „Alle Religionen haben zumindest minimal das gleiche Ethos, d.h. minimal gleiche Normen und Werte.“ These: Hier könnte als Beispiel das schon eingangs genannte „Projekt Weltethos“ von Küng genannt werden. Noch deutlicher aber ist 7 Schmidt-Leukel, P., Keine Alternative, 16f., nimmt den Atheismus ausdrücklich aus. Dies liegt aber an der Tatsache, dass Schmidt-Leukel Religion von einem Bezug zur Transzendenz bestimmt sieht und Atheismus eine transzendente Wirklichkeit ablehnt. Diese Auffassung ist aus mehreren Gründen nicht haltbar: Religion kann, zumindest aus christlicher Perspektive, nicht einfach von einem Transzendenzbezug her bestimmt werden, weil schon der Gottesbegriff nicht durch Transzendenz bestimmt ist, sondern sich inhaltliche Bestimmungen des Gottesbegriffs zu allererst aus der Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus ergeben. Dann wäre aber schon der Gottesbegriff genauso immanent wie transzendent. Wichtiger aber ist noch folgender Sachverhalt: Fundierter Atheismus oder Naturalismus leugnet überhaupt nicht das Absolute, sondern schreibt dies nur anderen Instanzen, etwa der Welt als Ganzer, zu. Aber auch die Welt als Ganze ist ein dem einzelnen erkennenden Subjekt transzendenter Sachverhalt. Es bedürfte daher nur sehr geringfügiger Modifikationen, um Hicks Modell auch auf atheistische oder naturalistische Wirklichkeitsverständnisse auszudehnen. Hicks Behauptung, alle Religionen würden soteriologisch von der Selbstzentriertheit zur Realitätszentriertheit führen wollen, gilt auch für den Naturalismus, vgl. Drechsel, W., Aus tiefer Not. 8 Vgl. etwa Feldtkeller, A., Pluralismus. 9 Zur mittlerweile nahezu uferlosen Debatte und Kritik um Hicks Modell vgl. neben dem antwortenden Sammelband von D’Costa, G. (Hg.), Christian Uniquess Reconsidered, auch die viele Argumente gut zusammenfassende Darstellung von Danz, C., Theologie der Religionen, 154–164 und die dort genannte Literatur.

These

276

Toleranz und die Religionen

dieses Modell bei Lessings klassischer Lösung der Ringparabel zu beobachten. Die einzelnen Religionen werden hier mit Ringen verglichen. Um keinen Sohn zu bevorzugen, lässt ein Vater von einem Ring, der den Träger vor Gott und Menschen angenehm macht, Duplikate anfertigen und vererbt diese, während der ursprüngliche Ring verloren geht. Nach dem Tod des Vaters streiten die Söhne vor Gericht, wer den echten Ring besitze. Der Richter empfiehlt, jeder möge seinen Ring für den echten halten und im Wettstreit um das Tun des Guten werde sich zeigen, welcher Ring vor den Menschen angenehm macht.10 Diese Möglichkeit steht prinzipiell allen Söhnen offen. Obwohl es unterschiedliche Interpretationen dieser Ringparabel gibt, ist es doch sehr wahrscheinlich, dass Lessing die ethische Vernunftreligion seiner Aufklärung für den gemeinsamen Nenner der Religionen hält: Das Tun des Guten – wie es sich im Sittengesetz äußert – ist Wahrheitszeichen.

Vorteil Nachteil

Wenn Religionen also hinsichtlich ihrer Normen und Werte dem Sittengesetz entsprechen, können sie sich – unbeschadet ihrer unterschiedlichen Wahrheitsansprüche – gegenseitig tolerieren, da dieses Ethos das Wesentliche ist.11 Vorteil: Die Religionen können ihre Wahrheitsansprüche und Traditionen vollständig behalten. Nachteil: Der Anspruch der Religionen, eine Letztbegründung zu sein, geht verloren, weil das Verhältnis von Glaube und Werken umgekehrt wird. Denn faktisch wird der Inhalt der sittlichen Vernunftreligion als Gewissheitsbasis angenommen, die nun die unterschiedlichen Gewissheiten der partikularen Religionen ersetzt, die ihrerseits folkloristisches Beiwerk werden. Damit handelt es sich entsprechend dem vorher besprochenen Modell um ein monistisches Modell und ist denselben Problemen ausgeliefert. Noch wichtiger ist, dass darüber hinaus eine unabhängig von Religion und Tradition allgemeingültige Ethik verwirklichbar sein müsste. Dass die Suche nach einer solchen nicht Erfolg versprechend ist und immer wieder scheiterte, zeigte dieses Buch in seinen vorherigen Kapiteln.

Fazit 86 Die konsensualistische These besagt, dass eine religiös pluralistische Gesellschaft ohne ethischen Konsens nicht wohlgeordnet sein kann, so dass ein ethischer Konsens eine notwendige Bedingung für eine friedvolle Gesellschaft darstellt. Ein solcher Konsens kann unterschiedlich verstanden werden:

10 Vgl. Lessing, G.E., Ringparabel, 279. Zu einer kurzen theologischen Interpretation der Ringparabel vgl. auch Härle, W., Wahrheitsgewißheit als Bedingung von Toleranz, hier 83–87. 11 Vgl. Härle, W., Wahrheitsgewißheit als Bedingung von Toleranz, 86f.

277

Probleme des Konsenses

– als vorreflexiver, erfahrungsmonistischer Konsens, der eine gemeinsame, nichtsprachliche und nichtreflexive Basis der Religionen propagiert, – als reflexiver, glaubensmonistischer Konsens, in dem behauptet wird, alle Religionen bezögen sich auf die gleiche absolute Wirklichkeit des Absoluten oder des Realen, das aber von keiner vollständig erfasst werde, und als – reflexiver, ethikmonistischer Konsens, demgemäß ein Konsens nicht in den weltanschaulichen Gewissheiten, sondern im Ethos bestehen müsse, so dass sich das Verhältnis von Glaube und Werken umkehrt.

13.2 Probleme des Konsenses Alle genannten Modelle leisten nicht das, was sie beanspruchen: Sie sind nicht pluralistisch, sondern monistisch. Dieses Problem entsteht nicht zufällig, sondern notwendig, da Konsens in Basisüberzeugungen immer zu Monismen führt. Aufgrund der unhintergehbaren Positionalität und Perspektivität generieren sie keine Metaperspektive, sondern eine neue Perspektive, die neben die vorhandenen Perspektiven und Religionen tritt. Damit erweitern sie die Situation konkurrierender Religionen, steigern den Pluralismus konkurrierender Wahrheitsansprüche und vermehren die Vielfalt der partikularen Ethiken. Selbst wenn diese Modelle erfolgreiche wären, würden sie nicht zur Toleranz beitragen: Tolerare heißt Ertragen des Fremden. Indem diese Modelle aber das Fremde und Andere unter ihr neues Eigenes subsumieren wollen, wollen sie Toleranz umgehen. Wo ein Konsens, also Übereinstimmung vorhanden ist, gibt es nichts Fremdes mehr und damit nichts mehr, was zu tolerieren wäre. Auch wenn sich nur das zweite Modell explizit auf einen Konsens in Bezug auf die im Handlungsbegriff vorausgesetzten religiösen Gewissheiten beruft, die anderen Modelle entweder das vorreflexive oder die den Gewissheiten logisch folgenden Normen und Werte betreffen wollen, handelt es sich doch faktisch jeweils um Versuche der Konsensbildung hinsichtlich der religiösen Gewissheiten.

Da keines dieser Modelle befriedigen kann, muss nun kritisch gefragt werden, ob die Ausgangsthese, nach der eine gute Gesellschaftsordnung nur mit Hilfe eines Minimalkonsenses der religiösen Basisgewissheiten zu erreichen ist, nicht schlicht falsch ist. Betrachtet man die meisten Konflikte sozialer Unordnung innerhalb partikularer Gesellschaften und die meisten militärisch ausgetragenen Konflikte zwischen Staaten, wird man feststellen, dass es hier nicht um Kriege zwischen Basisüberzeugungen ging, sondern um Ziel- oder Zweckkonflikte.12 12 Natürlich gibt es dazu auch alternative Deutungen, etwa die des frühen Samuel Huntington über zukünftige Weltkonflikte. Insofern ist Huntingtons pessimistische

Monismen

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Toleranz und die Religionen

Wenn wir nun vermuten, dass ein Konsens hinsichtlich menschlicher Erfahrungen nicht diagnostizierbar ist, ein Konsens hinsichtlich ethischer Normen und Werte immer in einen Konsens religiöser Grundgewissheiten zurückfällt und ein solcher nicht das leistet, was er soll, könnte man auf den Gedanken kommen, ein neues konsensualistisches Modell vorzuschlagen. Fazit 87 Alle bisher genannten konsensualistischen Modelle eines Konsenses hinsichtlich der religiös-weltanschaulichen Gewissheiten sind gegen den eigenen Anspruch nicht pluralistisch, sondern monistisch, nehmen keine Metaperspektive ein, sondern schaffen die Perspektive einer eigenen, neuen Religion, so dass sie keinen Konsens bringen, sondern die Konkurrenz von Wahrheitsansprüchen vermehren. Wären sie erfolgreich, würden sie Toleranz vermeiden, da nur das Andere, Fremde und Widerstreitende toleriert (ertragen) werden muss, nicht aber die Variation des Eigenen. Zu ernsten Konflikten führen in der Regel nicht Konflikte über im Handeln vorausgesetzte Gewissheiten, sondern Zieldifferenzen. Zielkonsens

4. Zweck- oder Zielkonsens: „Alle Religionen können ihre jeweiligen religiösen Basisüberzeugungen einschließlich deren konkurrierender Wahrheitsansprüche unreduziert behalten, solange sie sich auf gemeinsame Ziele oder Zwecke einigen können.“ Ein Beispiel für das Funktionieren eines solches Modells, für das auch der Tübinger Theologe Christoph Schwöbel zu plädieren scheint,13 beschreibt der Religionsphilosoph Vincent Brümmer im Anschluss an Steward Sutherland: „Das beobachtbare Verhalten von Barry und Brendon ist dasselbe und kann beschrieben werden als ‚Lastwagenladungen mit Nahrungsmitteln zum Flüchtlingslager fahren‘. Auf Anfrage beschreiben beide jedoch ihr Handeln Prognose gar nicht dem Küng’schen Weltethosmodell entgegengesetzt, sondern es teilt die gleichen Voraussetzungen. Zu einer kurzen Besprechung Huntingtons vgl. auch Mühling, M., Eschatologie, 211. 13 Es sei hier angemerkt, dass der Autor dieses Beitrags zeitweise dieses Modell für das geeignetste hielt. Auch einige Äußerungen Christoph Schwöbels lassen auf Affinitäten zu diesem Modell schließen. Vgl. Schwöbel, C., Toleranz aus Glauben, hier 242f.: „Hier zeigt sich, dass Toleranz noch nicht genug ist, um eine friedliche Koexistenz der unterschiedlichen Gruppen, Gemeinschaften, Staaten und Religionen zu gewährleisten. Angesichts der Herausforderungen globaler Interdependenz müssen Wege von der Toleranz zur Kooperation gefunden werden. […] Die Religionen könnten dann einen wesentlichen Beitrag zur Kooperation […] leisten, wenn es gelingt, deutlich zu machen, dass eine solche Kooperation […] von den [B]eteiligten […] jeweils aus der Perspektive ihrer eigenen Überzeugungen begründet werden soll – freilich im Blick auf gemeinschaftlich erkannte Ziele.“ (Kursivierung von mir, M.M.). Richtig ist, dass Toleranz ohne Kooperation zu wenig wäre. Ein Zielkonsens ist aber keine notwendige Bedingung von Kooperation.

Probleme des Konsenses

279

in ziemlich unterschiedlicher Weise. Barry sagt: ‚Indem ich Lastwagenladungen mit Nahrungsmitteln zum Flüchtlingslager fahre, erfülle ich die Bedürfnisse der politisch unterdrückten Massen und bereite auf diese Weise die Landbevölkerung für den kommenden revolutionären Kampf vor, in Übereinstimmung mit den Lehren Maos.‘ Brendon, auf der anderen Seite, beschreibt sein Handeln anders. Er sagt: ‚Indem ich Lastwagenladungen mit Nahrungsmitteln zum Flüchtlingslager fahre, erfülle ich die Bedürfnisse meiner Mitgeschöpfe und verwirkliche teilweise das Reich Gottes auf Erden in Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes.‘“14

Man kann das Beispiel so deuten, dass hier zwei Menschen aufgrund unterschiedlicher religiöser Grundüberzeugungen, ja sogar aufgrund unterschiedlicher Ethiken – denn Barry könnte sich als tapferer Kämpfer und Brendon als Pazifist herausstellen – zu einem gemeinsamen Ziel und Zweck kommen, der Nahrungsmittellieferung. Selbst wenn es so wäre und dieses Modell funktionieren würde, würde es nur zeigen, dass ein Konsens in Zielen bei unterschiedlichen Basisüberzeugungen eine hinreichende Bedingung für eine funktionierende Kooperation und damit für eine friedliche Gesellschaftsordnung sein könnte, nicht jedoch eine notwendige. Wahrscheinlich zeigt das Beispiel aber nicht einmal das, sondern nur: Ein Konsens in Zielen kann zu einem friedlichen Miteinander führen. Das gilt aber auch für einen Konsens in religiösen Grundüberzeugungen: Dieser kann selbstverständlich zu einem friedlichen Miteinander führen, andernfalls wären die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft ständig im Krieg miteinander. Wir suchen hier aber weder nach Möglichkeiten für ein friedliches Miteinander noch nach dem, was möglicherweise hinreichend dafür ist, sondern nach dem, was wirklich minimal notwendig ist. Dies ist offensichtlich nicht der Konsens: weder in Grundüberzeugungen noch in Zielen oder Zwecken. Eine andere Interpretation des angeführten Beispiels verschärft diesen Befund noch: Nur aus einer Fremdperspektive verfolgen Barry und Brendon das gleiche Ziel der Nahrungsmittelversorgung. In ihren eigenen Beschreibungen haben sie keinen Konsens in Zielen: Barry zielt auf den bewaffneten Kampf, Brendon auf das Reich Gottes. Obwohl sie weder in religiösen Basisüberzeugungen noch in ihren Werten und Normen noch in ihren Zielen zu einem Konsens kommen, kooperieren sie friedlich in ihrem Tun. Ihr gemeinsames Handeln stellt keinen Zielkonsens dar, sondern ist ein Kompromiss auf dem Weg zu ihrem je eigenen Ziel. Kompromisse aber sind dadurch gekennzeichnet, dass beide Parteien in ihrer eigenen Position aus pragmatischen Gründen Einschränkungen und Abstriche vornehmen müssen, ohne freilich ihre ursprünglichen Überzeugungen oder Ziele aufzugeben oder bezüglich dieser zu konsensualistischen Übereinstimmungen zu kommen. 14 Brümmer, V., Was tun wir, wenn wir beten?, 106f.

Nahrungsmittellieferung

Fremdperspektive

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Toleranz und die Religionen

Wir können daher begründet in Frage stellen, ob Konsens überhaupt in irgendeiner Hinsicht eine notwendige Bedingung für eine Wohlordnung der pluralistischen Gesellschaft ist. Nicht nur Theologen, auch Philosophen wie Rawls und Habermas15 würden freilich an der notwendigen Fundamentalität des Konsensgedankens festhalten. Es gibt aber auch andere Stimmen. Die analytische Philosophie Nicolas Reschers (*1928) trifft sich in ihren Ergebnissen mit unserem Ergebnis und kann mit guten Gründen zeigen, dass Konsens weder auf der Ebene der zugrunde liegenden Handlungsgewissheiten noch auf der der Normen, Werte und Handlungsmittel noch auf der der Handlungsziele eine notwendige Bedingung für die Wohlordnung einer pluralistischen Gesellschaft sein kann.16 Fazit 88 Auch Zweck- und Zielkonsense sind keine notwendige Bedingung für friedliche Kooperation. Sie können eine hinreichende Bedingung sein, müssen es aber nicht. Daher ist die konsensualistische These als Ganze insgesamt falsch.

13.3 Toleranz Verhältnisbestimmungen der Religionen

Lehre aus der Kritik

Perspektive des christlichen Glaubens

Wäre das Spektrum der möglichen Verhältnisbestimmungen der Religionen mit den genannten Optionen erschöpft, stünde es schlimm um die Gestaltung einer pluralistischen Gesellschaft, sowohl im großen internationalen Feld als auch hinsichtlich des ganz konkreten Zusammenlebens an konkreten gesellschaftlichen Orten wie etwa der Schule. Denn dann bliebe die Frage, ob eine pluralistische Gesellschaft wohlgeordnet funktionieren kann, dem puren Zufall überlassen. Es gibt aber Alternativen. Um dies sehen zu können, müssen wir programmatisch eine Lehre aus der Kritik der bisherigen Modelle ziehen: Es macht keinen Sinn, sich über die einzelnen religiösen Perspektiven stellen zu wollen, weil dies zumindest unter dem hier entfalteten Religionsbegriff schlicht nicht funktioniert. Wir werden daher im Folgenden mit Vorsicht17 konsequent die eigene Perspektive des christlichen Glaubens reformatorischer Prägung einnehmen, 15 Vgl. exemplarisch Rawls, J., Overlapping Consensus, und Habermas, J., Diskursethik – Notizen. 16 Insbesondere weist Rescher darauf hin, dass Konsens nicht nur keine notwendige, sondern auch keine hinreichende Bedingung für eine wohlgeordnete Gesellschaft ist, weil er zeigen kann, dass ein angestrebter Konsens auch eminent negative Folgen haben kann. Dies gilt sowohl hinsichtlich eines Konsenses bei religiösen Basisüberzeugungen, eingesetzten Handlungsmitteln wie auch bei Zielen. Vgl. Rescher, N., Pluralism, 156–199. 17 Vgl. Mühling, M., Vorsicht bei der Suche nach Theologien der Religionen.

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Toleranz

um zu sehen, ob und welche Möglichkeiten sich daraus für eine Lösung des Religionsproblems unter der Bedingung pluralistischer Gesellschaften ergeben. Christlicher Glaube ist eine handlungsleitende Gewissheit, d.h. personales existenzbestimmendes Vertrauen auf den dreieinigen Gott als Antwort auf dessen Selbsterschließung in Jesus Christus durch den Heiligen Geist. Er kommt zustande durch das äußere Wort (verbum externum), d.h. alle Kommunikationsleistungen geschaffener Personen untereinander und durch die aufgrund des Handelns Gottes des Heiligen Geistes bedingte Evidenzerfahrung (testimonium internum). Daraus folgt: 1. Christen sind sich ihres Glaubens gewiss (Glaubensgewissheit). 2. Die Gewissheit ihres Glaubens schließt das Weitererzählen des Evangeliums (Mission) unter Wahrung der Wahrheitsansprüche mit ein. 3. Die Gewissheit des Glaubens schließt die Kenntnis ein, dass die Glaubenskonstitution kein menschliches, sondern ein göttliches Werk ist. 4. Die Gewissheit des Glaubens schließt die Absolutheit des dreieinigen Gottes genauso ein wie sie die Absolutheit der eigenen Gewissheit ausschließt.

Die Gewissheit der Selbsterschließung des dreieinigen Gottes in Jesus Christus schließt das Schöpfersein Gottes und den Fall des Menschen mit ein. Gott ist Schöpfer und bleibt als Erhalter auch unter dem Widerspruch seiner Geschöpfe die alles bestimmende Wirklichkeit, und zwar ohne unmittelbare Durchsetzung der Erkennbarkeit seiner Gottheit als der alles bestimmenden Wirklichkeit. D.h.: Gott verzichtet unter geschichtlichen und welthaften Bedingungen programmatisch auf eine unbedingte Durchsetzung seines Willens. Stattdessen lässt er den Widerspruch zu (permissio) und duldet ihn. Dieses Dulden Gottes ist das wesentliche Kennzeichen seines Schöpfungshandelns. Interessanterweise hört das Dulden Gottes auch durch seine eschatische Selbstoffenbarung in Jesus Christus nicht auf, weil sich Gott gerade im Modus des Lebens einer geschichtlich-kontingenten Person offenbart, so dass der Widerspruch gegen seine Selbstoffenbarung genauso weiter möglich ist, wie diese Selbstoffenbarung strittig bleibt. Das Dulden Gottes ist damit nicht nur Kennzeichen seines Schöpfungshandelns, sondern auch seines Heilshandelns. Signifikant ist dabei, dass Martin Luther sich in seinen Ausführungen zur tolerantia dei vor allem auf den Widerspruch gegen den Willen Gottes bezieht, der nicht von den Andersglaubenden ausgeht, sondern der aufgrund der Bestimmung auch der Kirche als simul iusta et peccatrix gerade von den Glaubenden ausgeht.18 Dies bedeutet aber, 18 Vgl. Luther, Martin, WA 39/1, 83,12f. Zu Luthers Verständnis der tolerantia dei vgl. auch Ebeling, G., Toleranz Gottes, und Härle, W., Wahrheitsgewißheit als Bedingung

christlicher Glaube

Glaubensgewissheit Mission Glaubenskonstitution Absolutheit

permissio

tolerantia dei

282

Toleranz und die Religionen

„Dulden“

dass auch die eigene christliche Gewissheit nur dann richtig verstanden ist, wenn sie erkennt, dass auch sie nicht einfach mit dem Willen Gottes übereinstimmt, sondern ebenfalls sub aeternitate dei bleibend duldungsbedürftig ist. Das biblische Bild des Duldens Gottes im Heilshandeln ist das Kreuz Christi. Daraus ergibt sich: 1. Gottes eigenes Handeln zielt weder im Welthandeln noch im Heilshandeln auf einen unmittelbaren Konsens seiner Geschöpfe mit ihm unter geschichtlichen Bedingungen. 2. Gottes Handeln unter geschichtlichen Bedingungen ist vielmehr durch sein Dulden bestimmt. Nach christlicher Vorstellung ist der Mensch Bild Gottes, und in Jesus Christus sind Gott und Mensch vereint, was die gegenseitige Mitteilung göttlicher und menschlicher Prädikate mit sich bringt. Obwohl „Dulden“ damit primär ein göttliches, kein menschliches Prädikat ist, ist „Dulden“ damit jedoch eine Haltung, die auch dem Menschen in passiv zurechtgebrachter conformitas möglich ist. Kommt der Mensch seiner Bestimmung nach, sowohl am Heilshandeln als auch am Welthandeln Gottes kooperativ zu partizipieren, bedeutet dies, in beiden Feldern der Mitarbeit am göttlichen Regiment dieser Forderung nach der Duldung des Abweichenden kategorisch nachzukommen.

Fazit 89 In der zeugnishaften Verkündigung des Evangeliums als Mitarbeit an Gottes Heilshandeln, das von der tolerantia dei bestimmt ist, äußert sich das Dulden (oder die Toleranz) im programmatischen Verzicht auf die Herstellung von Gewissheit am Adressaten. Fehlt dieser programmatische Verzicht, liegt eine Verzeichnung des Evangeliums und damit überhaupt keine Evangeliumsverkündigung und ebenso überhaupt kein Zeugnis und keine Mission vor. In der Mitwirkung des Menschen am erhaltenden Regiment Gottes in ökonomischen und politischen Kommunikationszusammenhängen ist das Dulden abweichender Meinungen ebenfalls Ziel der Kommunikationszusammenhänge, nicht die Herstellung von Konsens. Ein wechselseitiges Dulden unter pragmatischer Einschränkung der je eigenen Ansprüche ohne deren Aufgabe kann dabei als Kompromiss bestimmt werden.

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Konsens in anderen Bereichen als einer friedlichen sozialen Wohlordnung unter pluralistischen Bedingungen nicht nur sehr wohl ein relatives Recht besitzt, sondern sogar eine notwendige Bedingung ist: Im Falle identitätskonstitutiver personaler Liebesrelationen, die stets ein gemeinsames

von Toleranz, hier 80–83.

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Toleranz

Projekt erfordern,19 ist Konsens eine notwendige Bedingung, das Zulassen von Dissens freilich auch. Der Konsens, d.h. die Übereinstimmung mit dem Willen Gottes, ist Zeichen des vollendeten Reiches Gottes, nicht der geschichtlichen Welt. Zwischen geschichtlicher und vollendeter Welt muss zwar eine Kontinuität gedacht werden, aber eben auch eine unverfügbare Diskontinuität, die nur gewahrt ist, wenn der Übergang zwischen präeschatischer und eschatischer Welt nicht am Gericht vorbei gedacht wird. Wird Konsens als notwendige Bedingung für ein wohlgeordnetes Verhältnis der Religionen, d.h. menschlicher Basisgewissheiten, oder als notwendige Bedingung für gesellschaftliches Handeln überhaupt ausgegeben, findet eine Verwechslung zwischen Eschatischem und Präeschatischem und damit zwischen opus dei und möglicher cooperatio hominum statt. Konsensualistische Positionen sind insofern als millenaristisch zu kennzeichnen, als die klassischen millenaristischen Strömungen der Geistesgeschichte ebenfalls dieser Verwechselungsgefahr unterlagen.20 Millenaristischer Konsensualismus kann damit auch nicht die Rolle einer positiven Utopie spielen, die trotz ihrer universalen Nichtverwirklichbarkeit unter geschichtlichen Bedingungen doch teilweise das Gute verwirklichen kann. Diese Funktion von positiven Utopien liegt nämlich nur dort vor, wo diese als Ideal, nicht aber als Idealisierung verstanden werden (s. Kap. 8.2).21 Christliche Sozialethik hat sich also in allen ihren Bereichen und damit vor allem im Verhältnis zu anderen Religionen unter pluralistischen Bedingungen am kategorischen Imperativ des Duldens zu orientieren, der eben deshalb als „kategorisch“ zu kennzeichnen ist, weil er in conformitas mit dem göttlichen Handeln geschieht. „Kategorisch“ ist er freilich nur für Christen. Erzählerisch findet er seinen Ausdruck im Gebot der Feindesliebe, die mit dem Dulden und der Zulassung Gottes begründet wird (Mt 5,38–48; Lk 6,27–36). Aus dem kategorischen Imperativ des Duldens ergeben sich zwei hypothetische Imperative, d.h. zwei Imperative, die deshalb Gültigkeit haben, weil sie von diesem abgeleitet sind: Wenn menschliches Dulden möglich sein soll, dann müssen auch diese Imperative handlungsleitend sein. Dies ist erstens der dialogische Imperativ: Wer zum Dulden fähig sein will, muss wissen, was er duldet, d.h. er muss in der Lage sein, das Andere und respektvoll Duldenswürdige eben aus seiner Perspektive als Anderes zu erkennen. Das geht aber nur, wenn er mit den Vertretern der anderen Meinung, hier also mit den Vertretern anderer religiöser Gewissheiten, im bleibenden Dialog steht. 19 Vgl. Mühling, M., Gott ist Liebe, 286–293. 20 Vgl. Mühling, M., Eschatologie, 263–292. 198–220. 21 Vgl. Rescher, N., Pluralism, 195–198.

millenaristischer Konsensualismus

Imperativ des Duldens

dialogischer Imperativ

284

Toleranz und die Religionen Schutz des Duldens

Dies ist zweitens die Forderung nach einem formalen Schutz des Duldens gegenüber denjenigen, die der Forderung nach dem Dulden nicht nachkommen. Dulden beinhaltet ein breites Spektrum, von Einwilligen bis hin zum leidenden In-Kauf-Nehmen. Aber Dulden hat auch seine Grenzen, nämlich bei Zwang, bei erpresserischem Chauvinismus und bei Konformismus, der die eigene Gewissheit verleugnet.22 Respektvolles Dulden im Dialog der Religionen ist daher nur dann möglich, wenn dieser Dialog tatsächlich vor dem Missbrauch durch Zwang geschützt ist, indem formale Regeln diesen Dauerdialog aufrechterhalten können. Diese formalen Regeln bestehen in einer verlässlichen politischen Rechtsordnung, die durch ein zuverlässiges Gewaltmonopol geschützt ist.23 Aufgabe der politischen Rechtsordnung ist damit nicht die Generierung von gesellschaftlichem Heil und nicht die Generierung von Konsens, sondern der Schutz des dialogischen Duldens – also die Wehrung des Bösen.

Fazit 90 Konsensualismus verwechselt Ideal und Idealisierung. Als Idealisierung ist er aber eine zukünftige Utopie, so dass er die Welt im Hier und Jetzt mit dem vollendeten Reich Gottes verwechselt. Nicht für eine gesellschaftliche Wohlordnung, sondern für perfekte Liebesbeziehungen ist Konsens eine notwendige Bedingung. Für das Leben der Religionen untereinander in der Zivilgesellschaft gibt es aus christlicher Perspektive nur den Imperativ des Duldens (der Toleranz): Das Andere ist als Anderes zu dulden (zu ertragen, zu tolerieren). Aus dem Imperativ des Duldens lassen sich der dialogische Imperativ und der Imperativ des Schutzes des Duldens durch die Rechtsordnung ableiten.

13.4 Toleranzfähigkeit

Toleranz

Basis einer wohlgeordneten Gesellschaft ist nicht Konsens in weltanschaulichen, ethisch-orientierenden Gewissheiten, sondern Toleranz der einzelnen Wirklichkeitsverständnisse und der Gemeinschaften, in denen sie gelebt werden, untereinander. Diese Toleranz lässt sich nicht allgemeingültig begründen, sondern nur perspektivisch. Exemplarisch wurde dies für den christlichen Glauben im letzten Abschnitt gezeigt, indem konsequent aus seinem Inhalt der Imperativ der Toleranz abgeleitet wurde. Er ist kategorisch, weil unter seiner Verneinung ein Selbstwiderspruch innerhalb des christlichen Glaubens auftreten würde. In einer wohlgeordneten Gesellschaft kommt nun auch anderen Wirklichkeitsverständnissen die Aufgabe zu, ein entsprechendes, an ihre jeweiligen Inhalte gebundenes Toleranzverständnis zu begründen und auszuweisen. Toleranz kann dabei Ver22 Vgl. Rescher, N., Pluralism,169.194. 23 Vgl. Herms, E., Rechtsbegründung.

285

Toleranzfähigkeit

schiedenes bedeuten. Man wird aber in funktionaler Hinsicht auf zwei Kennzeichen hinweisen können: Es muss anerkannt sein, dass es sich bei ethisch-orientierenden Gewissheiten um solche handelt, d.h. es muss anerkannt sein, dass es sich dabei um ein Grundelement des Handlungsbegriffs überhaupt handelt. Da Handeln aber immer Interaktion bedeutet und es keine kategoriale Trennung von Sozialund Personalethik geben kann, bedeutet dies auch: Es gibt keinen gesellschaftlichen Bereich, in dem weltanschauliche, ethisch-orientierende Gewissheiten nicht handlungsorientierende wären. Entsprechend kann Religion keine Privatsache sein. Wo dies zu geschehen scheint, dürfte eine Toleranzbegründung per se ausgeschlossen und unmöglich sein. Zweitens muss aber noch ein weiteres funktionales Kriterium erfüllt werden: Die prinzipielle Unverfügbarkeit der Glaubenskonstitution sowohl für die Gemeinschaft als auch für die Person, die die entsprechenden Gewissheiten innehat, muss anerkannt sein. Dies ist leichter, wenn es sich um transzendentalistische Wirklichkeitsverständnisse und nicht nur um immanentistische handelt. Aber es ist auch bei immanentistischen Wirklichkeitsverständnissen nicht ausgeschlossen: Denn die Summe aller welthaften Einflüsse kann zwar als hinreichend für die Konstitution von Wirklichkeitsverständnissen angesehen werden, aber es kann anerkannt sein, dass diese prinzipiell nicht verfügbar, steuerbar und beherrschbar sind. Der negative Test bietet die Frage, wie eine Wirklichkeitsverständnisgemeinschaft mit ihren Apostaten umgeht, da dies als der exemplarische Fall von Toleranz bezeichnet werden kann. Auf diese Weise kommt man hinsichtlich der Toleranzfähigkeit von Wirklichkeitsverständnissen zu folgendem Klassifikationsschema: Die im Handeln vorausgesetzten Gewissheiten zerfallen in solche, die das Faktenwissen betreffen und daher empirisch im Prinzip testbar sind, und solche, die nicht im Prinzip empirisch testbar sind. Diese, und nur diese, sind weltanschauliche Gewissheiten. Unter ihnen kann man diejenigen Gewissheiten religiöse Gewissheiten nennen, die prinzipiell davon ausgehen, dass die Summe aller welthaften Ereignisprozesse, also die Summe aller sozialen, biologischen und selbstgewählten Bildungsfaktoren, nicht hinreichend für die Ausbildung der entsprechenden Gewissheit sein kann. „Religionen“ in diesem Sinne sind per definitionem toleranzfähig. Jede Religion hört auf, eine solche zu sein, wenn diese Bedingung nicht respektiert wird: Wo methodische Mission per Automatismus zum Erfolg führen soll, wo Apostaten verfolgt werden, hören Wirklichkeitsverständnisse auf, Religionen zu sein. Wird die Summe aller welthaften Beziehungen als hinreichend zur Konstitution des entsprechenden Wirklichkeitsverständnisses angesehen, handelt es sich im Prinzip um „Ideologi-

keine Privatsache

Unverfügbarkeit der Glaubenskonstitution

Test

Klassifikationsschema

286

Toleranz und die Religionen

Intoleranz

en“. Auch solche Ideologien können noch Toleranz zulassen, nämlich dann, wenn die Summe dieser welthaften Konstitutionsbeziehungen als nicht lehr- und nicht steuerbar angesehen wird. In diesem Falle handelt es sich um prinzipiell nicht totalitäre Ideologien. Wird die Summe der rein welthaften Konstitutionsbedingungen als steueroder lehrbar angesehen, ist prinzipiell Toleranz ausgeschlossen oder wird nur widerwillig gewährt. In diesem Falle kann man von im Prinzip totalitären Ideologien sprechen. An dieser Intoleranz findet aber auch die Toleranz der pluralismusfähigen Wirklichkeitsverständnisse ihre Grenzen. Deutlich ist, dass nun ihrerseits die pluralismusfähigen Wirklichkeitsverständnisse zwar werbende, aber keine per se überzeugenden Argumente in der Hand haben können, um Personen von nicht toleranzfähigen Wirklichkeitsverständnissen und deren Überzeugungen abzubringen, ohne ihrerseits totalitär zu werden und gegen ihr eigenes Wirklichkeitsverständnis zu verstoßen. Auch in diesem Falle sind Dialogbemühungen die wichtigste Aufgabe. Auch die Intoleranz ist insofern zu tolerieren. Sie ist vor allem auch von Angehörigen anderer toleranter Wirklichkeitsverständnisse und deren Gemeinschaften zu tolerieren. Sie findet aber ihre Grenze, wenn der Dialog über Wirklichkeitsverständnisse durch Intoleranz generell verunmöglicht wird. In diesem Fall ist es Aufgabe des Staates – nicht von Wirklichkeitsverständnisgemeinschaften –, zu sanktionieren. Da Angehörige des Staates zugleich immer auch zu Wirklichkeitsverständnisgemein-

Ontologische Gehalte

Implizite oder explizite,, handlungsmitbestimmende Existenzbehauptungen

Weltanschauliche Gehalte W

Nicht prinzipiell empirisch testbar

Religiöse Gehalte

Summe personaler,, sozialer & natürlicher Faktoren ist nur notwendige Bedingung zur Konstitution K

Faktenwissen

Prinzipiell empirisch testbar

Ideologische Gehalte

Summe personaler,, sozialer & natürlicher Faktoren ist hinreichende K Bedingung zur Konstitution

Nicht-Totalitär T

Summe der Konstitutionsfakto K Konstitutionsfaktoren ren wird als nicht-steuerbar & nicht lehrbar erlebt: relative k Unverfügbarkeit

T Totalitär Summe der Konstitutionsfakto K Konstitutionsfaktoren ren wird als steuerbar & lehrbar V Verfügbar k keit erlebt: Verfügbarkeit

Abb. 36: Wirklichkeitsverständnisklassifikation bzgl. ihrer Toleranzfähigkeit

287

Toleranzfähigkeit

schaften gehören, können sie so in Konflikte geraten, die – gegen Luther24 – durchaus Schuld bewirken können. Auch hier gibt es kein gutes Handeln, sondern nur ein vorzuziehendes, zu dem die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und sich ggf. der Schuld auszusetzen, dazugehört. Wirklichkeitsverständnisgemeinschaften sind selbst nicht homogen. Sie waren es geschichtlich nie, unterliegen aber in der Gegenwart einer gesteigerten Binnenpluralisierung. Diese kann so weit gehen, dass einzelne Personen aufgrund von Wirklichkeitsverständnissen handeln, die aus derart heterogenen Traditionen und Elementen bestehen, dass man von einer Patchworkreligiosität sprechen kann, die im Einzelfall von nur einer Person geteilt wird und einem schnellen Wechsel unterworfen ist. Aber auch dann ist ihr kommunitärer Aspekt immer vorhanden. Auch Patchworkwirklichkeitsverständnisse einzelner Personen existieren nur aufgrund ihres Eingebettetseins in Gemeinschaften und wirken auf diese zurück. Die Aufgabe des Dialogs der Religionen ist daher auch auf diese Wirklichkeitsverständnisse auszuweiten.

Patchworkreligiosität

Fazit 91 Da inhaltliche Kriterien zur Toleranzbegründung nur aus den unterschiedlichen und konkurrierenden Wirklichkeitsverständnissen selbst angegeben werden können, gibt es keine allgemeingültige Toleranzbegründung. Es lassen sich aber für eine Gesellschaft funktionale Kriterien benennen, die ein Wirklichkeitsverständnis erfüllen muss, um toleranzfähig zu sein: Erstens muss anerkannt sein, dass weltanschauliche Gewissheiten generell ein Element jeglichen Handelns sind, zweitens muss durch inhaltliche Kennzeichen eine Unverfügbarkeitsbegründung der Konstitution des jeweiligen Wirklichkeitsverständnisses vorliegen. Ein Test der Toleranzfähigkeit besteht in der Frage, wie einzelne Wirklichkeitsverständnisse mit ihren Apostaten umgehen. Folgendes Klassifikationsschema kann benutzt werden: „Religionen“ bezeichnen nicht-immanentistische Wirklichkeitsverständnisse, in denen die Summe der Konstitutionsfaktoren des jeweiligen Wirklichkeitsverständnisses alle welthaften Relationen übersteigt. Ideologien bezeichnen solche Wirklichkeitsverständnisse, in denen die Summe der Konstitutionsfaktoren des jeweiligen Wirklichkeitsverständnisses als identisch oder kleiner als alle welthaften Relationen angesehen wird. Nicht totalitäre, d.h. toleranzfähige Ideologien gehen davon aus, dass diese Summe aus inhaltlich prinzipiellen und zu spezifizierenden Gründen nicht lehrbar und nicht steuerbar ist. Totalitäre oder nicht toleranzfähige Wirklichkeitsverständnisse verneinen dies.

24 Vgl. Luther, M., WA 19, 625–626.

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Toleranz und die Religionen

Intoleranz ist von den Wirklichkeitsverständnisgemeinschaften untereinander zu dulden. Verhindert sie Dialog, ist es Aufgabe des Staates, gegen diese Intoleranz vorzugehen. Die sanktionierend handelnde Person kann dabei in ethische Konflikte geraten, die es unter den Bedingungen vorzuziehenden Handelns unter bewusster Verantwortungsbereitschaft zu übernehmen gilt.



Literaturempfehlung Rescher, Nicolas: Pluralism. Against the Demand for Consensus, Oxford – New York u.a. 1993. Bernhardt, Reinhold (Hg.): Horizontüberschreitung, Gütersloh 1991. Schwöbel, Christoph/Tippelskirch, Dorothee (Hg.): Die religiösen Wurzeln der Toleranz, Freiburg 2002. D’Costa, Gavin (Hg.): Christian Uniqueness Reconsidered, Maryknoll 1990. Mühling, Markus (Hg.): Gezwungene Freiheit? Personale Freiheit im pluralistischen Europa, Göttingen 22009.

Glossar

Alterität – Andersheit Askription – Zuschreibung conservatio – (lat.) „Erhaltung“ creatio continuata – (lat.) „fortgesetzte Schöpfung“, d.h. Gottes Handeln zur Welt ist notwendige Bedingung jeden welthaften Ereignisses creatio ex nihilo – (lat.) „Schöpfung, aber nicht aus etwas“, d.h. Gottes Handeln zur Welt ist hinreichende Bedingung zur Existenz der Schöpfung deontologische Ethik – Pflichtenethik Dezisionismus – Theorie, die die voluntaristische Entscheidung eines Entscheidungsträgers als grundlegend für ethische Standards sieht Diskursethik – Ethik, die aus den Bedingungen der Möglichkeit des Diskurses ethische Standards gewinnt Emergenz – Deutung einer Ereignisfolge, z.B. der der Evolution, nach der jede folgende Entwicklungsstufe aus den vorhergehenden nicht ableitbar, nach Eintritt aber erklärbar ist Emotivismus – Auffassung, dass ethische Ausdrücke (Pflichten, Normen, Wertaussagen, Imperative) keinen kognitiven Gehalt haben, sondern Einstellungen einer Person ausdrücken epistemisch/epistemologisch – die Erkenntnis betreffend/die Erkenntnistheorie betreffend eschatisch/eschatologisch – das Letztgültige/die Lehre von dem Letztgültigen betreffend eschatische Ethik – am Letztgültigen orientierte Ethik; d.h. Ethik, die gegenwärtiges Handeln von der Zukunft der Vollendung des Reiches Gottes her motiviert sieht etsi mundus non daretur – (lat.) „als ob es die Welt nicht gäbe“; in Anlehnung an Hugo Grotius’ (1583–1645) Prinzip des methodischen Atheismus („etsi deus non daretur“ (lat.) – „als ob es Gott nicht gäbe“) methodisches korrektives Prinzip zur Sicherung der Gottheit Gottes eudaimonia – (gr.) „Gutbegeistertheit, Glückseligkeit“ Eutychianismus/Monophysitismus – Häretische Auffassung zur Lehre von der Person Christi, nach der Christus nur eine, d.h. göttliche Natur zukommt. Evangelium – Form der Liebe zu Gott und den Menschen, die verheißen ist (promissio), d.h. das, was Gott für die Menschen tut; bezogen auf das Gesetz Frühscholastik – Philosophie und Theologie des Mittelalters bis ca. 1200 Gesetz – Form der Liebe zu Gott und den Menschen, die geboten ist, d.h. das, was Gott vom Menschen getan haben will, dieser aber nicht erbringen kann. Primäre Funktion ist die Überführung der notwendigen Sündhaftigkeit des Menschen (usus elenchticus); bezogen auf das Evangelium Gesinnungsethik – nach Max Weber (1864–1920) jede Ethik, die die Handlungsfolgen und Mittel aus der ethischen Betrachtung ausblendet

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Glossar Gewissen – die relationale, urteilende Instanz zwischen Handlungsbewusstsein und Normbewusstsein Gewissheit, Gewissheiten – (von lat. certitudo) im Handeln vorausgesetzte, ausdrückliche oder unausdrückliche Annahme, die handlungsleitend wirkt, aber im Gegensatz zur Sicherheit (lat. securitas) korrigierbar ist Gewissheiten, weltanschauliche – Gewissheiten, die nicht prinzipiell empirisch testbar sind Gleichursprünglichkeit – zwei basale oder grundlegende, nicht weiter ableitbare Instanzen sind wechselseitig füreinander konstitutiv Güterethik – Ethik, die die Frage nach den erreichbaren Handlungsgütern oder -zielen in den Mittelpunkt der ethischen Reflexion stellt Hinreichende Bedingung – logische Implikation, Wenn-dann-Verbindung der Art „immer oder stets wenn p, dann q“ Hochscholastik – Theologie und Philosophie des Mittelalters, ab ca. 1200 bis ca. Mitte des 14. Jh. Humes Gesetz – Annahme, dass aus Seinsaussagen keine Sollensaussagen folgen Hypothetische Imperative – Imperative, die abhängig von einer Bedingung sind Ideal – Utopie, die zur Motivation ihrer teilweisen geschichtlichen Verwirklichung dienen kann Idealisierung – Abstraktion von der Wirklichkeit zu hermeneutischen Zwecken unter bewusster Ausblendung wirklichkeitsbestimmender Faktoren Implikation – s. Hinreichende Bedingung Individualismus/Liberalismus – Auffassung, die die einzelne Person ihrem Gemeinschaftsbezug vorgängig denkt Inkompatibilismus – Annahme, dass menschliche Freiheit und kausale Bestimmung nicht vereinbar sind Interaktionsordnungen – gesellschaftliche Aufgabenbereiche, die in jeder Gesellschaft durch Interaktion zu erbringen sind, d.h. das Religionssystem, das politische System, das ökonomische System und das wissenschaftliche Bildungssystem Intuitionismus – Auffassung, dass ethische Sprachformen, Wertaussagen, Normen, Imperative etc. nicht definierbar, sondern unableitbar, aber dennoch einsehbar sind Kategorischer Imperativ – Imperativ, der unabhängig von Bedingungen gilt Kompatibilismus – Auffassung, nach der menschliche Freiheit und kausale Bestimmtheit vereinbar sind Kooperation – Interaktion, in der ein gemeinsamer Mitteleinsatz erfolgt lex aeterna – (lat.) „ewiges Gesetz“, v.a. in der thomasischen Ethik Mandatenlehre – Dietrich Bonhoeffers (1906–1945) Reformulierung der Ordnungslehre; bezogen auf Familie, Staat, Kirche, Arbeit als göttliche Gebote Menschenrechte – naturrechtlich geltende, nicht notwendig kodifizierte Rechte, die jedem einzelnen Menschen unverlierbar zukommen oder zukommen sollen Naturalistische Ethik – Ethik, die den Begriff des Guten, Norm- und Wertbegriffe durch außerethische Sachverhalte für definierbar hält

Glossar Naturalistischer Fehlschluss – Auffassung von G.E. Moore (1873–1958), nach der jeder Definitionsversuch des Guten oder anderer ethischer Begriffe durch Außerethisches abgelehnt wird; manchmal auch Bezeichnung für Humes Gesetz Naturrechtsethik – Ethik, in der die Auffassung, dass es unabhängig von menschlicher Setzung gültige Gesetze oder ethische Normen gibt, im Mittelpunkt steht Nestorianismus/Trennungschristologie – als häretisch angenommene Auffassung, nach der die göttliche und die menschliche Natur Christi je für sich vollständig sind, aber die Einheit der Person verlorengeht Notwendige Bedingung – logische Replikation, d.h. Wenn-dann-Verbindung der Art „nur wenn p, dann q“ ontisch/ontologisch – das Sein betreffend/die Wissenschaft des Seins betreffend Ontologie, moralische – Wirklichkeitsverständnis, von dem die genaue Bedeutung von Normen, Werten, Pflichten u.a. ethischer Begriffe holistisch abhängt; vor allem von Ch. Taylor (*1948) genutzt Ordnungstheologien – Theologien, die davon ausgehen, dass es bestimmte, von Gott der Schöpfung eingestiftete Normen bestimmter Gesellschaftsbereiche gibt Parusie – Eintrittsgestalt des vollendeten Reiches Gottes durch die unmittelbare Gegenwart Christi, z.T. auch verwandt für „Wiederkunft Christi“ Perfektibilität – Vorstellung, dass die menschliche Person und/oder Gemeinschaft sich geschichtlich vervollkommnen lässt Pflichtenethik – deontologische Ethik Pluralismus – Zustand des Religionssystems einer Gesellschaft, in der die einzelnen Religionsgemeinschaften in ihren Wahrheitsansprüchen konkurrieren, ohne durch einen gemeinsamen zivilreligiösen Horizont verbunden zu sein Prädikation – Akt der Zusprechung von Eigenschaften zu Instanzen Realismus, universalienrelevanter – Auffassung, nach der die Allgemeinbegriffe Realität vor den Einzeldingen besitzen Rechtspositivismus – Auffassung, dass das Recht lediglich in der Setzung des Gesetzgebers besteht Reduktionismus – Auffassung, eine bestimmte Theorie könne vollständig durch die Termini einer anderen Theorie redefiniert werden, nicht aber umgekehrt Regeln, adeontische – Regeln, die nicht übertreten werden können Regeln, deontische – Regeln, die übertreten werden können Regeln, konstitutive – Regeln, die einen Gegenstandsbereich konstituieren Regeln, regulative – Regeln, die einen bereits vorhandenen Gegenstandsbereich regulieren Relat – Instanzen, die miteinander in Relation stehen Relation – Beziehung zwischen Relaten Religion – Summe der ethisch orientierenden, handlungsmotivierenden Gewissheiten Schöpfungsordnung – Vorstellung, dass es von Gott der Schöpfung eingestiftete Ordnungen gibt

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Glossar Semiotik – Lehre vom Zeichen Spätscholastik – Theologie und Philosophie des Mittelalters ab ca. der Mitte des 14.Jh; oft voluntaristisch ausgerichtet transzendent – „jenseits einer bestimmten Instanz“ transzendental – „die Bedingung der Möglichkeit einer bestimmten Instanz betreffend“ Tugendethik – Ethik, die die personalen und gemeinschaftlichen Voraussetzungen des Handelns in den Mittelpunkt stellt Verantwortungsethik – Ethik, die die Folgen und Mittel des Handelns in den Mittelpunkt stellt Vertragstheorien – Theorien, die Gemeinschaftsbildung als sekundär durch Vertragsbildung der unabhängig von Gemeinschaft existierenden Personen konstituiert sehen Voluntarismus – Auffassung, dass der Wille (lat. voluntas) die alle anderen Prädikate Gottes (oder davon abgeleitet des Menschen) bestimmende Eigenschaft darstellt Wertethik – Ethik, die die Betrachtung ethischer Werte in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellt Zwei-Regimenten-Lehre – Lehre von Gottes Handeln und der Mitarbeit des Menschen, die Gottes Handeln zur Erhaltung der Welt von Gottes Handeln zur Zurechtbringung und Vollendung der Welt unterscheidet

Literatur

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Register

Namen Verzeichnet sind nur im Haupttext genannte Namen. Alexander von Hales 242 Alexy, R. 213 Althaus, P. 69f., 72f. Apel, K.O. 213f., 216 Aristoteles 56, 216–219, 221–225, 229 Athanasius 244 Augustin 36, 56, 126, 139, 156, 238, 244 Austin, J.L. 213 Ayer, A.J. 88 Barth, K. 122, 175, 227 Bentham, J. 77, 142 Biel, G. 65 Bloch, E. 188f., 256 Boethius, A.M.S. 236–238, 244 Bonaventura 245, 249 Bonhoeffer, D. 35, 99–102, 227 Brümmer, V. 278 Brunner, E. 70 Buber, M. 257 Bultmann, R. 175 Cicero, M.T. 56, 63, 242 Collingridge, D. 170 Cone, J.H. 174–180, 188, 206 Dawkins, R. 74 Derrida, J. 193 Descartes, R. 240 Donne, J. 250 Duns Scotus, J. 65 Ebner, F. 257 Elert, W. 70, 72, 122 Erskine of Linlathen, Thomas 254 Etzioni, A. 216 Euripides 198 Feuerbach, L. 130 Fichte, J.G. 185, 199, 209, 240 Fischer, J. 258

Flacius, M. 189 Frankfurt, H.G. 151, 219 Freud, S. 199 Goffman, E. 257 Gutierrez, G. 178 Habermas, J. 213f., 216, 280 Härle, W. 200, 202 Harnack, A.v. 158 Hauerwas, S. 228–234 Haynes, J.D. 14 Hegel, G.W.F. 199 Heidegger, M. 193 Herms, E. 99, 102–105 Hirsch, E. 70, 72f. Hobbes, Th. 208 Hubbeling, H.G. 163 Hume, D. 17, 23, 76, 88 Husserl, E. 193 Jonas, H. 183, 186–190, 193, 195 Kant, I. 108–115, 127, 132, 136, 147, 149f., 185, 199, 227, 242, 249, 258 Kierkegaard, S. 89, 193 King, M.L. 174 Küng, H. 273, 275 Künneth, W. 69–71, 73 Kutschera, F.v. 111 Leibniz, G.W. 77 Lem, S. 241 Lessing, G.E. 276 Levinas, E. 193, 257 Libet, B. 14 Locke, J. 145, 208f., 211–213, 237–241 Luhmann, N. 18 Luther, M. 17, 36, 116–120, 124, 126, 131, 158, 200, 202f., 227, 270, 281, 287 Mach, E. 149 MacIntyre, A. 81, 89, 211, 216–218, 225, 228 Marius Victorinus 57

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Register Mead, G.H. 257 Mill, J.S. 142–144 Moltmann, J. 175–177 Moore, G.E. 83–87, 150 Newman, J.H. 199 Nietzsche, F. 89, 193, 199 Nozick, R. 211–213, 217 Nygren, A. 125f.

Walzer, M. 216 Weber, M. 183, 185–187, 195, 196 Weiss, Johannes 157 William von Occam 65 Wittgenstein, L. 77, 244 Wright, G.H.v. 77 Yoder, J.H. 229

Origenes 158

Bibelstellen

Pannenberg, W. 240 Parfit, D. 242f. Pascal, B. 181 Peirce, Ch.S. 213 Platon 20, 56, 89 Plotin 57 Prior, A.N. 81f.

Verzeichnet sind nur im Haupttext genannte Bibelstellen. Gen 1 97 Gen 3,5 35 Gen 3,12f 192 Ex 20,1–17 116

Rawls, J. 210–213, 216f., 280 Rescher, N. 280 Richard von St. Victor 243–245, 247, 250 Ricoeur, P. 193 Ritschl, A. 115, 270 Rothe, R. 161–163, 174 Rousseau, J.-J. 208

Lev 19,18 120, 123 Dt 5,6–21 116 Dt 6,5 120 1.Sam 24,6 198 Jer 31,33 163

Sartre, J.-P. 193 Scheler, M. 147–151, 154, 167 Schleiermacher, F.D.E. 34, 160f., 227 Schmitt, C. 75 Schweitzer, A. 157 Schwöbel, Chr. 278 Searle, J. 81f., 213 Sidgwick, H. 84 Singer, P. 144–146, 237 Spencer, H. 74 Stevenson, C.L. 88 Sutherland, S. 278 Tanner, K. 235 Taylor, Ch. 152f., 155, 216 Tertullian 243 Thomas von Aquin 56, 60, 62–64, 199, 226, 228f., 237, 244 Tillich, P. 117, 175 Ulpian 209

Ps 145,10–17 157 Dan 4,34 157 Tob 4,16 133 Mt 5,17–20 158 Mt 5,21f 120 Mt 5,27–30 120 Mt 5,38–48 283 Mt 5,45 parr 134 Mt 7,1 268 Mt 7,12 133 Mt 7,21 157 Mt 20,21 158 Mk 1,14f 157 Mk 4,30–32 157 Mk 5,43f parr 134 Mk 10,18 37, 54

Register Mk 10,23–25 157 Mk 12,30f parr 120 Mk 14,25 157, 159 Lk 6,27–36 283 Lk 10,9 157 Lk 11,20 157 Lk 12,8f 158 Lk 13,18–21 157 Lk 13,23–30 157 Lk 13,28–30 157 Lk 14,15–24 158 Lk 16,16 157 Lk 17,20f 158 Joh 13,34f 135 Joh 15,13 135 Joh 18,36 158 Röm 1,19 56 Röm 2,15 198 Röm 8,38f 182 Röm 14,17 157f 1.Kor 6,9f 157 1.Kor 15,14–19 181 1.Kor 15,24f 158 1.Kor 15,50 157 Gal 5,21 157 Phil 2,9–11 158 Kol 1,15–17 158 1.Thess 2,10–12 157 1.Thess 5,2 181 1.Joh 4,1–21 135 1.Joh 4,8.16 95, 130, 182 Apk 21,2 157

Sachen Verzeichnet sind nur im Haupttext genannte Sachverhalte Abenteuergeschichten 229

Abhängigkeit des Willens 252f. Absicht 270 absolute Selbstbestimmung 265 absolut retrospektiv Überraschendes 172f. Affekte 121, 126, 165, 206, 219, 229, 252–255, 264 affektiver Zustand 121 Affektivität 251f. agape 125–127, 130 Akzidentien 236 aletheia 221 allgemeine Substanz 236 allgemeine Tugenden 264f. Alltagserfahrung 130 Alterität 242, 249, 257 Alterität und Differenz 246, 248 altprotestantische Orthodoxie 227 Altruismus 121 amor 125, 130 Amtswürde 242 andreia 221 Anerkennung durch die Gemeinschaften 270 Angeberei 221 angeborene Gotteserkenntnis 198 Angesicht 258 Anlage 269f. Anthropologie 189, 193, 240, 258 Apostaten 285f. arete 218f., 221–223, 225 Argwohn 264 aristotelische Ethik 216 aristotelisch-thomistische Ethik 217 Askription 242f. askriptiver Personbegriff 242f assensus 255 Atheismus 274 Atheismusstreit 185 Auferstehung/Auferweckung 177, 245, 253, 257 Auferstehung Christi 97, 173f., 181, 206 Aufklärung 187, 189, 213 Aufmerksamkeit 180 Auskunftspflicht 197 autobasileia 231 Autonomie 110f., 132f. Autorität, freundschaftliche 263

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Register Basisgewissheiten 283 Befreiungstheologie 174, 178 Befreiungstheologie, schwarze 175 Begeisterungsfähigkeit 263, 265 Begierde 221 Begründung einer Ethik 264 Beitragsprinzip 212 beliefs 251 Benedikt, neuer 218 Benediktiner 217 Bereitschaft, nach dem Lustprinzip 264 Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen 287 Bereitschaft zur Reue 264 Bereitschaft zur verantworteten Schuldübernahme 264f. Bergpredigt 185 Berufspolitik 185 Berufung 270 Besitzstandswahrung 213 besonderes, selbsterschlossenes Voneinander-und-Füreinandersein 247f., 250 Besonderheit 246, 250 Besonderheit der Personen 248 Besonnenheit 263, 265 Bestimmung 230, 250, 258f. Beziehungsgefüge 251f. Beziehung 244, 247, 268 Bezogenheit 246, 250 Bilderverbot 116 Bild Gottes 250, 282 billige Gnade 203 Billigkeit 222 Binnenpluralisierung 287 biologische Neigung 264 biophysische Bestimmtheit der Person 266 Black-Power-Bewegung 178f. Black Theology 175, 180, 206 caritas 125f., 130 Charakter 222, 225, 230–234, 269 Charakterbildungsprozess 232, 266f., 269 Charaktereigenschaften 270 Charaktertugenden 221 Charakterzug 251f. Charismen 269–271

Chauvinismus 127, 284 Christologie 236 christozentrische Verengung 233 cogito ergo sum 240 Collingridge-Dilemma 170, 173 concerns 251 condilectus 128, 130 conformitas 282f. conscientia 198f. conscientia antecedens 200, 203, 206 conscientia consequens 200, 203 cooperatio hominum 283 creatio continuata 95, 98 creatio ex nihilo 95, 98, 246 Dämonische, das 117 Dankbarkeit für das Geschenk der Schöpfung 262, 264f. Dankesbereitschaft 264 Dankesbereitschaft für gewährte Vergebung 265 Definition der geschaffenen Person 256f. Dekalog 116–118, 120 deontische Logik 163, 167, 249 Deontologie 213, 225 Diakonie 167, 270 dialektische Theologie 227 Dialog 283f. Dialogbemühungen 286 dialogischer Imperativ 283f. dialogischer Personalismus 257 Dialogpartner 258 dianoetische Tugenden 221 Diebstahl 224 Differenz 249 dikaiosyne 221 dilectio 125 Diskontinuität 182 Diskurs 213, 215f. Diskursethik 213–216 Diskursgrundsatz 214 Diskursregeln 213 distributive Gerechtigkeit 222 Doppelregel / Doppelgebot der Liebe 119f., 122f., 125, 133, 164, 166, 202– 204, 206f., 213 doppelte Hingabe 253, 255, 257 Dreiteilung der Tugendlehre 264 Dulden 282f.

Register Dulden Gottes 281 Duldenswürdiges 283 durch Gottes trinitarisches Handeln verursachte Bestimmtheit 266 Ehrgeiz 221 Eigengesetzlichkeit 183 Eigenschaft 237 Eigentum 209, 211 ein durch das eschatische Gericht konstituiertes, im gegenwärtigen Vertrauen oder Misstrauen auf die promissio selbsterschlossenes, partikulares Voneinander-und-Füreinandersein. 256f Einsatz des eigenen/fremden Lebens 178 Einsicht 252, 255 Einzelfalllösungen 261 Eizelle 260 eleutheriotes 221 Embryo 260f. Emergenz 169 Emotionen 252 Emotivismus 87–91, 217 empirische Gewissheiten 248 Endgericht 240f. Energieerzeugung 189 Engherzigkeit 221 Enthaltsamkeit 221 Entschädigung 192, 197 Entwicklungstheorien 232 episodische Affekte 252 episteme 221 Ereignisprozesse 285 Ereigniszusammenhang 246 Erfahrung 273 Erfüllung des Gesetzes 122 erhaltendes Regiment 282 Erhalter 281 Erhaltung 189 Erhaltungsordnung 104, 106 Erkenntnistheorie 241 Erlösungswünsche 231 Eros 125–127, 130 Eros und Agape 125 Erschließung 247 Erschlossensein 248f. Erstreben 221

Erwartungen 168f., 172, 177, 179f., 196, 249, 268 Erwartung, kontrafaktische 177 Erwartungshorizonte 172, 177 Erzähltradition 245 eschatischer Personbegriff 257 Eschatologie 174, 189, 241, 256f., 283 Ethik der Hoffnung 188 Ethik der Rechtfertigung 207 Ethik Gottes 248, 250 ethischer Konflikt 207, 261, 288 ethischer Konsens 276 Ethos 217, 235, 248, 250, 264, 272, 277 etsi mundus non daretur 94, 246 eudaimonia 218f., 221, 223–225 eutrapelia 221 Eutychianismus 236 Evangelium 98, 121, 133, 164, 207 Existenz 248 Exklusion 265 Expertendilemma 170 ex-sistentia 247, 250 Extrapolation 172, 177, 180 feelings towards 251 Feigheit 219, 221 Feindesliebe 283 fides caritate formata 228 fiducia 133, 248f filiale Liebesbeziehung 262, 265 Folgen 186, 195, 197, 228 forma 226, 238 fortitudo 226 forum externum 196, 203 forum internum 198, 200f. französischer Postmodernismus 257 Freigiebigkeit 221 Freiheit 176, 212, 233, 273 Freiheitsprinzip 210 Fremder als Gast 230 Freundschaft 222–224, 254 Frieden 213, 273 fröhliches Gewissen 202f. Fundamentalismus 275 Funktionalisierung 260f. Funktionalisierungsverbot 268 Furcht 168, 172, 187, 190, 219, 265 furchtlose Gelassenheit 182 Füreinandersein 248

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Register Gabe 269–271 Gabe des Geistes 270 Gastfreundschaft 263, 265 Gebet 254 Gebot 100, 132f., 226f. Gebot der Liebe 131 Geduld 231 Gefühle 128, 251f. Gegenwart Christi 254 Gehirnforschung 251 Gehirnwäsche 201 Gehorsam 226f. Geist, Heiliger 121, 131, 133, 164, 167, 173, 179f., 182, 206, 233, 244, 246, 253–257, 262f., 266, 269, 281 Geiz 221 Geld 209 Gemeindeorganisation 270 gemeinsames Projekt 262f., 265 Gemeinschaft 196, 208f., 212, 216f., 222–225, 229–233, 245f., 251, 254f., 257, 259, 261–265, 267–269, 271, 285 Generalisierbarkeitsannahme 111, 113 Gentechnik 189 gerechtfertigter Sünder 253 Gerechtigkeit 209, 211, 213, 221–223, 226, 263, 265 Gerechtigkeit als Besitzstandswahrung 213 Gerechtigkeit als Umverteilung 213 Gerechtigkeitsprinzipien 210 Gerechtigkeitstheorien 209, 212f., 222 Gericht 182f. geschaffene Person 251–253, 255f., 258 Geschehenszusammenhang 251 Geschenk 230, 233 Geschichte 230f., 233f., 240, 253, 264 Geschichte der Kirche 232 Geschichte Jesu 231–233 Geschichten 229f., 245f. Geschichtlichkeit 240–242 Geschichtlichkeit der Person 240 geschwisterliche Liebe 127, 131 Gesellschaft 106, 209, 277, 284, 287 Gesellschaftsvertrag 208, 212 Gesetz 121, 164 Gesetz und Evangelium 121f

Gesinnungsethik 110, 183, 185f., 188, 196f. getäuschte Subjektivität 240 getröstetes Gewissen 206 Gewaltbereitschaft 180 Gewaltfreiheit 178 Gewissen 198–203, 206 Gewissensfreiheit 198, 201, 203–205 Gewissheit 248, 281f., 284f. Glaube 226–228, 245f., 255, 266f., 270 Glaubensgemeinschaft 262 Glaubensgewissheit 265, 281 Glaubenskommunikation 245f. Glaubenskonstitution 245, 281, 285 Glaube und Werke 269, 276f. Glückseligkeit 218 Gnade 203, 206, 226, 228, 246, 256 Goldene Regel 119, 123, 133 Gottesbegriff 204f. Gottesbeziehung 129 Gottesdienst 270 Gotteserkenntnis 199 Gottesgemeinschaft 164 Gottesliebe 120f. Gottes Sein 131 Gottes Wesen 131 Gott Israels 245 Gott ist Ethos 248, 250 Gott ist Liebe 130 Großmut 221 Grund des Gewissens 204 grundlegende Tugenden 263 Gut 223 Gut, höchstes 163, 173, 177, 218, 226 Gutbegeistertheit 218, 225 Güter 223 Güterethik 160, 225, 233 gute Werke 267, 269 gutes Gewissen 200, 202 gutes Handeln 248, 250, 287 gutes Leben 218 Gutgläubigkeit 264 Gutsein 218 habitus 226, 228, 233 Haltung der relativistischen Annahme der Überzeugung des Anderen als gleich wahr 265 Haltungen 126, 130, 180, 219, 226, 230, 253, 262–264, 269, 271

Register Haltungen, die aus dem Missverständnis der Hinnahme der Welt als Gegebenheit entstehen 264 Handelnde 235 Handeln Gottes 245f, 248 Handelsbeziehungen 128 Handlungsbefähigung 264, 266 Handlungsbegriff 218, 225, 248, 250, 268 Handlungsbewusstsein 203 Handlungsdispositionen 126, 219, 226 Handlungsfähigkeit 209, 267 Handlungsfolgen 195, 268 Handlungsgewissheiten 280f. Handlungsmotivation 272 Handlungssituationen 264 Handlungsverzicht 188 Handlungszusammenhang 251 Hartherzigkeit 265 Heiligung 266, 269 Heilsordnung 106 heteronome Selbstunterwerfung 265 Heuristik der Furcht 187, 190 Hingabe 249, 253, 255 Hingabebereitschaft 262, 264f. hinreichende Bedingung 267, 269, 279f. historische Forschung 231 Hochherzigkeit 221 Hochscholastik 199, 225 höchstes Gut s. Gut, höchstes Hoffnung 168, 172f., 176–178, 180f., 188–190, 206, 226–228, 231, 249, 265 Hoffnung auf die Vollendung des Reiches Gottes 265 Hoffnungsethik 188, 190, 205, 207 Humes Gesetz 81–83, 85, 91 Humor 221 Hypostase 242, 244f. hypothetische Imperative 109, 111 Ideale 165, 167, 225, 284 ideale Gemeinschaft 224 Idealisierung 165, 167 Identifikation 246 Identität 129f., 203, 205, 217, 229, 237–241, 250 Identitätsansprüche 129

Identitätserwartungen 129 Identitätsfrage 237 Ideologien 286f. imago dei 250, 252, 258 imago dilectionis 258 imago personalitatis 258 imago trinitatis 258 Imperativ der Toleranz/des Duldens 283f. Imperativ des Schutzes des Duldens 284 Implikation 267 incommunicabilis existentia 243, 245, 247, 250 Individualethik 208 Individualismus 212f., 215f., 218, 230, 238f., 255 individua substantia rationa(bi)lis naturae 236, 238, 244 Individuation 237, 250 Individuationsfrage 236f. individuelle allgemeine Substanz 236–238 individuelle Verantwortung 193 Individuum 209, 212 in Freundschaften bestehendes Lebewesen 224f. Inkarnation 95f., 98, 179f., 253, 257 Inklusion 265 Interaktion 272 Interaktionsordnung 102 Internalisierung 199 Intersubjektivität 239 intolerante Rechthaberei 265 Intoleranz 286, 288 Introjektion 199 Intuitionismus 86f., 92, 217 In-Vitro-Fertilisation 259, 261 iustitia 226 justificatio sola gratia 246 kappadozische Theologie 244f. Kardinaltugenden 226, 228 kategorischer Imperativ 109–114, 127, 136, 186, 242 Kernenergie 189 Kirche 106, 230–232, 245, 262f., 265, 270, 281 Klassifikationsschema 285

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Register Kleinkinder 236 Klugheit 221, 226 Kokreativität 96, 99, 258 kollektive Verantwortung 193 Koma 236 Komatöse 236 Kommunikabilität 237 Kommunikation 245, 254, 258 Kommunikationsgemeinschaft 98, 106, 214, 216 kommunitäre Bestimmtheit 266 Kommunitarismus 216, 218, 257 kommutative Gerechtigkeit 222 Kompromiss 282 Konflikt 206f., 231, 260f. Konkarnation 164, 179f., 254, 257, 269 Konkurrenz von Wahrheitsansprüchen 278 Konsens 215, 273, 276–278, 280, 282 Konsens der Religionen 273 Konsensualismus 283f. konsensualistische These 276, 278, 280 Konsensustheorie 215 Konservativismus 190 Kontextuelle Theologie 175 Kontinuität 283 Kontrastgesellschaft 231f. Konventikelethik 127 Konversion 232, 255, 257 korrektive Tugenden 264f., 268 Kreuz 173, 177, 231, 245, 257, 282 kriecherische Servilität 264 Kriege / Kriegszustand 209, 277 Kunstfertigkeit 221 kurze Geschichte der Person 243 Laster 219, 221, 225, 251–253, 264f. Leben 246, 253 Leben Gottes 247 Lebensgeschichte 232, 257 Lebenspartnerschaft 128 Lebens- und Liebesgeschichte des dreieinigen Gottes 256 Legalisierung 261 lex aeterna 64f., 199 lex naturalis 64, 199 Liberalismus 218 Liebe 94–98, 126, 132f., 167, 193, 226, 228, 246–250, 252, 254, 262, 268

Liebe als filiale Beziehung 129f Liebe als Förderung 127, 130 Liebe als Freundschaft 130 Liebe als „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ 127, 130 Liebe als geschwisterliche Beziehung 129f. Liebe als reale Relation der „Freundschaft“ 128 Liebe als Sachbegehren oder Menschenbegehren 126, 130 Liebe als Wohlwollen 127, 130 Liebe Gottes 131 Liebesbegriff 248f Liebesbeziehung / Liebesrelation 129, 180, 247, 254, 262, 265, 282 Liebesgebot 119, 130 Liebesgebot, johanneisches 127 Liebesordnung 96–98 Liebesregel 263 Literalismus 178 Lob 192 Logik der Erwartungen 172 logische Definition des Reiches Gottes 164 Lüge 114 Macht 209 Mandatenlehre 99–102 manipulative Beziehungen 128, 180, 239, 247 Mäßigung 221, 226, 264f. materia 226 megaloprepeia 221 megalopsychia 221 Mensch als Liebeswesen 132 Menschenverständnis / -bild 208, 215, 218, 222 Menschenwürde 243 Menschsein 221 Mensch von Charakter 229 merkantile Handelsbeziehungen 180 mesotes 219 Metaerzählungen 245f. Metaperspektive 275, 277f. Millenarismus 189, 283 Mission 16f., 270, 281f. Missionsbegriff 166 Mitgeliebte 128 Mitte 219, 221, 225, 264f.

Register Mittel 196f., 223, 249 Modallogik 163, 167, 249 Monismus 275–277 monistische Bestimmung des Guten 179 moralische Ontologie 166, 189, 196, 199, 217, 252, 261, 264 Mord 118 Motivation zu ethischem Handeln 264 Mut 261, 263, 265 Nachahmung 222 Nächstenliebe 120f., 212 Nächstenliebegebot 123 Naherwartung 181 Narration 94, 97, 251f. narrative Identität der Person 217f., 229 narrative Theologie 234 narrativer Charakter 251 Natur 248 Naturalismus 274 naturalistischer Fehlschluss 83, 85 natürliche Ethiken 269 Naturrechtsethik / -lehre 209, 226, 228, 268 Naturzustand 209 Nebenfolgen 186, 206 Neopositivismus 89 Nepotismus 127 Nestorianismus 236 neuer kategorischer Imperativ 186f., 190 Neuplatonismus 57, 87 Neuzeit 216 Nichtperson 238, 242 nicht-totalitäre Ideologien 286f. Nonkognistivismus 87 Normbewusstsein 198, 200, 202f. Normen 197, 213, 215f., 249, 268, 276f., 280 notitia insita 199 notwendige Bedingung 267, 280 Nüchternheit 180, 263, 265 Offenbarung 94, 206 ökologische Krise 186 Ökonomie 282 ökonomische Handelsrelationen 247

Ontogenese 270 Ontologie 241 Ontologie der Person 245, 252 ontologische Revolution 244 opus dei 270, 283 opus hominum 270 Ordnung 96–98 ousia 244 Paradigma 239, 245 Paradigma der Substanz 239 Paradigma des Subjekts 239 partikulares, selbsterschlossenes Voneinander-und-Füreinandersein 256 Parusie 179, 181f. Patchworkreligiosität 287 Pazifismus 229 Perfektibilität 189 permissio 281 Person 111, 114, 128f., 193, 203–205, 208, 212, 217, 223f., 227, 229–268, 272, 281, 286f. persona 244 persona est hypostasis distincta proprietate ad dignitatem pertinente 242 personale Bezogenheit 252 personale Identität 204 Personalisierungsverbot 268 Personalität 237–243, 250, 252, 256, 260f. Person als eschatischer Begriff 240 Personbegriff 235f., 239f., 242–246, 251, 257f, 261 Person Christi 231, 236 Persondefinition 237–239, 241, 244 Personsein 239f., 243, 254, 257f. Personsein im Werden 257 Person und Werk 231 Personwürde 242f., 258, 260f. Perspektive 274f. Perspektiven der Ethik 269 Perspektiven des Handlungsbegriffs 268 Pflicht 111, 114, 196, 232 Pflichtenethik 107f., 160, 185, 197, 217, 227f., 233, 268 Pflichterfüllung 228 philia 125, 129, 130, 222 philotimia 221

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Register phronesis 221 platonitas 237 Plötzlichkeit 181 Pluralismus 90, 205, 273, 275f., 280, 286 poiesis 221, 269 polis 222–224 Politik 183, 231, 282 Postmodernismus 257 Präambel 204 Prädikation 237 prädikative Personbegriffe 237, 238f. Präferenzen 268 pragmatischer Selbstwiderspruch 214, 216 Pragmatismus 213 praotes 221 Präpersonen 251f, 260f, 268 praxis 221–223, 235, 248, 250, 269 praxis pietatis 275 pricipium individuationis 238 Privatsache 205, 285 Projekt, gemeinsames 128f. promissio 121, 203, 207, 254 prosopon 244 prospektiv Überraschendes 172 prudentia 226 Pseudopersonalisierung 260f. Psychotherapie 201 radikal Böses 115 Rationalität 239 Raum 249 Raumzeitlichkeit 241 reale Relationen 128 Rechenschaftspflicht 196, 205, 207 Recht 223 Recht auf Eigentum 211f. Rechtfertigung 180, 182, 203, 206f., 227, 246, 254, 264, 266, 269 Rechts- und Pflichtbeziehungen 128 reflexiver, ethikmonistischer Konsens 275, 277 reflexiver, glaubensmonistischer Konsens 274, 277 Reformatoren 226–228 Regel 249, 254 Regel der Liebe 131f., 253 Reich der Zwecke 115

Reich Gottes 97, 162–165, 167, 173f., 176–182, 188f., 206, 230, 249, 256, 268, 279, 283f. Reich Gottes an sich 160, 167, 214 Reich Gottes auf Erden 160, 166f., 214 Relate 225, 246f., 250 Relation 94, 225, 244, 247 Relation ewiger Liebe 246 relationale Personbegriffe 245, 257f. Relationalität 237, 243, 252, 257f. Relationsgefüge 97 relativ-retrospektiv Überraschendes/ Erwartetes 172–174, 177 Religion(en) 205, 273–277, 280, 283, 285, 287 religiös-weltanschauliche Gewissheiten 272, 277, 285 Reue / Reuebereitschaft 203, 207, 265, 268 Richards Persondefinition 244f., 247f., 250 Rigorismus 122 Ringparabel 276 Risikobereitschaft 181 romantische Liebe 128 Sanftmut 221 Sanktionen 197 schesis 244 Schicksal 230 Schlafende 236 schlechtes Gewissen 202f. Schleier der Unwissenheit 210, 260f., 265 Schöpfer 245, 281 Schöpfung 95, 98, 164 Schöpfungshandeln 281 Schuld 192, 194, 287 Schuldübernahme 261, 268 Schuldübernahmebereitschaft 265 Schwarzfahrerproblem 113 Seele 238 Sein Gottes 246 Seinskommunikation 131, 133 Selbstannahme 133, 253f., 257 Selbstaufgabe 264f. Selbstbestimmung 253, 266 Selbstbeziehung 252 Selbsterleben 239, 241 Selbsterschließung 94, 281

Register selbsterschlossenes, besonderes Voneinander-und-Füreinandersein 252 Selbsterschlossenheit 238f., 246–248, 251–255, 257, 262, 266, 270 Selbstidentifikation 94 Selbstidentität 241 Selbstliebe 123, 127, 223, 253 Selbstmediation 249 Selbstmordattentate 188 Selbstoffenbarung 281 Selbstrechtfertigungsdrang 265 Selbsttäuschung 241 Selbstverschlossenheit 253 selbstverständliche Hinnahme oder gar Forderung von Vergebung 265 Selbstwiderspruch, pragmatischer 121 Selbstzerknirschung 265 Selbstzweifel 203 Selbsterschlossenheit 250 simul iusta et peccatrix 256, 264f., 281f. simul iustus et peccator 97f., 179f., 255, 257 sine vi sed verbo 201 Sittengesetz 276 Sohn 131, 133, 167, 179, 230, 244, 246, 253, 255, 257, 266, 281 sola gratia 264 Sollen 249 Sollen und Können 121 Sollen und Sein 167 Sollen und Wollen 167 sophia 221 sophrosyne 221 Sozialethik 208, 231, 234, 270, 283 Sozialisation 246, 270 Sozialisationsleistungen 245 Sozialität 239, 261 Sozialpsychologie 257 Speziesismus 123 Sprachfähigkeit 239 Sprechakttheorie 89, 213 Sprechhandlungen 213 Staat 118, 286, 288 Stammzellenforschung 259–261 starke Wertungen 167 Sterben 253 Stetserwartung 181 storge 125, 130 story 229f, 234 Strafe 192

Stufenmodelle 266 Subjekt 239, 241 Subjektbegriff 241 Subjektivität 238f., 241 Subjektivitätsbegriff 240 substantia prima 236 substantia secunda 236 Substanz 239 summum bonum 155, 224, 268 Sünde 121f., 132, 179, 189, 194, 215, 226, 252f., 255, 257, 260 suum cuique 209 syllogismus practicus 224 symbolischer Interaktionismus 257 synderesis 199 syneidesis 198f. Tadel 192 Tag des Herrn 181 Tapferkeit 219, 221, 226 techne 221, 269 Technikfolgeabschätzung 168–170, 172, 176f. Teleologie 218 teleologische Ethik 268 telos 218, 219, 249 temperantia 226 Test 285 Test der Toleranzfähigkeit 287 testimonium internum 281 Theokratie 162 Theonomie 132f. Theosis 97f., 164, 256 thinking intelligent being that has reason and reflection, and can consider itself as itself, the same thinking thing in different times and places 238, 240 Tod 177 Tod Christi 206 to idion 244 to koinon 244 tolerantia dei 281f. Toleranz 133, 263, 277f., 282, 284 Toleranzbegründung 285, 287 Toleranzbereitschaft 265 Toleranzfähigkeit 287 Toleranzverständnis 284 totalitäre Ideologien 286f. Töten 178

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Register Tötung der Person 260 Tötungsverbot 116 totus homo 120, 180 Transformation 182 Treue 129, 248, 250, 256, 264f. Treue, Vertrauen und Wahrhaftigkeit 129f., 262 Trinität 94, 133, 236, 245, 258, 262, 268, 281 Tröstung 207 Tugend(en) 218–229, 233f., 251–253, 261, 263–265, 268, 270f. Tugenden der primären Liebesrelation 264f. Tugenden des gemeinsamen Projekts 264f. Tugendethik 107, 160, 217f., 225, 227– 229, 233f., 267–269, 272 Tugendkatalog 221, 225 Tugendlehre 225, 227f., 232, 264, 268 Übermut 219, 221 Übertragung von Verantwortung 194 Umverteilung 213 una substantia, tres personae 243 Unglauben 266 Universalisierungsformel/-prinzip 111, 214 Universalität 213 Universalitätsanspruch 231 unmitteilbares Voneinander-und-Füreinandersein 243, 245 unrealistischer Optimismus 265 Unsicherheit 203 Unverfügbarkeit 261 Unverfügbarkeitsbegründung 287 unvollständige Identität 240 Urzustand 210 usus elenchticus 121 Uterus 259 Utilitarismus 154, 163, 166, 178, 217f., 249 Utopie 188f., 284 Vater 131, 133, 167, 173, 244–266 Verallgemeinerungsannahme / -prinzip 111, 113 Verantwortung 185–187, 189, 191– 194, 196f., 205 Verantwortungsbegriff 191, 193, 198

Verantwortungsbereitschaft 268, 288 Verantwortungsethik 107, 183, 185– 188, 195f., 205, 207 verantwortungslose Zielorientierung 265 Verantwortungsübernahme 261 Verbot 261 verbum externum 281 Verfassungspräambeln 205 Verfügungsgewalt 201 Vergebungsbereitschaft 264f. Verkündigung 270 Vernunft 109, 114, 180, 219, 227, 229f., 238, 251f., 258, 264, 272 Vernunftbegabtheit 236f. Vernunftreligion 276 Vernunft, vertrauende 180 verräterische Gesinnung 264 Verschwendung 221 Versöhnung 96, 98, 231, 253, 257 Verständnis 221 Verteilungsgerechtigkeit 210, 223 Vertragstheorien 208f., 212, 215f., 222 Vertrauen 129, 133, 226, 248–250, 253, 255f., 262, 264–266, 270, 281 Verzeihungsautomatismus 265 vier Tugendreihen 264f. Vollendung 97f., 177, 181, 246, 254, 256, 259, 268 Vollendung der Welt 167 Vollendung des Reiches Gottes 174 vollständige Definition einer Person 250 Voluntarismus 101, 246 Voneinander-und-Füreinandersein 247f. vorreflexive Erfahrung 274 vorreflexiver, erfahrungsmonistischer Konsens 273, 277 vorzügliches Handeln 133, 248, 250 Wachsamkeit 181, 263, 265 wahre Freundschaft 223f. wahrer Gott und Mensch 96 Wahrhaftigkeit 129, 221, 248, 250, 264f. Wahrheit 230–232, 253 Wahrheitsansprüche 273–277 wechselseitige Beziehung 248 wechselseitiges Dulden 282

Register Weisheit 221 Welt 231f., 234 weltanschaulich ethisch-orientierende Gewissheiten 249, 277, 284f. Werk Christi 231 Werke 233 Wertbegriff 225 Werte 167, 196, 232, 268, 276, 279f. Wertethik 197 Wesen Gottes 133, 246 wie dich selbst 123 Wille 251f. Willensausrichtung 254 Wirklichkeitsverständnis 205f., 217, 222, 258, 287 Wirklichkeitsverständnisgemeinschaften 286 Wirtschaftsordnung 119 Wohlordnung 273, 282 Wollen 249 Wollen und Sollen 163 Wort 180 Wünsche erster / zweiter Ordnung 219 Würde 242, 258, 260f.

Zeit 249f. Zeit- und Räumlichkeit 240 Zeugnis 166f., 206, 262f., 282 Zeugnisgemeinschaft 265 Zeugniskommunikation 264 Ziel 178, 196, 218f., 225, 232, 248f., 279 Zielkonsense 280 Zögerlichkeit 265 zoon politikon 216, 218, 224f. Zugewinngemeinschaft 212 Zukunft 169, 172, 177, 188 Zulassung Gottes 283 Zurechtbringung 97f. Zurückhaltung 181 Zuschreibung 242f. Zwang 284 zwanghafte Prinzipienreiterei 264 Zweck 110, 223, 249, 263, 269, 279 Zweckkonflikte 277 Zweck- oder Zielkonsens 278 Zwei-Regimenten-Lehre 105f. zwei Tafeln 117

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22: Abb. 23: Abb. 24: Abb. 25: Abb. 26: Abb. 27: Abb. 28: Abb. 29: Abb. 30: Abb. 31: Abb. 32: Abb. 33: Abb. 34: Abb. 35: Abb. 36:

Gedankenexperiment zur Vorhersagbarkeit von Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Relate des Handlungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethikeinschließende Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dogmatikfremde Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dogmatikeinschließende Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dogmatiküberlappende Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dogmatikidentische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürliche Ethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . arbor porphyriana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modalbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetze der Modallogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungültigkeitserklärung der Modallogik . . . . . . . . . . . . . . . . Deontische Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungültigkeitserklärung der deontischen Logik 1 . . . . . . . . . Ungültigkeitserklärung der deontischen Logik 2 . . . . . . . . . Natürliche Ethiken, christliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . Interaktionsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regel- u. Pflichtenethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regel- u. Pflichtenethiken, christliche Perspektive. . . . . . . . ordo amoris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziel- u. wertbasierte Ethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziel- u. wertbasierte Ethiken, christliche Perspektive . . . . . Erwartungsethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwartungsethiken, christliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . Verantwortungsethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortungsethiken, christliche Persp. . . . . . . . . . . . . . . Person- u. Tugendethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aristotelische Tugendlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Person- u. Tugendethiken, christliche Perspektive. . . . . . . . Personbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidungsdiagramm zur Personalität v. Embryonen . . Primäre und externe Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine und korrektive Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrheitswerttafel zur Implikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethik in pluralistischen Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirklichkeitsverständnisklassifikation bzgl. ihrer Toleranzfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 20 41 42 42 43 43 55 58 78 78 78 79 79 80 91 103 108 115 140 142 156 168 173 183 191 208 220 235 247 260 262 263 267 272 286

Fazitfragen

1. Einleitung 2. Handeln Fazit 1: Was bedeutet „Handeln“?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 2: Welche Relate hat der Handlungsbegriff? . . . . . . . . . . . . . . . Wie können verschiedene Ethiktypen aus den Relaten abgeleitet werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ethik Fazit 3: Sind Ethiktypen verschiedene Gegenstandsbereiche oder Perspektiven?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist Ethik die Theorie des vorzuziehenden oder des guten Handelns? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 4: Was ist Systematische Theologie?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 5: Welches sind die Teildisziplinen der Systematischen Theologie?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 6: Wie verhält sich theologische zur nichttheologische Ethik? Welches sind die Kennzeichen der christlichen Praxis? . . . . Welches sind die Kriterien systematisch-theologischer Urteilsbildung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 7: Welche weiteren Termini sind für die Ethik wichtig?. . . . . . 4. Das Gute und die Natur Fazit 8: Was sind Beispiele natürlicher Ethiken?. . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 9: Wie verhält sich das Gute, Wahre und Schöne in neuplatonischer Tradition?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 10: Was ist das Naturrechtsdenken und seine Probleme?. . . . . . Fazit 11: Was meint die Unterscheidung von Schöpfungshandeln und Heilshandeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 12: Was zeichnet die Lehre der Schöpfungsordnungen aus?.. . . Fazit 13: Was ist Reduktionismus?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 14: Was ist das Sein-Sollen-Problem oder „Humes Gesetz“?. . . Fazit 15: Welche Einwände gibt es gegen „Humes Gesetz“? . . . . . . . . Fazit 16: Was ist Moores Theorie des naturalistischen Fehlschlusses? Fazit 17: Was ist Intuitionismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 18: Was ist Emotivismus?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18 33 33

37 37 40 44 48 48 54 57 62 66 69 73 76 81 83 85 87 90

5. Das Gute und die Schöpfung Fazit 19: Wie sieht der christliche Glaube die Welt als Schöpfung?. . 92 Fazit 20: Welches sind Minimalbedingungen der Rede von „Gott“?.. 93 Fazit 21: Was bezeichnet der Begriff der Selbstoffenbarung? . . . . . . . 95 Fazit 22: Wie sind Mensch und Welt Gegenstand von Gottes Handeln? 98 Fazit 23: Gibt es Schöpfungsordnungen und sind sie einsehbar?. . . . 98 Fazit 24: Was zeichnet den Begriff der Erhaltungsordnung im Unterschied zu dem der Schöpfungsordnung aus?. . . . . . . . 99 Fazit 25: Was ist Bonhoeffer’s Mandatenlehre?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

318

Fazitfragen Fazit 26: Was ist Herms’ Lehre der Interaktionsbereiche?. . . . . . . . . . Fazit 27: Was ist die Zwei-Regimentenlehre?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 28: Ist Theologische Ethik eine natürlicher Ethik?. . . . . . . . . . .

105 106 107

6. Regeln und Pflichten Fazit 29: Was bezeichnet Kant mit „kategorischer Imperativ“? . . . . . Fazit 30: Ist Kants kategorischer Imperativ allgemeingültig? . . . . . . .

111 114

7. Liebe Fazit 31: Wie verhält sich der Dekalog zum Liebesbegriff?. . . . . . . . . 120 Fazit 32: Was ist die Doppelregel der Liebe?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Fazit 33: Welche Möglichkeiten gibt es, Liebe zu klassifizieren?. . . . . 130 Was unterscheidet Liebe als Gefühl, Haltung und reale Relation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Welche Arten der Liebe als Haltung gibt es?. . . . . . . . . . . . . 130 Welche Arten der Liebe als reale Relation gibt es? . . . . . . . . 130 Fazit 34: Wie ist der Zusammenhang zwischen der Liebe, die Gott ist, und des Menschen Liebe?.. . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Fazit 35: Welche Bedeutung hat die Goldene Regel? . . . . . . . . . . . . . . 134 Fazit 36: Was ist die Funktion des Feindesliebegebots? . . . . . . . . . . . 134 Fazit 37: Welche Bedeutung hat das Geschwisterliebegebot? . . . . . . . 136 Fazit 38: Wie verhalten sich Kategorischer Imperativ und die Doppelregel der Liebe zueinander? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Fazit 39: Was sind die Grundformen der Sünde?. . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Ist Hingabe und Sich-Opfern immer gut?. . . . . . . . . . . . . . . 139 Fazit 40: Was meint die augustinische Rede der Liebesordnung? . . . 141 8. Ziele und Werte Fazit 41: Was ist Utilitarismus und worin besteht seine Problematik? Fazit 42: Wie verhält sich der Utilitarismus zu den „Werten“?. . . . . . Was ist Schelers materiale Wertethik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . Worin besteht die Problematik von Schelers Wertethik? . . . Fazit 43: Wie verhalten sich Präferenzen, Werte, Wertungen und der Begriff der „moralischen Ontologie“ zueinander? . . . . . . . . Fazit 44: Wie lautet ein allgemeiner Wertbegriff? . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist eine ethische Wertung?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist eine christliche Wertung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 45: Was bezeichnen die Begriffe des summum bonum und des Reiches Gottes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche unterschiedlichen Aspekte des Reiches Gottes kennt das NT?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 46: Was meint Schleiermacher mit der Rede vom Reich Gottes auf Erden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 47: Wie bestimmt Richard Rothe das Reich Gottes?. . . . . . . . . . Fazit 48: Was ist das letzte mögliche Ziel menschlichen Handelns?. . 9. Erwartungen und Hoffnung Fazit 49: Was bedeutet der Begriff der Erwartung und wie wird er in der Technikfolgeabschätzung verwandt? . . . . . . . . . . . . . Fazit 50: Wie das „Reich Gottes“ unter der Logik der Erwartung zu bewerten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147 151 151 151 154 155 155 156 159 159 161 163 167

172 174

Fazitfragen Führt die Hoffnung der christlichen Eschatologie zum Handlungsverzicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Fazit 51: Welche Vorteile einer christlichen Hoffnungsethik können an der „Black Theology“ exemplifiziert werden und welche Probleme begleiten die „Black Theology“?. . . . . . . . . . . . . . 180 Fazit 52: Welche Haltungen gehören zu einer Hoffnungsethik?. . . . . 182 10. Folgen und Mittel Fazit 53: Wie ist Max Webers Verständnis der Verantwortungsethik zu verstehen und was sind ihre Probleme?. . . . . . . . . . . . . . Fazit 54: Wie ist Hans Jonas’ Verantwortungsethik zu verstehen und wie ist sie zu bewerten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 55: Was bedeutet „Verantwortung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 56: Welche Unterscheidungen sind hinsichtlich der Verantwortungsrelation sinnvoll?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 57: Welche Typen von Verantwortung sind unterscheidbar?. . . Fazit 58: Was sind die Objekte der Verantwortung? . . . . . . . . . . . . . . Fazit 59: Was bedeutet der Begriff externer Foren im Zusammenhang mit dem Verantwortungsbegriff?. . . . . . . . Fazit 60: Was ist das forum internum der Verantwortung und was ist es nicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 61: Was bezeichnet „Gewissen“?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 62: Was ist der Grund des Gewissens und welche Bedeutung hat er politisch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 63: Ist Religion Privatsache?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 64: Lassen sich christliche Verantwortungsethik und christliche Hoffnungsethik in ein Verhältnis setzen? . . . . . . . . . . . . . . . Worin besteht der Kern ethischen Handelns?. . . . . . . . . . . .

186 190 191 193 194 195 197 200 203 205 205 207 207

11. Gemeinschaft, Person und Tugend Fazit 65: Was sind Kennzeichen individualistischer Menschenverständnisse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Was sind Beispiele für individualistische Menschenverständnisse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Fazit 66: Was bezeichnet man mit Diskursethiken? . . . . . . . . . . . . . . 216 Fazit 67: Was sind Kennzeichen sog. kommunitaristischer Ethiken?. 218 Fazit 68: Wie ist Aristoteles’ Tugendlehre zu beschreiben? . . . . . . . . . 225 Fazit 69: Wie wurde die aristotelische Tugendlehre in der Christentumsgeschichte angeeignet und welche Probleme verbinden sich damit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Wie steht die reformatorische Tradition zu Tugendethiken? 228 Fazit 70: Welches ist die bedeutendste protestantische Tugendethik der Gegenwart und welches sind ihre Probleme?. . . . . . . . . 234 12. Personen Fazit 71: Was sind prädikative Personbegriffe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Worin besteht die Problematik prädikativer Personbegriffe? . Fazit 72: Welche Bedeutung hat Subjektivität für den Personbegriff? Fazit 73: Welche Bedeutung hat Geschichtlichkeit für den Personbegriff?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

238 238 239 241

319

320

Fazitfragen Fazit 74: Was sind askriptive Personbegriffe und wie verhalten sie sich zum Würdebegriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 75: Wie ist der Personbegriff historisch entstanden und welche Bedeutung spielt hier Richard v. St. Victor? . . . . . . . . . . . . . Fazit 76: Was hat der Gottesbegriff mit dem Begriff der Relate von Liebesbeziehungen zu tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 77: Was ist zur göttlichen Personalität zu sagen? . . . . . . . . . . . . Fazit 78: Wie ist das Beziehungsgefüge geschaffener Personen zu strukturieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Unterscheidungen innerhalb der Selbstbeziehung einer geschaffenen Person sind sinnvoll? . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 79: Wie ist der Zusammenhang von Selbsterschlossenheit und Sünde zu bestimmen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 80: Ist falsche Selbsterschlossenheit überwindbar und wie lautet der vollständige Begriff der geschaffenen Person?. . . Fazit 81: Welche entscheidenden Fragen stellen sich hinsichtlich relationaler Personbegriffe?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 82: Gibt es Beispiele für problematische, relationale und theologische Personbegriffe und worin besteht ihre Problematik in Bezug auf exemplarische materialethische Fragen?. . . . . Fazit 83: Wie viele und welche Tugendreihen können vorgeschlagen werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sind die Tugenden der primären Liebesrelation? . . . . . Was sind die Tugenden des gemeinsamen Projekts? . . . . . . Was sind allgemeine Tugenden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sind korrektive Tugenden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es einen vollständigen Tugendkatalog?. . . . . . . . . . . . . Fazit 84: Wie sind Rechtfertigung und Heiligung auf den Charakterbildungsprozess bezogen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie ist das Verhältnis von Tugendethik zu anderen Ethiktypen zu bestimmen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 85: Was sind Charismen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Toleranz und die Religionen Fazit 86: Was besagen konsensualistische Modelle des Zusammenlebens der Religionen in pluralistischen Gesellschaften und welche gibt es?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 87: Worin bestehen Problematiken dieser konsensualistischen Modelle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 88: Wie sind Zweck- oder Zielkonsense zu beurteilen? . . . . . . . Fazit 89: Welche Rolle spielt der Toleranzbegriff für den Begriff der Evangeliumsverkündigung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Rolle spielt der Toleranzbegriff im erhaltenden Regiment?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit 90: Worin besteht die Problematik des Konsensualismus und welche Imperative der Toleranz sind formulierbar?. . . . . . . Fazit 91: Gibt es eine allgemeingültige Toleranzbegründung und welche Kriterien der Toleranzfähigkeit von Wirklichkeitsverständnissen lassen sich formulieren? . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es Grenzen der Toleranz?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243 245 247 250 252 252 253 257 258

261 265 265 265 265 265 265 269 269 271

276 278 280 282 282 284

287 288